Kinderwunsch und Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung

October 3, 2017 | Author: Inge Roth | Category: N/A
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Gudrun Dobslaw & Stefan Meir (Hrsg.)

Kinderwunsch und Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung Dokumentation der Arbeitstagung der DGSGB am 4.12.2009 in Kassel

Materialien der DGSGB Band 22

Berlin 2010

2 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Informationen sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-938931-23-3

® 2010 Eigenverlag der DGSGB, Berlin Internet: [email protected] 1. Aufl. 2010 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: sprintout Digitaldruck GmbH, Grunewaldstr. 18, 10823 Berlin

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Kinderwunsch und Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung Dokumentation der Arbeitstagung der DGSGB am 4.12.2009 in Kassel

Inhaltsverzeichnis Seite Ursula Pixa-Kettner Zur Normalität der Lernschwierigkeiten

4 Elternschaft

von

Menschen

mit

Stefanie Bargfrede Elternschaft aus der Sicht der Eltern

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Sabine Obermann & Petra Thöne Ethische Aspekte der Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung

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Annette Vlasak Rechtliche Aspekte des Sorgerechts der Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung

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Alfons Ummenhofer Interventionsstrategien bei Familien mit geistig behinderten Eltern

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Autoren

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Zur Normalität der Elternschaft von Menschen mit Lernschwierigkeiten Ursula Pixa-Kettner

Verändertes Verständnis von Behinderung Auch wenn es in diesem Kreis sicher bekannt ist, möchte ich kurz auf das veränderte Verständnis von Behinderung eingehen, das sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat und sich z.B. in der ICF1 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (vgl. Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information, 2004) niederschlägt, weil es auch für das Thema der Elternschaft von Menschen mit Lernschwierigkeiten von großer Bedeutung ist. Dieses modernere Verständnis von Behinderung vermeidet traditionelle individuumorientierte Defizitzuschreibungen (wonach eine Behinderung ausschließlich als Defekt eines Individuums gesehen wird) ebenso wie vereinfachende lineare Sichtweisen wie in der Vorläuferversion ICIDH2, wonach organische/ körperliche Schädigungen (impairment) zwangsläufig Funktionsbeeinträchtigungen (disability) und diese eine gesellschaftliche Behinderung (handicap) zur Folge haben. Behinderung im Sinne dieses neuen bio-psycho-sozialen Verständnisses ist vielmehr als Ergebnis der Wechselwirkungen von Körperstrukturen und Körperfunktionen mit sog. Kontextfaktoren zu sehen und immer dann (und nur dann) festzustellen, wenn diese zu einer Beeinträchtigung der gesellschaftlich üblichen Aktivität (activity) oder Teilhabe (participation) führen. Entscheidend ist also nicht nur die organische Schädigung oder funktionelle Störung einer Person, sondern wie sich diese im Zusammenhang mit Kontextfaktoren auswirkt. Die Kontextfaktoren werden in individuelle und gesellschaftliche Umweltfaktoren unterschieden, bei den individuellen geht es um die persönliche Umwelt zu Hause oder am Arbeitsplatz, bei den gesellschaftlichen um das umgebende soziale System mit seiner Infrastruktur, seinen Dienstleistungen, seinen gesetzlichen Regelungen, aber auch mit seinen Einstellungen und Weltanschauungen. Dazu kommen noch die personbezogenen Kontextfaktoren. Damit ist der persönliche Hintergrund eines Menschen gemeint, der unabhängig von der organischen oder funktionellen Störung besteht, wie z. B. Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, weitere

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ICF = International Classification of Functioning, Disability and Health ICIDH = International Classification of Impairment, Disability and Handicap

5 Gesundheitsprobleme, aber auch Lebensstil, sozialer Hintergrund, Erziehung, Bildung, Beruf usw. So wird verständlich, dass organisch zunächst recht ähnliche Befunde zu ganz verschiedenen Behinderungen führen können. Dazu ein etwas plakatives Beispiel: Auf der einen Seite eine 30-jährige Frau, von Beruf Verkäuferin, asthmakrank und Mutter von 2 kleinen Kindern, die mit ihrer Familie in einer Mietwohnung im 3. Stock ohne Fahrstuhl lebt, und zwar in einer Kleinstadt, in der es keine barrierefreien Verkehrsmittel gibt; diese Frau ist verheiratet und ihr Ehemann arbeitet als Fernfahrer. Durch eine Querschnittslähmung dürfte sie anders behindert sein als ein ansonsten gesundheitlich stabiler 50-jähriger männlicher Wissenschaftler oder Berufspolitiker, der ebenfalls verheiratete ist und mit seiner Ehefrau in einem geräumigen eigenen Haus lebt, der außerdem über genügend finanzielle Mittel für technische und andere Hilfen verfügt und einen umgerüsteten PKW fährt.

Gemäß dem ICF-Verständnis ist Behinderung kein statischer Zustand, sondern in Wechselwirkung mit den Kontextfaktoren variabel. Eine barrierefrei zu erreichende Wohnung könnte im ersten Fall das Ausmaß des Behindertseins schon verändern. Es wäre jeweils zu fragen, welche Kontextfaktoren wie veränderbar sind, damit eine Person möglichst wenig behindert ist oder – in den Worten der ICF – damit ihr ein möglichst hohes Ausmaß an gesellschaftlich üblicher Aktivität und Teilhabe ermöglicht wird. Was bedeutet das für Eltern mit Lernschwierigkeiten? Diese werden oftmals nicht primär durch organische oder funktionelle Faktoren (in den Worten der ICF: durch Körperstrukturen oder Körperfunktionen), sondern durch Kontextfaktoren und entsprechende Wechselwirkungen daran gehindert, Eltern zu werden oder zu sein und sind damit in einem ganz wesentlichen Lebensbereich von Aktivität und Teilhabe ausgeschlossen. In der UNKonvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die im März 2009 auch in Deutschland in Kraft getreten ist, erfährt dieser Umstand ausdrückliche Aufmerksamkeit. In Artikel 23 (Achtung der Wohnung und der Familie) heißt es dort: „(1) Die Vertragspartner treffen wirksame und geeignete Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen in allen Fragen, die Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaften betreffen, um zu gewährleisten, dass a) das Recht aller Menschen mit Behinderungen im heiratsfähigen Alter, auf der Grundlage des freien und vollen Einverständnisses der künftigen Ehegatte eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen, anerkannt wird ...“ Hier wird also das Ziel der Beseitigung von Diskriminierung ausdrücklich genannt.

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Kinderwunsch Die Diskriminierung bzw. die Behinderung durch Kontextfaktoren beginnt schon beim Kinderwunsch. Zwar vollzieht sich seit einigen Jahrzehnten ein gesellschaftlicher Wandel hinsichtlich der Auffassung über Sexualität und Behinderung, und seit 1992 wird aufgrund des neuen Betreuungsgesetzes die Sterilisation von Menschen mit geistiger Behinderung restriktiver gehandhabt als früher, aber Elternschaft wird meist nicht mitgedacht. Schon im Kindesalter wird mit nicht-behinderten Kinder selbstverständlich über ihre Lebensperspektiven gesprochen und dabei stellt die Familiengründung eine wichtige Option dar. Bei behinderten Kindern wird das Thema entweder ganz ausgespart oder von vornherein verneint. Auch gegenüber jugendlichen und erwachsenen Menschen wird häufig nach dem Motto verfahren, „keine schlafenden Hunde zu wecken“. Sprechen Menschen mit Lernschwierigkeiten dennoch über einen Kinderwunsch, erfahren sie immer wieder, dass dieser nicht ernst genommen und z.B. bagatellisiert wird als ein flüchtiger Wunsch, der genauso gut durch den Kauf einer Puppe oder eines Haustieres befriedigt werden könne. Oder es kommt der Vorwurf, der Kinderwunsch werde von ihnen funktionalisiert, um andere (nicht das Kind betreffende) Ziele zu erreichen, z. B. dass über ein Kind der Umzug aus einer Wohngruppe in eine eigene Wohnung gemeinsam mit dem Partner erreicht (vielleicht auch: erzwungen) werden solle. Mag sein, dass es so ist – schlimm genug, wenn es auf anderem Wege nicht geht. Aber, ein Kind kann auch einer nichtbehinderten Frau zu einem Anspruch auf Wohnung und zu finanzieller Unterstützung verhelfen. Eine nicht-behinderte Frau wünscht sich vielleicht ein Kind, um der ungeliebten Berufstätigkeit zu entrinnen oder einer angstbesetzten Prüfung zu entgehen. Vielleicht soll ein Kind soll eine Beziehung kitten oder ein weiteres Kind das drohende „Empty-Nest-Syndrom“ beseitigen. Ob derartige Motive günstige Voraussetzungen für das Kind darstellen, steht hier nicht zur Debatte. Ein Blick in die Fachliteratur zum Thema Kinderwunsch ergibt jedenfalls, dass diese Motive nicht ungewöhnlich sind. Gloger-Tippelt u.a., die sich sehr umfassend mit dem Kinderwunsch beschäftigt haben, kommen zu folgendem Fazit: „Faßt man die genannten Motive für Kinder zusammen, überwiegen die emotionalen Aspekte (…). Dabei steht jedoch der funktionale Charakter des Kinderwunsches mit Abstand im Vordergrund, d. h. Kinder sollen vor allem Wünsche und Bedürfnisse der Eltern erfüllen.“ (Gloger-Tippelt u. a., 1993, 57) Als typische, ganz normale Kinderwunschmotive (wohlgemerkt bei nichtbehinderten Frauen!) gelten (vgl. Groß, 1999, 140ff) z.B.: 1. Der Kinderwunsch als Wunsch nach Zuwendung, 2. Der Kinderwunsch, um als vollwertige Frau anerkannt zu werden, 3. Der Wunsch nach einer vollständigen Familie, 4. Ein Kind, um gebraucht zu werden,

7 5. Ein Kind, um sich von den Eltern zu emanzipieren 6. Der Kinderwunsch als Flucht. All diese Motive können auch bei Frauen mit Lernschwierigkeiten eine Rolle spielen, für die möglicherweise der darin enthaltene Aspekt Kinderwunsch, um Normalität und Erwachsenheit zu dokumentieren, von besonderer Bedeutung ist. Generell scheint es so zu sein, dass die Motive behinderter Frauen eine ungleich kritischere Hinterfragung erfahren als die nicht-behinderter Frauen. Während sich nicht-behinderte Frauen tendenziell dafür rechtfertigen müssen, wenn sie sich kein Kind wünschen, müssen sich behinderte Frauen rechtfertigen, wenn sie sich ein Kind wünschen. Hier zeigt sich das Wirken behindernder gesellschaftlicher Kontextfaktoren in großer Deutlichkeit. In den Befragungen, die wir Anfang der 90er Jahre mit betroffenen Müttern bzw. Eltern durchgeführt haben (vgl. Pixa-Kettner et al., 1996), wurde deutlich, dass vielen Frauen die negative Haltung ihrer Umgebung durchaus bewusst ist und manche von ihnen deshalb ihre Schwangerschaft so lange wie möglich verborgen haben. Aus der Erfahrung heraus, dass Frauen (und Männer) mit Lernschwierigkeiten besonders wenig Gelegenheit haben, sich mit ihrem Kinderwunsch auseinander zu setzen und sich damit bewusster für oder gegen ein Kind zu entscheiden, haben Frau Bargfrede und ich vor etlichen Jahren ein sog. „Kinderwunschspiel“ entwickelt, das wir als Anregung verstehen, um mit Menschen mit Lernschwierigkeiten ins Gespräch zu kommen (AWO, 2006, PixaKettner & Bargfrede, 2008).

Abb. 1: Beispiele aus dem „Kinderwunschspiel“ von Bargfrede & Pixa-Kettner (AWO, 2006)

8 Groß (1999, 139) konstatiert in ihrer Untersuchung über unfreiwillig unfruchtbare Paare, dass in einem Kinderwunsch immer ein „Bedürfnis nach Veränderung und Neuorientierung“ enthalten sei. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass dies bei behinderten Menschen anders ist. Falls ein Kinderwunsch – aus welchen Gründen auch immer – nicht realisierbar ist, dann ist ein langer und teilweise schmerzhafter Prozess erforderlich, um sich davon zu verabschieden – dies ist bei Frauen mit Behinderung nicht anders als bei Frauen ohne Behinderung. Das Bedürfnis nach Veränderung und Neuorientierung muss dabei ernst genommen werden, und es muss versucht werden, mit den Frauen bzw. Paaren andere Perspektiven für ihr Leben zu entwickeln.

Hinderliche Kontextfaktoren: Vorurteile und Diskriminierung Wenn Menschen mit Lernschwierigkeiten entgegen der gesellschaftlichen Erwartung doch Eltern geworden sind, sind sie mit weiteren ungünstigen Kontextfaktoren konfrontiert. Dazu zählen insbesondere Vorurteile, von denen einige schon Mitte der 90er Jahre von australischen Wissenschaftler/innen um Gwynnyth Llewellyn (Llewellyn et al., 1995, 15) als Mythen bezeichnet wurden und die schon damals als widerlegt gelten konnten. Leider sind sie immer noch weit verbreitet und bestimmen die Vorstellung vieler Menschen, in den Hochschulen ebenso wie in Behörden und bei den Sozialen Diensten. Aus Zeitgründen führe ich sie nur kurz an, ohne näher auf sie einzugehen. • Mythos 1: Menschen mit geistiger Behinderung bringen geistig behinderte Kinder zur Welt. • Mythos 2: Menschen mit geistiger Behinderung haben besonders viele Kinder. • Mythos 3: Geistig behinderte Eltern missbrauchen ihre Kinder. • Mythos 4: Geistig behinderte Eltern vernachlässigen ihre Kinder. • Mythos 5: Geistig behinderte Eltern sind nicht in der Lage, angemessenes Elternverhalten zu erlernen. Der einzige Mythos, in dem ein Körnchen Wahrheit steckt, ist der 4., wobei nach Llewellyn Vernachlässigung meist aus Mangel an Wissen, nicht absichtlich oder aus Gleichgültigkeit geschieht. Auch in der Rechtsprechung sind diese Mythen nach wie vor verbreitet. International gut belegt sind Benachteiligungen der Eltern in Sorgerechtsverfahren (Llewellyn et al., 2003, Booth et al., 2005), und zwar nicht nur im Vergleich zu Eltern ohne Behinderung, sondern auch im Vergleich zu Eltern mit anderen Problemen, wie z.B. psychischen Erkrankungen oder Substanzmissbrauch. Für Deutschland liegen m. W. keine vergleichbaren Untersuchungen vor. Allerdings werden immer wieder Einzelfälle bekannt, die erkennen lassen, dass gegenüber Eltern mit geistiger Behinderung selbst

9 fundamentale Grundrechte missachtet werden. Relativ bekannt geworden ist der Fall Kutzner, der bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ging. In diesem Fall hatte 1997 ein deutsches Amtsgericht einem Elternpaar das Sorgerecht für seine beiden Töchter mit der Begründung der „unverschuldeten Erziehungsunfähigkeit aufgrund mangelnder intellektueller Fähigkeiten“ entzogen, ohne dass den Eltern irgend ein konkretes Fehlverhalten vorgeworfen worden wäre. Der Europäische Gerichtshof in Straßburg hatte einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention festgestellt und in der Begründung u. a. ausgeführt: „Das Gericht weist darauf hin, dass die Tatsache, dass ein Kind unter Bedingungen, die seiner Erziehung förderlicher sind, untergebracht werden könnte, nicht als Begründung ausreicht, es gewaltsam der Obhut seiner biologischen Eltern zu entziehen.“3 Aufgrund zahlreicher Einzelfälle liegt die Vermutung nahe, dass dieser eigentlich selbstverständliche Grundsatz bei Eltern mit Lernschwierigkeiten besonders leicht übergangen wird und als ungünstiger Kontextfaktor wirkt. Völlig gesetzwidrig gab es auch schon den vorgeburtlichen Sorgerechtsentzug!

Quantitative Untersuchungsergebnisse Bislang gibt es im internationalen Raum keine genauen Informationen über die Anzahl von Menschen mit Lernschwierigkeiten, die Kinder haben. Die Gründe dafür sind vielfältig: die Gruppe ist schwer zu definieren und teilweise schwer zu erreichen, außerdem sind in verschiedenen Ländern unterschiedliche Klassifikationssysteme im Gebrauch. In englischsprachigen Ländern umfasst die entsprechende Bezeichnung „intellectual disability“ oder „mental retardation“ häufig auch die Personengruppe, die im deutschsprachigen Raum als lernbehindert bezeichnet wird. Folgerichtig liegen lediglich recht grobe Schätzungen der Häufigkeit von Elternschaften dieser Personengruppe vor. McGaw (2004, 214) vermutet einen Anteil zwischen 0,004 und 1,7 Prozent intellektuell beeinträchtigter Eltern an der Gesamtpopulation der Eltern über verschiedene Länder hinweg. Eine Studie in England (Emerson et al., 2005) ergab, dass knapp 7% der erwachsenen Menschen mit „learning difficulties“ Kinder hatten. Für Deutschland liegen zwei überregionale Studien vor, die von meinen Mitarbeiterinnen und mir durchgeführt wurden, die erste in den Jahren

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vgl.http://www.coe.int/t/d/menschenrechtsgerichtshof/dokumente_auf_deutsch/volltext/ urteile/20020226_K.asp - TopOfPage. Dieser Fall hat die Vorlage für einen Film abgegeben: „In Sachen Kaminski“ (2005), von Stephan Wagner, mit Juliane Köhler und Matthias Brand, Spielfilm (s. auch: http://www.arte-tv.com/de/film/Fernsehfilme-auf-ARTE/908074.html, 19.6.08).

