SCHWERPUNKT: NRW 1/2011 HANS-JÜRGEN FRESEN 150 JAHRE SCHACHVERBÄNDE IM RHEINISCH-WESTFÄLISCHEN RAUM TITELKÄMPFE HANS-JOACHIM HECHT

October 13, 2016 | Author: Elisabeth Schenck | Category: N/A
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1/2011

ISSN 1438-9673 / 28. JAHRGANG www.karlonline.org / 5,50 EURO

SCHWERPUNKT: NRW HANS-JÜRGEN FRESEN

150 JAHRE SCHACHVERBÄNDE IM RHEINISCH-WESTFÄLISCHEN RAUM TITELKÄMPFE

HANS-JOACHIM HECHT

IMPRESSUM REDAKTION

INHALT EDITORIAL

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ZUSCHRIFTEN

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WAS WAR

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Harry Schaack (verantwortlich) INHALTLICHE KONZEPTION

Harry Schaack LAYOUT/GRAFIK

Harry Schaack MITARBEITER DIESER AUSGABE

Text: Michael Ehn Johannes Fischer Hans-Jürgen Fresen Prof. Dr. Friedrich-Karl Hebeker Hans-Joachim Hecht Dr. Lars Hein Prof. Dr. Christian Hesse Tomasz Lissowski Dr. Michael Negele Wolfram Runkel Prof. Dr. Ernst Strouhal Bild: Alex Balko Eric van Reem Harry Schaack INTERNET

SCHWERPUNKT: NRW 150 JAHRE SCHACHVERBÄNDE IM RHEINISCH-WESTFÄLISCHEN RAUM

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SCHACHPUBLIZIST ROBERT HÜBNER Eine kurze Würdigung

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SIE WAR DAS ALLERSCHÖNSTE KIND ... Die traurig-kurze Schachkarriere des Manfred Mannke

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IMPRESSIONEN AUS MÜLHEIM Optische Aufarbeitung eines Bundesligaspiels

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SCHACHSTADT DORTMUND Die schwarzweiße Tradition der Ruhrmetropole

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EIN LEUCHTTURM IN SCHWIERIGER ZEIT Alfred van Nüß und die Düsseldorfer Jahre 1923 - 1932

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LEBEN VON DER EXPERTISE Der Schachhändler Niggemann

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DEEP CHESS RELOADED Das neue Image der Düsseldorfer Internetseite

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TITELKÄMPFE Hans-Joachim Hecht und NRW

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www.karlonline.org ANSCHRIFT / VERTRIEB

Karl-Verlag Harry Schaack Kaulbachstr. 39 60596 Frankfurt Tel.: ++49 - (0)69 - 54 79 74 Fax: ++49 - (0)69 - 95 41 57 87 [email protected] BANKVERBINDUNG

Frankfurter Volksbank eG Kto-Nr.: 41 01 78 70 82 BLZ: 501 900 00 ERSCHEINUNGSWEISE

dreimonatlich

RUBRIKEN KÖNNEN ZAHLEN LÜGEN? Über die Aussagekraft der Elo-Zahlen

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ARCHÄOLOGIE VERSCHOLLENER SCHACHMUSIK Von Michael Ehn und Ernst Strouhal

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POST MORTEM Von Wolfram Runkel

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SCHACH-EXPEDITIONEN Von Christian Hesse

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KRITIKEN

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ALLE RECHTE VORBEHALTEN. ZITAT NUR MIT QUELLENANGABE („KARL” & AUSGABENNUMMER). OHNE SCHRIFTLICHE GENEHMIGUNG DES VERLAGS IST DIE VERWENDUNG DER INHALTE DIESER AUSGABE STRAFBAR. DIES GILT AUCH FÜR DIE VERVIELFÄLTIGUNG PER FOTOKOPIE ODER MIKROFILM. ARTIKEL UND ZITATE, DIE MIT DEM NAMEN DES AUTORS GEKENNZEICHNET SIND, STELLEN NICHT UNBEDINGT DIE MEINUNG DER REDAKTION DAR.

