online-zeitschrift für Interkulturelle Studien

March 17, 2016 | Author: Hetty Armbruster | Category: N/A
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online-Zeitschrift für Interkulturelle Studien

Inhalt I Jahrgang 11 I Ausgabe 16 I www.interculture-journal.com Vorwort Elias Jammal Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität

Dominic Busch Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen Kommunikation

Anne Schreiter Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung. Eine designtheoretische Perspektive

Jan-Christoph Marschelke Recht und Kultur Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur und Interkulturalität

Mirjam Hermann/ Maja Schachner/ Peter Noack „Ich bin eigentlich anders.“ Subjektive Konstruktionen ethnischer Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung

Karsten Müller/ Regina Kempen/ Tammo Stratmann Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen

Va o daa Silva Vasco ilva// Hele He lena n Dra rawert rt Zur liling Zur n uist stis isch chen Ana nalyyse biog bi grafischh na narr r ativerr IInt nterrvieews: D e Innen- und Di nd Au A ßenper ersspektive vo on internationa nale len Studiereend den am Beispiel von n zw zwei aktuellllen n Forsch c ungsprojjek ekte ten

Gesine Hofing ger er// Verena Jungnickel/ l/ Robert r Zinke// Laur uraa Kü Künzzerr Interprofessioneellle Zu Zusa samm mmeenaarbe beit it in Integrierten Leeittst stellle len n

Interkulturelle Forschung an deutschsprachigen Hochschulen – disziplinäre Perspektiven und interdisziplinäre Best Practices Gastherausgeber: Daniela Gröschke | Jürgen Bolten

Isabella Waibel Interkulturelle Commun unit itie iess im Hochschulbereeic ich: h Kon o zeept für ein deutsch-polnisches Net etzwerrk

Gundula Gwenn Hiller e/ Stephan Wolting Akad demische Wissensproduktion n als interkulturelles Forschungsfeld

Jan-Christoph Marschelke Interdisziplinäre „Best Practice“– Das Projek e t „Globale Syste teme me und interkulltureellle Ko Komp mpet eten enz“ z“ (GSiK) der Uniive v rsit ität ät Wür ürzb zbur urg g

Elke Bosse Perspektivtriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse

Herausgeber: Jürgen Bolten Stefanie Rathje unterstützt von: / supported by:

2012

Herausgeber: Prof. Dr. Jürgen Bolten (Jena) Prof. Dr. Stefanie Rathje (Berlin) Gastherausgeberin: Daniela Gröschke (Jena) | Jürgen Bolten (Jena) Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Dr. h.c. Rüdiger Ahrens (Würzburg) Prof. Dr. Manfred Bayer (Danzig) Prof. Dr. Klaus P. Hansen (Passau) Prof. Dr. Jürgen Henze (Berlin) Prof. Dr. Bernd Müller-Jacquier (Bayreuth) Prof. Dr. Alois Moosmüller (München) Prof. Dr. Alexander Thomas (Regensburg) Chefredaktion und Web-Realisierung: Mario Schulz Editing: Diana Krieg Fachgebiet: Interkulturelle Wirtschaftskommunikation Friedrich-Schiller-Universität Jena ISSN: 1610-7217 www.interculture-journal.com

Inhalt / Content

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Vorwort der Herausgeber [Preface]

Teil I: Disziplinäre Zugänge zu Kultur und Interkulturalität 5

Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität [Intercultural philosophy and interculturalism]

Elias Jammal 23

Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen Kommunikation [Recent Changes in Linguistic Research on Intercultural Communication]

Dominic Busch 49

Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung. Eine design-theoretische Perspektive [Designing Culture. Dynamics between economiza-tion and creative mess]

Anne Schreiter 63

Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur und Interkulturalität [Essay on: How can jurists contribute to the topics and concepts of culture and in-terculturality?]

Jan-Christoph Marschelke 95

„Ich bin eigentlich anders.“ Subjektive Konstruktionen ethnischer Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung [„Actually I am different.“ Subjective constructions of ethnic identity in a migration context and new ways in psychological acculturation research]

Mirjam Hermann/ Maja Schachner/ Peter Noack

Inhalt / Content

Teil II: Methodische Zugänge zum Forschungsgegenstand Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen

117

[Methodological approaches and developments in intercultural research on business psychology using the example of organizational attitudes]

Karsten Müller/ Regina Kempen/ Tammo Straatmann Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse

143

[Triangulation of perspectives: combining conversation and content analysis]

Elke Bosse

Teil III: Aktuelle Forschungsprojekte Zur linguistischen Analyse biografisch-narrativer Interviews: Die Innen- und Außenperspektive von internationalen Studierenden am Beispiel von zwei aktuellen Forschungsprojekten

167

[A linguistic analysis of auto-biographical narrative interviews: The internal and exter-nal perspectives of interna-tional students using the example of two current research projects]

Vasco da Silva/ Helena Drawert Interprofessionelle Zusammenarbeit in Integrierten Leitstellen [Inter-professional cooperation in integrated control centers]

Gesine Hofinger/ Verena Jungnickel/ Robert Zinke/ Laura Künzer

181

Inhalt / Content

187

Interkulturelle Online-Communities im Hochschulbereich: Konzept für ein deutsch-polnisches Hochschulnetzwerk [Intercultural communities at institutions of tertiary education: A concept for a German-Polish university network]

Isabella Waibel 197

Akademische Wissensproduktion als interkulturelles Forschungsfeld [Academic communication as an intercultural topic of interest]

Gundula Gwenn Hiller/ Stephan Wolting

Teil IV: Best Practices in interkultureller Lehre und Forschung 211

Interdisziplinäre Best Practice – Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz“ (GSiK) der Universität Würzburg [An example of interdisciplinary best practice – The study program „Global Systems and Intercultural Competence“ (GSIC) run by the University of Wuerzburg

Jan-Christoph Marschelke

Vorwort der Pleaseinsert insertthe thetitle titleof of Please Herausgeber your article here your article here

Firstname nameSurname Surname First Pleaseinsert insertinformation informationabout about Please the author here (e.g. title, posithe author here (e.g. title, position, institution) tion, institution)

Unser Special Issue enthält die Beiträge des 2. Jenaer Sommer-Symposiums „Interkulturelle Forschung an deutschsprachigen Hochschulen – disziplinäre Perspektiven und interdisziplinäre Best Practices“. Die Veranstaltung wurde Anfang September 2011 auf den Dornburger Schlössern und in der Universität Jena durchgeführt. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage nach Möglichkeiten, Methoden und praktischen Strategien der Erforschung von Interkulturalität im deutschsprachigen Raum. Das Thema war bewusst weit gefasst und sollte Vertreter unterschiedlicher Fachdisziplinen einladen, aus ihren fachlichen Perspektiven heraus Schnittstellen für kooperative, interdisziplinäre Forschungsansätze zu markieren. Motiviert war dieses Vorhaben durch die Beobachtung, dass interkulturelle Forschungstätigkeiten in den vergangenen Jahren einen deutlichen Aufschwung erfahren haben und inzwischen über das gesamte Spektrum der Fakultäten hinweg anzutreffen sind. Sie bilden Thema sowohl in den Kultur- und Kommunikationswissenschaften als auch in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften oder inzwischen verstärkt auch in den Technik- und Naturwissenschaften. Eine gemeinsame Verständigungsplattform existiert indes bislang nicht, was zum Teil zu asynchronen Entwicklungen geführt hat, in deren Rahmen so manches Rad bereits mehrfach erfunden worden zu sein scheint. Die Transparenz interkultureller Forschung und Lehre an Hochschulen des deutschen Sprachraums zu erhöhen, ist zentrale Zielsetzung des Hochschulverbands für Interkulturelle Studien (IKS). Vor diesem Hintergrund lag es nahe, den Hochschulverband IKS als Partner des Symposiums zu gewinnen. Dies sollte dazu beizutragen, den Aufbau einer Community interkulturell orientierter ForscherInnen zu unterstützen, die sich über ihre unterschiedlichen Ansätze und Zugänge zu interkulturellen Fragestellungen austauscht, voneinander lernt, neue Perspektiven entwickelt und Synergien lebt. Eine wichtige Voraussetzung hierfür war durch die vielfältigen disziplinären Hintergründe der Symposiumsteilnehmer gegeben (siehe Abbildung 1).

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Abb. 1: Disziplinäre Primärsozialisationen: Hintergrund der TeilnehmerÌnnen des 2. Jenaer Sommersymposiums. Quelle: Eigene Darstellung.

In vergleichbarer Weise bunt stellte sich das Tableau der Forschungsschwerpunkte der SymposiumsteilnehmerInnen dar:

Abb. 2: Forschungsschwerpunkte der Teilnehmer des 2. Jenaer Sommersymposiums. Quelle: Eigene Darstellung.

Da sich in den Fachdisziplinen unterschiedliche Theorien und Methoden zur Erforschung interkultureller Fragestellungen entwickelt haben, ist es geboten, einzelne theoretische Ansätze und Methoden zu vergleichen, zu reflektieren und Anknüpfungspunkte aufzuzeigen.

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In diesem Sinn setzt sich auch unser Special Issue zum Ziel fachspezifische Ansätze aus einer theoretischen und methodologischen Perspektive zu beleuchten, Überschneidungspunkte zu skizzieren und mögliche Synergien zu identifizieren. Daher gliedert sich der Band in vier thematische Spektren: 1) Disziplinäre Zugänge zu Kultur und Interkulturalität, 2) Methodische Zugänge zum Forschungsgegenstand, 3) Aktuelle Forschungsprojekte und 4) ein Best-Practice aus der interdisziplinären Lehre. Im ersten Themenspektrum geht es um disziplinäre Zugänge zu Kultur und Interkulturalität. Elias Jammal appelliert in seinem Beitrag an die interkulturelle Philosophie, zur Professionalisierung und zur wissenschaftstheoretischen Fundierung interkultureller Forschung verstärkt beizutragen. Dominic Busch referiert Entwicklungstrends in den Sprachwissenschaften und ihre Positionierung gegenüber Fragestellungen der interkulturellen Kommunikationsforschung. Anne Schreiter setzt sich aus einer managementorientierten Perspektive mit dem Kulturbegriff auseinander und beleuchtet Schnittstellen zwischen Wirtschaft und interkultureller Kommunikationsforschung. Jan-Christoph Marschelke geht der Frage nach, wie sich die Rechtswissenschaften mit interkulturellen Fragestellungen befassen (müssen) und welche Zugänge hierbei gewählt werden. Mirjam Hermann, Maja Schachner und Peter Noack berichten aus einer psychologischen Perspektive, wie sich ethnische Identität entwickelt und welche Forschungshinweise sich daraus für die Akkulturationsforschung ableiten lassen. Im zweiten Themenspektrum werden methodische Zugänge zum Forschungsgegenstand sowohl unter quantitativen als auch unter qualitativen Gesichtspunkten beleuchtet. Karsten Müller, Regina Kempen und Tammo Straatmann skizzieren auf der Grundlage einer psychologisch orientierten Forschungslogik die methodischen Entwicklungen und Herausforderungen interkultureller Forschung am Beispiel organisationaler Einstellungen. Elke Bosse beschreibt einen qualitativen Ansatz, die Perspektiventriangulation, um darüber zu Erkenntnisgewinnen über interkulturelle Trainings gelangen zu können. Im dritten Themenspektrum werden aktuelle Forschungsprojekte vorgestellt. Da sich die Projekte in unterschiedlichen Projektstadien befinden, kommen unterschiedliche Beschreibungsperspektiven zur Geltung. Vasco Da Silva und Helena Drawert stellen ihre Dissertationsprojekte in den Sprachwissenschaften vor und stellen hierbei ihren gemeinsamen Kern – die linguistische Analyse biografisch-narrativer Interviews – in den Mittelpunkt ihrer Beschreibungen. Aus einer interdisziplinären Perspektive fassen Gesine Hofinger, Verena Jung-

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nickel, Robert Zinke und Laura Künzer Ergebnisse ihrer Befragung zu Herausfor-derungen der interorganisationalen Kooperation in Integrierten Leitstellen zusammen. Die letzten beiden Beiträge beziehen sich auf zum Tagungszeitpunkt soeben erst konzi-pierte Projekte: Isabella Waibel stellt die Entwicklung interkultureller Communities im Hochschulbereich als Element des interkulturellen Dialogs und Wissensaustauschs vor; Gundula Gwenn Hiller und Stephan Wolting gehen in ihrem Projekt der Frage nach, wie sich Interkulturalität auf die Wissensproduktion in akademischen Kontexten auswirkt. Das vierte Themenspektrum ist Best Practices in der interkulturellen Lehre gewidmet. Jan-Christoph Marschelke ermöglicht in seinem Beitrag Einblicke in den Aufbau und die Organisation eines interfakultären Projektes der Universität Würzburg, bei dem es darum geht, Studierende auf das Handeln in globalen Kontexten vorzubereiten und die interkulturelle Kompetenz zu optimieren. Unter Bezugnahme unterschiedlicher Ansätze wird dargelegt, wie interkulturelle Sensibilität oder Kompetenz in der Hochschullehre vermittelt werden kann. Wir bedanken uns bei den AutorInnen für die eingereichten Beiträge und hoffen mit diesem Band Reflexionen über das Forschungshandeln in interkulturellen Gegenstandsbereichen anzuregen. Ein ganz besonderer Dank geht an die ErnstAbbe-Stiftung und die Universität Jena, ohne deren finanzielle Unterstützung die Tagung in diesem Rahmen nicht hätte stattfinden können. Daniela Gröschke (Jena) und Jürgen Bolten (Jena) im Mai 2012

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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität

Interkulturelle PhilosoPleaseinsert insertthe thetitle titleof of Please phie und Interkulturaliyour article here your tät article here [Intercultural philosophy and interculturalism] Firstname nameSurname Surname First PleaseJammal insertinformation informationabout about Please insert Elias the author here (e.g. title, posithe author here (e.g. title, posiSeit 1998 Professor für interkultution, institution) tion, institution) relle Studien an der Hochschule Heilbronn. Dort leitet er das Orient Institut für Interkulturelle Studien (OIS).

Abstract [English] Intercultural philosophy is a young field of research. In this paper, a short history of this field is provided and some major scholars of intercultural philosophy are presented. After an overview of the characteristics of intercultural philosophy, a suggestion is made on extending the current scope of research to include reflections on notions and assumptions of the research on intercultural communication. The suggestion made is discussed and exemplified by the notions of culture and intercultural competence. The suggestion given in this paper refers mainly to Aristotle and his works on metaphysics and ethics. Keywords: Philosophy, intercultural philosophy, intercultural communication, Aristotle Abstract [Deutsch] Interkulturelle Philosophie ist eine junge Forschungsrichtung. Die Geschichte sowie einige Hauptvertreter der interkulturellen Philosophie werden in diesem Papier vorgestellt. Nach einer näheren Charakterisierung wird ein Vorschlag zur Erweiterung der interkulturellen Philosophie präsentiert und erörtert. Der Vorschlag zielt darauf ab, Begriffe und Annahmen der Forschung über interkulturelle Kommunikation zu reflektieren. Ferner wird dieser anhand eines Beispiels zu den Begriffen der Kultur und der interkulturellen Kompetenz exemplifiziert. Dabei wird auf Aristoteles in seinen Schriften zur Metaphysik und Ethik rekurriert. Stichworte: Philosophie, interkulturelle Philosophie, interkulturelle Kommunikation, Aristoteles 1.

Einleitung

Man wird wohl kaum sinnvollerweise die Frage stellen, warum Ethnologen sich mit Interkulturalität beschäftigen. Höchst wahrscheinlich ruft diese Frage auch bei Sprachwissenschaftlern keine allzu große Verwunderung hervor und bei Erziehungswissenschaftlern – gerade in Anbetracht des demographischen Wandels, Stichwort Migration, auch nicht ganz. Dass aber nun Philosophen mit der Interkulturalität liebäugeln, ruft die Frage nach dem Warum in besonders scharfer Form hervor. Warum sollen Philosophen, die sich ja bekanntlich mit den ewigen Fragen der Menschheit beschäftigen, also mit den Fragen nach dem Woher und Wohin, nach dem Sinn,

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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität

nach der ewigen Ordnung der Dinge etc., warum ausgerechnet sie nun Interkulturalität thematisieren und ob die Begriffsarbeit der Philosophen einen Erkenntnisgewinn in Sachen Interkulturalität hervorbringen kann. In diesem Beitrag wird versucht, Antworten auf diese Fragen zu geben. Zunächst wird auf die Geschichte des interkulturellen Philosophierens und dabei auf die wesentlichen Vertreter und deren Ansätze eingegangen. Dabei soll verständlich gemacht werden, was Interkulturalität in diesen Ansätzen meint. Anschließend wird für eine Erweiterung der bestehenden Ansätze plädiert und die Erweiterung diskutiert. Ein Hauptanliegen dieser ist die Reflexion über Grundbegriffe und Annahmen der interkulturellen Kommunikation. Am Ende wird anhand eines Beispiels die Sinnhaftigkeit der Erweiterung der bestehenden Ansätze interkulturellen Philosophierens exemplifiziert. 2. 2.1

Was ist interkulturelle Philosophie (IP)? Geschichte und Hauptvertreter

Geschichte Bereits im Jahre 1973 hatte der Philosoph Ram Adhar Mall regelmäßig einmal im Monat Dozenten, Studenten und Oberstufenschüler eingeladen, um mit ihnen über europäische und asiatische Philosophie zu diskutieren. Im Jahre 1992 ließen die Mitglieder dieses Zirkels einen Verein beim Amtsgericht Köln eintragen und Gründungspräsident wurde Ram Adhar Mall. Zurzeit bilden Claudia Brickmann (Uni Köln) und Georg Stenger (Uni Wien) das Präsidium der Gesellschaft für interkulturelle Philosophie (GIP) e.V. Es gibt inzwischen auch eine Wiener Gesellschaft für IP (derzeitiger Stand: Präsidentin ist Ursula Baatz und Vize-Präsident ist Franz Wimmer, beide von der Uni Wien). Im Jahre 2004 wurde die Schriftenreihe Interkulturelle Bibliothek ins Leben gerufen und die Gesellschaft für IP veranstaltet jährlich Konferenzen in und außerhalb des deutschsprachigen Raums. Eine Zeitschrift mit dem Namen polylog erscheint seit 1998 zweimal jährlich. Herausgeber ist die Wiener Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie, der Franz Wimmer von der Uni Wien vorsteht. Die aktuelle Ausgabe (25 / 2011) widmet sich der Reflexion über die Entwicklungen auf dem Gebiet der interkulturellen Philosophie. Andere Beispiele aus den Inhalten der Zeitschrift sind: In der Ausgabe (24 / 2010) geht es um das Thema Übersetzen, in der Ausgabe davor (23

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/ 2010) ging es um das Thema Geld. Es finden sich aber auch Themen wie Toleranz (21 / 2009), Sinneskulturen (22 / 2009), Gerechtigkeit (6 / 2000) oder Hybridität (8 / 2001). Hauptvertreter Hauptvertreter der IP sind heute neben Ram Adhar Mall und Franz Wimmer Heinz Kimmerle, Claudia Brickmann, Georg Stenger, Rolf Eberfeld, Wolfgang Welsch, Bernhard Waldenfels, Dieter Lohmar, Elmar Holenstein, Thomas Göller, Hamid Reza Yousefi, Raimon Panikkar u. v. a. Nachfolgend wird aus Platzgründen lediglich kurz auf einige Hauptvertreter eingegangen. Ram Adhar Mall beschäftigt sich mit einem Vergleich deutscher und indischer Philosophie und diskutiert in seinen zahlreichen Veröffentlichungen unterschiedliche Antworten auf dieselben philosophischen Fragen. Er beleuchtet also Grundfragen der Philosophie im kulturellen Vergleich. Vieles schrieb er über Logik (Mall 1998, Mall / Lohmar 1993). Franz Wimmer beschäftigt sich mit der Interkulturalität und dem Dialog der Kulturen allgemein (Yousefi / Mall 2005:43). Etwas pointierter als andere Hauptvertreter stellt Wimmer der IP die Aufgabe, sie möge die kulturellen Voraussetzungen des jeweiligen Philosophierens ans Tageslicht bringen. Wimmer stellt die Frage als Aufgabe: „Welche Werte und welche Menschenbilder [haben] die regional begrenzten Kulturen hervorgebracht […], die zur Bewältigung der gegenwärtigen und absehbaren Menschheitsprobleme fruchtbar sind“ (Wimmer 2004:47). Er schreibt weiter: IP solle „implizite, kulturell bedingte Denkweisen analysieren“ (Wimmer 1998:12). Heinz Kimmerles Schwerpunkt ist die Philosophie in der SubSahara in Afrika. Darüber hinaus versucht er, die Werke abendländischer Philosophen, wie z. B. Hegel, aus interkultureller Perspektive zu lesen, so auch in seinem Buch aus dem Jahre 2005 „Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Interkulturell gelesen“. Thomas Göller arbeitet die historischen Bezüge interkulturellen Philosophierens heraus und führt mehrere Beispiele von Philosophen auf, die – freilich ohne den Begriff zu verwenden – eine interkulturelle Perspektive aufweisen: Leibniz, Vico, Schopenhauer etc. Damit will er zeigen, dass eine interkulturelle Perspektive in der Philosophiegeschichte – zumindest bei einigen Philosophen – nicht unüblich war. Interessant ist schließlich, dass die genannten Hauptvertreter IP in der Hauptsache auf drei Philosophen zurückgreifen: Plessner, Jaspers und Max Scheler. Vor allem wird häufig auf einen Aufsatz Schelers mit dem Titel „Der Mensch im Zeitalter des Ausgleichs“ (Scheler 1976) Bezug genommen. Der

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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität

Mensch, so Scheler in dem besagten Text, befinde sich auf der Schwelle in ein neues „Weltalter“, in welchem – einer Logik des „Ausgleichs“ folgend – die in seinem Wesen angelegten Möglichkeiten weiter „ausgewirkt“ und seine Gruppierungen (Zivilisationen, Kulturen, Rassen, Völker) in den Verhaltensweisen und Vorstellungsgehalten sich einander weiter annähern würden (Scheler 1976:151ff.). Mit Fokus auf die ihm gegenwärtige westliche Gesellschaft und die asiatischen Zentren China, Japan und Indien prognostiziert Scheler einen voranschreitenden Ausgleich vor allem im Hinblick auf die spezifischen Welt-, Selbst- und Gottesauffassungen; sodann einen Ausgleich zwischen den Menschen, so z. B. zwischen männlichen und weiblichen „Geistesarten“, zwischen Kapitalismus und Sozialismus; einen Ausgleich zwischen Jugend und Alter et cetera (ebd.). Institutionelle Verankerung an Hochschulen Zum Schluss dieses Abschnittes ist auf die Verankerung interkultureller Philosophie an den Universitäten einzugehen. Es gibt einen einzigen Lehrstuhl, der sich interkultureller Philosophie explizit verschreibt: Das ist der neulich ins Leben gerufene Lehrstuhl für Philosophie in einer globalen Welt an der Universität Wien. Lehrstuhlinhaber ist Georg Stenger. Ansonsten, und nach einer Studie von Nausikaa Schirilla an 20 deutschsprachigen Universitäten, ist ein Modul Interkulturelle Philosophie lediglich an drei Universitäten im Curriculum verankert: Bremen, Wien und Köln (Schirilla 2011:31ff.). 2.2

Grundverständnis von Philosophie und IP

Die o. g. Hauptvertreter IP würden vermutlich dem Vorschlag Wimmers zustimmen, wonach Philosophie Antworten auf ewige, in allen Kulturen zu findende ontologische oder erkenntnistheoretische oder wert- und normentheoretische Grundfragen sucht (Wimmer 2004:26). Dies kann sie tun, indem sie Begriffe definiert, Argumente entwickelt, Methoden des Erkenntnisgewinns und der Irrtumsvermeidung reflektiert. Aber nicht nur. Die Antworten können, so Wimmer, auch in Form von oral überlieferten Mythen oder in Religionen erfolgen (ebd.). Panikkar geht hier am weitesten, in dem er apodiktisch behauptet: „Philosophie ist Mythos“ (Panikkar 1998:13ff.). Ram Adhar Mall schreibt in der ersten polylog-Ausgabe: „Philosophie ist ein Kulturprodukt, und jede Kultur enthält Philosophie, mag diese auch im Poetischen oder gar Mythologischen impliziert sein“ (Mall 1998:54). Nach Kimmerle gehört zu jeder menschlichen Kultur eine spezifische Form der Philosophie (2002:47). Für ihn gilt als Philosophie „jede Deutung der Welt und des menschlichen Lebens, die mit dem Anspruch

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auf rationale Begründbarkeit unternommen wird“ (ebd.:54). Die rationale Begründbarkeit, so Kimmerle, besteht jedoch nicht ausschließlich in der logischen Konsistenz und in der argumentativen Richtigkeit. Vielmehr versteht er darunter einen „Denkzusammenhang, der sich in jeder Hinsicht nur der eigenen Mittel des Denkens bedient“ (ebd.). Mit diesem Philosophieverständnis ist es den Autoren möglich, die ältesten schriftlichen Dokumente, das sind Rig-Veda und Artharva-Veda aus der indischen Überlieferung (zwischen 2000 und 1000 v. u. Z. entstanden) als philosophische Dokumente zu bezeichnen. Dieser Logik folgend, gilt z. B. auch das Gilgamesch-Epos als philosophisches Traktat. Es dürfte nun erkennbar geworden sein, dass die Vertreter der IP die in der Literatur zur Philosophiegeschichte verbreitete Unterscheidung zwischen Mythos und Logos (vgl. z. B. Schadewaldt 1979) jedenfalls relativieren, wenn nicht gänzlich ablehnen. Für Kimmerle ist die Entstehungsgeschichte der Philosophie die Geschichte der nicht abschließbaren relativen Herauslösung des Philosophischen aus den mythischen, poetischen oder auch religiösen Formen des Denkens (Kimmerle 2002:55). IP, so lautet also die erste These, stellt einen abgeschlossenen Übergang vom Mythos zum Logos als Weg zur Philosophie in Frage. Eine etwas andere Auffassung zum Verhältnis von Mythos zum Logos vertritt Christian Thies (2011). Philosophieren, so Thies, ist das systematische Nachdenken über zentrale Probleme unseres Lebens, die sich z. B. aus den Fragen Kants ergeben: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? (Thies 2011:192). Was Thies unter „systematisch“ verstanden haben möchte bzw. ob sein Begriffsverständnis es erlaubt, auch geschriebene Mythen als philosophische Werke zu betrachten, ist in seinen Ausführungen nicht ganz klar. Er unterscheidet fünf Formen einer „philosophischen Interkulturalität“ (ebd.:202ff.), die seinen Begriff interkulturellen Philosophierens weiter verdeutlichen: Vernichtung, Transfer, Rezeption, Gedankenanstoß und Desinteresse. Dadurch wird klar, dass sein Begriff interkulturellen Philosophierens im Wesentlichen die Beziehungen zwischen Philosophien meint bzw. wie sie aufeinander wirken (ebd.). So verstanden, folgert er richtigerweise, dass das Philosophieren schon immer interkulturell war und heute noch ist. Weitere Thesen i. d. H. von Mall und Wimmer zum interkulturellen Philosophieren lassen sich wie folgt zusammenfassen:

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IP ist keine Disziplin neben der Philosophie. Auf der Homepage der GIP ist zu lesen: „Interkulturelle Philosophie versteht sich […] nicht als eine Philosophie innerhalb einer jeweils bestehenden Philosophie, auch ist sie nicht Theorie der Kulturen so wenig wie eine besondere Art der Kulturtheorie; sie ist überhaupt nicht ein besonderes Teilgebiet der Philosophie; sondern sie betrifft die Grundfragen der Annäherung aller Weltphilosophien untereinander. Dazu müssen all diese Traditionen aber in der gesamten thematischen und disziplinären Breite der in ihnen entfaltenden Weltentwürfe zur Sprache kommen können und Gegenstand der Forschung sein“ (http://www.intgip.de).



IP ist eine kritische Denkungsart innerhalb der Philosophie. Sie übt Zentrismuskritik aus: Nicht die abendländische Philosophie ist die einzige Philosophie. Man denke dabei an Heidegger, der die Formulierung, Philosophie sei abendländisch, als eine Tautologie ansieht (Heidegger 1981). Der Philosophiebegriff, so Heidegger, ist griechisch und folglich ist Philosophie nur abendländisch (ebd.). Der Begriff polylog, den Franz Wimmer einführte, steht für verschiedene Philosophien, von denen keine besser oder schlechter ist als andere.



IP will des Weiteren Philosophiebegriffe entkolonialisieren, in dem sie nicht abendländische Philosophien in ihren eigenen Begriffen sprechen lässt. Folglich finden wir in den Schriften zur IP zahlreiche Versuche, andere Philosophien als die abendländische vorzustellen und zu zeigen, dass sie ebenso ernstzunehmende Philosophien sind wie auch die abendländische Philosophie. Beispiele: Afrikanische 1 Philosophie, lateinamerikanische etc. IP versucht somit, die Philosophiegeschichte neu zu schreiben, auch in dem sie sie vom Rassismus befreit (Wimmer 1998:5ff).



Und schließlich: IP versucht, die Grundfragen der Menschheit in allen Kulturen aufzuspüren und deren Antworten darauf mit einander ins Gespräch zu bringen. Die Antworten auf die ewigen Fragen seien, so Mall, sich ähnlich im Sinne von Wittgensteins Familienähnlichkeit. Sie ähneln sich eben nicht in allen Merkmalen, und doch 2 sind sie sich ähnlich (Mall 1998:54ff.). Als Beispiel: Mall unternimmt den Versuch, die Fragen der Logik aus aristotelischer Sicht mit indischen Syllogismus-Ansätzen zu vergleichen.

Weitere Charakterisierungen IP erfolgen nun in Bezug auf die Begriffe der Kultur und der Interkulturalität.

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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität

3.

Kultur und Interkulturalität

Wimmer schreibt: „Mit der Kultur einer Gesellschaft, eines Volkes, eines Menschen bezeichne ich […] etwas intern Universelles, die jeweilige Einheit der Form aller Lebensäußerungen einer Gruppe von Menschen, und wir grenzen sie von der Kultur einer anderen Gruppe ab, welche wiederum für diese intern universell ist“ (1998:8). Für ihn bezeichnet Kultur einen statischen wie auch einen dynamischen Sachverhalt (ebd.) und „wird der statische Aspekt bei der Beschreibung menschlicher Gesellschaften verabsolutiert, so führt dies zu Vorstellungen von ‘kulturellen Inseln‘, die reinlich voneinander getrennt existieren“ (ebd.:9). Die Verabsolutierung des rein dynamischen Aspekts hingegen, so Wimmer, kommt dem Verhalten aus reiner Spontaneität gleich und stellt den anderen logischen Grenzwert dar. In Wahrheit, so Wimmer, bewegt sich Kultur zwischen beiden Extremen: „Womit wir es in Wirklichkeit zu tun haben, könnte vielmehr die Formel ´cultura creata quae creat` bezeichnen“ (ebd.). Es gibt jeweils den bestimmten Zustand von Vorstellungen, Normen, Anschauungen einer Gesellschaft oder Gruppe von Menschen, innerhalb dessen die einzelnen Mitglieder handeln, denken und fühlen. Dieser Zustand verändert sich jedoch durch und in den einzelnen Akten der jeweiligen Menschen, wobei geringere und stärkere Brüche stattfinden. Der Grad an Dynamik und Kreativität ist höchst unterschiedlich. Zwei Dinge, so Wimmer, „müssen wir uns vergegenwärtigen, wenn wir von den ‘Kulturen‘ sprechen, die aus der Geschichte und der Gegenwart bekannt sind: Erstens, dass es sich um Sachverhalte handelt, die sozusagen einen Kosmos, eine regelhafte Einheit schaffen. Kulturelle Einheiten tendieren dazu, ‘intern universell‘ zu sein, das heißt, alle Lebensbereiche und Ausdrucksweisen der Menschen, die sie repräsentieren, zu bestimmen. Zweitens sind wir seit Beginn der Neuzeit mit dem Phänomen konfrontiert, dass wesentliche Züge einer alten Kultur global wirksam etabliert werden, dass also eine globale ‘extern universelle‘ Kultur entsteht“ (Wimmer 2004:44ff.)

Beim Begriff der Interkulturalität wird auf die bekannte Unschärfe der Unterscheidung zwischen Inter- und Intrakulturalität hingewiesen. Das Präfix inter in dem Begriff der IP weist auf einen Zwischenraum hin, in dem Philosophien miteinander ins Gespräch kommen. Es geht also darum, zu zeigen, welche Antworten die verschiedenen Philosophien auf die ewigen Fragen der Menschheit gegeben haben. Wie oben dargelegt wurde, handelt es sich um eine Familienähnlichkeit zwischen den Antworten. Ähnlich argumentiert Thies im Rekurs auf Ottfried Höffe: Die Philosophie sei durch ihre lange Geschichte und durch ihren multikulturellen Ursprung dafür prädestiniert, als ein „Anwalt der Menschheit“ aufzutreten (Thies 2011:204).

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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität

Leider finden wir weder bei Mall, noch in den Schriften von Wimmer und Kimmerle Bezüge zu den aktuellen Diskursen der interkulturellen Kommunikation. Dies wird erst recht deutlich, wenn man sich die Ausführungen von Hamid Reza Yousefi zu interkultureller Kompetenz anschaut. Auch er bleibt leider hinter dem Forschungsstand in der interkulturellen Kommunikation zurück (vgl. hierzu Yousefi / Braun 2011:51). Wenn auf die Literatur der interkulturellen Kommunikation Bezug genommen wird, dann erfolgt dies selektiv, in Nebensätzen und in Fußnoten (ebd., siehe auch Thies 2011). Dies ist symptomatisch für die derzeitige interkulturelle Philosophie: Bei allen Hauptvertretern der IP gilt, dass sie den Stand der Diskussionen in der interkulturellen Kommunikation nicht kommentieren. Dass dies als Mangel anzusehen ist, soll im Laufe dieses Aufsatzes gezeigt werden. Jedenfalls trifft die Aussage von Thies in diesem Zusammenhang nicht uneingeschränkt zu, wonach die Philosophie stärker als alle anderen universitären Fächer eine Vermittlungsfunktion zwischen den verschiedenen Wissenschaften hätte und in diesem Sinne, so Thies, interkulturell sei (Thies 2011:200). Jedenfalls erfüllt sie diese Funktion in Bezug auf das Fach der interkulturellen Kommunikation nicht einmal in einer annähernd befriedigenden Weise. Ob dies daran liegt, dass in der interkulturellen Kommunikation weiterhin darüber debattiert wird, ob sie eine Disziplin darstellt oder nicht (vgl. Moosmüller 2007), mag dahin gestellt sein. Elmar Holenstein, der die zwei Fragen von Leibniz (Warum ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts?) und Locke (Wie ist es möglich, dass bare, nicht denkende Materie ein denkendes, intelligentes Wesen hervorbringt?) als zentrale, transnationale Fragen der Philosophie (Holenstein 2003) betrachtet, stellt in gewisser Weise eine Ausnahme unter den Autoren zur interkulturellen Philosophie dar, da er – wenn auch implizit – auf die Diskurse in der interkulturellen Kommunikation Bezug nimmt. In einer Schrift mit dem Titel „Ein Dutzend Daumenregeln zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse“ arbeitet er scharfsinnig heraus, wie das Sprechen über Kulturen Rassismen und Verunglimpfungen unterliegt und wie man diese vermeiden kann (Holenstein 2003). Er bezieht sich – wenn auch indirekt – auf die Diskurse in der interkulturellen Kommunikation und zeigt in amüsanter Weise auf, welche Fehler den Interkulturalisten unterlaufen können.

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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität

4.

Ein zentraler Kritikpunkt

Es ist sicherlich nicht abwegig, Ähnlichkeiten zwischen philosophischen Fragen über alle Kulturen hinweg aufzuzeigen und die unterschiedlichen Antworten miteinander ins Gespräch zu bringen. Die Frage bleibt aber offen, von welchem Standpunkt aus solche Analysen und Vergleiche erfolgen können. Thomas Göller schreibt dazu: Es bleibt offen, „ob die Geltung (philosophischer) Argumentationsregeln – und damit die von Denkformen und Handlungsregeln […] ausschließlich auf den kulturellen Kontext bezogen und in ihrer Bezogenheit abhängig von ihm ist bzw. ob sie auch unabhängig vom jeweiligen kulturellen Kontext bestehen kann“ (Göller 2007:275). Seit ihrer Entstehung in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts bleibt somit die Frage in der interkulturellen Philosophie offen, ob und wie die Spannung „zwischen beanspruchter Unbedingtheit philosophischer Aussagen in ihrer kulturellen Bedingtheit“ (Göller 2007:275) aufgelöst werden kann. 5.

Erweiterung: Interkulturelle Philosophie (IP) als Reflexion der interkulturellen Kommunikation

Wenn man nach dem Hauptanliegen der Philosophie im Bezug zu anderen Wissenschaften gefragt wird, dann ist eine weitverbreitete und wohl durchaus sinnvolle Antwort: Philosophie problematisiert die Grundbegriffe der Wissenschaften und thematisiert damit die impliziten Grundannahmen der Wissenschaften. Diese können das nicht leisten, zumindest solange sie sich ihrem jeweiligen Gegenstand widmen. Würden Physiker sich mit dem Begriff des unendlichen Raums jenseits der physikalischen Definitionen befassen, sie würden aufhören, Physik zu betreiben. Gleiches gilt für alle anderen Wissenschaften. Folgt man dieser Annahme über das Hauptanliegen der Philosophie, dann ergibt sich im Hinblick auf die IP die Schlussfolgerung, dass sie die Grundbegriffe u. a. der interkulturellen Kommunikation problematisieren müsste. Abgesehen von Elmar Holensteins Arbeiten (Holenstein 2003) tut sie dies bislang nicht. IP wäre damit eine Reflexion über die Grundbegriffe und Diskurse der interkulturellen Kommunikation. Die Frage, wozu die IP dies leisten soll, ergibt sich eigentlich geradezu von selbst. Ansätze der interkulturellen Kommunikation greifen häufig unreflektiert auf Begriffe und Modelle anderer Wissenschaften, auch auf solche der Philosophie zurück. Zentrale Begriffe werden zuweilen leichtfertig verwendet und kaum auf ihre philosophische Geschichte hin unter-

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sucht. Würden die Interkulturalisten die philosophisch beladenen Grundbegriffe und Annahmen problematisieren, sie würden das Feld der interkulturellen Kommunikation verlassen. Genau dies soll die IP leisten. Sie soll zeigen, ob und inwiefern die übernommenen Begriffe und Modelle in der interkulturellen Kommunikation plausibel und Erkenntnis erweiternd sind sowie mögliche Denkalternativen anbieten. Demjenigen, der immer noch einwendet, dies sei auch das Geschäft der interkulturellen Kommunikation, sei nachfolgendes Beispiel gewidmet, in dem gezeigt wird, wie IP sinnvolle Reflexion der interkulturellen Kommunikation sein kann. 6.

Ein Beispiel

In seinem Aufsatz „Unschärfe und Mehrwertigkeit: Interkulturelle Kompetenz vor dem Hintergrund eines offenen Kulturbegriffs“, erschienen in dem Sammelband „Perspektiven interkultureller Kompetenz“ , stellt Jürgen Bolten (2011:5570) die These auf, dass unsere Bemühungen um eine Klärung der Begriffe Kultur und interkulturelle Kompetenz implizit von der Maxime bestimmt sind, eindeutige Zuordnungen und Klassifizierungen zu erreichen. Das wiederum sei einem rigiden Entweder-Oder-Denken geschuldet, das sich stets in Extremen bewegt: 0 und 1, wahr oder falsch, 0 oder 100% etc. Bolten plädiert für eine andere Denk-Logik. Mit der Fuzzylogik, die zwischen den Extremwerten unendlich viele Schattierungen kennt, wäre man in der Lage, die Vieldeutigkeit in der Zuordnung und Klassifizierung nicht als Mangel zu sehen. Vielmehr wäre die Vieldeutigkeit die Normalität (ebd.). In einem weiteren Schritt führt Bolten die erwähnte implizite Maxime bzw. die Rigidität auf Aristoteles bzw. auf dessen Logik zurück, genauer auf den Satz des Widerspruchs: Eine Aussage A kann nicht gleichzeitig wahr und falsch sein. Oder anders: A kann nicht sein und gleichzeitig nicht sein. Die Fuzzylogik biete hier einen Ausweg, so Bolten, da sie zwischen A und Non-A weitere Zustände des Seins identifiziert. Es gebe dann nicht nur A und Non-A, sondern auch Zustände des Seins, in denen etwas von A und etwas von Non-A koexistieren. Seine Beispiele dafür sind: Das Paradoxon der lügenden Kreter, das Glaswasser, das halb voll und halb leer ist oder eben der Zustand von Kunden, weder zufrieden noch unzufrieden zu sein. Nun wird man sicherlich Bolten zustimmen, dass die Aristotelische Logik tatsächlich den Satz des Widerspruchs zum Grundpfeiler der (wie wir heute sagen würden – formalen) Logik erhebt. Und wir werden sicherlich nicht bestreiten, dass östliche Denkströmungen das Entweder-Oder verbinden, wie

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z. B. die Idee vom Yin und Yang, auf die Bolten auch eingeht. Ram Adhar Mall betont auch, dass die Janina-Logik nicht so sehr „die Gültigkeit, sondern nur die bedingungslose Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch“ bestreitet (1998:65). Es ist allerdings zu fragen, ob Aristoteles tatsächlich den Satz des Widerspruchs auf alle Bereiche des Lebens anwendet oder nicht. Schauen wir zunächst in die Metaphysik des Aristoteles. Dort finden wir den denkwürdigen Satz, man dürfe keineswegs auf allen Gebieten mathematische Genauigkeit fordern (Aristoteles Die Metaphysik, Buch α, 10-15). Was das zu bedeuten 3 hat, erfahren wir genauer in der Nikomachischen Ethik. Da wo es um das soziale Handeln geht, so Aristoteles, ist eine eindeutige Zuordnung nach dem Schema richtig und falsch kaum möglich. Die Wahrheit könne nur grob in Umrissen angedeutet werden. Sie ist nicht im mathematischen Sinne eindeutig bestimmbar. Dies wiederholt Aristoteles mehrfach in der Nikomachischen Ethik (z. B.: Die Nikomachische Ethik, Buch I, 1094b 13-1095a 8). Aristoteles verteidigt in der Nikomachischen Ethik die Auffassung, dass es im menschlichen Zusammenleben bzw. im sozialen Handeln darum geht, situativ angemessene Mittelwege zu finden. Der Mittelweg als Ergebnis eines gelungenen MitSich-Zu-Rate-Gehens (Prohairesis), ist des Näheren zu bezeichnen als weder zu viel noch zu wenig. Er liegt eben im Zwischen und dieses Zwischen kann je nach Situation variieren. Vor allem sind es die Stellen in 1106a 14 - b3 der Nikomachischen Ethik, die man heranziehen sollte. Da heißt es: „Unter dem Mittleren des Dinges verstehe ich das, was von den beiden Enden gleiches Abstand hat und für alle Menschen eines ist und dasselbe. Mittleres dagegen in Hinsicht auf uns ist das, was weder zu viel ist noch zu wenig: dies jedoch ist nicht eins und dasselbe für alle“. Es ist die Urteilskraft des lebensklugen Menschen, was das Treffen der Mitte möglich macht. Aristoteles nennt die Urteilskraft Orthos Logos. Man kann sich das Mittlere beispielhaft an den Begriffen der Selbstbeherrschung (Mäßigung), der Großzügigkeit und der Tapferkeit verdeutlichen. Das Mittlere der Selbstbeherrschung (Mäßigung) liegt zwischen Wollust und Stumpfheit, Großzügigkeit als Mittleres liegt zwischen Verschwendung und Geiz und bei der Tapferkeit schließlich geht es um das Mittlere zwischen Tollkühnheit und Feigheit. Dass das Mittlere stets situativ variieren kann, verdeutlicht MacIntyre wie folgt: „die gleiche Handlung, die in einer Situation Großzügigkeit ist, könnte in einer anderen Verschwendungssucht und in einer dritten Geiz sein“ (MacIntyre 1995:207).

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Befragt man den Aristotelischen Text nach dem Vermögen, das das Treffen der Mitte ermöglicht, so findet man die Antwort in seinen Erläuterungen zum Begriff der Phronesis (Die Nikomachische Ethik Buch VI). Phronesis, meistens mit „praktische Vernünftigkeit“ oder „sittliche Trefflichkeit“ übersetzt, ist ein dianoetisches Vermögen, das die Anwendung eines Allgemeinen auf ein Besonderes erlaubt. Es kann hier nicht genauer auf die Begriffe des Mittleren, der Phronesis etc. bei Aristoteles eingegangen werden, ohne den Rahmen des Beitrags zu sprengen. Soviel mag jedoch klar geworden sein: Aristoteles schränkt den Gültigkeitsbereich der formalen Logik ein. Der Satz des Widerspruchs hat im Bereich des sozialen Handelns nur bedingt seine Gültigkeit. Im Bereich des sozialen Handelns ist mit Ungenauigkeit und Unbestimmtheit zu leben. Aristoteles weiß sehr wohl, dass die Bestimmungen A und Non-A im Bereich des sozialen Handelns nicht diejenigen Bestimmungen sind, die alleine uns zur Erkenntnis verhelfen. Vielmehr ist es die Erfahrung, die Ge4 wöhnung, die Erziehung , das induktive Schließen etc., was den Menschen dazu befähigen soll, das jeweils situativ Mittlere zu finden, wobei das Mittlere durch nicht zu viel und nicht zu wenig gekennzeichnet ist. Das dianoetische Vermögen zum Treffen der Mitte ist die Phronesis und sie lässt sich von den Charaktertugenden nicht trennen (vgl. MacIntyre 1995:197ff.). In Bezug auf Begriffe wie Kultur und interkulturelle Kompetenz – so können wir schlussfolgern – wäre es abwegig, mathematische Genauigkeit zu fordern. Dies soll nun am Begriff des interkulturellen Handelns etwas deutlicher gemacht werden. 7.

Exkurs: Interkulturelle Kompetenz und interkulturelles Handeln

Interkulturelles handeln, soweit wir es nicht instrumentell auffassen (sonst wäre es Techné), ist auch soziales Handeln. Es geht um menschliches Zusammenleben und insofern ist es nicht abwegig, die Überlegungen Aristoteles zur sittlichen Trefflichkeit (Phronesis) auf interkulturelles Handeln zu übertragen. Drei eng verwandte Argumentationsfiguren aus der Antike sind heute für das Verständnis interkultureller Kompetenz und interkulturellen Handelns aktueller denn je: Die eine betrifft Platons Argument, wonach die Experten einen größeren Schaden anrichten können als Laien. Sein Paradebeispiel ist der Arzt. Dieser weiß zwar am besten, wie ein Patient zu heilen ist, jedoch ist er gleichzeitig am besten in der Lage, Scha-

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den anzurichten. Die zweite Argumentationsfigur betont, dass die Beherrschung einer Technik noch nichts darüber aussagt, ob ein (im rudimentären Sinne) kompetenter Mensch auch Gutes hervorbringt. Es gibt eben den kompetenten Dieb, den kompetenten Verräter oder eben den kompetenten Mörder. Kompetenz in dieser rudimentären Form ist also kein Garant für gute Taten. Übertragen auf die Frage, was interkulturelle Kompetenz ist, können wir aus den obigen zwei Argumentationsfiguren verstehen, warum sich die Forschung weitgehend darin einig ist, dass interkulturelle Kompetenz strukturell drei Elemente umfasst (vgl. Barmeyer / Davoine 2011:301ff, Jammal / Schwegler 2007:58ff.): Wissen, Können und Haltung (griechisch: Hexis). Bleibt man nur bei Wissen und Können, so wird interkulturelle Kompetenz instrumentell und gleicht dann einem Kleidungsstück oder besser einer Maske, die man je nach Bedarf an- und ablegen kann. Das ist Kompetenz in ihrer rudimentären Form. Die Vermittlung von Rezeptwissen und Übungen zur situativen Anwendung von Handlungsrezepten in interkulturellen Situationen mag zwar eine Art Kompetenz hervorbringen, jedoch kann der in diesem Sinne Kompetente auch großen Schaden anrichten. Er kann besser als der Nichtkompetente seine Partner täuschen und manipulieren. Er kann so tun, als ob er seine Geschäftspartner anerkennen und respektieren würde, in dem er sein Verhalten an die andere Kultur anpasst und sein schauspielerisches Können für den eigenen Vorteil auf Kosten des Anderen missbrauchen. Fragt man nun weiter nach dem interkulturellen Handeln, so kann auf die dritte Argumentationsfigur zurückgegriffen werden. Diese besagt, dass soziales Handeln allgemein eine Sache der Phronesis ist, eben der praktischen Vernünftigkeit. Interkulturelle Kompetenz hieße dann, das angemessene Mittlere in der jeweiligen Situation zu finden und entsprechend zu handeln. Entscheidend ist dabei, dass das Mittlere erstens je nach Situation variieren kann und somit nicht eindeutig bestimmbar ist und zweitens, dass die Phronesis im außermoralischen Sinne normativ ist (vgl. Frankfurt 2005). Denn: Am Tun von praktisch vernünftigen Menschen kann abgelesen werden, wie „man“ sich in bestimmten Situationen zu verhalten hat, freilich ohne dass daraus eine allgemeine Regel abgleitet werden könnte. Welches Verhalten in einer bestimmten Situation angemessen und welches nicht angemessen ist, lässt sich nicht angeben. Phronesis ist eben die situativ jeweils verschiedene angemessene Anwendung des Allgemeinen auf ein Besonderes (vgl. Rese 2007).

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8.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Aristoteles hat den Gültigkeitsbereich des Satzes vom Widerspruch und das Konzept des Mittleren für den Bereich des menschlichen Zusammenlebens klar umrissen. Er hat tatsächlich – da haben Jürgen Bolten und Ram Ahdar Mall Recht – die ersten Grundlagen der formalen Logik gelegt. Aber er hat auch einen anderen Wahrheitsbegriff für das menschliche Zusammenleben aufgestellt. Diesen näher zu beleuchten, wäre eine Aufgabe interkulturellen Philosophierens. IP kann dann genauer zeigen, was Familienähnlichkeit der Antworten auf die Frage „Was soll ich tun“ bzw. „Wie soll ich handeln“ bedeutet. An dem obigen Beispiel wurde deutlich, dass es eine Ähnlichkeit zwischen östlichen und abendländischen Denkweisen gibt. Yin und Yang als Ort geradezu unendlich vieler Begegnungen zwischen scheinbar extremen Polen hat sein Pendant im Aristotelischen Mittleren. Was zu klären wäre, ist allerdings die Frage, ob eine solche Trennung zwischen den Gültigkeitsbereichen von Wahrheitsbegriffen tatsächlich spezifisch für die abendländische Philosophie ist. Ram Adhar Mall zeigt überzeugend auf, dass syllogistisches Schließen in der indischen Philosophie keine klare Trennung zwischen Gültigkeitsbereichen kennt. So etwas wie formale Logik, so Mall, kennt die indische Philosophie nicht (1998:65). Er schreibt weiter: „Während der Aristotelische Syllogismus in der Regel deduktiver und formaler Natur ist, bleibt der indische Syllogismus mehr im lebendigen Kontakt mit den erkenntnistheoretischen und psychologischen Faktoren“ (ebd.). Es findet also – aus aristotelischer Sicht – eine Vermischung der Gültigkeitsbereiche statt. Die Vermutung drängt sich also auf, dass wir es in diesem Zusammenhang mit Unterschieden zwischen den Philosophien zu tun haben und es wäre interessant zu wissen, woher diese Unterschiede stammen. Es kann hier nur am Rande angemerkt werden, dass die Geschichte der Philosophie zahlreiche Belege dafür aufweist, wie man mit Begriffen jenseits mathematischer Genauigkeit vernünftig umgehen kann. Es ist allerdings kaum zu bestreiten, dass ein Siegeszug des Exaktheitsideals in den Geisteswissenschaften zu verzeichnen ist. Mit Exaktheitsideal ist gemeint, dass Begriffe und Ansätze – wie Jürgen Bolten ausführt – analog zur mathematischen und naturwissenschaftlichen Genauigkeit eindeutig bestimmbar sein sollten. Es meint also nicht, dass genau argumentiert und analysiert werden soll. Dies ist ja nur wünschenswert. Vielmehr wird damit angestrebt, sowohl die Wahrheitskonzepte der Mathematik und der Naturwissenschaften als auch deren Methodik auf die Geistes- und Kulturwissenschaften zu übertragen. In vielen Abschlussarbeiten von Studenten ist es leider üblich geworden, zu bedauern, dass der Begriff der Kultur nur man© Interculture Journal 2012 | 16

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nigfach definierbar sei. Dabei ist es in der Philosophie eher die Normalität, dass man sich bestimmten intelligiblen Begriffen nur im Rahmen von theoretischen Perspektiven annähern kann und, dass die Perspektiven jeweils andere Aspekte der intelligiblen Begriffe beleuchten können. Dabei geht es nicht um Wahrheit oder Falschheit von Theorien im Sinne von naturwissenschaftlicher Exaktheit. Heidegger und Gadamer, um nur zwei Beispiele zu nennen, haben andere Wahrheitsbegriffe entwickelt. Darauf kann hier leider nicht genauer eingegangen werden. Natürlich kann man auf östliche Philosophien und / oder auf die Fuzzylogik, die ja eigentlich im Ringen um das mathematische Erfassen von Zwischenzuständen entstanden ist, zurückgreifen, um das Exaktheitsideal in die Schranken zu weisen. Aber vielleicht wäre es auch fruchtbar, sich mit Aristoteles zu beschäftigen und die Frage zu stellen, warum sein Ansatz des Mittleren im menschlichen Zusammenleben bei den Interkulturalisten in Vergessenheit geraten ist bzw. nicht rezipiert wird. IP könnte vor allem die Begriffe und Argumente der interkulturellen Kommunikation reflektieren und zur Weiterführung der Diskussionen um die zentralen Begriffe derselben beitragen, so z. B. in Bezug auf die Begriffe Kultur und Interkulturalität. Das steht noch aus. Jürgen Bolten hat implizit Recht und damit spricht er eine Hauptaufgabe interkulturellen Philosophierens an: Dem Siegeszug des Exaktheitsideals in den Geisteswissenschaften Einhalt zu gebieten. Sein Vorschlag ist, auf die mathematisch-technisch belastete Fuzzy-Logik zurückzugreifen. Das Plädoyer dieses Beitrags lautet: Lassen Sie uns Aristoteles lesen. Literatur Aristoteles: Die Metaphysik. Übersetzt und herausgegeben von Franz Dirlmeier. 1970. Stuttgart: Reclam. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Franz F. Schwarz. 1980. Stuttgart: Reclam. Barmeyer, C. / Davoine, E. (2011): Kontextualisierung und interkulturelle Kompetenz in einer deutsch-französischen Organisation: ARTE. In: Dreyer W. / Hößler U. (Hrsg.): Perspektiven interkultureller Kompetenz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 299-315. Bolten, J. (2011): Unschärfe und Mehrwertigkeit: Interkulturelle Kompetenz vor dem Hintergrund eines offenen Kulturbegriffs. In: Dreyer, W. / Hößler, U. (Hrsg.): Perspektiven interkultureller Kompetenz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 55-70. Frankfurt, H. G. (2005): Gründe der Liebe. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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Göller, T. (2007): Interkulturelle Philosophie. In: Straub, J. / Weidemann, A. / Weidemann, D. (Hrsg.): Handbuch interkultureller Kommunikation und Kompetenz: Grundbegriffe, Theorien, Anwendungsfelder. Stuttgart: Metzler, S. 272-282. Heidegger, M. (1981): Was ist das – Die Philosophie? Pfullingen: Verlag Günther Neske. Holenstein, E. (2003): Ein Dutzend Daumenregeln zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse. URL: http://them.polylog.org/4/ahe-de.htm [Zugriff am 30.01.2012]. Kimmerle, H. (2002): Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung. Hamburg: Junius. Kimmerle, H. (2005): Georg Wilhelm Friedrich Hegel interkulturell gelesen. Nordhausen: Bautz. MacIntyre, A. (1995): Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt/Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Mall, R. A. (1998): Das Konzept einer interkulturellen Philosophie. polylog 1998(1), S. 54-69. Mall, R. A. / Lohmar, D. (1993): Philosophische Grundlagen der Interkulturalität. Studien zur interkulturellen Philosophie. Amsterdam - Atlanta: Rodopi B. V. Moosmüller, A. (2007): Interkulturelle Kommunikation. Konturen einer Disziplin. Münster u. a.: Waxmann. Panikkar, R. (1998): Religion, Philosophie und Kultur. polylog 1998(1), S. 13-37. Rese, F. (2007): Phronesis als Modell der Hermeneutik. Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles. In: Günter F. (Hrsg.): Wahrheit und Methode. Berlin: Akademie Verlag, S. 127-150. Schadewaldt, W. (1979): Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen Band 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Scheler, M. (1976): Späte Schriften. Bern und München: Francke Verlag. Schirilla, N. (2011): Interkulturelles Philosophieren im Studium der Philosophie. polylog 2011(25), S. 31-38. Thies, C. (2011): Ist Philosophie interkulturell? In: Barmeyer, C. / Genkova, P. / Scheffler, J. (Hrsg.): Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Wissenschaftsdisziplinen, Kulturräume. Passau: Verlag Karl Stutz, S. 191-206. Wimmer, F. M. (1998): Thesen, Bedingungen und Aufgaben interkulturell orientierter Philosophie. polylog 1998(1), S. 5-12. Wimmer, F. M. (2004): Interkulturelle Philosophie. Wien: WUV UTB. Yousefi, H. R. / Mall, R. A. (2005): Grundprobleme der interkulturellen Philosophie. Interkulturelle Bibliothek. Nordhausen: Traugott Bautz.

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Yousefi, H. R. / Braun, I. (2011): Interkulturalität. Eine interdisziplinäre Einführung. Darmstadt: WBG.

Nur am Rande sei erwähnt, dass dabei das Problem der Übersetzung auftaucht. 1

Familienähnlichkeit besagt, dass Vertreter einer Kategorie nicht über Eigenschaften verfügen müssen, die allen Vertretern gemeinsam sind. Sie werden vielmehr durch Familienähnlichkeit zusammengehalten. Das heißt, durch die Unschärfe der Kategoriengrenzen werden auch untypische Vertreter einer Kategorie noch derselben zugerechnet, obwohl sie kaum Eigenschaften teilen mit den Vertretern, durch die die Kategorie definiert wird. 2

Ethisches Handeln ist nach Aristoteles alles Handeln, das nach dem Guten strebt und das die Arete, die sittliche Trefflichkeit, zum Inhalt hat. Es geht um eine Philosophie des menschlichen Zusammenlebens und um eine nicht moralische Normativität. Zu diesem Begriff vgl. Frankfurt 2005. In der Aristotelischen „Ethik werden relativ selten Regeln erwähnt“ (MacIntyre 1995:202). 3

MacIntyre betont, dass moralische Erziehung bei Aristoteles wesentlich eine „éducation sentimentale“ ist (MacIntyre 1995:201).

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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen Kommunikation

Aktuelle Entwicklungen Pleaseinsert insertthe thetitle titleof of Please in der sprachwissenyour article here your article here schaftlichen Forschung zur interkulturellen Kommunikation [Recent Changes in LinguisFirstname name Surname First Surname tic Research on Intercultural Pleaseinsert insertinformation informationabout about Please Communication] the author here (e.g. title, posithe author here (e.g. title, position,institution) institution) tion,

Dominic Busch Prof. Dr., Professur für interkulturelle Kommunikation und Konfliktforschung an der Universität der Bundeswehr München.

Abstract [English] Linguists have contributed significantly to intercultural research delivering precise and promising operationalizations of culture for decades. This paper provides a literature review on linguistic research on intercultural communication for the years from 2004 to 2011. This review shows that linguists successively have started to retreat from precisely looking at how aspects of culture may influence social interaction. This retreat may be caused by the critical debates on US-based cultural anthropology constructing culture as its own object of research at the turn of the millennium. Meanwhile, cultural anthropologists as well as authors from neighbouring disciplines have developed concepts to constructively cope with these constructivist problems to their discipline. However, linguists so far have not mapped this change of paradigms but except from a few publications. The paper at hand provides a concept on how to integrate constructivist as well as performance-based notions of culture into linguistic, especially conversation-analyst research. Empirically based methods of research from ethnomethodology, esp. membership categorization analysis (MCA) may help to produce new and adequate insights into individuals’ use of notions of culture in conversation. Keywords: notions of culture, linguistics, literature review, the construction of research objects, membership categorization analysis Abstract [Deutsch] Für die Weiterentwicklung der Forschung zur interkulturellen Kommunikation haben die Sprachwissenschaften über Jahrzehnte hinweg zahlreiche und vielschichtige Beiträge sowie wegweisende Operationalisierungen beigetragen. Ein Forschungsüberblick über die Jahre 2004 bis 2011 zeigt, dass sich die Sprachwissenschaften zunehmend aus einer Arbeit an der Entwicklung von Modellen zu einer präzisen Nachzeichnung von Auswirkungen von Kultur auf soziales Handeln zurückgezogen haben. Ein möglicher Grund für diesen Rückzug wird in den kritischen Debatten um den Kulturbegriff in der US-amerikanischen Kulturanthropologie um die Jahrtausendwende gesehen. Während die Kulturanthropologie selbst sowie einige Nachbardisziplinen zwischenzeitlich konstruktive Formen des Umgangs mit dem damals angemahnten Konstruktionscharakter des eigenen Forschungsgegenstands entwickelt haben, ist diese Transformation der Herangehensweise an den Kulturbegriff von den Sprachwissenschaften bislang nur in geringem Maße mitvollzogen worden. Der vor23

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liegende Beitrag zeigt Wege einer Integration konstruktivistischer und performanzbasierter Kulturverständnisse in die Sprachwissenschaften auf, die mit Methoden der Membership Categorization Analysis (MCA) aus der ethnomethodologischen Konversationsanalyse gewinnbringend beschrieben und erforscht werden können. Stichworte: Kulturbegriff, Sprachwissenschaften, Literaturstudie, Konstruktion des eigenen Forschungsgegenstands, Membership Categorization Analysis 1.

Ist interkulturelle Kommunikation wirklich immer noch ein Trendfach?

Als Bildungsinhalt in der Hochschulbildung sowie in der beruflichen Weiterbildung hat das Themenfeld interkulturelle Kommunikation bereits seit fast drei Jahrzehnten den Ruf eines Mode- und Trendfachs, dessen zugeschriebene Relevanz angeblich weiterhin permanent und ungebrochen wächst. Dem interkulturellen Forscher winken demnach vorzügliche berufliche Perspektiven, er hat definitiv auf das richtige Pferd gesetzt – so hört man es auch von Neidern. Bekanntlich klingt jedoch jeder Hype meist auch so schnell wieder ab, wie er gekommen ist. Kaum einem Messverfahren wird für das frühe Aufspüren solcher sich anbahnender gesellschaftlicher Abstürze gegenwärtig mehr Feingespür zugeschrieben als den Statistiken der Internet-Suchmaschine Google, wenngleich deren wissenschaftsmethodische Herangehensweise sicherlich kritisch diskutiert werden kann. So zeigt die Funktion Google Insights for Search bereits auf den ersten Blick, dass das Interesse der Internet-Suchenden an dem Begriff interkulturelle Kommunikation in den Jahren 2004 bis 2011 merklich zurückgegangen ist:

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Abb. 1: Auswertungsergebnisse der Suchfunktion Google Insights for Search für das Interesse von Web-Suchenden an dem Suchbegriff interkulturelle Kommunikation im Zeitraum 2004 bis 2011. Quelle: URL: http://www.google.com/insights/search/ [Zugriff am 11.11. 2011].

Beginnen das Wissen und die vermeintliche Neugier um kulturelle Differenzen seitens der deutschsprachigen Gesellschaft oder zumindest der Internet-Gemeinde bereits zu versiegen? Seitens der Wissenschaften, die erst durch diese gesellschaftliche Neugier zu einer erforschenden Suche angestoßen worden waren, wird die Auseinandersetzung mit interkultureller Kommunikation demgegenüber auch weiterhin als ein vergleichsweise junges Tätigkeitsfeld eingeschätzt, das um akademische Anerkennung auch weiterhin ringen muss. Vertreter der Disziplin sehen sich immer wieder mit dem Druck konfrontiert, sich für unzureichend präzisierte Kernbegriffe und Forschungsgegenstände rechtfertigen zu müssen. Diese Rechtfertigungsversuche bewirken jedoch häufig das Gegenteil: Der Verweis auf eine junge Disziplin betont noch einmal mehr den offenkundigen Mangel einer soliden und tragfähigen Grundlage. Gegenüber diesen Befürchtungen ließe sich umgekehrt argumentieren, dass eine permanente Selbstproblematisierung und eine Infragestellung des eigenen Forschungsgegenstands eine wissenschaftliche Disziplin doch erst ausmachen sollte. Viele, auch etabliertere Disziplinen kennen diese Problematik und widmen sich immer wieder grundlegenden Positionsbestimmungen. Auch die Forschung zur interkulturellen Kommunikation könnte diese Selbstreflektion demnach zu ihrer eigenen disziplinären Stärkung nutzen. Tatsächlich kann der Forschungsbereich bereits auf eine beachtliche Tradition solcher Selbstvergewisserungen zurückblicken. In internationalen Zeitschriften erscheinen in größeren

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Abständen Beiträge, die versuchen, globale Forschungsentwicklungen über längere Zeiträume hinweg nachzuzeichnen, so beispielsweise (Hu / Fan 2011). Im deutschsprachigen Raum liegen seit den 1980er Jahren Sammlungen unterschiedlicher Herangehensweisen vor. Zu nennen sind hier für das Beispiel der Sprachwissenschaften Sammelbände wie die von Rehbein (1985) sowie die beiden englischsprachigen und auf den deutschsprachigen Raum fokussierten Bände von Knapp, Enninger und Knapp-Potthoff (1987) und KnappPotthoff und Liedke (1997). In beiden Bänden werden jeweils Beiträge aus der Gesprächsforschung diskutiert, die jeweils einem vergleichsweise eng vorgegebenen theoretischen Paradigma folgen. Spätere Systematisierungen sprachwissenschaftlicher Herangehensweise liegen beispielsweise von von Helmolt und Müller (1993), Müller-Jacquier (2000) und Knapp (2004) vor. Ähnliche Anfänge des Sammelns in der eigenen Disziplin finden sich beispielsweise auch in der Europäischen Ethnologie (Roth 1996) oder der Sozialpsychologie (Thomas 1996). Ein deutlich stärker interdisziplinär angelegter Dialog etabliert sich im deutschsprachigen Raum in Form von Publikationen, insbesondere Sammelbänden nach der Jahrtausendwende (Lüsebrink 2004, Moosmüller 2007a), die wiederum von Haas (2009) einer auf Moosmüller (2007b) aufbauenden Metareflektion mit internationaler Einordnung zugeführt werden. Gleichzeitig scheint in der Disziplin eine Periode erreicht zu sein, in der es angemessen erscheint, bestehende Ansätze zu sichten, zu sammeln und in großvolumigen Handbüchern zusammenzufassen (Wierlacher / Bogner 2003, Thomas 2005, Straub / Weidemann / Weidemann 2007, Weidemann / Straub / Nothnagel 2010). Darüber hinaus erscheinen weiterhin Sammelbände, die jedoch weniger den Disziplinenvergleich fortführen, als sich vielmehr mit spezifischeren und jeweils zeitgenössischen Problemstellungen interkultureller Forschung zu beschäftigen (Moosmüller 2009). Nach der Jahrtausendwende ist ebenfalls ein vermehrtes Erscheinen von Lehrbüchern zur interkulturellen Kommunikation im deutschsprachigen Raum zu verzeichnen (Bolten / Ehrhardt 2003, Heringer 2004, Lüsebrink 2005, Bolten 2007). Wenngleich auch weiterhin kein Kanon maßgeblicher interkultureller Theorien besteht, so erscheint doch zumindest eine Kanonisierbarkeit des angesammelten Wissens inzwischen möglich. Nicht zuletzt begleiten einige wenige Zeitschriften und Periodika die Entwicklung der Disziplin, so das Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache seit 1975 oder das interdisziplinärer ausgerichtete Interculture Journal seit 2002.