10 1993/94, die zweite 2005/6, also 12 Jahre später. Ich beschränke mich hier auf die Wiedergabe einiger weniger quantitativer Ergebnisse, wobei ich den Vergleich beider Untersuchungen in den Mittelpunkt stellen möchte, um Entwicklungen zu betrachten. In der 1. Studie (vgl. Pixa-Kettner et al., 1996) konnten wir bundesweit knapp 969 Elternschaften von Menschen mit Lernschwierigkeiten mit 1366 Kindern zahlenmäßig dokumentieren, wobei manche Elternschaften weit zurück lagen (bis 1934, also fast 60 Jahre!). Bei der Nachfolgestudie 2005 (vgl. Pixa-Kettner, 2007) wurden, wie bei der ersten Untersuchung, Fragebögen an alle relevanten Einrichtungen der großen Trägerorganisationen verschickt und um Auskunft über Elternschaften gebeten. Anders als bei der 1. Studie wurde allerdings ein begrenzter Zeitraum erfragt, nämlich der seit 1990. Insgesamt nannten die Einrichtungen für diesen Zeitraum von gut 15 Jahren 1584 Fälle von Elternschaften mit 2199 Kindern. Wenn man den Tab. 1: Anzahl von Elternschaften und Kinder Überschneidungszeitraum bis 1993 1990 bis 2005 zwischen den beiden Elternschaften 969 1584 Studien von 1990 bis 1993 Kinder 1366 2199 herausrechnet, entspricht dies einer Zunahme von fast 48 % – obwohl sich die zweite Studie auf einen viel kürzeren Zeitraum bezieht als die erste. Wurden in dem 15-Jahres-Zeitraum von 1978 bis 1992 durchschnittlich 52 Kinder pro Jahr geboren, waren es in dem 15-Jahres-Zeitraum von 1990 bis 2004 jährlich 121 Kinder. Diese Zunahme an Geburten (133%) liegt prozentual deutlich über der Zunahme der Anzahl von Menschen mit Lernschwierigkeiten im gleichen Zeitraum (ca. Tab. 2: Anzahl der Geburten (jeweils 15-Jahres-Zeitraum) 43%) (vgl. Pixa-Kettner, 1978 bis 1993 1990 bis 2004 2009, 243). durchschnittliche Anzahl Trotz der Zunahme der 52 121 von jährlichen Geburten Geburtenzahlen sollte nicht vergessen werden, dass die Anzahl der Elternschaften innerhalb der entsprechenden Altersgruppe nur etwas mehr als einem Prozent entspricht. Selbst wenn man die Zahl verdreifacht, um der Rücklaufquote von gut 30 % Rechnung zu tragen und selbst wenn man noch einmal die gleiche Anzahl von nicht über Einrichtungen erfassbaren Personen (als Dunkelziffer) dazu zählen würde, wären es maximal 6 %. Das würde zumindest in der Dimension zu der vorhin aus England berichteten Zahl von 7 % passen. Die Geburtenquote in der Gesamtbevölkerung liegt in Deutschland etwa bei 44 %. Also, trotz der Zunahme der Zahlen werden insgesamt gesehen nur wenige Menschen mit Lernschwierigkeiten Eltern.

11 Abgesehen von der Zunahme der Elternschaften insgesamt haben wir feststellen können, dass der Anteil der Kinder, die bei ihren leiblichen Eltern leben, zugenommen hat: Immerhin 57 % der Kinder lebten mit mindestens einem Elternteil zusammen, während es 1993 erst 40 % waren. Knappes Fazit: Es gibt in Tab. 3: 1993 2005 Deutschland eine zwar Wohnform der Kinder Anzahl % Anzahl % nicht große, aber zunehmende Zahl von bei mindestens einem 540 39,5 1244 56,6 Elternteil Menschen mit Lernschwierigkeiten, die im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung von Integration/Inklusion und Normalisierung Kinder haben und die mit ihren Kindern zusammen leben, wobei sie mit zahlreichen Hindernissen zu kämpfen haben, persönlichen wie gesellschaftlichen.

Elterliche Kompetenzen Bis in die 80er Jahre wurde in der deutschsprachigen Fachliteratur – sofern überhaupt erwähnt – davon ausgegangen, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten grundsätzlich nicht in der Lage seien, Eltern zu sein. Eine Differenzierung oder genauere Begründung erschien nicht erforderlich. Zahlreiche neuere, aber auch ältere Untersuchungen aus dem englischsprachigen Raum (vgl. zusammenfassend McGaw, 2004) zeigen jedoch, dass es keinen einfachen linearen Zusammenhang zwischen der intellektuellen Kapazität von Eltern und elterlichen Kompetenzen gibt, der eine Generalisierung einzelner Probleme auf die gesamte Gruppe der Eltern mit Lernschwierigkeiten rechtfertigen würde. McGaw & Sturmey (1994) haben bereits 1994 das Parent Skills Model entwickelt, wonach die im engeren Sinne für die Versorgung und gute Entwicklung eines Kindes erforderlichen Kompetenzen aus dem Überschneidungsbereich von allgemeinen Lebensfertigkeiten, dem biografischen Hintergrund der Eltern und den Unterstützungen aus dem sozialen Umfeld resultieren.

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Abb.2: Das Parental Skills Model (McGaw & Sturmey, 1994, 39)

Dieses Modell weist einige Parallelen zu dem eingangs vorgestellten Verständnis von Behinderung der WHO auf. Ob Eltern mit Lernschwierigkeiten „erziehungsbehindert“ sind oder nicht, ergibt sich aus der Wechselwirkung zwischen ihren persönlichen Voraussetzungen mit den verschiedenen Kontextfaktoren. Zur differenzierten Erfassung der elterlichen Kompetenzen als Voraussetzung konkret zugeschnittener Unterstützung haben McGaw et al. (1998) ein umfangreiches diagnostisches Verfahren, das Parent Assessment Manual (PAM) entwickelt, das unter Bezug auf das Parent Skills Model die verschiedenen Bereiche elterlicher Kompetenzen kleinschrittig und systematisch erfasst (vgl. Pixa-Kettner & Sauer, 2008). Eine revidierte elektronische Fassung ist 2007 unter der Bezeichnung PAMs 2.0 (Parent Assessment Manual Software 2.0) erschienen. Mit diesem Instrument kann z. B. erhoben werden, • welche Unterstützungswünsche die Eltern selbst äußern; • welche ihrer biographischen Erfahrungen und welche Kennzeichen ihrer aktuellen Lebenssituation für ihre elterlichen Kompetenzen relevant sind ; • aber auch welches Wissen und Verständnis die Eltern z.B. hinsichtlich kindlicher Bedürfnisse, erzieherischer Fragen oder Fertigkeiten im Haushalt haben.

13 Beispiele:

Abb. 3: aus PAMs 2.0

Abb. 4: aus PAMs 2.0

14 Ein solches Instrument hat den Vorteil, dass es die elterlichen Kompetenzen so konkretisiert erhebt, dass das Ergebnis zum einen weniger anfällig für subjektive Sichtweisen einzelner Beurteiler ist und zum anderen gleichzeitig Hinweise liefert, bei welchen Aufgaben die Elternteile ggf. Hilfe benötigen, aber auch wünschen. Allerdings gibt es sehr unterschiedliche und individuelle Stile, ein Kind zu erziehen, nicht den einzigen, richtigen Weg. Sue McGaw betont ausdrücklich, dass dies von den Fachkräfte zu respektieren ist. Auch geht es in ihrem Konzept nicht um „perfekte Eltern“, sondern um “good-enoughparenting”. Im deutschsprachigen Bereich liegen mit dem PAM vergleichbare Instrumente nicht vor. Als besonders relevanter Aspekt der elterlichen Kompetenz wird nicht nur in dem Modell von McGaw der Kontextfaktor „support and ressources“ betrachtet, also die Frage nach dem sozialen Netzwerk, innerhalb dessen die Erziehung des Kind stattfindet. Entsprechend der Afrikanischen Volksweisheit „Um ein Kind zu erziehen, braucht man ein ganzes Dorf“ sind die Chancen, elterlich kompetent zu sein, größer, wenn sich die Aufgaben auf mehrere Personen verteilen. Booth & Booth gehen sogar davon aus, dass die elterliche Kompetenz nur so gut sein kann wie es das soziale Netzwerk der Eltern ist: ‘Competence may more properly be seen as a distributed feature of parents’ social network rather than as an individual attribute’ (Booth & Booth, 1998a, 206). In vielen Familien, insbesondere in Familien mit höherem Einkommen, ist die Nutzung sozialer Netzwerke selbstverständlich. Hier werden regelmäßig elterliche Aufgaben an andere Personen delegiert, ohne dass in der Gesellschaft Anstoß daran genommen würde (Putzhilfe, Haushaltshilfe, Tagesmutter, miterziehende Großeltern und Freunde, Babysitter, Ferienlager bis hin zu (Elite-)Internaten usw.). Auch hier hat das soziale Netzwerk wesentlichen Anteil am Gelingen der Elternschaft, ohne dass die Kompetenz der Eltern in Frage gestellt würde. Eltern mit Lernschwierigkeiten verfügen fast nie über die hierfür erforderlichen finanziellen Mittel, und mittlerweile ist auch gut belegt, dass ihre privaten sozialen Netzwerke (ganz besonders die allein erziehender Mütter) meist sehr dürftig sind (vgl. Booth & Booth, 1998; Llewellyn & McConnell, 2002; Schneider, 2006). Diese Eltern sind also besonders auf professionelle Unterstützung angewiesen. Wenn Eltern mit Lernschwierigkeiten Teile ihrer elterlichen Aufgaben nicht selbst erfüllen/erfüllen können, müssen sie oftmals befürchten, dass dies so gedeutet wird, dass sie grundsätzlich und nicht nur auf einem bestimmten Gebiet oder in einer besonders schwierigen Situation nicht in der Lage sind, ihre Funktion als Eltern zu erfüllen und dass ihnen ihr Kind weggenommen wird. Die Besonderheit dieser Eltern läge somit weniger in einem Mangel an individuellen elterlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten – das gibt es zwar,

15 kommt aber auch bei anderen Eltern vor – als in einem bestimmten gesellschaftlichen Umgang mit ihnen, der ihre Teilhabe an dem Lebensbereich der Elternschaft erschwert und sie im Sinne der dargestellten WHO-Definition zusätzlich be-hindert.

Unterstützungsangebote für Eltern Seit den 1990er Jahren wurden international zahlreiche Studien durchgeführt, die die Wirkung von ganz unterschiedlichen Unterstützungsprogrammen für Eltern mit Lernschwierigkeiten zum Gegenstand haben. Als Voraussetzungen für den Erfolg von Unterstützungsprogrammen wurden folgende Merkmale identifiziert: • ein individueller Zuschnitt auf die jeweiligen Bedürfnisse der Eltern, • das Einüben der Fertigkeiten im Feld künftiger Anwendung sowie • die systematische und konkrete Ausgestaltung der Programme. Jenseits verschiedener theoretischer Ansätze und unterschiedlicher Ausgestaltung der Programme haben sich aber die Grundhaltungen und die Einstellungen der Professionellen gegenüber den Eltern als essentiell erwiesen, denn davon hängt ab, ob die Hilfe von den Eltern auch angenommen werden kann, sonst laufen auch die intensivsten Trainings mit den buntesten Lernmaterialien ins Leere. Die Eltern spüren schnell, mit welcher Haltung ihnen begegnet wird, nämlich ob es im Grunde darum geht, ihnen zu beweisen, dass „es nicht geht“, oder darum, gemeinsam nach Wegen suchen, „damit es geht“? Auf einer Liste von „Dos“ und „Don’ts“ von McGaw (2004, 232) findet man z.B. folgende Hinweise • „Nimm dir Zeit, um zu fragen und zuzuhören, was die Eltern wollen.“ (Take time to ask and listen to what parents want.) • „Setze eher auf die Stärken der Eltern und betone diese als auf ihre Schwächen.“ (Build on and emphasize parents’ strengths rather than their weaknesses.) Und unter den ‘Don’ts’ werden als zu vermeidendes Verhalten u. a. benannt: • „Stelle keine Mutmaßungen über die Lernkapazität der Eltern an.“ (Do not guess a parent’s capacity to learn.) • „Mach‘ die Eltern nicht für das Scheitern deines Trainingsprogramms verantwortlich.“ (Do not make parents responsible for the failure of your teaching programme.) • „Vermeide, die Eltern zu etikettieren, sie von oben herab zu behandeln oder zu stigmatisieren.“ (Do not label, patronize or stigmatize.) Ich denke, wenn es gelänge, in der professionellen Unterstützung der Eltern diese Grundsätze zu verwirklichen, dann wäre dies nicht nur ein Beitrag zur Erhöhung der elterlichen Kompetenzen, sondern gleichzeitig auch ein Beitrag zum Abbau gesellschaftlicher Vorurteile und Barrieren, die die Eltern im Sinne

16 der ICF behindern und der Normalität der Elternschaft von Menschen mit Lernschwierigkeiten im Wege stehen. Im Übrigen bin ich überzeugt, dass alle Menschen, die Unterstützung brauchen, froh wären, wenn ihnen mit solchen Grundhaltungen begegnet werden würde.

Literatur Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. (Hrsg.) (2006): Liebe(r) Selbstbestimmt. Praxisleitfaden für die psychosoziale Beratung und sexualpädagogische Arbeit für Menschen mit Behinderung. Bonn (darin enthalten „Kinderwunschspiel“ von Bargfrede & Pixa-Kettner) Booth, Tim & Booth, Wendy (1998): Growing up with parents who have learning difficulties. London : Routledge Booth, Tim, Booth, Wendy & McConnell, David (2005), Care Proceedings and Parents with Learning Difficulies: Comparative Prevalence and Outcomes in an English and Australian Court Sample. In: Child & Family Social Work, 10, 353-360 Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) (2004): ICF. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (final draft). www.dimdi.de, 29.3.2005 Emerson, E., Malam, S., Spencer, I. D. & Spencer, K. (2005): Adults with Learning Difficulties in England 2003/4, Full Report, Health and Social Care Information Centre (http://www.lancs.ac.uk/ staff/emersone/FASSWeb/Emerson_05_ALDE_Main.pdf; 26.9.07) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Vierte Sektion (2002): 26/02/02 - Fall K. gegen DEUTSCHLAND (Beschwerde Nr. 46544/99), (http://www.coe.int/t/d/ menschenrechtsgerichtshof/dokumente_auf_deutsch/volltext/urteile/20020226_K.asp#TopOf Page; 20.12.2009) Gloger-Tippelt, Gabriele, Gomille, Beate & Grimmig, Ruth (1993): Der Kinderwunsch aus psychologischer Sicht. Opladen: Leske + Budrich Groß, Jessica (1999): Kinderwunsch und Sterilität. Zur Motivation des Kinderwunsches bei Sterilitätspatientinnen. Giessen: Psychosozial-Verlag Llewellyn, Gwynnyth & McConnell, David (2002): Mothers with learning difficulties and their support networks. In: Journal of Intellectual Disability Research, 46, 17 – 34 Llewellyn, Gwynnyth, McConnell, David & Bye, Rosalind (1995): Parents with Intellectual Disability. Support and Services required by Parents with Intellectual Disability. Report to the Disability Services Sub-Committee, October 1995. Sydney : University of Sydney. Llewellyn, Gwynnyth, McConnell, David, & Ferronato, L. (2003): Prevalence and Outcomes for Parents with Disabilities and their Children in an Australian Court Sample, in: Child Abuse & Neglect, 27, 235–251 McGaw, Susan (2004): Parenting Exceptional Children. In: Hoghugi, M. & Long, N. (Hrsg.): Handbook of Parenting. Theory and research for practice. London: SAGE Publications, 213-236 McGaw, Susan & Sturmey, Peter (1994): Assessing Parents with Learning Disability: The Parental Skills Model. In: Child Abuse Review, Bd. 3, 36-51 McGaw, Susan, Beckley, Kerry, Connolly, Nicola & Ball, Katherine (1998): Parent Assessment Manual, Truro/ Cornwall: Trecare NHS Trust McGaw, Susan, Beckley, Kerry, Connolly, Nicola & Ball, Katherine (2007): PAMs 2.0 (Parent Assessment Manual Software 2.0) (http://www.cornwall.nhs.uk/specialparentingservices/ parentassessmentmanual.asp; 19.6.2008) Pixa-Kettner, Ursula (Hrsg.) (2006): Tabu oder Normalität? Eltern mit geistiger Behinderung und ihre Kinder. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, Edition S Pixa-Kettner, Ursula (2007): Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland: Ergebnisse einer zweiten bundesweiten Fragebogenerhebung. In: Geistige Behinderung (46), 4, 309-321

17 Pixa-Kettner, Ursula (2009): Forschung zur Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung. In: Janz, Frauke & Terfloth, Karin (Hrsg.): Empirische Forschung im Kontext geistiger Behinderung, Heidelberg: Winter Verlag, S. 241 - 260 Pixa-Kettner, Ursula & Bargfrede, Stefanie (2006): Kinderwunsch von Menschen mit geistiger Behinderung. In: Pixa-Kettner, Ursula (Hrsg.): Tabu oder Normalität? Eltern mit geistiger Behinderung und ihre Kinder. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, Edition S, 73 – 85 Pixa-Kettner, Ursula & Sauer, Bernhard (2006): Elterliche Kompetenzen und die Feststellung von Unterstützungsbedürfnissen in Familien mit geistig behinderten Eltern. In: Pixa-Kettner, U. (2006), 221 - 249 Pixa-Kettner, Ursula, Stefanie Bargfrede & Ingrid Blanken (1996): „Dann waren sie sauer auf mich, dass ich das Kind haben wollte...“. Eine Untersuchung zur Lebenssituation geistigbehinderter Menschen in der BRD. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Bd. 75. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Schneider, Petra (2006): „Bin ich auch froh, wenn ich so Hilfe habe“ – Unterstützungsnetzwerke von Eltern mit Lernschwierigkeiten unter Einbezug der Sicht einer betroffenen Mutter. In: PixaKettner, U. (2006), Tabu oder Normalität? Eltern mit geistiger Behinderung und ihre Kinder. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, Edition S, 253 – 274 UN-Konvention (2006): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (http://www2.institut-fuer-menschenrechte.de/webcom/show_page.php/_c-556/_nr-9/i.html; 20.12.2009)

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Elternschaft aus Sicht der Eltern Stefanie Bargfrede In meinem Beitrag geht es um die Perspektive der Betroffenen, also um die Frage, wie Menschen mit geistiger Behinderung ihre Schwangerschaft und Elternschaft erleben, was es für sie bedeutet, Mutter oder Vater zu sein. Diese Frage möchte ich zum einen im ersten einleitenden Teil meines Beitrags anhand von Befragungsergebnissen beantworten. Dabei greife ich auf unsere Untersuchung Zur Lebenssituation geistig behinderter Menschen in der BRD (Pixa-Kettner et al., 1996) zurück. Im zweiten Teil meines Beitrags werde ich drei Familien vorstellen, die wir aktuell unterstützen. Ich habe im November 2009 zwei Mütter und ein Elternpaar mit geistiger Behinderung ebenfalls zu den Themenbereichen befragt, die Gegenstand unserer Erhebung im Rahmen des Forschungsprojektes waren.