Zaubern wie Schachweltmeister Mihail Tal – Kortschnois „Beste Kämpfe“ – Der Königsplan – Spiel der Bürgerlichkeit – Der WM-Kampf Steinitz - Zukertort 1886 – Jan Gustafssons Internetseite – Der späte Aaron Nimzowitsch – Ein Wort zum Schluss KARL 1/2011

EDITORIAL

FOTO: ERIC VAN REEM

LIEBE LESER, Nordrhein-Westfalen ist der größte Landesverband des Deutschen Schachbundes. Obgleich sich die Grenzen NRWs erst nach dem Zweiten Weltkrieg manifestierten, war die Region schon zuvor einer der Motoren des deutschen Schachlebens. So war es kein Zufall, dass sich hier vor 150 Jahren der erste deutsche Schachverband gründete. Wie rege sich in der Folge das Schach in NRW entwickelte und welche große Bedeutung dabei Düsseldorf hatte, macht Hans-Jürgen Fresen in seinem Beitrag deutlich. Den Stellenwert der heutigen Landeshauptstadt veranschaulicht auch die erste Schachweltmeisterschaft auf deutschem Boden, deren erster Teil 1908 hier stattfand. Zwischen den beiden Weltkriegen erlebte Düsseldorf noch einmal eine Blüte, wie Friedrich-Karl Hebeker schildert. Ob diese ruhmreiche Schachtradition fortgesetzt werden kann, ist ungewiss. Aber vielleicht tragen ja die Macher der originellen Internetseite Deep Chess dazu bei. Jedenfalls haben sie einige Idee für ihre Stadt. Eine andere Schachmetropole ist Dortmund. Bis heute ist hier mit dem Sparkassen Chess Meeting das wichtigste deutsche Schachturnier beheimatet. Dass die Stadt darüber hinaus auf viele andere Highlights zurückblicken kann, weiß Siegfried Zill. Hans-Joachim Hecht ist schachlich in Berlin groß geworden. Seine größten Erfolge erzielte er jedoch in NRW. Als einer der ersten deutschen Profis und Großmeister gewann er 1973 nicht nur sensationell die Internationale Deutsche Meisterschaft in Dortmund vor dem kurz zuvor entthronten Weltmeister Spasski. Auch mit seinem Verein, der SG Solingen, hat er zahlreiche nationale und internationale Triumphe zu verzeichnen. In KARL schildert er seinen Weg zum Großmeister und seine Jahre in Nordrhein-Westfalen. In NRW sitzen die meisten Vereine der Schachbundesliga. Die oberste Spielklasse leidet allerdings bis heute unter mangelnder Außenwirkung. Um das zu ändern, hat sich der SV Mülheim Nord etwas Besonderes einfallen lassen: Ihr letztes Heimspiel fand im Museum statt. Der Mannschaftskampf vor Schachmotiven war uns wegen der optischen Wechselwirkung eine Fotostrecke wert. Der bedeutendste Schachspieler, den NRW hervorgebracht hat, ist zweifellos Dr. Robert Hübner. Der Kölner ist nicht nur ein herausragender Praktiker. Auch als Autor hat er Maßstäbe gesetzt. Johannes Fischer würdigt die schachpublizistischen Leistungen des besten deutschen Spielers seit Emanuel Lasker. Bleibt noch darauf hinzuweisen, dass wir mit unserem nächsten Heft unser zehnjähriges Jubiläum feiern. Bei unseren Lesern möchte ich mich schon jetzt für die langjährige Treue bedanken. Harry Schaack