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1.1

Der deutsche Sonderweg?

Dieser Einblick in die Literaturlage mag den Verdacht aufkommen lassen, dass der Forschung zur interkulturellen Kommunikation im deutschsprachigen Raum ein vergleichsweise hoher Stellenwert zukommt, der in anderen europäischen und außereuropäischen Regionen außer Nordamerika in diesem Maße nicht festgestellt werden kann. Gegenüber dem angelsächsischen Diskurs kann der deutschsprachigen Community eine ausführliche Rezeption der dort besprochenen Ansätze bescheinigt werden, umgekehrt erzielen die deutschsprachigen Ansätze im angelsächsischen Raum häufig nur eine geringere Resonanz. Haas (2009) resümiert, dass die deutschsprachige Forschergemeinschaft zur interkulturellen Kommunikation, der eine relative diskursive Geschlossenheit bescheinigt werden kann, auch disziplinär einer anderen Forschungstradition folgt als die nordamerikanische Entwicklung. Während die interkulturelle Forschung in der angelsächsischen Welt primär von Psychologen mit deren Methoden bearbeitet werde, finde sich die Forschung zur interkulturellen Kommunikation im deutschsprachigen Bereich noch eher in den Geistes- und Sprachwissenschaften verortet. Über Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen des gleichen Arbeitsbereichs in nicht-deutsch- oder englischsprachigen Nachbarstaaten in Europa verfügt die deutschsprachige Community ebenfalls nur in geringem Maße. Dies darf keinesfalls als Kritik an der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit des deutschsprachigen Kollegiums verstanden werden. Vielmehr zeichnet sich hier eine anglozentrierte Forschungsorientierung ab, die in zahlreichen Disziplinen vorgefunden werden kann. Darüber hinaus kann vermutet werden, dass der Gegenstand interkultureller Kommunikation in anderen Gesellschaften als weniger relevant erachtet wird. Entweder wird dem Gegenstand hier jeweils tatsächlich nur eine geringere Bedeutung beigemessen oder man mag der Ansicht sein alle Probleme interkultureller Kommunikation bereits systematisch erfasst und im Griff zu haben. So finden sich beispielsweise in Frankreich an zahlreichen Universitäten Bildungsangebote zur interkulturellen Kompetenz im Bereich der Vermittlung von Schlüsselqualifikationen an Studierende, die aktive Forschungslandschaft scheint demgegenüber jedoch geringer ausgeprägt zu sein als im deutschsprachigen Raum. Ist daher ein deutschsprachiger Sonderweg in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit interkultureller Kommunikation festzustellen? Angesichts der bisherigen Überlegungen und Beobachtungen zu diesem Thema darf sicherlich nicht die Frage aus dem Blick geraten, ob man hier nicht einer ethnozentrischen, deutschsprachigen Perspektive verfällt, die man lediglich zu transzendieren nicht in der Lage ist. Den27

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noch spräche auch vieles für die Möglichkeit eines deutschen Sonderwegs: Zunächst kann die Beobachtung, dass eine Gesellschaft eine Auseinandersetzung mit interkultureller Kommunikation als wichtig erachtet, als Indiz für die eigene innere Beschaffenheit einer Gesellschaft angesehen werden. In Zusammenhang mit Hofstedes (1980) Unsicherheitsvermeidungsindex ließe sich beispielsweise folgern, dass sich Probleme interkultureller Kommunikation für unterschiedliche Kulturen in der Tat in einer unterschiedlich wahrgenommenen Dringlichkeit darstellen. Dass eine Erforschung interkultureller Kommunikation einem erhöhten Bedürfnis nach Unsicherheitsvermeidung gerecht werden kann, stellt beispielsweise Hannerz (1996) mit dem von ihm geprägten Begriff der Kulturschockvermeidungsindustrie heraus, den er jedoch der gesamten angelsächsischen Welt ebenfalls bescheinigt. Darüber hinaus lassen sich Anknüpfungspunkte zwischen der Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff sowie den damit verbundenen Problematiken und bereits vorab entwickelten Problemstellungen aus der deutschsprachigen Philosophie ausmachen. So bescheinigt Welsch (2000) den deutschsprachigen Forschern eine unumstößliche und fortgeführte Auseinandersetzung mit einem Kulturbegriff, den bereits Herder (1974) geprägt hat. Rational ließe sich die Inadäquatheit dieses Verständnisses sicherlich leicht belegen, unser Alltagsdenken jedoch werde weiterhin von diesem Kulturbegriff bestimmt. 1.2

Aktuelle Neuerungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen Kommunikation?

Ein Blick auf die Veröffentlichungsdaten des Eintritts ins Handbuchzeitalter zeigt relativ schnell, dass die Konsolidierung des Forschungswissens bereits in der ersten Hälfte der 1990er Jahre eingesetzt hat. Überblicke des Autors des vorliegenden Beitrags zu interkultureller Forschung aus sprachwissenschaftlicher Sicht liegen ebenfalls bereits vor (Busch 2007, 2009). Der Verfasser hatte selbst eine Systematisierung von Forschungsansätzen zur interkulturellen Kommunikation vorgeschlagen, die sich an der Lokalisierung und Identifizierung angenommener Einflüsse von Kultur auf soziales Handeln orientiert. In drei Dimensionen werden dabei Kulturerfassungsansätze (Köppel 2002) unterschieden: So kann Studien ein essentialistisches oder ein konstruktivistisches / interaktionstheoretisches Kulturverständnis zugrunde liegen. Darüber hinaus erscheint es vor einem wissenschaftstheoretischen Hintergrund sinnvoll Studien mit einer Auffassung von Kultur als einem spezifischen Wissen gegenüber Studien mit der Auffassung von Kultur als Ansammlung normativer Werte

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zu unterscheiden. Zuletzt spielt die Unterscheidung zwischen emischen und etischen Forscherperspektiven insbesondere in der interkulturellen Forschung eine maßgebliche Rolle, so dass sich eine Kategorisierung von Studien entlang dieser Dimension anbietet. Am Beispiel der Forschung zur interkulturellen Mediation und Konfliktbearbeitung hat der Verfasser dargelegt, wie sich Studien aus einem längeren Publikationszeitraum in eine solche dreidimensionale Schematik einordnen lassen und wie auf diese Weise aus den Studien Gruppen gebildet werden können, die aufgrund ihrer Herangehensweisen jeweils unterschiedliche Rückschlüsse auf den Gegenstand interkultureller Kommunikation nahe legen. Darüber hinaus macht eine solche Systematisierung deutlich, dass in der Forschung zur interkulturellen Kommunikation – allen Selbstzweifeln zum Trotz – doch häufig recht klare und operationalisierbare Kulturverständnisse zugrunde liegen (Busch 2012:9). 2.

Ein kursorischer Forschungsüberblick

Zur Sondierung dieser Tendenzen wurde für die Erstellung des vorliegenden Beitrags eine eigene und systematische Literaturrecherche durchgeführt. Durchsucht wurden OnlineDatenbanken zu jüngeren Publikationen aus den Sprachwissenschaften zur interkulturellen Kommunikation. Für eine international ausgerichtete Suche wurde hierzu primär die Datenbank Web of Science / Web of Knowledge zu Rate gezogen, für einen kursorischen aber dennoch erschöpfenden Einblick darüber hinaus die Suchmaschine Google scholar sowie die Aufsatzdatenbank des Verlegers Sage Journals, als einem der bedeutendsten Anbieter internationaler Fachzeitschriften auf sozialwissenschaftlichem Gebiet. Diese Datenbanken wurden nach den Suchbegriffen intercultural communication AND conversation analysis durchsucht. Sicherlich kann diese Eingrenzung der Suchbegriffe problematisiert werden: Der Begriff der interkulturellen Kommunikation konkurriert insbesondere in der englischsprachigen Verwendung mit einer permanent zunehmenden Zahl benachbarter alternativer Begriffe mit Attributen wie cultural, cross-cultural, transcultural, interethnic oder interracial. Auch die Beschränkung der Sprachwissenschaften auf die Konversationsanalyse mit dem Suchbegriff conversation analysis mag irritieren, erweist sich jedoch auf einen zweiten Blick als zielführend, zumal ein Großteil der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen Kommunikation für sich den Anspruch erhebt, empirisch zu arbeiten und seine Erkenntnisse aus gesprächsanalytisch generiertem Material gesprochener Sprache zu entnehmen.

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Zusätzlich wurde eine gezielte Suche nach sprachwissenschaftlich ausgerichteten Beiträgen in einschlägigen internationalen Fachzeitschriften zur interkulturellen Kommunikation durchgeführt. Hierzu zählen das International Journal of Intercultural Relations (IJIR), Language and Intercultural Communication (LAIC) sowie das internetbasierte Journal of Intercultural Communication. In den Blick genommen wurden in allen Fällen die Publikationsjahre 2004 bis 2010. 2.1

Die sprachwissenschaftliche Forschung zur interkulturellen Kommunikation zwischen 2004 und 2010

Nach einer ersten Sichtung und Lektüre wurde versucht, die Beiträge zumindest tendenziell Kategorien zuzuordnen, die Bestandteil der eingangs vorgestellten Systematisierung von Kulturerfassungsansätzen des Verfassers sind. Eine solche Zuordnung erwies sich dabei in den meisten Fällen zwar als möglich, in vielen Fällen jedoch nicht mehr als hinreichend aussagekräftig, um vor diesem Hintergrund aktuelle Tendenzen identifizieren und beschreiben zu können. Darüber hinaus zeigte sich, dass die zuletzt prognostizierten Tendenzen hin zu zunehmend konstruktivistischen Kulturverständnissen, Studien, die Kulturen als Normen verstehen, sowie emischen Forscherperspektiven nicht bestätigt werden konnten. Geht man tatsächlich von einem Veränderungsprozess aus, der sich an einem imaginären wissenschaftstheoretischen Fortschritt orientiert, dann müssten die vorgefundenen jüngeren Publikationen eher als rückwärtsgewandt eingestuft werden: Spürbar ist eine deutliche Tendenz oder gar eine Rückbesinnung in der sprachwissenschaftlichen Forschung auf frühere, primordiale und essentialistische Kulturverständnisse. Darüber hinaus ist sogar bei Autoren, die in früheren Publikationen präzise Beschreibungen des Einflusses von Kultur auf kommunikatives Handeln vorgelegt haben, gelegentlich eine Tendenz dazu erkennbar, Kultur als variable aus einer weiterhin auf internationale Interaktionen fokussierten Forschung zu verdrängen oder in ihrem Einfluss zu reduzieren. Diese allgemeinen Tendenzen sollen in den folgenden Abschnitten an einzelnen Beispielen illustriert und weiter ausdifferenziert werden.

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2.2

2.2.1

Das schrittweise Verschwinden von Kultur aus der interkulturellen Forschung Konstruktivistische Kulturverständnisse in der Gesprächsforschung

Forschungsarbeiten zur interkulturellen Kommunikation auf der Grundlage interaktionstheoretischer, bzw. konstruktivistischer Kulturverständnisse trafen spätestens seit den 1980er Jahren in der Forschungslandschaft auf wachsende Zustimmung, weil sie zu versprechen schienen, argumentative Ungereimtheiten früherer, kulturessentialistischer Konzepte zu umgehen. Jüngere Arbeiten, die sich auch weiterhin einem interaktionstheoretischen und konstruktivistischen Paradigma verschreiben, scheinen jedoch zunehmend – zunächst implizit – wieder essentialistische Anklänge und Grundannahmen in ihre Kulturkonzepte einfließen zu lassen. Zunehmende Aufmerksamkeit in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen Kommunikation seit der Jahrtausendwende hatte beispielsweise das Konzept der Communities of Practice (CofP) erfahren, das für den genannten Bereich an prominentester Stelle zuletzt von Corder und Meyerhoff (2007) vorgestellt worden war. Eine erste Einführung des Konzepts finden die Autorinnen zunächst in der Lehr- und Lernforschung bei Lave und Wenger (1991), in der Angewandten Sprachwissenschaft im Allgemeinen dann erst wenige Jahre zuvor bei Sarangi und van Leuwen (2003). Die Grundannahme dieser Theorie besteht dabei darin, dass Mitglieder einer sozialen Gruppe, die sich allesamt mit einem gemeinsamen Ziel in der Weiterentwicklung und dem Fortbestand der Gruppe engagieren, gemeinsame Handlungsregeln entwickeln werden, die einmalig für sie bleiben werden und die nur mit dem Fortbestehen der Gruppe selbst Bestand haben können (Corder / Meyerhoff 2007:444f.). Kultur erscheint hier zunächst als ein Produkt interaktiver Prozesse. Bereits ein Jahr zuvor hatte jedoch Charlebois (2006) im online erscheinenden Journal of Intercultural Communication kritisch angemerkt, dass das Konzept der Communities of Practice offenbar lediglich dazu diene, eine theoretische, plausible Erklärung für das Zustandekommen kultureller Muster zu liefern, die im Anschluss dennoch als statische und essentialistisch betrachtbare Gegenstände beschrieben werden können. Die ursprünglich wesentliche Neuerung interaktionstheoretischer und konstruktivistischer Ansätze, die vor allem in der Beschreibbarkeit der Prozessualität von Kultur ihre Vorteile ausspielen konnten, rückt auf diese Weise in den Hintergrund zugunsten von Kulturen, die nun wieder beschrieben und miteinander verglichen werden können.

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2.2.2

Kultur als Wissen im Gespräch

Gestärkt und weiterhin unterstützt wird auch innerhalb des Untersuchungszeitraums die kulturrelativistische Öffnung ehemals angenommener sprachpragmatischer Universalien, denen jedoch trotz aller Bemühungen der Öffnung vormals starrer Prinzipien auch weiterhin ein primordialessentialistisches Kulturverständnis zugrunde liegt. So waren USamerikanische Sprachwissenschaftler vormals davon ausgegangen, dass Sprechakte in allem Kulturen auf die gleiche Weise produziert werden. Aufbauend auf der von Austin vorgestellten Sprechakttheorie (Austin 1962) und den daran anschließenden Konversationsmaximen von Grice (1975) veranschaulichten insbesondere Brown und Levinson diese Kulturuniversalität am Beispiel sprachlicher Höflichkeit (Brown / Levinson 1978). Bereits Ende der 1980er Jahre stellten BlumKulka et al. (1989) heraus, dass die Produktion von Sprechakten zahlreichen kulturellen Divergenzen unterliegt. Im Untersuchungszeitraum schließt Fetzer (2007) daran an und stellt heraus, dass die Formulierung von Ablehnungen und Abweisungen als Sprechakte unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen unterliegt. Diese Ausprägungen gestalteten sich Fetzer zufolge vor dem Hintergrund kulturspezifischen Kontextwissens, über das die jeweiligen Sprecher qua Akkulturation verfügen müssten. Fetzer stellt in ihrer Studie insbesondere die Bedeutung einer Verbindung zwischen einer MakroEbene kulturspezifischen Wissens und einer Mikro-Ebene situativer Äußerungsproduktionen heraus. Grundsätzlich geht die Studie jedoch von einem vergleichsweise herkömmlichen, essentialistischen Kulturverständnis aus. 2.2.3

Kulturen als Werte manifestieren sich direkt im Gespräch

Auch Ansätze, in denen Kulturen als sich in Werten manifestierend aufgefasst werden, sind im Untersuchungszeitraum weitergeführt worden, jedoch auch hier zeigt sich im Rahmen der vorgefundenen Publikationen mehr oder weniger eine Rückbesinnung auf vermeintlich stabile und empirisch belegbare, essentialistische Kulturverständnisse. Weitergeführt wurde so beispielsweise der von Wierzbicka bereits in früheren Publikationen (1994) vorgestellte Ansatz der Natural Semantic Metalanguage (NMS), der Modellkonstruktion einer universal übersetzbaren Kernsprache aus ca. 60 grundlegenden Begriffen, mit deren Hilfe sich alle komplexeren Sachverhalte ausdrücken ließen. Übersetzt man kulturspezifische Inhalte in diese Modellsprache zurück und transferiert sie dann in eine Fremdsprache, dann bleiben die darin vermittelten kulturspezifischen Werte erhalten, so Wierzbicka (2006). Der Ansatz beruht demnach auf der Annahme, dass sich kultur© Interculture Journal 2012 | 16

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spezifische Werte unmittelbar in sprachlichen Äußerungen manifestieren, mit anderen Worten: Sprecher intendieren auch wirklich eine Befolgung der kulturspezifischen Werte, die sich in ihren Formulierungen zum Ausdruck bringen. Ähnlich wie bei dem Ansatz von Fetzer handelt es sich hier um eine Öffnung vormals kulturuniversal intendierter sprachpragmatischer Ansätze, doch auch Wierzbicka ignoriert auf diese Weise parallele Entwicklungen zu konstruktivistischen Kulturbegriffen in benachbarten kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Einer ähnlichen Kritik kann der Ansatz des kulturspezifischen Rapport Managements nach Spencer-Oatey (2000) unterzogen werden. 2.2.4

Kulturen als Werte beeinflussen Gespräche indirekt

Der Einfluss kulturspezifischer Werte auf die Produktion von Sprechakten im Sinne eines indirekten Einwirkens war bereits in den 1980er Jahren von den Sprachwissenschaften ausführlich untersucht worden. Auch hier hatten Autorinnen wie Blum-Kulka et al. (1989) eine ursprünglich angenommene sprachpragmatische Universalie als durchweg kulturspezifisches Produkt entlarvt, in ihrem Modell sollten kulturspezifische Werte für unterschiedliche Ausformungen der Sprechaktproduktion verantwortlich sein. Diese Annahmen werden auch von einzelnen Publikationen im jüngeren Untersuchungszeitraum weitergeführt, in ihrer breiten Offenheit für kulturspezifische Variationen jedoch wieder eingegrenzt und beschnitten. Das zeigt beispielsweise Jiang (2006) im Rahmen eines amerikanisch-chinesischen Vergleichs von Sprechakten, die im Rahmen von Pressekonferenzen geäußert wurden. Jiang zufolge existierten neben den von Blum-Kulka et al. beschriebenen kulturspezifischen Ausprägungen doch auch zahlreiche Universalien, wie beispielsweise das Bedürfnis nach einer erfolgreichen Imagearbeit (facework) in der Interaktion. Dieses universale Bedürfnis wird Jiang zufolge auch mit Hilfe universal auffindbarer Strategien, wie beispielsweise dem Einsatz von Indirektheit im Gespräch, bearbeitet. Diese Rückbesinnung auf kulturelle Universalien nach einer Epoche des Kulturrelativismus ist in diesem Fall jedoch nicht immun gegen bereits einfache Einwände. So drängt sich beispielsweise der Verdacht auf, dass es sich bereits bei dem einzigen untersuchten Genre der Pressekonferenzen um eine westlich und europäische vorgeprägte Kommunikationsform handelt. Insbesondere wenn die Autorin von „routine press conferences“ (Jiang 2006:237) spricht, erhärtet sich der Verdacht, dass eine Sensibilität für kulturspezifische Prägungen des Untersuchungsgegenstands verloren gegangen ist.

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2.2.5

Kulturen als überwindbare ethnozentrische Routinen

Neben einer fortschreitenden Simplifizierung angenommener Einflüsse von Kultur auf soziales Handeln gegenüber früheren, differenzierteren Studien kann, wie auch das Beispiel von Jiang bereits gezeigt hat, eine Aufwertung universalistischer Perspektiven festgestellt werden. Im Umkehrschluss wird der Glaube an die Wirkmächtigkeit kulturspezifischer Besonderheiten relativiert. So geht beispielsweise O’Driscoll (2007) davon aus, dass kulturelle Werte möglicherweise die Ausgestaltung sprachlicher Routinen beeinflussen. Die Form dieses Einflusses wird jedoch nicht weiter ausgeführt, und auch die Auswirkungen dieser kulturellen Einflüsse über die Formulierung hinaus werden als gering eingeschätzt. So sind nach O’Driscoll sprachspezifische Routinen schlicht Konventionen auf sprachlicher Ebene, die auch verändert werden können. 2.2.6

Interkulturelle Forschung ohne Berücksichtigung von Kultur

Die vorangegangenen Abschnitte haben Tendenzen aufgezeigt, nach denen der angenommene Einfluss von Kultur auf soziales Handeln entgegen früheren Modellen im Untersuchungszeitraum immer weiter abgewertet worden ist. Damit verbunden scheint eine zunehmende Präferenz für die Annahme und die Gewichtigkeit kulturuniversaler Grundlagen menschlicher Interaktion. Exemplarisch hierfür mag eine Studie von Roberts, Sarangi und Moss (2004) gelten, in der Interaktionen und Gespräche in den jeweils ersten 15 Sekunden der Arzt-Patienten-Kommunikation in Krankenhausvisiten untersucht wurden. Die Autoren der Studie räumen zwar ein, dass Kulturen sich in Form konversationeller Routinen manifestieren und dass sich Sprecher dieser Routinen aus ihrer jeweiligen ethnozentrischen Haltung heraus bedienten. Als problematisch erachten die Autoren jedoch nicht die Kulturspezifik der Routinen, sondern lediglich die unüberlegte Verwendung von Routinen im Allgemeinen. Angehörige anderer Kulturen liefen in diesem Fall Gefahr, die Bedeutungen der Routinen nicht zu verstehen. Die Autoren fordern demnach eine De-Ethnozentrierung der Sichtweisen und Sprecherhaltungen des medizinischen Personals. Folglich wird zwar nicht bestritten, dass kulturelle Differenzen durchaus existieren. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit diesen Differenzen sei jedoch für die erfolgreiche Durchführung von Interaktionen nur wenig hilfreich. Letztendlich kommt jedoch auch eine Forderung nach De-Ethnozentrierung nicht ohne die Akzeptanz der Existenz kultureller Differenzen aus. So beziehen sich auch Roberts et al. auf Goffman’s Theorie der Interaktionsrituale, die jeweils nur innerhalb von kulturellen Gruppen © Interculture Journal 2012 | 16

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geteilt werden (Roberts / Sarangi / Moss 2004:161). Dieser Kulturspezifik könne jedoch auch nicht durch das Einüben der Routinen aller jeweils an einer Situation beteiligten Kulturen kompetent gehandhabt werden, da in vielen Fällen für Kontexte, für die in einer Kultur eine Routine vorhanden ist, in einer anderen Kultur keine Routine existiert. In der Praxis manifestiere sich demnach für die Akteure eine interkulturelle Kontaktsituation als eine Unordnung, die von den Akteuren nur akzeptiert werden könne. 2.2.7

Interkulturelle Kommunikation als lernersprachliche Kompetenz

Interkulturelle Kontaktsituationen scheinen auch gemäß der Ergebnisse aus dem Untersuchungszeitraum im Fokus eines gewissen wissenschaftlichen Interesses zu stehen. Wie das Beispiel im vorangegangenen Abschnitt bereits gezeigt hat, erscheint es in diesen Fällen jedoch nicht erforderlich zu sein, kulturelle Einflüsse selbst ins Zentrum der entsprechenden Forschungsarbeiten zu rücken. Exemplarisch dafür mag eine Studie der Sprachwissenschaftlerin Gabriele Kasper (2004) stehen, die 15 Jahre zuvor an dem bereits referierten, kulturrelativistisch ausgerichteten Cross-Cultural Speech Act Realization Project von Blum-Kulka, House und Kasper (1989) mitgearbeitet hatte. Kasper untersucht auch weiterhin interkulturelle Kontaktsituationen, aber sie geht zwischenzeitlich davon aus, dass eine Untersuchung der Ausformulierungen von Sprechakten keinen Aufschluss über den Verlauf und das Ergebnis interkultureller Kontaktsituationen geben kann. Für vielversprechender hält Kasper stattdessen einen Blick auf die Transformation und Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen in interkulturellen Kontaktsituationen, die letztendlich auch für den Gesprächsverlauf und -erfolg verantwortlich seien. Dabei geht Kasper davon aus, dass eine Etablierung positiver interpersonaler Beziehungen trotz möglicher Beeinträchtigungen und Erschwernisse durch missverständnisschwangere lernersprachlicher Defizite immer und in allen interkulturellen Kontexten durch die Anwendung von Strategien positiver und negativer Höflichkeit erreicht werden könne. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen im Untersuchungszeitraum auch Palotti und Varcasia (2008): In ihrer Studie vergleichen sie die Eröffnungssequenzen von Telefongesprächen in verschiedenen europäischen Sprachen und setzen dabei Kulturen mit Sprachen gleich.

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3.

Warum versiegt in den Sprachwissenschaften das Interesse an Kultur?

Obwohl in den 1980er und 1990er Jahren die internationalen Sprachwissenschaften eine wesentliche und mitgestaltende Rolle in der Forschung zur interkulturellen Kommunikation eingenommen hatte, scheint das Interesse an kulturellen Einflüssen auf sprachliche Interaktion nach der Jahrtausendwende deutlich zurückgegangen zu sein. Im Vergleich mit früheren Studien weisen die im Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit identifizierten Publikationen deutlich simplizistischere Operationalisierungen von Kultur auf, sie schreiben kulturellen Einflüssen auf soziales Handeln ein deutlich geringeres Gewicht zu, bzw. sie vertrauen auf eine deutlich größere kulturuniversale Basis kommunikativer Verständigungsmöglichkeiten, die letztendlich den Ausgang auch interkultureller Kontaktsituationen bestimmten. Offen bleibt angesichts dieser Beobachtungen die Frage nach möglichen Gründen für die vorgefundene Entwicklung: Das geringere angenommene Gewicht von Kultur wird in den seltensten Fällen argumentativ begründet, sondern in der Überzahl der gesichteten Publikationen schlicht statuiert. 3.1

Mögliche Gründe für das Versiegen des Interesses an Kultur in den Sprachwissenschaften

Wenn das Versiegen des Interesses an einer Auseinandersetzung mit Kulturverständnissen in den Sprachwissenschaften nicht mit Hilfe von Beobachtungen innerhalb der Disziplin begründet werden kann, dann können benachbarte Disziplinen nach Entwicklungen durchsucht werden, die entsprechende Veränderungen in den Sprachwissenschaften angestoßen haben. Besonders lohnenswert erscheint in diesem Fall ein Blick in die Kulturanthropologie, in deren Rahmen insbesondere seit Mitte der 1980er Jahre eine zunehmend kritische Diskussion des Kulturbegriffs stattgefunden hat und deren Kritiken sicherlich nicht ohne Folgen an den TheorieEntwicklungen anderer geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen vorübergegangen sind. In der Kulturanthropologie reflektiert Anfang der 1990er Jahre Richard G. Fox in einer Tagungsdokumentation (Fox 1991b) den Umstand, dass zentrale Begriffe und Normvorstellungen, wie beispielsweise der Kulturbegriff, mit dem innerhalb der Kulturanthropologie hantiert wird, nicht mehr aus der Disziplin selbst heraus generiert, sondern zunehmend von gesellschaftlichen Diskursen vorgegeben werden (Fox 1991a). Insbesondere bezieht sich Fox dabei auf die Beobachtung, dass westliche Gesellschaften eine Dichotomisierung zwischen westlichen und nicht-westlichen Kulturen an die © Interculture Journal 2012 | 16

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Kulturanthropologie herantrage, die sich innerhalb der Disziplin aus sich heraus nicht als relevant ergeben würde, der sich die Disziplin aber letztlich beugen müsse. Fox sieht zentrale Interessenpunkte dagegen vielmehr in den Interrelationen zwischen Individuen und Gruppen, bzw. Institutionen. Zu besonderer Bekanntheit hat es innerhalb des Sammelbandes von Fox das Plädoyer Writing against culture von Lila Abu-Lughod (1991) gebracht, demzufolge die Kulturantrhopologie nicht mehr in der Lage sei, sich gegenüber der normierenden Übermacht gesellschaftlich generierter Kulturverständnisse zu emanzipieren und einen eigenen Kulturbegriff herauszuarbeiten. Gesellschaftliche Kulturverständnisse fokussierten demnach nicht nur die West-Ost-Dichotomie, sondern akzeptierten darüber hinaus fast ausschließlich essentialistische Kulturverständnisse, die innerhalb der Kulturanthropologie als zunehmend inadäquat wahrgenommen wurden. Da eine distanzierte und beschreibende Forschung auf dieser Grundlage nicht mehr möglich sei, plädierte Abu-Lughod für eine Abschaffung des Kulturbegriffs als einem wissenschaftlichen Terminus. Wenige Jahre später beklagt auch Stolcke (1995) die Übermächtigkeit essentialistischer Kulturverständnisse. Darüber hinaus steht zu befürchten, dass jedwede Verwendung des Kulturbegriffs grundsätzlich nur dazu führen kann, dass kulturelle Differenzen noch einmal zusätzlich untermauert und gefestigt werden – völlig unabhängig davon, wie relativierend eine Kulturtheorie selbst mit dem Konstruktions- und Prozesscharakter kultureller Grenzen auch umgehen mag. Auch über zehn Jahre später finden sich vergleichbare Plädoyers für eine Abschaffung des Kulturbegriffs, wie beispielsweise das von Hann (2007), der ebenfalls in der großen Divergenz zwischen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Vorstellungen von Kultur ein wesentliches Hindernis sieht. In der Folge versuchen US-amerikanische Ethnologen in der Tat, sich von einem kulturzentrierten Paradigma zu emanzipieren. Stattdessen solle eine Beschreibung von Individuen mit einem starken Gegenwartsfokus erprobt werden (Westbrook 2008). Im Rahmen des so genannten Civilizational Approach, der dennoch auch selbst weiterhin mit seinen Emanzipationsbemühungen gegenüber Kultur- und Naturverständnissen wesentlich zu schaffen hat (Goody 2010, Rees 2010), wird zunächst davon ausgegangen, dass es Kulturen in einem beinahe naturwissenschaftlichen Sinne gar nicht gibt. Eine davon losgelöste Anthropologie müsse sich demnach zunächst auf die Beschreibung einzelner Individuen konzentrieren (Arnason 2010a, 2010b). Erchinger (2010:12) plädiert für eine Konzentration auf die Kategorien aus Mensch, Leben und Lebendigkeit, die die Grundlagen für die 37

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Schaffung von Vielfalt bildeten. Kulturalistisch informierten Sozialwissenschaftlern wiederum ist es jedoch ein leichtes Spiel, den Geltungsanspruch eines solchen Ansatzes zu relativieren, deutet doch die starke Fokussierung auf Individuen an sich bereits auf eine sehr westlich-kulturelle Perspektive des Ansatzes hin (Elliott 2007). 3.2

Die Rehabilitierung von Kultur in der Kulturanthropologie

Trotz dieser erheblichen Selbstzweifel scheint den Vertretern der Kulturanthropologie die Rettung ihrer eigenen Disziplin vorerst dennoch geglückt zu sein: So ruft Brumann in seinem Plädoyer Writing for culture: Why a successful concept should not be discarded (1999) die zahlreichen Vorteile des Kulturbegriffs in Erinnerung, die zum Zuge kommen, wenn es darum gehen soll, soziale Prozesse angemessen zu beschreiben. Ähnlich führen Borofsky et al. (2001) eine Debatte über angemessene und differenzierende Verwendungen des Kulturbegriffs in der Forschung. Zwischenzeitlich haben sich insbesondere anwendungsorientierte Forschungsfelder, wie beispielsweise das der interkulturellen Konfliktmediation, auf konstruktive Weise mit den unterschiedlichen Verwendungsformen des Kulturbegriffs in Wissenschaft und Gesellschaft arrangiert. Hier weist beispielsweise Avruch auf die bereits von Geertz (1983:57) verwendete Unterscheidung zwischen erfahrungsnahen und erfahrungsfernen Begriffsverständnissen hin („experience-near and experience-distant“, Avruch 2003:355ff), mit denen auch unterschiedliche Verwendungsformen des Kulturbegriffs voneinander unterschieden und konstruktiv in die Bearbeitung von Konflikten in internationalen Kontexten mit eingebracht werden können. 3.3

Mit dem Konstruktionscharakter des eigenen Forschungsgegenstands konstruktiv umgehen

Die Gender Studies mögen gegenwärtig als prominentestes Beispiel einer geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplin gelten, die als eine der ersten damit begonnen hat, den Konstruktionscharakter des eigenen Forschungsgegenstands theoriegeleitet zu hinterfragen. Zugleich wurden hier Wege entwickelt, diesen Konstruktionscharakter nicht zu einer finalen Dekonstruktion und Destruktion der gesamten Disziplin führen zu lassen, sondern ihn in ein erneuertes Selbstverständnis der Forschung zu integrieren. Begründet wurde diese Tendenz insbesondere innerhalb der Genderforschung, die sich an den US-amerikanischen Literaturwissenschaften orientiert hat, bzw. auch aus ihnen hervorgegangen ist. Maßgeblich geprägt wurde diese Entwicklung durch die Genderforscherin Judith Butler (1990, 1993), die an die diskurstheoreti© Interculture Journal 2012 | 16

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schen Überlegungen Foucaults anknüpfend das bisherige Verständnis der Genderforschung von ihrem eigenen Forschungsgegenstand umkehrte: Bis dato hatten Genderforscher sich maßgeblich für die gesellschaftliche Bewusstmachung einer Unterscheidung zwischen biologischem (sex) gegenüber einem sozial erworbenen und zugeschriebenen Geschlecht (gender) eingesetzt. Eine mit der Forschung verknüpfte gesellschaftspolitische Zielstellung bestand dabei darin, auf den hohen Anteil gesellschaftlicher Zuschreibungen in Geschlechterdifferenzierungen aufmerksam zu machen. Soziale Ungleichheiten, die aus diesen Zuschreibungen resultierten, seien demnach nicht von Natur aus vorgegeben. Stattdessen seien Gesellschaften selbst in der Verantwortung für eine gerechte Gestaltung des Umgangs mit Geschlechterdifferenzen. Butler radikalisierte diese Einsicht in die Konstruktion sozialen Geschlechts, indem sie auf diskurstheoretischen Grundlagen statuierte, dass auch die Annahme einer Existenz eines biologischen Geschlechts immer nur selbst Bestandteil einer sozialen Konstruktion von Geschlecht sein könne. Aufgrund der universalen und alles einschließenden Diskursivität der sozialen Umwelt sei dagegen eine ausschließlich biologische Geschlechterdifferenzierung der Wahrnehmung gar nicht unmittelbar zugänglich, sondern immer schon diskursiv aufgeladen. Dabei beschreibt Butler den Prozess der Sedimentierung sozialer Konstruktionen über das biologische Geschlecht als eine Materialisierung, deren Zustandekommen später kaum noch reflektiert und hinterfragt werden kann. Anknüpfend an Theorien des Performativen nach Derrida (1967, 1992) zeigt Butler, wie die soziale Konstruktion der Geschlechterdifferenz erst durch das permanente Repetieren und Iterieren dieser Grenzziehungen durch die Mitglieder einer Gesellschaft immer weiter aufrecht erhalten wird. Mit diesem Rekurs auf das kleinschrittige Weiterführen sozialer Differenz durch einzelne Handlungen von Individuen deckt Butler jedoch auch Handlungsspielräume auf, in denen Individuen soziale Grenzziehungen durchaus auch verändern und aufbrechen können. Daraus leitet Butler eine politische Verantwortung des Individuums zu einer Herstellung sozialer Gleichberechtigung über Geschlechtergrenzen hinweg ab. Die Gender Studies als wissenschaftliche Disziplin erhalten durch die Transformation des Verständnisses des eigenen Forschungsgegenstands durch Butler eine neue und sinnvolle Aufgabe. Diese besteht darin, Konstruktionsprozesse der Annahme eines biologischen Geschlechts auf einer Mikro-Ebene nachzuzeichnen und das genaue Ausmaß von Handlungsspielräumen von Akteuren auszuloten sowie auf diese Handlungsspielräume aufmerksam zu machen.

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4.

Wege der Rehabilitierung des Kulturbegriffs

Auch die Forschung zur interkulturellen Kommunikation hat, ähnlich den Gender Studies, ihr ursprüngliches Selbstverständnis auf einem gesellschaftlichen Differenzparadigma begründet. Sicherlich war dieses Differenzparadigma weniger dichotomisch angelegt als das der Gender Studies, jedoch liefen insbesondere kulturvergleichende und kulturkontrastierende Studien dennoch häufig auf eine bipolare Gegenüberstellung von Differenzen hinaus. Auch in der interkulturellen Forschung wird dieses Differenzparadigma sicherlich schon seit langem hinterfragt und als Konstruktion verstanden, diese Einsichten verwiesen bislang jedoch meist auf die Begrenztheit und die Krisenanfälligkeit der Disziplin. Trotz einiger Unterscheidungen gegenüber den Gender Studies mögen die Parallelen mit der interkulturellen Forschung einen akzeptablen Anlass geben, um zu überlegen, inwieweit die Transformation des fachlichen Selbstverständnisses aus den Gender Studies nicht auch im Bereich der Forschung zur interkulturellen Kommunikation anwendbar sei. Erste Überlegungen hierzu finden sich beispielsweise bei Mae (2003). Demnach kann auch die Annahme von der a priori-Existenz unterschiedlicher Kulturen als grundsätzlicher Bestandteil von Diskursen über interkulturelle Kommunikation und kulturelle Differenz verstanden werden. Tatsächlich existierende kulturelle Differenzen wären demgegenüber, folgt man der Logik von Butler, ohnehin gar nicht unmittelbar wahrnehmbar und erfassbar. Indem wir über kulturelle Differenzen sprechen und uns (auch wissenschaftlich) mit dem Gegenstand interkultureller Kommunikation auseinandersetzen, reproduzieren wir diesen permanent selbst. Eine neue Forschungsaufgabe besteht aus dieser Sicht für die interkulturelle Forschung parallel zur Genderforschung dann darin, Handlungsspielräume individueller Akteure im Umgang mit kultureller Differenz auszuloten: Inwieweit müssen Individuen in unterschiedlichen Kontexten der gesellschaftlichen Konstruktion kultureller Differenzen einerseits Rechnung tragen, um keine sozialen Sanktionen aus ihrem eigenen Umfeld befürchten zu müssen oder gar nicht erst verstanden zu werden? Und inwieweit können sich Individuen andererseits vielleicht auch selbstverantwortlich über gesellschaftliche Konventionen kultureller Differenz diese verändernd und modifizierend hinwegsetzen? Eine entsprechende Geisteshaltung zum bewussten und auch unbewussten Konstruktionscharakter kultureller Differenz aus theoretischer Sicht hat bereits 1993 die Kultur- und Geschlechterforscherin Gayatri Spivak entwickelt. Der von ihr eingeführte Begriff des strategischen Essentialismus

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(„strategic essentialism“, Spivak 1993) weist auf die Annahme hin, dass sich Individuen in der Alltagspraxis in sehr vielen Fällen durchaus des Konstruktionscharakters kultureller Differenz bewusst seien, dass sie jedoch vielfach trotzdem auf der Grundlage der angenommenen Existenz dieser Differenzen handelten, weil sie auf diese Weise auf eine mit ihren Mitmenschen konsensuell geteilte und gemeinsame Lebenswelt zurückgreifen könnten. Empirische Beispiele für Handlungsformen auf dieser Grundlage liefert unter anderen Pütz (2004) im Rahmen einer ethnographischen Studie über Unternehmer mit türkischem Migrationshintergrund in Berlin. 4.1

Neue Arbeitsfelder für die Sprachwissenschaften

Auch die Sprachwissenschaften können Beiträge zu einer Erforschung dieser vorgefundenen und potentiellen Handlungsspielräume mit dem Konstruktionsgegenstand Kultur leisten. Insbesondere mit empirisch basierten Herangehensweisen aus der Gesprächsforschung und Konversationsanalyse können Umgangsformen mit dem Gegenstand Kultur auf einer Mikro-Ebene nachgezeichnet werden. Erste empirische Arbeiten liegen dazu beispielsweise von Day (1994, 2006) vor. Um eine noch präzisere Operationalisierung von Umgangsformen mit dem Konstruktionsgegenstand Kultur in Gesprächen zu ermöglichen, erscheint eine (Re-)Aktivierung konversationstheoretischer Ansätze sinnvoll, die – seit den 1970er Jahren vorliegend (Sacks 1974) – in den Sprachwissenschaften zugunsten sequenzanalytisch orientierter Studien in der Gesprächsforschung (Sacks / Schegloff / Jefferson 1974) bislang eher ein Schattendasein geführt hat. Mit Hilfe der so genannten Membership Categorization Analysis (MCA) lassen sich Konstruktionsprozesse sozialen Sinns auf einer Mikro-Ebene einzelner gesprochener Sätze rekonstruieren. Im Rahmen der Publikationen zur ethnomethodologischen Konversationsanalyse wurde die ursprüngliche Perspektive des Ansatzes ausschließlich auf die Satzebene für eine Fassbarmachung übergreifender sozialer Phänomene wie beispielsweise für die Differenzparadigmen von Kultur und Geschlecht ausgeweitet (Jayyusi 1984, Moermann 1988, McIlvenny 2002). Angewendet auf die Fragestellung nach Kulturalisierungen im Gespräch können auf diese Weise Konstitutionen kulturalistischer Kategorisierungen in Gesprächen identifiziert werden und vor allem in ihren vollständigen Auswirkungen auf die Organisation von Situationen und Beziehungen ausgelotet werden. So kann beispielsweise aufgedeckt werden, auf welche Weise einander zugeschriebene Eigenschaften und Handlungslegitimierungen, die auch zu Ungleichheiten führen können, durch (teils verdeckte) kulturalisierende Kategorisierungen als unhinterfragbar und gegeben statuiert werden.

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Zugleich können – wiederum im Sinne der Theorie Butlers – jedoch auch Handlungsspielräume und -optionen aufgedeckt werden. Dabei kann nachgezeichnet werden, wie Akteure in authentischen Situationen exemplarisch kulturelle Grenzen innerhalb eines für sie sich darstellenden Handlungsspielraums transzendieren. Eine exemplarisch durchgeführte Analyse liegt in Busch (2012) vor. 4.2

Konsequenzen für Begriffe interkultureller Kompetenz

Der vorliegende Beitrag hat anhand einer eigenen Literaturstudie nachgezeichnet, wie sich die sprachwissenschaftliche Forschung als einer der früheren zentralen Impulsgeber im Forschungsfeld interkultureller Kommunikation seit der Jahrtausendwende aus diesem Bereich immer weiter zurückgezogen hat. Mögliche Gründe für diesen Prozess wurden in der Problematisierung bisheriger gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Kulturverständnisse, auf die sich auch die sprachwissenschaftliche Forschung bis dato größtenteils gestützt hatte, durch die US-amerikanische Kulturanthropologie in den 1990er Jahren gesehen. Während einige geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen im Nachgang bereits Wege eines konstruktiven Umgangs mit dem Konstruktionscharakter des eigenen Forschungsgegenstands gefunden haben, um dem damals postulierten Dilemma zu entkommen, ist dieser Prozess von der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen Kommunikation bislang kaum aufgegriffen worden. Der vorliegende Beitrag hat auf Anschlussmöglichkeiten und entsprechende erste, angewandte Beispiele hingewiesen, mit deren Hilfe die Sprachwissenschaften auch zukünftig konstruktive Beiträge zu einer Erforschung interkultureller Kommunikation leisten und dabei ihr mikro-analytisches Potential einbringen kann. Angesichts des hier nachgezeichneten und vorgeschlagenen Paradigmenwechsels wird auch eine zusätzliche Facette des bereits vielfach belegten Begriffs der interkulturellen Kompetenz sichtbar. Ehlich und ten Thije (2010) haben in diesem Zusammenhang bereits für den Begriff der Alltagshermeneutik als einem Bestandteil interkultureller Kompetenz plädiert. Darunter verstehen die Autoren ein bewusstes Infragestellen des Systems eigener Gewissheiten, durch die das eigene Selbstbewusstsein aber nicht erschüttert, sondern durch das Wissen um angenommene Differenzen bereichert und gestärkt wird (Ehlich / ten Thije 2010:266f). Diese offene und konstruktionsbewusste Suchhaltung kann vor dem Hintergrund der hier getätigten Überlegungen noch präzisiert werden. Interkulturelle Kompetenz bestünde demnach in der Fähigkeit, die eigenen, subjektiven Konstruktionsprozesse von

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Kulturverständnissen zu reflektieren und Grenzen und Möglichkeiten darüber hinausgehender Handlungsoptionen auszuloten und anzuwenden.

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Schreiter: Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung. Eine designtheoretische Perspektive

Kultur zwischen ÖkonoPleaseinsert insertthe thetitle titleof of Please misierung und kreativer your article here your article here Unordnung. Eine designtheoretische Perspektive [Designing Culture. Dynamics between economization First nameSurname Surname First name and creative mess] Pleaseinsert insertinformation informationabout about Please the author here (e.g. title, posithe author here (e.g. title, position, institution) tion, institution)

Anne Schreiter

Dipl.-Kommunikationswirtin, wissenschaftliche Assistentin im Profilbereich „Kulturen, Institutionen, Märkte“ der Universität St. Gallen, Schweiz.

Abstract [English] The paper introduces two different perspectives on culture: An economic lens focussing on pre-rationalised models and a kaleidoscopic lens revealing cultural fuzziness. However, the latter approach faces challenges of methodology and scientific self-conception. A rather unorthodox way of dealing with such challenges could be examining how the activity of design as a professionalized process deals with complex situations. After outlining characteristic practices of the design process, the paper then applies these dynamics to the enactment of reciprocal relationships. Finally, it draws conclusions for the field of inter-cultural research. Keywords: Constructions of culture, design, fuzzy cultures, inter-cultural research Abstract [Deutsch] Die wissenschaftlichen Perspektiven auf den Gegenstand Kultur konstruieren kulturelle Wirklichkeit auch immer ein Stück weit mit. Der vorliegende Beitrag stellt zwei solcher möglichen Blickwinkel auf Kultur vor: Den durch eine ökonomisierte Linse, die vorab rationalisierte Modelle sichtbar macht und den durch eine kaleidoskopische Linse, die kulturelle Fuzziness erkennen lässt. Um den Herausforderungen in der Methodologie und dem wissenschaftlichen Selbstverständnis der letzteren zu begegnen, skizziert der Beitrag eine recht unkonventionelle Möglichkeit: Es zeigt, wie Designer idealtypischer Weise an komplexe und unsichere Vorgaben herangehen. Die Ideen aus dem Prozess des Designens werden dann zum einen auf den Entstehungsprozess von Reziprozitätsdynamiken übertragen; zum anderen helfen sie im Anschluss mit neue Denkanstöße für den Bereich der interkulturellen Kommunikationsforschung zu formulieren. Stichworte: Kulturkonstruktionen, Design, fuzzy cultures, interkulturelle Kommunikationsforschung 1.

Beyond the Looking Glass – Einleitung

Der Versuch, kaleidoskopisch vielfältige und über mehrere Ebenen verstrickte Netzwerke reziproker Beziehungen unter dem Begriff Kultur zu subsumieren, kann durchaus in der Einsicht münden, Kultur sei nicht viel mehr (oder weniger) als „messy human stuff“ (Jordan 1994:4). Wozu also überhaupt Kultur? Die Frage stellt sich inzwischen nicht mehr nur aus wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse, sondern ist zunehmend an die Vergabe von Geldern und Anforderungen aus 49

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der Wirtschaft geknüpft. Die Rechtfertigungsversuche seitens der wissenschaftlichen Community und des Feldes der interkulturellen Dienstleister schlagen sich daher mitunter in einer Ökonomisierung des Gegenstands Kultur nieder, also in einem „Vorgang, durch den Merkmale, die man gemeinhin mit Wirtschaft verbindet, wirkmächtiger werden“ (Schimank 2008:622). So soll sich Kultur zunehmend auch verkaufen lassen. Eine Schlussfolgerung daraus – bevorzugt, aber nicht ausschließlich bei wirtschaftsrelevanten Fragestellungen – ist die konsequente Rationalisierung und Objektivierung von Kultur. Ooi (2007) unterscheidet daher zwischen „lived culture“ und „packaged culture“ (ebd.:127): „In packaging culture, researchers make tacit decisions. Eventually, the packaging process involves what to accentuate, what to marginalize, how much complexity to present and to whom the knowledge is to be sold” (ebd.:128). Die Auswahl und Dominanz solcher „packages“ sind insofern relevant, als dass sie Präferenzen für Wahrnehmungskategorien bestimmen können. Ein deutscher Manager, der beispielsweise in mehreren Trainings von nationalkulturellen Dimensionen gehört hat, wird in seinem chinesischen Geschäftspartner gezielt nach diesen gelernten Merkmalen suchen. Das heißt nicht, dass er diese nicht auch finden könnte oder Unterschiede nicht existent wären. Es bleibt jedoch offen, inwieweit er deren kontextgebundene Relevanz einschätzen kann und ob er womöglich andere Anknüpfungspunkte übersieht. Kulturelle Interaktionen sind daher zwar immer auch konstruiert, primordiale Einflüsse wie nationale und organisationale Rahmenbedingungen und ex- oder implizite Annahmen der Interaktanten sind allerdings Bestandteil dieser Konstruktionen. Eine Verbindung konstruktivistischer und primordialer Ansätze muss konsequenterweise kein Widerspruch sein, wie auch Hinweise aus der Literatur zeigen, bspw. bei Law und Urry (2003): „[T]he world we know in social science is both real and it is produced” (ebd.:5). Alvesson (1995) versteht Kultur als „a way of thinking about social reality” (ebd.:2), auch hier finden Konstrukt und Gegebenes zusammen. Das bedeutet jedoch, dass sich Wissenschaftler der Auswirkungen ihrer Forschungsarbeiten bewusst sein müssen, denn „[i]f methods also produce reality, then whatever we do, and whatever we tell, social science is in some measure involved in the creation of the real. There is no innocence” (Law / Urry 2003:10). So konstruieren nicht nur die Forschungssubjekte, sondern eben genauso die verschiedenen wissenschaftlichen Annahmen über Kultur den Gegenstand selbst mit (Busch 2011:16). Dabei bringt jeder Forscher einen bestimmten Blickwinkel mit in seine Untersuchungen ein, aus dem heraus er die emischen Perspektiven auf das, was als Kultur gelabelt wird, bewertet. Kulturtheorie funktioniert also eher als Linse, durch die kultu-

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relle Prozesse betrachtet werden können und weniger als deren Spiegel (vgl. Rorty 1979, zitiert nach Alvesson / Deetz 2000:37). Doch wie sieht der Blick durch unterschiedliche Linsen aus? Worauf ist er gerichtet und welche Auswirkungen hat er auf den Gegenstand Kultur? 2. 2.1

Wissenschaft, Design und Kultur Vom Umgang mit komplexen Systemen

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kultur ist auch immer eine kritische Beschäftigung mit Komplexität. Der Begriff Komplexität, der inzwischen Buzzword-Charakter erreicht hat, ist an sich zunächst recht unspektakulär. Nüchtern betrachtet tritt Komplexität dann auf, wenn die Zahl der Variablen in einem System relativ hoch ist, wenn diese Variablen miteinander verbunden sind und sie sich gegenseitig beeinflussen (Glanville 2007:86). Die dabei auftretende Grundsatzfrage, ob Komplexität im System liegt, das ein Beobachter betrachtet oder ob sie darin liegt, wie der Beobachter dieses System betrachtet, ist dabei die eigentlich interessante und streitbare Überlegung (ebd.:77). So ist zwar feststellbar, dass Komplexität relativ größer oder kleiner sein kann, die subjektive Wahrnehmung ist jedoch nicht zwangsläufig gleich. Die daraus resultierenden Diskrepanzen werden dann relevant, wenn sie problematisch erscheinen und beispielsweise die Handlungsfähigkeit einschränken oder generell als unangenehm empfunden werden. In einem komplexen System heißt das, dass Variablen und deren Verbindungszusammenhänge unbekannt oder undeutlich sind. Übertragen auf Kultur oder zumindest zunächst einmal auf menschliche Interaktionen folgt daraus, dass es zu mehr oder minder starken Fremdheitsgefühlen kommen kann. Das Spektrum reicht dabei von kommunikativ leicht behebbaren Irritationen bis dahin, dass Erklärungs- und Plausibilitätsspielräume ausgeschöpft sind und Konflikte entstehen (Bolten 2009:252). Teilweise oder völlig unbekannte komplexe Systeme sind also der Schauplatz klassischer interkultureller Kontaktsituationen. Je nachdem, wie Komplexität aus einer Betrachterperspektive heraus gehandhabt wird, gestaltet sich der etische Schliff der Linse, durch die der Blick auf solche interaktiven Prozesse fällt. Eine ökonomisierte Linse ergibt sich hauptsächlich aus einem normativ-funktionalistischen oder mitunter positivistischen Verständnis von Kultur. Das betrifft zum einen Bereiche der kulturvergleichenden Psychologie. Zum anderen fördert deren Methodenähnlichkeit auch die inhaltliche Nähe beim Verständnis von Kultur in Teilgebieten der Wirtschaftswissenschaften (Janzer 2007:28). Kultur hat in solchen Kontexten

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eine konkrete Aufgabe, beispielsweise die, Managementprozesse oder Mitarbeiterleistungen effizienter zu gestalten. Komplexität wird dabei vordergründig als Störfaktor für Routinen und die Ausschöpfung von Ressourcen wahrgenommen und muss als Konsequenz reduziert werden. Dafür werden relevant erscheinende Variablen präzise definiert und in bestehende Modelle und Schemata eingefügt (Glanville 2007:88). Einflüsse, die nicht in Variablen übersetzt werden, finden darin (meist) keinen Eingang. Dazu gehören z. B. oft irrationale oder emotionale Verhaltensweisen, spezifische Persönlichkeitsmerkmale und Kontexte etc. Aus einer solchen Art der Simplifizierung von Komplexität lässt sich dann nicht nur eine, sondern die beste Lösung in einem abgesteckten Rahmen für ein vorgegebenes Problem durch logische Schlussfolgerungen finden (ebd.). So können Leitfäden und Verhaltenskataloge für verschiedene Interaktionssituationen erstellt werden. Das ist besonders dann hilfreich, wenn sich wiederholende Arbeitsabläufe routinisiert und ressourcenschonender geplant werden sollen oder auch wenn z. B. schnelle Orientierung in moralischen Dilemmasituationen innerhalb von Organisationen möglich gemacht werden soll. Die generelle Krux einer solchen Vorgehensweise liegt darin, dass Komplexität nicht nur im Sinne einer mathematisch definierbaren Variablenlandschaft existiert, sondern auch chaotische, irrational-veränderliche oder gänzlich unvorhersehbare Elemente bereithält. Kultur umfasst und vereint allerdings auch solche Bruchlinien. Einerseits gelingt das dadurch, dass Kultur Normalität (Schütz / Luckmann 1979), d. h. „Orientierungssicherheit, Plausibilität, Sinnhaftigkeit und Fraglosigkeit“ (Bolten 2000:1) angesichts dieser Verwerfungen stiften kann (Rathje 2004), andererseits können solche Irritationen als Initialzündung für Reflexionsprozesse wirken und bilden damit die Voraussetzung für die stetige Erneuerung kultureller Prozesse (Kettner 2008, Krotz 2005). Werden diese Besonderheiten und nicht erfassten Variablen vollständig und von vornherein bei Seite geschoben, entsteht sehr wahrscheinlich eine Diskrepanz zwischen etischer und emischer Wahrnehmung von interaktiven Prozessen (Mahadevan 2007). Dadurch erklärt sich auch die Schere zwischen eher praxisorientierten und stark vereinfachten Kulturmodellen und interpretativdetaillierten Beschreibungen. Zudem erschweren es VorabReduktionen, Wandlungsprozesse zu erfassen und darauf zu reagieren. Diese Probleme fließen auch in die ausführliche Kritik der wissenschaftlichen Community, einschließlich der Wirtschaftswissenschaften, hauptsächlich an den bekannten Dimensionsmodellen ein (z. B. Bolten 2000, Cray / Mallory 1998, Hansen 2009b, Kirkman et al. 2006, McSweeney 2002, Ooi 2007, Rathje 2003). Doch obwohl bspw. interpretative Ansätze besonders durch eine andere methodische

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Herangehensweise die genannten Fallstricke zu vermeiden suchen, ist damit ein basales und disziplinenübergreifendes Problem noch nicht behoben: Es sind nicht die unterschiedlichen Modelle und divergierenden „Idea[s] of Culture“ (Eagleton 2000), die problematisch sind. Denn solange eine immanente und kontextrelevante Kritik möglich ist, belebt und erneuert sie das Feld interkultureller Forschung. Vielmehr bleibt zu diskutieren, inwieweit disziplinär eigene Theorien selbst hinterfragt werden und inwieweit auch in Zusammenarbeit oder zumindest auf andere Anregung hin Neues entstehen kann. Eine Brücke zu einem verstärkten und tatsächlich interdisziplinären Austausch versucht das Konzept der „fuzzy cultures“ (Bolten 2011:3) zu schlagen. Aufbauend auf der Idee der fuzzy logic (Zadeh 1973) versucht der Ansatz statt verschiedener Pole das Spektrum dazwischen in den Blick zu nehmen. Es geht demzufolge um „Zugehörigkeitsgrade“ (Bolten 2011:3), die Aspekte sowohl des einen wie auch des anderen Pols in sich tragen: „Eine fuzzy culture ist dementsprechend eher beziehungs- als substanzorientiert aufzufassen: Sie definiert sich vor allem über die Intensität, mit der sich Akteure auf sie beziehen“ (ebd.). Daher können bei der Beschreibung von Interaktionen auch mehrere kulturtheoretische Ansätze gleichzeitig wirksam werden und je nach Kontext nebeneinander auftreten. Die Linse ist dabei am besten mit einem Kaleidoskop vergleichbar: Je nachdem wie sie gedreht wird, entsteht ein anderes, neues Bild aus den bestehenden Bausteinen. Damit soll jedoch kein blinder Kulturbegriffsrelativismus propagiert werden. Auch hier müssen dem Forschungsdesign Plausibilität und Nachvollziehbarkeit zu Grunde liegen. Die größte Herausforderung bei diesen Überlegungen ist deren methodische Erfassung und die kreative, aber auch alltagstaugliche Weiterentwicklung der verschiedenen Einstellungen gegenüber dem Forschungsgegenstand Kultur. Einen interessanten, wenn auch ausdrücklich experimentellen Ansatz bieten Ideen aus einem Bereich, der sich normalerweise nicht sofort als Möglichkeit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kultur erschließt: dem Design. Zwar muss sich auch Design ökonomischen Anforderungen beugen und so ist auch diese Perspektive in der Praxis nicht völlig idealtypisch. Im Bereich der Theorie kann allerdings gerade das Idealtypische bestimmte Zusammenhänge besonders gut illustrieren. Dabei spielt der Prozess von Design als Tätigkeit, also des „to design“, die zentrale Rolle (Glanville 2007:77). Am Anfang dieses Prozesses steht, wie auch bei der Auseinandersetzung mit kulturellen Prozessen, eine komplexe Situation oder Aufgabe, die geprägt ist von Unsicherheiten (ebd.:78). Als professionalisierter Umgang mit Komplexität folgt der Designprozess bei der Bewältigung dieser Anforde53

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rungen immer wiederkehrenden Abläufen, die mit einem besonderen Selbstverständnis zusammentreffen: So wechseln sich immer wieder Sequenzen des Ausprobierens mit zwischengeschalteten Reflexionen ab. Meist gelingt das dadurch, dass erste Ideen durch analoge oder digitale Skizzen, aber auch durch einfaches Kritzeln, visualisiert werden. Dadurch ist es für den Designer leichter, die eigene Idee zu überdenken, weiterzuentwickeln oder zu verwerfen (Glanville 2007:89). Deutlich fruchtbarer ist der Prozess allerdings in einem Team, das nicht nur die Ursprungsidee verändern, sondern gänzlich neue Ideen einbringen kann (ebd.:90). Die Variablen und deren Verknüpfungen werden also kritisch reflektiert und ausgehandelt – die Idee als Ganzes wird so entwickelt, modifiziert, beibehalten oder aber auch völlig verworfen. Solche Sackgassen oder Überschüsse und damit verbundene Neuanfänge sind jedoch nicht nur eingeplant, sondern sogar wichtig: Zum einen kann erst so Neues und Unerwartetes überhaupt in Erwägung gezogen werden, zum anderen bietet ein vermeintlicher Fehlschlag mitunter die Lösung für ein Problem, das noch gar nicht definiert und entdeckt wurde. In diesem Fall bestimmt nicht das Problem die Lösung, sondern umgekehrt die Lösung das eigentliche Problem (ebd.:93). Die Wirkkraft dieser Annahme zeigt sich in einem Zitat, das dem britischen Architekten Sir Denys Lasdun zugeschrieben wird: „Our job is to give the client not what he wanted, but what he never knew he wanted until he saw it“ (zit. in Glanville 2010:5). Eine weitere Stärke von Brüchen während des Designprozesses ist die Einsicht, dass es beim Ergebnis um Angemessenheit anstelle von Perfektion im Sinne einer einzigen, besten Lösung geht (Glanville 2007:93). Für ein vorgegebenes komplexes Problem sind immer mehrere Lösungen denkbar und passend. Ein Designprozess ist daher nie geschlossen und bietet immer wieder die Möglichkeit von Anschlusshandeln (ebd.). Zudem kann die scheinbar eine perfekte Lösung nach unterschiedlichen Maßstäben beurteilt werden. Am Beispiel des US-amerikanischen Grafikdesigners David Carson lässt sich diese These gut illustrieren: Carson bricht ganz selbstverständlich mit Regeln der Typografie, des Satzes, der Übersichtlichkeit. Nach diesen Gesichtspunkten sind seine Designprodukte alles andere als perfekt. Gerade deswegen sind sie jedoch in bestimmten Kontexten besonders angemessen und wecken Interesse beim Betrachter. Ziel eines Designprozesses ist es schließlich, etwas Neues zu gestalten und ein Ergebnis vorzuweisen, das einer komplexen Anforderung zumindest für den Moment gerecht wird. Die Begründung dafür kann nachträglich als simpel, stringent und nachvollziehbar präsentiert werden. Der Weg hin zum Ergeb-

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nis ist allerdings ungerade und voller Hindernisse, aber auch partizipatorisch und vielschichtig reflektiert (Glanville 2007:87). In diesem besonderen Umgang mit Komplexität liegt der Unterschied zu einer reinen Vorab-Reduktion, die den Möglichkeiten komplexer Vorgaben kaum gerecht werden kann. 2.2

Kultur als interaktiver Designprozess

Der beschriebene Designprozess ist zunächst auch immer ein kultureller: Die soziale Praxis des Designens ist ein Aspekt, der Normalität im Sinne sozialen Routinehandelns, Plausibilität und Vertrautheit (Bolten 2003:108) im abstrakten Kollektiv (Hansen 2009a) der Designschaffenden herstellt. Ähnliche Abläufe zeigen sich allerdings auch in anderen, nichtprofessionalisierten interaktiven Prozessen, in denen die Akteure mit mehr oder minder neuen Variablen zurechtkommen müssen. Deren vorläufiges Ziel ist dann kein Designprodukt, wie ein Logo etc., sondern vielmehr sind es Reziprozitätsdynamiken, d. h. Beziehungen, die Normalität in einem bestimmten Kontext aufbauen. Wie ein Designprodukt sind diese nicht ewig aktuell und perfekt, bestenfalls wohl aber angemessen. Damit dies gelingen kann, müssen Beziehungen gepflegt werden, es geht hier also um Kultur in ihrem ganz ursprünglichen Sinn. Kultur als Beziehungspflege impliziert dann einen aktiven und möglichst verantwortungsbewussten Prozess. Idealerweise „verhindert [Kultur dabei aber nicht] die Überlegung, was man anstelle des Gewohnten anders machen könnte“ (Luhmann 1997:588, zitiert nach Günther 2004:16), sondern äußert sich eben gerade in der Fähigkeit zur Auseinandersetzung, zum Eingreifen und zur Entwicklung. Das ist immer dann notwendig, wenn Brüche, kommunikative Unfälle und Verstehensdefizite das Nicht-Normale und Nicht-Vertraute sichtbar machbar. In einer solchen interkulturellen Situation lassen sich durchaus Parallelen zum Prozess des Designens ziehen, auch wenn hierbei natürlich wieder auf das Idealtypische zurückgegriffen wird. Zunächst geht es auch in menschlichen Interaktionen, in denen noch keine Normalitätsspielräume ausgehandelt worden sind, um das Ausprobieren. Die Art hängt dann von verschiedenen Faktoren ab, bspw. von persönlichen Erfahrungen, also der Historizität (Bolten 2009), die eingebracht wird, aber auch von der Persönlichkeit, von machtpolitischen und egoistischen Motiven, von gesellschaftlichen oder funktionalen Anforderungen. All diese Größen können zudem zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten virulent werden, die Situation ist also hochgradig fuzzy und mitunter auch messy. Es ist daher kaum überraschend, dass es zu Missverständnissen oder kommunikativen Unfällen kommen kann. Obwohl es generell nachvollziehbar ist, dass dabei tiefgreifende Konflikte 55

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verhindert werden sollen, sind doch gerade kleine Irritationen, ein Sich-Wundern oder Aufhorchen durchaus nützlich, da sich erst dann Neues entwickeln kann, wie auch Lotman (2010) festhält: „Neues entsteht nicht, wo Verständigung reibungslos funktioniert und kulturelle Muster uns die Orientierung im Alltag erleichtern. Es entsteht, wo wir nicht unmittelbar verstehen und unsere Ordnungsmuster versagen“ (ebd.:2). Denn Brüche regen im Idealfall Kollektive und Individuen zum Nachdenken an, „warum sie erleben, was sie erleben, warum sie sich verhalten, wie sie sich verhalten, und ob es auch anders und womöglich besser gehen könnte“ (Kettner 2008:19). Das, was normal und vertraut ist, wird hinterfragt. Was dann letztendlich in Folge solcher Brüche passiert, ob das bisher Selbstverständliche verworfen, geändert oder auch verteidigt wird, bleibt offen. Ohne diese Verwerfungen wird Kultur jedoch statisch und sklerotisch, sie verliert die Fähigkeit zur Weiterentwicklung und damit in letzter Konsequenz ihre Existenzgrundlage (Krotz 2007). Die kontingenten Möglichkeiten von Reziprozitätsdynamiken, die Kultur entstehen lassen, sind konsequenterweise niemals perfekt im Sinne einer singulären Lösung, wenn auch einige Optionen angemessener sein mögen als andere. Dadurch wird zum einen Raum für Anschlusshandeln geschaffen, zum anderen spielt dabei auch wieder die Perspektive auf eine bestimmte Lösung eine Rolle. Was aus der einen als angemessen erscheint, mag aus einer anderen Blickrichtung weniger gelungen sein. Das liegt auch daran, dass sowohl die Wahrnehmung von Brüchen und Differenzen, als auch die von Normalität und Vertrautheit subjektiv und kontextabhängig sind. Kultur ist niemals neutrales Terrain, besonders nicht in organisationalen Zusammenhängen: „Organizational culture not only serves ‘positive‘ functions such as fulfilling people’s needs for meaning, guidance, and expressiveness but also leads to closure of mind, restriction of consciousness, and reduction of autonomy. Culture provides direction, but also prevents us from ‘seeing’. Culture reflects and reinforces not only (true) consensus but also hegemony and domination” (Alvesson 1995:120).