Teil I: Befragungsergebnisse im Rahmen des Forschungsprojektes Das genannte Forschungsprojekt wurde unter der Leitung von Frau Professor Pixa-Kettner an der Universität Bremen durchgeführt. Neben den Fragen,  Wie viele Elternschaften von Menschen mit geistiger Behinderung gibt es in der BRD? Wo bzw. wie leben die Eltern und Kinder? und  welche Konzepte oder Betreuungsmodelle bereits entwickelt und erprobt worden sind, interessierte uns,  wie Eltern mit geistiger Behinderung ihre Situation sehen, welche Erfahrungen sie im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft gemacht haben. Auf diesen letztgenannten Fragenkomplex möchte ich kurz eingehen. In den Interviews, die wir geführt haben, um die Sicht der Eltern zu erfahren, interessierten wir uns hauptsächlich für folgende Bereiche: • Psychosozialer Hintergrund • Phase der Schwangerschaft und Geburt • Zeit nach der Geburt • Evtl. Trennung vom Kind/Beziehung zum Kind • Beurteilung von Unterstützungsangeboten

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Ergebnisse der Interviews Der psychosoziale Hintergrund, den Frauen und Männer in ihre eigene Elternschaft einbringen, wirkt sich neben anderen Faktoren in hohem Maße auf deren Verlauf und auf die Ausprägung und Wahrnehmung der eigenen Elternrolle aus. Es interessierte uns vor allem, ob die von uns befragten Elternteile in sogenannten „intakten Elternhäusern“ aufgewachsen sind, d.h., ob sie sich erinnern an elterliche Fürsorge, Wärme und positiv wahrgenommene Autorität. Dementsprechend wollten wir auch wissen, wie viele der geistig behinderten Eltern kein „normales“ Familienleben erlebt, sondern zum Beispiel mit Alkoholmissbrauch, Heimaufenthalten, Gewalttätigkeiten oder sexuellem Missbrauch konfrontiert waren und diese Erfahrungen „mit auf den Weg“ bekommen haben. Die Untersuchung zeigte, dass der soziale Hintergrund bei vielen mehrere Belastungsfaktoren aufwies und von einem als „eher positiv“, also „normal“ zu bezeichnenden psychosozialen Hintergrund nur in ganz wenigen Fällen ausgegangen werden kann. Reaktionen auf die Schwangerschaft Fast alle der befragten Elternteile haben sich über die eingetretene Schwangerschaft gefreut, auch wenn sie nur selten geplant gewesen ist. Die Reaktion des Umfeldes auf die Schwangerschaft, insbesondere die der Angehörigen oder des zuständigen Fachpersonals, waren häufig von Ablehnung gekennzeichnet. Es war auffallend, dass viele der Elternteile mit geistiger Behinderung im Zusammenhang mit ihrer Schwangerschaft mit dem Thema Abtreibung konfrontiert wurden. Meist sind es die Angehörigen, Kollegen und das betreuende Fachpersonal, die eine Abtreibung befürwortet und häufig sogar darauf gedrängt haben. Situation nach der Geburt des Kindes Das Zusammenleben von Eltern und Kindern gestaltete sich in unterschiedlicher Form und von unterschiedlicher Dauer. Zwei der befragten Paare berichteten, sie haben die Belastung der Elternschaft gemeinsam gemeistert. Nach der Auflösung der Paarbeziehung zeigte sich aber, dass ein alleinstehendes Elternteil mit dieser Situation überfordert war, so dass ein weiteres Leben mit dem Kind als nicht möglich gesehen wurde. Nicht alle der befragten Personen waren zufrieden mit der Form und Intensität der Hilfen. So erschien sie manchen als zu gering, anderen wiederum als zu intensiv. Dass sie Hilfe benötigen und meist nur mit Unterstützung ihre Elternschaft meistern können, war den befragten Elternteilen in der Regel bewusst.

20 Einstellung zur Trennung vom Kind bzw. Beziehung zum Kind Es ließ sich feststellen, dass es aus der Sicht der befragten Eltern keine einheitliche Begründung für die Trennung eines Kindes von seinen Eltern gab. Die Eltern, die mit ihren Kindern zusammenlebten, beschrieben den Umgang mit ihnen als manchmal recht anstrengend. Während sich die Schwierigkeiten in den ersten Lebensjahren eher als „normale“ Durchsetzungsprobleme darstellten, wurden deutlichere Schwierigkeiten für die Zeit ab dem Schuleintritt benannt. Häufig wurde über eine intensive Eltern-Kind-Beziehung berichtet, wie auch von Stolz auf die Elternschaft und die Leistungen der Kinder. Besonders froh und stolz sind viele der Eltern, wenn ihre Kinder nicht behindert oder zumindest weniger behindert als sie selbst zu sein scheinen. Wünsche und Zukunftspläne der Eltern Nur wenige der befragten Elternteile wünschten sich weitere Kinder. Die Gründe hierfür waren recht unterschiedlich. Die weitere Lebensplanung beinhaltete häufig den Wunsch nach einer eigenen oder größeren Wohnung und den Wunsch nach Berufstätigkeit. Für ihre Kinder wünschten sich viele der Eltern ein besseres Lebens als sie selbst es zu haben glauben, sowie eine erfolgreich abgeschlossene Schulbildung.

II. Teil: Interviews im November 2009 Familie A Frau A ist 20 Jahre alt. Im Juli diesen Jahres bekam sie ihren Sohn. Mehrere Jahre lebte Frau A in einem Kinderheim. Grund hiefür war unter anderem die Alkoholkrankheit ihrer Mutter und ihr Stiefvater, der ihre ältere Schwester jahrelang sexuell hat. Vater ihres Sohnes ist ihr 29jähriger Lebensgefährte, der nicht als geistig behindert bezeichnet wird. Das Paar hat bis zur Geburt des Kindes zusammen in einer kleinen Stadt gewohnt. Frau A hat zu dieser Zeit Betreutes Wohnen erhalten. Als die Schwangerschaft bekannt wurde „Es ist einfach passiert und war dann ein Wunschkind“, so Frau A, da habe sie sich gefreut „… und gleich Angst gehabt, es der Rechtlichen Betreuerin zu sagen, weil ich nicht wusste, ob sie mir das Kind wegnehmen kann oder nicht.“ Ihr Gefühl trügte sie nicht, (fast) alle zuständigen UnterstützerInnen äusserten große Bedenken. Sie berichtete: „Die Rechtliche Betreuerin wollte, dass ich abtreibe. Weil ich einen Behindertenausweis habe, hat sie gesagt. Da war ich sauer auf die Alte. Auch enttäuscht und das tut auch weh.“ „Als ich nicht abtreiben wollte, sollte ich in so `ne Mutter-Kind-Einrichtung und wenn es nichts wird mit der Mutter-Kind-Einrichtung, dann wird mir das Kind weggenommen, dann will sie (die Rechtliche Betreuerin, d. Verf.) dafür sorgen, dass man mir das Kind wegnimmt.“ „Wegen dem allem haben wir uns so oft in die Haare gekriegt. Man hat das Gefühl, im Stich gelassen zu werden.“ Nur eine Sozialarbeiterin der Eingliederungshilfe hat sich für die werdende Familie eingesetzt. Diese Sozialarbeiterin suchte nach einer geeigneten Einrichtung. Leider stellte sich heraus, dass sie nirgends hätten als Paar aufgenommen werden können – was für die beiden aber ausser Frage war.

21 Im vergangenen Juni, als die werdenden Eltern erstmals zur Lebenshilfe nach Bremen kamen, stellte sich die Situation wie folgt dar: Frau A war hochschwanger. Die Wohnung war inzwischen gekündigt. Kein Träger im Wohnumfeld, der bereit war, die Familie ambulant zu unterstützen. Keine Einrichtung, die die Kleinfamilie aufnehmen konnte. Dass sie Hilfe brauchen würden, war beiden bewusst. Die Lebenshilfe Bremen gab die Zusage, die Familie in Bremen ambulant zu unterstützen. Zu einem Umzug nach Bremen waren sie gerne bereit. Bis zum errechneten Geburtstermin blieben noch maximal sechs Wochen Zeit. Wir hatten Glück: es konnte trotz dieser knappen Zeit ein Unterstützungsteam auf die Beine gestellt und eine Wohnung gefunden und bezugsfertig gestaltet werden, gerade so, dass Frau A nach der Entbindung einziehen konnte. Auf die Frage, was bisher seit der Geburt des Kindes am schönsten gewesen sei, erzählte Frau A: „Nach der Geburt das Kind auf dem Bauch zu haben, hat bisher am meisten Freude gemacht, war am schönsten.“ Sie selber gefällt sich viel besser, seit sie Mutter geworden ist: “Ich bin ausgelassener, erwachsener und ruhiger geworden. Auch meine Eltern und Schwiegereltern behandeln mich jetzt wie eine Erwachsene. Das gefällt mir besser, auf jeden Fall. Jetzt guckt man weniger auf meinen Behindertenausweis ... Und: Ich fühle mich als Mutter ernst genommen. Auch von euch.“ Zur Frage, was Frau A am Unterstützungssystem ärgert, was sie sich anders wünschen würde, äusserte sie sich folgendermaßen: „Ich möchte, dass die Betreuung von der Lebenshilfe weniger wird. Dass seltener jemand kommt. Ich mag nicht, wenn jemand ins Kinderzimmer geht, wenn der Kleine schläft. Das ist was, was mich ärgert.“ Sie mag auch nicht, dass die Unterstützerinnen sich weigern, den Kleinen im Auto mit zu nehmen, wenn er nicht vorschriftsmäßig angeschnallt ist. „Und dass eine der Betreuerinnen immer so viel meckert über Aufräumen, Sauberkeit, Müll. Wenn die kommt, sagen wir schon: da kommt die Meckertante. Aber irgendwie hat sie ja recht. Nein, austauschen möchte ich sie nicht, weil sie ja auch irgendwo nett ist.“ Frau A wünscht sich „Ja, eins noch, ein Schwesterchen, ein Mädchen. Aber erst, wenn der Lütte größer ist. Wenn er schon in Schule oder Kindergarten geht. Vielleicht auch, wenn er im Kindergarten ist, noch mal Berufsschule, damit ich einen Abschluss kriege, um arbeiten zu gehen.“

Familie B Frau B ist 25 Jahre alt. Sie ist alleinerziehend, hat fünfjährige Zwillingsmädchen. Vom Vater des Kindes hatte sie sich noch vor Bekanntwerden der Schwangerschaft getrennt. Frau B hat wechselnde Männerbekanntschaften, ist häufig und schnell verliebt, fast ebenso oft hat sie Liebeskummer. Bis zur Geburt der Zwillinge arbeitete Frau B in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Als Frau B schwanger wurde, lebte sie mit ihrer Mutter, dem Stiefvater und einer Schwester zusammen; aufgrund wiederholter heftiger Streitereien zwischen Mutter und Tochter war ihr Auszug in eine eigene Wohnung mit Betreutem Wohnen in Vorbereitung. Sie erzählte: „Wo ich damals schwanger geworden bin, war es erstmal ein Schock für mich, weil ich das überhaupt nicht geplant hatte. Ein Schock, weil ich nicht wusste, wie ich das meiner Mutter erklären sollte. Ich wusste genau, dass sie anders reagiert zum Thema Schwangerschaft. Weil ich noch sehr jung war.Und weil ich ja keine Ausbildung hatte und nichts. Deswegen. Wo ich es ihr gebeichtet habe, war ja wohl klar, dass das kein Zuckerschlecken war. Da ist sie ausgeflippt: Abtreiben, die ganze Zeit nur: Abtreiben!“

22 Nicht nur die Mutter reagierte ablehnend, auch über ihre Vorgesetzte in der Werkstatt berichtete Frau B derart: „Das war die Hölle gewesen da, es war die Hölle. Meine Mutter hat ihr gesagt: Ja, reden sie mit meiner Tochter, dass sie es abtreibt. Und so war ich damals damit ganz allein auf mich gestellt.“ Gefreut hat sie sich damals über die Reaktionen der Arbeitskollginnen, die ihr positiven Zuspruch gaben. Frau B hat lange Zeit, auch noch nach der Geburt, „… Angst gehabt, dass mir die Kinder weggenommen werden. Weil ich ja anders bin als andere Mütter in meinem Alter. Von der Entwicklung her glaub ich mal. Denk ich. Weil ich in `ner Sonderschule war. Deswegen hab ich auch Angst gehabt, ich schaff das nicht mit den Kindern. Auch weil alle gesagt haben, dass ich es nicht schaffe. Meine Mutter und das Jugendamt zum Beispiel.“ Aber:„Ich hab mich trotzdem auf die Kleinen gefreut“, erzählte sie. Das Jugendamt wünschte für Mutter und Kinder eine stationäre Unterbringung. Bis dahin und zur Suche nach einer solchen sollten wir, die Unterstützte Elternschaft der Lebenshilfe Bremen, Frau B mit ihren Kindern in der Wohnung der Herkunftsfamilie unterstützen. Beginn der Maßnahme war kurz vor der Geburt der Mädchen. Zunächst war Frau B mit der Aufnahme in eine Mutter-Kind-Einrichtung einverstanden. Ein entsprechendes Haus in Hamburg sagte eine Aufnahme für den Zeitpunkt zu, zu dem die Zwillinge ca. ein halbes Jahr alt sein würden. Bis dahin wollte und sollte sie von der eigenen Mutter (und uns) Hilfe erhalten. Alles schien geregelt, doch kurz vor dem Umzug lehnte Frau B diese Form der Unterkunft ab. Deutlich war aber inzwischen, dass sie bei ihrer Mutter nicht mehr länger bleiben konnte. So planten wir die Unterstützung in einer eigenen Wohnung. Wir hatten inzwischen genug Zeit gehabt, um Frau B kennen zu lernen und eine ambulante Maßnahme für ausreichend zu halten. Das Schwierigste seit der Geburt der Kinder „…war die Trotzphasen, die sie hatten. Itzphase, oder wie man dazu sagt.“ Auf die Frage, was am schönsten gewesen sei bisher, antwortete Frau B: „Am schönsten alles Erste immer: Das erste Krabbeln, das erste Hochziehen, die ersten Blicke, ersten Worte …“. Ihre Mutter habe vorgeschlagen, dass Frau B Hilfe bekomme. „Damit ich lerne, auf meinen eigenen Beinen zu stehen mit den Kindern und so. Ist ja auch stressig mit zwei kleinen Kindern. Von daher. Wenn ich Hilfe brauche, dann sage ich es auch.“ Die Unterstützung, die sie bekommt, kann Frau B gut annehmen. Sie fühle sich ernst genommen, sagt sie. „Wenn es mir nicht passen würde, würde ich es sagen. Auch wenn es mir zu viel wird. Manchmal sag ich ja schon, es ist zu viel. Manchmal ist es auch zu wenig.“ Frau B glaubt, dass es ihren Kindern gut geht. „Die sind ganz normal entwickelt. Es sagt auch jeder, ich gehe gut mit den Kindern um.“ Manchmal stellt sie sich vor, wie es wäre ohne die Kinder: „Es gibt auch mal Tage, da denke ich, ich könnte tanzen gehen, nette Leute kennen lernen. Aber: Ich würde mich genauso wieder entscheiden. Ausser, es würden wieder Zwillinge.“ Zu ihren Zukunftswünschen befragt, weiß Frau B genau, was sie möchte: „Ich möchte gerne irgendwann heiraten. Ganz in Weiß. Das ist mein größter Wunsch. Und dass ich irgendwann einen vernünftigen Job habe, wo ich meine Kinder ernähren kann und nicht von Hartz IV lebe. Das ist auch mein größter Wunsch.“ Ein weiteres Kind kann sie sich vorstellen, aber nur mit dem richtigen Partner, auf den sie hofft. Daher will sie sich auch nicht sterilisieren lassen, wie ihre Mutter es gerne hätte. Sie freut sich, dass ihre Gynäkologin ihrer Mutter gesagt hat, „… dass ich es selber entscheiden soll. Sonst geht das nicht.“