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FOTO: HARRY SCHAACK

SCHWERPUNKT

SCHACHPUBLIZIST ROBERT HÜBNER: EINE KURZE WÜRDIGUNG VON JOHANNES FISCHER

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er beste Spieler Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg ist zweifellos Robert Hübner. Geboren am 6. November 1948 in Köln qualifizierte er sich bereits mit Anfang 20 durch seinen geteilten zweiten Platz beim Interzonenturnier in Palma de Mallorca fürs Kandidatenturnier und etablierte sich in der Weltspitze. Insgesamt nahm Hübner, der 1976 in Köln als Papyrologe promoviert hat, vier Mal am Kandidatenturnier teil und 1980 lag er in der Weltrangliste auf Rang Drei. Darüber hinaus erzielte Hübner zahlreiche Erfolge bei nationalen und internationalen Einzelund Mannschaftswettbewerben und war jahrelang die unangefochtene Nummer Eins in Deutschland. Mit einer aktuellen

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Elo-Zahl von 2593 Punkten gehört er immer noch zu den zehn besten deutschen Spielern. Doch nicht nur Hübners praktische Erfolge, sondern auch seine schachpublizistischen Leistungen sind außergewöhnlich. Sein erstes Buch veröffentlichte der Kölner Großmeister 1990. Es trug den Titel Fünfundfünfzig feiste Fehler, beruhte auf einer Kolumne in der Zeitschrift Prisma und führte dem Leser fünfundfünfzig mehr oder weniger drastische Fehler vor, die Hübner im Laufe seiner Karriere unterlaufen waren. „Feist“ hätte sie außer dem Autor allerdings kaum einer genannt. 1996 folgte Twenty-five Annotated Games, eine Sammlung von 25 seiner eigenen Partien, die Hübner ausführlich, gründlich und selbstkritisch analysierte, die jedoch in Bezug auf Infor-

mationen über Gegner oder Umstände der jeweiligen Partien recht karg und schmucklos gestaltet waren. Es folgten Betrachtungen zu den Werken Aljechins, die auf einer ChessBase-Monographie über Aljechin veröffentlicht wurden, sowie eine Untersuchung von Fischers 60 Denkwürdigen Partien, die erst als ChessBaseDVD und dann 2004 um zusätzliches Material ergänzt unter dem Titel Materialien zu Fischers Partien als Buch erschien. 2008 veröffentlichte Hübner seine Betrachtungen zum Weltmeisterschaftskampf Lasker - Steinitz 1894 und ein Jahr später, 2009, äußerte er sich in Emanuel Lasker: Denker, Weltenbürger, Schachweltmeister „Zu den Anfängen von Laskers

Schachlaufbahn“. Dazu kommen zahlreiche Aufsätze, die Hübner in unterschiedlichen Schachzeitschriften veröffent-

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SCHACHPUBLIZIST ROBERT HÜBNER

licht hat, darunter die Kolumne „Abfall“ im ChessBase Magazin. Herausragendes Merkmal der Arbeiten Hübners waren immer beinah ausufernd gründliche Analysen, in denen er die Details und Feinheiten der jeweiligen Partie akribischer erforschte als jeder andere, nicht selten über zwanzig Seiten und mehr. In seinen späteren Texten ergänzte Hübner diese Analysen vermehrt um schachhistorische Betrachtungen und widmete den Umständen der von ihm betrachteten Partien stärkere Beachtung. Es sind vor allem diese schachhistorischen Arbeiten, in denen Hübners publizistische Fähigkeiten glanzvoll zur Geltung kommen. Hier gehen Hübners schachliches Können, seine wissenschaftliche Akribie, seine umfassende Bildung und seine literarischen Fähigkeiten eine wunderbare Synthese ein. Diese Arbeiten überzeugen durch Material- und Detailfülle, Sachlichkeit, Klarheit, Präzision und wissenschaftliche Sorgfalt, die sich nicht zuletzt in den zahlreichen Fußnoten zeigt. Dazu kommt die klare Struktur der Texte und Hübners brillante, lebhafte, gelegentlich mit feinem Humor oder beißender Polemik gewürzte Art der Darstellung. Allerdings macht es Hübner sich und seinen Lesern nicht leicht. Rigoros verweigert er sich Mythenbildung und der unkritischen Akzeptanz gängiger „Wahrheiten“ und plädiert stattdessen für die konkrete Betrachtung jedes einzelnen Spielers im Kontext seiner Zeit. Das bekannteste Beispiel dafür ist wohl Hübners Kritik an der These von Laskers angeblicher psychologischer Spielweise: „[Sie] wurde in der Hauptsache von Tarrasch und Réti aufgebracht. Sie beruht auf Unterschätzung von Laskers schachlichem Können, zeugt von Unverständnis für die Güte seiner strukturellen Erfassung von Stellungsproblemen und ist aus einer uneingestandenen Geringschätzung geboren. Sie hat bewirkt, daß dem Schachkönnen Laskers bis heute nicht die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet

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worden ist. Man hatte nun ein bequemes Etikett, das man der Person Lasker aufkleben konnte; es enthebt den Forscher der Notwendigkeit, feinere Beobachtungen durchzuführen.“ (Robert Hübner, Laskers „psychologische Spielweise“, Emanuel Lasker: Homo ludens - homo politicus. Beiträge über sein Leben und Werk, herausgegeben von E. Vera-Kotowski, S. Poldauf, Paul Werner Wagner, Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam 2003, S. 160). Diese „feineren Beobachtungen“ hat Hübner dann selber durchgeführt. Wie viel Hübner vom schachlichen Können Laskers hält, verrät er in „Zu den Anfängen von Laskers Schachlaufbahn“ in einem in der Mitte des Textes gut versteckten kurzen Absatz. Hübner schreibt: „Stets ist es das Kennzeichen der allergrößten Spieler gewesen, neue Stellungsmuster aufzuspüren, die vorher nicht bekannt waren, aber doch gute Möglichkeiten in sich bargen, sei es im positionellen oder taktischen Bereich; und ich meine, dass Lasker darin fruchtbarer war als sonst je ein Spieler.“ (S. 452) Das kann man eigentlich nur so verstehen, dass Hübner Lasker für einen der stärksten, wenn nicht den stärksten Spieler aller Zeiten hält. Diese Aussage zeigt zugleich die große Bedeutung, die Hübner Stellungsmustern zumisst. Er schreibt: „Ganz überwiegend ist früher Gesehenes im Gehirn des Meisters in Mustern hinterlegt, auf die er keinen bewußten Zugriff hat. … Weil man keinen bewußten Zugriff auf diese Stellungsmuster hat, kann man sie nicht zureichend beschreiben. … Da die Muster, auf denen die Bewertungen des Meisters beruhen, weitgehend unbekannt sind, kann kein systematisches Verfahren für das Lehren und das Erlernen des Schachspieles entwickelt werden. Wenn man Lernwilligen gutes Spielen beibringen will, gibt es keine andere Möglichkeit, als sie mit einer möglichst breit ausgewählten Stoffülle zu überschütten; man muß hoffen, daß sie ihr visuelles Ver-

mögen und einen Schatz sinnvoller Muster anlegen. … Die jeweiligen Spitzenspieler ihrer Zeit sind offenbar in der Lage gewesen, die in früheren Partien bewährten Muster besonders schnell zu erkennen, zu erlernen, sinnvoll einzusetzen und um eigene Schöpfungen zu bereichern; aber wie sie dies gemacht haben, ist allen verborgen geblieben – auch ihnen selbst.“ (Robert Hübner, „Kasparovs neuester Beitrag zur Schachgeschichte (Teil 2)“, Schach 12/03, S.34). Im gleichen Text weiter unten verrät Hübner, wie er sich Schachgeschichtsschreibung auf der Grundlage dieser Muster vorstellt: „Auf einer breiten Basis müßte das Partienmaterial eines Zeitraums untersucht und ganz konkret dargetan werden, wo Verbesserungen im Verständnis bestimmter Stellungsarten und -motive erzielt worden sind.“ (Hübner, „Kasparovs neuester Beitrag zur Schachgeschichte“, Teil 2, S. 36). In diesem Programm zeigt sich, welche Ansprüche Hübner an sich und die Schachgeschichtsschreibung stellt. Unklar bleibt, ob er sich bewusst ist, dass nur sehr wenige Schachspieler so eine Arbeit leisten und würdigen könnten. Die versteckte Stellung der zentralen Aussage über Lasker verrät hingegen einen anderen typischen Aspekt der Hübnerschen Texte: Er geizt mit Lob, mit Kritik hingegen nicht. Diese Kritiksucht, die vor der eigenen Person nicht halt macht, ist die Kehrseite von Hübners beeindruckend engagierter Suche nach Wahrheit und Erkenntnis. Hübners Neigung zur Kritik wirkt oft unangemessen, verärgert gelegentlich und erschwert den Zugang zu seinen Texten ebenso wie seine Ausflüge ins Philosophische, die nicht immer so überzeugend wirken wie die schachlichen Argumente. Aber beides sollte einen nicht abschrecken. Denn die besten Texte von Hübner sind nicht nur bedeutende Beiträge zur Schachgeschichte, sondern zugleich auch brillant, unterhaltsam und intellektuell anregend.