Gerade in solchen Kontexten ist es interessant zu erfragen, wie denn dort ein verbindender „Kitt“ (Hansen 2000:213) als gemeinsamer Normalitätsspielraum für die Unterschiede aushandelbar ist. Im besten Falle kommt dabei ein wenig Design zum Zug, das einen partizipativen Prozess zulässt, in dem verschiedene Möglichkeiten ausprobiert, verworfen oder modifiziert werden können und nicht von vornherein eliminiert und zurechtgestutzt werden. Ansonsten besteht die bereits benannte Gefahr einer Diskrepanz zwischen emischen und etischen Wahrnehmungen (Mahadevan 2007). Darin liegt bspw. auch ein Grund, warum vorgefertigte Wertekataloge oder

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Corporate Identities oft schwer in die gelebte Praxis eines Unternehmens übersetzt werden können. 2.3

Ideen für die Interkulturelle Kommunikationsforschung

Designer schaffen es, Anforderungen, die messy und fuzzy sind, auf professioneller Basis mit Methoden zu begegnen, die ebenfalls einen solchen Charakter haben. Law (2006) überträgt diese Idee auf die wissenschaftliche Sozialforschung: „In practice research needs to be messy and heterogeneous. It needs to be messy and heterogeneous, because that is the way it, research, actually is. And also, and more importantly, it needs to be messy because that is the way the largest part of the world is – messy, unknowable in a regular and routinised way“ (ebd.:2).

Auch die interkulturelle Kommunikationsforschung kann von diesen Einsichten profitieren, denn der Gegenstand Kultur bzw. kulturelle Emergenzprozesse ähneln in ihrer Beschreibung anderen komplexen Prozessen, die sich Designer für ihre tägliche Arbeit zu eigen gemacht haben. Laws (2006) Frage: “If this is an awful mess …then would something less messy make a mess of describing it?” (ebd.:2) könnte dann umformuliert lauten: Könnte Kultur, die fuzzy und messy ist, mit eben solchen (designähnlichen) Methoden umfassender oder zumindest einmal anders und innovativ erfasst werden? Dabei ist jedoch anzunehmen, dass Wissenschaftler nach ihrem intuitiven Verständnis oftmals ähnlich wie Designer an ein Problem herangehen – aber genau wie auch Designer mit ökonomischen oder funktionalen Anforderungen konfrontiert sind, die sie darin einschränken. Die Auswirkungen können dann – durchaus etwas überspitzt zusammengefasst – so aussehen: „Wir neigen nämlich in Deutschland genauso wie im ganzen Westen dazu, zu glauben, dass uns nur dann Gesellschaft ein verlässlicher Ordnungszusammenhang ist, wenn er auf irgend eine Art von Technik reduziert werden kann, auf irgend eine Art von Technik, die etwas mit Kausalität, mit Ursache- und Wirkungsverhältnissen zu tun hat. Wir kriegen das innere Kribbeln, wenn wir merken, hier hat man es nicht mit Kausalität zu tun, hier läuft kein technischer Prozess, hier gibt es keinerlei Verlässlichkeit, was als nächstes passiert, sondern nur Unzuverlässigkeit und ein extremes Raffinement der Verhältnisse, mit dieser Unzuverlässigkeit umzugehen“ (Baecker / Eckold 2006:1).

Aufgrund dieser einwirkenden Annahmen ist es hilfreich, eigene Routinen gelegentlich aktiv zu hinterfragen und sich auszutauschen. In der wissenschaftlichen Community tauchen zunehmend gerade auch Fragen nach der methodischen Erfassung von Phänomenen, die als kulturell gelabelt werden, auf: Reichen Interviews als Instrument aus bzw. sind sie im-

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mer angemessen? Wie sollten sie geführt werden? Welche ergänzenden Methoden, bspw. aus dem Bereich der Ethnografie, darunter der visuellen Ethnografie, der Bildanalyse oder ganz anderen methodischen Ansätzen können kombiniert und neu entdeckt werden? Damit verzahnte Überlegungen können bei der Präsentation von Ergebnissen und Forschungsideen ansetzen. So wäre es bspw. interessant, auch krumme Wege und Hindernisse, Irritationen und darauf bauende, fruchtbare Neuanfänge vorstellen und diskutieren zu können. Dabei kann insbesondere die grafische Umsetzung der Inhalte sehr hilfreich sein, wie Studien zu Designanwendungen aus dem Managementbereich zeigen (Eppler 2008, 2009). So unterstützt eine Bandbreite an Visualisierungstechniken, wie z. B. Metaphern, Mind-Maps und dynamische Präsentationsprogramme das Verständnis und die Verknüpfung von Gesagtem. 3.

Fazit

Interkulturelle Kommunikationsforschung ist in verschiedener Hinsicht eine Herausforderung: „Doing and understanding (qualitative) empirical research on intercultural communication […] is tricky as the researched ‘objects‘ are phenomena in flux, explored via various disciplinary – and sometimes interdisciplinary – approaches” (Otten / Geppert 2009:5). Gerade in dieser Schwierigkeit liegt jedoch auch eine bedeutende Chance: „Instead of bemoaning this situation it seems more appropriate to remember what intercultural communication, in its very practical and existential sense, is all about: Specifically, a matter of curiosity, ambiguity, surprise, enrichment, and – occasionally – irritation” (ebd.:22). Es wäre wünschenswert, dass jene Faktoren nicht gänzlich von (derzeitigen) ökonomischen und technisierten Anforderungen überlagert würden. Das soll jedoch keinesfalls heißen, dass Wissenschaft selbstgenügsam wirtschaftlichen Ansprüchen trotzen müsste. Vielmehr sollten eben gerade neue Ideen aus der interkulturellen Kommunikationsforschung attraktiv für wirtschaftliche Zwecke werden und so ein Umdenken in Gang setzen, das schrittweise festgefahrene (konstruierte) Wirklichkeiten aufbricht. Ideen aus der Tätigkeit des Designens können helfen, über solche neuen Wege in der interkulturellen Forschung weiter nachzudenken und vielleicht in einigen Bereichen verstärkt umzusetzen. Dazu gehört ein zunehmender interdisziplinärer Austausch, der auf immanenter Kritik und wohlwollender Irritation eigener und fremder Auffassungen beruht. Krumme Wege sollten es wert sein – zumindest im internen Austausch und zum Zweck der Reflexion – nicht künstlich zurechtgebogen zu werden, auch

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oder gerade wenn das Ergebnis dann nachvollziehbar und plausibel ist. Dabei können verschiedene Methoden ausprobiert und kombiniert werden. Die Darstellung von Ergebnissen kann mit Verweis auf bestehende Designanwendungen nicht nur Schnörkel, sondern tatsächlich Werkzeug für die Vermittlung einer Idee sein. Die Möglichkeiten sind für alle Punkte vielgestalt und können letztendlich im Sinne Foucaults (1999:141) begriffen werden: „What is interesting is always interconnection. Not the primacy of this over that, which has never any meaning."

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Recht und Kultur – SkizPleaseinsert insertthe thetitle titleof of Please ze disziplinärer Zugänge your article here yourRechtswissenschafarticle here der ten zu Kultur und Interkulturalität [Essay on: Surname How can jurists Firstname name First Surname contribute to the topics and Pleaseinsert insertinformation informationabout about Please concepts of (e.g. culture and the author here title, posithe author here (e.g. title, posiinterculturality?] tion, institution) tion, institution)

Jan-Christoph Marschelke Dr. Jan-Christoph Marschelke ist Geschäftsführer des Projekts „Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz“ (GSiK) an der Universität Würzburg.

Abstract [English] This article reflects on the relation between jurisprudence and culture and interculturality on three levels. It firstly describes the need for jurists to acquire intercultural competence. This need is not only one for personal skills but one for the improvement of a legal system. It secondly states that specific methods of jurisprudence cannot contribute significantly in an interdisciplinary discourse about culture and interculturality. The third and most important part of the article figures out conceptual relations between law, right, culture, inter-, multi- and transculturality. The focus lies on the human compliance with (legal) rules, the differentiation between law in the books and law in action, comparative law and the legal challenges of a multicultural society. Keywords: Law, jurisprudence, culture, interculturality, multiculturality Abstract [Deutsch] Der Beitrag reflektiert das Verhältnis von Recht, Kultur und Interkulturalität auf drei Ebenen. Erstens wird skizziert, warum Juristen interkultureller Kompetenz bedürfen: nicht nur als personelle Qualifikation sondern auch, damit das Rechtssystem besser funktioniert. Zweitens wird festgestellt, dass spezifisch rechtswissenschaftliche Methodik keinen signifikanten Beitrag zum interdisziplinären Diskurs um Kultur und Interkulturalität leisten dürfte. Drittens werden begriffliche Konstellationen zwischen Recht auf der einen und Kultur, Inter-, Multi und Transkulturalität auf der anderen Seite skizziert. Der Fokus liegt auf dem Phänomen der Regelbefolgung, der Unterscheidung zwischen geschriebenem und gelebtem Recht, dem Rechtsvergleich und den Herausforderungen, welche die multikulturelle Gesellschaft an das Recht stellt. Stichworte: Recht, Kultur, Rechtsvergleich, Interkulturalität, Multikulturalität 1.

Einleitung

Welchen disziplinären Zugang könnte die Rechtswissenschaft zu den Themen und Begriffen der Kultur und der Interkulturalität haben? Welchen Beitrag könnte sie leisten, um das interdisziplinäre Verständnis zu befördern? Eine gründliche Beantwortung dieser Fragen ist herausfordernd, interessant und in diesem Rahmen nicht zu bewältigen. Prinzipiell setzt sie nämlich voraus, alle drei Topoi adä-

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quat zu erklären: Recht bzw. Rechtswissenschaft, Kultur und Interkulturalität. Mehr als Skizzieren und exemplarisches Anreißen wird angesichts derart abstrakter Begriffe nicht möglich sein. Ich gehe zudem davon aus, dass die Leserschaft des Interculture Journal ein ausgeprägtes Vorverständnis der letzten beiden Begriffe mitbringt. Die Fragestellung ist des Weiteren interessant, weil man wohl behaupten darf, dass Rechts- und Kulturwissenschaften keinen gemeinsamen Diskurs über ihre Grundbegriffe pflegen. Ziel dieses Beitrags ist es daher, von einigen rechtswissenschaftlichen Ausgangspunkten auf die Begrifflichkeiten Kultur und Interkulturalität hinzuführen. Derart sollen Schnittstellen sichtbar werden, die konkretisiert werden können. Eine Differenzierung zwischen Kulturwissenschaften im engeren Sinne und weiterer mit Kultur befasster Disziplinen (z. B. Kultursoziologie) erfolgt nicht: Dass sich mit Kultur und Interkulturalität mehrere andere Disziplinen beschäftigen, ist schließlich das Lebenselixier dieses Special Issue und wird vorausgesetzt. Interessant ist die Fragestellung schließlich deshalb, weil sie dem Verfasser meist umgekehrt begegnet: Warum und wozu sollten Rechtswissenschaftler sich mit Kultur und Interkulturalität beschäftigen? Warum und wozu sollten Juristen (das schließt Studierende und Praktiker mit ein) interkulturelle Kompetenz erwerben? Beginnen möchte ich mit einigen Präliminarien (2.), die helfen sollen, die diversen eingenommenen Blickwinkel auseinander zu halten. Anschließend wird kurz abgehandelt, welchen Nutzen interkulturelle Kompetenz für Juristen haben kann (3.) und ob sich ein gewichtiger methodischer Beitrag der Rechtswissenschaft zu dem interdisziplinären Diskurs über Kultur und Interkulturalität vorstellen lässt (4.). Der Hauptteil (5.) beschäftigt sich damit, Begriffe und Gegenstandsbereiche aus den Rechtswissenschaften zu denen aus dem Umfeld von Kultur und Interkulturalität in Bezug setzen. 2.

Präliminarien: Fünf Grundunterscheidungen

Vorweg sollen fünf Grundunterscheidungen getroffen werden, welche die verschiedenen Perspektiven des Beitrags erkennbar machen. Auseinanderzuhalten wären erstens Rechtswissenschaft und juristische Praxis; zweitens die durchaus theoriegesättigten Begrifflichkeiten Kultur und Interkulturalität einerseits und die praxisaffine Schlüsselqualifikation Interkulturelle Kompetenz andererseits. Diese Unterscheidungen sind vor allem für den dritten Teil von Belang. Um die Orientierung im vierten und fünften Teil zu erleichtern, ist die Rechtswissenschaft auszudifferenzieren und zwar

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in ihren Kernbereich (Rechtsdogmatik) und ihren Grundlagenbereich (Rechtstheorie, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie). Die Rechtsdogmatik konzentriert sich darauf, das bestehende Rechtssystem im Hinblick auf einzelne Normen, Normenkomplexe und Falllösungen zu interpretieren und anzuwenden. Darin liegt der Ausbildungs-, Forschungs- und Anwendungsschwerpunkt der Rechtswissenschaften. Im Grundlagenbereich werden hingegen Strukturfragen behandelt: das Verständnis der grundlegenden und übergreifenden Begrifflichkeiten (Staat, Recht, Pflicht, Vertrag etc.), die Frage nach der Gerechtigkeit, aber auch z. B. die logischen Grundstrukturen von Rechtssätzen (siehe dazu Neumann 2009) oder die Wechselwirkung von Recht und Gesellschaft. Viertens ist es vonnöten, das geschriebene Recht (law in the books) von der Rechtswirklichkeit (law in action) zu unterscheiden. Dass sich eine Rechtsnorm in den Gesetzesbüchern finden lässt, muss nicht heißen, dass sie tatsächlich auch befolgt und durchgesetzt wird. Fünftens schließlich sollte man nach Erkenntnisgegenstand abgrenzen: Betrachtet man das Recht der eigenen Gesellschaft, das einer anderen (sogenannte Auslandsrechtskunde, Rheinstein 1974:27), macht man einen Rechtsvergleich oder konzentriert man sich auf inter- und transnationale Rechtsstrukturen? Ähnliche im interkulturellen Diskurs: Hier spricht man z. B. von kultureller Selbstreflexion, Cultural Studies (anderer Kulturen), Kulturvergleich oder der Betrachtung interbzw. transkultureller Phänomene. Der Schwerpunkt dieses Beitrags wird bei den Verbindungslinien zu verorten sein, die sich zwischen dem Grundlagenbereich der Rechtswissenschaft und den Begriffen der Kultur und Interkulturalität herstellen lassen. Dennoch will ich andere Perspektiven nicht gänzlich aussparen. Zunächst möchte ich die Frage anreißen, die das Grundanliegen dieses Texts – Beitrag der Rechtswissenschaften zu Kultur und Interkulturalität – umkehrt: nämlich wie sich das Bedürfnis juristischer Praktiker nach interkultureller Kompetenz beschreiben lässt. 3.

Der Nutzen interkultureller Kompetenz für Juristen

Dass interkulturelle Kompetenz für Juristen von Nutzen ist, lässt sich sehr leicht begründen. Schließlich leben und arbeiten sie in derselben kulturell pluralisierten Welt wie alle anderen auch. Akzeptiert man diese meist nur noch beiläufig mit den Schlagworten Globalisierung und Internationalisierung skizzierte Grundkonstellation als Ausgangspunkt, geht es nur noch darum zu illustrieren, an welchen Stellen sich Auswir-

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kungen konkret im juristischen Berufsleben nachweisen lassen. Zu beachten ist, dass es insoweit häufig nicht um eine dezidiert juristische Kompetenz geht: Zwar ist ein Mandantengespräch eine anwaltliche und mithin juristische Tätigkeit, doch die interkulturelle Erweiterung der Sozial- und Kommunikationskompetenz von Rechtsvertretern scheint zunächst einmal nicht weiter juristisch spezifiziert. Die Berufsfelder von Juristen sind ebenso im internationalen Bereich interkulturalisiert (bei einer Tätigkeit in internationalen Großkanzleien, Unternehmen, Organisationen) wie im nationalen: Deutschland ist eine multikulturelle Gesellschaft. Justiz und Verwaltung sehen sich einer multikulturellen Bürgerschaft gegenüber. Exemplarisch möchte ich diesen letzten Bereich kurz vertiefen, da ihm gesellschaftliche Bedeutung zukommt. 3.1

Interkulturelle Öffnung der Justiz

Unter der Überschrift Interkulturelle Öffnung der Justiz firmiert ein Bündel von Bereichen, in welchen interkulturelle Kompetenz den Juristen helfen soll, ihre Arbeit noch ein Stück besser zu verrichten. 3.1.1

Der reformerische Impetus

Dahinter steckt ein reformerischer Impetus: Der Zugang zum Justizsystem und der adäquate Umgang mit den Situationen, die sich z. B. rund um ein juristisches Verfahren ergeben, sind Grundlagen dafür, dass Bürger die ihnen gesetzlich verbrieften Rechte tatsächlich wahrnehmen können. Anderenfalls bestehen diese Rechte nur auf dem Papier. Wer für den gekauften, sich als mängelbehaftet herausstellenden PKW ein Gewährleistungsrecht hat, sich aber nicht traut, dieses gegenüber dem Autohändler durchzusetzen – und sei es notfalls durch Einschalten von Anwälten und den Gang vor ein Gericht –, steht letztlich so, als hätte er das Recht nicht. Passiert dies, geht damit eine Verunsicherung im Geschäftsverkehr (der immer auch Rechtsverkehr ist) einher. Nicht auszuschließen sind zudem Ressentiments gegen die Geschäftspartner sowie gegen die rechtlichen Institutionen. Das gilt umso mehr in Straf- oder Verwaltungsverfahren. Hier steht den Bürgern der Staat gegenüber, und dies allein kann zu einem Gefühl der Hilflosigkeit führen, wenn sie nicht wissen, welche Rechte sie haben und wie man sie durchsetzt. Zudem drohen empfindliche staatliche Eingriffe (im schlimmsten Fall Freiheitsstrafe oder Abschiebung). Ist ein Asylbewerber beispielsweise nicht in der Lage, bei der Erstanhörung seine Sicht auf den rechtlich zu bewertenden Sachverhalt © Interculture Journal 2012 | 16

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(Verfolgung) kommunikativ deutlich zu machen, besteht die Gefahr, dass der Sachverhalt nicht adäquat gewürdigt wird (z. B. Ablehnung des Asylantrags). Bei diesen Vorgängen entscheiden Nuancen (Gensel 2008). Die Folgen können verheerend sein. Mit den Worten von Driesen: „Ein Fehler kann Leben zu Grunde richten“ (Gensel 2008). Passiert dies, wird das Vertrauen einer Person in das Rechtssystem als solches erschüttert. Bei einer hohen Fehlerquote und Betroffenenanzahl wäre gar eine Destabilisierung denkbar. Soweit diese Fehler vom System mitverantwortet sind, liegt zudem nicht nur ein tatsächliches Problem vor, sondern mitunter ein rechtliches: Der Zugang zu den Gerichten und die Möglichkeit, die eigenen Rechte wahrnehmen zu können, ist verfassungsrechtlich festgeschrieben (Art. 19 Absatz 4, 103 Absatz 1 Grundgesetz). Es ist im Einzelfall denkbar, dass Justizbeamte, die ihre Befugnisse – etwa im Bereich des Dolmetschereinsatzes (dazu gleich) – nicht adäquat wahrnehmen, diese Grundrechte verletzen. Soweit spezifisch interkulturelle Barrieren beim Zugang zum Rechtssystem bestehen, lautet die Aufgabe, diese abzubauen. 3.1.2

Barrieren

Wo liegen diese Barrieren? Sie beginnen bereits beim Zugang zum System. In den Gerichten z. B. gibt es Geschäftsstellen, bei denen einfache rechtliche Begehren auch ohne die kostspielige Einschaltung von Anwälten aufgegeben werden können. In diesem behördlichen Vorgang besteht die erste Hürde: Sie kann sowohl sprachlicher (wie erfahre ich, was ich tun muss; wie drücke ich aus, was ich sagen möchte), sachlicher (welche Informationen muss ich angeben) als auch allgemeiner kommunikativer Natur (werde ich vom Personal korrekt behandelt bzw. wird auf meine Schwierigkeiten Rücksicht genommen?) sein. Das plastischste Beispiel stellt die Kommunikation im Gerichtssaal selbst dar. Abstrakt ausgedrückt: Die Aufgabe der Richter ist es, einen Sachverhalt rechtlich zu bewerten. Zu diesem Zweck müssen sie den Sachverhalt in Erfahrung bringen. Das tun sie durch Vernehmung der Verfahrensbeteiligten und die Erhebung von Beweisen (u. a. Zeugenaussagen, Gutachten). Vorausgesetzt ist, dass z. B. vernehmende Richter präzise erfassen, was die Personen kommunizieren. Ihre Aufgabe ist dann einerseits zu beurteilen, ob das Ausgesagte glaubhaft ist, andererseits legen sie den mithilfe glaubhafter Aussagen erstellten Sachverhalt ihrer rechtlichen Bewertung zugrunde. Das heißt, dass alle allgemeinen Grundsätze der interkulturellen Kommunikation in dieser Situation zur Anwendung kommen können. Eine Besonderheit ist, dass etwa-

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ige interkulturelle Missverständnisse in diesem Rahmen zumeist rechtliche Auswirkungen haben. Idealerweise sind daher alle Beteiligten entsprechend sensibilisiert. Dass dies der Fall ist, kann die Justiz indes nur für das für sie tätige Personal beeinflussen. Aufmerksamkeit in der Literatur im Hinblick auf seine interkulturelle Aufgabe erfährt z. B. die Person des Dolmetschers (Öncü 2011). Diese muss nicht nur sprachlich sondern auch interkulturell ausreichend geschult und die Qualität ihrer Arbeit überwacht werden. Das gilt als nicht flächendeckend gewährleistet. Immer wieder kommen – bisweilen mangels Auswahl – auch Laien zum Einsatz. Hier beginnt die Verantwortungssphäre von Richtern: Diese haben zu beurteilen, ob solche Personen in der Lage sind zu dolmetschen. Gerichts- und Behördendolmetscher benötigen jedoch in der Regel nicht nur allgemeine Sprachkenntnisse, sondern müssen auch die juristische Fachterminologie beherrschen. Darüber hinaus müssen sie sich der Rolle, die sie im Verfahren einnehmen (Neutralitätspflicht), bewusst sein (Kaminski / Wenning-Morgenthaler 2011:119f.). Unter Umständen benötigen sie wenigstens rudimentäre Kenntnisse der Rechtskultur, mit welcher die vernommene Person vertraut ist (Gensel 2008). Um zu beurteilen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, müssen sich Richter selbst im Klaren über die Bedeutung dieser Anforderungen sein. Insbesondere die falsche Einschätzung, dass Zweisprachigkeit automatisch die Fähigkeit zum Dolmetschen mit sich bringe, ist nicht selten anzutreffen (ebd.). Mit diesem Unterschätzen der Dolmetscherleistung geht zudem bisweilen ein Mangel an Wertschätzung einher, der sich unter anderem in unzureichenden Einsatzbedingungen manifestiert (Terminabsprachen, Kenntnisnahme von Inhalten). Vernehmende Personen wiederum müssen sich kulturspezifischer Faktoren in der Aussagepsychologie bewusst sein, wenn sie die Glaubhaftigkeit eines Parteivortrags oder die Glaubwürdigkeit von Zeugen bewerten (Yalcin 2011:117, für den Internationalen Strafgerichtshof Bock 2010:400). Gerade non-verbales Verhalten kann eine Chiffre dafür sein, ob eine Aussage glaubhaft erscheint oder nicht. Ein plastisches Beispiel ist das Vermeiden von Augenkontakt: Dieses Verhalten kann die vernehmende Person – dies geschieht meist unbewusst – als Zeichen von Unehrlichkeit werten. Denkbar ist aber auch, dass die vernommene Person derart auf die Ehrrührigkeit der Situation reagiert oder das Wegschauen Zeichen der Respektsbekundung – bzw. Vermeidung einer Respektlosigkeit (ebd.:11) – gegenüber der Amtsperson ist. Problematische Beispiele gibt es des Weiteren aus dem Bereich der Strafzumessung (z. B. Ehrrührigkeit von Arbeitsauf© Interculture Journal 2012 | 16

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lagen) oder des Strafvollzugs (z. B. Berücksichtigung religiöser Speisevorschriften). 3.2

Zusammenfassung

Dass Juristen interkulturelle Kompetenz benötigen, lässt sich schwerlich bestreiten. Dabei besteht seitens der Ausbildung die Aufgabe, die Situationen im juristischen Arbeitsleben zu identifizieren, in denen diese Schlüsselqualifikation von Nutzen ist (z. B. Zeugenvernehmung). Mittels dieser Situationen kann ein Kanon fachspezifischer Beispiele gebildet werden, um bei der Vermittlung interkultureller Kompetenz für Juristen Anwendungsbezug herzustellen. Inwieweit dabei ein spezifisch juristisches Profil interkultureller Kompetenz entsteht, wird sich zeigen. Von Bedeutung ist, dass die interkulturelle Öffnung der Justiz bewirkt wird. Darin liegt ein gesellschaftliches Bedürfnis: Die Optimierung der Teilhabe an Rechtsschutz und -sicherheit für die Bürger. Der Weg dorthin ist eine Mischung aus persönlicher Fort- und organisatorischer Umbildung, mit anderen Worten Diversity Management. Dazu zählt auch eine entspre1 chende Ausbildungspraxis (z. B. an den Universitäten ) und Einstellungspolitik. 4.

Ein methodischer Beitrag der Rechtswissenschaften?

Rechtssoziologen – Rechtswissenschaftler des Grundlagenbereichs (siehe 2.) – forschen vielfach sozialempirisch. Sie wenden Methoden aus den Sozialwissenschaften auf rechtswissenschaftliche Fragestellungen an (Raiser 2009:6). Man könnte sagen, dass sie nicht über eine fachspezifische Methodik verfügen, sondern einfach die Methode anderer Disziplinen importiert, nach eigenem Bedürfnis angewandt und gegebenenfalls modifiziert haben. Könnte in ähnlicher Weise der interkulturelle Diskurs von einer spezifisch rechtswissenschaftlichen Methode profitieren? Rechtsdogmatiker arbeiten mit einer bestimmten Methodik. Deren Schwerpunkt ist eine besondere Form der Textauslegung, deren deutsche Variante ich kursorisch vorstellen möchte. Ziel der Methode ist, die Ermittlung von Inhalt und Bedeutung von Normen (der Begriffe und Sätze, die sie bilden) zu ermöglichen. Zu diesem Zweck betrachten Juristen zunächst schlicht den Wortsinn. Reicht das zur Bedeutungsermittlung nicht aus, können sie die Norm in Zusammenhang zu anderen Normen stellen (systematische Auslegung). Des Weiteren können sie nach dem Zweck der Norm fragen: Was soll sie bewirken? Dies kann man an der Intention des Gesetzgebers abzulesen versuchen, der seinerzeit die Norm er-

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lassen hat (historisch); oder man versucht, den Zweck zu verobjektivieren, etwa weil das Gesetz schon alt ist und / oder Entwicklungen nicht bedacht worden sind (teleologisch) (Larenz / Canaris 1995:141ff.). Sollten die Juristen feststellen, dass trotz Anwendung all dieser Methoden ein Fall nicht unter die Norm fällt, obwohl er dies eigentlich müsste, kommt – 2 in bestimmten Bereichen des Rechts und unter bestimmten Voraussetzungen – ein Analogieschluss in Betracht: Es wird also eine Lücke im Gesetz festgestellt, die Norm aber dennoch auf den vorliegenden Fall angewandt – in Analogie (Larenz / Canaris 1995:202ff.). Es ist offensichtlich, dass dieser Methodenkanon auf die Textsorte Gesetz ausgerichtet ist. Er ist das Handwerkszeug der Rechtsdogmatik. Keinesfalls will ich behaupten, dass nicht auch andere Disziplinen von dieser Art des Umgangs mit einem Text etwas lernen könnten. Allerdings sind dies letztlich Engführungen allgemeinen hermeneutischen, analytischen, systematischen und analogen Arbeitens mit Texten, die in anderen textnahen Disziplinen auch zu finden sind. Das gilt auch für zwei Bereiche der juristischen Methodik, die auf den ersten Blick ein Stück vom Gesetzestext entfernt zur Anwendung kommen. Gemeint ist zum einen der Bereich der juristischen Begriffs- und Systembildung, zum anderen die Methodik zur Ermittlung des rechtlich zu bewertenden Lebenssachverhalts. Was die Begriffs- und Systembildung angeht, bleibt stets das Normensystem der entscheidende Bezugspunkt (Larenz / Canaris 1995:263ff.). Der Referenzrahmen ist damit in einer Weise fixiert, wie es gerade für den kulturübergreifenden und -vergleichenden Diskurs ungünstig ist. Ähnlich in der Methodik, nach welcher Juristen den Sachverhalt ermitteln. Diese dient dazu, bei einem Geschehnis rechtlich relevante von rechtlich irrelevanten Tatsachen zu scheiden. Doch setzt dieser Vorgang die Kenntnis der vermutlich auf ihn anzuwendenden Rechtssätze bereits voraus (Larenz / Canaris 1995:101f). Ein spezifischer Beitrag lässt sich von der rechtsdogmatischen Methodik am ehesten erwarten, wenn man in den Rechtsvergleich eintritt (siehe dazu unten 5.4.). So können rechtsvergleichend tätige Juristen rechtssystemspezifische Methoden der Rechtsauslegung vergleichen, zum Beispiel indem sie experimentell die eigene Methode auf fremde Rechtstexte anzuwenden versuchen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die spezifische juristische Methodik sich am ehesten im fachspezifischen interkulturellen Diskurs verwenden lässt; nicht jedoch im interdisziplinären.

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5.

Recht und Kultur: Inhaltliche Beiträge der Rechtswissenschaft

Im Grundlagenbereich der Rechtswissenschaften (Rechtstheorie, -philosophie, -soziologie) werden die Bedeutung von Recht und Gerechtigkeit und ihre Rolle in der Gesellschaft behandelt. Hier liegt die größte Anschlussfähigkeit der Rechtswissenschaft an den interkulturellen Diskurs. Das ist nicht weiter verwunderlich, bedenkt man, dass die Teilbegriffe -philosophie und -soziologie bereits auf interdisziplinäre Gegenstandsbereiche verweisen. Wie unter zweitens bereits angekündigt, liegt hierauf der Schwerpunkt dieses Beitrags. Im Folgenden will ich exemplarisch einige Konstellationen nachzeichnen, in denen die Begriffe Recht, Kultur, Natur, Nation, Inter-, Multi-, Transkulturalität zueinander in Beziehung gesetzt werden. 5.1

Recht, Kultur, Natur

Zu Beginn bietet sich ein begrifflicher Vergleich von Recht und Kultur an. Demnach wäre die erste Frage, ob einer der beiden Begriffe dem anderen unterfällt oder ob sie sich auf gleicher Ebene befinden. In diesem Fall wiederum wäre zu fragen, ob sie aufeinander bezogen sind z. B. in Form der Antonymie. Dieser Gedanke bietet sich an, da es hierfür einen Anknüpfungspunkt gibt: Der Kultur setzt man gemeinhin nicht das Recht entgegen sondern die Natur: Erstere soll menschengemacht sein und letztere nicht (Hansen 2011:17). Das legt nahe, dass das Recht Kulturphänomen ist, schließlich ist das Recht Menschenwerk. Lässt sich das Recht auch als Teil der Natur verstehen? Denkbar wäre das aus zwei Perspektiven: Entweder, indem man das Recht als evolutionär notwendige Struktur zur sozialen Regulierung versteht; oder indem man für die Legitimation von Recht auf die Natur zurückgreift. Beide Ansätze sind den 3 Rechtswissenschaften bekannt : Ähnlich wie ethologischevolutionäre Kulturtheorien es tun (Losch 2006:50), werden auch evolutionäre Perspektiven gegenüber dem Recht eingenommen: Demnach kann etwas wie das Rechtsgefühl möglicherweise auch bereits bei gesellig lebenden höheren Tieren vermutet werden (Raiser 2009:337). Moderne Rechtssysteme in ihrer Hochkomplexität lassen sich mit einem solchen Ansatz indes kaum adäquat beschreiben, ohne dass man sich in Reduktionismen verliert. Sehr viel verbreiteter in der rechtsphilosophischen Geistesgeschichte ist der Rekurs auf das sogenannte Naturrecht (siehe dazu Ellscheid 2009). Diesem vielschichtigen – und hier daher stark vereinfacht dargestellten – Diskurs, der sich bis in die

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Antike zurückverfolgen lässt, ist die Suche nach einer Quelle des richtigen Rechts gemein. Schließlich können Menschen schlechtes und falsches Recht schaffen. Doch muss es einen Maßstab geben, woran die Schlechtigkeit und Falschheit dieses menschlichen Rechts zu erkennen ist. Womöglich hilft hier der Rückgriff auf die Natur. Dadurch ist häufig der Bezug zur Schöpfungsordnung hergestellt worden: Gott – Inbegriff ewiger Gerechtigkeit – hat die Natur schließlich geschaffen (Kaufmann 2009:41). Hinter der Natur verstecken sich in diesen Fällen religiöse Gebote. Wer an solche nicht glaubt, wird also kritisch darauf verweisen, dass dieses Naturrecht nur Ausdruck einer bestimmten menschlichen Weltanschauung ist. Denkbar wäre aber auch, die Natur ohne göttlichen Bezug als Maßstab zur Beurteilung richtigen Rechts zu nutzen: z. B. indem man das in der Natur zu erkennende Recht des Stärkeren proklamiert und / oder darauf verweist, wie unterschiedlich die Menschen doch von Natur aus seien, weshalb man sie auch rechtlich unterschiedlich behandeln müsse (Kaufmann 2009:31f.) Was ist davon zu halten? Erstens: Der Erkenntnisvorgang, was in der Natur gilt, ist ein menschlicher. Und während Naturgesetze nur beschreiben, wie etwas ist (Sein), schreiben menschliche Gesetze vor, was sein soll (Sollen). Wer also aus dem ersten das zweite ableitet, vermischt zwei unterschiedliche Ebenen und begeht den berühmten Sein-SollensFehlschluss (Hume 1978:211). Ähnlich wie im Falle des letztlich religiös begründeten Naturrechts gilt insoweit: Die Natur muss rhetorisch herhalten für menschliche Interpretationen (Kunz / Mona 2006:78). Zweitens: Damit zeigt sich strukturell dasselbe Problem wie im Kultur-Natur-Diskurs: Dreh- und Angelpunkt ist der Mensch. Das macht ihn zum Problemfall, zum einen weil er in beiden zur Abgrenzung anstehenden Kategorien zuhause ist (Hansen 2011:17), zum anderen weil er diese kategoriale Unterscheidung selbst erfunden hat. Man beachte, dass gerade im menschenrechtlichen Diskurs nicht selten mit der Natur des Menschen argumentiert wird: Derart werden z. B. menschliche Minimalbedürfnisse (wie Essen und Trinken) erklärt und derart begründet, dass diese unabdingbare Rechte sein müssten. Der Rekurs auf die Natur führt also zu Aussagen, deren Inhalte bei Weitem nicht so einfach zu disqualifizieren sind, wie es oben scheinen mochte. Drittens: Um der lauernden Verwirrung entgegenzuwirken, empfehlen die sogenannten Rechtspositivisten, Naturrecht als Teil der Moral zu betrachten und von positivem Recht zu unterscheiden. Recht wäre alles, was nach den in einem Rechtssystem geltenden Kriterien diesen Namen verdient – unabhängig vom Inhalt. Schlechtes Recht wäre demnach immer

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noch Recht, es wäre jedoch moralisch zu kritisieren und seine Änderung bzw. Abschaffung politisch anzustreben (Kunz / Mona 2006:37). Kompliziert wird es, wenn man fragt, ob auch moralisch für falsch gehaltenes Recht moralische Verbindlichkeit beanspruchen kann – weil es Recht ist (Ellscheid 2009:222). 5.2

Recht als kulturelles Phänomen

Die Gegenüberstellung von Natur und Kultur hat das Recht dem kulturellen Bereich zugewiesen: Recht ist Teil der Kultur. Freilich ist es voreingenommen, diese Antonymie zum Ausgangspunkt zu machen: Das legt nahe, dass man den Kulturbegriff für umfänglicher hält. Im interkulturellen Diskurs ist ein solcher allumfassender Kulturbegriff gängig. Nach diesem sind alle menschlichen Phänomene, die nicht Ausfluss der biologischen Natur des Menschen sind, kulturelle. Das Recht ist daher als kulturelles Phänomen zu begreifen. Diese Einschätzung erfährt auch von Rechtswissenschaftlern Zustimmung (z. B. Rheinstein 1974:21, Losch 2006:35, Zimmermann 2008:32, Hilgendorf 2011:23, Beck 2011:70f.) Es manifestiert sich in allen Dimensionen von Kultur: in der mentalen (z. B. Bejahung rechtlicher Regeln, Angst vor Strafe), sozialen (z. B. Befolgung besagter Regeln) und in der materiellen (z. B. Gesetzbücher, Gerichtsgebäude). Es befindet sich nach dieser Interpretation – wie alle gesellschaftlichen Phänomene – in einem dialektischen Verhältnis zur Kultur: Es beeinflusst sie und wird von ihr beeinflusst. Das Recht ist – mit dem Titel von Loschs Buch gesagt – Kulturfaktor (Losch 2006). 5.2.1

Begriffliche Herausforderungen der Dialektik

Daraus ergibt sich eine allgemeine – d. h. nicht nur aber auch für das Verhältnis von Recht und Kultur geltende – begriffliche Herausforderung, die sich wie folgt beschreiben lässt: Auch wenn das Recht die Kultur beeinflusst und die Kultur das Recht – auch wenn beide sich gegenseitig verändern, bleibt es doch stets die gleiche Kultur. Wir sprechen von der deutschen Kultur zur Zeit der Weimarer Republik und erklären, welche Rolle das Recht damals spielte. Ebenso beschreiben wir die deutsche Kultur und die Rolle des Rechts in ihr kurz vor der deutschen Wiedervereinigung. Beide Male geht es jedoch um die deutsche Kultur. Das ist erklärungsbedürftig. Zwei Strategien bieten sich an: Die erste Möglichkeit ist, dass man dem Kulturbegriff das Merkmal der Dynamik zuweist und dieses für begriffskonstitutiv erklärt. Die Dynamik des Rechts wäre somit nur Ausfluss der Dynamik der Kultur: Recht verändert sich, weil sich Kultur verändert und Recht als

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kulturelles Phänomen davon erfasst wird. Zugleich wäre eine Rechtsveränderung somit eine Kulturveränderung. Die zweite Möglichkeit ist, Kultur aus drei Perspektiven betrachten: Erstens einer allgemeingültigen (kulturtheoretischen), die sich auf alle kulturellen Kollektive unabhängig von Raum und Zeit anwenden lässt. Zweitens einer kollektivbezogenen, die in unserem Beispiel die deutsche Nationalkultur (eine historische Formation) betrifft. Diese Perspektive nimmt eine bestimmte Kultur im Allgemeinen in den Blick. Drittens eine konkrete, welche sich – historisch gesehen – mit der Momentaufnahme einer bestimmten Kultur befasst, also z. B. die deutsche Kultur zur Zeit der Weimarer Republik im Unterschied zur deutschen Kultur kurz vor der Wiedervereinigung. Diese Darstellung ist indes unvollständig, sie lebt – wie so viele begriffliche Kunststücke – von mal bewusst gewählten, mal unbewusst unterlaufenden Auslassungen. Denn auf den Befund, dass es trotz der historisch bedingten Änderungen noch immer um die deutsche Kultur gehe, lässt sich erwidern, dass es sich trotz dieser Änderungen auch noch immer um das deutsche Recht handele. Beide begrifflichen Strategien funktionieren auch für das Recht: Man kann es einerseits als dynamisch beschreiben und andererseits ebenso einen allgemeingültigen Rechtsbegriff zu finden versuchen wie zwei auf das Recht eines Kollektivs anzuwendende. 5.2.2

Kulturelle und rechtliche Sachverhalte: Abgrenzungsversuche

Dass das Recht Teil der Kultur ist, ergibt sich daraus, dass man den Kulturbegriff entsprechend weit definiert. Stattdessen – und zwecks Festlegung disziplinärer Erkenntnisbereiche – könnte es sinnvoll sein, rechtliche Sachverhalte von kulturellen abzugrenzen. Dafür benötigt man zunächst eine Heuristik für die Unterschiede zwischen beiden Bereichen. Ein sehr allgemein gehaltener Versuch, rechtliche Sachverhalte festzulegen, könnte lauten: Unter das Recht fallen Gesetzgebung, rechtliche Normen, rechtliche Institutionen (z. B. Gerichte) und Verfahren (z. B. Verwaltungsverfahren, Gerichtsprozesse). Problematisch an dieser sehr allgemein gehaltenen Unterscheidung könnte sein, dass moderne Gesellschaften in hohem Maße verrechtlicht sind. Würde das nicht dazu führen, dass für den kulturellen Bereich nicht mehr viel übrig bliebe? Betrachten wir folgendes Beispiel: Lege ich im Supermarkt schweigend eine Ware auf das Band und lasse sie zur Kasse vorlaufen, mache ich non-verbal (in juristischer Terminologie: konkludent) das Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages (§§ 145, 133, 433 Bürgerliches Gesetzbuch). Hier findet also

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ein alltäglicher Vorgang statt, dem eine juristische Matrix unterliegt. Derer ist sich vermutlich keiner der Beteiligten vollumfänglich bewusst. Dennoch müsste ich ihn aus der kulturellen Sphäre herausnehmen, da er rechtliche Relevanz hat. Das führt freilich nicht dazu, dass das gesamte Einkaufsgeschehen zu einem rechtlichen würde: Ich könnte schließlich den konkreten Vorgang des Vertragsschlusses abgrenzen von den rechtlich zunächst einmal irrelevanten Einkaufsgewohnheiten der Kunden. Warum und seit wann fällt einer Person die Bio-Kennzeichnung einer Frucht auf, und warum ist sie bereit, mehr Geld für diese Frucht zu zahlen als für das größere und glänzendere Exemplar derselben Fruchtgattung ohne Bio-Kennzeichnung? Die Gründe, die für diese Entscheidung maßgeblich sind, sind nicht rechtlicher Natur. Es steht also nicht zu befürchten, der unternommene Abgrenzungsversuch ließe für die kulturelle Sphäre nichts mehr übrig. Es gibt aber eine andere Schwierigkeit mit dieser Art der Abgrenzung. Sie ist sicherlich hilfreich für Rechtswissenschaftler, deren Aufgabe stets ist, rechtlich relevante von rechtlich irrelevanten Lebenssachverhalten zu scheiden. Für Kulturwissenschaftler wäre dies indes eine wenig begrüßenswerte Beschneidung ihres Erkenntnisgegenstands. Zum Zwecke interdisziplinärer Betrachtungen ist dieses Vorgehen zu einseitig und damit unzureichend, weil es die Mehrfachrelevanz solcher Geschehnisse ausblendet. Diese Schwierigkeit räumt man aus, indem man Kultur und Recht nicht als Dinge betrachtet, sondern als Perspektiven (Haltern 2008:207). Der Vorgang an der Supermarktkasse lässt sich aus rechtlicher Perspektive betrachten (z. B. Vertragsschluss) aber auch aus nichtrechtlicher. Ich könnte also das oben beschriebene Verhalten daraufhin untersuchen, welche konventionalisierte Form der Kommunikation stattfindet: Wie wird bewirkt, dass welche Aussagen von wem an wen übermittelt werden? Verbinden lässt sich beides, indem man überlegt, welche kommunikativen Zeichen in welchen Kontexten als rechtlich relevantes Angebot verstanden werden können. In einem berühmten (intrakulturellen) Lehrbuch-Fall hatte der Besucher einer Auktion zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt einem Bekannten zugewunken: Seine non-verbale Begrüßung wurde als Abgabe eines Angebots interpretiert, der Besucher bekam den Zuschlag und musste im Folgenden zusehen, wie er sich von dem Vertrag wieder lösen könnte. Solche Fälle eignen sich als kulturwissenschaftliche Analysienda. Die Überlegung lautet, wie auf kulturell standardisierte Art und Weise solche rechtlich verbindlichen Handlungen vollzogen werden. Vergleichbare interkulturelle Fälle (z. B. ungewollte Beleidigung durch eine Geste) sind leicht vorstellbar. 75

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Was den Abgrenzungsversuch betrifft, bleibt festzuhalten, dass eine Asymmetrie vorliegt. Rechtswissenschaftler betrachten Phänomene unter der Perspektive ihrer rechtlichen Zuordnung (Losch 2006:35). Während sie daher manches nicht interessieren muss, finden Kulturwissenschaftler überall Anknüpfungspunkte. Das Beispiel ist indes nur illustrativ. Es bestätigt, was vorausgesetzt wurde: Dass nämlich alles Kultur ist – oder besser gesagt – kulturell betrachtet werden kann. Das gilt auch für Phänomene aus der rechtlichen Sphäre, sei dies rechtliche relevante Kommunikation (wie im Beispiel), die Architektur von Gerichtsgebäuden (Gephart 2006:237ff., Haltern 2008:208f.), oder Gemälde von Gerichtsverfahren (Gephart 2006:271ff.), der Habitus der Berufsjuristen oder ihr Sozialprofil (Raiser 2009:351ff.). Rechtstexte lassen sich (z. B. Gesetze, Urteile) – wie jede Textsorte – nach literaturwissenschaftlichen Kriterien untersuchen (Rheinstein 1974:24, Losch 2006:233ff.). In diesen Erkenntnisbereichen können Rechtswissenschaftler wertvolle Beiträge leisten, um die Bedeutungsdimensionen zu erschließen. 5.2.3

Schnittstelle: Regelbefolgung

Dass Sachverhalte aus rechtlicher und kultureller Perspektive relevant sind, lässt sich besonders gut am Beispiel der Regelbefolgung nachzeichnen. Rechtsgehorsam ist eine Form der Regelbefolgung. Die Parallelität der Regelgeleitetheit im kulturellen und im rechtlichen Bereich ist in den Kulturwissenschaften bei Hansen zu finden (2011:126ff.). Der Regelbefolgung vorgeschaltet ist die Regelentstehung. Ins Auge fällt, dass es Rechtsnormen oder bestimmte Auslegungen derselben gibt, die kulturelle (nationale, historische, mithin kollektivspezifische) Gründe haben. In Deutschland beispielsweise ist eine Leugnung des Holocaust strafbar, d. h. nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt, wie das Bundesverfassungsgericht in den 1990er-Jahren entschieden hat. In vielen Ländern gibt es diese Strafbarkeit nicht. Rechtliche Regeln – in Form von Gesetzen und Urteilen – entstehen bzw. werden geschaffen aus gesellschaftlichen Gründen, die anderenorts nicht wahrgenommen oder nicht für ausschlaggebend gehalten werden. Das gilt umgekehrt auch für die Abschaffung von Rechtsregeln. Die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bestehenden Strafbarkeiten von Ehebruch (bis 1969) und Homosexualität (in Abstufungen bis 1994!) in Deutschland wurden mit der Zeit infolge sich wandelnden Werteverständnisses nicht mehr konsequent durchgesetzt. Das heißt, es gab gültige Gesetze, an die sich aber zunehmend weniger Bürger und Offizielle (Staatsanwälte, Richter etc.) hielten. Denn sie befanden – in Einklang mit einem wachsenden Teil der Ge© Interculture Journal 2012 | 16

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sellschaft – diese Regeln für inhaltlich nicht akzeptabel, für moralisch falsch. De facto wurden die gültigen Normen unwirksam. Daher wurden sie schließlich abgeschafft. Um den Vorgang mit drei Begriffen zu beschreiben: Kulturwandel, Wertewandel, Rechtswandel. Hinter dem Begriff der Normakzeptanz verbirgt sich die einleitend eingeführte Unterscheidung zwischen law in the books und law in action. Laut Gesetzbuch ist etwas verboten, tatsächlich wird das Verbot nicht befolgt. Die deutsche Rechtssoziologie spricht von der Gültigkeit oder Geltung einer Rechtsnorm (d. i. das rechtgemäße Zustandekommen der Norm) und ihrer Wirksamkeit (d. i. ihre Effektivitätsquote, die sich aus Befolgung einerseits und Durchsetzung gegenüber Regelverstößen andererseits zusammensetzt) (Raiser 2009: 237ff.). Die Frage lautet: Warum befolgen Personen die Gebote einer Norm? Diese Frage ist eine äußerst vielversprechende Schnittstelle zwischen Rechtswissenschaften und Soziologie, Psychologie und Kulturwissenschaft. Gründe für die Befolgung gibt es mehrere. Raiser nennt – Bezug nehmend auf sozialpsychologische Erkenntnisse – fünf (2009:261). Drei seien hier herausgegriffen. Rechtliche Sank4 tionen können für die entsprechende Motivation sorgen, seien es negative (Strafe) oder positive (Belohnungen, Subventionen). Soweit lässt sich die rechtliche Regelbefolgung als durch das Recht selbst bedingt erklären. Allerdings ist davon auszugehen, dass Sanktionsdruck alleine nicht ausreicht, um eine ausreichende Effektivitätsquote zu erzielen. Raiser schreibt ausdrücklich, dass die Steuerung der Menschen durch gesellschaftlich verwurzelte Normen und sozialen Druck stärker sei als die Motivation durch das Recht (2009:258). Zu diesem Ergebnis kommt auch Hansen (2011:128). Damit müssen wir nach Befolgungsgründen suchen, die nicht exklusiv der rechtlichen Sphäre entstammen. Ein zweiter Grund für die Normbefolgung wurde bereits genannt: inhaltliche Akzeptanz. Menschen befolgen Regeln, wenn sie davon überzeugt sind, dass der Regelinhalt richtig und gut ist. Folgt man den oben angesprochenen Rechtspositivisten, liegt der Grund für den Gehorsam darin, dass Recht 5 und Moral in diesem Falle zusammenfallen. Ein moralisch für richtig gehaltener Wert ist rechtlich kodifiziert. Hier besteht eine Schnittstelle: Denn moralische Wertewelten können kulturell unterschiedlich ausgestaltet sein. Die aufsehenerregenden Ehrenmorde in Deutschland geben dafür ein extremes Beispiel ab. Die Unterschiede können sowohl die Norminhalte betreffen als auch deren Begründung. Ein und dieselbe Norm kann in zwei unterschiedlichen Kollektiven effektiv sein, ohne jedoch auf denselben Gründen zu beruhen: Die Todesstrafe könnte ich ebenso aus rein utilitaristischen wie aus religiösen

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Gründen ablehnen. Den Begriff der Menschenwürde kann ich auf Grundlage christlicher Imago-dei- oder ob muslimischer Statthalter-auf-Erden-Lehre für moralisch grundlegend befinden. Der dritte Regelbefolgungsgrund, den ich nennen will, ist ebenfalls kulturell aufgeladen: Gewohnheit. Es wäre wenig realistisch zu glauben, Menschen würden unentwegt Vorund Nachteile der Normbefolgung im Hinblick auf die Sanktionen kalkulieren; oder über Sinn und Unsinn des Norminhalts philosophieren. Sie befolgen viele rechtliche Regeln ebenso schematisch wie individuelle Gewohnheiten oder kulturelle Standardisierungen: Ohne es sich bewusst zu machen. Ein Schritt weiter gedacht: Rechtsbefolgung kann als individuelle Gewohnheit und / oder Teil kollektiver Standardisierungen beschrieben werden. Kategorien, die erhellen, wie sich Menschen mit dem Recht auseinandersetzen, sind das Rechtsgefühl, das Rechtsbewusstsein und die Rechtskenntnis (Raiser 2009:337ff.). Sie stehen für interdependente Gegenstandsbereiche, deren Erforschung zu erklären verspricht, wie es um die Gründe der rechtlichen Regelbefolgung bestellt ist. Wichtig ist es schließlich, beim Bezugspunkt rechtlichen Gehorsams zu differenzieren: Es kann um den Inhalt einzelner rechtlicher Regeln gehen oder um das Recht an sich wegen seiner Rechtsqualität. Im letzten Fall befolgen Menschen rechtliche Regeln, weil sie es für moralisch richtig halten, das Recht selbst dann zu befolgen, wenn man es für falsch hält. Das historisch berühmteste Beispiel für diese Einstellung stellt Sokrates dar. Er nimmt die über ihn verhängte Todesstrafe an, obwohl er sowohl eine Fluchtmöglichkeit hatte als auch der Überzeugung war, dass er nicht hätte verurteilt werden dürfen. Sokrates Begründung lautete, dass man das Recht zu befolgen habe, da anderenfalls der Zerfall der Rechtsgemeinschaft drohe (Platon 2002:50). Damit wird augenfällig, dass kulturell durchsetzte Normbefolgungsgründe Grundlage eines Rechtssystems sind und von Staaten. Einer der ersten Denker, der ernsthaft versucht hat, die Grundlage des Staats ohne Rückgriff auf Legitimationsmodelle (z. B. „Herrscher von Gottes Gnaden“, Gesellschaftsvertrag) zu konstruieren, war Jeremy Bentham (1748-1832). Wissend darum, dass ein Rechtssystem an logische Grenzen stößt, sah er seine Grundlage in der faktischen Gehorsamkeitsgewohnheit (habit of obedience) eines Kollektivs (Mar6 schelke 2009:90ff.). Einen solchen Begriff zu durchleuchten, ist gemeinsame Aufgabe von Rechtssoziologen und beispielsweise Kulturwissenschaftlern und Sozialpsychologen.

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Mit dieser faktischen Grundlage, die sich auf die Einstellungen und Gewohnheiten der Menschen bezieht, korreliert die symbolische Dimension rechtlicher und staatlicher Systeme. Recht leidet an einem letztlich nicht einlösbaren Legitimitätsanspruch (Gephart 2006:170). Dieser Mangel und das gleichzeitig bestehende Bedürfnis nach der Legitimität manifestieren sich unter anderem in der Suche nach gesellschaftlichen bzw. (national-)staatlichen Ursprungsakten oder -ereignissen, die bisweilen sehr treffend Gründungsmythen genannt werden. Dass solche Mythen nichtrechtlich und menschlich konstruiert sind, liegt auf der Hand. Insgesamt macht die Untersuchung des Phänomens der Regelbefolgung zweierlei deutlich: Erstens liegt hierin ein weites kulturelles Feld, das Rechtswissenschaftler (insbesondere Rechtssoziologen) gemeinsam mit anderen Disziplinen bestellen können. Zweitens legen die Ausführungen nahe, dass das Fundament des Rechts wesentlich von der Kultur getragen wird. 5.3

Recht, Kultur, Nation

Die Frage nach der Regelbefolgung hat an die Grenze des Rechtssystems geführt. Dort, so der Befund, kann Legitimität womöglich nur noch durch gesellschaftliche (Gründungs-) Mythen erzeugt werden. Beide Begriffe – Rechtssystem und Gründungsmythos – legen nahe, die Frage nach dem Verhältnis von Recht, Kultur und Nation zu thematisieren. Denn der Geltungsbereich von Rechtssystemen fällt häufig mit Nationalstaaten zusammen; heutzutage, wie man ergänzen muss, denn das Phänomen des Rechts ist älter als das der Nationalstaaten. Im interkulturellen Diskurs herrscht keine einheitliche Meinung darüber, wie das Verhältnis von Nation und Kultur beschaffen ist. Eine Ad-Hoc-Diagnose zum Stand der Dinge könnte lauten: Anerkannt ist, dass die Eigenschaften und Verhaltensweisen von Menschen von viel mehr Einflüssen (und das in gewichtigerer Weise) bestimmt werden als von ihrer Nationalität: Nämlich z. B. von ihrer sozialen Herkunft, ihrem Beruf, ihren Interessen etc. Die meisten können auch der Aussage zustimmen, dass diese Kollektive, denen ein Individuum angehört, selbst (Sub-)Kulturen sind. Nichtsdestotrotz bleibt Nationalität in der interkulturellen Kommunikation der paradigmatische Bezugspunkt (Haas 2009:167, Hansen 2011:172). Inwieweit sich Einflüsse auf die Standardisierungen der Individuen feststellen lassen, die nur oder ganz überwiegend durch die Nationalität erklärt werden können, ist umstritten. Denn die ausgeprägte interne Heterogenität der meisten Nationalkulturen macht es kaum möglich, ge-

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meinsame Nenner für die Vielzahl der sie konstituierenden Individuen zu finden. Genau diese Schwierigkeit scheint das Rechtssystem einer Nation nicht in vergleichbarer Weise aufzuwerfen. Das deutsche Recht ist deshalb deutsches Recht, weil es der deutsche Gesetzgeber geschaffen und deutsche Institutionen (Behörden, Gerichte etc.) konkretisiert und fortgebildet haben. Die deutschen rechtlichen Regeln gelten als fast ausnahmslos für alle Rechtssubjekte auf deutschem Boden. Religionsfreiheit genieße ich, ganz gleich, welchem Glauben ich huldige, und für einen Totschlag werde ich nach § 212 Strafgesetzbuch bestraft, ganz gleich welcher sozialen, regionalen, ethnischen oder nationalen Gruppe ich angehöre und mein Opfer angehörte. Das Recht scheint die intrakulturelle Heterogenität zu überwinden. Hansen bezeichnet Gesetze als Teil eines homogenitätsstiftenden Überbaus: Es gibt Interaktionsregeln vor (Hansen 2009:135, 2011:176). Darin liegt die kontrafaktische Stabilisierung der Kommunikation (Losch 2006:62), eine Kommunikationsordnung (Losch 2006:37). Sicher: Gewisse Einschränkungen muss man machen: So gibt es im Grundgesetz einige sogenannte Deutschen-Grundrechte (z. B. Wahlrecht zum Bundestag). Zudem haben einige Gruppen einen Sonderstatus inne, z. B. Diplomaten, Minderjährige oder aus anderen Gründen (z. B. Geisteskrankheit) nicht rechtsfähige Personen. Auch darf man nicht vergessen: Wenn eine Gesellschaft zum einen sehr heterogen und arbeitsteilig ausdifferenziert ist und zum anderen stark verrechtlicht, dann gibt es Unmengen von Rechtsstoff, der nur einen beschränkten Empfängerkreis hat. Die beruflichen Regeln für Ärzte, Anwälte oder Lehrer gelten natürlich nicht unmittelbar für Personen, die keinen dieser Berufe ausüben. Schließlich führt auch der Föderalismus zu einer intranationalen Begrenzung der Reichweite bestimmter Rechtsbereiche (Raiser 2009:333, zum Rechtspluralismus siehe auch 5.5.3.). Dennoch: Einige Regelungsbereiche – zum Beispiel das Strafrecht – richten sich an alle Bürger. Daraus folgt eine Fragestellung in Bezug auf die Kultur, zu deren Beantwortung die Rechtswissenschaft wesentlich beitragen kann: Wenn sich (wenigstens) Teilbereiche des Rechts relativ weitgehend mit der Nation identifizieren lassen, könnte dies ein tauglicher Anknüpfungspunkt für die Untersuchung sein, welche nationalkulturellen Prägungen identifizierbar sind. Anders formuliert: Inwieweit lässt sich das Recht als nationalkultureller Faktor verstehen? Inwieweit könnte man bestimmte Standardisierungen als durch das Recht und daher nationalkulturell beeinflusst ansehen? Zwei Perspektiven sollte man auseinander halten. Erstens: Inwieweit hat das Recht Einfluss auf die kulturellen Standardi© Interculture Journal 2012 | 16

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sierungen? Hat z. B. die rechtswirksame Meinungs-, Presse-, Informations- und Religionsfreiheit einen Einfluss auf die Standardisierungen von Kommunikation, Denken, Handeln und Fühlen der Bürger? Intuitiv möchte man antworten: Bestimmt, obgleich kaum in genau determinierbarem Umfang. Inwieweit ist das weltanschauliche geprägte Schulsystem so verrechtlicht, dass man davon sprechen kann, dass hier Recht Werte schafft? Man denke an die Streitigkeiten um den Inhalt von Geschichtsbüchern, wie sie vor wenigen Jahren in Russland und Griechenland geführt wurden. Die weltanschaulich aufgeladenen Streitigkeiten um religiöse Symbole in Schulen (in Klassenzimmern angebrachte Kruzifixe, Kopftuchtragen seitens muslimischer Lehrerinnen) sind in Deutschland letztlich vor Bundesgerichten ausgetragen worden. Uneins blieb man sich, inwieweit eine rechtliche Zulassung dieser Symbole Einfluss auf die Schüler hätte: Machen diese Symbole religiös oder eher tolerant gegenüber Religionen? Fraglich bleibt, in welchen Fällen man von genuin rechtlichem Einfluss sprechen kann. Man könnte auch behaupten, hier würden politisch-weltanschauliche Entscheidungen virulent, zu deren Durchsetzung das Recht dient. Das Recht wäre lediglich Instrument, der Inhalt jedoch stammte aus einer anderen Sphäre. Legt man die oben unter 5.1. angedeutete These, die Recht und Moral trennt, streng aus, scheint diese Interpretation nahe zu liegen. Sie ist indes zu eng und wird dem Eigenleben, welches das gesellschaftliche System Recht führt (und führen muss), nicht gerecht. Weiter kann dieses rechtsphilosophische Grundlagenproblem hier nicht weiter ausgeführt werden. Realistischer – und für die Grundfrage des Beitrags produktiver – ist es, mit Losch darauf zu verweisen, dass bestimmte Grundwerte wie Menschenwürde oder Gleichheit sich sowohl in kulturellen als auch in rechtswissenschaftlichen Diskursen finden (Losch 2006:71ff.). Das gilt nicht nur für den rechtswissenschaftlichen Grundlagenbereich sondern auch für die Dogmatik. Denn diese Grundwerte sind an verschiedenen Orten in Rechtssystemen und in verschiedenen Konkretionsstufen kodifiziert (in Deutschland findet sich die Menschenwürde in Art. 1 Grundgesetz, der Gleichheitssatz z. B. in Art 3 Grundgesetz aber auch im Antidiskriminierungsgesetz). Sie werden damit Bestandteil von Gerichtsurteilen und Kommentarliteratur, was sie in den Kernbereich der Rechtswissenschaften rückt. Die These jedenfalls, dass das Recht einer Nation einen Einfluss auf die Kultur hat, ist nicht unplausibel. Wie weit dieser Einfluss konkret reicht, ist schwierig zu bestimmen. Daher – das wäre die zweite Perspektive – bestünde die Möglichkeit, Nationalkulturen über das Recht zu beschreiben, indem man 81

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von vorneherein auf den oben angesprochenen Überbaucharakter verweist. Anders formuliert: Wenn es mir zu schwierig ist, in der Heterogenität der menschlichen Einstellungen das Recht zu suchen, dann untersuche ich das geschriebene Recht als Teil der Nationalkultur; wobei ich indes die unter 5.2. gefundenen Erkenntnisse ignorieren müsste. 5.4

Rechtskultur, Rechtsvergleich, Kulturvergleich

Fassen wir die bisherigen Ausführungen zusammen, können wir konstatieren: Das Recht ist ein kulturelles Phänomen. Wie Kulturen sich ändern, ändert sich auch das Recht, wie Kulturen divergieren, divergiert auch das Recht. Wir finden unterschiedliche Rechtssysteme. Die Rechtssysteme knüpfen in der Regel an den Bestand eines Staats an. Ist das Recht Teil der Kultur, können wir den rechtlichen Teil der Kultur Rechtskultur nennen. Der Begriff der Rechtskultur führt zu der Frage zurück, wie sich denn rechtskulturelle von sonstigen kulturellen Phänomenen unterscheiden. Raiser bietet für den Begriff der Rechtskultur folgende Definition an: Sie sei der „[…] empirisch erforschbare […] Inbegriff der in einer Gesellschaft bestehenden, auf das Recht bezogenen Wertvorstellungen, Normen, Institutionen, Verfahrensregeln und Verhaltensweisen“ (2009:328). Auf den ersten Blick scheint Raiser damit die nicht empirisch arbeitende Rechtsdogmatik aus dem Bereich der Rechtskultur herauszunehmen, was sich nicht mit unserem Kulturbegriff vertrüge. Dieser Schein trügt indes, der Gegenteil ist der Fall: Der übergeordnete kulturelle Blickwinkel ermöglicht es, die Rechtsdogmatik von außen zu betrachten. Derart können z. B. Denkgewohnheiten und Sozialprofil von Berufsjuristen bei der Untersuchung der Rechtsdogmatik einbezogen werden: als Faktoren, welche die Dogmatik beeinflussen, ohne regelmäßig von ihr mitgedacht zu werden. Haben wir verschiedene Rechtssysteme und -kulturen, können wir sie miteinander vergleichen. Der Unterschied zwischen rechtsdogmatischer und rechtskultureller Perspektive wird bei einem solchen Rechtsvergleich relevant. Auf diesem Gebiet tätige Juristen können Phänomene aus beiden Blickwinkeln untersuchen. In Anknüpfung an den Grundcharakter des geschriebenen Rechts wird auf der Makroebene z. B. die Klassifizierung von Rechtssystemen in sogenannte Rechtskreise oder -familien vorgenommen (Raiser 2009:330). Auf der Mikroebene arbeiten Rechtsvergleicher zumeist funktionell, indem sie untersuchen, welche rechtlichen Lösungen in verschiedenen Systemen für ein vergleichbares gesellschaftliches Problem gefunden werden (Rheinstein 1974:27).