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Familie C Frau C ist 28, ihr Ehemann 46 Jahre alt. Kennengelernt haben sie sich in einer Werkstatt für Behinderte Menschen. Seit vier Jahren leben sie zusammen. Ihre gemeinsame Tochter ist 2 ¾ Jahre alt. Seit mehr als zehn Jahren erhalten beide Betreutes Wohnen. Die Eltern von Herrn C sind gestorben, die Eltern von Frau C leben etwas ausserhalb von Bremen. Frau C kommt aus Russland, hat nur eingeschränkte Deutschkenntnisse. Trotzdem redet sie gerne und viel. Ich habe Frau C bereits vor fünf Jahren kennen gelernt. Sie bat mich um eine Beratung hinsichtlich ihres Kinderwunsches und den Möglichkeiten einer Unterstützung. Dass sie dieser im Falle einer Elternschaft bedürfen würde, war ihr damals bewusst. Als Frau C schwanger wurde, „Wir haben uns ein Kind gewünscht“, so Herr C, haben sich die Angehörigen gefreut. Für diese gehören Kinder zum Leben und einer Ehe dazu. Auch auf der Arbeit gab es positive Äußerungen. Auf das Leben mit Kind haben sich beide sehr gefreut. „Schön Leben ist sein, schön ist das, erst mal Kindergarten, in die Schule gehen, lernen ….“ (Frau C) Kurz bevor die Schwangerschaft von Frau C dem zuständigen Jugendamt bekannt wurde, ist in Bremen der kleine Kevin in einem Kühlschrank in der Wohnung seines Ziehvaters tot aufgefunden worden. Dieses traurige Geschehen hatte zur Folge, dass alle Casemanager der sechs Jugendämter in Bremen Sorge trugen, ihnen könne Unterlassungen, mangelnde Beobachtung etc. mit ggfs. schlimmen Folgen zur Last gelegt werden. Dies möchte ich vorausschicken, denn auf diese Tatsache berief sich das zuständige Jugendamt in der Folge. Hinzu kam, dass das Ehepaar C zu einem Sozialzentrum zugehörig ist, in dessen Stadtteil generell weniger „schwierige/andere“ Familien Unterstützung erhalten als dies in anderen Stadtgebieten der Fall ist. Kurz: die Sorge um das Wohlergehen des Babys war groß. Zu gering, ja eigentlich gar nicht vorhanden war die Kenntnis von geistiger Beeinträchtigung und deren Auswirkung auf eine Elternschaft. Das Jugendamt wünschte eine sechsstündige Unterstützung an sieben Tagen die Woche. Einmal die Woche sollte eine Familienhebamme dazu kommen. Nachts sollte jemand im Kinderzimmer schlafen, das Baby mit im Elternschlafzimmer. Wunsch des Jugendamtes war, dass im Elternschlafzimmer ein `Babyphone` installiert werden sollte, damit die Nachtbereitschaft hört, wenn das Baby wach wird und den Umgang der Eltern mit dem wachwerdenden Kind verfolgen könne. Wir haben, vorsichtig ausgedrückt: protestiert. Viel zu umfangreich sei die angedachte Unterstützung, eine Zumutung für die Eltern gar. Wir konnten uns entscheiden: entweder wir nahmen den Auftrag an oder das Jugendamt würde das Familiengericht einschalten. In diesem Falle würde das Baby gleich nach der Geburt in Obhut genommen und zunächst ein Erziehungsfähigkeitsgutachten in Auftrag gegeben, hieß es. Wir haben den Auftrag angenommen. Nur gegen das `Babyphone` im Elternschlafzimmer konnten wir uns wehren. Dann aber solle die Kindesmutter zur Stillsituation die Nachtbereitschaft wecken und zu sich ins Wohnzimmer holen. Das Jugendamt hat „…aus seiner Sicht eine Maßnahme zur Kindeswohlsicherung und zum Kindesschutz entwickelt. Diese Maßnahme orientiert sich an den Bedürfnissen des Kindes und an der Familiensituation. Die Maßnahme ist aus fachlicher Sicht, im Sinne einer gedeihlichen Entwicklung des Kindes, sinnvoll und angemessen“ (Hilfeplan des Jugendamtes 4/07). Frau C hat ihre Tochter alleine zu Hause bekommen. Sie hatte Bauchschmerzen, wollte aber ihren Mann nicht beunruhigen und schickte ihn zur Arbeit. Als die von ihr gerufene Unterstützerin kam, „… da war schon Kopfchen da, da hat sie geweint vor Ruhrung“.

24 Nach einem kurzen Aufenthalt im Krankenhaus war die Familie beisammen in ihrer Wohnung. Die umfangreiche Unterstützungssituation begann. Herr C erinnert sich: „ … das waren 14 Leute, glaube ich“. Frau C fügt hinzu: „Ich habe das nicht gewusst, dass die Betreuer kommt hier. Das ist richtige Scheiße auf Deutsch. Ich wollte das nicht! Im Ernst, überhaupt keine Betreuung nicht haben!“ Frau C kann sich nicht mehr daran erinnern, mich vor fünf Jahren zur Möglichkeit der Unterstützung befragt zu haben. „Keiner von uns beiden wollte das, so Herr C, das wollte das Jugendamt. Das Jugendamt hat uns das aufgebrummt. Wegen dem Kevin. Ohne uns zu fragen.“ Die Empörung der beiden ist deutlich zu spüren. Nachvollziehen können sie den Umfang an Unterstützung nicht. Zu Beginn hatten sie kaum Privatleben, sich als Kleinfamilie alleine ausprobieren, dazu hatten sie keine Gelegenheit. Vor der Geburt des Kindes haben sie sich keine Sorgen um die Zukunft gemacht. Aber als das Kind da war, da haben sie Angst bekommen. Sie hatten Angst, es nicht zu schaffen, den Anforderungen des Jugendamtes nicht gerecht werden zu können, wie auch immer diese ausgesehen haben mögen. Auch heute, wo die Unterstützung nur noch an 2-3 Tagen der Woche mit wenigen Stunden geleistet wird, empören sich die beiden. Auch wenn es manchmal ganz gut sei, Hilfe zu bekommen, können Sie doch alles alleine, meinen sie, möchten endlich ihre Ruhe haben „… und selber sagen, wenn sie Schokolade kriegt. Oder Zucker im Tee. Sie kriegt doch gar nicht so viel. Nur drei oder zwei Stuck. Ohne Zucker trinkt sie den doch nicht.“ (Frau C) Am schwierigsten mit dem Kind war für sie die Zeit des Zahnens. Das Kind hat zu dieser Zeit stets sehr gekränkelt. Das habe die Kindeseltern sehr besorgt. Jetzt fange sie an zu trotzen, aber das fordere die beiden nicht besonders heraus. Nur, wenn sie ihren Willen nicht bekomme. Anstrengend sei das. Am meisten Freude am Kind haben die beiden, „… wenn sie lacht.“ (Frau C) Für Herrn C war es das Schönste, das Baby das erste Mal auf dem Arm gehabt zu haben. Beide haben schon den Eindruck, dass sie respektvoller behandelt werden, seit sie Eltern geworden sind. „Netter“, so beschreiben sie es, „… und lieb sein“, so Frau C. „Nicht so streng. Auch erwachsener, eigentlich“, meint Herr C. Zum Beispiel die Eltern bzw. Schwiegereltern. Auf die Frage, wie es ihrer Meinung nach dem Kind geht, antwortet Herr C: „Oh, hervorragend!“ Sie trinke und esse gut. Ob sie sich weitere Kinder wünschen, diese Frage möchten sie nicht beantworten. „Gut, wünschen schon“, sagt Frau C. Aber eigentlich haben sie „… den Plan noch nicht“. Umziehen möchten sie schon noch mal gerne. Denn unter ihnen wohnt ein Nachbar, der sich ab und zu über ihre laute Musik beschwert.

Abschließende Bemerkungen Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, einen Einblick in die subjektive Sicht geistig behinderter Eltern in ihre Elternschaft zu geben. Als zusammenfassende Bewertung zu den Interviews von 1993/94, meinen Gesprächen mit Eltern in den letzten Wochen und meinem Blick auf meine aktuelle Praxis möchte ich noch einmal festhalten: Betrachtet man die deutlichen Belastungen und Erschwernisse, mit denen die von uns befragten Mütter und Väter ihre Elternschaft meist begonnen haben, nämlich häufig negative eigene Sozialisationserfahrungen einerseits und wenig unterstützende Umweltreaktionen andererseits, so ist um so bemerkenswerter, dass die meisten Elternteile sich auf ihr Kind gefreut haben und von

25 einer durchaus positiven und von Stolz geprägten Beziehung zu ihren Kindern berichteten. Die Tatsache, dass es immer noch vorkommt, dass Schwangere zu einer von ihnen nicht gewünschten Abtreibung gedrängt werden, lässt verstehen, dass manche Frauen versuchen, die Schwangerschaft lange geheim zu halten. Grundsätzlich scheint es so zu sein, dass Menschen mit geistiger Behinderung mit einer Elternschaft das Gefühl der Zunahme ihrer Wertigkeit als Person verbinden. Dass Kinder ihren Müttern bzw. Eltern „weggenommen“ werden, ohne dass eine aktive Freigabe des Kindes durch die Eltern stattfinden konnte, stellt für geistig behinderten Eltern eine massive Bedrohung dar. Natürlich auch für die Eltern, die (noch) mit ihren Kindern zusammen leben. Vielleicht erklärt sich dadurch auch, dass in den Interviews nur relativ selten von Erziehungsproblemen berichtet wurde, obwohl diese doch – auch bei sogenannten nichtbehinderten Eltern – weit verbreitet sind. Immer wieder lässt sich gerade auch in unserer heutigen Praxis feststellen, dass Eltern im Hinblick auf den alltäglichen Umgang mit einem Kind, seine Versorgung und Erziehung ihre diesbezüglichen Fähigkeiten und Fertigkeiten überschätzen bzw. die Bedürfnisse des Kindes unserer Meinung nach nicht ausreichend erkennen. An dieser Stelle äußern Eltern durchaus auch ihre Unzufriedenheit über den Umfang und die Ausgestaltung der Unterstützung, die sie erhalten. Sie haben dann das Empfinden, dass man sie nicht in dem von ihnen gewünschten Maße selbst gewähren lasse, ihnen vieles nicht zutraue oder sie zu stark kontrolliere und reglementiere. Für uns UnterstützerInnen wird es an diesem Punkt oftmals schwierig. Wir haben den Anspruch, die „Allparteilichkeit“, d.h. die Interessen der Eltern auf Selbstbestimmung und das Recht des Kindes auf Kindeswohl zu wahren. Wir versuchen dies umzusetzen, indem wir die folgenden Punkte beachten (vgl. hierzu Pixa-Kettner et al., 1996). Wir bemühen uns, • Zusammen mit den Eltern ihre Unterstützungsbedarfe festzulegen (vgl. hierzu das Verfahren von McGaw et al., 2007) • Die Unterstützung eher den Charakter von Begleitung und Beratung haben zu lassen als von Betreuung im klassischen Sinne • Dass die Unterstützung eher Angebotscharakter hat im Sinne einer gemeinsam vereinbarten Dienstleistung, nicht als Zwangsmaßnahme • Die Verantwortung für die Kinder so weit wie möglich bei den Eltern zu belassen • Den Intimbereich der Eltern zu respektieren, das bedeutet, nicht in Lebensbereiche einzudringen, in die Eltern keinen Einblick geben wollen und die nicht das Kind betreffen

26 • An das elterliche Verhalten keine strengeren Maßstäbe anzulegen als an andere Eltern mit vergleichbaren materiellen und sozialen Lebensbedingungen (vgl. hierzu Pixa-Kettner et al. 1996, 227) Dabei vergessen wir aber auch nicht, dass die Jugendhilfe unser Auftraggeber ist. Vor allem aber bemühen wir uns auch, (s.o.), über die alltägliche Arbeit in den Familien immer mal wieder inne zu halten, zu schauen, was die Eltern selbst für Wünsche an die Unterstützung haben, ihre individuellen Sicht zu berücksichtigen. Auch wir laufen immer wieder Gefahr, dies zu vergessen. Im Sinne einer erfolgreichen Zusammenarbeit scheint dies aber unabdingbar.

Literatur McGaw, Susan (2007): Parent Assessment Manual Software 2.0 (PAMs 2.0), Pill Creek Publ., Truro, Cornwall Pixa-Kettner, Ursula, Stefanie Bargfrede & Ingrid Blanken (1996): „Dann waren sie sauer auf mich, dass ich das Kind haben wollte...“. Eine Untersuchung zur Lebenssituation geistigbehinderter Menschen in der BRD. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Bd. 75. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden

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Ethische Aspekte der Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung Sabine Obermann und Petra Thöne

Einleitung und Einführung ins Thema Die Anfrage für den Vortrag haben wir spontan angenommen mit einer vagen Idee und Vorgabe, dass es um die Vereinbarkeit von bzw. Konflikte zwischen Kindeswohl und Elternbedürfnissen und -rechten gehen könnte. Wir, das sind die Teamleitung einer stationären Einrichtung zur Unterstützung von Eltern mit Intelligenzminderung und die zuständige Diplom-Psychologin des begleitenden psychologischen Fachdienstes. Die Einrichtung gehört zum Stiftungsbereich Behindertenhilfe der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel und kann 10 Eltern(teile) mit ihrem Kind begleiten. Im ersten Zugang fiel uns eine ganze Bandbreite von Fragen ein, mit denen wir im Alltag konfrontiert werden, sei es durch die Arbeit mit den Familien oder durch Besucher, Diplomandinnen u. a.. Das reichte von Fragen, ob eine Schwangerschaft bei Frauen mit geistiger Behinderung überhaupt zu verantworten ist, ob Eltern mit geistiger Behinderung und die damit verbundenen Einschränkungen einem Kind zuzumuten sind über die Frage, wann die Einschränkungen doch das Ausmaß einer Gefährdung des Kindeswohls erreichen, zur Frage, ob eine Pflegefamilie nicht doch die bessere Lösung für das Kind ist. Zu diesen Fragen kommen diejenigen, die unsere Haltung den Eltern gegenüber betreffen, z. B. wie viel Selbstbestimmung und Eigenverantwortung sind möglich, wann müssen wir als Mitarbeiter/innen diese zugunsten des Kindes einschränken. Wir haben zunächst noch einmal überprüft, was genau die Begriffe „Ethik“ und „ethisch“ eigentlich bedeuten. Damit werden wir den Vortrag beginnen und im Weiteren die Werte und Haltungen beschreiben, die unsere Arbeit prägen. Danach werden wir uns auf vier markante Phasen, bzw. Zeitpunkte und die damit verbundenen ethisch-moralischen Fragen konzentrieren. Der Ausblick ist unseren Wünschen für eine bessere Umsetzung und Vereinbarkeit dieser Werte gewidmet.

Grundlagen der Ethik Es gibt unterschiedliche Disziplinen der Ethik, die hier natürlich aufgrund der Zeit aber auch deren Komplexität nicht einmal angerissen werden können. An dieser Stelle kann nur eine allgemeine Definition der Ethik gegeben werden. Unter Ethik versteht man die „Wissenschaft von der Moral“ (unter Moral wird

28 auch die Lehre vom richtigen Verhalten, das heißt Handeln und Urteilen verstanden), die „Diskussion über im Voraus angenommene Normen und Werte“. Es ist die Theorie vom guten und schlechten Handeln. Die Ethik sucht ständig nach Antworten auf die Frage, welches Vorgehen in bestimmten Situationen zum Wohle der Gemeinschaft das richtige, moralisch korrekte ist. Häufig wird Ethik und Moral synonym verwendet, obwohl dies nicht zutrifft. Im Duden wird beides als „Sittenlehre“ übersetzt, jedoch handelt es sich streng genommen, bei der Moral um die „Verhaltensnormen einer menschlichen Gemeinschaft“, die den „geltenden Sitten entsprechen“ und „allgemein anerkannt sind“. Generell gilt, das Leben in einer Gemeinschaft ist regelgeleitet. Regeln signalisieren hier Ordnung und Strukturierung der Praxis um einer größtmöglichen Freiheit aller willen. Die Ethik bezeichnet man auch als „praktische Philosophie“, da sie sich mit dem menschlichen Handeln befasst. Ethik war für Aristoteles eine philosophische Disziplin, die den gesamten Bereich menschlichen Handelns zum Gegenstand hat. Es ist Aufgabe der Ethik, Kriterien für gutes und schlechtes Handeln und die Bewertung der Motive und Folgen aufzustellen. Sie baut als philosophische Disziplin allein auf das Prinzip der Vernunft und immer mit der ständigen Intention des Nachdenkens über Werte und Normen. Das Ziel der Ethik ist die Erarbeitung von allgemeingültigen Normen und Werten. Die philosophische Disziplin Ethik sucht nach Antworten auf die Frage, wie in bestimmten Situationen gehandelt werden soll (Kant: Was soll ich tun?). Ihre Ergebnisse bestehen in anwendbaren (bzw. moralischen) Normen, die beinhalten, dass unter bestimmten Bedingungen bestimmte Handlungen geboten, verboten oder erlaubt sind. Dabei kann die Ethik allerdings nur allgemeine Prinzipien guten Handelns oder ethischen Urteilens für bestimmte Typen von Problemsituationen begründen. Die Anwendung dieser Prinzipien auf den einzelnen Fall ist Aufgabe der praktischen Urteilskraft und des geschulten Wissens. Theoretisches Wissen muss situationsspezifisch angewandt werden. Dementsprechend muss auch die praktische Urteilskraft allgemeine Prinzipien immer wieder auf neue Situationen und Lebenslagen anwenden. Dabei spielt für die richtige sittliche Entscheidung neben der Kenntnis allgemeiner Prinzipien die Schulung der Urteilskraft in praktischer Erfahrung eine wichtige Rolle. Gerade in der normativen Ethik (ein „Sollen“ wird formuliert und damit Anspruch auf Verbindlichkeit erhoben) ist gut nicht gleich richtig und schlecht ist nicht gleich falsch. Man kann eine gute Absicht haben (einer Frau über die Strasse helfen), wobei die Tat aber falsch ist (die Ampel ist rot). Man kann eine schlechte Tat (Mord an der Ehefrau) richtig ausführen (keiner merkt es). Gut und schlecht beziehen sich auf die Absicht des Handelnden, während richtig und falsch die Handlung an sich beschreiben. Was unter gutem Handeln

29 verstanden wird, ist abhängig davon, welche Werte ein ethisches System für das menschliche Handeln als zentral ansieht. Die von der Gesellschaft akzeptierten guten und richtigen Verhaltensweisen (Werte) sind dabei teilweise gesetzlich verankert, teilweise aber auch nicht.