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FOTO: HARRY SCHAACK

SCHWERPUNKT

Das Team Niggemann, an der Seite flankiert durch Günter und Erika Niggemann, und verstärkt durch den „chinesischen“ Stammkunden Abramowski (3. v. r.), der extra aus China angereist ist. Dazwischen (v. l.) die Mitarbeiter Rainer Mantwill, Christoph Kamp, Frank Creutzburg, Michael Stein und Hendrik Wellen.

LEBEN VON DER EXPERTISE Schach E. Niggemann feierte im letzten Jahr das 25-jährige Firmenjubiläum. Der Händler aus Heiden ist nicht nur führend in Deutschland, sondern einer der größten Schachvertriebe der Welt. Eine Firmengeschichte, die auch den Wandel des Schachmarktes dokumentiert. VON HARRY SCHAACK

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eiden ist ein ländlicher, beschaulicher Ort am Rande des Ruhrgebiets. Hierher verschlägt es einen normalerweise nicht – es sei denn, man ist schachinteressiert. Unscheinbar im Industriegebiet befindet sich der Sitz der Firma Schach E. Niggemann. Von außen sieht das Gebäude wie eine Gewerbehalle aus, doch der Innenraum überrascht: In einem Callcenter geben gleich mehrere Mitarbeiter mit Headsets telefonischen Support. In den Ausstellungsräumen stehen Schachbretter, Uhren, edle

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Figuren und Computer. Und im ersten Stock lagern etwa 40-50000 Bücher, davon etwas mehr als 3000 unterschiedliche Titel. Es ist eine gigantische Auswahl, die den Kunden hier erwartet. Dabei macht Niggemann das meiste Geschäft über seine Internetseite. Im Jahr versendet er 15-20000 Pakete. Damit zählt er zu den größten Schachhändlern der Welt. Die Anfänge waren bescheiden. 1985 eröffnete Erika Niggemann mit Christoph Kamp, der bis heute in der Firma arbeitet, in Köln einen Schachladen. Günter Niggemann gehörte damals noch nicht dazu.

Ihn verschlug es nach seiner Lehre fast ein Jahrzehnt nach Holland, wo er im NATO-Hauptquartier arbeitete. Dort hat er vermutlich seine Zielstrebigkeit und unternehmerische Härte erlernt. Wieder zurück in Köln begann er ein Jurastudium. Um es zu finanzieren, arbeitete er als Consultant für verschiedene Schachcomputerfirmen. Diese Tätigkeit nahm bald eine Menge Zeit in Anspruch. Er musste viel reisen, führte Geschäftsverhandlungen in China und Taiwan. Dieses internationale Flair faszinierte ihn. Irgendwann musste er sich entscheiden: für Schach und gegen das Studium. Ende