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Nach den bisherigen Ausführungen wird jedoch deutlich, dass ein gelungener Rechtsvergleich die gegenseitige Beeinflussung von geschriebenem und gelebtem Recht im Auge behalten muss. Die Diskrepanz zwischen beidem hat zumeist (rechts-)kulturelle Gründe. Häufig thematisiert wird dies beispielsweise im Rahmen des Menschenrechtsdiskurses. Gerade derart abstrakt formulierte Rechtssätze wie die Menschenrechte bedürfen einer ausgeprägten Interpretations- und Durchsetzungspraxis (Fritzsche 2009:18,40). Diese lässt sich nur dann gewährleisten, wenn es ein ausreichend engmaschiges, effektiv und neutral arbeitendes Gerichtssystem gibt. Zudem muss ein Mindestmaß an bürgerschaftlichem Engagement existieren, da die Gerichte anderenfalls keine Fälle bekommen. Einfacher formuliert: Es muss Kenntnis und Bewusstsein dieser Rechte geben sowie die Bereitschaft seitens der Bürger, den Konflikt mit dem Staat zuzulassen und die Rechte einzuklagen (Fritzsche 2009:173f.). Diese Bereitschaft ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, die aus kultureller Perspektive interpretierbar sind: Sie hängen mit den Einstellungen zum Recht zusammen, wie sie unter 5.2. angerissen wurden. Wichtig ist vor allem Vertrauen in die gerichtliche Kontrolle (und damit in das Recht als solches). Die (rechts-)kulturell bedingte Diskrepanz zwischen geschriebenem und gelebtem Recht lässt sich also zum einen an den Bürgern festmachen, zum anderen an denjenigen Personen, die beruflich mit der Wahrnehmung rechtlicher Aufgaben betraut sind (z. B. Richter, Staatsanwälte, Anwälte); welche freilich auch Bürger sind, jedoch in Rechtssachen eine Doppelrolle einnehmen. Die Rolle dieser sogenannten Rechtshonoratioren ist von großer Bedeutung, ihre Auswahl, Reputation und ihr tatsächlicher Einfluss entscheidend für den Charakter des Rechtslebens (Rheinstein 1973:13f.). Ihre Rolle ruht auf zwei Säulen: Die eine ist ihre Arbeitsweise. Sind sie zuverlässig und unparteiisch? Das wiederum hängt von den Rahmenbedingungen ab, die teilweise rechtlicher (berufsspezifische Rechtsnormen, Zulassung, Kontrollsystem, insbesondere Berufungs- und Revisionsmöglichkeiten; Entlohnung) und teilweiser faktischer Natur sind (z. B. Berufsethos, Mindestmaß an Überzeugung von der Richtigkeit des anzuwendenden Rechts, vgl. 5.2.). Die zweite Säule ist die allgemeine Konfliktlösungskultur: Denkbar ist, dass in bestimmten Kulturen eher Mediationslösungen unterhalb der Ebene klassisch konfrontativer Gerichtsverfahren bevorzugt werden. Ein solcher – und umstrittener – Erklärungsansatz wurde z. B. zur Interpretation einer Statistik von 1990 herangezogen um zu erklären, warum die Anzahl der Rechtshonoratioren in Japan so viel niedriger war als in (West-)Deutschland, obwohl es sich bei beiden Ländern

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um hochdifferenzierte Industriegesellschaften handelte (Raiser 2009:335f.). Bisweilen werden Konflikte auch ganz ohne die Hinzuziehung von Mediatoren oder Rechtshonoratioren gelöst. Ein paradigmatisches Beispiel hierfür wäre Selbstjustiz, wobei dies nur eine Extremform der Konfliktlösung ist. Ebenso denkbar ist, dass die Parteien auf dem Verhandlungswege den Konflikt beilegen. Damit greift die Betrachtung über die Rechtskultur hinaus und bezieht die gesamte Kultur mit ein (Beck 2011:71), zumindest potentiell, denn eine Beschränkung auf relevante Faktoren ist unabdingbar um Untersuchungen nicht ausufern zu lassen (Perron 2011:129). Rechtsvergleich lässt sich als Form des Kulturvergleichs betrachten. Indem man Rechtsvergleich betreibt, vergleicht man bestimmte Phänomene (Rechtsystem, Rechtsnormen, Rechtsfälle, Rechtshonoratioren, Rechtsbewusstsein etc.) und erhält Auskunft über einen Teilbereich einer Kultur. Abschließend sei bemerkt: Dass man den kulturellen Hintergrund und beim Rechtsvergleich zu berücksichtigen habe und interdisziplinär zusammenarbeiten müsse, ist eine Erkenntnis, die in der Rechtswissenschaft zwar schon seit längerem theoretisch akzeptiert, aber erst seit kurzer Zeit mit Nachdruck gefordert wird (Hilgendorf 2011:23, Beck 2011:80f.). 5.5

Recht, Multikulturalität, Interkulturalität,

Rechtsvergleich (als Kulturvergleich) ist nur möglich, weil es verschiedene Rechtskulturen gibt. Das ist eine internationale Tatsache: Auf dem Planeten Erde herrscht Multikulturalität. Seine aktuelle Bedeutung erhält dieser Begriff jedoch dadurch, dass er auf einzelne Gesellschaften angewendet wird: Multikulturalität – verstanden als die Tatsache des Zusammenlebens verschiedener Kulturen in einem gemeinsamen Rahmen – gilt als gesellschaftliche Herausforderung. Denn die Multikulturalität bedingt interkulturelle Kommunikation. Diese – das ist das Grundparadigma des gesamten interkulturellen Denkens – gilt als in spezifischer Weise chancen- und risikobehaftet. Inwiefern spielt das Recht hier eine Rolle? Drei verschiedene Perspektiven bieten sich an: Erstens lässt sich untersuchen, wie nach nationalem Recht interkulturelle Sachverhalte innerhalb einer Gesellschaft bewertet werden. Daran anknüpfend kann man zweitens die Leistungsfähigkeit des Rechts bei der Gestaltung einer multikulturellen Gesellschaft evaluieren. Drittens geht es um das Phänomen der Rechtspluralität.

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5.5.1

Rechtskonflikte mit interkulturellem Hintergrund

Der Grundgedanke der ersten Perspektive ist folgender: Die Lebenswirklichkeit ist multikulturell und darum entstehen spezifische – nämlich interkulturelle – Konflikte. Der Grund für die Konfliktgeneigtheit in multikulturellen Gesellschaften ist, dass mit der Pluralität von Kulturen auch die Pluralität der Lebensweisen und Werte einhergeht. Multikulturalismus bedeutet Wertepluralismus. Treffen widersprechende Werte aufeinander, können Konflikte entstehen und zu Rechtsfällen werden. Deutsche Beispiele hierfür wären Ehrenmorde oder Streitfälle um religiöse Symbole oder Praktiken in Schulen oder Betrieben. Darzustellen, wie diese Fälle gelöst werden, könnte die Aufgabe von Rechtswissenschaftlern im interdisziplinären interkulturellen Diskurs sein. Dabei geht es nicht nur um rechtstechnische Fragen. Von interdisziplinärem wissenschaftlichem Interesse ist, welche Personen in Gerichtsverfahren interkulturelle Sachverhalte beschreiben dürfen, wie sie das tun und wie sie bewerten. Interpretiert ein Sachverständiger das Kruzifix als religiöses oder als traditionelles abendländisches Symbol? Was bedeutet das für die rechtliche Bewertung? Führt das bestehende Recht zu Lösungen, die bestimmte Gruppen begünstigen und andere benachteiligen? Wie sind die Urteile begründet? 5.5.2

Recht als Gestaltungsinstrument in einer multikulturellen Gesellschaft

Daran anknüpfend lässt sich die Leistungsfähigkeit des Rechts bei der Gestaltung einer multikulturellen Gesellschaft untersuchen. Lautet die Bestandsaufnahme unter 5.5.1., dass die bestehende Rechtslage nicht zu zufriedenstellenden Lösungen führt, ist zu überlegen, wie das Recht sich ändern müsste, um bestimmte Gestaltungsziele zu erreichen. Aus diesem Blickwinkel ist das Recht ein politisches Instrument. Das deutsche Antidiskriminierungsgesetz als Derivat des im Grundgesetz stehenden Gleichheitssatzes (Art. 3 Grundgesetz) wäre ein Mittel zu dem Zweck, etwaige Diskriminierungen ob bestimmter Kollektivzugehörigkeiten (Alter, Ethnie, Herkunft, Geschlecht, Behinderung u. a.) zu unterbinden. Es schützt die Mitglieder bestimmter, als in gewisser Weise bedroht erachteter Kollektive. Es tut dies, indem es in Aussicht stellt, dass gesellschaftliche Konflikte zugunsten der Kollektivmitglieder gelöst werden, falls der jeweilige Streitfall auf einer Benachteiligung beruht, die gerade an die Zugehörigkeit zu dem geschützten Kollektiv knüpft. Durch diese Form von Schutz konzediert der Gesetzgeber mittels Recht die Anerkennung des jeweiligen Kollektivs, genauer gesagt: 7 der Schutzwürdigkeit dieses Kollektivs. 85

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Als Instrument dient das Recht der Politik, um die gesellschaftliche Wertehierarchie zu gestalten. Es kann daher ebenso zur Lösung von Konflikten taugen, wie es sie auch erst herbeiführen oder perpetuieren kann. Zum Zweck der formalrechtlichen Gleichbehandlung ist es z. B. möglich, allen Lehrkräften an öffentlichen Schulen zu untersagen, äußerlich sichtbare religiöse Symbole am Körper zu tragen. De facto aber werden damit Personen mit bestimmten religiösen Bekenntnisformen von einem Berufsstand quasi ausgeschlossen (Taylor / Maclure 2011:97). Diese werden mitunter versuchen, sich gegen diese Benachteiligung zu wehren, wie die Streitigkeiten um das Kopftuchtragen von Lehrerinnen in mehreren Ländern zeigen. 5.5.3

Rechtspluralität

Die dritte Perspektive ist etwas anders gelagert: Es geht nicht um Pluralität im – insoweit vom Recht unterschiedenen – gesellschaftlichen Sachverhalt, auf den das Recht einwirkt. Hier liegt die Pluralität im rechtlichen Bereich selbst. Versteht man Recht als kulturelles Phänomen, lässt sich Rechtspluralität als Folge der Multikulturalität und / oder internen Heterogenität 8 von Kulturen definieren. Die Rechtspluralität kann sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene liegen. Ein Beispiel für ersteres ist gegeben, wenn beispielsweise Geschäftsabschlüsse über Länderund Rechtssystemgrenzen hinweg durchgeführt werden. Im Konfliktfall kann hier zu fragen sein, welches Recht anwendbar ist. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten, z. B. das Recht, das am Wohnort des Verkäufers gilt; oder des Käufers; oder nach dem Recht des Landes, wo das Geschäft geschlossen wurde. Man könnte von einer interkulturellen Rechtsbegegnung sprechen. Zur Lösung des Konflikts wäre, so sich die Parteien nicht einigen, das internationale Privatrecht heranzuziehen. Rechtspluralität im nationalen Bereich lässt sich nach mehreren Kriterien feststellen (Raiser 2009:333f.), wobei hier die kulturelle in den Blick genommen werden soll. Ein klassischer Anwendungsbereich dafür ist das Familienrecht. In diversen Rechtssystemen steht den Bürgern die Möglichkeit offen, beispielsweise Scheidungen oder Adoptionen nach dem Recht des – zumeist religiösen – Kollektivs, dem sie angehören, durchführen zu lassen (Büchler 2007:702f.). Diese Rechtspluralität entsteht jedoch in der Regel nicht von selbst. Sie wird zumeist durch rechtliche Maßnahmen gezielt hergestellt: Das Recht wird so konfiguriert, dass die Rechtswahl möglich wird. Der Grund für das Einräumen einer solchen Möglichkeit deckt sich in der Regel mit den instrumen-

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tellen Erwägungen unter 5.5.2.: Der Gesetzgeber möchte der Multikulturalität der Gesellschaft mit Rechtspluralität begegnen. Er möchte bestimmten kulturellen Gruppen auf rechtlichem Wege Anerkennung zollen (Büchler 2007:703). Diese Anerkennung hat affirmativen und inhaltlichen Charakter: Indem bestimmte Rechtsvorschriften zur Verfügung gestellt werden, erkennt das Recht deren Inhalt positiv an. Konkrete Regelungen der Lebensweise eines Kollektivs werden rechtlich unterstützt. Diese Form der Anerkennung geht über den bloßen Schutz vor Diskriminierung hinaus: Das Antidiskriminierungsgesetz beispielsweise ist indifferent gegenüber der Frage, wie die Ernährungsregeln bestimmter religiöser Gruppen lauten, welcher Tag ihnen bevorzugt für das Abhalten von Gottesdiensten dient oder welche Kleidungsvorschriften einzuhalten sind. Diese positiven Inhalte stehen nicht im Gesetz. Sie kommen indirekt zutage, wenn sie zum Anlass für eine Benachteiligung gemacht werden. Das Gesetz selbst knüpft nur an die gesellschaftliche konstituierte Kollektivzugehörigkeit an. Die hinter diesen Ausführungen stehende Leitfrage hat Büchler sehr treffend formuliert: „Ist rechtliche Homogenität – ein bedeutendes Element des modernen, westlichen Nationalstaats – mit kultureller Diversität zu vereinbaren?“ (2007: 699). 5.6

Recht, Universalität, Transkulturalität

Diese Leitfrage führt abschließend wieder auf die kulturübergreifende Ebene. Kulturübergreifend sind universelle und transkulturelle Phänomene. Beides darf man nicht verwechseln. Universalität meint zeit- und raumunabhängige Allgemeingültigkeit. Mit dem maßgeblich von Welsch geprägten Begriff der Transkulturalität (Welsch 1994) ist die unauflösbare und letztlich nicht mehr auf Ursprünge zurückverfolgbare Verflechtung kultureller Phänomene gemeint. Sie führt dazu, dass der Gegensatz von Fremdem und Eigenem seine Prominenz verliert (Welsch 1994:158). Man könnte wohl behaupten, dass Transkulturalität ein universelles Phänomen ist. Gleichzusetzen sind die Begriffe nicht. Was am Recht ist universell, was transkulturell? Beginnen wir mit Universalität im Sinne von begrifflicher Allgemeingültigkeit. Kulturtheoretiker gehen der Frage nach, was der Begriff der Kultur bedeutet. Ein solch allgemeiner Kulturbegriff beansprucht universelle Geltung: Jede Kultur zu jeder Zeit erfüllt die Merkmale, die ihn kennzeichnen (siehe bereits 5.2.1.). In derselben Art und Weise fragen Wissenschaftler nach dem Recht: Sie verstehen es als universelle Struktur, als eine der Grundlagen menschlicher Gesellschaften (Antweiler 2009:

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186f.). Sie suchen nach Strukturmerkmalen eines allgemeinen Rechtsbegriffs, der jedes Rechtsphänomen validiert. In diesem Sinne sind das Vorkommen des Rechts und seine Strukturmerkmale universell. Sie sind kulturübergreifend wegen ihrer begrifflichen Allgemeinheit. Gibt es darüber hinaus Universelles und Transkulturelles am Recht? Ich möchte das kurz an zwei Beispielen skizzieren. Zum einen geht es um die Frage, ob es universelle rechtliche Inhalte gibt. Zum anderen um den Rechtsex- bzw. import. 5.6.1

Universelle rechtliche Inhalte

Dass Mord, Gewalt und Vergewaltigung verboten sind, gilt als universell gültig, indes gibt es Unterschiede bei den Ausnahmen, die von diesen Regeln gemacht werden (Antweiler 2009:187). In der Rechts- und Moralphilosophie wird die Frage nach universellen Rechtsinhalten beispielsweise im Rahmen des bereits erwähnten Naturrechtsbegriffs abgehandelt. Antweiler verweist auf Studien, nach denen zwar nicht die Inhalte des Naturrechts, aber die Idee nahezu universal sei (ebd.:192). Die Frage nach universellen rechtlichen Inhalten lässt sich im Menschenrechtsdiskurs verankern: Der Idee nach sind Menschenrechte universell und individuell (Fritzsche 2009:15). Auf den ersten Blick sind Menschenrechte damit kulturunabhängig. Tatsächlich sind sie es nicht. Schon über ihre geistesgeschichtliche Herkunft wird gestritten. Ihre Interpretation und Umsetzung ist äußerst divergierend. In regionalen Menschenrechtsdokumenten werden spezifische Akzente (z. B. ShariaVorbehalt in der Kairoer-Erklärung über Menschenrechte im Islam, ebd.:94) gesetzt. Die Erweiterung des Menschenrechtskanons auf wirtschaftliche und soziale Rechte war Teil des Ost-West-Konflikts (ebd.:96f.). Die Diskussion um kulturelle Menschenrechte, insbesondere das Recht auf kulturelle Identität, ist eine jüngere Entwicklung (ebd.:103f.). Gerade aus afrikanischen Ländern kommen zudem Forderungen nach kollektiven Menschenrechten (ebd.:25). Die Menschenrechte bekommen also eine kulturspezifische Prägung. Das transkulturalisiert sie. Der Menschenrechtsdiskurs mit all seinen Facetten ist international. Die drei genannten Beispiele wurden daher nicht nur regional diskutiert sondern in Foren wie z. B. den Vereinten Nationen. Dabei werden Denk-, Argumentations- und Formulierungsweisen, Themen und Fälle ausgetauscht, kritisiert, weiterentwickelt und konkretisiert. Sie werden in einer Weise durchmischt und wechselseitig beeinflusst, dass eine transkulturelle Struktur 9 entsteht. Man könnte diagnostizieren, dass der universelle

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Geltungsanspruch der Menschenrechte ihre Transkulturalität begünstigt. In ähnlicher Weise kann man von der Transkulturalität europäischen Rechts sprechen. 5.6.2

Rechtsexport und -import

Ein Geltungsanspruch reicht indes nicht aus, um einen Inhalt transkulturell zu verbreiten. Dazu ist Austausch erforderlich. Das prägnanteste Beispiel hierfür ist der Rechtsexport und -import. Rechtsstrukturen werden – wie andere Formen von Wissen und Praxis auch – ausgetauscht. Wesentliche Teile des deutschen Privatrechts beruhen z. B. auf der römischen Rechtstradition. Man muss jedoch keinesfalls in der Rechtsgeschichte verweilen, um dieses Phänomen zu beobachten. Auf der Liste deutscher Exportprodukte steht das Recht. In vielen Ländern Ostasiens wurde und wird deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft intensiv rezipiert (Hilgendorf 2011:17). Auch das 2005 neu erlassene Strafgesetzbuch der Türkei ist wesentlich vom deutschen Strafrecht beeinflusst. Das führt dazu, dass – genauso wie im Beispiel der Menschenrechte – Terminologien, Theorien und Fälle nicht mehr bloß national sondern international diskutiert werden – nicht zuletzt durch Rechtsgelehrte, die im Ausland promoviert haben (ebd.). Die Materie ist transkulturell. Die Begriffe Rechtsexport und -import implizieren insoweit noch Intentionalalität und Kontrolle. Indes gilt auch für das Recht, dass die Vermischung und Verflechtung unübersichtlich wird. Büchler verweist darauf, dass Rechtspluralismus auch als Sammelbegriff für die Gleichzeitigkeit von Fragmentierung, Pluralisierung, Überlagerung und Verschmelzung rechtlicher Systeme fungiert (Büchler 2007:700). Eigenes ist von Fremdem oft kaum mehr zu unterscheiden. Raiser spricht von der Konvergenz der industriestaatlichen Rechtskulturen infolge der transnationalen Verflechtung von Kommunikation, Wirtschaft und Verkehr (2009:322). Mit anderen Worte: Rechtsphänomene sind ebenso transkulturell wie andere Kulturphänomene auch. 6.

Zusammenfassung

Der Beitrag lässt sich am besten zusammenfassen, indem man sich die drei Hauptbezugspunkte noch einmal vor Augen führt und ihre Bedeutung evaluiert: Erstens: Interkulturelle Kompetenz ist auch für Juristen von größter Bedeutung. Diese Aussage bezieht sich keinesfalls nur auf die persönliche Dimension einer Schlüsselqualifikation. Sie

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hat institutionelle Bedeutung für eine gesteigerte Funktionsfähigkeit des Rechtssystems. Dieser Topos wird mittlerweile unter der Überschrift Interkulturelle Öffnung der Justiz verhandelt. Indes geht es in diesem Bereich stärker um eine Anwendung interkultureller Erkenntnisse auf den juristischen Bereich als um einen disziplinären Zugang der Rechtswissenschaften zu Kultur und Interkulturalität. Zweitens: Der methodische Beitrag der Rechtswissenschaft nimmt sich im Beitrag eher exkursartig aus, und das entspricht seiner Bedeutung. Die juristische Methode im engeren Sinne ist zu speziell, als dass der allgemeine interkulturelle Diskurs profitieren könnte. Im Rahmen des Rechtsvergleichs (als Kulturvergleich) kann sie jedoch einen interessanten Erkenntnisgegenstand abgegeben. Die Methoden der Rechtswissenschaft im Grundlagenbereich indes sind nicht spezifisch juristisch. Drittens: Am fruchtbarsten ist der Beitrag von Rechtswissenschaftlern, wenn man Recht als kulturelles Phänomen betrachtet und interpretiert. Das Recht beeinflusst die Kultur und diese wiederum das Recht. Wie das geschieht, welche Erkenntnisse sich im Rechts- und Kulturvergleich hierzu gewinnen lassen, wie interkulturelle Prozesse sich im gesellschaftlichen und rechtlichen Bereich auswirken – das sind die Leitfragen, zu deren Beantwortung Rechtswissenschaftler entscheidend beitragen können. Insbesondere die Einstellungen der Menschen zum Recht und deren Manifestationen geben ein vielversprechendes interdisziplinäres Erkenntnisfeld ab. Literatur Antweiler, C. (2009): Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Beck, S. (2011): Strafrechtsvergleich im interkulturellen Dialog. In: Beck, S. / Burchard, C. / Fateh-Moghadam, B. (Hrsg.): Strafrechtsvergleichung als Problem und Lösung. Baden-Baden: Nomos, S. 65-85. Bock, S. (2010): Das Opfer vor dem internationalen Strafgerichtshof. Berlin: Dunckler & Humblot. Büchler, A. (2007): Familienrecht. In: Straub, J. / Weidemann, D. / Weidemann, A. (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Kompetenz und Kommunikation. Stuttgart: Metzler, S. 699-707. Derrida, J. (1991): Gesetzeskraft. Der mystische Grund der Autorität. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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An der Universität Würzburg unterbreitet die Juristische Fakultät im Rahmen des Projekts „Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz“ (www.gsik.de) den Jurastudieren ein den entsprechendes Ausbildungsangebot.

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Im Strafrecht ist der Analogieschluss verboten, da er einen Verstoß gegen § 1 Strafgesetzbuch, Art. 103 Grundgesetz darstellen würde. Dahinter steckt die Erwägung, dass die Bürger dem Gesetz entnehmen können müssen, für welches Verhalten Strafe droht. Schließlich bedeutet diese einen massiven staatlichen Eingriff in ihre Rechte. Dass die Gerichte gesetzliche Begriffe interpretieren, ist hinzunehmen. Doch die Analogie überschreitet diese Grenze des Wortlauts.

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Marschelke: Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur und Interkulturalität

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Wobei die evolutionäre Perspektive des Rechts der Sozio-, Moralbiologie und Moralpsychologie entnommen wird (Raiser 2009:336,338). 4

Zu beachten ist, dass der Begriff der Sanktionen nicht nur auf rechtliche Maßnahmen angewendet wird. Der zitierte soziale Druck wird ebenfalls in Sanktionsform (Ermahnungen u. ä.) ausgeübt (Raiser 2009:221). 5

Das Thema „Recht und Moral“ ist eines der Leitthemen im Grundlagenbereich der Rechtswissenschaften. Aus dem großen Facettenreichtum der Fragestellungen hat Rottleuthner die wichtigsten prägnant zusammengestellt (1981:157f.).

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Andere sehen als faktische Grundlage schlicht Gewalt (Derrida 1991:29).

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Auf diesem Wege kann der Gesetzgeber auch selbst Kollektive konstituieren, indem er Gruppenmerkmale selektiert und definiert. 8

Moderne Ansätze verweisen darauf, dass Nationalkulturen angesichts der Vielzahl von Subkulturen auch ohne Bezug auf Nationalität oder Ethnie multikulturell sind (Hansen 2011:175).

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Nicht verschwiegen werden darf, dass dieser Diskurs teilweise erhebliche Mängel aufweist (Höffe 1996:53ff., Fritzsche 2009:109).

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Marschelke: Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur und Interkulturalität

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Hermann / Schachner / Noack: „Ich bin eigentlich anders.“ Subjektive Konstruktionen ethnischer Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung

„Ich bin eigentlich anPleaseinsert insertthe thetitle title of Please ders.“ Subjektive Kon-of your article here your article here struktionen ethnischer Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Firstname nameSurname Surname First Akkulturationsforschung Pleaseinsert insertinformation informationabout about Please [„Actually I am different.“ the author here (e.g. title, posithe author here (e.g. title, posiSubjective constructions of tion, institution) tion, institution)

ethnic identity in a migration context and new ways in psychological acculturation research] Mirjam Hermann B.Sc. (Psych.), Universität Bremen, derzeit Master Klinische Psychologie.

Maja Schachner M.Sc. (Psych.), Graduate School for Human Behaviour in Social and Economic Change, FriedrichSchiller-Universität Jena und Universiteit van Tilburg, NL.

Peter Noack Prof. Dr., Lehrstuhl Pädagogische Psychologie, Friedrich-SchillerUniversität Jena.

Abstract [English] Psychological acculturation research deals with situations in which regular contact between members of different cultures occurs and an adaptation on the side of the individuals and groups involved becomes necessary. This adaptation is the result of a dynamic and interactive process, the core of which form the acculturation orientations or ethno-cultural identities of the individuals involved (Arends-Tóth / Van de Vijver 2006b). Taking the example of an interview study conducted with pupils with a migration background, the psychological acculturation process shall be explained, with a particular emphasis on the role of ethnic identity in this process. The study is based on recent research which shows that acculturation orientations can vary by life domain and context (Phinney / Devich-Navarro 1997, Roccas / Brewer 2002, Benet-Martinez et al. 2002, Arends-Tóth / Van de Vijver 2006a). The present study aimed at finding out (1) how children construct their ethnic identities and view cultural differences, (2) whether and to what extent ethnic identities of children in early adolescence are already domain specific, and (3) what could be possible reasons for an alternation between life domains. The results largely confirm earlier quantitative studies with adults and show that a domain specific analysis of ethnic identity already makes sense at this age. The children already showed differences in their ethnic identity or acculturation orientation between the public and the private life domain. Perceived cultural distance, group status, context specific expectations of others and discrimination are discussed as possible reasons for this shift. Keywords: Ethnic identity, acculturation orientations, domain specificity Abstract [Deutsch] Die Psychologische Akkulturationsforschung beschäftigt sich mit Situationen, in denen regelmäßiger Kontakt zwischen Mitgliedern verschiedener Kulturen stattfindet und eine Anpassung auf Seiten der involvierten Gruppen und Individuen erforderlich wird. Diese Anpassung ist das Resultat eines dynamischen und interaktiven Prozesses, in dessen Zentrum die Akkulturationseinstellungen bzw. die ethnisch-kulturelle Identität der Beteiligten stehen (Arends-Tóth / Van de Vijver 2006b). Am Beispiel einer Interviewstudie mit Schülern mit Migrationshintergrund soll die psychologische Forschung im Hinblick auf die Rolle der ethnischen Identität im Akkulturationsprozess veranschaulicht werden. Die Grundlage bildet neuere Forschung, die zeigt, dass Akkulturationsorientierungen nach Lebensbereichen und Kontext variieren können 95

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(Phinney / Devich-Navarro 1997, Roccas / Brewer 2002, Benet-Martinez et al. 2002, Arends-Tóth / Van de Vijver 2006a). Ziel der beschriebenen Studie war es, herauszufinden, (1) wie Kinder im frühen Jugendalter ihre ethnische Identität konstruieren und woran sie ethnische Unterschiede festmachen, (2) inwiefern ethnische Identität auch bei Kindern im frühen Jugendalter bereichsspezifisch ist, und (3) was mögliche Gründe für Unterschiede zwischen den Bereichen sein könnten. Die Ergebnisse bestätigten weitestgehend frühere quantitative Studien mit Erwachsenen und zeigten, dass die Auseinandersetzung mit ethnischer Identität nach Lebensbereichen auch in dieser Altersgruppe sinnvoll ist. Bereits in diesem Alter gab es teilweise Unterschiede zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich. Als mögliche Ursachen werden wahrgenommene kulturelle Distanz und Status der jeweiligen Gruppe, kontextspezifische Erwartungen der anderen und Diskriminierung diskutiert. Stichworte: Ethnische Identität, Akkulturationsorientierungen, Domänenspezifität 1.

Einleitung

„[M]an kann hier irgendwie nicht so sein, wie man ist … Ich bin eigentlich anders“, so äußert sich eine 11-jährige Schülerin, die in Deutschland aufgewachsen ist und zur Schule geht, deren Mutter aus Mazedonien und deren Vater aus der Türkei stammen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes von 2010 beträgt der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund an der Bevölkerung im Alter zwischen 10 bis 15 Jahren in Deutschland durchschnittlich 30 Prozent. Oft fühlen sie sich zerrissen zwischen der Kultur ihres Herkunftslandes, die mehr oder weniger stark im Elternhaus gelebt wird, und der deutschen Mehrheitskultur, mit der sie außerhalb des Elternhauses konfrontiert werden. Schulen in kulturell heterogenen Gebieten nehmen hier eine bedeutende Rolle ein, da sie Orte sind, an denen interkultureller Kontakt und Austausch stattfinden kann und das, was in der Psychologie als Akkulturation bezeichnet wird. Redfield, Linton und Herskovits (1936:149) definierten Akkulturation als „die Phänomene, die daraus resultieren, wenn Individuen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund regelmäßigen direkten Kontakt miteinander haben, der zur Veränderung der kulturellen Muster und Gewohnheiten auf einer oder beiden Seiten führt.“ Somit ergibt sich ein dynamischer Akkulturationsprozess aus der Interaktion zwischen den kulturellen Minderheiten auf der einen und der Mehrheitskultur auf der anderen Seite. Die psychologische Akkulturationsforschung befasst sich somit mit allen Situationen, in denen

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regelmäßiger Kontakt zwischen Mitgliedern verschiedener Kulturen stattfindet und eine Anpassung auf Seiten der involvierten Gruppen und Individuen erforderlich wird. Die spezifischen Situationen können hierbei sehr unterschiedlich sein – so gibt es Menschen, die als Flüchtlinge in andere Länder kommen, Menschen, die für bessere wirtschaftliche Verhältnisse migrieren oder auch Situationen, in denen der interkulturelle Kontakt und Austausch zeitlich begrenzt ist, wie es z. B. bei Ex-Patriates oder Austauschstudenten der Fall ist oder im Hinblick auf die in den 60er Jahren nach Deutschland eingewanderten Gastarbeiter geplant war. Der Akkulturationsprozess kann in Akkulturationsbedingungen, -orientierungen und -ergebnisse unterteilt werden. Den zentralen Aspekt, der auch Gegenstand dieser Studie ist, bilden die Akkulturationsorientierungen, die auch als ethnische Identität bzw. ethnisches Zugehörigkeitsgefühl oder Einstellungskomponente im Akkulturationsprozess aufgefasst werden können. Die Akkulturationsorientierungen, die oft zweidimensional im Sinne einer Orientierung zur Herkunfts- und zur Mehrheitskultur dargestellt werden, können über Akkulturationsbedingungen beeinflusst werden und sich unmittelbar auf die Akkulturationsergebnisse auswirken, wie ArendsTóth und Van de Vijver (2006b) in ihrem „AcculturationFramework“ verdeutlichen (siehe Abbildung 1). Wenn die primäre kausale Abfolge auch wie beschrieben ist, so ist die umgekehrte Wirkrichtung, in der sich Orientierungen und Ergebnisse wiederum auch auf die Bedingungen auswirken, auch möglich. Akkulturation kann also als dynamischer Prozess aufgefasst werden, in dem sowohl die unterschiedlichen Komponenten als auch die beteiligten Gruppen miteinander interagieren. Akkulturationsbedingungen

Akkulturationsorientierungen

Akkulturationsergebnisse

Abb. 1: Acculturation-Framework, basierend auf “Issues in the conceptualization and assessment of acculturation”. Quelle: Arends-Tóth / Van de Vijver 2006b:36.

Zu den Bedingungen zählen neben individuellen Voraussetzungen wie Persönlichkeit und kognitive Leistungsfähigkeit auch Eigenschaften der Herkunftskultur, der spezifischen Migrantengruppe und der Mehrheitsgesellschaft sowie Aspekte, die sich aus der Interaktion dieser Gruppen bzw. der interkulturellen Situation ergeben (z. B. wahrgenommene kulturelle Distanz, wahrgenommener sozialer Status, wahrgenommene Diskriminierung). Studien haben beispielsweise gezeigt, dass geringe wahrgenommene kulturelle Distanz mit 97

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einer höheren Orientierung an beiden Kulturen einher geht (Redmond / Bunyi 1993, Galchenko / Van de Vijver 2007), wogegen geringe wahrgenommene kulturelle Distanz in Verbindung mit einem hohen wahrgenommenen sozialen Status der ethnischen Gruppe zu einer höheren Orientierung an der Mehrheitskultur führen (Arends-Tóth / Van de Vijver 2009). Vermittelt über die Akkulturationsorientierungen wirken sich Bedingungen schließlich auch auf die Akkulturationsergebnisse aus. So hat eine internationale Studie mit Jugendlichen in 13 Ländern beispielsweise gezeigt, dass wahrgenommene Diskriminierung zu einer niedrigeren Orientierung an der Mehrheitskultur und einer höheren Orientierung an der Herkunftskultur führt, was wiederum insbesondere für die schulische Anpassung und im Hinblick auf Verhaltensprobleme negative Konsequenzen hat (Vedder / Van de Vijver / Liebkind 2006). Zudem scheint ein Zusammenhang zwischen niedrigerem sozialen Status und wahrgenommener Diskriminierung zu bestehen, was sich negativ auf das Selbstwertgefühl auswirkt (z. B. Verkuyten 1998). Grundsätzlich unterscheidet man zwischen psychologischen und soziokulturellen Ergebnissen. Positive psychologische Ergebnisse des Akkulturationsprozesses sind z. B. das subjektive Wohlbefinden, Selbstbewusstsein, Lebenszufriedenheit und die Abwesenheit von psychosomatischen Problemen. Positive soziokulturelle Ergebnisse sind die Fähigkeit, im Alltag in der jeweiligen Kultur zu Recht zu kommen, die Sprache zu beherrschen, Beziehungen innerhalb der jeweiligen Kultur aufzubauen und im jeweiligen kulturellen Kontext nach den Regeln spielen zu können. Frühere Studien haben gezeigt, dass sich die Anbindung an die Herkunftskultur vor allem positiv auf psychologische Ergebnisse auswirkt, während die Annahme der neuen Kultur sich vor allem auf die soziokulturellen Ergebnisse auswirkt (Ward 2001, Sam et al. 2006). Neuere Studien (Schachner / Van de Vijver / Noack 2011a, Jackson / Van de Vijver i. V.) haben jedoch gezeigt, dass sich das Aufrechterhalten der Herkunftskultur indirekt über die psychologischen Ergebnisse auch auf die soziokulturellen Ergebnisse auswirkt. Der zentrale Aspekt des Modells, die Akkulturationsorientierungen, stellt die Einstellungskomponente dar und ist stark vom subjektiven Zugehörigkeitsgefühl zur jeweiligen Kultur geprägt. Daher werden sie oft mit ethnischer Identität gleich gesetzt, die als multidimensionales Konstrukt eine Vielzahl von relevanten Komponenten wie Selbstkategorisierung, Commitment und Bindung, Kenntnis von kulturellen Praktiken, Werten und Überzeugungen umfasst (Phinney / Ong 2007, Ashmore / Deaux / McLaughlin-Volpe 2004).

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Aufrechterhaltung der Herkunftskultur

Die Akkulturationsorientierungen werden auf zwei Dimensionen erfasst, die sich aus der individuellen Antwort auf die beiden Fragen ergeben, wie weit die Herkunftskultur aufrecht erhalten werden soll und wie weit der Wunsch besteht, sich an die Mehrheitskultur anzupassen (Berry 1997, Bourhis et al. 1997). Daraus ergeben sich vier verschiedene Akkulturationsstrategien (Berry 1997): Integration, Assimilation, Separation und Marginalisierung (siehe Abbildung 2).

Separation

Marginalisierung

Integration

Assimilation

Aneignung der Kultur des Aufnahmelandes Abb. 2: Akkulturationsstrategien, basierend auf “Immigration, Acculturation and Adaption”. Quelle: Berry 1997:10.

Integration im eigentlichen Sinne bedeutet, dass sich das Individuum in beiden Kulturen zu Hause fühlt. Im Hinblick auf positive Ergebnisse – sowohl soziokulturelle wie Schulleistung als auch psychologische wie Selbstbewusstsein – ist dies die am meisten bevorzugte Strategie (Sam et al. 2006). Assimilation bedeutet, dass sich das Individuum stark an die Kultur des Aufnahmelandes anpasst und dabei die Kultur des Herkunftslandes vernachlässigt. Dies kann kurzfristig zu positiven soziokulturellen Ergebnissen führen, geht aber langfristig oft mit psychischen Problemen einher, da ein Teil der eigenen Herkunft und Identität nicht ausgelebt wird (Sam et al. 2006). Assimilation ist im öffentlichen Diskurs zum Thema Migration oft die von der Mehrheitsgesellschaft bevorzugte Variante. Separation bedeutet, dass der Fokus auf der Aufrechterhaltung der Herkunftskultur liegt und die Kultur des Aufnahmelandes nur minimal angenommen wird. Soziale Kontakte werden fast nur innerhalb der Migrantengruppe gepflegt und es findet eine Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft statt. Die eigene ethnische Gruppe kann hier zwar als Quelle für psychisches Wohlbefinden dienen und ein gewisses Sicherheits- und Heimatgefühl in der Fremde vermitteln, jedoch ist klar, dass diese Strategie im Hinblick auf ein langfristiges Leben und Möglichkeiten im Aufnahmeland nicht hilfreich ist. So zeigen Jugendliche, die dieses Profil aufweisen, zwar posi-

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tive psychologische Ergebnisse, aber zugleich auch negative soziokulturelle Ergebnisse (Sam et al. 2006). Zuletzt gibt es noch das Phänomen der Marginalisierung, in dem eine Distanzierung von beiden Kulturen stattfindet. Dies ist eigentlich keine Strategie im eigentlichen Sinne, sondern beschreibt eher eine misslungene Akkulturation, die mit Orientierungslosigkeit, sozialer Isolation und oft erheblichen psychischen Problemen einhergeht. Neuere Forschung hat zudem gezeigt, dass die Strategie eines Individuums in verschiedenen Situationen und Lebensbereichen wechseln kann. So gibt es beispielsweise die grobe Unterscheidung zwischen dem privaten und öffentlichen Bereich, wobei sich das Private auf Werte und eine innere Haltung sowie das Leben zu Hause bezieht und das Öffentliche auf alles, was außerhalb des Heims passiert und nach außen hin sichtbar ist (Arends-Tóth / Van de Vijver 2006a). Die Akkulturationsorientierungen in beiden Kontexten können einerseits als kompatibel angesehen werden (Phinney / Devich-Navarro 1997, Benet- Martínez / Leu / Lee / Morris, 2002, Benet-Martínez / Haritatos 2005) und nur wenig kulturelle Distanz und Konflikt zwischen ihnen wahrgenommen werden (Cheng / Lee 2009). Diese Individuen scheinen sich somit gleichzeitig unabhängig von Situationen an beiden Kulturen zu orientieren, was in der Forschung mit Überlagerung (Phinney / Devich-Navarro 1997) oder Verflechtung (Roccas / Brewer 2002) bezeichnet wird. Im Gegensatz dazu kann sich im Extremfall eine Person im öffentlichen Bereich fast voll assimilieren, aber im privaten Bereich Separation betreiben. Beide Kulturen werden somit trotz der Orientierung an beiden Kulturen als gegensätzlich und unvereinbar empfunden (Phinney / Devich-Navarro 1997, Benet-Martínez / Haritatos 2005). Die Identitäten dieser Individuen scheinen nach dem Prinzip der Alternation (Phinney / Devich-Navarro 1997) oder der Kompartimentierung, also der Bereichsbildung (Roccas / Brewer 2002) konstruiert zu sein und je nach sozialem Kontext zu variieren, was auch als „cultural frame switching“ bezeichnet wird (z. B. Benet-Martínez / Leu / Lee / Morris, 2002). Als Ursache für diese Konstruktion der ethnischen Identität, die mit der Schwierigkeit einhergeht, die verschiedenen Kulturen in einer verbundenen Identität zusammen zu bringen, werden neben Persönlichkeitsfaktoren wie geringe Offenheit und neurotische Dispositionen akkulturative Stressoren wie Diskriminierung, angespannte interkulturelle Beziehungen, Sprachprobleme, kulturelle Isolation und Separation angesehen (Benet-Martínez / Haritatos 2005). Einerseits kann diese Strategie der Alternation durch das Erreichen einer kontextspezifischen Passung von Vorteil sein, da © Interculture Journal 2012 | 16

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sich eine mangelnde Passung zwischen der bevorzugten und wahrgenommenen Akkulturationsstrategie laut dem „Interactive Acculturation Model“ (Bourhis et al. 1997) negativ auf Akkulturationsergebnisse auswirken kann (Zagefka / Brown 2002, Baysu / Phalet / Brown 2011). Andererseits können sich als unvereinbar empfundene ethnische Identitäten negativ auf das psychologische Wohlbefinden auswirken (Chen / Benet-Martínez / Bond 2008) und in einer Konfusion der ethnischen Identität münden (Schwartz et al. 2007). Insgesamt ist im Bereich der Akkulturationsforschung jedoch bisher wenig bekannt zu Ursachen und Wirkung von Alternation der ethnischen Identität in spezifischen Kontexten (Phinney / Devich-Navarro 1997, Benet-Martìnez / Haritatos 2005, Baysu / Phalet / Brown 2011). Hinzu kommt, dass ein Großteil der Forschung in diesem Bereich bisher mit Erwachsenen durchgeführt wurde. Es ist aber bekannt, dass gerade im frühen Jugendalter bzw. in der frühen Adoleszenz starke Veränderungen in der Identitätsentwicklung stattfinden (Phinney 1989, 1992). In dieser Phase rücken neben den physiologischen Veränderungen auch Fragen bezüglich der eigenen ethnischen Identität stärker in den Vordergrund und es kommt zu einer verstärkten aktiven Exploration und Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Es stellt sich somit die Frage, wie stark die Orientierungen an Herkunftskultur und der Mehrheitskultur von Kindern und Jugendlichen in der frühen Adoleszenz ausgeprägt sind und wie ihre ethnische Identität konstruiert ist. 1.1

Fragestellungen und Ziele der Studie 1

Ziel dieser qualitativen Studie , die als Vorstudie in eine quantitative Längsschnittstudie eingebettet ist, ist es, zunächst einmal herauszufinden, inwiefern die genannten theoretischen Modelle auf Kinder dieser Altersgruppe (10-13, frühe Adoleszenz) anwendbar sind. Die zentralen Forschungsfragen lauten daher: 1.) Welches Verständnis haben Kinder in diesem Alter von ethnischer Identität und wie beschreiben sie ihre eigene Identität? Welche Aspekte werden im Hinblick auf Aufrechterhaltung und Anpassung genannt? Wo werden Unterschiede zwischen den Kulturen wahrgenommen und wie werden diese beschrieben? 2.) Welche Akkulturationsorientierungen zeigen die Kinder? Gibt es Unterschiede zwischen privatem und öffentlichem Bereich? 3.) Wie begründen die Kinder ihre Akkulturationsorientierungen im jeweiligen Bereich und falls es einen Wechsel bzw. eine Alternation gibt, womit könnte dies zusammenhängen? 101

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2. 2.1

Methode Stichprobe

Im Rahmen dieser Studie wurden vierzehn halbstrukturierte Interviews mit zehn- bis dreizehnjährigen Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund der Klassenstufe fünf und sechs eines Gymnasiums (vier Schülerinnen und ein Schüler, 35%) oder einer Hauptschule (drei Schülerinnen und sechs Schüler, 65%) durchgeführt. Die Verteilung bezüglich des Geschlechts war ausgewogen (sieben weiblich, sieben männlich). Die Schülerinnen unterschieden sich stark hinsichtlich ihres Migrationshintergrundes (Türkei (4), Türkei und Mazedonien (1), Iran (1), Indien (1), Vietnam (1), Kasachstan (1), Eritrea (1), Iran und Ungarn (1), Portugal (1), Marokko (1), Paraguay und Kroatien (1)) und ihrer Religionszugehörigkeit (Islam (7), Christentum (4), Hinduismus (1), keine Religion (2)). Vier (30%) der Schülerinnen und Schüler wurden im Herkunftsland ihrer Eltern geboren und hatten noch ein paar Jahre dort gelebt, bevor sie mit ihrer Familie nach Deutschland eingewandert sind. Alle anderen Schülerinnen und Schüler gehören der zweiten Generation an. Auch hinsichtlich der Bildungsnähe der Familie (d. h. geschätzte Anzahl Bücher im Haushalt und das Erlernen eines Musikinstruments; Deutsche Shell 2002) wiesen die Schülerinnen und Schüler große Unterschiede auf, die jedoch in erwarteter Weise mit dem Schultyp zusammen hingen. Diese unterschiedlichen Fälle hinsichtlich der Merkmale Bildungsniveau repräsentiert über den Schultyp, Migrationshintergrund und Bildungsnähe der Familie wurden bewusst gewählt, um die Heterogenität des Untersuchungsfeldes gemäß der „Regel der maximalen strukturellen Variation“ (Kleining 1982:234) abzubilden. Diese Strategie hat zum Ziel, einer Stichprobenverzerrung vorzubeugen und die qualitative Repräsentation zu erhöhen (Kruse 2009:79ff.). 2.2

Erhebungsinstrument

Diese Studie bedient sich der qualitativen Interview-Methode, wobei die „Kinder als Experten ihrer Lebenswelt“ (Trautmann 2010:46) angesehen werden. Diese Methode lässt den Schülerinnen und Schülern die Freiheit, sich über ihre Wahrnehmung und Erfahrungen zu äußern. Die Interviews wurden mit Hilfe eines Interviewleitfadens erhoben. Die Form des halbstrukturierten Interviews wurde gewählt, da gezielt bestimmte Aspekte aufgegriffen und erfragt werden sollten. Zudem sollten die subjektiven Deutungsmuster der Schülerinnen und Schüler erfasst und die Interviews

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inhaltsanalytisch ausgewertet werden, was sich bei dieser Form von Interviewführung anbietet (Kruse 2009). Die Struktur des Leitfadens orientiert sich an den Empfehlungen von Kruse (2009) und Trautmann (2010). Die Auswahl der Konzepte und inhaltlichen Aspekte des Interviewleitfadens basiert auf den im theoretischen Teil eingeführten Konzepten der Migrations- und Akkulturationsforschung und umfasst Fragen zu Akkulturationsbedingungen (Wahrgenommene kulturelle Distanz in Anlehnung an Galchenko / Van de Vijver 2007, wahrgenommener sozialer Status in Anlehnung an Schalk-Soekar et al. 2004, wahrgenommene Diskriminierung in Anlehnung an Ward 2008, wahrgenommene Akkulturationserwartungen seitens Mitschülerinnen und Mitschülern, Lehrerinnen und Lehrern, weitestgehend selbst konstruiert) und Akkulturationsorientierungen (Ethnische Identität in Anlehnung an Phinney 1992, Phinney / Ong 2007; domänenspezifische Akkulturationsorientierungen in Anlehnung an Arends-Tóth / Van de Vijver 2003). 2.3

Durchführung

Die Interviews führte eine deutsche Interviewerin in Absprache mit der Klassenlehrerin und nach Zustimmung der Eltern während einer Unterrichtsstunde in einem separaten Raum des Schulgebäudes durch. Die Interviews dauerten im Durchschnitt vierzig Minuten und wurden auf Tonband aufgezeichnet. 2.4

Analyse

Anschließend wurden die Tonaufnahmen mithilfe des Programms f4 transkribiert. Da der Inhalt des Gesagten im Vordergrund stand, wurde wörtlich transkribiert, wobei alle Äußerungen originalgetreu erfasst wurden; Pausen, Betonungen und sonstige stilistische Eigenschaften aber außen vor gelassen wurden. Anschließend wurden die Transkripte mit ATLAS.ti, einer Software für qualitative Datenanalyse (Muhr 1994), analysiert. Kodiert wurden die Interviews nach dem Prinzip der halboffenen Kodierung (Friese 2009), einer Mischform aus Top-Down- und Bottom-Up-Kodierung, die sowohl theoriegeleitete Kategorien beinhaltet als auch für zusätzliche Kategorien, die sich aus dem Text selbst ergeben, offen ist. Aus dem Interviewmaterial und der Literaturrecherche ergaben sich zunächst vier große Kategorien bezüglich der Akkulturationsorientierungen (Aufrechterhaltung der Herkunftskultur und Aneignung der Mehrheitskultur im privaten und öffentlichen Lebensbereich). Innerhalb dieser Kategorien wurden thematische Subkategorien gebildet (wie z. B. Zugehörigkeitsgefühl, Sprachgebrauch, religiöse Praktiken, Feiern kultureller Festlichkeiten), die sich sowohl aus dem Inter103

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viewmaterial ergaben als auch theoriegeleitet waren (ArendsTóth / Van de Vijver, 2006a). Die Kategorisierung der Akkulturationsbedingungen erfolgte nach dem gleichen Top-Down und Bottom-Up geleiteten Prinzip und es ergaben sich Subkategorien wie z. B. wahrgenommene kulturelle Distanz, wahrgenommener sozialer Status der eigenen ethnische Gruppe oder Interesse seitens Mitschülerinnen und Mitschülern sowie Lehrerinnen und Lehrern. 3.

Ergebnisse

Zuerst wurde für jeden Schüler einzeln basierend auf dessen kategorisierten Antworten die Ausprägung der Akkulturationsorientierungen auf beiden Dimensionen im privaten und öffentlichen Lebensbereich ermittelt. Hierzu wurden relevante Textstellen zunächst anhand ihrer Intensität im Hinblick auf den jeweiligen Identitätsbereich durch die drei Ausprägungsstufen niedrig, mittel und hoch bewertet und anschließend die relativen Häufigkeiten über die jeweiligen Unterkategorien erfasst. Eine Aussage innerhalb der Subkategorie Feiern kultureller Feste wie „also ich kenn die [iranischen und ungarischen Feste] eigentlich nicht. Neujahr kenn ich, aber das feiern wir auch nicht so richtig“ wurde beispielsweise hinsichtlich der Orientierung an der Herkunftskultur im privaten Bereich als gering gewertet, wohingegen eine Aussage wie „Wir gehen in die Moschee und da gibt‘s auch oft Feiertage und die feiern wir auch dann ... z. B. das heißt Kurban und das bedeutet Schlachtfest“ als hoch eingestuft wurde. Anschließend wurde jedem Kind auf beiden Dimensionen und in beiden Lebensbereichen eine Ausprägungsstufe zugeordnet. Die Kategorie mittel wurde zusätzlich für diejenigen eingeführt, die innerhalb der übergeordneten Konzepte sowohl hohe als auch niedrige Tendenzen zeigten und sich somit zwischen den beiden anderen Kategorien hoch und niedrig bewegten. Hinsichtlich der Subkategorien zeigen die Ergebnisse, dass die Kinder ihre ethnische Identität im privaten Bereich vor allem am Feiern von kulturellen Festen wie „[Wir feiern] Divali … Ja, gleich wie Weihnachten“, Ausüben religiöser Praktiken wie „an einem Tag beten wir fünfmal“, typische Speisen aus dem Herkunftsland wie „manchmal machen wir halt so kleine Fische, die sind so groß, ja, und da machen wir ganz viele davon und die tun wir dann halt in so Fladenbrot“ sowie am Sprachgebrauch wie „also mit meiner Mutter sprech ich Türkisch und mit meinem Vater“ festmachten. Im öffentlichen Bereich dagegen wurde vor allem über das Zusammensein mit anderen Kindern der gleichen ethnischen Gruppe „Also früher war ich mit einer anderen Vietnamesin mit in meiner Klasse, die ist jetzt auf die Real ... Also wir treffen uns immer © Interculture Journal 2012 | 16

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in der großen Pause“, Hilfe bei Schulaufgaben „[Ich gehe zu den] deutschen [Mitschülern], weil die des mehr verstehen. Also die türkischen verstehen das auch, aber deutsch find ich halt viel besser“ oder bei emotionalen Problemen „ [Ich gehe zu den] türkischen [Mitschülern] [...] weil die halt aus meinem Land sind. Und mich viel besser verstehen“ sowie über das subjektive Zugehörigkeitsgefühl auf die Frage nach ihrer Herkunft wie „Äh, dann denk ich immer, die sagen dann, du kommst bestimmt aus China und so. Dann sag ich nein, ich komm aus Vietnam und so“ berichtet. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler (73%) im privaten Lebensbereich ihre ethnische Herkunftskultur zu einem hohen Ausmaß beibehält. So berichten sie beispielsweise über typisches Essen aus ihrem Herkunftsland, das zu Hause gekocht wird oder über religiöse Themen. Aus der Gruppe derjenigen, die sich im privaten Lebensbereich stark an ihrer Herkunftskultur orientieren, weist nur ein Drittel gleichzeitig auch eine starke Tendenz auf, sich im privaten Bereich die Mehrheitskultur anzueignen, indem sie beispielsweise Feste aus beiden Ländern feiern „also wir feiern die deutschen und die marokkanischen Feste“ oder beide Sprachen sprechen wie z. B. „mit meiner Mutter sprechen wir ganz normal deutsch, und abends kommt mein Vater, der spricht mit uns marokkanisch“. Die restlichen zwei Drittel orientieren sich dagegen sehr viel mehr an ihrer Herkunfts- als an der Mehrheitskultur „ich les [Koran] oder ich bete halt zu Hause“. Ein kleinerer Teil der Schülerinnen und Schüler (ca. 27%) zeigt im privaten Bereich eine starke Orientierung an der Mehrheitskultur und nur eine recht geringe Orientierung an ihrer Herkunftskultur „also, wir feiern schon Weihnachten ... also, ich kenn die [iranischen Feste] eigentlich nicht“. Im öffentlichen Lebensbereich weist die Mehrheit (60%) dagegen eine starke Orientierung an der Mehrheitskultur auf und gibt an, „lieber deutsch“ sein zu wollen. Einige dieser Schülerinnen und Schüler scheinen sich von ihrer Herkunftskultur recht stark zu distanzieren: „Ich hab halt irgendwie das Gefühl, wenn ich das machen würde [Sachen aus dem Land mitbringen], würden die anderen denken, die gibt mit ihrem Land an... Ich wollt‘s halt vermeiden, dass die wirklich sowas denken könnten“

oder „Also z. B. manche hier, also Türken, die tun so, als ob sie die coolsten überhaupt wären. Das mag ich gar nicht.“ Nur ein kleiner Teil (13%) zeigt eine hohe Orientierung an der eigenen Herkunftskultur und äußert, dass es „eigentlich ein schönes Gefühl“ sei, über den eigenen Migrationshintergrund zu sprechen und es etwas „Gutes“ und von „Vorteil“ in der Schule sei, aus einem anderen Land zu kommen. Ein

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knappes Drittel (27%) scheint sich zwar an beiden Kulturen zu orientieren, allerdings nur zu einem mittleren Ausmaß. Diese Schülerinnen und Schüler zeigen keine klare Tendenz innerhalb einer Orientierung. So sind sie einerseits stolz, wenn sie über ihre ethnische Herkunft gefragt werden, fühlen sich aber andererseits auch unwohl, da sie beispielsweise zu Beginn „ganz anders gekleidet“ gewesen seien und spüren, dass sie „eigentlich anders“ sind. Es fällt auf, dass sich insgesamt die Zahl der Kinder, denen die Aneignung der Mehrheitskultur sehr wichtig ist, zwischen privatem und öffentlichem Bereich kaum verändert (fast zwei Drittel in beiden Bereichen; siehe Abbildung 3). Was sich allerdings sehr stark unterscheidet ist die Orientierung zur Herkunftskultur: Während dies im privaten Bereich für über zwei Drittel der Kinder sehr wichtig ist und sie sich auch emotional damit identifizieren wie z. B. „[D]ann nimmt man einfach des Koran und liest ein paar Seiten und dann tut man, keine Ahnung, dann fällt ein Stein von Herzen oder so. Das find ich gut dann immer. Weil immer wenn ich irgendwie bedrückt bin oder traurig bin, dann tu ich immer ein zwei Seiten lesen“, geben nur 13 Prozent an, diese Orientierung auch im öffentlichen Bereich zu zeigen und Gefühle wie „Also ähm, ich hab schon ein bisschen stolz, dass ich auch das andere Land so gut kenne und sonst ist es eigentlich ganz normal“ zu äußern. Die stärkere Orientierung an der Herkunftskultur im privaten Lebensbereich dient hinsichtlich der psychologischen Ergebnisse offensichtlich als emotionale Unterstützung. Viele Kinder wechseln von einer tendenziell separativen Orientierung im privaten Bereich zu einer tendenziell assimilativen Haltung im öffentlichen Bereich. Während es im privaten Bereich auch Kinder gibt, die eine Tendenz zur Integration zeigen (also einen ebenso starken Bezug zur Herkunfts- wie zur Mehrheitskultur haben), gibt es dieses Muster im öffentlichen Bereich überhaupt nicht bzw. wesentlich schwächer. Einige dieser Kinder assimilieren sich in der Schule stärker wie z. B. „Ich bin ja, eigentlich auch deutsch, meine Eltern sind ja nur aus dem Ausland“ oder „Ja, weil halt, türkisch ist halt wichtiger, aber dass ich halt auf die Realschule komme, hat meine Mutter gesagt, dass ich mich halt auf Diktat und solche Sachen halt konzentrieren soll“.

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Letztere Aussage weist auf den funktionellen Aspekt der assimilativen Tendenz hin, der – im Gegensatz zur stärkeren Orientierung an der Herkunftskultur im privaten Bereich – im Zusammenhang mit den soziokulturellen Ergebnissen im öffentlichen Lebensbereich steht. Andere identifizieren sich mit beiden Kulturen weniger „Ich bin nicht stolz, aber auch nicht egal. Also mir macht‘s nichts aus“ und rutschen so ins Mittelfeld des Schaubilds. Letzteres ist als solches nicht unbedingt bedenklich, kann es aber werden, wenn sich die Kinder noch mehr von beiden Kulturen distanzieren und eine Marginalisierungstendenz aufweisen. Privater Lebensbereich (zu Hause)

18%

27%

9%

18%

Aneignung der Mehrheitskultur

13%

Beibehalten der Herkunftskultur

Beibehalten der Herkunftskultur

18%

Öffentlicher Lebensbereich (in der Schule)

29%

29%

29%

Orientierung an Herkunftskultur im öffentlichen Bereich schwächer

Aneignung der Mehrheitskultur

Abb. 3: Verteilung der Schülerinnen und Schüler bezüglich ihrer Akkulturationsorientierungen im privaten und öffentlichen Lebensbereich. Quelle: Eigene Darstellung.

Mögliche Ursachen für diese Verschiebung können eine hohe wahrgenommene kulturelle Distanz, Diskriminierungserfahrungen sowie eine Anpassung an die Erwartungen im jeweiligen Umfeld sein. Zunächst einmal ist auffällig, dass diese Verschiebung hauptsächlich auf Schülerinnen und Schüler mit einem Migrationshintergrund aus Ländern zutrifft, die eine hohe, objektive kulturelle Distanz aufweisen, wie z. B. Türkei, Marokko, Eritrea und Vietnam (Schwartz 2004). Aber auch die subjektiv wahrgenommene Distanz scheint eine Rolle zu spielen: Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler, die eine hohe kulturelle Distanz bezogen auf die Religion wie „Türken tragen halt ein Kopftuch“, auf Autorität wie „[Meine Eltern sind] sehr strenger“ und Lebensstil wie „Also, wir sind mehr verbunden an unsere Familie“ wahrnehmen, zeigt eine mittlere bis hohe Orientierung an der Herkunftskultur und nur eine geringe bis mittlere Orientierung an der Mehrheitskultur. Eine Ausnahme stellt eine Schülerin dar, die eine mittlere Orientierung an der Herkunftskultur und eine starke Orientierung an der Mehrheitskultur aufweist. Interessant ist, dass sie die wahrgenom-

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mene kulturelle Distanz bezogen auf die Autorität und Strenge ihrer Eltern im Vergleich zu den anderen Mitschülerinnen und Mitschülern als „gemein“ bewertet und somit durchaus einen Konflikt mit der Herkunftskultur bzw. zwischen den beiden Kulturen wahrnimmt. Eine hohe kulturelle Distanz zwischen der Herkunftskultur bzw. der im Elternhaus gelebten Kultur und der deutschen Kultur nimmt die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler wahr, die zugleich im öffentlichen Bereich über negative Erfahrungen sowie einen niedrigen sozialen Status ihrer ethnischen Gruppe berichten. Im Zusammenhang mit den Akkulturationsorientierungen im jeweiligen Bereich fällt auf, dass diejenigen, die im öffentlichen Lebensbereich eine hohe Tendenz aufweisen, ihre ethnische Kultur aufrechtzuerhalten (13%), weder über negative Erfahrungen bezüglich ihrer ethnischen Herkunft noch über einen geringen sozialen Status ihrer eigenen ethnischen Gruppe berichten. Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler (87%) berichten dagegen darüber, dass „die mit Migrationshintergründen eigentlich mehr Außenseiter sind“ und dass deutsche Mitschülerinnen und Mitschüler Aussagen wie „Scheiß Ausländer und so“ äußern und dass sie eher „schlechte Sachen“ über das Herkunftsland wissen. Bezüglich des sozialen Status der ethnischen Gruppe sind insbesondere die Türken stark stigmatisiert bzw. haben einen niedrigen wahrgenommenen Status. So äußern sich z. B. nicht-türkische Migranten aus dem Gymnasium und der Hauptschule häufig negativ über Türken wie „Naja, die Türken sind nicht immer freundlich“ und distanzieren sich von ihnen: „Überhaupt ich geb mich nicht so gerne mit Türken ab, weil die sind meistens so aggressiv und auch ein bisschen seltsam und so.“ Sowohl das Erleben negativer Erfahrungen als auch ein als gering wahrgenommener sozialer Status gehen im Vergleich zum privaten Bereich im öffentlichen Bereich mit einer geringeren Orientierung an der Herkunftskultur einher. Gleichzeitig zeigt die Mehrheit dieser Schülerinnen und Schüler eine stärkere oder mindestens gleichbleibend hohe Orientierung an der Mehrheitskultur. Hinzu kommt, dass die meisten Kinder in der Schule starke Assimilationserwartungen bzw. eine Ignoranz der kulturellen Hintergründe der Schüler wahrnehmen: 80 Prozent aller Schülerinnen und Schüler schätzen das Interesse ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler bezüglich ihrer ethnischen Herkunft als gering ein. Im Unterricht sei zudem seitens der Lehrerinnen und Lehrer generell bisher wenig über verschiedene Kulturen gesprochen worden. So berichtet ein Schüler, dass „wir bis jetzt nichts gemacht [haben], also über mein Land und so.“ Dennoch würden sich nahezu alle Schülerinnen und

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Schüler unabhängig von ihren Akkulturationsorientierungen wünschen, dass kulturelle Vielfalt stärker im Unterricht behandelt wird und Wissen über das eigene und andere Länder vermittelt wird. Die Äußerungen hierzu sind sehr emotional wie „Ja, also, des fänd‘ ich toll“ oder „Eh, cool, weil es gibt ja nicht so oft irgendwas aus dem Iran und das ist dann schon interessant“ oder auch „[w]eil irgendwie find‘ ich‘s auch unfair, dass die über manche Länder Bescheid wissen, aber nicht über alle. Weil es gibt ja, zum Beispiel über Deutschland wissen ja deutsche Lehrer ganz viel, aber über ausländische Länder wissen sie nicht so viel, über Türkei zum Beispiel. Wenn schon die Hauptstadt, aber des nützt ja auch keinem“.

Auch hinsichtlich des Schultyps zeigen sich Unterschiede: Während es im Gymnasium kein Kind gibt, was im privaten Bereich eine separative Tendenz zeigt, findet sich diese Haltung bei ca. 80 Prozent der Hauptschüler. Im öffentlichen Bereich gibt es dagegen kaum Unterschiede zwischen Gymnasiasten und Hauptschülern – beide zeigen tendenziell eine assimilative bzw. integrative Haltung. Hauptschüler alternieren also stärker zwischen privatem und öffentlichem Bereich im Hinblick auf ihre Akkulturationsorientierungen. 4.