Kinderrechte und Elternrechte Wir hatten schon deutlich gemacht, dass es in unserem Vortrag nicht um rechtliche Fragen geht, sondern um die Werte, die unsere Arbeit mit den Familien bestimmen. Da die Werte, die uns am wichtigsten sind, sich allerdings durchaus mit Rechten, die im Grundgesetz oder anderen Gesetzen formuliert sind, decken, werden wir hier auch auf diese Formulierungen zurückgreifen: • Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. (GG Artikel 2, Abs. 1) • Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. (GG Artikel 2, Abs. 2) • Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. (GG Artikel 3, Abs. 3) • Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. (GG Artikel 6 Abs. 2) • Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft (GG Artikel 6, Abs. 4) • Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. (§ 1 SGB VIII). Da niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf, haben selbstverständlich auch Menschen mit Intelligenzminderung ein Recht auf selbstbestimmte Sexualität, Partnerschaft und Elternschaft. Entsprechend haben auch sie dabei Anspruch auf Schutz und Unterstützung durch die Gesellschaft und zwar in der Form und dem Ausmaß, wie es für sie nötig ist. Allerdings gilt für sie auch die Pflicht, ihr Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder so wahrzunehmen, dass diese sich zu „eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen“ Persönlichkeiten entwickeln können. Im Alltag müssen wir dann aber leider immer wieder die Erfahrung machen, dass die Wahrnehmung der eigenen Rechte im konkreten Fall durch finanzielle, gesellschaftliche, institutionelle oder andere Rahmenbedingungen eingeschränkt wird. So hat zwar laut Grundgesetz jede Mutter Anspruch auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft, in welcher Art, in welchem Ausmaß und an welchem Ort ihr der angeboten wird, ist wiederum aber sehr abhängig davon, welche Unterstützungsmöglichkeiten in ihrer Nähe vorhanden sind und ob sie finanziert werden. Ähnliches gilt für das Recht von Kindern auf Förderung ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und

30 gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Erschwerend kommt hinzu, dass Eltern ihr Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder so ausüben, dass das Recht des Kindes auf „Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ nicht gewahrt wird und wir uns die Frage stellen müssen, in wieweit und ob überhaupt unsere Unterstützungsangebote ausreichen, um die Bedürfnisse und Rechte der Eltern und der Kinder miteinander zu vereinbaren.

Potentielle Wertekonflikte „Kinder kriegen“ erlaubt?! Obwohl alle Grundrechte ohne Abstriche auch für Menschen mit geistiger Behinderung gelten, erleben wir im Alltag immer wieder, dass Besucher unserer Einrichtung, aber auch gesetzliche Betreuer und Angehörige ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass Schwangerschaften und die Erziehung eines Kindes bei Menschen mit geistiger Behinderung nicht vorkommen dürfen. Begründet wird diese Ablehnung häufig damit, • dass Schwangerschaften geistig behinderter Frauen verhindert werden sollten, weil ihre Kinder ebenfalls geistig behindert sein werden und • dass Menschen mit Intelligenzminderung auf Grund ihrer Behinderung nicht in der Lage seien, ein Kind zu erziehen. Deshalb sollten die Kinder besser sofort nach der Geburt in einer Pflegefamilie untergebracht werden. Das erste Argument ist hinfällig, da Untersuchungen gezeigt haben, dass die Wahrscheinlichkeit, ein von Geburt an hirngeschädigtes Kind zu bekommen, für Eltern mit geistiger Behinderung nicht höher ist als für andere Eltern. Aber selbst wenn dem so wäre, würde sich aus ethischen Erwägungen trotzdem die Frage stellen, ob wir berechtigt sind, Schwangerschaften geistig behinderter Frauen zu verhindern. Denn wenn wir von dem Grundsatz ausgehen, dass jedes Leben gleichermaßen wertvoll ist, was ja zumindest in kirchlichen Zusammenhängen Maxime ist, haben wir kein Recht geistig behindertes Leben zu verhindern. Eine entsprechende Diskussion gibt es im Zusammenhang mit der ethischen Fundierung der Pränataldiagnostik, in der sich viele Menschen mit körperlichen Behinderungen und chronischen Krankheiten zu Wort gemeldet haben, die sich durch die Zulassung entsprechender Maßnahmen (Auswahl gesunder Embryonen, bzw. Abtreibung geschädigter) abgewertet fühlen. Auch zur Frage der Erziehungsfähigkeit gibt es Sachargumente, mit denen man die unterschiedlichen Aspekte beleuchten kann. Laut Kindler et al. (2007) sind bei der Beschreibung der Erziehungsfähigkeit von Eltern folgende vier Aspekte zu beachten: • Es sollte nicht nur bewusstes, absichtsvolles Verhalten von Eltern ihren

31 Kindern gegenüber berücksichtigt werden, sondern auch, dass Dinge, die Eltern immer wieder tun oder auch nicht tun, weil sie kindliche Bedürfnisse nicht wahrnehmen, Kindern schaden können und dass auch Kontrollverluste der Eltern sich negativ auswirken können. • Bei der Beurteilung der Erziehungsfähigkeit sollte überprüft werden, wie das Verhalten der Eltern zu den individuellen Bedürfnissen ihres Kindes passt. • Erziehungsfähigkeit sollte nicht mit Blick auf „optimales“ Verhalten beurteilt werden, sondern mit Blick darauf, was für das Kind noch ausreichend ist. • Es sollten mehrere Dimensionen berücksichtigt werden und zwar - die Fähigkeit, Bedürfnisse des Kindes nach körperlicher Versorgung und Schutz zu erfüllen; - die Fähigkeit, dem Kind als stabile und positive Vertrauensperson zu dienen; - die Fähigkeit, dem Kind ein Mindestmaß an Regeln und Werten zu vermitteln; - die Fähigkeit, einem Kind grundlegende Lernchancen zu eröffnen. Sorgeberechtigte müssen dies nicht alles persönlich leisten können, es reicht aus, wenn sie dafür sorgen, dass andere Menschen sie in den Bereichen vertreten, die sie selbst nicht leisten können. Wenn wir das jetzt auf unsere Fragestellung anwenden, können wir davon ausgehen, dass Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit wahrscheinlich sind, wenn eine geistige Behinderung besteht, zumindest, was die persönliche Umsetzung bestimmter Verhaltensweisen angeht. So fehlt z. B. vielen Eltern Wissen darüber, in welchem Alter welche Nahrung angemessen ist, was Anzeichen für Krankheiten sind, wo Gefahrenquellen im Haushalt sind, dass z.B. Steckdosen gesichert und Zigaretten außer Reichweite geräumt werden müssen. Auch die Bedeutung von früher Anregung ist vielen Eltern nicht bekannt. In Bezug auf die Fähigkeit zur „Eröffnung grundlegender Lernchancen“ verhindert die geistige Behinderung meist schon sehr früh, dass Eltern ihren Kindern selbst Alltagszusammenhänge erklären können. Bereits in der Grundschule ist eine persönliche Unterstützung ihrer Kinder nicht möglich. Dazu kommt, dass komplexe Situationen langsam oder gar nicht überblickt werden, die Fähigkeit für Probleme selbst Lösungen zu finden eingeschränkt ist und die Aufmerksamkeit nur sehr begrenzt auf mehre gleichzeitig zu bearbeitende Aufgaben gerichtet werden kann. Auch wenn durch die Intelligenzminderung tatsächlich mehr oder weniger große Einschränkungen vorhanden sind, können diese ausgeglichen werden, wenn die Eltern sie an andere Personen delegieren.

32 Auch für den Aspekt des Bindungsangebots ist eine Intelligenzminderung der Eltern als Risikofaktor anzusehen. Die Bindungstheorie geht davon aus, dass Menschen einerseits ein angeborenes Bedürfnis danach haben, Nähe zu anderen Menschen herzustellen, andererseits aber auch Erkundungsbedürfnisse haben, Neues kennenlernen und ausprobieren wollen, Verhalten und Ereignisse selbst auslösen und kontrollieren wollen. Das Bedürfnis nach Bindung sichert dabei das Überleben des Kindes und liefert ihm die sichere Basis, von der aus es seine Umgebung erkunden und Neues entdecken kann. Wenn Eltern zuverlässig feinfühlig auf die Signale ihres Kindes reagieren, d. h. wenn sie die Signale des Kindes wahrnehmen, sie richtig interpretieren und angemessen und prompt reagieren, kann sich beim Kind eine sichere Bindung entwickeln. • Sicher gebundene Kinder nutzen ihre Eltern als sichere Basis für die Erkundung ihrer Umgebung und suchen verstärkt Nähe und Körperkontakt, wenn sie unsicher, ängstlich oder in anderer Form belastet sind. Sie wechseln flexibel zwischen erkunden und Nähe suchen und freuen sich, wenn die Mutter nach einer Trennung wiederkommt oder lassen sich, falls der Trennungsstress zu groß war, von ihr trösten. • Unsicher-vermeidend gebundene Kinder nutzen ihre Bindungsperson nicht oder wenig als sichere Basis, sie scheinen den Kontakt eher zu vermeiden, konzentrieren sich eher auf Gegenstände und wirken emotional wenig beteiligt. Dennoch haben diese bei Überprüfung aber einen höheren Kortisolspiegel als die sicher gebundenen Kinder, die von außen betrachtet deutlich gestresster wirken. • Die unsicher-ambivalent gebundenen Kinder wirken schon durch die fremde Situation an sich belastet und suchen Körperkontakt, wirken im Kontakt dann aber unzufrieden, ärgerlich und gereizt und können ihn nicht zu ihrer Beruhigung nutzen. Es gibt inzwischen eine Reihe von Forschungsergebnissen, die zeigen, dass die frühe Bindungsqualität Auswirkungen auf spätere Kompetenzen in unterschiedlichen Entwicklungsbereichen hat, z. B. • waren sicher gebundene Kleinkinder in kognitiven Anforderungssituationen kooperativer und aufgeschlossener als unsicher gebundene; • zeigten mehr Frustrationstoleranz und Ausdauer bei neuen Aufgaben, • hatten bessere Ergebnisse in Entwicklungstests. • Sicher gebundene Kleinkinder waren aufgeschlossener und reagierten positiver als unsicher gebundene, • waren sozial kompetenter, autonomer, konfliktfähiger und beliebter. Auch für das Schul- und Jugendalter zeigte sich eine höhere soziale Kompetenz. Es zeigte sich in Untersuchungen auch, dass die sicher gebundenen Kinder positivere Reaktionen bei Erwachsenen auslösten und

33 freundlicher behandelt wurden. Man kann davon ausgehen, dass die frühen Bindungserfahrungen die Basis für die späteren Erwartungen an Beziehungen und deren Verlässlichkeit liefern. Intelligenzminderung ist laut ICD 10 und DSM IV nicht nur durch eine deutlich unterdurchschnittliche Intelligenz definiert, sondern auch durch Einschränkungen in der Kommunikation und in der sozialen Anpassung. Je nach Ausprägung der Intelligenzminderung ist die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und Dinge oder Situationen aus ihrer Perspektive zu sehen, mehr oder weniger stark eingeschränkt, ebenso die Fähigkeiten, die Befriedigung eigener Bedürfnisse zurückzustellen und die eigenen Gefühle zu kontrollieren. Dies wiederum hat Auswirkungen darauf, inwieweit Bedürfnisse des Kindes wahrgenommen und trotz abweichender eigener Bedürfnisse befriedigt werden können. Wenn trotz vorhandener großer Zuneigung zum Kind, dessen Bedürfnisse nicht verlässlich wahrgenommen und befriedigt werden, ist das Risiko hoch, dass das Kind keine sichere Bindung zur Mutter entwickelt und ihm damit eine wichtige Entwicklungsbasis fehlt. Die eine Intelligenzminderung definierenden Merkmale stellen also durchaus einen Risikofaktor für eine ungestörte Entwicklung von Kindern dar. Seine Auswirkungen hängen allerdings im Einzelfall sehr stark davon ab, ob und welche zusätzlichen Risikofaktoren vorliegen und ob und welche ausgleichenden „schützenden“ Faktoren vorhanden sind. Leider ist bei vielen Menschen mit Intelligenzminderung diese nur einer von zahlreichen Risikofaktoren. Bei den bisher in unserer Einrichtung begleiteten Eltern finden sich meist zusätzliche Risikofaktoren wie ein geringes Einkommen, instabile Paarbeziehungen, Gewalt- und Missbrauchserfahrungen und psychische Störungen. Viele Mütter sind bei der Geburt des ersten Kindes noch sehr jung, kommen selbst aus schwierigen Herkunftsfamilien, sind selbst einige Jahre in Pflegefamilien oder Heimen aufgewachsen und bekommen wenig verlässliche Unterstützung durch Familienangehörige oder einen Freundeskreis. Nach unserer Erfahrung entstehen vor allem aus der Kombination dieser zahlreichen Faktoren Risiken für die Entwicklung der Kinder. Auch wenn Risikofaktoren oder Belastungen vorhanden sind, führen diese aber nicht zwangsläufig zu einer gestörten Entwicklung oder Schädigung der Kinder. Ob schwierige, ungünstige Lebensbedingungen sich wirklich nachteilig auswirken, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Dabei ist neben Art, Menge und Ausmaß der Risikofaktoren wichtig, ob auch ausgleichende, schützende Faktoren vorhanden sind. Schutzfaktoren können persönliche Merkmale des Kindes sein, wie z.B. ein positives Temperament, Intelligenz und Problemlösefähigkeiten, wirkungsvolle Fertigkeiten zur Emotionsregulierung und Verhaltenssteuerung, ein positives Selbstkonzept und eine positive,

34 optimistische Grundeinstellung gegenüber dem Leben. Aber auch Faktoren, wie eine positive Beziehung zwischen den Eltern und eine enge Beziehung des Kindes zu mindestens einer responsiven Erziehungsperson und stabile und vertrauensvolle Beziehungen zu wohlmeinenden und fürsorglichen Erwachsenen sowie Gleichaltrigen können vorhandene Risikofaktoren (zumindest teilweise) ausgleichen. Auch der Zugang zu außerfamiliären Freizeit- und Bildungsangeboten können familiäre Belastungsfaktoren ausgleichen. Für uns bedeutet dies alles, dass wir davon ausgehen, dass mit einer Intelligenzminderung zwar prinzipiell Einschränkungen der persönlichen Umsetzung verschiedener Aspekte der Erziehungsfähigkeit verbunden sind, diese aber je nach Ausmaß zusätzlicher Belastungsfaktoren und Unterstützungsmöglichkeiten sehr unterschiedlich sein können. Deshalb muss jeder Einzelfall für sich betrachtet werden.

Schwanger! Was nun? Wenn die Entscheidung für ein Zusammenleben für Mutter und Kind gefallen ist, stellt sich die Frage nach dem passenden Unterstützungssystem. An dieser Stelle erinnern wir an GG Artikel 6 Abs. 4, dass Form, Art und Maß der bereitzustellenden Unterstützung an den Hilfebedarf von Eltern und Kind anzupassen ist. Dies ist in der Praxis deutlich anders. Häufig haben die zukünftigen Eltern und Angehörige oder professionelle Unterstützer unterschiedliche Einschätzungen, ob, wie viel und welcher Hilfebedarf besteht. Das führt in vielen Fällen dazu, dass das Selbstbestimmungsrecht der Eltern begrenzt und die werdende Mutter sich einer „Zwangsfreiwilligkeit“ unterwerfen muss, wenn sie mit ihrem Kind zusammenleben möchte. Auch bei der Wahl des Unterstützungssystems kommt das Selbstbestimmungsrecht der Eltern schnell an seine Grenzen. Hauptsächlich das zuständige Jugendamt und das Familiengericht wählen die Art der Unterstützungsleistung (z. B. ambulante oder stationäre Unterstützung oder Leben in einer Gastfamilie), aus. Weitere Beschränkungen der Selbstbestimmung ergeben sich dadurch, dass nicht alle Unterstützungsangebote regional in der nötigen Dichte vorgehalten werden, was einen Umzug für Mutter und Kind in eine fremde Umgebung notwendig macht und zusätzliche Probleme birgt (Trennung von Familie, vertrauter Umgebung und Freunden). Die Mutter muss den freien Platz nehmen, der gerade zur Verfügung steht. Ein Zusammenleben als Familie wird, wenn ein stationärer Unterstützungsbedarf besteht, dadurch erschwert, dass es viele Einrichtungen nur Mutter und Kind, aber nicht Vater und Kind oder beide Eltern mit Kind aufnehmen. Wenn dann noch bei einem Elternteil (meist dem Vater) keine Intelligenzminderung vorliegt, die Mutter dafür aber einen

35 stationären Unterstützungsbedarf hat, ist ein Zusammenleben als Familie wegen der unterschiedlichen Zuständigkeiten verschiedener Kostenträger kaum realisierbar. Deutlich wird an dieser Stelle, dass es für Eltern und Kind eine extreme Abhängigkeit von einem freien Platz gibt und von der Entscheidung der Einrichtung, ob diese bereit ist die Mutter mit Kind aufzunehmen.