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SCHACHHÄNDLER NIGGEMANN

der achtziger Jahre stieß er zur Firma seiner Frau. Als Niggemann wieder nach Köln zurückgekehrt war, trat er der SG Porz bei. Er spielte in der Bezirksliga und übernahm bald das Amt des Turnierleiters. Das Porz Open, das zweimal im Jahr stattfand, sollte sich von anderen Turnieren unterscheiden. Da kam ihm eine Idee: „Die Schachcomputer waren damals alle nicht so toll“, erinnert er sich. „Sie hielten nicht das, was die Werbung versprach.“ Deshalb bot er den Firmen eine lukrative Werbeaktion an und ließ die Brettcomputer bei seinem Open mitspielen. Dadurch konnte sich jeder selbst von der Qualität der Geräte überzeugen. Als Nebeneffekt bekamen die Computer durch ihre Turnierteilnahme eine inoffizielle Wertungszahl, sodass ein objektives Kriterium über die Spielstärke etabliert werden konnte. Bis etwa 1990 erzielte diese „Kampagne“ ein großes mediales Echo. Durch diesen guten Kontakt zu Computerherstellern wie Saitek und Fidelity, präsentierte Niggemann bald auch Geräte bei anderen Turnieren und in Vereinen. Später betreute er Computer auch bei Weltmeisterschaften. Anfang der Neunziger erreichten die Geräte ihre höchste Leistungsstärke. Seither sind Brettcomputer ein Auslaufmodell. Seit zehn Jahren gibt es keine Weiterentwicklung mehr. Niggemann ist einer der wenigen Händler, die bis heute Schachcomputer verkaufen. Kaufhäuser sind aus diesem Segment schon lange ausgestiegen. „Als die Modelle in ihrer Bedienung komplizierter wurden“, erinnert sich Niggemann, „waren die meisten Verkäufer überfordert. Sie konnten dem Fachpublikum die Funktionen nicht mehr richtig erklären. Unser Marktvorteil war die Beratung. Diese Vergangenheit hat uns geprägt.“ Selbst in Zeiten des Internets bevorzugen viele Kunden den persönlichen Kontakt. Trotz ausführlicher Prospekte tauchen immer eine Menge Fragen auf. „Insbesondere in der Vorweihnachtszeit klingelt das Telefon unentwegt. Wir leben bis

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heute von der Expertise. Das Fachhändlerwissen ist ein Teil unseres Erfolges“ – davon ist Niggemann überzeugt. Das Unternehmen hat sich schnell vom reinen Computeranbieter in Richtung Schachhändler mit breitem Sortiment entwickelt. „Heute sind wir eine Art OBI des Schachs“, betont Niggemann nicht ohne Stolz. „Wir möchten Ansprechpartner für den Kunden in allen Schachbereichen sein. So komplett hat das vor uns noch kein anderer Händler in Deutschland gemacht.“ Der Erfolg beruht auch auf der Größe und der Breite des Sortiments. Das Unternehmen ist schnell gewachsen, weil es im Laufe der Zeit mehrere Konkurrenten übernommen hat. Insgesamt sind heute sieben Vollzeit- und fünf bis sechs Teilzeitkräfte beschäftigt. „Wir haben knapp 600 m² Fläche. Und auch das ist mittlerweile zu klein für unser Sortiment“, sagt Niggemann. „Wenn man wächst, nimmt man größere Stückzahlen ab. Dadurch sind wir für viele ausländische Verlage zum Grossisten avanciert. Die Versandkosten sind exorbitant hoch. Damit sich der Vertrieb lohnt, muss man Bücher aus England und den USA, Figuren aus Indien oder Bretter aus Spanien in großen Stückzahlen abnehmen“, erklärt er. „Aber dafür braucht es genügend Lagerkapazität.“ 10 - 15 % seiner Kunden sitzen im Ausland, darunter mehrere Händler. Grund ist der harte Wettbewerb in Deutschland, der die Preise im Vergleich zu anderen Ländern niedrig hält. Niggemann expandiert heute nicht mehr im eigenen Land, sondern vor allem in Osteuropa. Der Schwerpunkt des Verkaufs konzentriert sich inzwischen auf die Bücher – obwohl die Produktion deutscher Publikationen stetig zurückgegangen ist. Bestseller wie Secrets of Modern Chess Strategy von Watson oder Silmans How to Reassess Your Chess?, gehen vor allem in Englisch. Mittlerweile setzt Niggemann in Deutschland mehr englischsprachige