Diskussion

Zunächst konnte gezeigt werden, dass die Kinder bereits in der frühen Adoleszenz ein ethnisches Zugehörigkeitsgefühl äußern. Im privaten Bereich steht dies hauptsächlich mit dem Feiern kultureller Feste, dem Ausüben religiöser Praktiken, typischen Speisen aus dem Herkunftsland oder aus Deutschland sowie dem Sprachgebrauch in Zusammenhang. Im öffentlichen Bereich findet die ethnische Identität dagegen Ausdruck über das Zusammensein mit deutschen Kindern oder mit anderen Kindern der gleichen ethnischen Gruppe, die Suche nach Hilfe bei Schulaufgaben und emotionalen Problemen bei den deutschen Kindern oder in der eigenen Gruppe sowie über das subjektive Zugehörigkeitsgefühl auf die Frage nach ihrer Herkunft. Kulturelle Unterschiede nehmen die Kinder hauptsächlich hinsichtlich religiöser Aspekte, Autorität (z. B. in der Eltern-Kind-Beziehung) und Lebensstil wahr. Die meisten Schülerinnen und Schüler weisen zudem Unterschiede hinsichtlich ihrer Akkulturationsorientierungen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Lebensbereich auf. Die Akkulturationsorientierungen scheinen also bereits in dieser Altersgruppe domänenspezifisch zu sein (Arends-Tóth / Van de Vijver 2003). Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler identifiziert sich im privaten Lebensbereich stärker mit der Herkunftskultur als im öffentlichen Bereich. Selbst bei Kindern, die im privaten Bereich eine eher integrative Haltung 109

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haben, zeigt sich diese Tendenz. Wie könnte man dies erklären? Es fällt auf, dass die Schülerinnen und Schüler verstärkt dieses Muster zeigen, die über Diskriminierungserfahrungen berichten, große kulturelle Unterschiede bezogen auf Lebensstil und kulturelle bzw. religiöse Werte wahrnehmen und im öffentlichen Lebensbereich Ignoranz bzw. Assimilationserwartungen begegnen. Der Zusammenhang zwischen wahrgenommener Diskriminierung sowie negativen Erfahrungen im allgemeinen, z. B. indem die Kinder von Klassenkameraden gehänselt werden oder das Gefühl haben, von den Lehrern aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt zu werden, und einer Assimilationstendenz im öffentlichen Bereich bestätigt die Befunden aus quantitativen Studien mit Erwachsenen (Schalk-Soekar et al. 2004). Andere Studien, die nicht zwischen privatem und öffentlichem Bereich unterscheiden, zeigen jedoch, dass Diskriminierung auch zu Separation führen kann (Schachner / Van de Vijver / Noack 2011b, Jackson / Van de Vijver / Burckhard 2011). In der Tat ist es möglich, dass Menschen, die im öffentlichen Bereich mit Diskriminierung konfrontiert werden und sich daraufhin stärker anpassen, dies durch eine separative Haltung im privaten Bereich ausgleichen bzw. sich in der ethnischen Gemeinschaft und der Familie emotionale Unterstützung zu holen. Eine solche Kompensationstendenz über die Bereiche hinweg zeigt sich auch in unserer Studie. Zukünftige quantitative Studien sollten daher Akkulturationsorientierungen bereichsspezifisch messen, um frühere widersprüchliche Befunde zu klären. Auch der Zusammenhang zwischen einer höheren Orientierung an der ethnischen Kultur und höherer wahrgenommener kultureller Distanz bestätigt die Ergebnisse aus quantitativen Studien (z. B. Redmond / Bunyi 1993, Galchenko / Van de Vijver 2007), auch wenn die Unterscheidung nach Lebensbereichen in dieser Studie zeigt, dass sich dies vor allem im privaten Bereich auswirkt. Zudem sprechen die Befunde aus dieser qualitativen Studie dafür, dass nicht nur die kulturelle Distanz an sich eine Rolle spielt, sondern auch die subjektive Bewertung der wahrgenommenen Unterschiede. So kann bei gleicher wahrgenommener Distanz die Situation offenbar als unterschiedlich konflikthaft empfunden werden. Jedoch ist anzumerken, dass in dieser Altersgruppe nicht nur der Kulturkonflikt eine Rolle spielt, sondern auch ein möglicher Generationenkonflikt mit den Eltern, der durch kulturelle Unterschiede noch verstärkt werden kann. Im Sinne eines Feedbackloops im Modell (siehe Abbildung 1) ist es auch möglich, dass eine starke Orientierung zur Mehrheitskultur dazu führt, dass mehr Distanz und auch mehr Konflikte zwischen den

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Kulturen wahrgenommen werden, was wiederum zu einer Verstärkung der Mehrheitsorientierung führt, um sich von der eigenen Herkunft abzugrenzen – und vom Elternhaus zu lösen. Wahrgenommene Konflikte zwischen der Orientierung an der Herkunftskultur und der Orientierung an der Kultur der Mehrheitsgesellschaft hängen zudem stark mit den Erwartungen im jeweiligen Umfeld zusammen. Nahezu alle Schülerinnen und Schüler äußerten im Interview den Wunsch nach mehr Möglichkeiten, um in der Schule ihre Herkunftskultur einzubringen bzw. diese zu leben – und zwar unabhängig von ihren Akkulturationsorientierungen. Die starke Assimilationstendenz im öffentlichen Bereich scheint also zum großen Teil eine Anpassung an die in der Schule vorherrschenden Erwartungen zu sein. Auffällig ist außerdem, dass im privaten Lebensbereich nur Hauptschülerinnen und Hauptschüler Separation zeigen und Gymnasiastinnen und Gymnasiasten tendenziell eher Integration oder Assimilation. Es liegt nahe, dass es sich hier um einen Selektionseffekt dahingehend handelt, dass Kinder, in deren Elternhaus geringer Wert auf das Aneignen der deutschen Kultur gelegt wird, bereits in der Vor- und Grundschulzeit soziokulturell weniger angepasst sind (z. B. indem sie geringere Deutschkenntnisse haben und weniger Erfahrung im Umgang mit Deutschen) und somit geringere Chancen haben eine Gymnasialempfehlung zu bekommen. Hinsichtlich der Orientierung im öffentlichen Bereich zeigen sich jedoch kaum Unterschiede zwischen Hauptschülern und Gymnasiasten. Insgesamt neigen die Hauptschüler in unserer Studie also im Vergleich zu den Gymnasiasten verstärkt zur Alternation zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich. Um im jeweiligen Umfeld nicht anzuecken und die negativen Konsequenzen einer nicht erwartungskonformen Orientierung im jeweiligen Bereich zu vermeiden (Zagefka / Brown 2002), bleibt oft als einzige Möglichkeit, sich kontext- bzw. domänenspezifisch anzupassen (Arends-Tóth / Van de Vijver 2003) – zu Hause an die dort gelebte Kultur und die Erwartungen der Eltern und in der Schule an die deutsche Mehrheitskultur und die Erwartungen der Lehrer und Mitschüler. Obwohl sich die Kinder mit beiden Kulturen identifizieren, sehen sie ihre beiden Identitäten bzw. die Orientierungen zu den beiden Kulturen nicht als vereinbar an (Benet-Martínez / Haritatos 2005), sondern variieren sie je nach Situation und Kontext. Diese qualitative Studie konnte zeigen, dass bereits Kinder im Alter von 10 Jahren Konflikte zwischen der Herkunftskultur und der deutschen Kultur wahrnehmen, die nicht unbedingt der wahrgenommenen kulturellen Distanz entsprechen müssen, sondern auch andere Ursachen wie z. B.

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wahrgenommene Diskriminierung im öffentlichen Bereich und eine Anpassung an die Erwartung der anderen im jeweiligen Kontext haben können. Als Folge neigen bereits Kinder diesen Alters zur Alternation (Phinney / Devich-Navarro 1997) oder Kompartimentierung (Roccas / Brewer 2002) ihrer ethnischen Identitäten. Doch wie wirkt sich eine solche Alternation aus? Es ist möglich, dass der wahrgenommene Konflikt und die damit verbundene Alternation zwischen dem privaten und dem öffentlichem Bereich ihrerseits vorhandene Anpassungsprobleme – sowohl psychologischer als auch soziokultureller Natur – noch verstärken, indem sie kognitive Ressourcen verbrauchen und Stress verursachen. Es kann so leicht ein Teufelskreis entstehen, in dem die Schülerinnen und Schüler stets versuchen, den wahrgenommen Erwartungen im jeweiligen Kontext gerecht zu werden, was das Gefühl der Unvereinbarkeit der verschiedenen Kulturen und den damit verbundenen inneren Konflikt noch verstärkt. Natürlich kann eine stärkere Orientierung zur Herkunfts- und zur Mehrheitskultur im jeweiligen Kontext auch zielführend sein: Im Schulkontext stehen primär soziokulturelle Akkulturationsziele oder -ergebnisse im Vordergrund, wobei eine assimilative Strategie einen Vorteil darstellen kann (Baysu / Phalet / Brown 2011). Zu Hause dagegen werden primär psychologische Ziele verfolgt. Frühere Studien haben gezeigt, dass hierfür eher die Orientierung an der Herkunftskultur wichtig ist (Arends-Tóth / Van de Vijver 2006b, Sam et al. 2006). Trotz allem bleibt jedoch zu bedenken, dass sich eine solche Zerrissenheit auf Dauer negativ auswirken kann. Ein Ausgleich der Orientierungen zur Herkunftskultur und der Kultur des Aufnahmelandes über verschiedene Lebensbereiche hinweg sollte daher wohl nur eine (temporäre) Notlösung und kein erwünschtes Ergebnis sein. Im Hinblick auf die Akkulturationsforschung im Allgemeinen zeigt unsere Studie, dass es wichtig ist, Akkulturationsorientierungen domänenspezifisch zu betrachten, um den Akkulturationsprozess besser zu verstehen. Nur durch eine domänenspezifische Betrachtung von ethnischer Identität bzw. Akkulturationsorientierungen können widersprüchliche Befunde aus quantitativen Studien geklärt und die Wirkweise von verschiedenen Akkulturationsbedingungen verstanden werden. In Bezug auf mögliche Gründe für eine Alternation der ethnischen Identität bzw. Akkulturationsorientierung über Lebensbereiche hinweg konnte diese Studie vorherige Studien teils bestätigen und teils ergänzen, jedoch bleiben weiterhin viele Fragen offen, die in zukünftigen Studien bearbeitet werden sollten. Auch mit den Konsequenzen von Alternation im Hinblick auf die Akkulturationsergebnisse sollte sich zukünftige

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Forschung verstärkt auseinander setzen. Es sollte insbesondere geprüft werden, inwiefern sich Integration, die durch einen Wechsel zwischen Assimilation im öffentlichen und Separation im privaten Bereich entsteht, in ihren Auswirkungen von einer echten Integration über alle Lebensbereiche hinweg unterscheidet. Weiterhin hat unsere Studie, gezeigt, dass eine domänenspezifische Betrachtung von Akkulturationsorientierungen auch oder vielleicht besonders für Kinder und Jugendliche wichtig ist, die noch stark im Elternhaus eingebunden sind und sich die Kontexte, in denen die Erwartungen zu ihren eigenen Orientierungen passen würden, noch nicht so frei wählen können und sich auch weniger von den Erwartungen in ihrem Umfeld abgrenzen können, wie es vielleicht für Erwachsene der Fall ist. Aber auch in Studien mit Erwachsenen sowie in der Praxis sollte darauf geachtet werden, die Orientierungen in verschiedenen Lebensbereichen und ihr Zusammenwirken im Blick zu haben. Wann immer der Vorwurf der Separation in Parallelgesellschaften gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund laut wird, wie es in den Medien in letzter Zeit gehäuft der Fall ist, sollte man sich gleichzeitig fragen, inwiefern der hohe Anpassungsdruck und die Diskriminierungserfahrungen, denen viele dieser Menschen im öffentlichen Bereich ausgesetzt sind, dazu beigetragen haben. Im Umkehrschluss sollten möglichst früh – bereits im Kindergarten und in der Grundschule – präventive Maßnahmen und Interventionen in Betracht gezogen werden, die Menschen mit Migrationshintergrund auch im öffentlichen Bereich Raum geben, ihre Herkunftskultur zu leben, ohne dass dies von der Mehrheitskultur als Ablehnung oder Abgrenzung von der deutschen Kultur verstanden wird. Literatur Arends-Tòth, J. / Van de Vijver, F. J. (2003): Multiculturalism and acculturation: Views of Dutch and Turkish-Dutch. European Journal of Social Psychology 33(2), S. 249-266. Arends-Tóth, J. / Van de Vijver, F. J. (2006a): Assessment of psychological acculturation. In: Sam, D. L. / Berry, J. W. (Hrsg.): The camebridge handbook of acculturation psychology. New York: Cambridge University Press, S. 142-162. Arends-Tóth, J. / Van de Vijver, F. J. (2006b): Issues in the conceptualization and assessment of acculturation. In: Bornstein, M. H. / Cote, L. R. (Hrsg.): Acculturation and parent child relationships: Measurement and development. Mahwah, NJ: Erlbaum, S. 33-62. Arends-Tóth, J. / Van de Vijver, F. J. (2009): Cultural differences in family, marital and gender-role values among immigrants and majority members in the Netherlands. International Journal of Psychology 44(3), S. 161-169.

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Die Erhebung dieser Daten wurde durch das ProexzellenzProgramm des Freistaates Thüringen bei der Graduate School for Human Behaviour in Social and Economic Change an der Friedrich-Schiller-Universität Jena finanziert.

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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen

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intercultural research on business psychology using the example of organizational attitudes] Karsten Müller Prof. Dr., Professur für Arbeitsund Organisationspsychologie mit Schwerpunkt Interkulturelle Wirtschaftspsychologie, Universität Osnabrück.

Regina Kempen Dipl. Psych., Professur für Arbeitsund Organisationspsychologie mit Schwerpunkt Interkulturelle Wirtschaftspsychologie,Universität Osnabrück.

Tammo Straatmann Dipl. Psych., Professur für Arbeitsund Organisationspsychologie mit Schwerpunkt Interkulturelle Wirtschaftspsychologie,Universität Osnabrück.

Abstract [English] The following article examines methodological challenges in cross-cultural business psychology using the example of research on organizational attitudes. In a first step, crosscultural business psychology research is being positioned between the poles of holistic versus analytic research perspectives. A description and example-based illustration of specific challenges for research associated with the analytical perspective and possible solutions follow. These challenges apply to the specification of the research question, a clear reference to cultural variables, the control of alternative explanations and the test of measurement equivalence. The article concludes with an outlook on future developments in cross-cultural research, which aim at merging the two research perspectives by means of new research approaches. Keywords: Intercultural business psychology, intercultural methods, organizational attitudes, measurement equivalence, control of alternative explanations Abstract [Deutsch] Der folgende Beitrag beleuchtet methodische Herausforderungen der interkulturellen Wirtschaftspsychologie am Beispiel der Forschung zu organisationalen Einstellungen. Zunächst wird dabei die Forschung im Bereich der interkulturellen Wirtschaftspsychologie innerhalb der Extrempole einer holistischen bzw. einer analytischen Forschungsperspektive verortet. Im Anschluss daran werden spezifische, mit der analytischen Perspektive assoziierte Herausforderungen der Forschung, sowie mögliche Lösungsansätze dargestellt und anhand von Beispielen erläutert. Diese Herausforderungen betreffen insbesondere die Explizierung der Art der Fragestellung, die Spezifizierung des Bezugs zu kulturellen Variablen, die Kontrolle von potentiellen Alternativerklärungen und die Überprüfung der Messäquivalenz. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf zukünftige Entwicklungen der interkulturellen Forschung, welche die verschiedenen Forschungsperspektiven mit Hilfe neuer Ansätze zu vereinen versucht. Stichworte: Interkulturelle Wirtschaftspsychologie, interkulturelle Methoden, organisationale Einstellungen, Messäquivalenz, Kontrolle von Alternativerklärungen

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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen

1.

Bedeutung von Methoden in der interkulturellen Wirtschaftspsychologie

Im Kontext der interkulturellen arbeits- und organisationspsychologischen Forschung kommt methodischen Problemen und Herangehensweisen eine besondere Bedeutung zu. So konstatiert Berry (1997:1): „Die meisten Gebiete der psychologischen Forschung sind über ihren Inhalt definiert; interkulturelle Psychologie hingegen ist primär definiert über ihre Methode“. Diese methodischen Probleme betreffen dabei insbesondere den Vergleich unterschiedlicher kultureller Gruppen. So sind in der interkulturellen Forschung häufig vielfältige alternative, nicht primär kulturell bedingte Erklärungsmöglichkeiten für identifizierte Unterschiede zwischen Gruppen anzunehmen. Alternative Erklärungsansätze auszuschließen stellt damit eine zentrale Herausforderung für Forschungsansätze und -designs der interkulturellen Psychologie dar (Brett / Tinsley / Janssens / Barsness / Lytle 1997). Triandis (1994) fordert diesbezüglich gar, Anstrengungen zur Untersuchung kultureller Unterschiede zu unterlassen, falls nicht ausreichend Ressourcen zur Kontrolle alternativer Erklärungsansätze zur Verfügung stehen. Diese Aussage stellt sicherlich eine eher pessimistische Einschätzung der Forschungsperspektiven im Bereich der interkulturellen Psychologie dar. Allerdings macht sie die zentrale Bedeutung methodischer Fragestellungen in diesem Anwendungsfeld deutlich. Der folgende Beitrag möchte zunächst die Position der Forschung zur interkulturellen Wirtschaftspsychologie innerhalb unterschiedlicher interkultureller Forschungsstrategien verorten. Im Anschluss daran werden einzelne Herausforderungen der Forschung im Bereich der interkulturellen Wirtschaftspsychologie beschrieben. Anhand von Beispielen werden deren Bedeutung, sowie mögliche Lösungsansätze vorgestellt. 2.

Interkulturelle Forschung – ein multidimensionales Feld

Fragen der methodischen Herangehensweise im Bereich der interkulturellen Arbeits- und Organisationspsychologie betreffen in zentraler Weise den zu Grunde gelegten Kulturbegriff. Im Folgenden soll daher das multidimensionale Feld der interkulturellen Forschung dargestellt und Forschungsansätze der interkulturellen Arbeits- und Organisationspsychologie darin verortet werden. Betrachtet man die gängigen Forschungsparadigmen der psychologischen Kulturforschung, so lässt sich eine Dichotomie feststellen, deren unterschiedliche Ausprägungen als holistische bzw. analytische Perspektive bezeichnet werden können.

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Diese Einteilung ähnelt frühen konträren Perspektiven der Persönlichkeitsforschung. Hier wurde Persönlichkeit zum Beispiel von einigen Forschern als idiosynkratrische unique Eigenschaftszusammensetzung einer Person konzeptualisiert. Andere Forscher hingegen betonten die Notwendigkeit und Suche von personenübergreifenden Dimensionen der Persönlichkeit (z. B. Big Five, McCrae / Costa 1987) zur generellen Beschreibung von Personen (Herrmann 1991). Auch in der interkulturellen Forschung findet sich eine ähnliche Dichotomie von Extrempositionen bei unterschiedlichen Autoren. So sprechen etwa House, Wright und Aditya (1997) von deskriptiven und explikativen Kulturkonzepten, welche sie normativen und erfahrungsbasierten Konzepten gegenüberstellen. Triandis (1980:2) beschreibt in ähnlicher Weise eine Dichotomie von „physical and subjective culture“. Ausgehend von den hier gewählten Bezeichnungen holistisch und analytisch sollen die verschiedenen Forschungsansätze und ihre Implikationen für die methodische Herangehensweise nun näher beschrieben werden. Dabei sollte jedoch beachtet werden, dass es sich bei den vorgestellten Ansätzen jeweils um Extrempositionen handelt. Vielfältige Mischformen der beschriebenen Herangehensweisen sind möglich und werden in unterschiedlicher Form praktiziert. Am Ende dieses Beitrages wird noch einmal auf die Frage eingegangen, welche Möglichkeiten bestehen, die verschiedenen Perspektiven zu integrieren. 2.1

Holistische Perspektive als Extrempol

Der hier als holistisch bezeichneten Perspektive liegt ein Kulturbegriff zu Grunde, welcher nach der bekannten Kulturdefinition von Herskovits (1948:17) auch als „the man-made part of the human environment“ bezeichnet werden kann. Bestandteile von Kultur sind in dieser Perspektive neben Wissen, Werten, Überzeugungen und Bräuchen u. a. auch institutionelle Strukturen, Gesetze, Kunst und materielle Manifestationen. Kultur kann in dieser Auffassung mit Kroeber und Kluckhohn (1952:85) auch als „comprehensive totality“ begriffen werden. Entsprechend fungiert Kultur als Zeichen-, Wissens-, Regel- und Symbolsystem, welches das Fundament des Handlungsraumes von Menschen bildet. Im Kontext der Psychologie spiegelt sich diese Perspektive in der Kulturpsychologie anthropologischer Prägung wider. Sie versteht den Kulturbegriff als einen holistischen Zusammenhang kollektiver Lebenswelten und strebt eine umfassende Beschreibung sowie ein tiefgehendes Verständnis der entsprechenden Lebenswelten in Beziehung zu ihrer sinngebenden Bedeutung an. Die Betonung liegt dabei auf beobachtbaren, manifesten Eigenschaften. In der Kulturpsychologie resultieren aus dieser Perspektive weitreichende Implikationen für die methodische Herangehensweise innerhalb der Forschung. Im Rahmen der 119

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Unterscheidung zwischen einem so genannten EticForschungsansatz und einem so genannten Emic-Forschungsansatz lässt sich die holistische Perspektive klar dem EmicForschungsansatz zuordnen. Da dieser von einer kulturellen Spezifität beobachteter Phänomene ausgeht, fordert ein solcher Forschungsansatz die Beschreibung einer Kultur aus der internen Perspektive und in ihren jeweils eigenen Begriffen. Mit der hier als holistisch bezeichneten Perspektive ist für die Forschung zudem eine induktive und interpretative Herangehensweise assoziiert, welche sich primär qualitativer Methoden bedient. Ziel der Forschung aus holistischer Perspektive ist die Identifizierung von Unterschieden zwischen Individuen und Gruppen. 2.2

Typische Kritik aus analytischer Perspektive

Häufige Kritik an der hier beschriebenen Perspektive und der mit ihr verbundenen methodischen Herangehensweise betrifft das weite, oft diffus erscheinende Verständnis von Kultur. Ajiferuke und Boddewyn (1970) merken diesbezüglich an, dass Kultur ein Konzept sei, welches eine Vielzahl unspezifischer Einflüsse repräsentiere. Child (1981) geht noch einen Schritt weiter und bezeichnet die Verwendung des Konzeptes Kultur als eine Ausrede für intellektuelle Faulheit, welche Unterschiede lediglich paraphrasiert. Kultur ist allumfassend und verliert damit deutlich an Erklärungs- und Prognosewert. Kultur werde nicht selten als Umbrellakonzept und nicht näher spezifizierter Residualfaktor verwendet. Der naive Umgang mit dem Kulturbegriff resultiert demnach häufig in unzureichenden Forschungsansätzen zur Beschreibung, zur bedeutungsvollen Erklärung und zur Prognose von Unterschieden zwischen Gruppen. 2.3

Analytische Perspektive als Extrempol

Der holistischen Perspektive als Extrempol diametral entgegengesetzt steht die hier als analytisch bezeichnete Perspektive. Dieser Perspektive liegt ein Kulturbegriff zu Grunde, welcher mit House et al. (1997) auch als das Teilen zentraler Werte, Normen, Verhaltensweisen und Annahmen bezeichnet werden kann. Der Fokus liegt demnach stärker auf latenten, psychologischen Eigenschaften der zu betrachtenden Individuen. Zentrales Anliegen der analytischen Perspektive ist es, den Kulturbegriff im Sinne einer analytischen Betrachtung zu entpacken. Dies impliziert, kulturelle Einflüsse auf einzelne kulturelle Wertedimensionen zurückzuführen (z. B. Hofstede 2001, House et al. 1997, Schwartz 1994). So liegt ihr Ziel darin, spezifische kulturelle Einflussgrößen zu identifizieren und diese zu Vorhersage und Erklärung psychologischer Gemeinsamkeiten oder Unterschiede heranzuziehen. Im Kontext der

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Psychologie findet diese Perspektive häufig in interkulturellpsychologischen Ansätzen ihre Entsprechung. Als Implikation für die Forschung ergibt sich damit zunächst eine stärkere Einordnung in den so genannten Etic-Ansatz. Dieser stellt die Universalität kultureller Phänomene in den Vordergrund und zielt darauf ab, Kulturen in Hinblick auf das interessierende Phänomen zu vergleichen. Eine weitere Implikation betrifft die Einnahme einer positivistischen Perspektive, welche das durch die Erfahrung Gegebene betont. Die Forschung im Rahmen des analytischen Ansatzes basiert auf deduktiven Prozessen und bedient sich primär quantitativer Methoden. Ziel der Forschung aus analytischer Perspektive ist es, einen erklärenden und prädiktiven Beitrag zu psychologischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Individuen und Gruppen zu liefern. 2.4

Verortung der interkulturellen Wirtschaftspsychologie

Wie diese Aufstellung deutlich macht, bestimmt das Verständnis des Kulturbegriffs in entscheidender Weise die Ziele der Forschung, ihre methodische Herangehensweise und die Generalisierbarkeit der Ergebnisse. Für die Forschung im Bereich der interkulturellen Arbeits- und Organisationspsychologie gilt somit, zunächst das zu Grunde liegende Verständnis von Kultur klar zu definieren. In den Begriffen des oben aufgezeigten multidimensionalen Feldes basiert die hier zu beschreibende Forschung weitestgehend auf der analytischen Perspektive, wenngleich ein Bewusstsein für die Argumente und die Herangehensweise der holistischen Perspektive gegeben ist. Es sei darauf hingewiesen, dass der Begriff interkulturell hier vor allem in Hinblick auf eine national-kulturelle Perspektive bezogen ist, unter der Konstatierung, dass Kultur auf verschiedenen Gruppenebenen existiert. Am Beispiel der Forschung zu organisationalen Einstellungen sollen nun die mit der analytischen Perspektive verbundenen methodischen Herausforderungen und mögliche Lösungsansätze dargestellt werden. 3.

Probleme und Lösungsansätze – am Beispiel organisationaler Einstellungen

Zentrale Herausforderungen der interkulturellen Forschung zu organisationalen Einstellungen, die mit der analytischen Perspektive assoziiert sind, werden im Folgenden in Form eines Schaubildes vorgestellt (Abbildung 1). Im Anschluss daran erfolgt die Erläuterung möglicher Lösungen und konkreter Vorgehensweisen anhand von Beispielen.

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Zur Identifikation von Unterschieden zwischen kulturellen Gruppen kommt zunächst der Präzisierung der Art der Fragestellung eine besondere Bedeutung zu (1). Zudem sollten kulturelle Einflüsse durch den klaren Bezug zu kulturellen Variablen präzisiert werden (2). Eine weitere Herausforderung stellt die Kontrolle von alternativen Erklärungen (z. B. durch Einflüsse nationaler Kontextvariablen oder Eigenschaften der Stichproben) dar (3). Zusätzlich sollten Besonderheiten in Messung und Analyse, welche sich auf Konstrukte, Methoden und einzelne Items beziehen können, berücksichtigt werden (4). Rahmenmodell methodischer Herausforderungen interkultureller Forschung zu organisationalen Einstellungen 1 Explizierung der Fragestellung:  Typ I: Ausprägung  Typ II: Struktur  Typ III: Bedeutung

Messbedingte Verzerrungen

4

Überprüfen der Messäquivalenz, z.B. auf: Konstruktebene Methodenebene Itemebene

Kulturelle Einflüsse

Konkrete Spezifizierung in Bezug zu kulturellen Variablen: z.B. Hofstede   Schwartz  Globe

Unterschiede zwischen kulturellen Gruppen

Unterschiede in Bedingungen und Merkmalen

Kontrolle von Alternativerklärungen: Nationale Kontextvariablen  Ökologie  Bildung  Wirtschaft  Bevölkerung

Präzisierung der Art der Fragestellung interkultureller Forschung

Prinzipiell lässt sich in der interkulturellen Forschung zwischen ausprägungsorientierten und strukturorientierten Fragestellungen unterscheiden (van de Vijver / Leung 2000). Während sich ausprägungsorientierte Fragen mit dem kulturellen Einfluss auf die Höhe der Ausprägung bestimmter Konstrukte befassen, widmen sich strukturorientierte Ansätze der Frage, inwieweit Kultur die Beziehung zwischen bestimmten Konstrukten bzw. deren interne Struktur moderiert. In ähnlicher Weise unterscheiden Brett et al. (1997) sowie Lytle, Brett, Barsness, Tinsley und Janssens (1995) zwischen Typ-I-Frage-

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3

Kontrolle von Alternativerklärungen: Nationale Stichproben  Organisationsmerkmale  Arbeitstätigkeit  Soziodemografische -1Merkmale

Abb. 1: Herausforderungen der interkulturellen Forschung zu organisationalen Einstellungen. Quelle: Eigene Darstellung.

3.1

2

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stellungen und Typ-II-Fragestellungen interkultureller Forschung. Zusätzlich ergänzen diese Autoren die Beschreibung von Fragestellungen des Typs III. Bei diesem Typ der Fragestellung geht es darum, den Einfluss der Kultur auf die Bedeutung oder das Verständnis eines Konzeptes zu identifizieren. Bezogen auf die Forschung zu organisationalen Einstellungen leitet sich aus einem ausprägungsorientierten Ansatz (Typ-IHypothesen) die Frage nach interkulturellen Ähnlichkeiten und Unterschieden in der Höhe der Ausprägung der jeweiligen Konstrukte (z. B. Arbeitszufriedenheit, Commitment etc.) ab. Ein Beispiel würde die Frage betreffen, ob die Arbeitszufriedenheit in Japan stärker ausgeprägt ist als die Arbeitszufriedenheit in Deutschland. Die Berücksichtigung strukturorientierter Ansätze (Typ-IIHypothesen) resultiert in Bezug auf die Untersuchung organisationaler Einstellungen in der Frage nach der interkulturellen Generalisierbarkeit von Modellen und Theorien. Diesbezüglich könnte man sich fragen, ob der Zusammenhang von Arbeitszufriedenheit und Commitment in Japan ebenso stark ausgeprägt ist wie in Deutschland und ob bzw. welche moderierenden Variablen es in den verschiedenen Kulturen gibt. Fragestellungen des Typs III beinhalten für das Vorgehen in der Forschung sowohl die Integration von einer am Etic-Ansatz orientierten Herangehensweise, als auch die Berücksichtigung einer am Emic-Ansatz orientierten Herangehensweise. Als Beispiel nennen Brett et al. (1997) die Untersuchung des Einflusses einer Intervention der Führungskraft in einem organisationalen Konflikt und deren Auswirkung auf die Wahrnehmung der Fairness und der Zufriedenheit mit der Konfliktlösung in Mexiko und den USA. Die Bedeutung der konkreten Intervention wird dabei gesondert betrachtet. Bestimmte Verhaltensweisen der Führungskraft (z. B. autoritäre oder fördernde Verhaltensweisen) können als übergreifend im Sinne des Etic-Ansatzes verstanden werden, andere wiederum sollten im Sinne des Emic-Ansatzes kulturspezifisch betrachtet werden. So sind bei der Intervention einer Führungskraft in Mexiko beispielsweise paternalistische Verhaltensweisen relevant und sollten daher in die Untersuchung in Mexiko mit einbezogen werden. Im Sinne einer holistischen Untersuchung kultureller Einflüsse auf organisationale Einstellungen sollte die Forschungsfrage wünschenswerterweise sowohl Typ-I- als auch Typ-II- und Typ-III-Fragestellungen umfassen. Ein Beispiel zur Verbindung von Typ-I- und Typ-II-Fragestellungen findet sich bei Hattrup, Mueller und Aguirre (2008). In ihrer Untersuchung zur Generalisierbarkeit des Konzeptes des organisationalen Commitments integrieren die Autoren Fragestellungen zur Ausprägung von Commitment 123

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in unterschiedlichen Ländern mit der Überprüfung der Messäquivalenz von Instrumenten zur Erfassung von Commitment und der Untersuchung des Zusammenhangs von Commitment und Arbeitszufriedenheit. 3.2

Herstellung eines theoretischen Bezugs zu kulturellen Variablen

Eine weitere Herausforderung der interkulturellen Forschung zu organisationalen Einstellungen stellt die Präzisierung des theoretischen Bezugs zu kulturellen Variablen dar. Diese Herausforderung ist dementsprechend typisch für die analytische Perspektive des Entpackens von Kultur. Der Bezug zu kulturellen Variablen ist insofern von besonderer Bedeutung, da er unmittelbar mit den weiteren Herausforderungen der interkulturellen Forschung verknüpft ist und einen wichtigen Beitrag zur Kontrolle alternativer Erklärungen, zur Generalisierbarkeit der Befunde und dem damit einhergehenden interkulturellen Erkenntnisgewinn liefert. Die Präzisierung kultureller Variablen beinhaltet aus analytischer Perspektive in der Regel die Ableitung von Hypothesen mit Bezug zu spezifischen kulturellen Dimensionen oder Variablen. Diese Präzisierung umfasst also sowohl die Formulierung spezifischer kultureller Hypothesen, als auch die Einordnung der untersuchten Kulturen entlang bestimmter kultureller Charakteristika oder kultureller Dimensionen. Anschließend sollten diese Charakteristika auf Grundlage vorangegangener empirischer Untersuchungen oder Bezug nehmend auf umfassende, etablierte Rahmenmodelle kultureller Forschung (Hofstede 1980, Schwartz 1994, Smith / Dugan / Trompenaars 1996) mit dem zu untersuchenden Phänomen in Beziehung gesetzt werden (Berry 1997, Brett et al. 1997, Lytle et al. 1995). Die Vorhersage von Ergebnissen der untersuchten Kulturen in Bezug auf die betrachteten organisationalen Konstrukte wird somit erst durch die Spezifizierung des Einflusses bestimmter kultureller Charakteristika möglich. Folglich steigt die Zuverlässigkeit der Interpretation erhaltener Befunde im Sinne kultureller Unterschiede mit der Anzahl der untersuchten Kulturen entlang der kulturellen Dimensionen. Verhält sich das zu untersuchende Phänomen über zahlreiche Kulturen im Sinne des auf der Basis der spezifizierten kulturellen Merkmale a priori postulierten Zusammenhangs, steigert dies das Vertrauen in die kulturelle Determiniertheit der beobachteten Befunde (Brett et al. 1997, Lytle et al. 1995). Dies ist damit zu erklären, dass die Wahrscheinlichkeit einer zufälligen Kovariation organisationaler Einstellungen mit dem kulturellen Merkmal mit der Anzahl der Datenpunkte (betrachtete Kulturen) sinkt. Gleichzeitig verringert sich mit der Anzahl der untersuchten Kulturen ebenfalls die Wahrscheinlichkeit der zufälligen, unsystemati-

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schen Kovariation anderer Drittvariablen mit dem kulturellen Merkmal. Signifikante Unterschiede zwischen nur zwei kulturellen Gruppen sind beispielsweise auf Grund der oben beschriebenen möglichen Alternativerklärungen kaum interpretierbar und an sich deshalb auch wenig interessant (Brett et al. 1997). Ist es jedoch möglich, mehrere Kulturen bezüglich der Stärke der Ausprägung eines kulturellen Merkmals anzuordnen und zeigt das zu untersuchende Phänomen eine deutliche Kovariation mit diesem kulturellen Merkmal, so ist eine kulturelle Interpretation der Befunde naheliegend. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die Anordnung der untersuchten Kulturen bezüglich anderer Merkmale deutlich unterscheidet. Die geringe Wahrscheinlichkeit eines ähnlichen, zufällig gleich-systematischen Einflusses unkontrollierter Drittvariablen minimiert die Wahrscheinlichkeit der kulturellen Fehlinterpretation erhaltener Befunde. Voraussetzung dieses Vorgehens ist, dass sich die untersuchten Kulturen bezüglich der als relevant erachteten kulturellen Charakteristika deutlich unterscheiden bzw. in Bezug auf das Merkmal eine ausreichende Streuung aufweisen (Aycan 2000, Aycan / Kanungo 2001, van de Vijver / Leung 1997). Ein Beispiel stellt die Methode des Cultural Sampling dar. Sie strebt eine Maximierung der Varianz auf der interessierenden Dimension bei gleichzeitiger Minimierung der Varianz auf alternativen Dimensionen an (Murdock 1966). Durch den klaren Bezug zu etablierten kulturellen Charakteristika und vorhergehenden empirischen Befunden steigt außerdem die Generalisierbarkeit auf nicht explizit in der Studie untersuchte Kulturen (van de Vijver / Leung 1997). So könnte beispielsweise ein gefundener Zusammenhang von Commitment und Arbeitszufriedenheit in einer Kultur mit einer bestimmten Ausprägung auf der Wertedimension „affektive Autonomie“ (Schwartz 1994) auf eine Kultur mit einer ähnlichen Ausprägung dieser Wertedimension übertragen werden. 3.3

Kontrolle von Alternativerklärungen

Eine weitere Herausforderung der interkulturellen Forschung zu organisationalen Einstellungen betrifft die Kontrolle von Alternativerklärungen. Vor dem Hintergrund des hier beschriebenen analytischen Kulturbegriffs stellt sich die Frage nach der Kontrolle von alternativen Erklärungsansätzen in besonderem Maße, da nationale Unterschiede in organisationalen Einstellungen durch eine Vielzahl anderer nichtkultureller Faktoren bedingt sein können (Aycan 2000, Drenth / Groenendijk 1998, Kagitçibasi / Poortinga 2000). Zur erfolgreichen Identifikation kultureller Bedingungsgrößen sollten also nationale Kontextvariablen kontrolliert und nationale 125

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Einheiten entlang kultureller Dimensionen im Sinne des hier vertretenen Kulturverständnisses eingeordnet werden (Child 1981, Neghandi 1983, Ricks / Toyne / Martinez 1990). Die Kontrolle von Alternativerklärungen betrifft dabei sowohl die Ebene der nationalen Kontextvariablen, als auch die der nationalen Stichproben. Eine mögliche Konfundierung auf den genannten Ebenen sowie Strategien der adäquaten Auswahl kultureller Gruppen und Individuen werden im Folgenden beschrieben. 3.3.1

Kontrolle von Alternativerklärungen auf der Ebene nationaler Kontextvariablen

Nationale Einheiten stellen eine häufige Form der Operationalisierung kultureller Gruppen dar (Child 1981, Kelley / Whatley / Worthley 1987, Ricks et al. 1990, Schaffer / Riordan 2003, van de Vijver / Leung 1997, 2000). Nationen dienen somit häufig als Proximalgröße zur Identifikation kultureller Gruppen (Schaffer / Riordan 2003). Auch in der Erforschung interkultureller Einflüsse auf organisationale Einstellungen ist dieses Vorgehen dominant und praktikabel. Nationale Unterschiede sind jedoch nicht identisch mit national-kulturellen Unterschieden, d. h. nationale Unterschiede ergeben sich aus kulturellen Unterschieden + X. Hierbei determiniert wiederum das angelegte Kulturverständnis, welche Aspekte zu Kultur und welche Aspekte zu X gehören. X beschreibt nichtkulturelle kontextuelle nationale Unterschiede. Somit erfordert dieser Ansatz die Berücksichtigung nichtkultureller, kontextueller Merkmale. So kann beispielsweise ein gefundener Unterschied im organisationalen Commitment zwischen Mexikanern und Deutschen zum einen auf kulturelle Unterschiede dieser beiden Länder zurückgeführt werden. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass zum anderen nationale Kontextvariablen diesen Zusammenhang mit bedingen. Vorstellbar wäre beispielsweise ein entscheidender Einfluss der nationalen Erwerbslosenrate, des nationalen Einkommens pro Einwohner oder der spezifischen Arbeitsbedingungen. Ist die nationale Erwerbslosenrate sehr hoch, so könnte ein ausgeprägtes Commitment eher darauf zurückzuführen sein, dass unter den Betroffenen Angst besteht, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Vorstellbar ist ebenfalls, dass das Commitment durch den Mangel an attraktiven Alternativangeboten gefördert wird. In beiden Fällen sind Unterschiede wohl kaum als kulturell zu interpretieren. In der Literatur finden sich zahlreiche Aufzählungen kontextueller Kontrollvariablen, die im Rahmen interkultureller Forschung von Bedeutung sind. Zur Identifikation und Auswahl untersuchungsrelevanter und hinreichender Kenngrößen be-

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darf es jedoch einer kategorialen Ordnung oder Taxonomie nationaler Kontextvariablen. Von besonderem Nutzen ist in diesem Zusammenhang das ökologische Rahmenmodell von Georgas und Berry (Georgas / Berry 1995, Georgas / van de Vijver / Berry 2004), welches in Tabelle 1 dargestellt ist. Auf elaborierter theoretischer Basis (Berry 1976, 2001) und auf Grundlage empirischer Exploration (Georgas / Berry 1995) identifiziert das Modell fünf nationale Kontextdimensionen und die damit verbundenen wichtigsten Indikatoren. Aus einem Pool von mehr als 500 Indizes untersuchten die Autoren 77 zentrale, makronationale Indizes von 174 Nationen. Mit Hilfe von Clusteranalysen dieser Indizes identifizierten die Autoren 23 Indizes, welche die fünf zentralen Kontextdimensionen nationaler Unterschiede repräsentieren (Georgas / Berry 1995). Ergänzt um die Variable Religion stellen diese Dimensionen ein theoretisch fundiertes und vor allem empirisch untersuchtes Rahmenmodell zur Identifikation nationaler Kontextfaktoren dar.

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Faktoren 1

2

3

4

5

Ökologie:

Bildung:

Wirtschaft:

Massenkommunikation:

Bevölkerung:

Indizes -

höchste monatliche Temperatur

-

niedrigste monatliche Temperatur

-

höchste monatliche Niederschlagsdauer

-

Analphabetenrate bei Erwachsenen (ab dem 15. Lebensjahr)

-

Primäre Schulbildung: zahlenmäßiges Schüler-LehrerVerhältnis

-

Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung am Bruttonationaleinkommen (BNE)

-

Teilnahmerate an primärer Bildung

-

Teilnahmerate an sekundärer Bildung

-

Teilnahmerate an tertiärer Bildung

-

Bruttonationaleinkommen pro Einwohner

-

Tägl. Kalorienversorgung pro Einwohner in Prozent des Bedarfs

-

Konsum von kommerzieller Energie pro Kopf

-

Prozentsatz der Beschäftigten in der Landwirtschaft

-

Prozentsatz der Beschäftigten in der Industrie

-

Prozentsatz der Beschäftigten im Dienstleistungssektor

-

Elektrizitätsverbrauch pro Einwohner in Kilowattstunden

-

Anzahl der Telefone pro Tausend Einwohner

-

Anzahl der Radios pro Tausend Einwohner

-

Anzahl der Fernsehgeräte pro Tausend Einwohner

-

Auflage von Tageszeitungen pro Tausend Einwohner

-

Kindersterblichkeit

-

Lebenserwartung bei der Geburt

-

Sterberate

-

Geburtenrate

-

Rate des Bevölkerungswachstums

Abb. 2: Taxonomie nationaler Kontextvariablen. Quelle: Georgas, van de Vijver und Berry 2004.

In der Untersuchung interkultureller Unterschiede in organisationalen Einstellungen sollten daher diese nationalen Kontextvariablen mit einbezogen und ihr Einfluss auf den interessierenden Zusammenhang konstant gehalten werden. In der psychologischen Forschung ist diese Konstanthaltung beispielsweise über die Berechnung hierarchischer Regressionen oder über die statistische Kontrolle von Variablen möglich. Dies setzt jedoch das Vorhandensein einer ausreichend hohen Zahl unterschiedlicher Kulturen in der Analyse voraus. Neben der Gefahr fehlgeleiteter kultureller Schlussfolgerungen durch den Einfluss konfundierender nationaler Kontextvariablen besteht jedoch zusätzlich die Herausforderung, Individuen innerhalb der Kulturen adäquat auszuwählen. In die-

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sem Zusammenhang sollen im folgenden Abschnitt die verschiedenen Möglichkeiten der Auswahl nationaler Stichproben diskutiert werden. 3.3.2

Kontrolle von Alternativerklärungen auf der Ebene nationaler Stichproben

Im Gegensatz zur Laborforschung ist in interkulturellen Studien die manipulative Veränderung der unabhängigen Variablen unter randomisierter Zuweisung der Versuchspersonen zu den Versuchsbedingungen unmöglich. Interkulturelle Studien müssen sich daher per Definition quasi-experimenteller Untersuchungsdesigns bedienen (van de Vijver / Leung 1997). Im Hinblick auf die Minimierung alternativer Erklärungen für beobachtete kulturelle oder nationale Unterschiede kommt damit der Auswahl der Versuchspersonen eine besondere Bedeutung zu. Zu berücksichtigen ist in diesem Kontext, dass Vergleiche zwischen Nationen aus praktischen Gründen nicht auf Grundlage der Gesamtpopulation durchgeführt werden können. Prinzipiell sollten sich jedoch die Stichproben nur in Bezug auf ihre kulturelle, d. h. in diesem Fall national-kulturelle Herkunft unterscheiden und in Bezug auf andere für das zu untersuchende Phänomen wichtige Variablen gleich sein (Gelfand / Raver / Ehrhart 2002). Verfolgt man das Ziel, kulturelle Einflüsse auf organisationale Einstellungen zu identifizieren, ist es daher wenig erfolgversprechend, beispielsweise spanische Krankenschwestern mit schwedischen Polizeibeamten (Hofstede 2001) oder japanische Fischer mit französischen Bauern und deutschen Beamten zu vergleichen. Zur Auswahl ähnlich strukturierter nationaler Stichproben gibt es theoretisch zwei sinnvolle Strategien: die Auswahl repräsentativer Stichproben oder die Auswahl von Stichproben, die bezüglich relevanter Merkmale parallelisiert werden. Die erste Strategie, die Ziehung repräsentativer Stichproben in einem weiten Spektrum von Kulturen, ist mit einem erheblichen ökonomischen und zeitlichen Aufwand verbunden. Selbst im Rahmen umfangreich angelegter kooperativer Forschungsprojekte ist diese daher kaum realisierbar (siehe dazu House / Hanges / Javidan / Dorfman / Gupta 2004, MOW International Research Team 1987, Spector / Cooper / Sparks 2001, Super / Šverko 1995). Repräsentative Stichproben können sich jedoch auch aus theoretischen Gründen als ungeeignet für die interkulturelle Forschung erweisen (van de Vijver / Leung 1997). Repräsentative nationale Stichproben können sich beispielsweise in einer Vielzahl personenspezifischer Merkmale unterscheiden, welche die kulturelle Interpretation der Ergebnisse erschwert. Unterscheiden sich zum Beispiel zwei Nationen deutlich in ihrer Altersstruktur oder der Er129

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werbslosenrate, sind auch die repräsentativen Stichproben in Bezug auf diese Merkmale nicht äquivalent. Eine potentielle Konfundierung beobachteter Unterschiede in den repräsentativen nationalen Stichproben durch Altersunterschiede bzw. durch Effekte der Erwerbslosigkeit ist daher nicht auszuschließen. Die zweite mögliche Strategie zur Auswahl der Stichproben ist die Parallelisierung der nationalen Stichproben in Bezug auf Drittvariablen, welche für das zu untersuchende Phänomen als bedeutend erachtet werden (Berry / Poortinga / Segall / Dasen 2002, Brett et al. 1997, Hofstede 2001, Lytle et al. 1995, Sekaran 1983, van de Vijver / Leung 1997). Werden Stichproben nicht bezüglich relevanter Merkmale parallelisiert, reflektieren beobachtete Unterschiede zwischen den Gruppen möglicherweise nicht die Auswirkungen kultureller Einflüsse, sondern sind potenziell das Ergebnis von Selektionseffekten (Cook / Campbell 1979). Ein Beispiel für einen zentralen Faktor in Bezug auf die interkulturelle Erforschung organisationaler Einstellungen ist der Einfluss des organisationalen Umfelds der Mitarbeiter, d. h. ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Organisation. Die Gelegenheit zur Untersuchung nationaler Stichproben, die bezüglich wichtiger organisationaler Drittvariablen parallelisiert sind, ist insbesondere durch die wachsende Zahl an multinationalen Unternehmen zunehmend vereinfacht (Aycan / Kanungo 2001, Hofstede 2001). Die Unterschiede in bedeutenden Einflussfaktoren, wie zum Beispiel der Branchenzugehörigkeit, der technologischen Entwicklung, der Personalpraktiken oder der Unternehmensgröße, -struktur und -kultur, sind durch die Untersuchung innerhalb eines multinationalen Unternehmens deutlich minimiert. Zusätzlich zu der durch die Untersuchung innerhalb eines multinationalen Unternehmens schon starken Homogenisierung der nationalen Stichproben kann deren Vergleichbarkeit durch die Kontrolle anderer potenziell bedeutender personenspezifischer Merkmale gesteigert werden. Im Zusammenhang mit der interkulturellen Erforschung organisationaler Einstellungen ist hier vor allem die Art der Tätigkeit eine wichtige Variable (siehe dazu Gelfand / Nishii / Ohbuchi / Fukuno 2001, Haire / Ghiselli / Porter 1966, Hofstede 1980, 2001, Lebo / Harrington 1995, MOW International Research Team 1987, Sirota / Greenwood 1971, Super / Šverko 1995). Zur Minimierung der Anzahl potentieller Alternativerklärungen ist somit die Beschränkung auf Mitarbeiter innerhalb einer multinationalen Organisation und die zusätzliche Parallelisierung in Bezug auf kritische persönliche Variablen zu empfehlen. Dieses Vorgehen erhöht zudem die Interpretierbarkeit beobachteter Befunde (Berry et al. 2002, Hofstede 1980, 1983, 2001, Lytle et al. 1995, van de Vijver / Leung 1997, 2000). Die Steigerung der internen Validität in Bezug auf die

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kulturelle Interpretation der Befunde durch diese Art der Vorselektion der Untersuchungsstichprobe geht jedoch mit einer deutlichen Einschränkung der externen Validität der erhaltenen Befunde einher. Eine häufige Kritik an Hofstedes (1980, 2001) Untersuchungen zu interkulturellen Wertunterschieden betrifft daher die Beschränkung auf Befragte aus nur einem multinational agierenden Unternehmen (z. B. Smith 1992). Nach Cook und Campbell (1979) liegt ein potentieller Ausweg aus diesem Dilemma in der akkumulativen Replikation erhaltener Befunde unter variierenden Kontextbedingungen bei wechselnder Fokussierung auf potenzielle Alternativerklärungen. Die Forschung sollte sich also nicht allein auf die Untersuchung innerhalb eines multinationalen Unternehmens beschränken. Vielmehr garantiert die Replikation von interkulturellen Studien in verschiedenen multinationalen Kontexten erst das Vertrauen in die Validität der interkulturell interpretierten Befunde, die Überprüfung der Generalisierbarkeit auf andere Kontexte und Stichproben und die Identifikation moderierender Bedingungen. Eine Untersuchung von Hattrup, Mueller und Joens (2007) zu Einzelaspekten der Arbeitszufriedenheit und generalisierter Arbeitszufriedenheit liefert ein Beispiel für die zweite der hier beschriebenen Strategien zur Auswahl adäquater Stichproben. Die gewählte Stichprobe setzt sich dabei aus Versuchspersonen aus drei unterschiedlichen multinationalen Unternehmen verschiedener Branchen in insgesamt 19 Ländern zusammen. Die Anzahl potentieller Alternativerklärungen konnte so minimiert werden. Gleichzeitig gingen verschiedene multinationale Unternehmen in die Untersuchung ein, sodass die Untersuchung variierender Kontextbedingungen möglich wurde. 3.4

Überprüfung der Messäquivalenz

Eine der wichtigsten Voraussetzungen interkultureller Studien im Bereich der Arbeits- und Organisationspsychologie betrifft die Messäquivalenz der eingesetzten Instrumente. Mit Messäquivalenz bezeichnet man die Äquivalenz der psychometrischen Charakteristika von zwei unterschiedlichen Versionen eines Messinstruments oder eines Messinstruments bei Anwendung in verschiedenen Gruppen. Zwei Versionen eines Instruments sind somit messäquivalent, wenn sie über die Gruppen hinweg die gleichen psychometrischen Eigenschaften aufweisen (Byrne / Shavelson / Muthén 1989). Messäquivalenz wird dadurch erreicht, dass die Beziehungen zwischen den beobachteten Werten und dem latenten Konstrukt über alle Gruppen hinweg identisch sind (Drasgow 1984, Drasgow / Kanfer 1985). Die Untersuchung der Messäquivalenz hat eine hohe Bedeutung bei empirischen Untersuchungen, die 131

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sich mit dem Vergleich von Testwerten über Gruppen oder Bedingungen hinweg beschäftigen. In vielen Bereichen der Psychologie lässt sich daher eine steigende Zahl an Studien zur Überprüfung von Messäquivalenz verzeichnen, so zum Beispiel in der Skalenentwicklung (Drasgow 1987), bei interkulturellen Vergleichen (z. B. Riordan / Vandenberg 1994), in der organisationalen Forschung (Bartunek / Franzak 1988), bei Studien zu Geschlechterunterschieden (z. B. Byrne / Shavelson 1987), in der Personalbeurteilung (Hofer / Horn / Eber 1997) und in der klinischen Forschung (Byrne / Campbell 1999). Die Äquivalenz von Messinstrumenten ist insbesondere in der interkulturellen Forschung von hoher Bedeutung. So ist es bei mangelnder Messäquivalenz der eingesetzten Skalen möglich, dass beobachtete kulturelle Unterschiede keine tatsächlichen Unterschiede in Bezug auf das untersuchte Konstrukt widerspiegeln, sondern lediglich die unterschiedliche Angemessenheit der verwendeten Messinstrumente in verschiedenen Kulturen ausdrücken (Cheung / Rensvold 2000, van de Vijver / Poortinga 1997). In diesem Zusammenhang weisen viele Forscher auf die Frage hin, ob das, was in einer Kultur entwickelt wurde, automatisch und ohne Modifikation zum effektiven Gebrauch in einer anderen Kultur transferiert werden kann (Cheung / Rensvold 2000, Drasgow 1984, Hui / Triandis 1985, Little 1997, Steenkamp / Baumgartner 1998, van de Vijver / Leung 2000). Die Messinstrumente könnten je nach Kultur, in der sie eingesetzt werden, unterschiedliche Charakteristika besitzen, oft verbunden mit Vorteilen für die Kultur, in der das Instrument ursprünglich entwickelt wurde (van de Vijver / Leung 2000). Die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit der Ergebnisse eines Fragebogens, der in einer Kultur entwickelt wurde, anschließend übersetzt und in anderen Ländern eingesetzt wird, ist ohne Tests auf Äquivalenz also nicht gewährleistet (Cheung / Rensvold 2000, van de Vijver / Leung 1997, 2000). Dies liegt an den vielen verschiedenen Arten der Verzerrung, die bei einem solchen Transfer auf Konstrukt-, Methoden- und Itemebene entstehen können (van de Vijver / Poortinga 1997). Von einem Konstruktbias spricht man dann, wenn das gemessene Konstrukt in den verschiedenen kulturellen Gruppen einen gewissen Grad an Unterschiedlichkeit hinsichtlich seiner Bedeutung aufweist (Byrne / Watkins 2003). Dies kann an einer unterschiedlichen Eignung der Items in den Ländern liegen. Ein Beispiel hierfür wäre die Abfrage der Zufriedenheit mit bestimmten sozialen Zusatzleistungen einer Firma. Dieses Item ist in Ländern unangebracht, in denen solche Zusatzleistungen nicht üblich sind. Weiterhin könnte die Auswahl der

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Items für bestimmte Länder nicht umfassend genug sein, da die Definition des Konzepts dort breiter ist. Auf Methodenebene sind ebenfalls mehrere Arten der Verzerrung denkbar, etwa eine unzureichende Vergleichbarkeit der nationalen Stichproben (z. B. bezüglich Geschlechtszusammensetzung, Alter, Bildung), systematisch unterschiedliche Bedingungen in der Befragungssituation in verschiedenen Kulturen, unterschiedliche Vertrautheit der Testperson mit dem Fragenformat in verschiedenen Kulturen oder unterschiedliche Antwortstile (z. B. Tendenz zur extremen Antwort, Tendenz zur sozialen Erwünschtheit, Zustimmungstendenz) in verschiedenen Kulturen. All diese Faktoren können zu Unterschieden in den Antworten der Gruppen führen, sie stehen jedoch nicht in Verbindung zu tatsächlichen Unterschieden bezüglich des interessierenden Konstrukts. Die dritte Art der Verzerrung findet auf Itemniveau statt. Hier können Verfälschungen aufgrund schlechter Übersetzungen und zu komplexer oder unangebrachter Formulierungen der Fragen entstehen. Ein Beispiel zur Überprüfung der Messäquivalenz eines Instrumentes zur Erfassung der Arbeitszufriedenheit findet sich u. a. bei Müller (2006). 4.

Ausblick

Angesichts der vielfältigen Herausforderungen, mit der sich die interkulturelle Forschung im Bereich der Arbeits- und Organisationspsychologie konfrontiert sieht, stellt sich mit besonderem Nachdruck die Frage nach der Verortung der eigenen Forschungsposition und nach nötigen Ressourcen zur Umsetzung der mit dem gewählten Paradigma assoziierten Anforderungen. Diesbezüglich halten Brett et al. (1997:84) in ihrer Ausführung zu unterschiedlichen interkulturellen Forschungsansätzen im Bereich der Arbeits- und Organisationspsychologie fest: „Unsere Absicht ist es, interkulturelle Forscher zu bestärken, nicht zu entmutigen. Keine einzelne Studie kann alle Aspekte beachten. Wichtig ist es, die Abwägungen zu kennen und gute Entscheidungen zu treffen“. Das Treffen guter Entscheidungen führt damit zurück an den Ausgangspunkt dieses Beitrages und an die Beschreibung des multidimensionalen Raumes der interkulturellen Forschung, in dem die eigenen Fragestellungen und Herangehensweisen zu verorten sind. Zu Beginn wurde hier eine analytische Perspektive einer holistischen Perspektive gegenübergestellt und die jeweiligen Implikationen für die Herangehensweise der Forschung dargelegt. Zukünftige Herausforderungen der interkulturellen Forschung sind jedoch immer auch damit verbun-

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den, zu einer gegenseitigen Bereicherung und Verknüpfung der beschriebenen Perspektiven zu gelangen. Neuere Entwicklungen, die zu dieser Verknüpfung beitragen können, werden daher nun näher beleuchtet. Eine neue Entwicklung der interkulturellen Forschung im Bereich der Arbeits- und Organisationspsychologie betrifft beispielsweise die Forderung nach einer konsequenten theoretischen Polykontextualisierung der Forschungsfragen. Mit dem Ziel, zu einem holistischeren Verständnis des betrachteten Phänomens in seiner spezifischen Kultur zu gelangen, sollten im Sinne dieser Forderung multiple Kontexte in den gesamten Forschungsprozess integriert werden (Tsui / Nifadkar / Ou 2007). Dies betrifft zum einen den stärkeren Einbezug nichtkultureller Faktoren, welche Informationen über die ökonomische, politische, geografische und historische Situation der untersuchten Kulturen bereitstellen. Zum anderen betrifft diese Forderung auch den Einbezug unterschiedlichen Datenmaterials. So sollte polykontextuell angelegte interkulturelle Forschung nicht nur auf das verbale Medium beschränkt sein, sondern vielfältigere Formen der Sinnkonstruktion mit einbeziehen (Shapiro / von Glinow / Xiao 2007). Die zentrale Idee der Polykontextualisierung ist es somit, unterschiedliche Kontexte zu integrieren, die neue Quellen der Sinnkonstruktion öffnen und damit das Erleben und Verhalten der untersuchten Individuen prägen (Tsui et al. 2007). Die Polykontextualisierung stellt für die Forschung im Bereich der interkulturellen Arbeits- und Organisationspsychologie insofern eine große Herausforderung dar, als dass sie den Anspruch beinhaltet, Perspektiven anderer Disziplinen wie der Soziologie, der Wirtschaftswissenschaften, der Anthropologie oder der Politikwissenschaften in alle Phasen des Forschungsprozesses zu integrieren. Eine weitere Möglichkeit der Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven stellen Brett et al. (1997) in ihrem n-way research approach vor, welcher die Frage nach Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Kulturen mit dem Wissen über Spezifitäten einzelner Kulturen zu verknüpfen sucht. Ausgangspunkt dieser Herangehensweise stellt eine gemeinsame Forschungsfrage dar, die in einem multikulturellen Team unterschiedlicher Forschungsdisziplinen entwickelt wird. Die Ziele des n-way approach liegen zunächst darin, festzulegen, wie die Forschungsfrage in jeder der zu betrachtenden Kulturen angepasst werden sollte. Weiterhin hat dieser Ansatz zum Ziel, sowohl interkulturelle Gemeinsamkeiten als auch interkulturelle Unterschiede zwischen den betrachteten Kulturen zu identifizieren. Ein weiteres entscheidendes Ziel beschreiben Brett et al. (1999:94) mit „to understand what it is about culture that causes these cross-cultural similarities and differ-

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ences“. Zur Umsetzung der beschriebenen Ziele wird zunächst in einem induktiven Prozess eine Forschungsfrage entwickelt und auf den Kontext der einzelnen Kulturen angepasst. In einem weiteren Schritt besteht die Herausforderung darin, ein übergreifendes Modell der modifizierten Forschungsfragen zu entwickeln und die damit verbundenen etischen und emischen Herangehensweisen zu integrieren. Im Anschluss daran sollte im Dialog der Forscher ein kulturelles Erklärungsmodell spezifiziert werden, welches die gewählten Ansätze theoretisch begründen kann. Schließlich können in einem deduktiven Prozess spezifische Hypothesen darüber entwickelt und getestet werden, in welcher Weise kulturelle Einflüsse auf die Konfiguration der Fragestellung in den einzelnen Zielkulturen einwirken. Der n-way approach bietet zwar vielfältige Chancen, ist jedoch auch mit zahlreichen Schwierigkeiten in seiner praktischen Umsetzung verbunden. So können beispielsweise der Dialog und die Verständigung über die gemeinsame Forschungsfrage im beteiligten multikulturellen Team zu aufwändigen Abstimmungsprozessen führen. Darüber hinaus besteht die Herausforderung, die Perspektiven der unterschiedlichen Forscher gleichberechtigt in die Planung mit einzubeziehen. Die Vergewisserung des eigenen Standpunktes als Forscher im gemeinsamen Prozess stellt eine weitere Anforderung dar. Können diese Schwierigkeiten überwunden werden, bietet der n-way approach jedoch die einzigartige Möglichkeit, spezifisches Wissen über Unterschiede und Wissen über grundlegende Gemeinsamkeiten von Kulturen zu verbinden. Eine andere vielversprechende Entwicklung auf dem Weg der Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven und Kulturbegriffe stellt der Ansatz dar, Kultur konsequent als konfigurales Konstrukt zu verstehen und auch verstärkt als solches zu erfassen. Diese Forderung ergibt sich zum einen aus der Tatsache, dass eine starke Zunahme unterschiedlicher kultureller Dimensionen beobachtet werden kann. Eine Konsolidierung und Einordnung der verschiedenen Wertedimensionen in einem theoretisch fundierten und umfassenden Rahmenmodell wäre daher wünschenswert. Zum anderen wird die Integration verschiedener Perspektiven in der Interaktion oder einem Muster unterschiedlicher Wertedimensionen vor dem Hintergrund einer Rückbesinnung auf den Kulturbegriff gefordert. Definiert man Kultur als das Teilen zentraler Werte, Normen, Verhaltensweisen und Annahmen (House et al. 1997), so wird deutlich, dass sich die Vielschichtigkeit dieser Werte nicht auf eine Liste unabhängiger Dimensionen beschränken kann, sondern zwangsläufig ein Muster verschiedener Werte, Normen, Verhaltensweisen und Annahmen umfasst.

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Die Idee dieses konfiguralen Ansatzes kann an der Unterscheidung zwischen tight cultures und loose cultures verdeutlicht werden. Gelfand, Nishii und Raver (2006) definieren tightness und looseness als die Stärke sozialer Normen und den Grad der Sanktionierung bei Nicht-Einhaltung einer sozialen Norm. Als Implikation daraus ergibt sich, dass in einem Kontext beweglicher Normen mehr Toleranz für individuelle Unterschiede in Annahmen und Verhalten besteht. Der gleiche kulturelle Wert (z. B. Machtdistanz) kann somit unterschiedliche Qualitäten haben, je nachdem, ob es sich um eine eher als tight oder eher als loose zu beschreibende Kultur handelt. In ähnlicher Weise kann die Interaktion verschiedener kultureller Wertedimensionen zu differenzierteren Vorhersagen der betrachteten Phänomene beitragen. Zukünftige Forschung sollte sich demnach nicht auf den Einbezug einzelner kultureller Wertedimensionen beschränken. Vielmehr macht eine umfassende Perspektive es notwendig, die Interaktion von kulturellen Dimensionen und Charakteristika zu berücksichtigen (Tsui et al. 2007). Ein weiterer Schritt in diese Richtung besteht dahin, über Interaktionen hinaus ganze Muster von Beziehungen unterschiedlicher Wertedimensionen zu identifizieren und diese konsequent zur Beschreibung von Kulturen einzusetzen. Erste Erfahrungen zeigen, dass die Verwendung einer Konfiguration kultureller Werte der Verwendung einzelner Dimensionen zur Vorhersage organisationaler Konstrukte überlegen ist (Tsui / Song / Yan 2007). Wie diese Aufstellung zeigt, bestehen für die Zukunft der Forschung im Bereich der interkulturellen Arbeits- und Organisationspsychologie vielfältige Herausforderungen, Möglichkeiten und Perspektiven. Die praktische Umsetzung der Polykontextualisierung, des n-way-approaches und des konfiguralen Kulturverständnisses machen eine Weiterentwicklung der Methoden der interkulturellen Psychologie notwendig und setzen eine zunehmende Integration unterschiedlicher Perspektiven und Disziplinen voraus. Zentraler Faktor in der Entwicklung der interkulturellen Forschung bleibt das Verständnis, unterschiedliche Forschungsparadigmen und -perspektiven in ihrer gleichberechtigten Existenz als wertvolle Variationen des Zugangs zum gleichen Phänomen zu betrachten. Entscheidend ist, dass sich die wissenschaftliche Forschung nicht in Lager fragmentiert und Erkenntnisse dissoziiert oder gar per se diskreditiert, sondern in wertschätzendem konstruktiven Dialog die Kenntnisse der unterschiedlichen methodischen und konzeptuellen Zugänge systematisch im Sinne der Kumulation von gemeinsamem Wissen und differenziertem Verständnis des Phänomens integriert.

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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse

PerspektiventriangulatiPlease insertthe thetitle titleof of Please on am insert Beispiel der Komyour article here your article bination vonhere Gesprächsund Inhaltsanalyse [Triangulation of perspectives: combining conversaFirstname name Surname First Surname tion and content analysis] Pleaseinsert insertinformation informationabout about Please the author here (e.g. title, posithe author here (e.g. title, position, institution) tion, institution)

Elke Bosse

Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Interkulturelle Kommunikation, Universität Hildesheim.

Abstract [English] Perspective triangulation systematically combines different research approaches in order to broaden the possible insight into a specific subject of study. Therefore, it promises to generate particularly interesting results in the analysis of intercultural communication, a field in which interdisciplinary research projects still largely lack. This article demonstrates how perspective triangulation can be realized within an interdisciplinary evaluation study by combining conversation analysis and qualitative content analysis to examine the effects of an intercultural training program. Firstly, it illustrates the insights gained by analysing audiovisual records of workshop sessions. Secondly, this article shows how the assessment of retrospective interviews with workshop participants can contribute to the analysis of training effects. Finally, this study demonstrates that the combination of these two research strategies thus yields the most comprehensive results for an integrated understanding of the various, intricate effects of intercultural training programs. Keywords: Triangulation of perspectives, evaluation, intercultural training programs, conversation analysis, content analysis Abstract [Deutsch] Als Verfahren zur Erweiterung von Erkenntnismöglichkeiten beruht die Perspektiventriangulation auf einer systematischen Kombination von Forschungsansätzen mit unterschiedlicher Aussagekraft. Damit erweist sie sich als interessant für interdisziplinäre Forschungszusammenarbeit, die gerade auf dem Gebiet der Interkulturellen Kommunikation bislang noch ein Desiderat darstellt. Der vorliegende Beitrag legt anhand der Verfahren und Ergebnisse einer interdisziplinären Evaluationsstudie dar, wie sich das Prinzip der Perspektiventriangulation forschungspraktisch umsetzen lässt. Als Beispiel dient die zur Evaluation eines interkulturellen Trainings eingesetzte Kombination der linguistischen Gesprächsanalyse und der qualitativen Inhaltsanalyse. So wird zum einen aufgezeigt, welche Erkenntnismöglichkeiten die Untersuchung von Trainingsaufzeichnungen und die Analyse von retrospektiv erhobenen Interviewdaten bieten. Zum anderen wird erläutert, wie sich die Ergebnisse zusammenführen lassen und damit einen besonders umfassenden Einblick in den Wirkungszusammenhang interkultureller Trainings ermöglichen.

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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse

Stichworte: Perspektiventriangulation, Evaluation, interkulturelles Training, Gesprächsanalyse, Inhaltsanalyse 1.