Kann Elternschaft schön sein!? Ja, das kann sie. Ein strahlendes Kind, kuscheln, spielen, gebraucht werden, versorgen können, das alles ist schön. Gleichzeitig wird es nach der Geburt des Kindes immer wieder Situationen geben, in denen Eltern und Profis unterschiedliche Dinge für notwendig halten. Seien es hygienische Standards, die Frage, wie oft gefüttert werden soll, wann auf festere Nahrung umgestellt wird, ob Arztbesuche nötig sind oder nicht, wie Gefahren für das Kind zu verringern sind (z. B. durch das Wegschließen von Tabak), wie zeitnah auf Bedürfnisse des Kindes reagiert werden soll, ob mit Essen geschmiert werden darf oder nicht, ob Nutella-Brote ein angemessenes Abendessen sind, wie viel Zeit ein Baby allein in seinem Bett verbringen sollte und vieles mehr. In vielen Situationen werden wir uns als Profis eine „bessere“ Versorgung des Kindes wünschen und werden immer wieder vor der Frage stehen, in welchen Fällen ein Eingreifen und damit teilweise auch eine Beschneidung des Selbstbestimmungs- und Erziehungsrechts der Eltern gerechtfertigt oder sogar notwendig ist. Dafür müssen wir immer wieder überprüfen, welche elterlichen Verhaltensweisen wir (trotz eigener anderer Normen und Wünsche) als auch rechtlich garantierten Ausdruck der freien Entfaltung der Persönlichkeit und unterschiedlicher Erziehungsvorstellungen akzeptieren müssen und welche Verhaltensweisen das Wohl des Kindes und sein Recht auf Entwicklung, Schutz und Fürsorge so einschränken, dass wir unterstützend, kompensierend oder auch kontrollierend eingreifen müssen. Nach Sponsel (2007) ist das Kindeswohl „in dem Maße gegeben, in dem das Kind einen Lebensraum zur Verfügung gestellt bekommt, in dem es die körperlichen, gefühlsmäßigen, geistigen, personalen, sozialen, praktischen und sonstigen Eigenschaften, Fähigkeiten und Beziehungen entwickeln kann, die es zunehmend stärker befähigen, für das eigene Wohlergehen im Einklang mit den Rechtsnormen und der Realität sorgen zu können. Letztlich ist also der Maßstab für das Kindeswohl das "Lebenswohl". Kindheit ist in dem Maße geglückt, wie sie einen Menschen instand setzt (die Grundlage bietet), als Erwachsener für sein eigenes Wohlergehen sorgen zu können.“ Ist danach eine durch mangelnde Anregung entstandene Entwicklungsverzögerung oder der Besuch einer Förderschule eine Verletzung des „Rechts auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und

36 gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“? Und was bedeutet eigentlich „eigenverantwortlich und gemeinschaftsfähig“? Bedeutet „eigenverantwortlich“, dass man einen Schulabschluss und eine Ausbildung hat, mit der man zumindest potentiell für den eigenen Lebensunterhalt sorgen kann? Bedeutet „eigenverantwortlich“, dass man keine gesetzliche Betreuung braucht? Und „gemeinschaftsfähig“? Reicht es, nicht kriminell zu werden oder ist prosoziales Verhalten gefordert? Die Literatur zu Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung beschreibt, welche zentralen Bedürfnisse von Kindern befriedigt werden müssen. Das sind vor allem eine Existenz sichernde Grundversorgung, soziale Bindung und Verbundenheit und Anregungen für emotionale und kognitive Entwicklung. Inwieweit diese Bedürfnisse befriedigt werden und ob und welche schädigenden Einflüsse vorhanden sind kann durch zahlreiche Erhebungsbögen eingeschätzt werden. Leider scheint es für die Auswertung keine „harten“ Kriterien zu geben, die festlegen, wann eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt. Als wie schwerwiegend man Anzahl, Ausmaß und Dauer unterschiedlicher negativer Faktoren ansieht, scheint letztlich doch stark von der subjektiven Einschätzung abzuhängen. Zusätzlich erschwert wird die Situation dadurch, dass wirtschaftliche Bedingungen die Umsetzung der gesetzlich definierten Zielvorstellung begrenzen. Das stellt uns in unserer Arbeit vor die Frage, ob wir unsere Kriterien an der „idealen“ gesetzlichen Zielvorstellung orientieren oder daran, wie sie im Kinder- und JugendhilfeAlltag praktisch umgesetzt wird.

Was, wenn das Zusammenleben schwierig wird? Trotz aller Bemühungen wird es immer wieder Familien geben, bei denen die bestehenden Unterstützungsmaßnahmen und institutionellen Rahmenbedingungen nicht passend oder ausreichend sind, um das Recht des Kindes „auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ zu gewährleisten und bei denen wir vor der Frage stehen, ob eine Trennung von Eltern und Kind nötig ist. Da eine Trennung eines Kindes von seiner Familie und seiner gewohnten Umgebung immer auch eine Traumatisierung des Kindes bedeutet, stehen wir einerseits vor der Schwierigkeit, entscheiden zu müssen, was das Kind stärker schädigt: das Zusammenleben mit oder die Trennung von den Eltern. Damit verbunden ist auch die Frage nach dem „richtigen“ Zeitpunkt für eine Trennung. Schöpfen wir alle Unterstützungsmöglichkeiten aus, mit dem Risiko weiterer Schädigung des Kindes oder trennen wir frühzeitig, um weitere Schädigungen des Kindes zu vermeiden. Um den Eltern und ihrem durch die geistige Behinderung bedingten langsamen Lerntempo gerecht zu werden,

37 müssten wir mehr Zeit lassen und unterschiedliche Unterstützungsangebote machen. Um den Kindern eine möglichst ungestörte Entwicklung zu ermöglichen, müssten wir einen frühen Wechsel in eine Pflegefamilie ermöglichen, weil Forschungsergebnisse zeigen, dass Kinder sich umso leichter an neue Bezugspersonen binden, desto jünger sie sind und je weniger negative Beziehungserfahrungen sie gemacht haben. Zusätzliche Schwierigkeiten bei der Entscheidung für oder gegen einen Wechsel in eine Pflegefamilie entstehen durch • die Befürchtung, dass das Kind lange in einer Bereitschaftsfamilie bleibt und dann nach dem Aufbau einer Bindung an diese Familie wieder eine Traumatisierung durch Trennung erlebt; • durch sehr unterschiedliche Besuchsregelungen, durch die das Kind teilweise eine Vielzahl auch positiver Beziehungen und ggf. die Einbindung in familiäres Netz verliert, ohne dass sicher ist, dass es dauerhafte familiäre Stabilität gewinnt. • Außerdem wird die Gestaltung von Besuchskontakten, die häufig sehr selten, kurz und unter Aufsicht von Mitarbeiter/inn/en des Jugendamts stattfinden, von Eltern teilweise als so belastend empfunden, dass sie sie letztendlich einstellen.

Ausblick Trotz aller Schwierigkeiten wünschen wir uns weiterhin, dass mehr Menschen mit einer geistigen Behinderung ihr Recht auf ein Zusammenleben als Familie auch mit Kindern verwirklichen können. Komplizierte sozialrechtliche Regelungen, unterschiedliche Kostenträger und begrenzte finanzielle Ressourcen verhindern häufig, dass Mütter mit geistiger Behinderung tatsächlich alle Hilfen bekommen, die sie brauchen, um so mit ihrem Kind zusammenleben zu können, dass auch das Recht des Kindes auf Entwicklung und Förderung gewahrt werden kann. In der täglichen Arbeit ist dies der schwierigste Aspekt. Wir möchten das Recht der Kinder auf „Förderung und Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ gewährleisten und erleben dabei immer wieder, dass finanzielle und personelle Mittel nicht ausreichen, um Eltern und Kind die Unterstützung anzubieten, die nötig wären um z. B. eine Regelschule zu besuchen und einen Schulabschluss zu erreichen, der sie für eine Berufsausbildung qualifiziert. Und wann sind die langfristigen Risiken in Bezug auf ihre emotionale und kognitive Entwicklung so groß, dass dafür ihr Recht auf Zusammenleben mit ihren Eltern eingeschränkt werden muss? Damit mehr Familien das Zusammenleben gelingt, wünschen wir uns • eine regionale Dichte von differenzierten Unterstützungsangeboten, • eine bessere Kooperation und Koordination der Kostenträger,

38 • eine Einbettung der Angebote in gute Netzwerke (Infrastruktur, Gemeinde, Patenfamilien), • personelle Kontinuität, • wann immer möglich: Unterstützung in einem „normalen“ Wohnumfeld mit einer „normalen“ Wohnung, mit einem individuell angepassten Unterstützungssystem, • flexible, sich dem sich verändernden Bedarf anpassende Angebote. Die Selbstbestimmung der Eltern muss dabei unbedingt berücksichtigt sein und ihrer Entscheidung eine entsprechende Wertschätzung entgegengebracht werden. Wichtig ist dabei zu beachten, dass die Annahme einer Maßnahme von den Eltern gewollt sein muss, wenn sie denn zu einem Gelingen führen soll. Ethische Überlegungen können uns bei offenen Fragen helfen zu klären, ob wir „gut und richtig“ handeln und uns so Möglichkeiten eröffnen, Eltern und Kinder so gut wie möglich zu unterstützen.

Literatur Dworkin, R. (1984): Bürgerrechte ernst genommen, Frankfurt a. M. Fiske, A. (1995): Als Frau geistig behindert sein, München Fröhlich, G. (2006): Nachdenken über das Gute. Ethische Positionen bei Aristoteles, Cicero, Kant, Mill und Scheler. Göttingen. Kindler, H. (2007): Was ist bei der Einschätzung der Erziehungsfähigkeit von Eltern zu beachten?. In: Kindler, H., Lillig, S., Blüml, H., Meysen, T. & Werner, A. (Hg.): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach §1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). (http://db.dji.de/asd/ASD_Inhalt.htm) Sponsel, R.(2007): Kindeswohl-Kriterien. Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie. (http://www.sgipt.org/forpsy/kw_krit0.htm) Von den Berg, S. (2005): Ethik allgemein oder die Moral von der Geschicht’. Hannover.

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(Sorge)Rechtliche Fragen bei Eltern mit geistiger Behinderung Annette Vlasak

Grundgesetz • Artikel 3 Abs. 3 Satz 3: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ • Artikel 6: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ • „Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.“ Artikel 3 stellt klar, dass kein Gesetz Menschen mit Behinderungen benachteiligen darf. Es ist daher selbstverständlich, dass zum Beispiel die Normen der elterlichen Sorge für alle Eltern gelten, egal ob diese von einer Behinderung betroffen sind oder nicht. Artikel 6 stärkt die elterlichen Rechte, jedoch nur in vertretbaren Grenzen. Grundsätzlich ist es die Pflicht und das Recht von Eltern, für ihre Kinder zu sorgen. Dabei ist es unerheblich, ob die Eltern behindert sind oder nicht. Die staatliche Gemeinschaft ist dazu verpflichtet darüber zu wachen, ob die Eltern ihre Pflicht ausreichend erfüllen.

Elterliche Sorge Der umgangssprachliche Begriff Sorgerecht ist missverständlich. Die elterliche Sorge, wie sie im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) festgelegt ist, ist nicht ein „Recht“ der Eltern, sondern sie regelt die rechtliche Situation zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern und beinhaltet Rechte, Pflichten und sogar Verbote. • Beispiele für Rechte: Aufenhaltsbestimmungsrecht, Umgangsbestimmungsrecht • Beispiele für Pflichten: Aufsichtspflicht, Haftpflicht, Erziehungspflicht • Beispiele für Verbote: Verbote der Sterilisation, Verbot der Freiheitsberaubung, Verbot der Umgangsvereitelung mit dem anderen Elternteil

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Erwerb der elterlichen Sorge Sorgeberechtigt sind immer die Mutter, sowie der Mann, der mit Mutter verheiratet ist. Ist die Mutter nicht verheiratet, können die Mutter und der Vater des Kindes eine Sorgeerklärung abgeben, die erst dann rechtskräftig wird, wenn beide Sorgeerklärungen vorliegen. Es gibt nach heutiger Regelung keine Möglichkeit für die Mutter, den Vater gegen seinen Willen an der elterlichen Sorge zu beteiligen und keine Möglichkeit für den Vater, sich gegen den Willen der Mutter an der elterlichen Sorge zu beteiligen. Dies wurde vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte am 3.12.2009 kritisiert.

Verlust der elterlichen Sorge Es gibt keine Möglichkeit, freiwillig die elterliche Sorge abzugeben. Die elterliche Sorge kann nur durch ein Gericht entzogen oder auf das andere Elternteil übertragen werden. Die elterliche Sorge darf nur dann entzogen werden, wenn • das Wohl des Kindes gefährdet ist • wenn die Eltern nicht bereit oder in der Lage dazu sind, die Gefahr abzuwenden • wenn die Gefahr nicht mit öffentliche Hilfen abgewendet werden kann oder wenn öffentliche Maßnahmen erfolglos geblieben sind Dies alles gilt für Eltern mit geistiger Behinderung genau so wie für alle anderen Eltern. Daran ändert sich grundsätzlich auch nichts, wenn für das Elternteil vom Gericht ein Betreuer bestellt wurde, der das Elternteil in einigen Bereichen vertreten kann. Genau dieser Umstand führt gelegentlich zu Irritationen: Wie kann ein Mensch, der für seine eigenen Angelegenheiten nicht selbst sorgen kann, für die Angelegenheiten seines Kindes sorgen?

Elterliche Sorge und rechtliche Betreuung Die vielfach geäußerten Bedenken, ob die elterliche Sorge auch bei rechtlicher Betreuung von den Eltern selbst ausgeübt werden kann, sind falsch. Beide Rechtsinstitute stehen unabhängig voneinander im Bürgerlichen Gesetzbuch. Rechtliche Betreuung ist eher mit einer Hilfe zur Erziehung vergleichbar. Erst wenn trotz einer Hilfe zur Erziehung eine Kindeswohlgefährdung nicht abgewendet werden kann, muss ein Sorgerechtseingriff in Erwägung gezogen werden (siehe Kasten 1).

41 Der Entzug der elterlichen Sorge • ist immer eine Sanktion! • Der ehemals Sorgeberechtigte ist nicht mehr entscheidungsbefugt. • In der Regel wird die gesamte elterliche Sorge entzogen. • Es ist kein Antrag („Anregungsverfahren“) erforderlich. • Zustimmung der Sorgeberechtigen ist nicht erforderlich. • ist ein Grundrechtseingriff

Die Rechtliche Betreuung • ist ein Hilfsangebot! • Betreuer und Betreuter können nebeneinander rechtswirksam handeln. • Betreuung wird in der Regel nur für einzelne, konkret benannte Aufgabenkreise bestellt. • ist nur auf Antrag möglich • ist nur mit Zustimmung des Betroffenen möglich • ist kein Eingriff in die Grundrechte

Kasten 1: Entzug der elterlichen Sorge und Rechtliche Betreuung

Praxisbeispiele Internationale Studien belegen, dass Eltern mit geistiger Behinderung in Sorgerechtsverfahren benachteiligt werden. In Deutschland gibt es entsprechende Studien noch nicht. Jedoch zeigen Einzelbeispiele, dass an Eltern mit geistiger Behinderung in einem Sorgerechtsverfahren benachteiligt werden, indem beispielsweise die Annahme von Unterstützung einen Sorgerechtsentzug begründet (Beispiel 1), indem das Gericht unreflektiert der Empfehlung des Jugendamtes folgt (Beispiel 2) oder indem sich Gutachter und Richter nicht auf Menschen mit geistiger Behinderung einlassen und komplexe Rhetorik erwarten (Beispiel 3). Zudem wird sehr häufig auf eine anwaltliche Vertretung der Eltern verzichtet, gelegentlich mit der Begründung, es gäbe ja schon eine gerichtliche bestellte Betreuung. Diese kann jedoch eine fachanwaltliche Beratung nicht ersetzen! Beispiel 1: Der Entzug der elterlichen Sorge wird begründet mit dem Hilfebedarf der Mutter. Auch wenn das Wohl des Kindes nicht „direkt gefährdet ist“, weil die Mutter rund um die Uhr betreut wird, entzieht das Gericht der Mutter die elterliche Sorge, weil sie der ständigen Hilfe und Unterstützung bedarf. Beispiel 2 Die behinderte Mutter hat vier Kinder, die alle fremduntergebracht sind. Das Jugendamt regt an, die elterliche Sorge zu entziehen, denn die Mutter „könne in den Hilfekonferenzen dem Gesprächsverlauf nicht folgen und die getroffenen Maßnahmen nicht nachvollziehen“. Die Mutter „wendet sich gegen eine Entziehung der elterlichen Sorge, sie meint, dass hierfür kein Grund bestehe, weil sie mit der Fremdunterbringung des Kindes einverstanden sein und mit dem Jugendamt zusammenarbeite“. Das Gericht entzieht die elterliche Sorge, denn die Mutter „leidet … unter einer geistigen Behinderung, die es ihr nicht in dem erforderlichen Umfang ermöglicht, verantwortlich zum Wohle des Kindes zu handeln. Dies hat sich bestätigt, durch die Unfähigkeit, die Erbschaftsangelegenheit zu klären (…) Außerdem hat sich auch im Umgang der Mutter mit den Kindern beobachten lassen, dass die Mutter den