Bücher ab, als die Verlage in England verkaufen. „Die Aktualität ist heute wichtiger als die Sprache“, weiß Niggemann. Einige Kunden kommen von weit her, um im riesigen Büchersortiment zu stöbern – auch aus dem Ausland. Und wie zur Bestätigung betritt während unseres Gesprächs ein Stammkunde den Laden. Er arbeitet in China. Jedes Mal wenn er in Deutschland ist, macht er einen Abstecher zu Niggemann – eben weil er hier alles findet. Das Internet hat das Geschäft radikal verändert. Heute ist die Website das wichtigste Verkaufsinstrument. Um die große Menge an Bestellungen zu bewältigen, hat Niggemann eine neue Warensoftware eingerichtet. „Negativ ausgedrückt sind wir Kontrollfetischisten“, sagt er. „Die Produkte werden jetzt mehrfach geprüft, bevor sie rausgehen. Die Kunden wollen schnell bedient werden.“ Wegen der beträchtlichen Menge werden die Pakete täglich von den Postunternehmen abgeholt. Trotz seines Erfolges sieht Niggemann etwas pessimistisch in die Zukunft: „Es gibt zwar positive Trends im Schulschach und das Internet erleichtert heute die schachliche Begegnung. Doch für Vereine und den Schachmarkt würde selbst ein Boris Becker des Schachs in Deutschland nur einen gemäßigten Aufschwung bringen. Die Zeiten, in denen das Schach boomte, sind vorbei. Der Kreis der Schachinteressierten wird eher kleiner. Und wir verzeichnen eine gewisse Sättigung bei gestiegener Anzahl von kleineren Händlern mit z. T. ruinösem Wettbewerb. Eine so große Firma wie Niggemann wird sich am Markt wohl nicht mehr etablieren können.“ Der Beruf nimmt Niggemann heute zeitlich so stark in Anspruch, dass er kaum noch Schach spielt. Obwohl er an der Quelle sitzt, hat er für die vielen Lehrbücher keine Zeit mehr. Er fährt lieber Rad. Entspannung ist ihm heute wichtiger als Konzentration.

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REZENSIONEN

KÄMPFERISCHE SIEGE Vergeblich sucht man in der Historie einen Spieler, der über eine ähnliche Spielstärke wie Viktor Kortschnoi im Alter von über siebzig Jahren verfügte. Wie gut er heute noch spielt, sah man im Februar dieses Jahres in Gibraltar, als er das 19-jährige italienische Nachwuchstalent Fabiano Caruana mit Schwarz besiegte – immerhin ein 2700er, der zur erweiterten Weltspitze zählt. Dabei war der Leningrader ein Langsamstarter. Er hat zwar in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Schachgeschichte maßgeblich mitgeschrieben, seinen Zenit erreichte er aber erst im relativ hohen Schachalter von Anfang vierzig, als er zweimal gegen Karpow um die WM spielte. Schon die erste Partieanalyse beginnt mit dem Worten „Ich war kein Wunderkind“. Kortschnoi musste sich viel erarbeiten, aber ohne großes Talent – darauf weist Sosonko im Geleitwort hin – wäre eine solche Spielstärke in diesem Alter undenkbar. In diesem Jahr feiert dieses schachliche Urgestein seinen achtzigsten Geburtstag. Aus diesem Anlass hat Olms seine Partiensammlung, die schon vor zehn Jahren – damals allerdings in zwei Bänden – erschienen war, ergänzt um zehn neue Partien wiederaufgelegt. Das schachliche Oeuvre Kortschnois ist natürlich schon durch die enorme Lebenspanne gewaltig. Im Vorwort erklärt er, dass er die insgesamt 110 präsentierten Glanzlichter aus einem Fundus von über 2000 gewonnen Partien ausgewählt hat. Wohl dem, der auf so viele Erfolge zurückschauen kann. Bei der Auswahl dieser Sammlung war für Kortschnoi nicht vorwiegend die Qualität ausschlaggebend. Einige seiner Perlen vermisst man. Im Vordergrund steht der Kampf und weniger der fehlerfreie Vortrag. Außerdem repräsentieren die Partien gleichmäßig alle Zeitabschnitte seines Wirkens und bieten möglichst viele unterschiedliche Eröffnungen und Gegner. Einzig gegen Karpow und Polugajewski sind mehr als zwei Partien enthalten. Selbst Lieblingsgegner wie Tal oder Feinde wie Petrosjan sind nur mit einer Partie repräsentiert. Die Kommentare Kortschnois gehen immer über die Geschehnisse auf dem Brett hinaus. Er gibt häufig Biographisches preis, widmet sich den Umständen der Partie, seinen Gegner oder seiner jeweiligen Lebenssituation. Rein schachlich versucht er stets die Pläne und Ideen