Einleitung

Die Vielfalt der am Forschungsgebiet der Interkulturellen Kommunikation und seinen Anwendungsfeldern beteiligten Disziplinen mag einerseits Verwirrung stiften und den „Kampf um Anerkennung und Abgrenzung in und zwischen den beteiligten Disziplinen“ (Otten 2011:23) befördern. Andererseits bedeutet diese Vielfalt ein großes Potential für interdisziplinäre Forschung. Allerdings gibt es bislang kaum Forschungsarbeiten, die dieses Potential tatsächlich nutzen und unterschiedliche Zugangsweisen zu interkultureller Kommunikation integrieren. Die Forschungslandschaft scheint vielmehr von einem Nebeneinander fachspezifisch geprägter Zugänge zu Phänomenen interkultureller Kommunikation geprägt zu sein (Risager 2005:1677). Vor diesem Hintergrund ist das Prinzip der Perspektiventriangulation von besonderem Interesse, da es darauf beruht, „dass ein Forschungsgegenstand von (mindestens) zwei Punkten aus betrachtet – oder konstruktivistisch formuliert: konstituiert – wird“ (Flick 2004:11). Anfangs noch mit dem Ziel der Validierung von Forschungsergebnissen verbunden, gilt die Perspektiventriangulation in der aktuellen Methodendiskussion als „Weg zu erweiterten Erkenntnismöglichkeiten“ (Flick 2004:9). Um die jeweils begrenzte Aussagekraft einzelner Zugänge zu überwinden, werden auf unterschiedlichen Wegen ermittelte Forschungsergebnisse miteinander in Beziehung gesetzt. Auf diese Weise ergibt sich ein „kaleidoskopartiges Bild“ (Köckeis-Stangl 1982:363), das unterschiedliche Konstruktionen des Untersuchungsgegenstands umfasst. Geprägt wurde der Begriff der Triangulation vor allem durch den US-amerikanischen Soziologen Norman Denzin, der zwischen der Triangulation von Daten, Beobachtern bzw. Interviewern, Theorien und Methoden unterscheidet (Denzin 1978). Eine Weiterentwicklung bietet die jüngere deutschsprachige Diskussion um qualitative Sozialforschung mit dem Ansatz von Uwe Flick, der darauf abhebt, „von Triangulation zu sprechen, wenn den unterschiedlichen Zugängen in der Planung der Untersuchung, bei der Erhebung und Analyse der Daten eine weitgehende Gleichberechtigung in ihrer Behandlung und ihrem Stellenwert eingeräumt wird und sie in sich konsequent angewendet werden“ (Flick 2004:26).

Das zitierte Vorgehen bezeichnet Flick (1992) als „systematische Perspektiventriangulation“, wobei er anknüpfend an Lüders und Reichertz (1986:92ff) sowie Bergmann (1985) be-

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stimmte Forschungsperspektiven aufgrund ihres jeweils spezifischen Erkenntnispotentials voneinander abgrenzt (Flick 2004:21ff.). Zu unterscheiden sind demnach insbesondere solche Forschungsansätze, die ihren Blick auf die kommunikative Wirklichkeitskonstitution richten, von solchen, die subjektive Sichtweisen zu erfassen suchen. Perspektiventriangulation bedeutet dann, beide Zugangsweisen zu nutzen, um unterschiedliche Facetten eines Forschungsgegenstands erfassen zu können. Wie sich die Perspektiventriangulation forschungspraktisch umsetzen lässt, wird im Folgenden anhand der Verfahren und Ergebnisse einer Studie dargelegt, die sich mit der Konzeption und Evaluation interkultureller Trainings befasst (Bosse 2011). Zunächst werden Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen erläutert, um anschließend das Evaluationsdesign mit Blick auf Datenerhebung und -auswertung vorzustellen. Im nächsten Schritt geht es um die kommunikativen Merkmale des Trainingsgeschehens, die mit Hilfe der linguistischen Gesprächsanalyse auf der Basis von Trainingsaufzeichnungen ermittelt wurden. Zum anderen werden subjektive Sichtweisen der Teilnehmenden vorgestellt, die anhand inhaltsanalytisch ausgewerteter Interviews rekonstruiert wurden. Zum Abschluss wird aufgezeigt, wie sich die genutzten Verfahren und Ergebnisse im Sinne der Perspektiventriangulation systematisch aufeinander beziehen lassen. 2.

Evaluationsstudie und -design

Für die Evaluation interkultureller Trainings erscheint die Perspektiventriangulation insofern besonders vielversprechend, als der derzeitige Forschungsstand die Frage aufwirft, „ob eine an quantitativen Methoden und messbaren Effekten orientierte (resümierende) Evaluationsforschung in diesem Bereich überhaupt richtig am Platz ist“ (Leenen 2001:20). Die zumeist quantitativ angelegte Evaluationsforschung hat bislang kaum eindeutige Aussagen über die Wirksamkeit interkultureller Trainings hervorgebracht (Mendenhall et al. 2004:138) – allenfalls positive Wirkungen auf der kognitiven Ebene, wie beispielsweise der Zuwachs an Wissen bezüglich kultureller Unterschiede, gelten als belegt (Ehnert 2007:444). Dies legt nahe, nach alternativen Zugängen für die Evaluationsforschung zu suchen, die sich weniger mit dem quantifizierbaren Ausmaß von Trainingswirkungen beschäftigen, als vielmehr explorieren, wie interkulturelle Trainings wirken (Kinast 1998:37). Hier bieten sich qualitative Untersuchungsansätze an, wie sie in den Studien von Kinast (1998), Kammhuber (2000) und Nazarkiewicz (2010) bereits ausgearbeitet und erprobt wurden. Die beiden erstgenannten Studien ge-

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hen Trainingswirkungen anhand der nachträglichen Befragung von Trainingsteilnehmenden nach, wobei sie sich an der Differenzierung von Evaluationsebenen nach Kirkpatrick (1979) orientieren und Trainingseffekte im Hinblick auf Teilnahmezufriedenheit, Lernerfolge und Handlungswirksamkeit ermitteln. Nazarkiewicz (2010) wiederum untersucht auf der Basis von Trainingsaufzeichnungen, durch welche kommunikativen Regelhaftigkeiten sich interkulturelles Lernen im Trainingsgeschehen auszeichnet. Die genannten Studien erheben Trainingswirkungen also entweder retrospektiv in Form subjektiver Sichtweisen oder mit Blick auf ihren kommunikativen Entstehungszusammenhang, wobei das jeweilige Vorgehen zum einen psychologisch und zum anderen linguistisch begründet ist. Um einen weitergehenden Einblick in den Wirkungszusammenhang interkultureller Trainings zu gewinnen, bietet es sich nun an, beide Zugänge im Sinne der Perspektiventriangulation miteinander zu verschränken. So ist das Untersuchungsinteresse der hier vorzustellenden Studie sowohl auf die kommunikativen Merkmale des Trainingsgeschehens gerichtet, als auch auf die Frage, wie sich die Trainingswirkungen aus Sicht der Teilnehmenden darstellen. Den Untersuchungsgegenstand bildet ein 2-tägiger, extracurricularer Workshop, der sich an eine Gruppe aus 19 internationalen und deutschen Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen richtet. Die Zielsetzung des Trainings orientiert sich an einem interdisziplinär begründeten Modell interkultureller Kompetenz (INCA 2004), ergänzt um die nähere Bestimmung affektiver, kognitiver und handlungsbezogener Aspekte interkultureller Kommunikationskompetenz auf Grundlage linguistischer Untersuchungen interkultureller Kommuni1 kation (Bosse / Müller-Jacquier 2004). Grundlegend für den Trainingsaufbau sind zudem die Gestaltungsprinzipien interkultureller Lernumgebungen nach Kammhuber (2000:107), wobei die einzelnen Trainingsphasen im Sinne der Intercultural Anchored Inquiry (Kammhuber 2000:111ff.) auf die Erkundung kritischer Interaktionssituationen ausgerichtet sind. So sieht der Trainingsaufbau die Vermittlung konzeptueller Werkzeuge zur Bearbeitung verschiedener kritischer Interaktionssituationen vor, sodass sich multiple Interpretations- und 2 Handlungsperspektiven entwickeln und reflektieren lassen. Für die Untersuchung der Umsetzung des Trainingskonzepts wurde ein qualitatives Evaluationsdesign entwickelt, das für die Datenerhebung vorsieht, sowohl Trainingsaufzeichnungen anzufertigen als auch schriftliche und mündliche Befragungen durchzuführen. So besteht die Datensammlung zum einen aus rund 20h Video- und Audiodaten, die während des Trai-

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nings erhoben wurden. Zum anderen wurden verschiedene Befragungsverfahren genutzt. Dazu gehören



ein vor Trainingsbeginn eingesetzter Fragebogen für persönliche Angaben,



ein am Trainingsende eingesetzter Fragebogen für Feedback,



ein erstes, 1-2 Tage nach dem Workshop durchgeführtes Leitfadeninterview,



ein zweites, 6-8 Wochen nach dem Workshop durchge3 führtes Leitfadeninterview.

Das umfangreiche Datenmaterial wurde schrittweise in Form von Gesprächsprotokollen und Transkripten aufbereitet, um materialbasierte Auswahlentscheidungen treffen zu können. Die Datenauswertung orientierte sich im Fall der Trainingsaufzeichnungen an der linguistischen Gesprächsanalyse nach Deppermann (2001), während bei den durch Befragung ermittelten Selbstauskünften die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2003) zur Anwendung kam. Dabei war die Gesprächsanalyse darauf ausgerichtet, konstitutive Merkmale des kommunikativen Lehr-Lerngeschehens zu ermitteln. Bei der Inhaltsanalyse ging es wiederum darum, die subjektiven Sichtweisen der Teilnehmenden bezüglich der Trainingswirkungen zu rekonstruieren. Bereits im Prozess der Datenaufbereitung und -auswahl wurde geprüft, wie die unterschiedlichen Datensorten aufeinander zu beziehen sind, wobei sich eine Strukturierung in verschiedene Evaluationsebenen in Anlehnung an Kirkpatrick (1979) als hilfreich erwiesen hat. So konnte Kirkpatricks Ansatz um die Ebene der Teilnahmemotivation erweitert werden, die im Rahmen des ersten Interviews erfasst wurde. Die zweite Ebene bildete die Teilnahmezufriedenheit, die sich vornehmlich aus Angaben der Teilnehmenden im FeedbackFragebogen ergibt. Die Ebene des Lernfortschritts wurde ausdifferenziert in Lernprozesse und Lernergebnisse: Die Analyse von Lernprozessen basiert zum einen auf den Trainingsaufzeichnungen und zum anderen auf Angaben zu einzelnen Workshop-Phasen im ersten Interview. Für die Auswertung der Lernergebnisse wurden Angaben im FeedbackFragenbogen, dokumentierte Arbeitsergebnisse aus dem Workshop sowie ausgewählte Interviewdaten berücksichtigt. Um auch die Ebene des Transfers zumindest annäherungsweise zu erfassen, wurden Auszüge aus dem ersten und zweiten Interview herangezogen, in denen sich die Teilnehmenden zu einem Trainingsfilm sowie zu selbst erlebten kritischen Interaktionssituationen äußern.

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Wie dieser Überblick zeigt, fließen sowohl Trainingsaufzeichnungen als auch Selbstauskünfte in die Analyse des Wirkungsspektrums ein. Besonders eng verknüpft sind diese beiden Datensorten allerdings im Fall der Ebene der Lernprozesse, die im Folgenden zur näheren Illustration der Perspektiventriangulation genauer betrachtet werden soll. 3.

Kommunikative Merkmale des Trainingsgeschehens

Um dem Prozess der Wirkungsentfaltung gerecht zu werden, sind zunächst die kommunikativen Merkmale des LehrLerngeschehens darzulegen. Diese beziehen sich auf einzelne Trainingsphasen, deren Auswahl einerseits die Bewertungen seitens der Teilnehmenden berücksichtigt, wie sie im Feedback-Fragebogen und in den Interviews zum Ausdruck kommen. Andererseits richtete sich die Auswahl nach der Vergleichbarkeit von Trainingsphasen und Interviewsequenzen, um die Ergebnisse aufeinander beziehen zu können. So wurden zwei Trainingsphasen ausgewählt, die die Teilnehmenden als mehr oder weniger bedeutsam für die Entwicklung ihrer interkulturellen Kompetenz bewerten. Zudem weisen die untersuchten Trainingsphasen die Gemeinsamkeit auf, einen Einblick in die kommunikative Bearbeitung kritischer Interaktionssituationen zu ermöglichen. Für die erste der analysierten Trainingssequenzen ist charakteristisch, dass sie die Bearbeitung einer kritischen Interaktionssituation in Form eines Trainingsfilms umfasst, die im Plenum erfolgt und dem Trainingsbeginn zuzuordnen ist. Die zweite Trainingseinheit stammt dagegen aus der Abschlussphase des Trainings, in der die Teilnehmenden kritische Interaktionssituationen, wie sie sie im Alltag selbst erlebt haben, in Kleingruppen behandeln. Die übergeordnete Aufgabenstruktur für beide Trainingsphasen ist insofern vergleichbar, als die Teilnehmenden aufgefordert sind, Probleme der Interaktionssituation zu analysieren und Lösungsansätze zu entwickeln. 3.1

Unterrichtstypische Verfahren und Monieren

Betrachtet man die kommunikativen Merkmale, die die ausgewählten Trainingseinheiten kennzeichnen, ist bezüglich des Plenumsgesprächs über den präsentierten Trainingsfilm zunächst festzustellen, dass die Beteiligten auf unterrichtstypische Verfahren (Becker-Mrotzek / Vogt 2001) zurückgreifen:

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1

SL

gu::t (.) wollen wir zuSAMMen WEIterdenken? (--) ja?

2

(.) STIF:te einfach WEG- =und:: ja:- (.) was ist

3

euch gleich aufgeFALlen als: (.) proble::m- was habt

4

ihr da: (-) geSE:Hen (-) noTIERt (-) und so weiter

5 6

( MI

). min HAI?

ähm ((räuspert sich)) und zwar herr ross wollte

7

die proBLEMe in der zusammen’(

8

zusammenarbeit mit herrn: (.) matingo sofort (.) ähm

9

klären; (-) un::d herr matingo hat dann diesen

10

vorschlag gemacht, dass sie (.) an nem anderen ZEIT

11

(.) punkt dann darüber besprechen (---) (

12

SL

13 14

((schreibt) 2,5 sek) hm=hm, (

) in der

) ja. (.) (

). )

WEItere probleme? Elena? EL

äh:m ja herr ross ist sehr SACHlich, (3 sek) und

15

maTINgo seh::r (2 sek) öh schwer zu SAgen (.) also

16

(.) geLASSen und-

17

SL

((schreibt) 5 sek) hm=hm.

Abb. 1: Trainingsfilmbearbeitung Z. 1-17. Quelle: Bosse 2011:172-173.

4

Vor Beginn der hier angeführten Sequenz wurde den Teilnehmenden ein 8-minütiger Trainingsfilm mit der Aufgabenstellung präsentiert, Probleme und mögliche Lösungen für die gezeigte Interaktionssituation zu notieren. Nachdem die Teilnehmenden Gelegenheit hatten, Notizen anzufertigen, stellt die Seminarleiterin (SL) die Seminaröffentlichkeit her, woraufhin sich Min Hai (MI) und Elena (EL) zu Wort melden. Unterrichtstypische Verfahren, die zur Gestaltung thematischer und kommunikativer Ordnung dienen, kommen dabei insofern zum Einsatz, als „wollen wir“ (Z. 1) eine „Wendung zur Initiierung gemeinsamer Handlungen“ (Redder 1984:209) darstellt. Modalverb und Sprechergruppendeixis dienen dazu, die Absicht der Seminarleiterin in eine gemeinsame Absicht der Gesamtgruppe zu verwandeln. Hieran schließt sich in Z. 2-4 die für Unterrichtsgespräche typische Regiefrage (Zifonun et al. 1997:116f.) an, mit der die Seminarleiterin eine einleitende Strukturierung vornimmt, die zum Aufbau der thematischen Ordnung beiträgt (Becker-Mrotzek / Vogt 2001:153ff.). So besteht die Funktion von Regiefragen darin, kollektives Nachdenken in Gang zu setzen, wobei bereits eine bestimmte Suchrichtung vorgegeben wird (Ehlich / Rehbein 1986:68ff.). Darüber hinaus weist auch der Sprechwechsel das Plenumsgespräch als Lehr-Lerndiskurs aus, da hier die unterrichtstypische Fremdwahl zu beobachten ist und das Rederecht immer wieder an die Seminarleiterin zurückfällt (Zifonun et al. 1997:494ff). Die besondere Pausenlänge zwischen den Redebeiträgen ist wiederum darin begründet, dass die Seminarleiterin die Redebeiträge der Teilnehmenden in Form von Notizen an einer Moderationstafel festhält.

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Die unterrichtstypische Gestaltung des Plenumsgesprächs ist für die Frage nach der Wirkung des untersuchten Trainings auf der Lernprozessebene insofern von Bedeutung, als sie die Auseinandersetzung mit dem Trainingsfilm ermöglicht und vorantreibt. Dies lässt sich insofern an der sprachlichen Oberfläche nachweisen, als sich im Plenumsgespräch das so genannte Monierungsschema etabliert, das nach Fiehler (1995:114) für Gespräche über Kommunikationsereignisse charakteristisch ist. Zu den üblichen Positionen dieses Handlungsschemas gehört, dass die Beteiligten Probleme identifizieren, beschreiben und diagnostizieren, die festgestellten Monita bewerten und nicht zuletzt Handlungsalternativen anführen. So liefert Min Hai im obigen Transkriptauszug zunächst eine zusammenfassende Problembeschreibung, die divergierende Handlungen bzw. Handlungsabsichten hervorhebt (Z. 6-11). Im anschließenden Beitrag von Elena geht es dagegen weniger um die Intentionen der Filmfiguren, sie schreibt denselben vielmehr unterschiedliche Eigenschaften zu (Z. 14-16). Auf dieser Ebene der Interaktionsvoraussetzungen verortet auch Liu (LI) das im Film gezeigte Problem: 18

LI

die ham BEIde unterschiedliche arbeitsEINstellungen.

19

SL

((schreibt) 6 sek)

20

LI

also der ross ist TYPischen DEUTschen manager,

21

SL

hm=hm.

22

LI

u::[nd äh das kommt (eigentlich) gut rüber,

23

TN

24

SL

[((lachen )) hm=hm.

Abb. 2: Trainingsfilmbearbeitung Z. 18-24. Quelle: Bosse 2011:173-174.

Lius Äußerung erweist sich insofern als interessant, als seine Problemdiagnose damit einhergeht, die nationale Zugehörigkeit einer der Filmfiguren relevant zu setzen. So typisiert Liu die als ‚Herr Ross‘ agierende Filmfigur mit Blick auf deren Nationalität und Berufsrolle (Z. 21) und erweitert diese Kategorisierung auf einer Meta-Ebene mit einer Bewertung der filmischen Inszenierung der Figur (Z. 23), was vom Lachen mehrerer Teilnehmender (TN) begleitet wird. Dabei weist diese Sequenz Merkmale von Stereotypisierungen auf, für die nach Nazarkiewiczs Untersuchungen unter anderem charakteristisch ist, „dass sie mit Bildern verbunden werden, die sich die an der Stereotypenkommunikation Beteiligten als gemeinsame und geteilte Topoi wechselseitig (z. B. in Form von Einwortsätzen) abrufen“ (Nazarkiewicz 2000:183). Dies zeigt sich in Abbildung 2 daran, dass Liu die Filmfigur Ross mit einer generischen Referenz dem Topos „deutscher Manager“ (Z. 20) zuordnet. Der für die interaktive Absicherung von Stereotypisierungen charakteristische Authentizitätsnachweis (Nazarkiewicz 1999:372) erfolgt dann dadurch, dass Liu auf

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die gelungene filmische Darstellung der Figur verweist. Dies wird vom Lachen mehrerer Teilnehmender quittiert, was einen Wechsel der Interaktionsmodalität anzeigt, sodass die von Liu initiierte Stereotypenkommunikation als ‚Spaß‘ kennzeichnet und enttabuisiert wird. Die für die Entfaltung von Stereotypenkommunikation notwendige Bedingung der Kooperativität (Nazarkiewicz 2010:175ff.) scheint also gegeben zu sein. Anders als der bisherige Einblick in den Gesprächsbeginn möglicherweise vermuten lässt, nutzen die Teilnehmenden den wiederholten Durchlauf durch das Monierungsschema nicht allein dazu, Interaktionsvoraussetzungen im Sinne der monierten inkompatiblen Handlungsabsichten und Personeneigenschaften zu problematisieren oder Belege für gängige Stereotype anzuführen. Vielmehr differenzieren sich die Interpretationsperspektiven schrittweise aus und beleuchten auch das im Film gezeigte Interaktionsgeschehen: 62

PA

ja mir ist noch AUFgefallen, dass die ähm sich nicht

63

richtig ANTworten, also es ist oft so dass einer

64

ne FRAge stellt, =äh und der andere die gar nicht

65

richtig beANTwortet, =und dass sie viel SCHWEI::gen.

66

also die die wissen gar nicht genau, =was hat der

67

andere jetzt eigentlich wirklich gesagt, =was will

68

der von mir, =was was soll ich MACHen? (.) und äh

69

auch mit den GEsten von herrn matingo, also herr

70

ross versteht die überhaupt nicht ( ), (-) also

71

jetzt (.) bei der limoNAde zum beispiel.

72

SL

((schreibt) 5 sek)

Abb. 3: Trainingsfilmbearbeitung Z. 62-72. Quelle: Bosse 2011:162f.

Vergleicht man die Äußerungen von Paula (PA) in Abbildung 3 mit dem Beginn des Plenumsgesprächs, fällt ins Auge, dass sie ihren Blick auf die Interaktionsdynamik richtet und das sprachliche Handeln der Filmfiguren moniert (Z. 62-65). Zudem problematisiert Paula die interaktive Wirkung sprachlicher Handlungsweisen, indem sie mit Hilfe direkter Redewiedergabe in die Rollen der Filmprotagonisten schlüpft und deren Gedankenwelt aus der Binnenperspektive inszeniert (Z. 67-68). Diese Form der Perspektivenübernahme, oft verbunden mit Perspektivenwechsel und -reflexion, erweist sich insgesamt als typisch für die kommunikative Bearbeitung des Trainingsfilms im Plenum. Neben stereotypisierend angelegten Äußerungen manifestieren sich also auch mehrperspektivische Betrachtungsweisen des Trainingsfilms. Damit finden sich in den Gesprächsdaten deutliche Hinweise auf Verfahren des so genannten „transkulturellen Sprechens“, die nach Nazarkiewiczs Untersuchungen von Trainingsgesprächen zu den konstitutiven Merkmalen kulturreflexiver Deutungsarbeit ge151

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hören, die interkulturelles Lernen ermöglichen (Nazarkiewicz 2010:121ff.). Die angeführten Transkriptauszüge veranschaulichen, wie sich die Identifikation von Handlungsproblematiken interkultureller Kommunikation im untersuchten Plenumsgespräch tendenziell von einer anfänglichen Bestimmung divergierender Interaktionsvoraussetzungen hin zum Erkennen kommunikativer Besonderheiten der Interaktionsdynamik bewegt. Dabei bedingen sich die Äußerungen der Beteiligten gegenseitig, d. h. die Ausdifferenzierung der Perspektiven vollzieht sich interaktiv durch die Umsetzung des Monierungsschemas. Den weiteren Gesprächsverlauf der Trainingsfilmbearbeitung zeichnet aus, dass die Teilnehmenden von ihren mehr oder weniger stereotyp bzw. transkulturell angelegten Sichtweisen auf die im Trainingsfilm präsentierte Handlungsproblematik zu Lösungsvorschlägen für die Filmfiguren gelangen. Dabei gehen stereotypisierende Sequenzen mit einer pauschalen Übertragung normativer Vorstellungen in Form direktiver Handlungsanweisungen einher. Transkulturell angelegte Problemanalysen führen dagegen eher zu situationsspezifi5 schen Lösungsansätzen in hypothetischer Modalität. Vor diesem Hintergrund lässt sich festhalten, dass in dem für Lehr-Lerndiskurse charakteristischen Rahmen unterschiedlich weitreichende Analyseverfahren und Lösungsansätze interaktiv hervorgebracht werden. So führen die identifizierten Gesprächspraktiken zu einer mehrperspektivischen Erkundung der präsentierten kritischen Interaktionssituation – ganz im Sinne der Intercultural Anchored Inquiry von Kammhuber (2000:111ff.). Die wiederholte Realisierung der Positionen des Monierungsschemas erweist sich somit als funktional für das übergeordnete didaktische Ziel, multiple Interpretations- und Handlungsperspektiven zu generieren. 3.2

Narrative und beratungstypische Verfahren

Die Analyse der zweiten Trainingssequenz legt offen, dass sich die Umsetzung didaktisch-methodischer Prinzipien in dem untersuchten Trainingsworkshop nicht auf unterrichtstypische Verfahren und Monierungsschema beschränkt. Vielmehr variieren die Gesprächspraktiken je nach Aufgabenstellung und Arrangement der einzelnen Trainingssequenzen. So erweist sich für die in Kleingruppen vorgenommene Bearbeitung eigener Erlebnisse, die als zweite Trainingseinheit näher untersucht wurde, die Verknüpfung narrativer und beratungstypischer Verfahren als charakteristisch. Dies kann hier 6 zwar nicht im Einzelnen nachgewiesen werden, als Ergebnis der Analyse ist aber festzuhalten, dass narrative Verfahren (Zifonun et al. 1997:123) von den Teilnehmenden so zur Präsentation eigener Erlebnisse genutzt werden, dass andere den © Interculture Journal 2012 | 16

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Ablauf nachvollziehen und vorgenommene Bewertungen teilen können. Die übergeordnete Aufgabenstellung der Kleingruppenarbeit, Erlebnisse zu präsentieren, mit Hilfe der im Trainingsverlauf vermittelten Analyseansätze näher zu erkunden sowie Handlungsperspektiven zu entwickeln, führt dann ins Beratungsschema (Nothdurft et al. 1994). Durch die damit verbundenen Aktivitäten gelangen die Teilnehmenden zu einer mehrperspektivischen Detaillierung der Narration: Die Perspektive des Erzählers wird zur Disposition gestellt, der typischerweise mit Erzählungen verbundene Gestaltschließungszwang löst sich auf und die präsentierte Geschichte wird interaktiv um neue Gesichtspunkte erweitert. Wie die Gesprächsanalyse der Bearbeitung von Erlebniserzählungen ferner gezeigt hat, hängen Unterschiede bei der Entwicklung von Handlungsperspektiven davon ab, wie die Teilnehmenden die potenzielle Gesichtsbedrohung bearbeiten, die mit der Preisgabe persönlicher Erlebnisse einhergeht. Sind die Beiträge kooperativ angelegt, können die Teilnehmenden zu Handlungsperspektiven gelangen, indem sie alternative sprachliche Handlungen bis hin zur Inszenierung von Formulierungsvarianten vorschlagen und deren Kultur- und Situationsangemessenheit gemeinsam prüfen. Werden die Beiträge dagegen eher konfrontativ gestaltet, können sich dissente Sequenzen ergeben, die eine Reflexion normativer Vorstellungen interkultureller Kommunikation mit sich bringen. Im ersten Fall zeichnet sich die Interaktionsdynamik durch Formen des transkulturellen Sprechens aus, während der zweite eine Nähe zur Stereotypenkommunikation aufweist. Über den bisherigen Forschungsstand führen diese Befunde insofern hinaus, als bislang keine Untersuchungen vorliegen, die Trainingssequenzen gezielt zum Zweck der Evaluation gesprächsanalytisch betrachten. So konnte die vorliegende Arbeit mit Nazarkiewicz (2010) zwar auf einschlägige Untersuchungen zu Stereotypenkommunikation und transkulturellem Sprechen als Charakteristika von Trainingsdiskursen bzw. Strategien der Trainingsmoderation aufbauen. Erweitert wurden diese Untersuchungen aber um Erkenntnisse im Hinblick auf die trainingsspezifische Realisierung von zentralen Gesprächspraktiken wie Monieren, Erzählen und Beraten mit Bezug zu ausgewählten Trainingseinheiten. Auf diese Weise konnte nicht zuletzt das didaktisch-methodische Potenzial kritischer Interaktionssituationen auf empirischem Wege näher bestimmt werden. Gleichwohl bleibt offen, inwiefern die verwendeten Verfahren zur Erkundung kritischer Interaktionssituationen den Beteiligten bewusst geworden sind und ihnen über das Training hinaus zur Verfügung stehen – hierzu bedarf es einer Untersuchung von subjektiven Sichtweisen der Teilnehmenden.

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4.

Subjektive Sichtweisen der Teilnehmenden

Die Rekonstruktion subjektiver Sichtweisen der Teilnehmenden orientiert sich an den oben genannten Evaluationsebenen, wobei die hier in Frage stehenden Lernprozesse in erster Linie auf der Grundlage des ersten Interviews ermittelt wurden. Neben Hinweisen auf die Teilnahmezufriedenheit in Form von Bewertungen einzelner Trainingssequenzen finden sich Anhaltspunkte dafür, wie sich der Lernprozess für die Teilnehmenden im Rückblick darstellt. Mit Hilfe einer deduktiv-induktiven Vorgehensweise wurden die Interviewäußerungen daraufhin untersucht, inwiefern sie Anhaltspunkte für die Umsetzung der einzelnen Lernschritte liefern, wie sie im Lernzirkel der Intercultural Anchored Inquiry von Kammhuber (2000:111ff.) vorgesehen sind: 1. Ausgliedern einer subjektiv relevanten Lernproblematik 2. Individuelle Interpretation des Handlungsgeschehens 3. Generieren multipler Interpretationsperspektiven 4. Perspektivenreflexion 5. Generieren multipler Handlungsalternativen 6. Reflexion von Handlungsfolgen 7. Metakontextualisierung 8. Internalisierung der Interkulturellen Anchored Inquiry Die Orientierung am Lernzirkel ermöglicht, von den subjektiven Sichtweisen der Teilnehmenden auszugehen und für alle Trainingssequenzen darzustellen, welche Lernschritte in den Interviewäußerungen zum Ausdruck kommen. Auf diese Weise lässt sich der Lernzirkel auf empirischer Grundlage ausdifferenzieren und für jede der im Training bearbeiteten kritischen Interaktionssituation zeigen, wie sich deren Wirkungsgefüge aus Sicht der Teilnehmenden darstellt. Betrachtet man die Interviewäußerungen, die sich auf die Trainingsfilmbearbeitung beziehen, ist festzustellen, dass die Teilnehmenden in diesem Fall Kommunikationsschwierigkeiten als relevante Lernproblematik identifiziert haben. Den Interviewäußerungen zufolge ist es ihnen im Zuge der Trainingsfilmbearbeitung gelungen, erste einseitige Kategorisierungen der Filmfiguren durch eine Betrachtung der Interaktionsdynamik zu erweitern. Dass zu den Lerneffekten des Plenumsgesprächs auch die Entwicklung multipler Interpretationsperspektiven gehört, illustriert beispielsweise die folgende Äußerung von Elena (EL):

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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse

IN

Und dann gab=s das erste Video. Ähm, da ist auch die Frage, hat das was gebracht, das zu sehen, dass so selbst zu analysieren und in der Gruppe zu besprechen?

EL

Ja, auf jeden Fall, weil jeder sieht was Anderes, jedem fällt was anderes auf. Und, ähm=ja, ich fand das auf jeden Fall sehr, es hat auf jeden Fall was gebracht, weil, wie gesagt, ich seh einige Sachen, der andere sieht andere Sachen. Und wenn sie alle zusammen getragen werden, dann entsteht so ein Bild von dem Ganzen. Sonst weiß ich nicht, sonst, kann sein, wenn ich mir das wieder angeguckt hätte, alleine (

) Mir wären nur einige Sachen

aufgefallen, wäre ich vielleicht damit auch zufrieden.

Abb. 4: Interview 1 / EL 18-19. Quelle: Bosse 2011:285.

7

Für Elena (EL) beruht der Lerneffekt der Trainingsfilmbearbeitung insbesondere darauf, dass das Zusammentragen unterschiedlicher Sichtweisen im Plenum zu einem „Bild von dem Ganzen“ geführt hat. Weitergehende Hinweise auf eine Ausdifferenzierung von Interpretationsperspektiven, bei denen die Teilnehmenden insbesondere zwischen Interaktionsvoraussetzungen und -dynamik unterscheiden, sind im Interview mit Paula zu finden: IN

Ja, okay. Und das erste Aha-Erlebnis, kannst du das näher beschreiben? Mit dem Video?

PA

Mit dem Video? Also ich hab mir das ja angeguckt und dann gedacht, „Oh Mann, das ist so=ne typische Situation.“ Und da hab ich gedacht, „Ne typische Situation, wie geh ich da ran?“ Also das, manchmal hab ich so das Gefühl, wenn die Sachen zu typisch sind, weiß ich nicht, wo, wo soll ich anfangen, das Problem aufzurollen? Wo soll ich anfangen, den Haken zu setzen? Und das war bei der Analyse ganz gut, weil wir das auf mehreren Ebenen halt aufgebrochen haben. Auf der verbalen Ebene, auf der, vielleicht der personelle Hintergrund und wirklich der sprachlichen Ebene. Und da hab ich gedacht, „Gut, wenn ich das versuche so zu trennen, dann komm ich über, vom einen auf das andere.“ Und das fand ich ganz gut. Jetzt weiß ich, wie man da ran gehen kann und steh nicht so hilflos davor, „Naja das ist halt typisch deutsch, typisch mh=mh=mh.“

Abb. 5: Interview 1 / PA 12-13. Quelle: Bosse 2011:284f.

Paula (PA) hat bereits zu Beginn des Interviews hervorgehoben, dass die Trainingsfilmbearbeitung in ihrem Fall zu einem „Aha-Erlebnis“ geführt hat. Auf Nachfrage der Interviewerin (IN) schildert sie zunächst ihre Hilflosigkeit, die im Film gezeigte Situation differenziert zu betrachten. Vor diesem Hintergrund bewertet sie es im Rückblick als hilfreich, dass die im Film präsentierte Handlungsproblematik im Plenumsgespräch in unterschiedliche Ebenen aufgeschlüsselt wurde. Dabei betrachtet Paula die Trennung von Analyseebenen als ein Vorgehen, das sich auch auf andere Situationen übertragen lässt, wenn sie bilanzierend feststellt, „[j]etzt weiß ich, wie man da ran gehen kann“. In einer Vielzahl von weiteren Interviewäußerungen finden sich Hinweise darauf, dass die Teilnehmenden im Plenumsgespräch zu Einsichten in die wechselseitige Verantwortung für die Gestaltung des Interaktionsgeschehens gelangt sind. Dies hat wiederum zu der allgemeinen Handlungsorientierung geführt, dass das Gelingen interkultureller Kommunikation von

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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse

wechselseitigen Anstrengungen der Interagierenden abhängt. Wie sich bereits in der Äußerung von Paula in Abbildung 5 andeutet, gelangen die Teilnehmenden auch zu Erkenntnissen, die über die Trainingsfilmbearbeitung hinausreichen. Als allgemeines Prinzip interkultureller Erkundungen scheint einigen bewusst geworden zu sein, dass bei der Analyse interkultureller Kommunikationssituationen neben eingebrachten Unterschieden auch die hervorgebrachte Interaktionsdynamik zu berücksichtigen ist. Der im Zusammenhang der Trainingsfilmbearbeitung realisierte Lernzirkel lässt sich vor diesem Hintergrund folgendermaßen zusammenfassen: 1. Kritische Interaktionssituation Kommunikationsschwie2. Individuelle Interpretation rigkeiten des Handlungsgeschehens: Kategorisierung der Interagierenden / Beschreibung des Interaktionsgeschehens

8. Internalisierung der Interkulturellen Erkundung: Differenzierung zwischen eingebrachten Unterschieden und hervorgebrachter Interkultur

3. Generieren multipler Interpretationsperspektiven: Wahrnehmungsdifferenzierung

7. Metakontextualisierung

6. Reflexion der Handlungsfolgen 5. Generieren multipler Handlungsperspektiven: Einsicht in wechselseitigen Handlungsbedarf

4. Reflexion der Interpretationsperspektiven: Distanzierung von einseitigen Schuldzuweisungen

Abb. 6: Lernzirkel Trainingsfilmbearbeitung. Quelle: Bosse 2011:289.

Wie die Abbildung zeigt, zeichnet sich das Wirkungsgefüge der Trainingsfilmbearbeitung aus Sicht der Teilnehmenden durch einen Schwerpunkt im Bereich der Entwicklung, Differenzierung und Reflexion von Interpretationsperspektiven aus. Vergleicht man dies mit den nachfolgenden Trainingsphasen, dann ist zu erkennen, dass sich im Trainingsverlauf eine Verschiebung hin zur Entwicklung von Handlungsperspektiven vollzieht. So verdeutlicht die Inhaltsanalyse der Interviewäußerungen, wie sich der Schwerpunkt der interkulturellen Erkundung kritischer Interaktionssituationen von analytischen hin zu handlungsorientierten Lernschritten verlagert. Diese Progression geht einher mit dem Befund, dass das untersuchte Training die Teilnehmenden nicht nur kognitiv und handlungsbezogen involviert, sondern auch auf emotionaler Ebene. Im Fall der Bearbeitung eigener Erlebniserzählungen kommt dies beispielsweise darin zum Ausdruck, dass zunächst divergierende Kommunikationskonventionen, wie sie von einzelnen Teilnehmenden erlebt wurden, als Lernproblematik ausgegliedert werden. Die in den Interviews zum Ausdruck gebrachte Suche nach Interpretationsperspektiven und

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Handlungsalternativen bewegt sich dann zwischen Nachvollzug und Abgrenzung im Hinblick auf emotionale Reaktionen und individuelle Handlungspräferenzen. Ferner gelingt es einigen Teilnehmenden, multiple Interpretationsperspektiven zu generieren, die neben kulturellen Unterschieden auch personale und situative Einflussfaktoren berücksichtigen. Zu den Wirkungen der Bearbeitung von Erlebniserzählungen gehören darüber hinaus Einsichten im Hinblick auf Erweiterungsmöglichkeiten des eigenen Handlungsrepertoires sowie bezüglich eventueller Grenzen, die sich bei der Umsetzung von Hand8 lungsvorsätzen ergeben können. Als Erkenntnisgewinn der Inhaltsanalyse von Interviewäußerungen kann hier festgehalten werden, dass sie einen Einblick in die rückblickende Darstellung von individuellen Lernprozessen ermöglicht. Auf diese Weise lassen sich empirisch fundierte Aussagen hinsichtlich der Umsetzung didaktisch-methodischer Konzepte gewinnen, die dem Trainingsaufbau zugrunde liegen. So kann für den Lernzirkel von Kammhuber gezeigt werden, dass seine Umsetzung im Trainingsverlauf variieren kann: Je nachdem, in welchem Format eine kritische 9 Interaktionssituation präsentiert wird, welche Aufgabenstellung die Bearbeitung leitet und in welche Trainingsphase die Erkundung eingebettet ist, werden eher analytisch oder handlungsbezogene Lernschritte realisiert und eine eher kognitive, emotionale oder konative Beteiligung erreicht. Allerdings ist die Inhaltsanalyse auf retrospektive Aussagen zum Trainingsgeschehen begrenzt, die nicht zuletzt vom Mitteilungs- und Reflexionsvermögen der Befragten sowie von der Interaktion mit der Interviewerin abhängen. Einen Einblick in das tatsächliche Trainingsgeschehen, wie ihn die Gesprächsanalyse ermöglicht, kann die Inhaltsanalyse also nicht ersetzen. Entsprechend bietet es sich an, die inhalts- und gesprächsanalytischen Verfahren im Sinne der Perspektiventriangulation zu kombinieren und ihre jeweiligen Ergebnisse miteinander in Bezug zu setzen. 5.

Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse

Ausgehend von den Ergebnissen der Gesprächs- und Inhaltsanalyse lässt sich die mit der Perspektiventriangulation angestrebte Verbreiterung von Erkenntnismöglichkeiten auf unterschiedlichen Wegen realisieren. Zentral ist dabei die Frage nach dem tertium comparationis, d. h. nach den Vergleichsmomenten, auf die sich sowohl gesprächs- als auch inhalts10 analytische Ergebnisse beziehen lassen. Wie im Folgenden näher zu erläutern ist, sind diese Vergleichsmomente sowohl theoriegeleitet als auch datenbasiert zu gewinnen.

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Theoretisch fundierte Vergleichsmomente spielen in der hier vorgestellten Studie insofern eine Rolle, als bereits die Entwicklung des Evaluationsdesigns einen spezifischen Trainingsworkshop als gemeinsamen Bezugspunkt für die Datenauswertung vorsieht. So richten sich der Einsatz von Erhebungsinstrumenten und die Datenauswahl danach, Trainingsphasen aufzuzeichnen und auszuwählen, die in den nachfolgenden Interviews aufgegriffen und näher beleuchtet werden. Theoretisch begründet ist dieses Vorgehen durch die Unterscheidung von Evaluationsebenen, denen die erhobenen Befragungs- und Gesprächsdaten je nach Aussagekraft zugeordnet werden. Wie oben erwähnt, beruht die Rekonstruktion der Teilnahmemotivation beispielsweise allein auf der Analyse von Interviewdaten, während für die Lernprozessebene beide Datensorten von Bedeutung sind. Hier besteht die Perspektiventriangulation darin, die gesprächsund inhaltsanalytisch gewonnenen Ergebnisse wechselseitig aufeinander zu beziehen. Auf der einen Seite sind die kommunikativen Besonderheiten einzelner Trainingseinheiten mit Hilfe der Befragungsdaten danach zu beurteilen, inwiefern sie sich für die Teilnehmenden als lernwirksam erwiesen haben. Andererseits gewinnen wiederum die anhand von Selbstauskünften rekonstruierten Lernprozesse an Gehalt, indem sie auf ihren kommunikativen Entstehungszusammenhang zurückgeführt werden. Besonders augenfällig ist der auf diesem Weg erlangte Erkenntnisgewinn beispielsweise im Fall der Teilnehmerin Paula, die nicht nur im Plenumsgespräch maßgeblich zur Ausdifferenzierung von Interpretationsperspektiven beiträgt (siehe Abbildung 3), sondern hierin auch im Nachhinein ihr individuelles „Aha-Erlebnis“ sieht (siehe Abbildung 5). Gerade solche Zusammenhänge zwischen dem interaktiven Trainingsgeschehen und den individuellen Lernerlebnissen der Teilnehmenden, die sich nur durch die Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse aufdecken lassen, ermöglichen einen vertieften Einblick in das untersuchte Wir11 kungsgefüge. Zusammen mit der Unterscheidung von Evaluationsebenen hat sich auch der Lernzirkel von Kammhuber als geeigneter Vergleichshorizont für die Perspektiventriangulation erwiesen. Anders als im Fall der Evaluationsebenen erfolgt die Anwendung des Lernzirkels allerdings nicht rein deduktiv. Vielmehr wird er im Zuge der Datenauswertung materialbasiert ausdifferenziert, indem seine Umsetzung mit Blick auf einzelne Trainingsphasen untersucht wird. So führt die Verschränkung der Forschungsperspektiven hier zu dem Ergebnis, dass die mit dem Generieren und Reflektieren von Interpretationsund Handlungsperspektiven verbundenen Lernschritte auf kommunikative Steuerungs- und Rahmungsaktivitäten angewiesen sind. Während diese Aktivitäten im oben illustrierten

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Plenumsgespräch weitgehend von Seiten der Seminarleitung übernommen werden, zeigt die Analyse des Kleingruppengesprächs, wie die Teilnehmenden steuernde Verfahren im Zuge der Erkundung der erzählten Erlebnisse einsetzen. Für die Evaluation von Lernprozessen bedeutet dies, dass sich nicht nur punktuelle Parallelen zwischen Trainingsgeschehen und subjektiven Sichtweisen ziehen lassen. Vielmehr können zudem Aussagen darüber gemacht werden, wie die mehrperspektivische Betrachtung kritischer Interaktionssituationen interaktiv vorangetrieben wird. Auf diese Weise erhält das didaktisch-methodische Modell der Intercultural Anchored Inquiry eine empirische Basis, die Antworten auf die Frage bietet, welche kommunikativen Verfahren die sukzessive Umsetzung von Lernschritten fördern können (Bosse 2011:362ff.). Der Erkenntnisgewinn durch die Perspektiventriangulation beschränkt sich allerdings nicht auf die Evaluation von Lernprozessen. Vielmehr lassen sich die gesprächs- und inhaltsanalytisch ermittelten Ergebnisse auch für die Betrachtung weiterer Evaluationsebenen nutzen, um das Bild der Trainingswirkungen zu vervollständigen. So beinhaltet die hier nur in Auszügen vorgestellte Untersuchung auch die Analyse von Teilnahmemotivation, Teilnahmezufriedenheit und nicht zuletzt von Transferleistungen der Teilnehmenden (Bosse 2011:265ff.). Letztere basiert auf Vergleichsmomenten, die erst im Zuge der Datenauswertung aus dem Material heraus gewonnen wurden. Hier kommt das Prinzip der Perspektiventriangulation insofern zur Anwendung, als aus den gesprächsanalytischen Ergebnissen der Untersuchung des Trainingsgeschehens Kategorien für die Inhaltsanalyse von ausgewählten Interviewpassagen abgeleitet wurden. Zu unterscheiden sind dabei beispielsweise stereotypisierend oder transkulturell angelegte Äußerungsformen sowie die inhaltliche Reichweite von Äußerungen im Hinblick auf die Berücksichtigung von Interaktionsvoraussetzungen und / oder Interaktionsdynamik (siehe Abschnitt 3). Auf diese Weise ergeben sich gesprächsanalytisch fundierte Kategorien für die Auswertung von Interviewpassagen, in denen die Teilnehmenden vor vergleichbaren kommunikativen Aufgaben wie im Training stehen. Denn auch in den Interviews ist ein Trainingsfilm zu bearbeiten und die Teilnehmenden sind zudem aufgefordert, sich zu eigenen interkulturellen Erlebnissen zu äußern. Entsprechend lässt sich mit Hilfe des gesprächsanalytisch fundierten Kategoriensystems untersuchen, inwieweit die Teilnehmenden Analyse- und Lösungsansätze aus dem Training übertragen und damit in der Lage sind, zentrale Schritte interkultureller Erkundungen eigenständig anzuwenden (Bosse 2011:337ff.). Zur Analyse solcher Transferleistungen dient mit dem Kategoriensystem also ein Bezugspunkt, der erst in der 159

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Auseinandersetzung mit den erhobenen Daten generiert wurde. Die bislang erläuterte Umsetzung des Prinzips der Perspektiventriangulation geht vom Einzelfall des Trainingsworkshops aus, um sein spezifisches Wirkungsspektrum zu erfassen. Darüber hinaus lassen sich gesprächs- und inhaltsanalytische Ergebnisse aber auch so kombinieren, dass einzelne Teilnehmende in den Blick genommen werden, um individuelle Prozesse interkultureller Kompetenzentwicklung in Form von Kompetenzprofilen zu rekonstruieren (Bosse 2011:372ff.). Hierfür sind die Merkmale der individuellen kommunikativen Beteiligung am Trainingsgeschehen und die jeweiligen subjektiven Sichtweisen der Trainingswirkung so zusammenzusetzen, dass die Kompetenzentwicklung von der Teilnahmemotivation bis hin zu den Transferleistungen für den Einzelfall nachgezeichnet wird. Dabei fungiert das dem Training zugrunde liegende Modell interkultureller Kompetenz (siehe Abschnitt 3) als gemeinsamer Bezugspunkt, an dem sich die Äußerungen der Teilnehmenden messen lassen. Durch den Vergleich der individuellen Kompetenzprofile kann die Perspektiventriangulation schließlich dazu beitragen, einen Einblick in die Variationsbreite der Entfaltung von Trainingswirkungen zu gewinnen. Die Umsetzung der Perspektiventriangulation erfolgt dabei ähnlich wie beim Lernzirkel auf deduktiv-induktive Weise: Die im INCA-Modell vorgesehenen Komponenten und Teilaspekte interkultureller Kompetenz werden zur Ermittlung von Kompetenzprofilen zum einen deduktiv an das Datenmaterial herangetragen. Zum anderen kann das Modell am Material überprüft und erweitert werden (Bosse 2011:386f.). 6.

Fazit und Ausblick

Die gesprächsanalytisch ermittelten kommunikativen Merkmale des Trainingsgeschehens und der Einblick in die inhaltsanalytisch erfassten subjektiven Sichtweisen der Trainingswirkungen veranschaulichen, wie sich zwei unterschiedliche Forschungsperspektiven im Sinne der systematischen Perspektiventriangulation gleichberechtigt und in sich konsequent anwenden lassen. Bilanzierend ist zunächst festzuhalten, dass beide Zugänge das Wirkungsgefüge interkultureller Trainings in jeweils spezifischer Weise erfassen. Während die Gesprächsanalyse Einblick in den unmittelbaren, kommunikativen Zusammenhang interkultureller Kompetenzentwicklung gewährt, erlaubt die Inhaltsanalyse eine Rekonstruktion von Trainingswirkungen aus Sicht der Teilnehmenden. Die Illustration der unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten von Gesprächs- und Inhaltsanalyse verdeutlicht, wie

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die Perspektiventriangulation den gesamten Forschungsprozess begleiten und schrittweise zur „Anreicherung und Vervollständigung der Erkenntnis und der Überschreitung der (immer begrenzten) Erkenntnismöglichkeiten der Einzelmethoden“ (Flick 2007, 520) führen kann. Theoretisch und empirisch fundierte Vergleichsmomente ermöglichen dabei, gesprächs- und inhaltsanalytisch gewonnene Ergebnisse als komplementäre Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand miteinander zu verschränken. Im Fall des untersuchten Trainingsworkshops besteht der auf diesem Weg erreichte Erkenntnisgewinn darin, das Wirkungsgefüge interkultureller Trainings näher bestimmen zu können. So lässt sich das Zusammenspiel von Training und Kompetenzentwicklung dahingehend zusammenfassen, dass die Teilnehmenden kritische Interaktionssituationen im Trainingsgeschehen mit Hilfe spezifischer Gesprächspraktiken erkunden und so zu einer mehrperspektivischen Interpretation sowie zu multiplen Handlungsperspektiven und deren Reflexion gelangen. Die mit diesen Lernschritten verbundenen Verfahren stehen ihnen in unterschiedlichem Maße auch über den unmittelbaren Trainingskontext hinaus zur Verfügung, um sie auf fremde und selbsterlebte interkulturelle Interaktionssituationen anzuwenden. Dabei variiert die im Training angeregte Kompetenzentwicklung in Abhängigkeit von den interkulturellen Vorerfahrungen der Teilnehmenden, der damit verbundenen Teilnahmemotivation, ihrer kommunikativen Beteiligung am Trainingsgeschehen sowie den im Training gewonnenen Ein12 sichten. Mit diesen Ergebnissen bietet die hier vorgestellte Studie neue Antworten bezüglich der anfangs herausgestellten Fra13 ge, wie interkulturelle Trainings wirken. Auch wenn es zur Vertiefung der Ergebnisse noch eines erweiterten Korpus an Trainings- und Interviewdaten bedarf, illustriert die Studie ein innovatives Verfahren der Trainingsevaluation, indem sie die jeweils spezifische Aussagekraft von zwei unterschiedlichen Forschungsperspektiven miteinander vereint. Davon profitiert insbesondere die Erfassung von Lernprozessen, aber auch Transferleistungen können annäherungsweise ermittelt werden. Gleichwohl kann auch die Perspektiventriangulation das prinzipielle Problem der Trainingsevaluation nicht vollständig lösen, das sich aus der Komplexität und der zeitlichen Verzögerung von Trainingswirkungen ergibt (Ehnert 2007:447, Arnold / Mayer 2010:556). Denn wie sich auch in der vorgestellten Studie gezeigt hat, hängen Transferleistungen nicht zuletzt davon ab, inwiefern sich den Teilnehmenden im Anschluss an das Training überhaupt Gelegenheiten bieten, die im Trainingsgeschehen entwickelten Interpretationsverfahren und Handlungsansätze anzuwenden. Im Hinblick auf die Untersuchung der Evaluationsebene des Transfers besteht also 161

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die generelle Schwierigkeit, Transfermomente aufzuspüren und eindeutig auf das Trainingsgeschehen zurückzuführen. Überträgt man schließlich die am Beispiel der Trainingsevaluation aufgezeigten Möglichkeiten der Perspektiventriangulation auf interdisziplinäre Forschungsvorhaben im Allgemeinen, mag zunächst der damit verbundene Mehraufwand ins Auge fallen. In der Tat setzt die gleichberechtigte und konsequente Anwendung unterschiedlicher Forschungsperspektiven eine entsprechende Methodenexpertise voraus und ist mit einem besonderen Zeitaufwand verbunden. Gleichwohl dürfte dies durch den zusätzlichen Erkenntnisgewinn aufzuwiegen sein und sich in einem mehrköpfigen Forschungsteam durchaus bewältigen lassen. Dabei kann das Prinzip der Perspektiventriangulation den methodologischen Rahmen bieten, um sich über Erkenntnispotentiale disziplinspezifischer Forschungsansätze zu verständigen, mögliche Berührungspunkte aufzuspüren und diese für interdisziplinäre Zusammenarbeit zu nutzen. Literatur Arnold, M. / Mayer, T. (2010): Evaluation. In: Weidemann, A. / Straub, J. / Nothnagel, S. (Hrsg.): Wie lehrt man interkulturelle Kompetenz. Theorien, Methoden und Praxis in der Hochschulausbildung. Ein Handbuch. Bielefeld: Transcript, S. 525-562. Becker-Mrotzek, M. / Vogt, R. (2001): Unterrichtskommunikation. Linguistische Analysemethoden und Forschungsergebnisse. Tübingen: Max Niemeyer. Bergmann, J. (1985): Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit. Aufzeichnungen als Daten der interpretativen Soziologie. In: Bonß, W. /Hartmann, H. (Hrsg.): Entzauberte Wissenschaft. Zur Relativität und Geltung soziologischer Forschung. Göttingen: Schwartz, S. 299-320. Bosse, E. (2011): Qualifizierung für interkulturelle Kommunikation: Trainingskonzeption und -evaluation. München: Iudicium. Bosse, E. / Müller-Jacquier, B. (2004): Interkulturelle Kommunikationskompetenz. Universität Bayreuth. (Internes Arbeitspapier). Denzin, N. K. (1978): The Research Act. New York: McGraw Hill. Deppermann, A. (2001): Gespräche analysieren. Opladen: Leske und Budrich. Ehnert, I. (2007): Evaluation. In: Straub, J. / Weidemann, A. / Weidemann, D. (Hrsg.): Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Stuttgart: Metzler, S. 439-450. Fiehler, R. (1995): Implizite und explizite Bewertungsgrundlagen für kommunikatives Verhalten in betrieblichen Kommunikationstrainings. In: Biere, B. / Hoberg, R. (Hrsg.): Bewertungskriterien in der Sprachberatung. Studien zur deutschen Sprache 2. Tübingen: Narr, S. 110-131.

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1

Zu den genannten Modellen interkultureller Kompetenz siehe Bosse (2011:61ff.). Für eine weitergehende Begründung der Trainingsziele siehe Bosse (2011:97ff.). 2

Für nähere Angaben zum didaktisch-methodischen Aufbau des untersuchten Trainings siehe Bosse (2011:100ff.). 3

Während die Fragebogendaten von allen Teilnehmenden vorliegen, wurden die Interviews nur mit 13 (Interview 1) bzw. 11 (Interview 2) Teilnehmenden durchgeführt, da sie auf Freiwilligkeit beruhten und von der zeitlichen Verfügbarkeit der Teilnehmenden abhingen. 4

Die Transkriptkonventionen orientieren sich weitegehend am „Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem (GAT)“ von Selting et al. (1998) und sind aufgeführt in Bosse (2011:466). 5

Entsprechende Belege am Transkript finden sich in Bosse (2011:171-205). 6

Für die detaillierte Analyse der Kleingruppengespräche mit Transkriptauszügen siehe Bosse (2011:208-263). 7

Die Transkription der Interviews orientiert sich an einer stark vereinfachten Version der GAT-Konventionen (Bosse 2011:467). 8

Für eine detaillierte Analyse der Interviewäußerungen zu dieser Trainingsphase siehe Bosse (2011:296-302). 9

Im untersuchten Training kamen neben dem filmischen und narrativen Format auch kritische Interaktionssituationen in Form von Simulationen zum Einsatz. Zu dieser Unterscheidung und dem didaktisch-methodischen Potential der einzelnen Formate siehe Bosse (2011:81-96). 10

Für den Hinweis auf die notwendige Hervorhebung von Vergleichsmomenten danke ich Prof. Dr. Elias Jammal.

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Neben Parallelen zwischen den beiden Datensorten wie im Fall von Paula, können natürlich auch gesprächs- und inhaltsanalytische Ergebnisse den Erkenntnisgewinn vergrößern, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Siehe hierzu insbesondere die für einzelne Teilnehmende erstellten Kompetenzprofile (Bosse 2011:372ff.). 12

Für eine detailliertere Zusammenfassung der Ergebnisse, die auch das spezifische Potential der linguistisch basierten Trainingskonzeption genauer beleuchtet, siehe Bosse (2011, 414ff.). 13

Wie an anderer Stelle genauer ausgeführt, lassen sich daraus weitergehende Perspektiven für die Justierung des untersuchten Trainingskonzepts ableiten (Bosse 2011:386) sowie allgemeine Qualitätsmerkmale für interkulturelles Training formulieren (Bosse 2011:422ff.).

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da Silva / Drawert: Zur linguistischen Analyse biografisch-narrativer Interviews: Die Innen- und Außenperspektive internationaler Studierender am Beispiel von zwei aktuellen Forschungsprojekten

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biographical narrative interviews: The internal and external perspectives of international students using the example of two current research projects]

Vasco da Silva Dipl.-Wirtschafts-hispanist (FH), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle Kommunikation der Stiftung Universität Hildesheim.

Helena Drawert M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Interkulturelle Kommunikation der Stiftung Universität Hildesheim.

Abstract [English] Students who study abroad either as a part of the curriculum or as their main study period, make interesting research subjects not only in the context of the internationalization of higher education, but also within the broader field of intercultural research. Although this group of students is easily accessible to different research interests, there are – as we, Helena Drawert and Vasco da Silva, will show in this article – only a few qualitative studies on the interior and exterior forms of academic residence abroad. Based on the thematic focus of our research projects, the following paper will demonstrate how the potential of this target group can be used to analyse different phenomena and diverse questions and problems within the field of intercultural research. Keywords: Narrative interview, international students, discourse analysis, hermeneutics Abstract [Deutsch] Studierende, die entweder einen Teil oder das gesamte Studium an einer ausländischen Universität absolvieren, stellen insbesondere im Kontext der Internationalisierung der Hochschulen, aber auch hinsichtlich der Erforschung von Interkulturalität generell, interessante Forschungssubjekte dar. Doch obwohl diese Gruppe der Studierenden einen relativ einfachen Feldzugang ermöglicht, gibt es – wie wir, Helena Drawert und Vasco da Silva, in diesem Artikel zeigen werden – nur recht wenige qualitative Studien zur äußeren und inneren Gestalt von studentischen Auslandsaufenthalten. Anhand der Themenschwerpunkte unserer derzeit laufenden Dissertationsprojekte soll im Folgenden dargelegt werden, wie die interkulturelle, qualitative Forschung das Potential dieser Zielgruppe nutzen kann, um unterschiedliche Phänomene zu untersuchen und diverse Frage- und Problemstellungen zu erörtern. Stichworte: Narratives Interview, internationale Studierende, Gesprächsanalyse, Hermeneutik 1.

Ausgangspunkt

Die zunehmende Internationalisierung deutscher Hochschulen gewinnt immer mehr an gesellschaftlicher, bildungspolitischer, aber auch wirtschaftlicher Relevanz. Doch obwohl die Prozesse der innereuropäischen und globalen Vernetzung zwischen den Bildungseinrichtungen neue Perspektiven eröffnen, ergeben sich auch entsprechende Herausforderungen 167

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für Wissenschaft und Forschung. Insbesondere für die Hauptakteure, die in diesen Entwicklungsfortgang unmittelbar involviert sind, wird ein entsprechender Handlungsbedarf deutlich: So sind es die deutschen und internationalen Hochschulen auf der einen und die Studierenden selbst auf der anderen Seite, die maßgeblich zum Gelingen von Internationalisierungsprozessen beitragen. Die Mobilität von Studierenden spielt dabei eine wichtige Rolle, schließlich gilt die Quote internationaler Studierender, zumindest von quantitativen Gesichtspunkten her betrachtet, als ein zentraler Indikator für den Grad der Internationalität der Hochschulen. Die wachsende Forderung nach Flexibilität, Reisebereitschaft und Standortunabhängigkeit von Studierenden (beispielsweise hinsichtlich der allgemein geforderten Auslandserfahrungen und Fremdsprachenkenntnisse oder auch bezogen auf neue, international ausgerichtete Studiengänge) macht eine entsprechende Infrastruktur erforderlich. Insbesondere angesichts der fast kontinuierlich gestiegenen 1 Zahlen internationaler Studierender sind Bildungseinrichtungen und Hochschulen gefragt, die Rahmenbedingung weiter zu internationalisieren, Studienbedingungen im Sinne eines gelingenden internationalen Austausches zu gestalten und / oder geeignete Integrationsmaßnahmen für die so genannten Incomings und Outgoings zu erarbeiten und nachhaltig umzusetzen. Langfristig wird eine höhere Mobilität und – damit einhergehende – Internationalität jedoch nur durch eine nähere Betrachtung der sowohl vorübergehenden, als auch dauerhaften Bedingungen und Folgen von Studierendenmobilität gelingen. Entsprechende Untersuchungen zur soziodemografischen Entwicklung und wirtschaftlichen Situation von Studierenden im In- und Ausland, zur Studienmotivation und den -bedingungen von Auslandsaufenthalten sind daher unerlässlich. Eine Vielzahl an bereits existierenden Untersuchungen, z. B. bezüglich des Status Quo der Internationalisierung der Hochschulen und deren Einflussfaktoren, beruht hauptsächlich auf quantitativen Daten. Als ein Beispiel seien hier die Sozialerhebungen und weitere Publikationen des Deutschen Studentenwerks gemeinsam mit dem HIS Hochschul-Informations-System (u. a. Deutsches Studentenwerk 2010a) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) genannt, die anhand von Ergebnissen aus schriftlichen Befragungen, Aufschluss über die soziale und 2 wirtschaftliche Lage internationaler Studierender geben. Die sozioökonomische Herkunft und materielle Ausstattung von ERASMUS-Studierenden, einige Gründe für ihren Auslandsaufenthalt sowie die kurz-, mittel- und langfristigen Erfolgschancen durch den Wechsel des Studienortes sind u. a. von Bracht et al. (2006) untersucht worden. Im Gegensatz dazu wurde die qualitative Seite der Internationalität und Studie-

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rendenmobilität an Hochschulen bisher jedoch noch nicht ausreichend berücksichtigt. Im deutschsprachigen Raum sind hierzu u. a. die Arbeiten von Budke (2003) oder Nothnagel (2010) zu nennen, die ganz allgemein das Auslandssemester als Untersuchungsgegenstand heranziehen und „Wahrnehmungs- und Handlungsmuster im Kulturkontakt“ (Budke 2003) von AustauschstudentInnen untersuchen. Weitere hochschulspezifische Publikationen, die sich den jeweiligen subjektiven Erfahrungswelten von internationalen Studierenden (und teilweise anderen Statusgruppen) exemplarisch anhand bestimmter Herkunftsgruppen gewidmet haben, sind bspw. die Arbeiten von Weidemann (2004), Hiller (2007), Griese (2007), Farrokhzad (2007) oder Koller / Kokemohr / Richter (2006). Eine Untersuchung zur persönlichen Situation lateinamerikanischer Studierender in Deutschland gibt es von Alvarez (1991), die jedoch bereits über 20 Jahre zurückliegt und auch methodisch und thematisch andere Schwerpunkte verfolgt. Bezug nehmend auf die oben skizzierte Forschungslage besteht unserer Ansicht nach die Notwendigkeit darin, auch die subjektive Ebene von betroffenen Akteuren – hier: Studierenden – zu erfassen. In Erweiterung der quantitativen Studien können insbesondere die persönlichen Sichtweisen und tiefer liegenden Wissensbestände durch qualitative Arbeiten besser erfasst werden. Gerade die persönlichen Erlebnisse sind für Europa als politischer und gesellschaftlicher Entität aber auch auf der Ebene der globalen Zusammenarbeit von größter Bedeutung. Die Erfahrungen der internationalen Studierenden in den jeweiligen Gastländern stellen die Basis für das Geoder Misslingen und die Bewertung des Auslandsaufenthaltes dar und können wichtige Erkenntnisse zur Verbesserung von nachhaltigen Mobilisierungsprozessen liefern. Gleichzeitig wird durch die subjektiven Erlebnisse der Betroffenen die Basis für die zukünftige Meinung und Einstellung gegenüber dem Gastland und Europa gelegt. Neben sozioökonomischen Faktoren sind dabei vor allem soziale Bindungen zum jeweiligen Gast- und Herkunftsland von entscheidender Wichtigkeit: Neue Freundes- und Bekanntenkreise stellen für internationale Studierende Sicherheit und Vertrauen in der Fremde her (Federico de la Rúa 2002:24), währenddessen der Kontakt zum Heimatland Stabilität und Kontinuität bedeutet (vgl. auch Berkenbusch / Fetscher 2011). Dies wird beispielsweise auch ganz konkret an dem folgenden Transkriptausschnitt deutlich (alle Interviewausschnitte wurden in Anlehnung an das Transkriptionsverfahren GAT 2 nach Selting/ Auer et al. 2009 transkribiert). In dem Interview berichtete ein spanischer ERASMUS-Student, der seinen Aufenthalt in Deutschland

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verbrachte, von den Freizeitaktivitäten mit seinen damaligen internationalen Freunden: y luego los viajes que hicimos pues (--) und dann die Reisen, die wir machten, nun (--)

también unieron es que un viaje UNE [...] die verbanden uns auch, es ist halt so, eine Reise VERBINDET [...]

pues te lo pases muy bien y encima:: con ja, Du verbringst eine sehr gute Zeit und obendrein:: mit

gente con la que ya te lo estás pasando bien Leuten, mit denen Du Dich schon gut

en ((ciudad de destino))’ (--) pues como el in ((Zielstadt)) verstehst, (--) halt wie

doble de diversión [...] y el resultado es doppelter Spaß [...] und das Resultat ist,

que ahora ya tengo a casi toda esta gente dass ich jetzt immer noch fast alle diese Leute

la tengo en facebook y seguimo::s en contacto in Facebook habe und wir im Kontakt blei::ben

(2.0) y una relación buena (2.0) und eine gute Beziehung [haben]

Abb. 1: Auszug aus Interview E 002 (da Silva), Zeilen 498-506.