42 Kindern keine Impulse zu geben vermag, sondern sich entweder selbst kindlich verhält oder gar unterordnet.“ Beispiel 3: Das Kind kommt unmittelbar nach seiner Geburt in ein Kinderheim, weil alle angedachten und von den Eltern gewünschten Unterstützungsangebote sich zerschlagen haben. Das Gericht entzieht vorsorglich die elterliche Sorge und beauftragt ein Erziehungsfähigkeitsgutachten. Ausschnitte aus dem Gutachten zeigen, wie hoch die Anforderungen sind, die der Gutachter an die Eltern stellt: „Bei der Thematisierung kindlicher Bedürfnisse benannte der Vater lediglich die Notwendigkeit regelmäßiger Ernährung, die Kontrolle von Gefahrenquellen und materielle Aspekte wie etwas einen Kinderwagen. Die Frage nach darüber hinaus gehenden Bedürfnissen im Bereich psychischer Bedürfnislagen schien den Vater erheblich zu überfordern. So zögerte er deutlich bei der Frage ob kleine Kinder allein gelassen werden dürften. Zur Begründung seiner schießlichen Vereinung nannte er wiederum lediglich den Aspekt der Gefahrenkontrolle nicht aber beispielsweise das Gefühl des Allein seins als Bedrohung oder psychische Beeinträchtigung des Kindes. Es wurde deutlich, dass der Vater kaum in der Lage ist, sich in die Gefühlslagen des Kindes hineinzuversetzen, also diesbezüglich einen Perspektivwechsel zu vollziehen.“

Unterstützungsangebote Behinderung

für

Eltern

mit

geistiger

a) Ambulante Hilfen (SGB VIII, SGB XII) • Unkompliziertes, schnelles Verwaltungsverfahren • Unterschiedliche Kombination aus beiden Hilfen möglich • Gelegentlich sehr geringer Stundenumfang • Wenn zwei Leistungserbringer die Hilfe leisten, ist gute Abstimmung notwendig. b) Stationäre Eingliederungshilfe (§§ 53,54 SGB XII) + ambulante Jugendhilfe (§§ 27,31 SGB VIII) • Schnelle, unkomplizierte Hilfe für Eltern, die in stationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe unterstützt werden. Hier kommt zusätzlich eine sozialpädagogische Familienhilfe in die Einrichtung, die Hilfe zur Erziehung leistet • Kompetenzen der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe, aber ungleiche Verteilung c) Stationäre Kindereinrichtung der Jugendhilfe (§§ 27,34 SGB VIII) + Ambulante Eingliederungshilfe (§§ 53,54 SGB XII) • Langfristige Perspektive möglich • Kompetenzen der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe sind vorhanden

43 • Aufwändige Einzelverhandlung mit beiden Leistungsträgern, hoher Verwaltungsaufwand • Zuständigkeiteswechsel! Örtlich zuständig für beide Hilfen wird bei Umzug der neue Leistungsträger am neuen Wohnort d) Stationäre Kindereinrichtung der Jugendhilfe (§§ 27,34 SGB VIII) + Stationäre Eingliederungshilfe (§§ 53,53 SGB XII) • Langfristige Perspektive möglich • Kosten werden geteilt • Kompetenzen der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe sind vorhanden • Gute Kooperation der Leistungsträger erforderlich • Aufwändige Einzelverhandlung mit beiden Leistungsträgern e) Stationäre Jugendhilfe für Mutter oder Vater und Kind (§ 19 SGB VIII). Stationäre Einrichtung der Jugendhilfe für allein erziehende Elternteile mit mindestens einem Kind unter sechs Jahren • Kompetenzen und Leistungen der Eingliederungshilfe fehlen • Einseitige finanzielle Belastung der Jugendhilfe • Nicht möglich für Elternpaare • Keine langfristige Perspektive f) Stationäre Jugendhilfe für Mutter oder Vater und Kind (§ 19 SGB VIII) + Kostenübernahme des Elternteils durch die Eingliederungshilfe (Einzelvereinbarung) • Nicht möglich für Elternpaare • Keine langfristige Perspektive • Weitgehend unbekannt • Einzelverhandlung mit dem Sozialhilfeträger g) Pflegefamilie für Kind und Eltern • Erziehungsverantwortung liegt bei der Pflegefamilie • Konkurenzgefahr zwischen Pflege- und Eltern • Gute Begleitung der Pflegeeltern erforderlich! Weitere Unterstützungsangebote • Hilfen zur Erziehung nach § 27 Abs. 2 SGB VIII: Die Hilfen zur Erziehung, die in den §§ 27ff des SGB VIII beschrieben werden, sind nicht abschließend aufgezählt. Darauf weist die Formulierung „insbesondere“ hin, die die Möglichkeit von Einzelentscheidungen offen hält.

44 • Persönliches Budget nach dem SGB IX: muss eine Rehabilitationsleistung sein. Da Jugendhilfe keine Rehabilitationsleistung ist, kann sie nicht vom Persönlichen Budget als Assistenzleistung eingekauft werden. • Elternassistenz nach § 55 Abs. 1 SGB IX Die Leistungen zur Teilhabe werden hier benannt, jedoch nicht abschließend („insbesondere“). Wenn auch Elternassistenz nicht ausdrücklich erwähnt wird, so wird Elternschaft es als weit reichendste und existenziellste aller sozialen Bindungen bezeichnet, so dass Unterstützung der Elternschaft eine Zentrale Frage der Teilhabe der Eltern am Leben in der Gemeinschaft ist. • Betreuung und Versorgung des indes in Notsituationen (§ 20 SGB VIII) kommt eigentlich nur bei einer vorübergehenden Notlage in Frage (z. B. Krankenhausaufenthalt, persönliche Krise). • Patenschaftsprojekte sind bekannt aus der Arbeit mit psychisch kranken Eltern. Es gibt derzeit Überlegungen, ob und wie diese Erfahrungen auf die Arbeit mit geistig behinderten Eltern übertragen werden können. Uneinheitlich ist hier die Finanzierung.

Gerichtliche Entscheidungen Seit 15 Jahren entscheiden Sozial- und Verwaltungsgerichte uneinheitlich über Finanzierungs- und Zuständigkeitsstreitigkeiten, die zwischen dem Jugend- und dem Sozialamt ausgekämpft werden. Die letzten gerichtlichen Beschlüsse: • LSG NW vom 30.7.2007: Vorrangig zuständig für die Unterstützung einer behinderten Mutter und ihres Kindes ist die Eingliederungshilfe, weil durch die Unterstützung eine Folge der Behinderung ausgeglichen werden soll • OVG NW vom 14.8.2008: Vorrangig zuständig für die Unterstützung ist die Jugendhilfe, weil durch die Behinderung eine Gefährdung des Kindes droht und § 19 SGB VIII die einzige Rechtsgrundlage ist, die auf eine Unterstützung von Kindern UND von Eltern abzielt. • VG Minden vom 31.7.2009 bestätigt den Anspruch auf Elternassistenz und betont das „hohe Gut“ des verfassungsrechtlichen Anspruchs von Eltern auf persönliche Betreuung und Versorgung des Kindes.

Fazit 1. Die rechtliche Situation für Eltern mit geistiger Behinderung ist noch auf vielen Ebenen unklar und von dem Tabu der Elternschaft behinderter Menschen geprägt. 2. Rechtlich gibt es eine Vielfalt an Unterstützungsmöglichkeiten, die oft zu wenig bekannt sind. Juristische Kreativität ist gefragt, bei Leistungsträgern aber auch bei Leistungserbringern.

45 3. Rechtliche Klarstellung, zum Beispiel durch die Schaffung der Möglichkeiten einer Komplexleistung aus Jugendhilfe und Sozialhilfe könnte die Rechtssituation vereinfachen, muss aber nicht zu einer Verbesserung führen, wenn sich die defizitäre Sichtweise auf den behinderten Menschen nicht ändert.

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Interventionsstrategien bei Familien mit geistig behinderten Eltern Alfons Ummenhofer Die Eltern–Kind–Station ist eine von drei Stationen in der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie der St. Lukas Klinik. Die Klinik ist ein Tochterunternehmen der Stiftung Liebenau, eines großen Sozialunternehmens in der Bodenseeregion. Die St. Lukas Klinik versteht sich als medizinisches Zentrum für Menschen mit einer Behinderung. Die Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie umfasst 22 Betten, aufgeteilt auf eine Jugendstation, eine Kinderstation und die Eltern–Kind–Station. In der Eltern–Kind–Station (EKS) werden Kinder und jugendliche Patienten im Beisein von mindestem einem Elternteil stationär behandelt. Der Grund, ein solches spezifische Behandlungssetting anzubieten, entstand aus der Praxis heraus. Wir machten lange Jahre über in der Kinderstation die Erfahrung, dass viele der behandelten Kinder nach der Entlassung wieder in ihre alten Verhaltensmuster zurückfielen. Anlass für diese „Rückfälle“ bildete die Kontextorientierung von menschlichem Verhalten, die ja zwischenzeitlich in der systemischen Forschung und Literatur hinlänglich beschrieben ist. Die Kinder unterschieden sehr wohl zwischen den Systemen Familie und kinder- und jugendpsychiatrische Station und richteten ihr Verhalten im Sinne einer notwendigen Anpassungsleistung entsprechend aus. Andererseits war es den Eltern unserer Patienten auch nicht möglich, die Entwicklung ihrer Kinder während des Behandlungsprozesses zu erleben und auf diese stimmig und adäquat zu reagieren. Von daher lag es nahe, ein Behandlungsangebot zu etablieren, in welchem das familiäre Umfeld der Patienten zumindest in Teilen mit einbezogen werden kann.

Kontext Eltern–Kind–Station Um Familien die Planung und Organisation des Aufenthaltes in der Klinik zu ermöglichen, ist die Behandlung auf einen Zeitraum von 3½ bis 4 Wochen festgelegt. Die durchschnittliche Verweildauer der stationären Behandlung der Patienten beträgt 23 Tage. Patienten sind die Kinder und die Jugendlichen, die Eltern oder Elternteile werden in deren Behandlung intensiv mit einbezogen. Eine eigenständige therapeutische Begleitung der Eltern kann in Ansätzen, aber nicht, trotz hohem Bedarf, mit angeboten werden. Häufig erweitern noch Geschwister als sogenannte Begleitkinder die Patientengruppe. In der Regel halten sich zwischen 12 – 15 Personen gleichzeitig in der EKS auf.

47 Eine Ausnahme im Rahmen der Klinik, stellt die Möglichkeit auch nicht behinderte Kinder und Jugendliche in der EKS behandeln zu können dar. Zwischenzeitlich behandeln wir im Jahresschnitt gleich viel behinderte und nicht behinderte Patienten. D.h., die Patientengruppe ist immer integrativ ausgerichtet. Ein Aspekt der sich in der Praxis positiv bewährt hat und eine belebende Gruppendynamik anstößt. Sämtliche Symptome, Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen, die in der ICD 10 beschrieben sind, führen zur stationären Aufnahme der Kinder und Jugendlichen. Darüber hinaus bilden sehr häufig Grenzregulationsprobleme, schwere Interaktionsstörungen und Beeinträchtigungen in der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben durch Erkrankung und Behinderung, Anlass das gesamtfamiliäre System zu stützen und in die Behandlung mit ein zu beziehen. Die kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik und Therapie wird in der EKS durch eine ausführliche Familiendiagnostik und unterschiedlichste familientherapeutische Methoden und Interventionen ergänzt (vgl. dazu Frank, 2006). Dem gruppendynamischen Geschehen im Alltag und der Nutzung dieser Dynamik für den therapeutischen Prozess kommt dabei ein besonderer Stellenwert zu. Gestützt wird diese Dynamik durch spezielle gruppentherapeutische Angebote und zwei spezifische Angebote an die Eltern, einer Elternschule auf der Grundlage des Manuals Stepping Stones4 und der Elterngruppe, in welcher den Eltern ein Forum zur Klärung des stationären Alltags angeboten wird. Die räumliche Aufteilung in der EKS verdeutlich die Nähe der Familie zueinander und die Betonung der gruppendynamischen Orientierung (siehe Abb.1). Die Station und die Gestaltung des Miteinanders ist für die Patienten und die Familien immer auch ein Lernfeld. In der Arbeit mit Familien mit geistig behinderten Eltern ein wichtiger Aspekt, da wir konkret und unmittelbar aus der jeweiligen Situation heraus handeln können und nicht über den Umweg eines abstrakten Beschreibens und Verbalisierens arbeiten müssen. Und noch etwas ist von unschätzbarem Wert: die Familien kommen nicht nur mit Fachleuten in Kontakt, sondern erleben sich und andere Betroffene im Alltag. Die Gespräche und der Austausch untereinander, die gegenseitige Unterstützung und Rückmeldung, aber auch das Erleben, wie beispielsweise ein schweres Schicksal getragen wird, hat einen enormen Einfluss auf die Mobilisierung von Ressourcen und Kräften.

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Stepping Stones Triple P ist ein empirisch gut fundiertes verhaltenstherapeutisch orientiertes Gruppentrainingsprogramm für Eltern mit behinderten Kindern (Anm. d. Red.).

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Abb. 1: Räumliche Aufteilung der Eltern-Kind-Station

Verhältnis zur Gesamtpatientenzahl Eltern mit einer geistigen Behinderung sind die Ausnahme unter den Familien unserer jungen Patientinnen und Patienten. Mit einem prozentualen Anteil von 3 – 5 %, gemessen am jeweiligen Jahresdurchschnitt der Gesamtpatientenanzahl, bilden sie eine relativ kleine Gruppe. Diese Zahlen beruhen allerdings auf unseren eigenen testdiagnostischen Befunden, orientiert an den Kriterien der ICD 10, IQ unter 70. In einigen Fällen ist eine testdiagnostische Einschätzung eines Elternteils mit im Behandlungsauftrag des Kindes beinhaltet. Initiiert von Vertretern der Jugendoder Behindertenhilfe. Meistens sprechen wir aber die Eltern auf Grund unserer klinischen Eindrücke auf eine zusätzliche elterliche Diagnostik an, wenn wir der Ansicht sind, dass der Familie über eine klare Aussage hierzu Unterstützung und Hilfe ermöglicht werden kann. Hat diese Frage keine Bedeutung im Bezug auf den Behandlungsprozess der Kinder und Jugendlichen und der daraus resultierenden Konsequenzen für die familiäre Entwicklung, wird diesen Eindrücken nicht weiter nachgegangen. Einige Eltern berichten in den Gesprächen auch von sich aus, von keinem Schulabschluss oder keiner abgeschlossenen Berufsausbildung. Insofern liegt der Verdacht nach einer

49 kognitiven Einschränkung auf elterlicher Seite häufiger vor, eine diagnostische Abklärung ist aber allein schon aus Kapazitätsgründen nicht möglich, oft auch nicht gewünscht. Wir gehen deshalb davon aus, dass der tatsächliche Anteil von Eltern mit einer geistigen Behinderung etwas höher liegt als angegeben. Interessanterweise ist aber selbst nach einer statistischen Bereinigung diese Anzahl immer noch sehr gering, besonders im Vergleich zu einem über 40 %tigen Anteil von Eltern mit einer psychischen Erkrankung. Die Frage, warum dies so ist, kann verschieden interpretiert werden. Möglicherweise spiegelt sich darin der geringe demographische Anteil von behinderten Eltern in der Bevölkerung wieder (s. Pixa-Kettner, 2007). Unter Umständen werden Familien mit einem behinderten Elternteil auch umfangreicher unterstützt und die Entwicklung der Kinder ist dadurch weniger Gefährdungen ausgesetzt. Oder, die Entwicklung dieser Kinder spielte in der bisherigen Wahrnehmung der Fachwelt eher eine untergeordnete Rolle. Analog der Entwicklung in der Betreuung von Familien mit einem psychisch kranken Elternteil, in welchen, die bestehenden Herausforderungen für die kindliche Entwicklung, erst in den letzten Jahren Beachtung fand.

Besonderheiten Wir konnten bisher nicht die Erfahrung machen, dass Familien mit behinderten Eltern eine spezifische Subkategorie innerhalb der Patientenfamilien darstellen. Wie alle Familien, unterscheiden sich auch diese Familien durch ihre individuelle Lebensgewohnheiten, ihre eigenen Wertevorstellungen, sowie Kompetenzen und Schwierigkeiten. Dennoch stellen bestimmte Muster im Zusammenhang mit der Auftragsklärung, strukturelle Besonderheiten sowie Schwierigkeiten im Umgang mit den kindlichen Autonomiebedürfnissen eine Auffälligkeit bei den betroffenen Familien dar. Das bedeutet aber nicht, dass diese ausschließlich in Familien mit behinderten Eltern auftreten. Sie sollten aber zum besseren Verständnis und als Grundlage für die therapeutische Arbeit mit den Familien Beachtung finden.

Auftragskontext Der Impuls zu einer stationären Aufnahme mit familientherapeutischen Behandlungsschwerpunkt erfolgte bei den Familien mit einem behinderten Elternteil bisher ausschließlich auf Anraten und Initiative „Dritter“. In der Regel durch Vertreter der Jugendhilfe. Diese betreuen und begleiten die Kinder und Eltern oftmals in ihrer Funktion als sozialpädagogische Familienhilfe. Meistens steht dabei neben einer grundsätzlichen familiären Unterstützung die Sorge um die kindliche Entwicklung und des Kindeswohls im Mittelpunkt. Diese Ambivalenz zwischen den Erziehungskompetenzen und einer möglichen Kindeswohlgefährdung abwägen zu müssen steht unterschwellig oder offen

50 formuliert bei jeder stationären Aufnahme mit im Raum und zieht sich meistens durch den gesamten Behandlungsverlauf durch. Eine erste wesentliche Intervention ist, dies bereits bei der Auftragsklärung zu kommunizieren und die unterschiedlichen Erwartungen an die Diagnostik und Behandlung offen anzusprechen, darzustellen und mit allen Beteiligten zu klären. Nur so kann von Beginn der Behandlung an eine offene und vertrauensvolle Kooperationsebene mit den betroffenen Familien entstehen. Dies ist umso wichtiger, wenn während der stationären Therapie die Hilflosigkeit der Eltern und deren Auswirkungen auf die Erziehung des Kindes thematisiert werden muss. Die Eltern sollen uns nicht als beurteilende Experten erleben, sondern als verantwortliche Therapeuten, die sich nicht scheuen Unangenehmes anzusprechen, dabei aber immer den Respekt wahren und dies ihnen gegenüber auch zum Ausdruck bringen. Nur so können schwierige Entscheidungen und krisenhafte Situationen durchgestanden und eine konstruktive Lösung für alle Familienmitglieder erarbeitet werden.