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ausführlich zu erklären. So wird jede Analyse zu einer kleinen Geschichte. Das ist originell und macht das Nachspielen dieser Partien sehr unterhaltsam. Wer allerdings mehr über Kortschnois Leben erfahren will, muss zur Biographie greifen, die ebenfalls bei Olms erschienen ist. Gelegentlich wird auch deutlich, warum Kortschnoi nicht bei all seinen Kollegen beliebt ist. In der Partie gegen Bischoff nimmt er beispielsweise Bezug auf John Nunn. Eigentlich schrieb der Engländer recht wohlwollend, dass Kortschnoi eindrucksvoll demonstriert habe, wie man gegen schwächere Spieler, deren Spiel auf unentschieden ausgelegt ist, mit Schwarz gewinnt. Kortschnoi nutzt diese Steilvorlage, um alle Thesen Nunns, der damals schon zur erweiterten Weltspitze gehörte, zu widerlegen. Ihm fehle „ein Blick für Gefahren, die in strategisch angelegten Partien lauern.“ Zu einem Zug von Hübner heißt es, er sei typisch für dessen Nihilismus. Waganjan sei „ein Großmeister mit enormen praktischen Fähigkeiten. Aber er ist mehr Künstler als Kämpfer. Und wie jeder Künstler hängt er von seiner Inspiration ab. Nur leuchtet einem die Inspiration nicht immer, wenn man sie braucht.“ Oder allgemein: „Bereits nach wenigen Zügen einer Partie lässt sich sagen, ob ein Spieler schachlich umfassend ausgebildet wurde, oder ob er hier und da in Partien mit erfahrenen Gegnern etwas aufgeschnappt hat. In der modernen Schachwelt ist bei der überwiegenden Mehrzahl der Spieler letzteres der Fall.“ Und einen eigenen zweifelhaften Zug kommentiert er mit Seitenhieb auf Kasparow: „[D]amals als der Weltmeister sein Schicksal mit erbärmlichen Königsindern versuchte, musste es auch einem kleineren Licht erlaubt sein, die heiligen Gesetze des Positionsspiels zu verletzen.“ Und: „Bent Larsen, dem die Partie sehr gefallen hat, schätzte die Stellung aber als gewonnen für Weiß ein. Anscheinend hat er das Wünschenswerte mit dem Wirklichen verwechselt.“ Diese Anmerkungen spiegeln recht gut den Charakter Kortschnois wieder. Etwas unglücklich ist die Bindung. Will man eine Partie nachspielen, muss man eigentlich den Rücken brechen, weil das Buch nicht aufgeschlagen liegen bleibt. Dies wird jedoch für die echten Schachliebhaber den Genuss dieses Buches, einem Leckerbissen von einem der ganz großen Spieler, nur peripher beeinträchtigen. hs

Viktor

Kortschnoi,

Meine

besten Kämpfe. Aktualisierte Jubiläumsausgabe. Hrsg. von Ken

Neat.

Edition

Olms

2011, 432 S., 19,95 Euro

Das

Rezensionsexemplar

wurde freundlicherweise von Schach E. Niggemann zur Verfügung gestellt.

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