Der Interviewpartner reflektiert die von ihm erwähnte Gruppenkonstellation während seines Auslandsaufenthaltes und zeigt, auf welche Weise u. a. eine neue, lokal konstruierte Gemeinschaft entstehen kann, die – wie im Zitat angeführt – selbst noch Jahre später aktiv ist. Ein weiterer Transkriptausschnitt zeigt die sozialen Konstellationen eines Studenten aus einem lateinamerikanischen Herkunftsland während seiner Anfangszeit in Deutschland.

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Befragter 1: i=im in den ERSTEN tagen, (.) vom STUDIENkolleg, habe ich diese=diese JUNGE kennengelernt, ne? (.) diese MAROKKANER? (-) achso DAS, (.) diese ((lacht)) (-) wir waren mit diesen SCHWARZEN zusammen, diese von der (studienherberge). (.) achso und ER KENNTE diese marokkaner ne? und er hat uns so VORGESTELLT (oder so); (---) ((räuspert sich)) na ja; (-) und=äh? (--) ACHSO ja. und mit dem waren wir so am ANFANG so befreundet, weil IRgendwie s=waren wir in der GLEICHEN LAGE, weißt du? Interviewerin: [] Befragter 1: [

das i]st immer SO. mit den leuten mit

denen (.) du in der GLEICHEN lage bist, dann (-) findest du immer so (.) schnelle FREUNDschaft, oder so. ((räuspert sich)) Abb. 2: Auszug aus Interview: INT1-PERS1-TXT1-S1-46-Z1-1623 (Drawert), Zeilen 381-389.

Anhand der Darstellung des Interviewten wird exemplarisch deutlich, dass der Beginn des Auslandsaufenthaltes als besondere Herausforderung für internationale Studierende wahrgenommen wird und Freundschaften bspw. auf der Basis einer gleichen Lage eingegangen werden. Diese Bekanntschaften sorgen scheinbar dann für ein sicheres und vertrautes Gefühl, wenn die befreundeten Personen ebenso fremd sind wie man selbst, sei es aufgrund der Nationalität oder der Hautfarbe. Anhand beider Transkriptionsausschnitte wird deutlich, dass in solchen communities of practice bzw. Schicksalsgemeinschaften von internationalen Studierenden im Ausland, individuelle Erfahrungen in einem geteilten Prozess des Lernens und der Wissensaneignung konvergieren. Beispielsweise werden Nationalitäts- und Identifikationsprozesse durch die persönlichen Erlebnisse der Studierenden verändert bzw. neu ausgehandelt (Federico de la Rúa 2002). So wird dem Diskurs über das Gast- und Heimatland (aber oft auch weiterer Länder) ein neuer Sinn und Bedeutung verliehen. Aus sozio-linguistischer Forschungsperspektive besteht das primäre Erkenntnisinteresse nun darin, die Gestalt und Bedeutung der in ein internationales Umfeld eingebetteten sozialen Interaktionen zu ergründen. Auf der Basis eines retrospektiv orientierten Erhebungsinstruments, dem narrativen Interview, und einer rekonstruktiv-hermeneutischen Analyse gilt zu untersuchen, was die Studierenden während ihres Auslandsstudiums erlebten und vor allem, wie sie jene Erfahrungen aus heutiger Sicht wahrnehmen und ihnen Bedeu-

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tung beimessen, um z. B. persönliche Entwicklungsprozesse nachzeichnen zu können. 2. 2.1

Vorstellung der Dissertationsprojekte Themenstellung

Die hier vorgestellten, aktuell laufenden Dissertationsprojekte fassen zwei unterschiedliche Formen des internationalen Studiums ins Auge, wie bereits die oben angeführten Transkriptausschnitte angedeutet haben: Mittels narrativer Interviews (Schütze 1987) rücken einerseits nichteuropäische Vollzeitstudierende an deutschen Hochschulen und andererseits ERASMUS-Studierende in den Mittelpunkt der Forschung. Das Promotionsprojekt von Helena Drawert nimmt die soge3 nannten Bildungsausländer in den Blick und konzentriert sich dabei auf Vollzeitstudierende aus verschiedenen spanischsprachigen Ländern Lateinamerikas, die seit mindestens einem Jahr in Deutschland studieren und leben. Es soll ergründet werden, was passiert, wenn diese jungen Menschen ihren Herkunftskontext zu Studienzwecken verlassen und versuchen, sich in ihrer neuen Umgebung zurechtzufinden. Die Narration der befragten Studierenden und deren Sprechen über Desorientierung innerhalb des studentischen Umfelds und weiterer Lebensbereiche, aber auch über positive Erlebnisse des sich Zurechtfindens und Zugehörigkeitserfahrungen sind dabei von Interesse. Vasco da Silva beschäftigt sich in seinem Dissertationsprojekt mit den Erzählverfahren und Erzählstrategien, die Interviewte anwenden, wenn sie über das Thema Liebe – und damit über Emotionen generell – sprechen. Er wählte sich dazu das bisher noch als Desiderat geltende Thema der so genannten ERASMUS-Liebe aus. Deutsche und spanische Studierende, welche jeweils ein Jahr in Spanien bzw. in Deutschland studierten und vor Ort eine Liebesbeziehung mit einer / m Gastkulturanhörigen eingegangen sind, erzählen aus ihrem ERASMUS-Jahr. Beide Projekte analysieren neben den subjektiven Erfahrungen und den in der Narration stattfindenden Sinngebungsprozessen die jeweiligen Erzählverfahren und -strategien der Interviewten und gehen damit über die bloße Wiedergabe der inhaltlichen Aspekte hinaus. Entscheidend ist, dass durch die Konzentration auf die sprachliche Oberfläche in Verbindung mit der kommunikativen Tiefenstruktur herausgearbeitet werden kann, wie die Informantinnen und Informanten ihren Erlebnissen Sinn verleihen (u. a. Soeffner 2004) – und dadurch Erfahrungen überhaupt erst generieren. So ist es bei-

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spielsweise auch möglich, Erkenntnisse über die konkret verbalisierten Inhalte hinaus zu gewinnen und so einen Zugang zu den subjektiven Befindlichkeiten und Erlebnissen der Betroffenen zu erhalten, z. B. in Bezug auf die sprachliche Darstellung und Konstruktion von Fremdheit und Zugehörigkeit von lateinamerikanischen Vollzeitstudierenden oder die verbalisierten Emotionen beim Sprechen über Liebe zwischen deutschen und spanischen Partnerinnen und Partnern. 2.2

Methodischer Zugang

Nachdem die Interviews gesprächsanalytisch transkribiert wurden, werden sie einer rekonstruktiven Analyse unterzogen. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, stets auch den „Beziehungsraum“ (Tietel 2000) zwischen den Interviewten und den Interviewern in die Analyse mit einzubeziehen. Die Interaktionsebene spielt – gerade weil wir es im narrativen Interview mit einer vermeintlichen monologischen Redeweise zu 4 tun haben – eine entscheidende Rolle für die Generierung der Daten. Vor allem aber die Art und Weise, wie Interviewte ihre Erfahrungen darstellen und welche syntaktischen und morphologischen Mittel sie dabei einsetzen, eröffnet die oben angesprochene erweiterte Analysemöglichkeit, die weit über die bloße Inhaltszusammenfassung und Faktenwiedergabe hinausgeht. Dieses Analysevorgehen der Verknüpfung der Ebenen Inhalt, Interaktion und – allgemein gesagt – sprachliche Gestaltung folgt den Auswertungsschritten von 5 Hausendorf / Quasthoff (2005) und Kruse / Biesel / Schmieder (2011). Durch die Rekonstruktion können latente Sinngebungen, Einflussfaktoren auf damalige Reaktionen und Handlungsweisen und etwaige Veränderungen der Studierenden dargestellt werden. Als Ziel der Analyse beider Arbeiten wird daher formuliert, dass neben den inhaltlichen Aspekten auf der sprachlichen Oberfläche die subjektiven Erfahrungen und die in der Narration stattfindenden Sinngebungsprozesse der kommunikativen Tiefenstruktur analysiert werden. Durch die Verbindung beider Ebenen kann die interkulturelle Forschung Erkenntnisse über den Verlauf eines Auslandsaufenthaltes und die die Studierenden beeinflussenden Kontextfaktoren aus der Sicht der Betroffenen erlangen. Denn schlussendlich sind Daten, die einen persönlichen, d. h. biografischen Erfahrungsprozess beinhalten, ein „Produkt der objektiven und der subjektiven Seite eines Lebenslaufes“ (Rehbein 1982:51). 2.3

Erste, grundlegende Ergebnisse

Eine erste Grobanalyse der Materialien beider Projekte ergab, dass sich die Auslandsaufenthalte – erwartungsgemäß – stark

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an der Zeitlichkeit orientieren. Unterschiede ergeben sich in Abhängigkeit der jeweils unterschiedlichen Formate von ERASMUS-Aufenthalten und der längerfristigen Aufenthalte von Vollzeitstudierenden: Nach der Ankunft im Zielland suchen sich die Studierenden ihre Wohnung, kämpfen mit anfänglichen Sprachschwierigkeiten, welche sich zumeist durch einführende Sprachkurse etwas legen. Der Start in den Studienalltag ist geprägt von organisatorischen oder strukturellen Schwierigkeiten, z. B. der Stundenplangestaltung und dem allmählichen Einfinden in die Alltagsroutinen und das fremde Hochschulsystem – stets verbunden mit der Etablierung eines neuen Freundeskreises (siehe dazu auch die Transkriptauszüge in Kapitel 1). Der Winter und die Weihnachtszeit stellen häufig eine emotional intensive Zeit dar; die Prüfungen am Ende des ersten Semesters des Auslandsaufenthaltes sind für viele eine große Herausforderung und markieren zugleich den Eintritt in die zweite Hälfte des ERASMUSJahres bzw. eine weitere Phase des Auslandsstudiums. Diese ist – vor allem durch den Sommer bedingt – geprägt von Reisen und Freizeitaktivitäten und der Festigung von vorher noch vagen Bekanntschaften oder neuen Begegnungen, aber auch der Neuorientierung und -bewertung all dieser Aktivitäten. Die Erzählung des Abschlusses eines Abschnittes oder des gesamten Auslandsjahres geht häufig mit einer retrospektiven Gesamtbewertung und Aktualisierung der vorher dargestellten Sichtweisen einher, bspw. bezogen auf die subjektiv wahrgenommenen Veränderungen hinsichtlich der eigenen Person. In dem folgenden Interviewauszug wird der chronologische Ablauf des Auslandsaufenthalts grob von einem lateinamerikanischen Studenten umrissen. Diese Darstellung wird mit einem persönlichen Situations- und Entwicklungsbericht und einer Bewertung der eigenen Gefühlslage während der ersten Monate des Aufenthalts fundiert.

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Befragter 3: […] also am anfang war so (3 sekunden) also in dem ZWEIten MOnat vielleicht, (-) war ich so: (-) es war halt n bisschen SCHWE:R. (.) so auch. (.) es war anfang des WINters, (-) u:nd (-) na ja man=man fühlt sich alLEINE. (-) u:nd (.) ist so kalt ne? meine tante hat die ganze zeit geARbeitet. (.) war sehr oft alleine zuHAUSE? (-) u::nd Ä:hm (3 sekunden) ja, also ich (.) ich hab versucht irgendwi::e auf die stra:ße zu ko:mmen, irgendwa:s zu se:hen. (.) ich bin ÜBERall geFAHREN, (-) also ich so. (.) also ich war glaube ich so bei AUStellungen, (.) und so was. (.) also ich hab so die zeit halt so geTRIEben, (.) so. (--) u::nd. (--) auf=eh=das geFÜHL, ist? (.) also es WA:R, (.) also in diesen DREI monaten, drei erste monate, also (-) war es so geMISCHT ne? Interviewerin: Befragter 3: ich ha:b (.) also GU:te, gute, (.) gute moMENte gehabt? (.) aber ich hab so, (.) auch war auch ab und zu mal TRAUrig, ne? Interviewerin: Befragter 3: und da.nn als ich ■ (Name einer Freundin) und ■ (Name einer Freundin) kennen gelernt habe wa:r, (.) war so, (.) also EIN (.) so wie (--) was GANZ anderes, ne? (.) zu erleben.[…] Abb. 3: Auszug aus Interview: INT3-PERS3-TXT3-S1-28-Z1-955 (Drawert), Zeilen 496-510.

Die hier beispielhaft dargelegte zeitliche Verlaufsform der Ereignisse, in der die Akteurinnen und Akteure gezwungen waren zu handeln, war eingebettet in sehr komplexe institutionelle wie auch persönliche Prozesse, die größtenteils neu oder zumindest anders als im Herkunftsland waren. Zu dieser groben zeitlichen Verlaufsstruktur, welche wie erwähnt, in den meisten Interviewerzählungen Parallelen aufweist, kommt nun bei Vasco da Silva die Besonderheit der Liebesbeziehung ins Spiel: Die Interviewten integrieren in diesen Gesamtablauf ihre Beziehung zu einer / m Gastkulturangehörigen. Neben der rein inhaltlichen Wiedergabe sind, ähnlich wie im oben gezeigten Beispiel, die persönlichen Einschätzungen des Befragten von Interesse. So berichtet ein deutscher Student, der in Spanien seine Freundin kennengelernt hatte:

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aber das weiß ich retrospektiv kann ich das alles einordnen damals war das irgendwie am anfang natürlich irgendwie alles spannend und sie war ne projektionsfläche ich war in nem anderen land das war die frau aus (.) weißte aus der kultur? […] eben und irgendwie (--) wenn man sowieso sich für so kosmopolitisch hält dann findets man natürlich megatoll wenn da noch ne frau ist mit der man da irgendwie noch viel (---) n viel eleganteren einstieg in diese kultur da findet […] Abb. 4: Auszug aus Interview D 002 (da Silva), Zeilen 403-407.

Der Interviewte kündigt seine Ausführungen als retrospektive Bewertung an. Daran anknüpfend erläutert er den Grund für die Beziehung zu der spanischen Freundin: Nach der anfänglichen Entpersonalisierung der Freundin, indem er sie als „Projektionsfläche“ einer anderen Kultur beschreibt, führt ihn sein kosmopolitisches Selbstbild, wie er es bezeichnet, quasi direkt zu der Beziehung. Auf diese Weise kulturalisiert er die sich anbahnende Beziehung und ordnet sein Verhalten retrospektiv monokausal dieser Eigenschaft unter. Gleichzeitig bewertet er hyperbolisch und beinah selbstverständlich („findets man natürlich megatoll“) die Beziehung positiv, da er auf diese Weise einen Zugang zur Gastkultur erhielt. Für die Forschung interessant sind dabei die Kategorisierungsund Bewertungsprozesse, die sprachlich übermittelt werden und gleichzeitig auf die Handlungsabfolge während des Auslandsaufenthaltes schließen lassen. Durch die Verknüpfung von sprachlicher Oberfläche und kommunikativer Tiefenstruktur können Einflussfaktoren auf damalige Reaktionen und Handlungsweisen sowie etwaige, subjektiv wahrgenommene und sprachlich wiedergegebene Veränderungen und Bewertungen der Studierenden rekonstruiert werden. 3.

Ausblick

Die hier dargestellten ersten Ergebnisse geben Hinweise darauf, welchen Fragen noch vertieft nachgegangen werden kann. In der Summe tragen beide Projekte zur weiteren Vervollständigung des Bildes von internationalen Studierenden und Internationalität an Hochschulen bei. Durch die starke Emphase auf den kommunikativen Vorgang des Erzählens, erhoffen wir uns – Helena Drawert und Vasco da Silva – soziolinguistische Kenntnisse über authentische Erfahrungen zu erlangen. Die offene Erhebungsart und die integrative Aus-

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wertung bereichern die interkulturelle Forschung durch eine Extraktion von vielschichtigen und vor allem subjektiven Informationen über komplexe Prozesse innerhalb eines internationalen Umfelds. Die Durchführung und Auswertung einer qualitativen Studie zur Erforschung von internationalen Studierenden ist von Bedeutung, um dadurch gezielt auf das Subjektive eines Auslandsaufenthaltes abzuheben. Darüber hinaus ist eine sprachwissenschaftliche Akzentsetzung vonnöten, weil nur – wie oben gezeigt – über die kommunikativ konstruierten Sachverhalte und die darin befindlichen latenten Sinnstrukturen auf die inhaltlichen Aspekte umfassend zugegriffen werden kann.

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1

Die Zahl der deutschen ERASMUS-Outgoings stieg im Jahr 2009 / 10 auf einen neuen Höchststand von 24.029 Studierenden an (DAAD 2011:28). Ebenso stieg im Jahr 2010 die Zahl der BildungsausländerInnen an deutschen Hochschulen wieder auf rd. 181.000 an, nachdem sie zwischen 2006 und 2008 etwas gesunken war (Deutsches Studentenwerk 2010b:10f.). Siehe diverse Online-Publikationen zu Studierendenmobilität und Internationalisierung auf den Homepages der genannten Institutionen (u. a. Deutsches Studentenwerk 2010a). 2

Nach Angaben der aktuellen Bildungsberichterstattung (2010:124) sind Bildungsausländer jene „Personen mit im Ausland erworbener Studienberechtigung, die zum Studium nach Deutschland kommen“. Dazu zählen laut der 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (2010a:501) auch „ausländische Studierende, die ihre Hochschulzugangsberechtigung durch Feststellungsprüfung am Studienkolleg oder durch Eignungsprüfung an einer hiesigen Hochschule erworben haben“. 3

Der scheinbare Monolog wird durch zahlreiche interaktive Elemente zu Gunsten eines reduzierten Dialogs aufgehoben. Verbale und nonverbale Rückmeldesignale sowie metakommunikative Einheiten wirken auf die Erzählgestaltung der Interviewten (siehe u. a. König 2010). Aus diesem Grund sprechen wir hier von einer quasimonologischen Erzählweise. 4

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Hausendorf / Quasthoff entwickelten dieses Modell bereits in den 80er Jahren für Erzählungen, die in Gespräche eingebettet sind, dem sog. konversationellen Erzählen (aktualisiert Quasthoff 2001). In den hier vorgestellten Projekten wird das Modell grundlegend auf Narrative Interviews angewandt. 5

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Hofinger / Jungnickel / Zinke / Künzer: Interprofessionelle Zusammenarbeit in Integrierten Leitstellen

Interprofessionelle ZuPleaseinsert insertthe thetitle title of Please sammenarbeit in Inte-of your article here your article here grierten Leitstellen [Inter-professional cooperation in integrated control centres] Firstname nameSurname Surname First Pleaseinsert insertinformation informationabout about Please the author here (e.g. title, posithe author here (e.g. Laura title, posiGesine Hofinger, tion, institution) tion, institution)

Künzer und Robert Zinke

Dr. Gesine Hofinger, Dipl.-Psych. Laura Künzer und Robert Zinke, MA, sind wissenschaftliche Mitarbeiter im Rahmen des Drittmittelprojektes OrGaMIRPLUS an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fachgebiet Interkulturelle Wirtschaftskommunikation / Professur für Interkulturelle Kommunikation.

Abstract [English] Fusions of different organisations in order to form new teams require a number of changes and adaptation processes. This study deals with relevant factors that foster or obstruct effective teamwork in integrated control centres. The type of interprofessional teamwork needed among members of different organisational origins is understood as intercultural teamwork. For this study two integrated control centres in southern Germany were investigated. Establishing good teamwork among fire-fighters and medical and rescue-services is essential for a successful incident management. For the empirical analysis a triangulation of qualitative and quantitative data was chosen. Keywords: Culture and profession, teamwork, integrated control centres

Verena Jungnickel

Abstract [Deutsch]

Dipl.-Psych. Verena Jungnickel ist derzeit bei der Lufthansa beschäftigt.

Die Fusion von Mitgliedern verschiedener Organisationen zu einem Team erfordert zahlreiche Veränderungs- und Anpassungsprozesse. Die vorliegende Studie untersucht, welche Faktoren die interprofessionelle, als interkulturell betrachtete, Teamarbeit von Mitgliedern unterschiedlicher Ursprungsorganisationen in Integrierten Leitstellen fördern oder hemmen können. Betrachtet wurden zwei süddeutsche Integrierte Leitstellen, die unterschiedlich lange bestanden. Die Entwicklung eines kooperierenden Teams aus Feuerwehr- und Rettungsdienstmitarbeitern ist dabei eine wichtige Erfolgsgröße. Die empirischen Analysen nutzten die Methodentriangulation aus qualitativen und quantitativen Verfahren. Stichwörter: Professionskultur, Teamarbeit, Integrierte Leitstellen 1.

Interprofessionelle Zusammenarbeit in Integrierten Leitstellen

Im vorliegenden Beitrag wird exemplarisch dargestellt, wie sich die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen HerkunftsOrganisationen auf die Zusammenarbeit auf Ebene der Mitglieder einer neuen, gemeinsamen Organisation auswirkt. Dabei werden Individuen als Teile von Gruppen betrachtet, die eingebettet in den Rahmen der Organisation unterschiedliche Professionskulturen vertreten. Dem liegt die Annahme zu Grunde, dass die tertiäre Sozialisation im Rahmen einer

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bestimmten Profession bzw. innerhalb einer Organisation die Normalität in Abhängigkeit der jeweiligen Zugehörigkeit von Individuen zu einem Kollektiv einer Organisation bestimmen (Hansen 2009). Wenn Angehörige unterschiedlicher Organisationen zu einem gemeinsamen neuen Kollektiv zusammenwachsen sollen, wie im untersuchten Fall Integrierter Leitstellen (ILS), treffen zunächst partiell divergierende individuelle Verständnisse professionellen Handelns aufeinander. Auch im vorliegenden Fall etablierte sich in dieser interkulturellen Kontaktsituation erst langsam eine geteilte Normalität (Bolten 2007). In Leitstellen werden Rettungsmaßnahmen angefordert, initiiert und koordiniert. In Deutschland existieren zahlreiche unterschiedliche Leitstellenformen. ILS haben sich in Deutschland innerhalb der vergangenen Jahre als häufigste Leitstellenform der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr etabliert (Bandlow-Hoyer 2010). Das Personal von ILS muss über weitreichende Kenntnisse in den Tätigkeitsbereichen Rettungsdienst, Brandschutz, Hilfeleistung und Katastrophenschutz verfügen. Die Qualifikationsanforderungen für Leitstellendisponenten ergeben sich aus den Rettungsdienst- und Feuerwehrgesetzen der Bundesländer und unterscheiden sich daher (Hackstein 2010). Im süddeutschen Raum, in dem Feuerwehr und Rettungsdienst die Koordination der Einsätze oft noch separat durchführten, sind ILS seit 2009 gesetzlich vorgeschrieben. Der Umsetzungsprozess ist derzeit noch nicht abgeschlossen. Die Fusion der beiden Organisationen Feuerwehr und Rettungsdienst zu einer ILS-Organisation erfordert zahlreiche Veränderungs- und Anpassungsprozesse. Dabei werden organisationskulturelle Aspekte häufig nur am Rande berücksichtigt. Die Entwicklung eines nahtlos kooperierenden Teams aus Feuerwehr- und Rettungsdienstmitarbeitern wird nur selten explizit adressiert. Organisationskultur beeinflusst das Handeln der Organisationsmitglieder durch die Vorgabe eines Handlungsrahmens; interkulturelle Teams aus unterschiedlichen Organisationen arbeiten demnach auf Basis einer (eigenen) emergenten neuen Organisationskultur zusammen. Untersucht wurde in der hier vorgestellten Studie, inwiefern sich die Organisationskulturen von Feuerwehr und Rettungsdienst unterscheiden und wie sich durch Bildung einer ILS eine gemeinsame Organisationskultur für diese entwickeln kann. Eine Auseinandersetzung mit den Themen ILS in Deutschland und Organisationskulturen bei Feuerwehr und Rettungsdienst ist in der Literatur bislang nur sehr vereinzelt zu finden. Grundlage der theoretischen Überlegungen, welche auch in den Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben © Interculture Journal 2012 | 16

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Hofinger / Jungnickel / Zinke / Künzer: Interprofessionelle Zusammenarbeit in Integrierten Leitstellen

(u. a. Feuerwehr und Rettungsdienst) geläufig ist, ist das Organisationskulturmodell von Schein (z. B. 1995), das Organisationskultur als Muster gemeinsamer Grundprämissen betrachtet, welches sich bewährt hat und somit als bindend gilt. Kultur äußert sich nach diesem Modell in beobachtbaren Artefakten, Werten und Einstellungen. Kritische Faktoren interorganisationaler Kooperation wurden von Hofinger (2009) beschrieben, in ihren Auswirkungen für die Zusammenarbeit vor Ort und auf Ebene von Stäben konkretisiert (Zinke et al. 2010) und weiter spezifiziert auf Basis eigener Beobachtungen bei gemeinsamen Übungen für die Randbedingungen besonders großer Schadenslagen (Hofinger et al. 2011). Zudem wurden Ansätze zur Bildung von Hochleistungsteams herangezogen (z. B. Weick 2002, Pawlowski / Mistele 2008), um auf Grundlage der Studienergebnisse Interventionsstrategien für die Teambildung in den ILS entwickeln zu können. Die hier vorgestellte Studie in zwei süddeutschen ILS geht der Frage nach, welche Faktoren die interprofessionelle – als interkulturell verstandene – Teamarbeit in Integrierten Leitstellen fördern oder hemmen können und wie diese Teamarbeit zu verbessern ist. Ausgangspunkt war die Wahrnehmung von Problemen der interprofessionellen Teamarbeit seitens einiger Führungskräfte. Im Rahmen der Studie wurde untersucht, inwiefern sich die Herkunftskulturen der beiden Organisationen in der Wahrnehmung der Mitglieder der ILS unterschieden. Die Arbeitshypothese war, dass der unterschiedliche professions- bzw. organisationskulturelle Hintergrund der Teammitglieder eine Rolle für die Teamarbeit spielen könnte. Betrachtet wurden zwei süddeutsche ILS, die unterschiedlich lange bestanden. Die empirischen Analysen nutzten die Methodentriangulation mit qualitativen und quantitativen Verfahren der Beobachtung, der Experteninterviews und der Fragebogenerhebung. Die nicht-teilnehmende, offene Beobachtung erfolgte als Feldstudie an drei Beobachtungstagen. Aus den gewonnenen Erkenntnissen bezüglich Kommunikation, Teamarbeit, Führung und Atmosphäre wurde, gemeinsam mit Erkenntnissen aus einer Literaturrecherche, ein Interviewleitfaden für die Experteninterviews entwickelt. In 35 qualitativ und quantitativ ausgewerteten Experteninterviews wurden Mitarbeiter der ILS zu den Themen Organisationskultur, Kulturanalyse und Teamarbeit befragt. Zusätzlich wurden in einer Fragebogenerhebung quantitative Daten bezüglich Werteeinschätzung mit 42 Mitarbeitern aus beiden ILS (23 aus der Feuerwehr und 19 aus dem Rettungsdienst) erhoben.

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Hofinger / Jungnickel / Künzer / Zinke: Interprofessionelle Zusammenarbeit in Integrierten Leitstellen

2.

Datenauswertung und Interpretation der interprofessionellen Zusammenarbeit in der ILS

Es wurden zunächst die Organisationskulturen der Herkunftsorganisationen Feuerwehr und Rettungsdienst aus Sicht der Mitglieder der ILS betrachtet. Im zweiten Schritt wurde nach der Herausbildung sowie Elementen einer spezifischen ILSKultur gefragt. Die Ergebnisse aller Methoden zeigen nur wenige, aber deutliche Unterschiede in den Organisationskulturen von Feuerwehr und Rettungsdienst. Signifikante Unterschiede zeigten sich z. B. in den Fragebögen auf Ebene der Werte und Einstellungen, bei der Beurteilung der Wichtigkeit von „Kameradschaft“, „Kritikfähigkeit“, „Anerkennen von Hierarchie“ und „Zufriedenheit der Bürger“. Große Übereinstimmung fand sich bezüglich der Bewertung von Teamarbeit. Auf Ebenen der Artefakte lassen sich Unterschiede (z. B. Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten außerhalb der Dienstzeit) und Gemeinsamkeiten (Bewertungen von gemeinsamen Logos etc.) finden. Grundannahmen wurden in den Interviews über spontane Satzergänzungen erhoben; hier zeigen sich in den qualitativen Auswertungen Unterschiede, z. B. bezüglich der Akzeptanz von Regelabweichungen, von Hierarchien, oder der Abhängigkeit von bzw. des Vertrauens in die Unterstützung durch Kollegen in Gefahrensituationen. In Bezug auf die Ausbildung einer gemeinsamen ILS-Kultur zum Zeitpunkt der Studie zeigte sich, dass der Aushandlungsprozess über die neue Wertigkeit dieser Elemente noch nicht abgeschlossen war. Für Normalitätserwartungen der gemeinsam arbeitenden Individuen bedeutet dies, in Abhängigkeit von ihrer Professionskultur, Abweichungen zwischen den unterschiedlichen Kollektiven, die im Team der ILS vertreten sind. Neben diesen und anderen organisationskulturellen Hintergründen beeinflussen zudem strukturelle Probleme – etwa die Ungleichbehandlung der Mitarbeiter (Urlaub, Entlohnung) je nach Herkunftsorganisation, teils auch Führungsschwächen – den Teambildungsprozess innerhalb der untersuchten ILS. Zu allen Bereichen wurden Interventionsvorschläge erarbeitet. Bereits im Untersuchungszeitraum zeichneten sich individuelle Strategien des Umgangs mit Unterschieden ab, darunter bewusstes Ignorieren, Egalisieren oder deutliches Ansprechen von Unterschieden und Problemen. Identifizierte Unterschiede wurden in ersten gemeinsamen Gesprächen untereinander diskutiert und Lösungsvorschläge erarbeitet. Von einer ILS wurde z. B. ein gemeinsames Logo erstellt, das vertraute Symbolik aus beiden Professionskulturen aufgreift, es wurden gemeinsame soziale Aktionen durchgeführt und Regularien

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überarbeitet. Währenddessen dauert die Etablierung einer gemeinsamen Normalität (ILS-Kultur) mit entsprechenden Handlungsroutinen und einem Selbstverständnis als Team bzw. Kollektiv von ILS-Mitarbeitern noch an. Literatur Bandlow-Hoyer, S. (2010): Leitstellenformen. In: Hackstein, A. / Sudowe, H. (Hrsg.): Handbuch Leitstelle. Strukturen - Prozesse - Innovationen. Edewecht: Stumpf und Kossendey, S. 23-28. Bolten, J. (2007): Einführung in die Interkulturelle Wirtschaftskommunikation. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hackstein, A. (2010): Aus- und Fortbildung. In: Hackstein, A. / Sudowe, H. (Hrsg.): Handbuch Leitstelle. Strukturen - Prozesse - Innovationen. Edewecht: Stumpf und Kossendey, S. 165-175. Hansen, K. P. (2009): Kultur, Kollektiv, Nation. Passau: Verlag Karl Stutz. Hofinger, G. / Jungnickel, V. / Zinke, R. (2011): Cultural challenges of interorganizational cooperation. Posterpräsentation auf dem 2. IWK-Sommersymposium, Altes Schloss Dornburg, Jena, 01.-03.11.2011. Hofinger, G. / Künzer, L. / Knigge, I. / Zinke, R. (2011): Inter-organisational cooperation in major incidents - what do emergency services require for smooth operations?. In: De Waard, D. / Gérard, N. / Onnasch, L. / Wiczorek R. / Manzey, D. (Hrsg.): Human Centred Automation. Maastricht: Shaker Publishing, S. 197-210. Hofinger, G. (2009): Kritische Faktoren der inter-organisationalen Zusammenarbeit. In: Strohschneider, S. / Heimann, R. (Hrsg.): Kultur und sicheres Handeln. Im Auftrag der Plattform „Menschen in komplexen Arbeitswelten". Frankfurt/Main: Verlag für Polizeiwissenschaft, S. 189-204. Jungnickel, V. (2011): Interprofessionelle Zusammenarbeit in Integrierten Leitstellen. Unveröffentlichte Diplomarbeit an der Universität Regensburg. Schein, E. (1995): Unternehmenskultur. Frankfurt/Main: Campus. Zinke, R. / Hofinger, G. / Strohschneider, S. (2010): Inter-organizational cooperation: Challenges for joint action. In: Karwowski, W. / Salvendy, G. (Hrsg.): Conference Proceedings Applied Human Factors and Ergonomics International Conference 2010. Miami: USA Publishing.

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Interkulturelle OnlinePleaseinsert insertthe thetitle titleof of Please Communities im Hochyour article here your article here schulbereich: Konzept für ein deutschpolnisches Hochschulnetzwerk Firstname nameSurname Surname First [Intercultural communities Pleaseinsert insertinformation informationabout about Please at institutions of tertiary the author here (e.g. title, posithe author here (e.g. title, posieducation: A concept for a tion, institution) tion, institution) German-Polish university network] Isabella Waibel Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Interkulturelle Kommunikation an der Universität München.

Abstract [English] This paper is based on the ongoing discussion about the inter- and transnationalisation of universities (c. f. Hartmann 2011, Hahn 2004, Kehm 2003) and the demand for mobility and international exchange in the university sector. As a result of the profound internationalisation processes taking place, universities now consider “strategic management of international activities” (Leszczensky / Barthelmes 2011:6) to be essential. Universities are carefully selecting partner universities for cooperation and exchange projects and for the “development of networks at various levels” (ibid.). Consequently, the number of virtual communities in the field of tertiary education is constantly on the rise – although largely focusing on promoting partnerships between western European universities. This article presents a concept for a German-Polish university network developed within the scope of a cooperation between the Institute for Intercultural Communication at Munich’s Ludwig-Maximilians-University and the Intercultural Communication department (Institute for Applied Linguistics) at the Adam-Mickiewicz-University (AMU) Poznań / Poland, as well as a joint research project. Keywords: German-Polish university partnership, Internationalisation, university networks, intercultural communities Abstract [Deutsch] Die gegenwärtige Diskussion um Inter- und Transnationalisierung der Hochschulen (vgl. dazu u. a. Hartmann 2011, Hahn 2004, Kehm 2003) sowie die Forderung nach Mobilität und internationalem Austausch im Hochschulbereich bilden den Hintergrund des Beitrags. Infolge der tief greifenden Internationalisierungsprozesse wird „strategisches Management internationaler Aktivitäten“ (Leszczensky / Barthelmes 2011:6) an den Hochschulen als unentbehrlich erachtet. In diesem Zusammenhang wird u. a. eine gezielte Auswahl von Partnerhochschulen für Kooperations- und Austauschprojekte sowie der „Auf- und Ausbau von Netzwerken auf den verschiedenen Ebenen“ (ebd.) seitens der Hochschulen praktiziert. Im Zuge dieser Entwicklung steigt stetig die Anzahl der Online-Communities im Hochschulbereich – allerdings größtenteils auf die Förderung der Partnerschaften zwischen westeuropäischen Hochschulen ausgerichtet.

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Im Folgenden soll das im Rahmen einer Hochschulkooperation zwischen dem Institut für Interkulturelle Kommunikation an der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Lehrstuhl für Interkulturelle Kommunikation (Institut für Angewandte Linguistik) an der Adam-Mickiewicz-Universität (AMU) Poznań / Polen entwickelte Konzept für ein deutschpolnisches Hochschulnetzwerk vorgestellt werden. Stichworte: Deutsch-polnische Hochschulpartnerschaft, Internationalisierung, Hochschulnetzwerke, interkulturelle Communities 1.

Einleitung

Viele Hochschulen haben in den letzten Jahren die Potenziale und den Nutzen von onlinebasierten Communities und Netzwerken im Sinne einer grenzüberschreitenden Kommunikationsmöglichkeit erkannt – insbesondere für wissenschaftlichen Austausch und Kooperationen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Mit dem Schlagwort des Web 2.0 bzw. Social Web wird eine neue onlinebasierte Kommunikationskultur benannt, die den Nutzern nicht nur das Rezipieren, sondern auch die Mitgestaltung von Inhalten innerhalb webbasierter Plattformen ermöglicht, welche wiederum von anderen Nutzern bewertet oder kommentiert werden können. 1 In diesem Zusammenhang wächst auch die Zahl der Scientific-Communities, die größtenteils mittels eigener (Online-) Netzwerke und Medien – zu denen neuerdings auch die wissenschaftlichen Mailinglisten gehören – am internationalen Wissenschaftsbetrieb teilnehmen. Gegenstand des vorliegenden Beitrages ist vor diesem Hintergrund die Frage, welche Möglichkeiten internationale OnlineNetzwerke und Online-Communities für den Wissenschaftsbetrieb bieten. 2.

Theoretischer Hintergrund

Mit dem Begriff der Online-Community wird eine (Netz-) Gemeinschaft definiert, die mittels Internet sowie der dafür eingerichteten Plattformen und Tools, wie z. B. Chat, InstantMessenger und Foren, miteinander kommuniziert und vernetzt ist (Dittler et al. 2007:8). Diese Form der Gemeinschaft wird als soziales Phänomen betrachtet, das sich jedoch – wie andere Gemeinschaftsformen auch – nicht über die Technologie, sondern über den Inhalt, der die darin verbundenen Individuen zusammenführt, definiert (ebd.). Netzwerke sind von Communities dahingehend zu unterscheiden, dass mit diesem Begriff „nicht nur der Aspekt der © Interculture Journal 2012 | 16

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Verbundenheit thematisiert wird, sondern vor allem das ‘Austauschen‘“ (Graggober et al. 2003:101). In diesem Zusammengang sprechen Graggober et al. auch vom „‘Fließen‘ von Inhalten durch Kanäle“, wobei es dabei eine entscheidende Rolle spielt, wie diese „gebaut“ sind und welche Inhalte über sie transferiert werden (ebd.). Als Merkmale der Online- wie auch Offline-Gemeinschaften werden „Kollaboration“ und „wechselseitige Unterstützung hinsichtlich eines gemeinsamen Interesses sowie Zugehörigkeitsgefühl“ der Mitglieder genannt (Döring 2010:173). Darüber hinaus ist für Online-Communities die Unabhängigkeit von einem geografischen Ort kennzeichnend (ebd.). Der Begriff interkulturelle (Online-)Community verheißt – innerhalb des Rahmens von Hochschulkooperationen gebraucht und über den innerhalb der Wissenschaften grundsätzlich vorauszusetzenden übergreifenden Ethos hinaus – einen hohen Zugewinn an interkultureller Kompetenz innerhalb der jeweiligen Netzgemeinschaft. Schließlich begegnen sich hier Individuen und Gruppen unterschiedlicher kultureller Identität und müssen ein Modell der Zusammenarbeit finden. Die Frage, wie effizient und effektiv Online-Communities im Hochschulbereich hinsichtlich der Entwicklung interkultureller Kompetenz sein können, wurde jedoch – soweit der Autorin dieses Artikels bekannt – bisher noch nicht erforscht. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags ist dies schon aufgrund von dessen begrenztem Umfang nicht möglich. Es bleibt aber dem Projekt vorbehalten zu erforschen, inwiefern die z. B. innerhalb der im Rahmen des Projekts gegründeten OnlineCommunity erzeugten Interaktionen sich als interkulturelle Situationen operationalisieren lassen. Trotz der zunehmenden Zahl und Vielfalt der wissenschaftlichen Online-Communities und der Online-Hochschulnetzwerke sind Untersuchungen zu diesen Themen rar (Kramer / Valentin 2007:28). Obwohl es wünschenswert wäre, findet sich in der Literatur derzeit noch kein Ansatz zur Systematisierung von Online-Communities respektive von Hochschulnetzwerken. Als aktuelle Studie ist die Publikation von Dittler et al. (2007) zu nennen. Die Autoren setzen sich primär mit dem Phänomen von Online-Communities als soziale Systeme auseinander und liefern dabei Beispiele für deren effektive Anwendung in Form von virtuellen Autorenkollektiven, studentischen Initiativen u. a.

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3.

Potenziale von Online-Communities im universitären Kontext

In Anbetracht der Tatsache, dass der erfolgreiche Umgang mit Diversität nicht nur für Wirtschaftsunternehmen (Gröschke 2010:51), sondern auch für Hochschulen eine Herausforderung darstellt, erscheinen die grenzüberschreitende und zeitnahe Austauschprozesse bewirkenden Communities und Netzwerke von gravierender Bedeutung. Es wird angenommen, dass innerhalb der interkulturellen Online-Foren die individuelle und gemeinschaftliche interkulturelle Handlungskompetenz besonders gefördert wird, da es in diesen Situationen zu einem „Zusammenspiel individueller und kollektiver Kompetenzen“ (ebd.:59) innerhalb einer Gruppe kommt, das für den Handlungserfolg von entscheidender Bedeutung ist (ebd.).2 Verschiedene interkulturelle Communities sind darum bemüht, mittels webbasierter Anwendungen ihren Nutzern die Möglichkeit zu bieten, den Umgang mit kultureller Diversität zu erlernen bzw. zu trainieren. Als Best Practice Beispiel für diese Art von Foren kann das 2004 vom Hochschulverband für Interkulturelle Studien 3 erstellte Interkulturelle Portal genannt werden, das innerhalb seines Community-Centers ein Diskussionsforum und Pinnwände zur gemeinschaftlichen Beleuchtung entsprechender Fragestellungen zur Verfügung stellt. Neben der Förderung der interkulturellen (Gruppen-) Kompetenz kann ein Vorteil der Online-Communities in der Stärkung der Team-Arbeit gesehen werden. Hierzu vertreten Graggober et al. (2003:415) die These, dass in Netzgemeinschaften „ – bewusst oder unbewusst – ‚Social Learning‘ betrieben [werde]“, also ein „Lernen und Ideen-Entwickeln in Gruppen“ (ebd.). Aufgrund der ähnlichen Forschungsinteressen und der Möglichkeit des Austausches wissenschaftlicher Ergebnisse kommt es in Online-Foren zur starken Vernetzung der CommunityNutzer, die wiederum oft die Grundlage für gemeinsame innovative Kooperations- und Forschungsprojekte bildet. Online-Communities im Hochschulbereich ermöglichen, dass ihre Mitglieder aktiv in die Wissenschaftskommunikation eingebunden werden und zum Inhalt ihres Forums beitragen können. Darüber hinaus bieten viele wissenschaftliche Portale für ihre Community-Mitglieder innovative Formen der Publikation. Auch dieses Potenzial der Online-Communities wurde von dem vorstehend als Best Practice-Beispiel aufgeführten Interkulturellen Portal effektiv und effizient in die Praxis umgesetzt – in Form einer digitalen Bibliothek mit freiem Zugang

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zu wissenschaftlichen Beiträgen aus dem Bereich der interkulturellen Forschung für alle dort registrierte Mitglieder. Im Mittelpunkt der Überlegungen um die Potenziale der Online-Communities und -Hochschulnetzwerke steht das eigene in einer deutsch-polnischen Hochschulkooperation entwickelte Projekt, das im Folgenden näher vorgestellt werden soll. 4. 4.1

Projektbeschreibung Deutsch-polnisches Hochschulnetzwerk

Mit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union haben dessen Beziehungen zu Deutschland hinsichtlich der Zusammenarbeit in Studium, Lehre und Forschung zugenommen sowie eine neue Qualität erreicht. Dem Bundesministerium für Bildung und Forschung gilt die bilaterale Zusammenarbeit als „in vielen Bereichen bereits seit langem etabliert.“ Sie „bietet eine gute Ausgangslage für die Kooperation im europäischen Rahmen“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung o.J.). Die Initiatoren dieses dank der Förderung der DeutschPolnischen-Wissenschaftsstiftung im November 2011 gestarteten Projekts, das IKK-Institut an der LMU München sowie der IKK-Lehrstuhl an der UAM Poznań, haben gemeinsam ein Konzept zu Fördermöglichkeiten einer deutsch-polnischen Hochschulkooperation erarbeitet, die grenzüberschreitende Netzwerkbildung und eine bilaterale Zusammenarbeit in Forschung und Lehre nachhaltig verstärken soll. Diese Ziele sollen zum einen durch Gründung eines gemeinsamen OnlineHochschulnetzwerkes und zum andern mittels einer internationalen Tagung realisiert werden. Der thematische Schwerpunkt dieses Netzwerkprojekts liegt im Bereich des aus den grenzüberschreitenden Hochschulnetzwerkaktivitäten und Studienaufenthalten resultierenden deutsch-polnischen Wissens- und Kulturtransfers. Dabei wird der Wissens- und Kulturtransfer hier in Anlehnung an Lipphardt / Ludwig (2011:39) als ein „Austausch“ von Konzepten, Ideen und Praktiken definiert. Hierbei soll u. a. der Frage nachgegangen werden, wie Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen in Deutschland und Polen zur Verbesserung der interkulturellen Kommunikation und nachhaltigen Vernetzung zwischen den Wissenschaftssystemen beitragen und Synergieeffekte erzielt werden können. Im Vordergrund dieses für die beiden Institute erstmaligen Kooperationsprojekts steht der Wunsch, aus einer zukunftsorientierten Perspektive heraus weitere Universitäten und Hochschulen über eine gemeinsame Internetplattform miteinander zu vernetzen, mit dem Ziel, einen (interdisziplinären)

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Austausch anzubieten und gemeinsame Projekte im Rahmen eines erweiterten Wissens- und Kulturtransfers zu vermitteln. Die Aktualität dieser Thematik ist insbesondere im Kontext der einschlägigen Anforderungen an akademische (internationale) Netzwerkarbeit und Mobilität zu sehen. Das Projekt bildet den Auftakt für eine großangelegte quantitativ-qualitative Untersuchung, innerhalb derer die Vernetzung und die internationale Mobilität von Studierenden, die akademischen Karrieren sowie die Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses mit dem Fokus auf dem Vergleich zwischen Deutschland und Polen beleuchtet werden sollen – unter einer systematischen Einbeziehung der Sicht von Studierenden und Wissenschaftler(inne)n. In diesem Sinne verstehen sich die Initiatoren des Projekts auch als Impulsgeber für Studien, die weitere Untersuchungen mit deutschpolnischen Bezügen auf den Weg bringen sollen, mit dem Ziel, einen Beitrag zur (gemeinsamen) interkulturellen Forschung zu leisten. Für die Durchführung dieses Projekts wurde in seiner ersten Realisationsstufe (Nov. 2011 - Jan. 2012) das Konzept für eine zweisprachige (deutsch-polnische) Projektwebpräsenz samt einer Datenbank und einer Kommunikationsplattform (Mitglieder-Forum) für deutsch-polnische Themen und gemeinsame Projekte erstellt. 4.2

Interkulturelle Online-Community

Durch die ab Februar 2012 unter der Internetadresse dp.ikk.lmu.de geplante Onlineschaltung der Projektseite soll eine Kommunikationsplattform geschaffen werden, die vordergründig zur wissenschaftlichen Netzwerkarbeit von Studierenden, Nachwuchswissenschaftler(inne)n, Vertreter(inne)n und Ehemaligen des Fachgebiets Interkulturelle Kommunikation und weiterer Disziplinen in deutsch-polnischer Perspektive beitragen. Im Rahmen des Mitglieder-Forums haben die registrierten Nutzer die Möglichkeit, Beiträge selbst zu erstellen und zu kommentieren. Somit will das Netzwerk allen am deutschpolnischen Kulturaustausch Interessierten ein Forum bieten, um miteinander in Kontakt treten zu können, und die Verständigung beider akademischer Kulturen durch gemeinsame Aktivitäten fördern. Die Community soll sich aus dem eigenen Netzwerk zusammensetzen, d. h. aus einem intendierten Publikum, das an interkulturellen Themen im deutsch-polnischen Kontext interessiert ist. Das in einer Hochschulkooperation zwischen Deutschland und Polen entwickelte Netzwerk ist jedoch offen

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für kulturelle und wissenschaftliche Kontakte zu anderen Hochschulen in Osteuropa. Bereits zum Projektbeginn hat das Institut für Internationale Studien an der Karls-Universität in Prag sein Interesse an dem Projekt bekundet und ist bereits ein Netzwerkpartner in dieser interkulturellen Community. 5.

Resümee

Im Fokus dieses Beitrages stehen interkulturelle Communities und Netzwerke im Hochschulbereich, wobei angenommen wird, dass neben der Stärkung der interkulturellen Kompetenz gemeinschaftliche Wissensproduktion und -austausch zu deren wesentlichen Nutzenpotenzialen gehören. Interkulturelle Communities und grenzüberschreitende Innovations- und Forschungsnetzwerke im Hochschulbereich sind spätestens mit der Einführung des „europäischen Forschungsraums“ nicht mehr wegzudenken. Infolge der seit Ende der 1990er Jahre entwickelten neuen Informations- und Kommunikationstechnologien erfährt das scheinbar festgefahrene System Wissenschaftskommunikation neue Dynamik und radikale Veränderungen (Hagenhoff et al. 2007:1). In Anbetracht dieser Entwicklung erscheinen die Möglichkeiten für internationale Kooperationen und Netzwerke nahezu unbegrenzt. Die Online-Communities und Netzwerke können als Medien bezeichnet werden, die die Wissenszirkulation befördern. Der innerhalb der Online-Communities stattfindende Wissenstransfer ermöglicht auch Einblicke in die Eigenarten nationaler akademischer Kulturen und in die interkulturellen Gemeinsamkeiten innerhalb eines entstehenden europäischen Wissenschaftsraumes. Ähnlich wie im Wirtschaftsbereich erlauben Hochschulnetzwerke mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien Verbindungen von Personen und Organisationen und darüber hinaus deren Teilhabe am internationalen Wissenschaftsbetrieb und ein gemeinschaftliches Erstellen, Organisieren, Austauschen, Studieren und Diskutieren wissenschaftlicher Inhalte. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass OnlineCommunities ein wesentliches Instrument der Wissenschaftskommunikation sind und Netzwerke als eine „Kulturtechnik der Moderne“ (Barkhoff et al. 2004) insbesondere für Hochschulkooperationen sowie gemeinsame Projekten zur Unterstützung des Wissens- und Kulturtransfers von tragender Bedeutung sind. In Anbetracht der Tatsache, dass Kooperationen eine immer wichtigere Bedeutung zukommt, wäre es für weitere Studien 193

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empfehlenswert, die Interaktionen und Problemsymptome innerhalb der Hochschulnetzwerke einer empirischen Untersuchung zu unterziehen. Die vorliegende Literatur beleuchtet das Thema Kooperationen vor allem anhand von Beispielen aus der Wirtschaft. Der innovative Ansatz eines „problemorientierten Modells zur erfolgreichen Gestaltung der Interaktion von Unternehmen“ aus der Studie von Juch / Rathje (2011) könnte als Grundlage für die Untersuchung möglicher Interaktionsprobleme innerhalb der Hochschulnetzwerke in einer Versuchsstudie angewendet werden. Das im Mittelpunkt dieses Artikels stehende deutschpolnische Netzwerkprojekt befindet sich in der Entwicklungsphase. Künftig soll es im Sinne einer Online-Community innovative Formen der Partizipation an deutsch-polnischen Themen und Vorhaben ermöglichen. Für den Erfolg des Projekts sind u. a. Kreativität bei der Generierung der Ideen und Inhalte sowie effizientes Informationsmanagement maßgeblich. Die Gestaltung sowie Ausweitung dieser Kommunikationsplattform stellt somit die Betreiber und die beteiligten Nutzer als Community vor eine große Herausforderung, die jedoch angesichts der großen Kooperationsbereitschaft der beteiligten Hochschulen und Wissenschaftler(innen) erfolgreich bewerkstelligt werden kann. Literatur Barkhoff, J. / Böhme, H. / Riou, J. (2004): "Netzwerke". Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag. Bundesministerium für Bildung und Forschung (o.J.): Bildung und Forschung: Polen. URL: http://www.kooperation-international.de/buf/polen.ht ml [Zugriff am 20.01.2012]. Dittler, U. / Kindt, M. / Schwarz, Ch. (2007): Online-Communities als soziale Systeme. Wikis, Weblogs und Social Software im E-Learning. Münster: Waxmann (Medien in der Wissenschaft, 40). Döring, N. (2010): Sozialkontakte online: Identitäten, Beziehungen, Gemeinschaften. In: Schweiger, W. / Beck, K. (Hrsg.): Handbuch OnlineKommunikation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 159183. Graggober, M. / Ortner, J. / Sammer, M. (2003): Wissensnetzwerke. Konzepte, Erfahrungen und Entwicklungsrichtungen. Wiesbaden: Dt. Univ.-Verl (Gabler Edition Wissenschaft). Gröschke, D. (2010): Gruppenkompetenz in interkulturellen Situationen. Interculture Journal 9(12). URL: http://www.interculture-journal.com/do wnload/article/groeschke_2010_12.pdf [Zugriff am 10.01.2012]. Hagenhoff, S. / Hogrefe D. / Mittler, E. / Schumann, M. / Spindler, G. / Wittke, V. (2007): Neue Formen der Wissenschaftskommunikation: Eine Fallstudienuntersuchung. Göttingen: Universitätsverlag.

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Hahn, K. (2004): Die Internationalisierung der deutschen Hochschulen. Kontext, Kernprozesse, Konzepte und Strategien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH. Hartmann, E. (2011): The internationalisation of higher education. Towards a new research agenda in critical higher education studies. London: Routledge. Juch, S. / Rathje, S. (2011): Cooperation Competence – A Problem-Oriented Model for Successful Interaction in Commercial Alliances. Interculture Journal 10(13). URL: http://www.interculture-journal.com/download/issues/20 11_13.pdf [Zugriff 12.01.2012]. Kehm, B. M. (2003): Internationalisation in higher education. From regional to global. In: Begg, R. (Hrsg.): The Dialogue between Higher Education Research and Practice. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, S. 109-118. Kramer, M. / Valentin, M. (2007): Netzwerke und Nachhaltigkeit im Transformationsprozess. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag. Leszczensky, M. / Barthelmes, T. (2011): Herausforderung Internationalisierung. Die Hochschulen auf dem Weg zum Europäischen Hochschulraum. Stand und Perspektiven. Dokumentation der 5. Jahrestagung der Gesellschaft für Hochschulforschung am 29.-30. April 2010 in Hannover. Hannover: HIS. Lipphardt, V. / Ludwig, D. (2011): Wissens- und Wissenschaftstransfer. In: Institut für Europäische Geschichte (Hrsg.): Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz 2011-09-28. URL: http://www.ieg-ego.eu/lipphardtv-ludwigd2011-deURN:urn:nbn:de:0159-2011081833 [Zugriff am 02.01.2012]. Schweiger, W. / Quiring, O. (2007): User-Generated Content auf massenmedialen Websites – eine Spielart der Interaktivität oder etwas völlig anderes? In: Friedrichsen, M. / Mühl-Benninghaus, W. / Schweiger, W. (Hrsg.): Neue Technik, neue Medien, neue Gesellschaft? Ökonomische Herausforderungen der Onlinekommunikation. München: Fischer, S. 97-120.

Diese Art von Medieninhalten werden als User Generated Content (deutsch: nutzergenerierte Inhalte; auch als UGC abgekürzt) bezeichnet, da sie nicht vom Webanbieter, sondern von dessen Nutzern erstellt werden (Schweiger / Quiring 2007). 1

Allerdings geht Gröschke bei ihrer Definition sowie der Operationalisierung einer interkulturellen Situation über das traditionelle Verständnis in der interkulturellen Forschung hinaus (siehe dazu Gröschke 2010). 2

3

Ehemalige Akademie für Interkulturelle Studien (AIS).

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Hiller / Wolting: Akademische Wissensproduktion als interkulturelles Forschungsfeld

Akademische WissensPleaseinsert insertthe thetitle titleof of Please produktion als interkulyour article here your article here turelles Forschungsfeld [Academic communication as an intercultural topic of interest] Firstname nameSurname Surname First Pleaseinsert insertinformation informationabout about Please the author here (e.g. title, posithe author here (e.g. Hiller title, posiGundula Gwenn tion, institution) tion, institution) Dr., Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder).

Stephan Wolting Adam-Mickiewicz-Universität, Poznań.

Abstract [English] This article focuses on academic knowledge production, especially on academic communication as a field of research in intercultural studies. Based on a common project of different European Universities it is intended to point out cultural specifics as well as the reciprocity of the institutional frame work and academic communication as subjects of research. There is a perceived necessity that the humanities’ own hermeneutic basic assumptions should be reflected more critically. For instance the conception of what we call a good way of teaching differs in different cultures (civilizations). Using the way of phenomenological description and empirical studies of different phenomena within the academic setting, the subject offers many possibilities for being interlinked with other topics. Actually we try to work out within the project culture specific features of academic communication, e.g. different ways of teaching and learning styles, different ways of examining and grading the students, different types of academic texts (or different understanding of the types), and culture-specific academic rituals as consultation hours (the so-called Sprechstunde in German, which is not the same as the office hour in the US). Another interesting field for empirical research are styles of academic communications like e-mailing (especially between professors and students). Our goal is to describe the considered academic settings as concrete and thick as possible to get an analysis which points out the singularities of the different cultural and social academic environments and allows comparisons from an intercultural perspective. Keywords: Learning and teaching styles, attitudes and cultural habits, teaching style, didactics, academic communication Abstract [Deutsch] Der Beitrag beschäftigt sich mit der akademischen Wissensproduktion im kulturellen Vergleich und als interkulturelles Forschungsfeld. Auf der Grundlage eines gemeinsamen Projekts verschiedener europäischer Universitäten soll die Wechselwirkung von institutionellen Vorgaben und akademischer Kommunikation zum Thema einer Studie gemacht werden. Exemplarisch werden funktionale Lehr- und Lernstile zum Untersuchungsgegenstand gemacht. Methodisch soll sowohl phänomenologisch beschreibend als auch empirischanalytisch vorgegangen werden. Innerhalb des Projekts sollen universitäre Gesprächstypen und Textsorten betrachtet werden. Dabei sollen die einzelnen akademischen Milieus so

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kleinschrittig, dicht und genau beschrieben werden, um zu einer Analyse zu gelangen, die den Eigenheiten des spezifischen kulturellen akademischen Milieus Rechnung trägt. Stichworte: Akademische Wissensproduktion, Lehrstil, Lernstil, Habitus, Hochschulkommunikation 1.

Einleitung

Innerhalb dieses Beitrags soll es um die Vorstellung des theoretischen Konzepts eines internationalen Projekts zur akademischen „Wissensproduktion” (Münch 2007) gehen, das sich als Pilotprojekt mit vielen Anschlussmöglichkeiten zu unterschiedlichen akademischen Kulturen versteht. Das Forschungsprojekt entstand aus einer Kooperation zwischen der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und dem Insti1 tut für Angewandte Linguistik an der Adam-Mickiewicz Uni2 versität Poznań . Es geht dabei um die Erfassung der akademischen Wissensproduktion (darunter verstehen wir die Kommunikations- und Diskurskonventionen, die der Wissensvermittlung dienen, also die Textsorten, Unterrichtsformate oder auch Gesprächstypen, die die Lehr- und Lernstile prägen) an unterschiedlichen kulturellen wissenschaftlichen Standorten. Dabei soll die Identifizierung unterschiedlicher Lehr-Lernstile als eine zentrale Fragestellung exponiert werden. Trotz zunehmender Mobilität und Internationalisierung im wissenschaftlichen Bereich in Europa gibt es bislang wenig Forschung in diesem Bereich. Durch die Bologna-Reform entstanden und entstehen eine große Anzahl an Förderprogrammen, die Austausch und Mobilität unter Studierendenund Lehrenden fördern, und durch die immer mehr bi- und trinationale Studiengänge sowie ähnliche Forschungsprojekte unterstützt werden. Wie die alltägliche Praxis zeigt, gibt es dennoch viele Hürden und Missverständnisse, die durch die Kollision verschiedener akademischer Systeme, Diskursformen und Praktiken entstehen. Innerhalb des geplanten Forschungsprojekts sollen einige spezifische kulturelle Erscheinungsformen der akademischen Milieus der Beteiligten identifiziert, näher beschrieben und erklärt werden. Wie oben erwähnt, gibt es bislang kaum Untersuchungen, die aus kulturwissenschaftlicher oder auch aus kulturvergleichender Perspektive Besonderheiten einzelner Hochschulkulturen in ihrem Bedingungsgefüge analysieren. Vermutlich lässt sich dies auf die Mühen zurückführen, die die damit verbundene Selbstreflexion des eigenen Handelns und Habitus für die ihr eigenes Alltagsfeld Erforschenden zwangsläufig mit sich brächte. Neben theoretischen Überlegungen enthält dieser Beitrag einen kurzen Abriss über vorhandene Erkenntnisse

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aus dem Feld und eine Vorausschau, wie diese zusammen mit dem hier beschriebenen Forschungsprojekt einen Beitrag zur Entwicklung und Vertiefung einer interkulturellen Hochschuldidaktik leisten können. 2.

Theoretische Vorüberlegungen

Es wird von der Prämisse ausgegangen, dass es von zentraler epistemologischer Bedeutung ist, so kleinschrittig, konkret und so dicht beschreibend wie möglich zu verfahren, d. h. selbst wenn dies selbstverständlich klingen mag, dass innerhalb des empirischen Teils zunächst nur Aussagen über die erfassten Ergebnisse in den vorgesehenen Forschungsfeldern gemacht werden können. Dies impliziert u. a. auch, dass es sich um bestimmte akademische Milieus handelt wie beispielsweise Sprechstunde oder Qualifizierungsarbeit. Soweit es mit den empirischen Erkenntnissen bzw. dem Erkenntnisinteresse vereinbar scheint, sollen durchaus auch verallgemeinernde Aussagen über akademische Kulturen und Polen, Deutschland, Frankreich o. ä. gemacht werden. Dabei werden kulturelle Systeme auch in ihrer semiotischen Struktur erfasst. Insbesondere könnte nach unseren Vorstudien vor allem dem Begriff des Stils besondere Bedeutung zukommen. Es stellt sich dabei die methodische Schwierigkeit, die wir festgestellt und zu lösen haben, inwieweit Aussagen über unterschiedliche Stile auch verschiedene andere Identitäten (nationale Identität, berufliche Identität, Geschlecht, Alter etc. implizieren, also im Hinblick auf das, wie Klaus P. Hansen Primär- von Sekundärkollektiven unterscheidet, Hansen 2009) enthält. Nicht von ungefähr ist in jüngster Zeit auf die mangelnde Selbstreflexivität der Geisteswissenschaften, aber auch der eigenen Zunft, der Vertreter der Interkulturellen Kommunikation hingewiesen worden (Haas 2009, aber auch Bolten 2007). Dem soll hier Rechnung getragen werden. Während einer Reflexionsphase entstand ein Bündel von das Projekt leitenden Forschungsfragen:



Gibt es eine kulturspezifische akademische Wissensproduktion?



Lässt sich von (national-) kulturellen akademischen Milieus und Stilen sprechen?



Besteht eine Wechselwirkung zwischen organisatorischen Einheiten und institutionellen Vorgaben und Lehr- und Lernstilen?



Inwiefern sind Begriffe akademischen Kommunizierens nicht einfach Übersetzungsprobleme, sondern verweisen auf unterschiedliche kulturelle Ausgangslagen (Beispiel: ein Begriff wie Begehung, Berufungsverfahren etc.)?

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Ist es möglich, genaue Beschreibungen vorzunehmen, die verschiedene akademische „Kollektive“ (nach Hansen 2009) und Milieus (akademisches Milieu, Studentenmilieu, Dozenten etc.) berücksichtigen (verbunden mit der Frage nach dem Wissenschaftsdesign)?



Lässt sich von einer Komplementarität von verschiedenen Forschungsansätzen sprechen, wie der von Mikro- und Makroanalysen (Bolten 2007), qualitativer und quantitativer Forschung (schwerpunktmäßig in diesem Projekt), etischer und emischer Herangehensweise?



Inwiefern drückt sich die oben angenommene Komplementarität in mündlicher Kommunikation oder in schriftlicher Textproduktion aus (hierzu sollen u. a. Qualifizierungsarbeiten, institutionelle Rituale wie Sprechstunde etc. sowie mediale Kommunikation, etwa E-MailKontakte untersucht werden)?

Unter Zugrundelegung der Feldtheorie von Pierre Bourdieu stellt sich die Frage, inwieweit symbolisches und ökonomisches Kapital in den unterschiedlichen akademischen Lebenswelten (hier bestehen beträchtliche kulturelle Unterschiede!) divergieren. Es wird dabei mit Max Weber von der Kultur als ein „vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus einer sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“ (Weber 1904:180) ausgegangen, dem der kulturfähige Mensch der ihn umgebenden Lebenswelt (Schütz / Luckmann 1979) erst Bedeutung vermittelt und so, unbewusst wie intentional, erst Kultur schafft. Dass sich Kultur in diesem Sinne verstanden (es gibt inzwischen rund 400 Kulturbegriffe) nicht auf Nationalkulturen reduzieren, ja nicht einmal ableiten lässt, darauf haben unter anderem Hansen (2009) und Haas (2009) aufmerksam gemacht. Insofern lässt sich mit Hansen auch vom Sekundärkollektiv der akademischen Kultur sprechen. Genau dieser Bereich der akademischen Kultur im Kontrast zwischen Polen, Frankreich, Italien und Deutschland (aber auch darüber hinaus, insofern ist dieses Projekt sehr anschlussoperativ) soll an dieser Stelle besonders interessieren. Methodologisch kommt für die theoretische Analyse Bourdieus Feldtheorie (Soziales Kapital) insofern eine besondere Rolle zu, als sie uns zu dem Begriff des Lebensstils bzw. der Habitusform führt, die Bourdieu ja auf der soziologischen Ebene benutzte. Dabei spricht Bourdieu selbst auch vom Begriff des Stils, den er im Zusammenhang mit dem Erwerbsstil sieht (Bourdieu 1982:129). Interessanter Weise verweisen sowohl Ammon (1989:143) als auch Barmeyer (2010:13f.) auf den Stilbegriff des deutschen Nationalökonomen Alfred Müller-Armack, der 1940 eine „Genealogie

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der Wirtschaftsstile“ entwickelt hat. Er definiert den Stilbegriff als „die in den verschiedenen Lebensgebieten einer Zeit sichtbare Einheit des Ausdrucks und der Haltung“ (MüllerArmack 1981:57). Auch hier wird der Konnex hergestellt zwischen Lebens- und Wirtschaftsstil und auch der schon von Bourdieu herausgestellte Zusammenhang zum Erwerbsstil betont. Mit Bourdieus Feldtheorie lässt sich allerdings der Stilbegriff weiter differenzieren im Hinblick auf das je spezifische soziale oder ökonomische Feld (bzw. Kapital). Deshalb spielt Bourdieu für unsere theoretische Konzeption auch eine herausragende Rolle. Es kann nicht oft genug betont werden, dass Bourdieu, der relativ entspannt mit der Begriffsdefinition von Stil umgeht, hier auf die Gesellschaft, nicht auf die Kultur rekurriert. Der Begriff von Habitus findet sich auch schon bei dem in Breslau geborenen Soziologen Norbert Elias, auf dessen Untersuchungen Bourdieu sich auch bezieht (vgl. Elias 1969). Elias spricht später in diesem Zusammenhang von einer gesellschaftlichen Figuration (1983:215), was bedeuten soll, „ein System von Menschen“, die durch spezifische Arten von Abhängigkeiten oder Interdependenzen miteinander in Beziehung stehen. (Elias 1983:156). Auch Bourdieu, der sich ganz explizit allerdings auf den frühen Elias bezieht, geht von dieser Vorstellung von Stil aus und setzt ihn in Verbindung zum Begriff des sozialen Systems. Dabei ist sich Bourdieu der Kulturabhängigkeit seiner Methode bzw. Herangehensweise bewusst, weil er expliziert, dass hauptsächlich französische Beispiele zum Beleg seiner Thesen herangezogen werden, etwa dort, wo er im Vorwort an den deutschen Leser im Hinblick auf eines seiner zentralen Werke, Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (1982), betont. Zudem empfiehlt er an der gleichen Stelle die komparatistische Methode, weil sie einen “singulären Fall des Möglichen“ behandelt und auf diese Weise vorbeugt, „den Einzelfall in unzulässiger Weise zu verallgemeinern“ (Bourdieu 1982:9). An dieser Stelle sollen Bourdieus Überlegungen verlassen werden, weil innerhalb des Projekts weniger auf die ökonomischen Produktions- bzw. sozialen Rezeptionsbedingungen eingegangen werden soll. Über einen so verstandenen Begriff des Stils soll versucht werden, spezifische Verhaltensweisen in Bezug auf das akademische Milieu in komparatistischer Weise zu ermitteln. Dabei sind wir uns der von Jürgen Bolten herausgestellten Problematik bewusst, wo er in Bezug auf Mikround Makrountersuchungen im Hinblick auf Kulturen diese als „offene, heterogene und dynamische Systeme” herausstellt 3 (Bolten 2002:103) .

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Damit sind einige methodische Ansätze angedeutet, Bourdieu spricht selbst oben von komparatistischer Methode, Bolten von der Komplementarität von Mikro- und Makroanalysen. In diesem Sinne greift die vorliegende Konzeption auf die kulturvergleichende Methode (nicht der interkulturellen, vgl. Barmeyers Versuch der Definition) zurück, ist zum einen eher empirisch-qualitativ ausgerichtet, zum anderen werden die Ergebnisse dann aber auch interkulturell-hermeneutisch ausgewertet und es wird zudem sowohl diskursanalytisch (also mikroanalytisch) als auch kulturkontrastiv (makroanalytisch) vorgegangen. Mit dem Blick auf die unterschiedlichen Lehr- und Lerntraditionen, die einen unserer Untersuchungsschwerpunkte darstellen, wird dabei, auch wie schon oben erwähnt, der Frage nach der Kulturbedingtheit von Stilen nachgegangen. Es wird dabei Bezug genommen auf grundlegende Forschungen zu kulturellen Stilen, wie sie etwa von Johann Galtung (1985) zu „intellektuellen Stilen“, Richard Münch (1990) zu „Wissenschaftsstilen“, Jürgen Bolten u. a. (1996) zu „wirtschaftskommunikativen Stilen“, Christoph Barmeyer (2000) zu „Lernstilen in wirtschaftsbezogenen Kontexten“ oder Günter Ammon (1994) zum „französischen Wirtschaftsstil“ vorliegen. Unsere Position zu Lehr- und Lernstilen in geisteswissenschaftlich bezogenen akademischen Kontexten knüpft an diese grundlegenden Untersuchungen an. Im Laufe der Untersuchung wird es sich noch erweisen müssen, inwieweit der Begriff Stil angemessen und operationabel ist. Aus der Fülle von Definitionen zum Begriff des Stils lassen sich jedoch einige wesentliche Elemente herausfiltern. Ganz allgemein hat Stil etwas mit Verhalten zu tun in einer ihm sehr charakteristischen Ausführungsweise. Ursprünglich aus der Kunstgeschichte stammend hatte Stil im Lateinischen die Bedeutung von Griffel (griech. stilos, lateinisch stylus), an dem auf einem Schriftstück die Technik des Schreibens oder Schönschreibens zu ersehen war. Außerhalb der Bildenden Künste hat sich der Begriff im Zusammenhang mit Verhaltens- oder Lebensstilen erhalten. In jüngster Zeit hält immer stärker der englische Begriff des life-style Einzug in die deutsche Sprache bzw. Kommunikationsgemeinschaft (vgl. Kamm 2010). Für unseren Zusammenhang wichtig ist der Konnex mit dem Verhalten, das im Folgenden in Bezug auf Lerninstitutionen untersucht werden soll. An dieser Stelle kommt dann den Begriffen des Lehr- und Lernstils besondere Bedeutung zu. Stammt letzterer ursprünglich aus der Lernpsychologie, so wird der Begriff Lehrstil eher weniger oder kaum benutzt und durch didaktische Begriffe ersetzt. Innerhalb unserer Untersuchung soll es in erster Linie um „funktionale Stile“ (Bolten 2002:105) gehen.

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Für Bolten ist die kulturelle Stilforschung der Versuch einer Antwort auf die grundsätzlichen Schwierigkeiten kulturvergleichender Forschung, „kulturelle Komplexität so zu reduzieren, dass sie einerseits noch sichtbar bleibt, aber andererseits noch operationalisierbar ist“ (Bolten 2002:107). Dabei sind mikro- und makroanalytische Perspektiven zu integrieren, die jede für sich einzeln und separat als problematisch erscheinen: „[...] entweder sie [die cultural studies, SW] verlieren in einzelfallorientierten Mikroanalysen das Gemeinsame, Kulturdefinierende aus dem Blick, oder sie beschränken sich auf generalisierende Makroanalysen, womit sie nicht nur die Dynamik und Heterogenität einer Kultur unterschlagen, sondern überdies die Gefahr unterliegen Stereotypenbildungen zu fördern“ (Bolten 2002:105).

Dieser Gefahr ist nur dadurch zu entraten, dass man Kulturen nicht im Sinne eines „Containers“ begreift (Bolten 2002:103), in sich abgeschlossen und kohärent, sondern als ein prinzipiell nach außen offenes und auf Kommunikation und Interaktion ausgelegtes System betrachtet (Bolten 2002:109). Barmeyer nimmt in diesem Zusammenhang das oben genannte Konzept von Elias auf, als Analyse eines „kulturspezifischen Verhaltens einer Figuration“ (Barmeyer 2000:139f.). Für ihn bezeichnet der zugrunde liegende Stilbegriff, „konkrete menschliche Ausdrucks-, Darstellungs- und Handlungsweisen, die von charakteristischen Merkmalen geprägt sind“ (ebd.). Auf diese Weise nähert man sich einer Typologie, die sich vorwiegend in Zeichen und damit verbundenen Kommunikations- und Interaktionsformen äußert, weshalb Barmeyer zu dem Schluss kommt, dass sich „Stil in kulturellen Präferenzen“ als ein bestimmtes Verhalten, das von einer (kulturellen) Gruppe vollzogen wird, manifestiert (Barmeyer 2001:157). In diesem Sinne soll der Stilbegriff auch innerhalb des Projekts verstanden werden, wohl wissend, dass es starke linguistische Einwände gegen einen simplifizierenden und zu vorschnellen Gebrauch des Begriffs Stil gibt. Natürlich ist der Begriff Stil nur ein, wenngleich ein gewichtiges Mosaiksteinchen innerhalb der akademischen Wissensproduktion, dennoch erscheint er als operationabel, weil er sich auf mündliche wie auf schriftliche Kommunikation bezieht. Zugleich verweist er auf unterschiedliche Lehr- und Lerntraditionen, auf die im Folgenden eingegangen wird. 3.

Lehr-Lernstil als Untersuchungsfeld

Anknüpfend an die bisherigen Ausführungen stellt sich die Frage, inwiefern Stilforschung auf die akademische Wissensproduktion angewendet werden kann, d. h. auf welche Bereiche sie als Erklärungs- oder auch Beschreibungsressource 203

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applizierbar ist und wie sie empirisch als Methode operationalisiert werden kann? Dies soll im folgenden Teil erörtert werden. Der deskriptive Teil des Forschungsprojekts wird um auf Feldforschung basierende valide Daten ergänzt. Da die Anzahl der qualitativen empirischen Studien im Bereich der akademischen Wissensproduktion sehr begrenzt ist, halten wir qualitative Untersuchungen für eine wichtige Säule dieses Vorhabens. Geplant sind mehrere, sich ergänzende Einzelstudien, die verschiedene Teilaspekte unserer Forschungsfrage näher beleuchten. Erkenntnisinteresse ist dabei, einerseits etwaige kulturelle Charakteristika der Wissensproduktion in den beiden akademischen Kontexten durch den Vergleich deskriptiv zu erfassen und andererseits in ihren Unterschiedlichkeiten darzustellen. Die empirische Erforschung von Lehr-Lernstilen aus einer kulturvergleichenden Perspektive wird sowohl von Praktikern als auch von Forschern bislang vermisst bzw. immer wieder auch als Desiderat formuliert (vgl. z. B. Schumann 2008). Die Relevanz dieses Themas begründet sich auf mehreren Feststellungen: Dass internationale Studierende in Deutschland mit unterschiedlichsten Schwierigkeiten konfrontiert sind, wird immer wieder in quantitativen Erhebungen, z. B. durch den Hochschulinformationsdienst (HIS) bestätigt (z. B. Isserstedt / Kandulla 2011). Bislang liegen jedoch nur vereinzelte Studien vor, die die Schwierigkeiten qualitativ erforschen bzw. die auftretenden Probleme genauer benennen. Es scheint, dass neben finanziellen und administrativen Problemen insbesondere Lehr-Lernstile für internationale Studierende in Deutschland einen der größten „Irritations- und Konfliktbereich“ darstellen (Leenen / Groß 2007) darstellen. In der Fachliteratur wurde inzwischen auch schon vielfach darauf hingewiesen, dass die Sozialisation in bestimmten Lernkulturen das Lernverhalten nachhaltig prägt (z. B. Barmeyer 2000, Koptelzewa 2009). Unsere Literaturrecherche ergab, dass sich vereinzelte Arbeiten aus dem deutschsprachigen Raum mit Lehr- und Lernstilen beschäftigt haben. Einblicke in Unterschiede zeigen etwa Rösch und Strewe (2011) durch eine Befragung russischer Studierender an der FH Wildau auf, die besagen, dass die Anpassung der russischen Studierenden an das deutsche „Hochschulsystem, zu Prüfungsgegebenheiten, Arbeitsweise, Lernstil etc.“ viel Zeit und Kraft gekostet habe (Rösch / Strewe 2011:6),4 oder Koptelzewa (2009), die unterschiedliches Lehrund Lernverhalten bei russischen und deutschen Studierenden auf Gruppenorientierung und unterschiedlichen Umgang mit Hierarchie zwischen Lernenden und Lehrenden zurückführt.

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Barmeyer (2000) identifizierte unterschiedliche Lernstile bei Studierenden aus Deutschland, Frankreich und dem Quebec; während von Queis (2009) auf Basis von Literaturrecherchen verschiedene Charakteristika von Lehr-und Lernkulturen großer Kulturräume (etwa chinesische, osteuropäische, islamische Bildungskulturen) zusammenstellte. Luo (2011) befragte deutsche und chinesische Studierende nach ihrem Lernverhalten und identifiziert in seiner Studie unterschiedliche Lernstile. Eine wichtige Kategorie stellen „universitäre Lehr- und Lernstile“ auch in der MuMis-Studie zu Critical Incidents an der Hochschule dar. Diese Teilstudie innerhalb des groß angelegten empirischen Forschungsprojekts zu Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium (MuMiS 2011) nahm sich vor, vielfältige Problemfelder internationaler Studierender in Deutschland zu identifizieren, zu beschreiben und zu analysieren.5 Anhand von 164 Critical Incidents wird gezeigt, wo Unterschiede zwischen der deutschen und 48 weiteren Hochschulkulturen bestehen. Die umfangreiche Sammlung führt mit zahlreichen konkreten authentisch erlebten Situationsbeschreibungen vor Augen, wie internationale Studierende mit deutschen Lehr- und Lernstilen häufig überfordert sind. Die Erklärungen basieren vornehmlich aus dem Alltags- und Erfahrungswissen der Autorinnen, die sich seit vielen Jahren in der deutschen Hochschulkultur bewegen (dort lernten und lehren) und dadurch auch Expertinnen sind. 6 An den Ergebnissen dieser Studien setzt das vorliegende Projekt an. So wird nun angestrebt, solche Erklärungen noch weiter empirisch zu untermauern (etwa durch Interviews, Gruppendiskussionen, Unterrichtsbeobachtung und Analyse), die didaktischen Ansätze an deutschen Hochschulen zu beschreiben, die akademischen Traditionen, aus denen diese didaktischen Ansätze stammen, darzustellen, und zu fragen, ob es kulturspezifische Lehr- und Lernstile, oder, anders gefragt, signifikante Unterschiede in den Lehr-Lernstilen in den einzelnen akademischen Kulturen (z. B. Deutschland, Polen, Italien, Frankreich) gibt? Eine zentrale Frage des Projekts ist dabei die nach den Besonderheiten des Lernens und Lehrens innerhalb der deutschen akademischen Kultur aus Sicht internationaler Studierender und Lehrender (ähnlich wie bei Rösch / Strewe 2011, Luo 2011, Mumis 2011). Auf einer kulturvergleichenden Ebene wäre beispielsweise Begleitforschung zu einem bi- oder trinationalen Studiengang spannend, etwa berichten Studierende des trinationalen Masters Medien, Kommunikation, Kultur zwischen Frankfurt/Oder, Sofia und Nizza regelmäßig von großen kulturellen Unterschieden in der Lehre (bis hin zu dadurch verursachten Kulturschocks), ohne dass bislang maßgeschneiderte Instrumentarien entwickelt werden konnten, die operativ eingesetzt werden könnten,

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zur Vorbereitung bzw. Begleitung der Studierenden, aber auch von Lehrenden. Gleichzeitig stellen Lehr- und Lernstile, die unterschiedlichen akademischen Traditionen entstammen, auch für Lehrende eine große Herausforderung dar. Dies zeigt zum einen die Auswertung einer Befragung, die von einem/r der beiden VerfasserInnen dieses Beitrags 2011 an einer deutschen Hochschule unter Lehrenden durchgeführt wurde. Auf die Frage, welche der genannten Bereiche als größte Herausforderung in der Lehre gesehen wurde, antworteten mehr als zwei Drittel aller Befragten, dass dies die häufig als sehr unterschiedlich wahrgenommenen Lehr- und Lernstile der internationalen Studierenden seien.7 Nicht nur für deutsche Lehrende im internationalisierten deutschen Hochschulalltag, sondern auch für internationale Lehrende in Deutschland stellt die Konfrontation mit unerwarteten Lehr- und Lernstilen auch eine Schwierigkeit dar, wie folgendes Fallbeispiel8 zeigt: Eine chinesische Fremdsprachendozentin unterrichtet erstmals an einer deutschen Hochschule. In ihrem Heimatland war sie als Dozentin bei ihren Studierenden sehr beliebt. Die deutschen Studierenden sind jedoch irritiert von ihrem Unterrichtsstil und wünschen sich mehr aktive Partizipation. Sie entschließen sich, die Programmverantwortlichen der Hochschule darauf anzusprechen. Als diese das Gespräch mit der Dozentin suchen, ist diese zutiefst erschüttert. In ihrem Heimatland wurde sie doch wiederholt zur beliebtesten Dozentin gewählt. Ausgehend von diesem Fall, wäre es von Bedeutung, genauer zu erkunden, was die deutschen Studierenden am Lehrstil der Chinesin irritiert. Dies könnte durch Unterrichtsbeobachtung in Kombination mit Interviews geschehen. Gleichzeitig wäre die Klärung der Frage, was deutsche Studierende in Bezug auf gute, also Lerner-fördernde Lehre erwarten, von Interesse. 4.

Weitere Untersuchungsfelder und Ausblick

Neben Lehr-Lernstilen eignet sich auch der weite Bereich der Wissenschaftssprache zu genaueren Betrachtungen im Rahmen unseres Forschungsvorhabens (vgl. z. B. Ehlich 1993, Thielmann 2009) und Textsorten (z. B. deutsch-venezolanisch Kaiser 2000, deutsch-amerikanisch Clyne 1984). Einzelne Aspekte hierzu sollen im Rahmen des Projekts in verschiedenen Teiluntersuchungen (z. B. in Dissertationen oder auch Masterarbeiten) behandelt werden. Ein weiteres interessantes Feld für stilistische Untersuchungen stellen auch, insbesonde-

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re unter linguistischen Fragestellungen, Kommunikationsstile in bestimmten Situationen des akademischen Kontexts dar. So soll ein weiterer Fokus innerhalb des Projekts auf Sprechstundenkommunikation (dazu z. B. Boettcher / Meer 2000) und E-Mail-Kommunikation (Bachmann-Stein 2011) gerichtet werden. Alle Untersuchungsgegenstände stellen kulturspezifische Phänomene der akademischen Institutionen dar. Methodisch können hier je nach empirischem Material textlinguistische Analysen (z. B. bei Forschungsarbeiten) oder Gesprächsanalyse (Sprechstundengespräche, Unterrichtskommunikation) eingesetzt werden. Innerhalb des Projekts ist eine Perspektivenvielfalt auf den Forschungsgegenstand ausdrücklich vorgesehen. So wird ein Historiker die institutionellen Rahmenbedingungen des deutschen und französischen Hochschulsystems in ihren historischen Entwicklungslinien näher untersuchen. Hierbei sollen die konkreten Lehr- und Lernpraktiken, ihre institutionelle Einbettung und ihre Evolutionen seit den großen Hochschulreformen in Deutschland und Frankreich um 1800 in den Blick genommen werden, gleichwie die in den Kulturen verankerten und historischen Verständnisse von akademischer Ausbildung bzw. auch Wissenschaftlichkeit. Auch hier können sich weitere Perspektiven anschließen. Wie oben bereits geschildert wurde, besteht das Forschungsfeld vornehmlich aus den beteiligten Institutionen mit ihren internationalen Austauschprogrammen. Aus den Erkenntnissen sollen etwaige verallgemeinerbare Erwartungshorizonte in der Alltagspraxis der untersuchten akademischen Kulturen nachvollzogen werden, an denen sich Lehrende und Lernende künftiger Austausch- und Kooperationsprojekte orientieren können. Geplant ist es, die generierten Erkenntnisse als Grundlage für hochschuldidaktische Materialien aufzubereiten bzw. diese auch im Rahmen entsprechender Orientierungs- und Trainingskursen weiter zugeben.9 Literatur Ammon, G. (1989): Der französische Wirtschaftsstil. München: Eberhardt. Bachmann-Stein, A. (2011): Kommunikationsform E-Mail in der Institution "Hochschule" zwischen Distanzierung und Ent-Distanzierung. In: Birkner, K. / Meer, D. (Hrsg.): Institutionalisierter Alltag. Mündlichkeit und Schriftlichkeit in unterschiedlichen Praxisfeldern. Mannheim: Verlag für Gesprächsforschung, S. 149-166. Barmeyer, C. (2000): Interkulturelles Management und Lernstile. Frankfurt/Main: Campus.

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Barmeyer, C. (2001): Kulturelle Lernstile. Erfahrungslernen und Bildungssysteme in Frankreich und Deutschland. In: Bolten, J. / Schroeter, D. (Hrsg.): Im Netzwerk interkulturellen Handelns. Theoretische und praktische Perspektiven interkultureller Kommunikationsforschung. Sternenfels: Wissenschaft und Praxis, S. 155-173. Barmeyer, C. (2010): Kultur in der Interkulturellen Kommunikation. In: Barmeyer, C. / Genkova, P. / Scheffer, J. (Hrsg.): Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft. Passau: Karl Stutz-Verlag, S. 13-34. Boettcher, W. / Meer, D. (2000): „Ich hab nur ne ganz kurze Frage“ – Umgang mit knappen Ressourcen. Sprechstundengespräche an der Hochschule. Neuwied: Luchterhand. Bolten, J. (2002): Kultur und kommunikativer Stil. In: Wengeler, M. (Hrsg.): Deutsche Sprachgeschichte nach 1945. Hildesheim, Zürich, New York: Olms, S. 103-124. Bolten, J. (2007): Interkulturelle Studienangebote vor dem Hintergrund der Einführung von Bachelor- und Masterprogrammen. Interculture Journal 6(3), S. 47-64. Bolten, J. (2011): Unschärfe und Mehrwertigkeit: „Interkulturelle Kompetenz vor dem Hintergrund eines offenen Kulturbegriffs.“ In: Hoessler, U. (Hrsg.): Perspektiven interkultureller Kompetenz. Festschrift zum 70. Geburtstag von Alexander Thomas. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bourdieu, P. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Clyne, M. (1984): Language and Society in the German Speaking Countries. Berlin: de Gruyter. Ehlich, K. (1993): Deutsch als fremde Wissenschaftssprache. In: Wierlacher, A. et al. (Hrsg.): Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 19. München: Iudicium, S. 13-42. Elias, N. (1969): Über den Prozess der Zivilisation. München: Suhrkamp. Elias, N. (1983): Engagement und Distanzierung. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Haas, H. (2009): Das interkulturelle Paradigma. Passau: Karl-Stutz-Verlag. Hansen, K. P. (2009): Kultur, Kollektiv, Nation. Passau: Karl-Stutz-Verlag. Isserstedt, W. / Kandulla M. (2011): Internationalisierung des Studiums – Ausländische Studierende in Deutschland – Deutsche Studierende im Ausland. URL: http: www.studentenwerke.de/se/2010/Internationalisierungbe richt.pdf [Zugriff am 17.11.11]. Kaiser, D. (2000): Akademisches Schreiben im Vergleich: Textproduktion an deutschen und venezolanischen Universitäten: In: Mornhinweg, G. / Pandolfi, A. M. (Hrsg.): Actas del IX Congreso Latinoamericano de Estudios Germanísticos. Concepción: Editorial Universidad de Concepción, S. 79-85. Kamm, J. (2010): Mentalität, Habitus und Lifestyle. In: Barmeyer, C. / Genkova, P. / Scheffer, J. (Hrsg.): Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft. Passau: Karl Stutz-Verlag, S. 153-171.

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Koptelzewa, G. (2009): Interkulturalität in der akademischen Zusammenarbeit zwischen Ost und West. In: Umland, A. / Bürgel, M. (Hrsg): Geistesund sozialwissenschaftliche Hochschullehre in Osteuropa IV: Chancen und Hindernisse internationaler Bildungskooperationen. Frankfurt/Main: Lang, S. 264-292. Leenen, W. R. / Groß, A. (2007): Internationalisierung aus interkultureller Sicht: Diversitätspotentiale der Hochschule. In: Otten, M. et al. (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz im Wandel. Bd. 2: Ausbildung, Training und Beratung. Frankfurt/Main: IKO-Verlag, S. 185-214. MuMiS (2011): Critical Incidents in der Kommunikation an Hochschulen. URL:http://www.mumis.uni-siegen.de/ci/index.php?option=com_content&vi ew=article&id=8&Itemid=3 [Zugriff am 09.11.2011]. Müller-Armlack, A. (1981): Genealogie der Wirtschaftsstile. Die geistesgeschichtlichen Ursprünge der Staats- und Wirtschaftsformen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Kohlhammer. Münch, R. (2007): Die akademische Elite. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Rösch, O. / Strewe, B. (2011): Studierende aus Russland an der Technischen Hochschule Wildau – Lernsituation und Anpassung an das Lernumfeld. TH Wildau (FH), Wissenschaftliche Beiträge. Schumann, A. (2008). Interkulturelle Freiheitserfahrungen ausländischer Studierender an einer deutschen Hochschule. In: Knapp, A. / Schumann, A. (Hrsg.): Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium. Frankfurt/Main: Peter Lang, S. 29-50. Schütz, A. / Luckmann, T. (1979): Strukturen der Lebenswelt. Bd. 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Thielmann, W. (2009): Deutsche und englische Wissenschaftssprache im Vergleich. Hinführen - Verknüpfen - Benennen. Heidelberg: SynchronVerlag. Triandis, H. C. (1972): The analysis of subjective culture. New York:Wiley. von Queis, D. (2009): Interkulturelle Kompetenz. Praxis-Ratgeber zum Umgang mit internationalen Studierenden. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Weber, M. (1904) Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Weber, M. (Hrsg.): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr, S. 146-214.

1

Zentrum für Interkulturelles Lernen der Europa-Universität Viadrina und dem Lehrstuhl für Interkulturelle Kommunikation der Adam-Mickiewicz-Universität, Poznań. 2

Inzwischen haben sich neben der Universität Hildesheim (Institut für Interkulturelle Kommunikation) auch Hochschulen in Frankreich (Paris / Lyon) und Italien (Urbino) angeschlossen, weitere Netzwerkpartner sind vorgesehen.

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In seinen Überlegungen zu einem fuzzy Kulturverständnis räumt Bolten unter Bezugnahme auf Triandis (1972) ein, dass Kultur primär als ein subjektiver Begriff zu sehen ist, je nach dem aus welchen Erfordernissen heraus sie konstruiert wird. Letztlich kann es nur eine “optimal Angemessenheit” in Bezug auf den jeweiligen Blickwinkel geben (Bolten 2011). 4

Bei der Sichtung der vorliegenden Forschung fällt auf, dass im deutschsprachigen Raum eine Konzentration auf kulturkontrastive Untersuchungen im deutsch-russischen LehrLernkontext vorherrscht (vgl. z. B. Bürgel / Umland 2009, Teichmann 2007, Rösch / Strewe 2011).

5

Die Sammlung steht online zur Verfügung unter www.mu mis.uni-siegen.de, Zugriff am 6.12.11.

6

Da sich jedoch das gesamte System in einem Übergangsstadium befindet. Durch Internationalisierung, Ressourcenknappheit, Massenuniversitäten etc., wird es immer schwieriger, die aktuelle akademische Kultur an den deutschen Hochschulen zu beschreiben. So sind Humboldts Ideale (Bildung um der Bildung willen) oder einige Errungenschaften der 68er Revolution in Zeiten von Bachelor und Master nicht mehr realisierbar. 7

Die Befragung fand an der WHU Otto Beisheim School of Management in Vallendar statt. Die Ergebnisse sollen 2012 veröffentlicht werden. 8

Quelle: Die Fallgeschichte entstammt einer Qualifikationsarbeit, die im Rahmen der Ausbildung zum interkulturellen Hochschultrainer der Internationalen DAAD-Akademie entstanden ist. 9

Nachfrage hierfür herrscht z. B. bei Studierenden und Mitarbeitern des deutschen und polnischen Kooperationspartners, wie die Vergangenheit zeigte. So wurden in einem Pilotprojekt bereits gemischte interkulturelle Trainings für Master-Studierende angeboten sowie Mitarbeiterfortbildungen im hochschuldidaktischen Bereich.

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Marschelke: Interdisziplinäre Best Practice – Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz“ (GSiK) der Universität Würzburg

Interdisziplinäre Best Please insertthe thetitle titleof of Please Practiceinsert – Das Projekt your article here your article here und „Globale Systeme interkulturelle Kompetenz“ (GSiK) der Universität Würzburg Firstname nameSurname Surname First [An example of interdisciPleaseinsert insertinformation informationabout about Please plinary best practice –posiThe the author here (e.g. title, the author here (e.g. title, posistudy program „Global Systion,institution) institution) tion, tems and Intercultural Competence“ (GSIC) run by the University of Wuerzburg] Jan-Christoph Marschelke Dr. Jan-Christoph Marschelke ist Geschäftsführer des Projekts „Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz“ (GSiK) an der Universität Würzburg.

Abstract [English] This article reflects upon challenges of working together across scientific disciplines. With regard to this the study program Global Systems and Intercultural Competence (GSIC) run by the University of Wuerzburg serves as example of best practice. Established in 2008 it features an interdisciplinary group of teachers (ten disciplines / institutions) as well as an interdisciplinary target group (students from all subjects of study). The article defines interdisciplinarity as different from multidisciplinarity: the former being active collobaration the latter solely friendly co-existence. Moreover it sketches the idea that interdisciplinarity faces similar (if not equal) communicative challenges as interculturality. Accordingly an increased struggle is required in order to enhance successful collaboration. This struggle partly relies on interdisciplinary collaboration not being entirely compatible with traditional university structures. Keywords: Interdisciplinarity, interculturality, best practice, GSIC (University of Wuerzburg) Abstract [Deutsch] Der Beitrag reflektiert die Herausforderungen interdisziplinären Zusammenarbeitens. Als Grundlage und Beispiel für Best Practice in diesem Bereich dient das Lehrprojekt Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz (GSiK) der Universität Würzburg. Das 2008 gegründete Projekt zeichnet sich durch eine interdisziplinäre Anbieter- (zehn Fachbereiche bzw. Institutionen) und Zielgruppe (Studierende aller Fachbereiche) aus. Der Beitrag grenzt Interdisziplinarität von Multidisziplinarität ab. Demnach wäre erstere mehr als ein bloßes disziplinäres Nebeneinander: Sie besteht in aktivem Austausch und gegenseitigem Voneinander-Lernen. Darüber hinaus wird die These skizziert, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit sich ähnlichen (wenn nicht gleichen) kommunikativen Herausforderungen gegenüber sieht wie interkulturelle. Demnach bedarf es bestimmter Formen und Intensität von Kommunikation, die im Universitätsalltag fachübergreifend nicht ohne zusätzlichen Aufwand herstellbar sind. Stichworte: Interdisziplinarität, Interkulturalität, Best-Practice, GSiK (Universität Würzburg)

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Marschelke: Interdisziplinäre Best Practice – Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz“ (GSiK) der Universität Würzburg

1.

Einleitung

Dieser Beitrag gehört zum Bereich Best Practices in interkultureller Lehre und Forschung. Konkret geht es nicht nur um interkulturelle sondern um interdisziplinäre Best Practice. Bezugspunkt ist das Projekt Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz (GSiK; im Internet unter www.gsik.de) der Universität Würzburg. An diesem Beispiel möchte ich den möglichen Umgang mit den Herausforderungen interdisziplinären Arbeitens im Bereich interkultureller Kompetenz erläutern – und zwar in folgenden Schritten: Zunächst werde ich kurz besagtes Projekt vorstellen und dabei insbesondere die Rahmenbedingungen beschreiben, die einen Bezug zur Interdisziplinarität aufweisen (2.). Dann skizziere ich, welche Herausforderungen die Interdisziplinarität stellt, wobei ich auf abstrakter Ebene bleibe (3.). Anschließend werde ich unsere Practice darstellen und was an ihr den Namen Best oder doch wenigstens Good verdient (4.). Ab und an drittens und viertens anschließend werde ich kurz erläutern, welche konkreten Herausforderungen sich infolge interdisziplinärer Zusammenarbeit ergeben (5.). Denn Interdisziplinarität hat bisweilen ganz banale Voraussetzungen (z. B. Ressourcen, Kommunikation), die im universitären Alltag besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Gerade diese faktische Ebene sollte man zwecks besseren Verständnisses von der sprachlichen Ebene der Interdisziplinaritätsrhetorik unterscheiden (Hilgendorf 2010:914), die sich durch Lobeshymnen auf die fachübergreifende Zusammenarbeit auszeichnet. 2.

Projektbeschreibung

Das Projekt Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz (im Folgenden: GSiK-Projekt) entstand im Jahr 2008. Die Initiative ging von Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf aus und damit – das ist angesichts des Themas interkulturelle Kompetenz sicherlich ungewöhnlich – von einem Juristen. Das dürfte indes durchaus zum Erfolg beigetragen haben, da in der Ungewöhnlichkeit innovatives Potential liegt. Der Finanzierungsbedarf wird bis jetzt vollständig aus dem Studienbeitragsaufkommen der Universität Würzburg gedeckt. 2.1

Interdisziplinäre Anbieter- und Zielgruppe

Das GSiK-Projekt ist auf Lehre ausgerichtet. Da interkulturelle Kompetenz längst als Schlüsselqualifikation gilt, die in jedem Berufsfeld im In- und Ausland entweder von großer Bedeutung oder wenigstens doch sehr hilfreich ist, wendet es sich an die Studierenden aller Fachbereiche. Beteiligte Anbieter der Lehrveranstaltungen sind zehn Fachbereiche bzw. Institu© Interculture Journal 2012 | 16

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tionen der Universität Würzburg. Derart soll das GSiK-Projekt einerseits der heterogenen Zielgruppe – die Universität Würzburg ist eine Volluniversität mit über 20.000 Studierenden – wenigstens teilweise gerecht werden. Andererseits wird so der interdisziplinären Materie interkulturelle Kompetenz Rechnung getragen. Die Projektbeteiligten sind: aus dem pädagogischen Bereich die allgemeinen Erziehungswissenschaften, die Sonderpädagogik (genauer: Pädagogik bei Verhaltensstörungen) und das Zentrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung; aus dem philologischen bzw. kulturwissenschaftlichen Bereich die Indologie, die Sinologie und die Slawistik; darüber hinaus die Rechtswissenschaft, die Betriebswirtschaft, die KatholischeTheologie und schließlich als wichtiger Pionier im naturwissenschaftlichen Bereich die Biologie. Wollte man diese Gruppierung dazu nutzen, eine Kategorisierung der inhaltlichen Beiträge der Fachbereiche zum Thema interkultureller Kompetenz vorzunehmen, ließe sich folgende, sehr grobe (!) Skizze zeichnen: Demnach wären die pädagogischen Projektbeteiligten stärker mit den binnengesellschaftlichen Chancen und Herausforderungen der Multikulturalität befasst, während die Kollegen aus dem philologischen Bereich den Fokus darauf richten, Informationen über die Kulturfelder der Länder zu vermitteln, deren Sprache ihr Fach untersucht und unterrichtet. Rechtswissenschaftler, Betriebswirte und katholische Theologen beschäftigen sich in etwa gleich viel mit Sachverhalten aus der eigenen und aus anderen Gesellschaften, befinden sich also in der Mitte der Skala. Ein eigener fachlicher Beitrag der Biologie lässt sich schwerlich ausmachen, wenngleich zumindest erwähnt werden sollte, dass beispielsweise Diversität und Hybridität gängige biologische Begriffe sind. Die vorrangige Zielrichtung ist aber die, den Studierenden eines derart internationalisierten Faches ein entsprechendes Schlüsselqualifikationsangebot zu machen. Der gemeinsame Bezugspunkt aller Beteiligten ist das Thema interkulturelle Kompetenz, zu dem sie Lehrveranstaltungen anbieten: Seminare, Workshops, Vorträge sowie vereinzelte Tagungen und Exkursionen. Dabei nehmen sie – soweit möglich – jeweils ihren fachlichen Blickwinkel ein. Allerdings sind alle Veranstaltungen des Projekts offen für Studierende aller Fachbereiche. Das heißt: Die Veranstaltungen dürfen keine vertieften Fachkenntnisse voraussetzen und müssen alle relevanten Begriffe erklären. Das ist eine wichtige Grundvoraussetzung von Interdisziplinarität, auf die später noch zurückzukommen ist.

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2.2

Leistungsnachweise

Eine schnöde und dennoch entscheidende Frage lautet: Warum sollten die Studierenden dieses Lehrangebot nutzen? Sie bekommen die Veranstaltungsbesuche bescheinigt. Diese Teilnahmebescheinigungen sind teilweise auf Curricula anrechenbar z. B. im Schlüsselqualifikationsbereich. Ein Teil der Studierenden kann also ECTS erwerben. Wer solche nicht benötigt (z. B. Juristen, Mediziner), hat in den meisten Veranstaltungen die Möglichkeit, auf Wunsch eine andere Leistung zu erbringen als die in der Modulbeschreibung vorgesehene (z. B. Kurzreferat statt Klausur und Hausarbeit). Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer können ein Gesamtzertifikat erwerben, wenn sie innerhalb von höchstens vier Semestern, mindestens vier Seminare und sechs Vorträge besuchen. Dabei müssen sie mindestens fünf für sie fachfremde Lehrveran1 staltungen besuchen. Die Festsetzung dieser Zertifikatsvoraussetzungen dient folgenden Zielen: Die Dauer und Veranstaltungsanzahl sollen eine intensive und / oder längere Auseinandersetzung mit dem Thema gewährleisten. Die Pflicht, die Veranstaltungen fachfremder Projektbeteiligter zu besuchen, soll für eine interdisziplinäre Perspektive sorgen und zwar aus zwei Gründen: Zum einen um ein besseres Verständnis der interdisziplinären Materie interkulturelle Kompetenz zu gewährleisten, zum anderen zwecks Vermittlung von Interdisziplinarität als Wert an sich. Erfreulich ist insoweit, dass unter den Zertifikatsabsolventinnen und -absolventen – mittlerweile knapp über 100 – das häufigste positive Feedback ist, dass das GSiK-Projekt ihnen ermöglicht habe, über den Tellerrand zu schauen, ein Aufwand, den, wie die meisten offenherzig zugeben, sie sonst gescheut hätten. Ich erlaube mir darüber hinaus zu erwähnen, dass die mehrfache Anrechenbarkeit vieler GSiKVeranstaltungen (teils GSiK-Zertifikat, teils Curriculum) dazu führt, dass auch Studierende, die nicht beabsichtigen, das gesamte Zertifikat zu absolvieren, über unser Lehrprogramm ihre interkulturelle Kompetenz schulen. Die zuletzt erhobenen Anmeldezahlen (Wintersemester 2011 / 12) weisen knapp 1.300 Anmeldungen für 39 Seminare aus. Zusammengefasst bestehen die Rahmenbedingungen des GSiK-Projekts, die Interdisziplinarität fördern sollen, in Folgendem: Einer interdisziplinären Ziel- und Anbietergruppe, der Pflicht für die ersten, fachfremde Veranstaltungen zu besuchen und korrespondierend der Pflicht für die zweiten, ihre Veranstaltungen in für fachfremde Studierende geeigneter Weise anzubieten. Curriculare Integration, das Angebot einer

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zertifizierten Zusatzqualifikation und flexible Leistungsnachweise sorgen für Motivation. 3.

Abstrakte Herausforderungen der Interdisziplinarität

Es wäre zu schön, würden diese formalen Rahmenbedingungen reibungslos zu inhaltlicher wissenschaftlicher Interdisziplinarität führen. Um zu erklären, warum dies nicht so ist, muss ich den Begriff Interdisziplinarität, den ich bisher unbedarft und undefiniert verwendet habe, kurz erläutern. Da dies indes kein Beitrag über Interdisziplinarität sein soll, beschränke ich mich auf ein paar Anmerkungen, die ich für relevant halte. Vorab möchte ich zwei Beispiele nennen, die meines Erachtens illustrativ für die Grundbedingungen interdisziplinären Zusammenarbeitens sind. Das erste Beispiel bezieht sich auf einen Artikel in der Wochenzeitschrift Die Zeit vom 18.08.2011. Thema waren die Begegnungen von Philosophen bzw. Soziologen und Naturwissenschaftler im CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung, einer Großforschungseinrichtung im Kanton Genf (Schweiz). Dort arbeiten unter anderem Physiker an riesigen Teilchenbeschleunigungsanlagen. Offensichtlich – das war auch der Gegenstand des Zeitungsartikels – ist es schon mehrmals vorgekommen, dass Geistes- bzw. Sozialwissenschaftler dorthin gereist sind. Zweck dieser Besuche war aber nicht so sehr ein Interesse an der dort ablaufenden Forschung. Vielmehr war den Gästen daran gelegen, mit den dort arbeitenden Physiker über deren Arbeitsweise und Weltanschauung zu kommunizieren. Das Buch „Wissenskulturen“ von Frau Knorr-Cetina (2002) beruht z. B. teilweise auf einem solchen Besuch. Das zweite Beispiel ist eines aus meinem näheren Umfeld: Der Lehrstuhl von Prof. Dr. Dr. Hilgendorf betreibt ein sehr erfolgreiches Projekt zum Thema Robotik und Recht. Es bringt Juristen, Philosophen, Soziologen und Ingenieure zusammen, die auf Tagungen stets auf die Vermeidung von Missverständnissen zu achten haben. Einen Begriff wie Autonomie z. B. benutzen alle beteiligten Disziplinen in irgendeiner Weise, aber jeder anders. Die Best practice dieses Projekts für ein geplantes Handbuch besteht darin: Es soll einen Index geben, in welchem zentrale Begriffe aus allen beteiligten Fachperspektiven heraus erklärt und definiert werden sollen. Diese Beispiele sollen Folgendes verdeutlichen: Ausgehend von der These, dass der Begriff der Kultur auf die unterschiedlichsten Arten von menschlichen Kollektiven anwend-

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bar ist (Hansen 2011:15), lässt sich Interdisziplinarität als ein besonderer Fall von Interkulturalität verstehen (vgl. auch Laitko 2011:8f.). Die damit einhergehenden, dem Auditorium bestens bekannten Herausforderungen sind strukturell ähnlich – um nicht zu sagen: gleich. Ich zähle einige beispielhaft auf: Fachwissenschaftler neigen dazu, die eigene Weltsicht für normal und richtig zu halten und dabei überzupointieren. Wenn Sie einem Naturwissenschaftler die Ansicht Rorty´s näherbringen, er – der Naturwissenschaftler – sei eine Art Dichter, der eine besondere Art von Weltbeschreibung zur Geltung bringt (Rorty 1991:22), laufen Sie Gefahr, seinen Stolz als vermeintlich objektiven Tatsachenbeobachter zu verletzen. Mit diesem Selbstverständnis geht ein weiteres kommunikatives Problem einher, wie es im zweiten Beispiel zum Ausdruck kam: Wir teilen Begriffe mit anderen Disziplinen. Wenn jemand solche Begriffe benutzt, besteht die Gefahr, dass wir unreflektiert davon ausgehen zu verstehen, obwohl unsere Gegenüber vielleicht etwas Anderes meinen. Anders formuliert: Trotz guten Willens redet man völlig aneinander vorbei (Hilgendorf 2010:921). Die Unterschiede sind indes nicht nur inhaltlicher Natur: Auch die Art und Weise zu denken, darzustellen und zu kommunizieren – ja sogar zu fühlen – divergiert (Vollmer 2010:64f.). Es gibt also reichlich Gruppenmerkmale: fachlich bedingte Weltanschauung, eigene Terminologien mit false friends im Hinblick auf die Sprachen anderer Disziplinen, fachspezifische Denk- und Kommunikationsstile. Diese Merkmale erlauben uns, Stereotype über Fremdfachgruppen und über unsere Eigenfachgruppe auszubilden. Demnach weiß ich, dass ich als Jurist von manchen als in der Arbeitsweise bürokratisch, bei der Interessendurchsetzung be- und verschlagen angesehen werde. Von meinem Umgang mit Sprache erwartet man eine eigentümliche Mischung aus verkrampfter Penibilität einerseits und irreführender Kreativität andererseits. Schließlich schreibt man mir eine deutliche konservative Werthaltung zu. Mit der Stereotypenbildung verbunden sind die Komponenten von Selbst- und Fremdwahrnehmung und ihrem Einfluss auf Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl: Wir vermögen in der Regel, uns in der Eigengruppe leichter zu orientieren, wir fühlen uns angegriffen, wenn wir unsere Gruppe abgewertet sehen, und manche unter uns fühlen sich aufgewertet, wenn sie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen eine andere Gruppe abwerten. Diesen Herausforderungen entsprechen die Strategien zu ihrer Überwindung: Ohne Offenheit, Toleranz und Selbstreflexion geht es nicht. Man kann insoweit verschiedene Formen der Auseinandersetzung mit anderen Fachdisziplinen unterscheiden. In einem

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Grobraster lassen sich drei idealtypische Stufen unterscheiden: Monodisziplinarität, Multidisziplinarität und Interdisziplinarität. Keinesfalls will ich verschweigen, dass auch die folgende Dreiteilung verbreitet ist: Multi-, Inter- und Transdisziplinarität (Laitko 2011:10). Da dies jedoch kein vertiefter Beitrag über Interdisziplinarität sein soll, sehe ich an dieser Stelle davon ab, begriffliche Scharmützel um Sinn und Unsinn der gewählten Vorsilben (dazu Jungert 2010:1ff.) zu führen; zumal die Intention der beiden Dreiteilungen ähnlich sein dürfte. Die erste Stufe ist die der Monodisziplinarität: Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die Fachvertreterin oder der Fachvertreter im Wesentlichen darauf verzichtet, Kontakt zu anderen Disziplinen und Informationen aus ihnen aufzunehmen. Damit einher geht eine Grundeinstellung, die man als sehr rigoros verstandene Professionalität charakterisieren könnte: Die Annahme, dass es klar abgrenzbare Problemkonstellationen gibt, zu deren Lösung die Vertreterinnen und Vertreter einer bestimmten Disziplin am besten taugen. Diese sollten sich demnach mit dem Problem beschäftigen und nicht Vertreterinnen und Vertreter anderer Fachrichtungen. Schließlich sind diese dafür nicht vergleichbar kompetent. Man darf spekulieren, dass diese Ansicht sehr selten geäußert, indes nicht ganz so selten gedacht wird. Die zweite Stufe ist die der Multidisziplinarität: Sie lässt sich so beschreiben, dass gegenseitige Akzeptanz besteht, wenn sich beide Disziplinen mit demselben Thema beschäftigen. Ein aktiver Austausch besteht jedoch nicht (Jungert 2010:2), bestenfalls kommt es zu einer mehr oder minder interessierten Betrachtung der jeweils anderen Ergebnisse und Herangehensweisen. Diese Form erinnert an die Variante II von Multikulturalität, wie sie Jürgen Bolten beschrieben hat: Ein gleichberechtigtes und tolerantes Neben- aber kein kommunikatives Miteinander (Bolten 2007:65f.). Erst auf Stufe drei kann man von Interdisziplinarität sprechen: In diesem Falle bleibt es nicht bei interessierter Betrachtung, beim bloßen Konsum. Vielmehr wird versucht, gemeinsam an einem methodischen, konzeptionellen und terminologischen Austausch zu arbeiten. Dabei werden neue Informationen in das eigene Denken integriert, sodass es zu einer Erweiterung und Veränderung kommen kann. Es muss also die Bereitschaft vorhanden sein, gegenüber Kritik offen zu sein und die eigene Position gegebenenfalls zu modifizieren (Hilgendorf 2010:921). Im Schema von Jürgen Bolten ließe sich dieser Fall unter die sogenannte Multikulturalität III (Bolten 2007:67) fassen. Festzuhalten ist, dass Interdisziplinarität über das bloße Faktum, dass sich die Arbeitsgebiete von mehreren Disziplinen 217

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überschneiden, hinausgeht. Und sie ist auch mehr als die bloße wohlwollende Zur-Kenntnisnahme des Beitrags anderer Fachrichtungen. Interdisziplinarität liegt – nach dieser Bestimmung – erst bei einem aktiven kommunikativen Austausch vor. Der aber lässt sich als ein Fall interkultureller Kommunikation beschreiben und wartet mit entsprechenden Chancen (Innovation, Bereicherung) und Risiken (Missverständnisse, Konflikte) auf. 4.

Best Practice im GSiK-Projekt

Ausgehend von den projektbezogenen Rahmenbedingungen (2.) und den abstrakten Herausforderungen der Interdisziplinarität (3.) will ich aufzeigen, was das GSiK-Lehrprogramm in puncto Interdisziplinarität an Best Practices zu bieten hat. Zunächst darf man feststellen, dass diese Art von fachübergreifender Zusammenarbeit in einem Projekt per se ungewöhnlich ist. Das betrifft sowohl das Ausmaß (zehn Beteiligte), die Dauer (über vier Jahre) als auch den Arbeitsschwerpunkt Lehre. Nur – um auf meine Einteilung von eben zurückzukommen: Mehrere Fachperspektiven führen zwar weg von der Mono- und hin zu Multi- aber noch nicht zwingend zu Interdisziplinarität. 4.1

Gemeinsam abgehaltene Lehrveranstaltungen

Als wichtigsten Teil der Best Practice möchte ich hervorheben, dass im Rahmen des GSiK-Projekts Dozentinnen und Dozenten aus unterschiedlichen Fachrichtungen gemeinsame Ver2 anstaltungen anbieten. Zwei Beispiele greife ich heraus : Beim ersten handelt es sich um ein Seminar von Juristen und allgemeinen Erziehungswissenschaftlern zum Thema Staat – Bildung – Kultur: Religiöse Symbole in Schulen (Sommersemester 2010). Zu den bleibenden Erkenntnissen gehörte seitens der allgemeinen Erziehungswissenschaftler, dass juristische Urteile eine interessante Textsorte darstellen. Denn diese Texte können (in diesem Fall ging es um die Urteile zu Kruzifixen an Schulwänden und dem Kopftuchtragen muslimischer Lehrerinnen) angefüllt sein mit Aussagen und Argumenten, die sich aus der interkulturellen Perspektive interpretieren und mittels der interkulturellen Begrifflichkeiten analysieren lassen, die im pädagogischen Diskurs üblich sind. Auch für Kultursemiotiker z. B. müssen die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten in Kruzfix- und Kopftuchbeschluss zur Bedeutung des jeweiligen Symbols herrliche Analysienda darstellen. Solche Diskurselemente anderer Disziplinen können umgekehrt die Juristen importieren, um die Adäquanz der juristischen Sachverhaltsbewertung zu reflektieren.

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Als zweites Beispiel möchte ich ein Seminar der Slawisten und Juristen zum Thema Gerechtigkeit: Deutsche und russische Interpretationen (Sommersemester 2011) anführen. Für die Rechtsphilosophie erschließen sich hier Quellen und geistesgeschichtliche Entwicklungslinien, die abseits des üblichen Kanons liegen. Die Slawisten umgekehrt profitieren von den strukturellen Grundlagenkenntnissen der Rechtsphilosophie bei der Interpretation solcher und anderer Quellen, die juristische Bezüge aufweisen. Die wertwolle Erweiterung des eigenen Horizonts betrifft indes nicht nur die Inhalte sondern auch die unterschiedlichen Lehrmethoden. Für Juristen ist z. B. das methodischdidaktisch geförderte Maß an Interaktivität in den Seminarveranstaltungen der klassischen Geistes- und Sozialwissenschaften tendenziell überdurchschnittlich. Das beruht zum Teil auf der schlichten Tatsache, dass das Veranstaltungsformat Seminar in der universitären juristischen Ausbildung in der Regel eine stark untergeordnete Rolle spielt. Die Studierenden reagieren auf diese Formate positiv, von einer Eingewöhnungsphase einmal abgesehen, in der sie sich angesichts mehrerer Dozentinnen und Dozenten orientieren müssen. Sie schätzen neben den unterschiedlichen inhaltlichen Herangehensweisen auch die sich ergänzenden Erklärungsstile: Hier ein sehr offener und diskursiver Teil, dort die zügige und frontale Vermittlung von Fakten und analytischen Zusammenhängen. Freilich setzt eine derartige didaktische Mischung nicht zwingend voraus, dass interdisziplinär gearbeitet wird. Die Interdisziplinarität begünstigt dies aber. Sie ermöglicht insbesondere, dass Lehrende ihre Kompetenzen zwanglos erweitern: Die Beteiligung an einem zuvor unbekannten und ungewohnten Lehrformat, das eine andere Dozentin oder ein anderer Dozent durchführt, ist wesentlich einfacher, als solche Formate selbständig auffinden und ohne vorgängige Erfahrung und Anleitung durchführen zu müssen. Ähnliches gilt für das Erarbeiten von neuen Inhalten fachfremder Provenienz: Sowohl das Auffinden von Literatur als auch das Verstehen der Texte gelingt wesentlich leichter mit Unterstützung einer fachlich versierten Person. Kommunikativ problematisch im Sinne von Teil drei dieses Beitrags waren diese Kooperationen nicht. Allerdings bedeutet es einen gewissen Mehraufwand an Organisation, Beschäftigung und Kommunikation. Das setzt die Bereitschaft, die andere Fachperspektive kennen zu lernen und dafür auch etwas zu investieren, voraus. Ein gemeinsamer Projektrahmen ermöglicht indes, von vornherein die Kooperation mit Kollegen zu suchen, mit denen eine persönliche Sympathie verbindet. Das verringert etwaiges Konfliktrisiko zusätzlich. Wollte 219

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man das Patentrezept insoweit auf einfache Nenner bringen, würden sie lauten: Interesse, Sympathie und Learning-bydoing. 4.2

Projekttage

Als weiteres, aber anders gelagertes Beispiel möchte ich den 1. GSiK-Tag vom 6. Mai 2011 heranziehen. Zweck dieser Veranstaltung war, das GSiK-Projekt als Ganzes vorzustellen. Zu diesem Zweck haben alle zehn Projektbeteiligten parallel einen Workshop angeboten und daraus ein Diskussionsthema entwickelt. Diese Diskussionen richteten sich an alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung, das heißt, die Türen standen offen, und jede und jeder hatte die Möglichkeit, an mehreren Diskussionen teilzunehmen, aktiv oder als Zuhörerin oder Zuhörer. Abschließend gab es einen Vortrag des UN-Sonderberichterstatters für Religionsfreiheit Prof. Dr. Bielefeldt. Dieser GSiK-Tag war ein großer Erfolg und wurde von gut 300 Studierenden und weiteren Teilnehmerinnen und Teilnehmern wahrgenommen. Auch Vertreter der Stadt Würzburg lobten das Engagement von Anbieter- und Zielgruppe. Abermals ist darauf hinzuweisen, dass bereits die Möglichkeit, den Studierenden eine solche Veranstaltung anzubieten, eine Best-Practice ist. Herausheben möchte ich jedoch einen anderen Punkt. Das übergreifende Thema des GSiK-Tags lautete: Die Vielfalt interkultureller Kompetenz. Diese Überschrift war treffend, vereinzelt fanden sich jedoch Anwesende, die nicht restlos überzeugt waren: Sie hatten eher Orientierung in der Vielfalt gesucht. Doch genau die knüpfte an eine andere Form der Best-Practice an und zwar die, dass man sich in bestimmter Hinsicht gegenseitig akzeptiert und anerkennt. Es gibt diverse Ansätze zum Umgang mit dem Thema interkulturelle Kompetenz, die theoretisch miteinander konkurrieren. Im GSiK-Projekt lehren Dozentinnen und Dozenten, die Geert Hofstedes Ansatz weiterdenken oder mit Alexander Thomas Methode gewonnene Inhalte vermitteln. Ebenso sind ausgemachte Transkulturalisten beteiligt, die durchaus befürworten würden, das Inter- im Projektnamen durch Trans- zu ersetzen. Würden wir als Agenda des Projekts also das Ziel ausgeben, ein eng abgestimmtes gemeinsames Konzept zu interkultureller Kompetenz zu verfolgen, liefen wir Gefahr, Differenzen zu erzeugen, die den Projektrahmen destabilisieren könnten. Woher dieses Risiko kommt, wurde unter drittens skizziert. Um – in eher lose feuilletonistischer als wissenschaftlich strenger Weise – an die Unterscheidung von Tönnies (Tönnies 2005) anzuknüpfen: Statt um die Erzwingung von Gemeinschaft geht es eher um die Herstellung einer Gesellschaft. Im Rahmen des weiten Begriffs interkulturelle Kompetenz und © Interculture Journal 2012 | 16

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einigen allgemeinen Bildungszielen besteht Methodenpluralität verbunden mit dem Bewusstsein dafür, dass die diversen Disziplinen unterschiedliche Probleme lösen möchten: Der eine möchte anhand von Critical Incidents konkret und anschaulich die möglichst effiziente Leitung eines interkulturell besetzten Teams lehren. Ein anderer reflektiert den interkulturellen Diskurs im Anschluss an Foucault unter dem Aspekt der Macht. Das soll nicht besagen, dass es keine strukturellen Verbindungslinien gäbe und auch nicht, dass voneinander nichts zu lernen wäre oder man sich nicht fruchtbar kritisieren könnte. Die Einsicht, dass Einsatzgebiet und Intention unterschiedlich sind, sollte jedoch zu einer gewissen Relativierung führen, wenn eigene Konzepte kritisch auf andere Gebiete übertragen werden. Insoweit gilt im Sinne einer adäquat verstandenen Professionalität das Gebot, Respekt und Behutsamkeit walten zu lassen. Das ist ein Grundsatz in der Zusammenarbeit im GSiK-Projekt. 5.

Konkrete Herausforderungen der Interdisziplinarität

Dennoch verläuft an dieser Stelle die Grenzlinie, die Multidisziplinarität von Interdisziplinarität trennt. Die Kommunikation über inhaltliche und methodische Aspekte unter gleichmäßigem Einbezug aller Projektmitarbeiter ist kein Selbstläufer. Stets ist im Auge zu behalten, dass die unter 4.2. angesprochene Vielfalt an Inhalt und Methode respektiert bleibt und insoweit keine Missverständnisse aufkommen. Und doch soll die Schwelle zur Interdisziplinarität überschritten werden. Um das zu gewährleisten, muss Kommunikation gezielt, reflektiert und moderiert durchführt werden. Unerlässlich ist eine gewisse Intensität, wenn ein Mindestmaß an Routine hergestellt werden soll. Sinnvoll sind regelmäßige gemeinsame Arbeitskreise, Workshops oder Tagungen. Lose Treffen und die Verfügbarkeit geteilter elektronischer Plattformen reichen in der Regel nicht aus: Erstere bedeuten jedes Mal einen QuasiNeuanfang, letztere liegen schnell brach, wenn keine Nutzungskultur hergestellt wird. Diese Erfahrung gehört auch zum Repertoire der alltäglichen Arbeit des GSiK-Projekts. Damit sind jedoch organisatorische Herausforderungen verbunden. Den Begriff organisatorisch bestimme ich sehr weit, er umfasst demnach alles vom Management der Arbeitsbelastung bis hin zur konkreten Terminfindung. Der Ursprung solcher Schwierigkeiten liegt darin, dass es außerhalb von bestimmten Projekten (wie dem unseren) nicht alltäglich ist, in dieser Weise interdisziplinär zusammen zu arbeiten. In der Literatur wird dies bisweilen schlicht als mangelnde Erfahrung der Universitäten mit interdisziplinären Einrichtungen be-

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zeichnet (Sukopp 2010:16). Interdisziplinarität ist auch nicht immer günstig und / oder gewollt. Das betrifft insbesondere die regulären Curricula der Fächer: Da ist Interdisziplinarität in bestimmten Bereichen hinderlich. Sie würde nicht zulassen, fachlich stark in die Tiefe zu gehen. Das widerspräche dem Grundanliegen von Interdisziplinarität, das zunächst darin besteht, Vernetzungspotentiale sichtbar zu machen, ohne sich mit dem an den Vernetzungspunkten anhängenden fachlichen Ballast aufhalten zu müssen. Es wäre widersinnig, würde ich von jedem Menschen, der auf seinen Erkenntnisgegenstand die Grundgedanken der Hermeneutik anwenden möchte, verlangen, sie oder er müsse ein Philosophiestudium mit entsprechender Schwerpunktsetzung nachweisen. Doch im Kernbereich eines jeden Fachs ist genau diese Vertiefung erforderlich. Soweit Studierende und Dozentinnen und Dozenten sich jedoch schwerpunktlich in diesen Bereichen bewegen, werden sie interdisziplinäres Arbeiten und Denken nur in begrenztem Umfang gewohnt sein. Die zunächst einmal völlig normale und plausible Aufteilung in fachliche Funktionseinheiten führt in größeren und über Jahrhunderte an unterschiedlichen Örtlichkeiten einer Stadt gewachsenen Universitäten wie etwa der Würzburger dazu, dass viele der Projektbeteiligten teilweise kilometerweit voneinander entfernt arbeiten. Zudem können ihre Stundenpläne und Sprechzeiten nur sehr begrenzt aufeinander abgestimmt sein, weil sie sich am jeweiligen Fach ausrichten müssen. Das macht gemeinsame Terminfindung schwierig, insbesondere soweit der Anspruch auf Einbezug aller Beteiligten besteht. Eine Nachbereitung des 1. GSiK-Tags unter Beteiligung aller Fachbereiche ließ sich beispielsweise nicht ermöglichen. Wenige Termine bedeuten indes wenig Gruppenkommunikation. Wenig Kommunikation bedeutet wenig Möglichkeit, die Verständigungsbasis zu pflegen. Es scheinen Banalitäten zu sein, doch ihre Bedeutung ist kaum zu überschätzen: In der alltäglichen Arbeit gelebte Interdisziplinarität erfordert bestimmte Strukturen, die der auf den eigenen Fachbereich zugeschnittenen Praxis bisweilen widersprechen. Solche Strukturen können teilweise auch gar nicht geschaffen werden. Es ist finanziell unmöglich, für jedes interdisziplinäre Projekt ein eigenes Gebäude samt Arbeitsinfrastruktur bereit zu stellen. Das ist allerdings auch nicht zwingend nötig. Vielmehr ist von Bedeutung einzukalkulieren, dass interdisziplinäres Arbeiten einen gewissen Mehraufwand nach sich zieht: Einen Mehraufwand an Kommunikation und Verwaltung, ein Mehr an Terminen und Wegen. Dieses Anforderungsprofil gilt es zu verstehen. Es könnte Teil der vertraglichen Arbeitsdefinition und sollte Teil der Praxis im Arbeitsumfeld sein. Wer an einem Lehrstuhl im Rahmen eines

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interdisziplinären Projekts arbeitet, hat in der Regel weniger Kapazitäten für die Übernahme weiterer Aufgaben als Mitarbeiter, die nicht interdisziplinär arbeiten. Grundlage für diese Berücksichtigung des Mehraufwands ist die Wertschätzung der Ergebnisse interdisziplinärer Arbeit. Weitere – und weniger ressourcenverschlingende – Voraussetzungen interdisziplinärer Arbeit ist die flexible Gestaltung und Handhabung vorhandener Strukturen. Elektronische Vorlesungsverzeichnisse, elektronische Prüfungsverwaltung, eine Praxis gegenseitiger Bereitschaft zur Prüfungsanerkennung, Online-Plattformen und Homepages sind prinzipiell so ausgestalt- und positionierbar, dass organisatorische Trennlinien, die an Fakultäten, Institute und Fachbereiche anknüpfen, mit Leichtigkeit durchschritten werden können. Indes ist solch flexible Handhabung keineswegs selbstverständlich. Die denkbaren Gegenbeispiele sind zahlreich: Instituts- oder fakultätsgebundene Eintragskategorien, automatisierte Querverbindungen zwischen den einzelnen Strukturen (z. B. Einrichtung eines Eintrags auf einer virtuellen Plattform nur bei Referenzeintrag im elektronischen Vorlesungsverzeichnis). Besonders hinderlich sind allzu ausdifferenzierte Systeme von Zuständigkeiten und Zugriffsberechtigungen. Soweit die derart eingestellten Instrumente flexibilisierbar sind, erfordert dies abermals einen Mehraufwand. Der kommt zu dem im vorherigen Absatz Beschriebenen hinzu. Diese Ausführungen ließen sich problemlos noch weiter konkretisieren, was ich jedoch tunlichst unterlassen werde. Wenn es hier nicht zu lesen ist, heißt das indes nicht, dass solche Arbeit im Kleinen nicht zu tun wäre, und sie ist in etwa so mühsam, wie sich ihre Beschreibung läse; was der vorhergegangene Absatz bereits angedeutet hat. 6.

Zusammenfassung

Damit möchte ich zusammenfassen und schließen: Mit der These, dass Interdisziplinarität nicht gleich Multidisziplinarität ist; dass Interdisziplinarität ähnliche Bemühungen erfordert wie Interkulturalität; und dass diese Bemühungen besondere Ressourcen und eine Anpassung sowie fortwährendes Angepasst-Halten von organisatorischen Strukturen erfordern. Für den Umgang mit diesen Herausforderungen stellt das GSiKProjekt der Universität Würzburg in vielerlei Hinsicht ein BestPractice-Beispiel dar. Doch bedurfte dies im Aufbau einer erheblichen Anstrengung und diese perpetuiert sich in der Pflege: Denn Grundpfeiler der Zusammenarbeit sind stets die an ihr beteiligten Personen. Es ist selbstverständlich, dass gelungener kommunikativer Umgang miteinander und gegenseitige persönliche Wertschätzung über Fachgrenzen hinweg kei223

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ne einmaligen Projekte sondern dauerhafte Aufgaben sind. Hiervon ausgehend ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass Projekte – ob interdisziplinär oder nicht – gerade im universitären Nachwuchsbereich mit einer hohen personellen Fluktuation zu Recht kommen müssen. Der Lohn für die Bemühungen sind neben den unter 2.2. bereits genannten positiven Feedbacks und Teilnehmerzahlen inspirierende Einsichten in andere fachliche Denkweisen und quasi im Vorbeigehen erworbene Kenntnisse über das Innenleben der eindrucksvollen Organisation namens Universität. Literatur Bolten, J. (2007): Interkulturelle Kompetenz. Thüringen: Landeszentrale für politische Bildung. Hansen, K. P. (2011): Kultur und Kulturwissenschaft. Tübingen: A. Francke, UTB. Hilgendorf, E. (2010): Bedingungen gelingender Interdisziplinarität. Juristenzeitung 65(19), S. 913-922. Jungert, M. (2010): Was zwischen wem und warum eigentlich? Grundsätzliche Fragen der Interdisziplinarität. In: Jungert, M. / Romfeld, E. / Sukopp, T. / Voigt, U. (Hrsg.): Interdisziplinarität. Theorie. Praxis. Probleme. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 1-12. Knorr-Cetina, K. (2002): Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Laitko, H (2011): Interdisziplinarität als Thema der Wissenschaftsforschung. URL: http://www.leibniz-institut.de/archiv/laitko_26_10_11.pdf [Zugriff am 14.12.11]. Rorty, R. (1991): Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Schramm, S. (2011): Das Making-of eines Weltbildes. URL: http://www. zeit.de/2011/34/Experiment-Physik-Philosophie/seite-1 [Zugriff am 14.12. 11]. Sukopp, T. (2010): Interdisziplinarität und Transdisziplinarität. In: Jungert, M. / Romfeld, E. / Sukopp, T. / Voigt, U. (Hrsg.): Interdisziplinarität. Theorie. Praxis. Probleme. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 13-29. Tönnies, F. (2005): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Vollmer, G. (2010): Interdisziplinarität – unerlässlich, aber leider unmöglich?. In: Jungert, M. / Romfeld, E. / Sukopp, T. / Voigt, U. (Hrsg.): Interdisziplinarität. Theorie. Praxis. Probleme. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 47-75.

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Außerdem müssen Studierende die Veranstaltungen mindestens zweier Anbieter besuchen. Das ist jedoch nur eine Auffangregel, die verhindern soll, dass Studierende alle zehn Lehrveranstaltungen bei einem (fachfremden) Projektbeteiligten absolvieren. 2

Beide Beispiele beziehen sich auf Erfahrungen des Verfassers, um die Nähe zu den beschriebenen Erfahrungen zu gewährleisten. Es gab eine Reihe weiterer solcher Veranstaltungen, z. B. zwei Kooperationsworkshops der Sinologie und der Slawistik, in denen einmal die Medienlandschaften (Wintersemester 2010 / 11) und ein anderes Mal die Arbeitsmarktstrukturen (Sommersemester 2011) von Russland und China verglichen wurden.

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Marschelke: Interdisziplinäre Best Practice – Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz“ (GSiK) der Universität Würzburg

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