Strukturelle Besonderheiten Ein strukturelles Muster, dass uns immer wieder begegnet, ist die Tendenz zu Rückzug und Isolation. Die Familien leben entweder in ihren eigenen Herkunftsfamilien, oder selbständig mit geringfügigem Kontakt zur Außenwelt. So auch Frau H., die alleinerzeihend mit ihrem 5-jährigen Sohn, in einem gemeinsamen Zimmer, in der Wohnung ihrer Eltern lebte. Wie in Abb.2 verdeutlicht, verfestigte sich ein generationenübergreifendes Familiensystem in ein System, dass hauptsächlich auf sich selbst konzentriert war. Ein wichtiger Bezugspunkt zur Außenwelt stellten für die Mutter die Kontakte mit den unterschiedlichsten Fachkräften von Arbeitsamt und Jugendamt dar. Zwischen den Großeltern und der Mutter kam es immer wieder zu heftigen Konflikten und Auseinandersetzungen um die „richtige“ Erziehung des kleinen Jungen. Die Mutter erlebte sich zum einen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Eltern, deren unterstützender Bedeutung ihr sehr wohl bewusst war. Anderseits war es ihr auch ein Anliegen, ihre eigenen Vorstellungen umsetzen zu können. Von Seiten der professionellen Helfer erhielt die Familie ebenfalls unterschiedlichste Rückmeldungen. Einige sprachen sich eher für mehr Selbständigkeit der Mutter aus, andere befürworteten mehr den fürsorglichen Rahmen innerhalb der Herkunftsfamilie. Durch diese unterschiedlichen

51 Botschaften wurde der innerfamiliäre Konflikt weiter verfestigt und es kam zu keiner Öffnung innerhalb der Familie. Die Fachkräfte erlebten sich zuweilen in großer Nähe zu einzelnen Familienmitglieder, bis dahin, dass sich Einzelne mit den Großeltern oder der Mutter solidarisierten und es immer wieder zu einer „Konfliktverlagerung“ auf das Helfersystem kam. Zur Vorstellung in unserer Klinik kam es letztendlich, als der Junge in diesem System aus unterschiedlichsten und nicht geklärten Haltungen im Kindergarten Symptome mit emotionalen Blockaden und expansiven Impulsen entwickelte. Ein weiteres Beispiel für die soziale Isolation dieser Familien ist die Aussage von Frau K., die auf die Frage nach Freunden und Bekannten der Familie, die beiden sozialpädagogischen Familienhelferinnen als ihre Freundinnen bezeichnete. Hier erleben wir immer wieder ein wesentliches Defizit der betroffenen Familien, nämlich das Fehlen eines sozialen Netzwerkes. Wir wissen heute, wie wichtig eine gute Einbindung in ein soziales Netzwerk ist, dass nicht nur aus professionellen Helfern besteht, um schwierige Aufgaben und Schicksalsschläge, wie die chronische Erkrankung oder Behinderung eines Kindes, zu meistern. Dieses Eingebundensein in die Nachbarschaft, einen Kreis aus Freunden und Bekannten, fehlt diesen Familien eigentlich fast immer und damit verfügen sie oftmals nicht über eine wichtige Ressource, die ihnen hilft, die Schwierigkeiten mit ihren Kindern zu meistern.

Umgang mit dem Autonomiebedürfnis der Kinder Ganz oft entwickeln die Kinder in Familien mit einem behinderten Elternteil Symptome in einem Alter, in welchem sie zunehmend autonomer werden und sich ihr Bewegungsradius über das Angebundensein an die Eltern hinaus entwickelt. Die Eltern reagieren dann sehr oft mit Überfürsorge bis hin zur Überreglementierung. Konflikte mit Abwehr, Machtkämpfen und Dominanzbestreben sind dann vorprogrammiert und können sich bei verschärftem Verlauf in aggressiv-externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten oder emotionalen Störungen zeigen. Wir erleben die behinderten Eltern häufig hilflos bei der Bewältigung dieser Entwicklungsaufgabe, da sie selbst keine oder nur wenige Erfahrungen im Umgang mit ihren eigenen Autonomiebedürfnissen haben. Oft kennen sie gar nicht das Gefühl, dass man ihnen etwas zutraut und sie sich auf sich verlassen können. Ihre Erfahrungen beruhen hingegen darauf, dass man für sie vieles geregelt hat und sie sich kaum selbständig um ein Ziel bemühen mussten. D.h. sie stehen ab einem bestimmten Alter ihrer Kinder vor einer Aufgabe, zu deren Bewältigung sie keinen eigenen Erfahrungshintergrund haben und sind dadurch überfordert.

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Interventionen Da wir die Kinder und ihre Eltern im Rahmen einer kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung kennen lernen, stehen sämtliche Interventionen, in die auch die Eltern miteinbezogen werden bzw. welche deren Handlungsmöglichkeiten betreffen, immer im Zusammenhang zu den kindlichen Verhaltensweisen und Symptomen. Unser Ziel ist dabei eine Stärkung der elterlichen Kompetenzen und eine Erweiterung deren Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Ursachen, die zu einer stationären Aufnahme der Kinder und Jugendlichen geführt haben. In einer katamnestischen Untersuchung mittels Elternfragebogen, zu Beginn der Behandlung , zur Entlassung und 6 Monate nach Entlassung, bestätigte sich unser Eindruck, dass über eine Stärkung der elterlichen Kompetenz in Einschätzung und Umgang mit dem auffälligen Verhalten der Kinder, sich bei diesen nachhaltig eine positive Verhaltensänderung einstellt. Die Interventionsformen die im Folgenden beschrieben werden, müssen aus diesem Kontext heraus verstanden werden und stellen kein eigenständiges Konzept für die Begleitung und Assistenz von Familien mit geistig behinderten Eltern dar. Im wesentlichen fußen alle unsere Interventionen auf den Wirkebenen des Verstehen, des Handeln und des Erlebens. Verstehen Wir praktizieren eine offene, direkte und klare Rückmeldung über • Die Symptomatik / den Entwicklungsstand des Kindes • Den Zusammenhang von familiärer Interaktion und kindlichem Verhalten • Den Ressourcen und Einschränkungen auf Seiten der Eltern Die Bedeutung der Kommunikation ist in der systemischen Fachliteratur ausführlichst beschrieben und erwähnt. Sehr authentisch in den Klassikern von Virginia Satir, die gerade in der Arbeit mit geschlossenen Familiensystemen die Vorbildfunktion der Therapeutin/des Therapeuten in punkto Offenheit betonte. Die Therapeutinnen und Erzieher sollten dabei eine Sprache anwenden können, die von Gegenüber auch verstanden wird. Es hilft nichts, sich ausschließlich in seiner Fachsprache zu artikulieren, hilfreich ist vielmehr eine Anpassung an das Verständigungsvermögen der Eltern. Konkret heißt dies, dass in der Praxis oftmals komplexe Zusammenhänge mit wenigen Worten in einfachen Sätzen beschrieben werden müssen. Meistens reicht hierzu ein einmaliges Beratungsgespräch nicht aus, Wiederholungen und Ergänzungen mit einem hartnäckigem Nachfragen und Überprüfen, ob die Inhalte auch tatsächlich inhaltsgetreu wahrgenommen und verstanden wurden, ist notwendig. Dies nehmen die Eltern nach unserer Erfahrung einem nicht übel. Im Gegenteil, die Tatsache das man sich die Zeit nimmt, ihnen die Fakten ausführlich zu erklären und um ein Verstehen bemüht ist, wird als

53 Wertschätzung erlebt. Überhaupt spielt hierbei der Faktor Zeit und sich „Zeit lassen“, wie generell in der Begleitung und Therapie von Menschen mit einer geistigen Behinderung, eine wichtige Rolle (vgl. Nicklas–Faust, 2010). Eltern mit einer geistigen Behinderung können unter diesen Bedingungen sehr wohl den Entwicklungsstand ihres Kindes und damit einhergehende Auffälligkeiten einschätzen und einordnen. Interaktionale Zusammenhänge werden ebenso verstanden und Konsequenzen daraus abgeleitet. Dieses Verstehen von möglichen behinderungsspezifischen, verhaltenphänotypischen und beziehungsdynamischen Zusammenhängen ist die Grundlage für sämtliche weiteren Schritte und Interventionen. Erst wenn ein Verständnis hierfür gewonnen wurde, kann von einer gelungenen Diagnose und tragfähigen Beziehung zwischen Therapeut und Eltern gesprochen werden. Handeln In direkter Anbindung an den fallführenden Therapeuten und einer Erzieherin geht es dann an die konkrete, handlungsorientierte Umsetzung bestimmter Aufgaben und Zielen im Alltag. Oberste Priorität hat dabei die Formulierung und Benennung von erreichbaren Zielen. Luftschlösser erhöhen nur die Frustration und behinderte Eltern müssen auch nicht die besseren Eltern werden. Die Prämisse „ausreichend gute Eltern“ hat absoluten Vorrang. Die Eltern sollen sich dabei auch einer selbstkritischen Reflektion stellen und für sich erproben, welchen Möglichkeiten und Maßnahmen sie gegenüber offen und zugänglich sind. Gerade bei Verhaltensauffälligkeiten, die im Zusammenhang von Grenzregulation oder Überbehütung und elterlicher Ängstlichkeit stehen, ist ein praktisches Erproben unerlässlich. Nur wenn die Eltern tatsächlich einer Veränderung innerlich zustimmen, kann sich auf der pragmatischen Ebene etwas bewegen. Daher unterliegen die Zielbeschreibungen einem ständigen Anpassungsprozess, der immer wieder neu justiert werden muss. Lieber kleine Brötchen backen, als sich in einem ausgeklügelten Backwerk zu verlieren. Die Begleitung im Alltag findet meistens nach folgendem Ablauf statt: • Vormachen durch Therapeutin / Erzieherin • Üben zusammen mit den Eltern • Stützen der Eltern bei der eigenen Umsetzung • Verantwortungsrückgabe an die Eltern • Rückzug von Therapeutin / Erzieherin Erst bei der konkreten Umsetzung dieser einzelnen Handlungsschritte, unabhängig vom jeweiligen Inhalt, beispielsweise der Anwendung eines Tokensystems, der Umsetzung von negativen Konsequenzen oder eines gemeinsamen Spielens, werden die Grenzen auf elterlicher Seite deutlich und transparent und somit fassbar für den weiteren Prozess.

54 Ein weiterer wichtiger Aspekt bei dieser handlungsorientierten Arbeit stellt das Verlassen einer rein verbal ausgerichteten Fokussierung dar. Bei vielen Eltern entsteht durch das konkrete Tun ein besseres Verständnis, im Vergleich zu einem doch recht abstrakten Reden über die Probleme. Nachdem die konkreten Erfahrungen gemacht wurden, kann dann anschließend in Reflexionsgesprächen über weitere Schritte der Verantwortungsdelegation gesprochen werden. Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass die grundsätzliche Tendenz zur Isolation bei diesen Familien, sich in den ersten Tagen durch ein hohes Maß an Rückzug ins Zimmer und wenig Anschluss an die Patientengruppe, zeigt. Nach einer Phase der Eingewöhnung thematisieren wir diese Beobachtung und hinterfragen dieses Verhalten. Die Eltern berichten dann häufig von ihren Schwierigkeiten, sich in einer fremden Gruppe zu äußern und Kontakt zu knüpfen. Die Kinder suchen und finden den Anschluss hingegen recht rasch und freuen sich über die lebendige Abwechslung. Diese Diskrepanz ist ein erster Anlass, in das konkrete Handeln einzusteigen. Mit den Eltern suchen wir nach einem Weg, nach obig beschriebenem Schema, der ihnen eine stärkere Anbindung an die Gruppe ermöglicht, bei selbstgestalteter Regulation von Nähe und Distanz. Erleben In diesem handlungs- und alltagsorientierten Prozess erleben sich die Eltern in ihrer subjektiven Wahrnehmung, erhalten aber auch Rückmeldungen aus der Patientengruppe und von den Erziehern und Therapeuten. Dadurch kommt es zu einem realistischen Bild der eigenen Stärken und Schwächen, die innerhalb des stationären Kontextes auch Bestand haben. Da es sich um ein gemeinsames Erleben handelt, welches gemeinsam erarbeitet wurde, kann von keinem der Beteiligten eine einseitige Interpretation vorgenommen werden. Die Erfahrungen lassen sich nicht mehr wegdiskutieren oder leugnen, Eltern und Fachwelt haben eine Ebene geschaffen, welche als ein Faktum und eine zusammen gebildete Realität, Bestand hat. Auf dem Hintergrund dieser „Realität“ können sämtliche weiterführende Maßnahmen von den Eltern mitgetragen und mitverantwortet werden. Für die Eltern ist es äußerst bedeutsam, dass die Mitarbeiter, also die Seite der Fachwelt, ihren Blick nicht nur auf das Kindeswohl richtet, sondern die Eltern in ihrer Rolle als Mutter oder Vater und sämtliche Aspekte im Alltag wahrnehmen. In der konkreten Arbeit mit Familien mit behinderten Eltern stehen dabei meistens verschiedenste Unterstützungs- und Hilfsangebote zur Diskussion.

55 Folgende Fragen spielen immer wieder eine Rolle: • Wer soll in Zukunft noch alles als Helfer von außen die Familie unterstützen? • In welchen Bereichen sollten die Eltern ihre Verantwortung für die Kinder an Außenstehende abgeben? • In welchen Bereichen ist es sinnvoll, dass die Eltern eine Betreuung für sich einrichten oder eine Betreuung eingerichtet wird, z.B. zum eigenen Schutz, für finanzielle Angelegenheiten? • Wer übernimmt die Verantwortung für die schulische Entwicklung der Kinder, vor allem dann, wenn die Kinder keiner kognitiven Einschränkung unterliegen? • Ist es sinnvoll und an der Zeit, für die Kinder eine außerfamiliäre Unterbringung und Versorgung einzuleiten? Neben diesen Themen, die sich hauptsächlich um die Grenzen der elterlichen Kompetenzen drehen, erhalten die behinderten Eltern ebensoviel positive Resonanz und Wertschätzung. Es ist zuweilen verblüffend, wie sich doch innerhalb kürzester Zeit eine positive Entwicklung einstellt, die wir Mitarbeiter nach erstem Eindruck oft nicht zu prognostizieren wagten. Insofern kann abschließend gesagt werden, dass Familien mit einem behinderten Elternteil in unserem Arbeitskontext keine besonders auffallende Gruppe darstellt und die auch nicht einer überzogenen Fürsorge oder Kontrolle bedarf.

Fazit • Wir erleben in unserer kinder- und jugendpsychiatrischen Arbeit Familien mit geistig behinderten Eltern als eine Ausnahme. • Häufig muss das die Familien begleitende Helfersystem, einschließlich der Herkunftsfamilie der Eltern, mit in die konkrete Arbeit einbezogen werden. • Als sehr hilfreich hat sich gezeigt, den Familien und ihren Kindern eine poststationäre Weiterbehandlung anzubieten. • Die emotionale Bindung der Eltern zu ihren Kindern ist fast immer positiv geprägt. Eine Kindeswohlgefährdung entsteht, wenn, dann nur aus einer Hilflosigkeit der Eltern heraus • Wie alle unsere Familien, haben auch Familien mit behinderten Eltern Kompetenzen und Schwächen und unsere Aufgabe ist es, nicht darüber zu urteilen, sondern im offenen Austausch für die notwendige Hilfe und Unterstützung zu sorgen. Dabei zeigen sich behinderte Eltern genauso lernfähig oder begrenzt wie viele andere Eltern auch.

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Literatur Frank, Reiner (2006): Geistige Behinderung - Verhaltensmuster und Verhaltensauffälligkeiten, Lambertus, Freib urg Nicklas–Faust, Jeanne (2010): Gute Medizin für Menschen mit geistiger Behinderung. Unveröffentl. Vortrag Forum Medizin und Behinderung, St. Lukas – Klinik im Februar 2010 Pixa-Kettner, Ursula (2007): Elternschaften von Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland Ergebnisse einer zweiten bundesweiten Fragebogenerhebung. Geistige Behinderung (46), 4, 309-321 Ummenhofer, Alfons & Kessler, Edgar (2006): Stationäre Eltern–Kind–Therapie. In: Frank, Reiner (Hrsg.): Geistige Behinderung - Verhaltensmuster und Verhaltensauffälligkeiten, Lambertus, Freiburg

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Autoren Stefanie Bargfrede Diplom-Behindertenpädagogin Leiterin Bereich Ambulante Erzieherische Hilfen (AEH) Lebenshilfe Bremen e.V. Waller Heerstraße 55, 28217 Bremen E-Mail: [email protected] Sabine Obermann Diplom-Psychologin Teamleitung im Psychosozialen Dienst des Stiftungsbereichs Behindertenhilfe v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel Remterweg 58, 33617 Bielefeld E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Ursula Pixa-Kettner Universität Bremen, Fachbereich 12 Sportturm C6170, 28359 Bremen E-Mail: [email protected] Petra Thöne Teamleitung der Abteilung Begleitete Elternschaft des Stiftungsbereichs Behindertenhilfe v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel 33617 Bielefeld E-Mail: [email protected] Alfons Ummenhofer Therapeutischer Leiter der Jugendstation St. Lukas – Klinik Siggenweilerstr. 11, 88074 Meckenbeuren E-Mail: [email protected] Annette Vlasak Diplom-Sozialpädagogin Albatros-Lebensnetz Berlin Anna-Ebermann-Str. 26, 13053 Berlin E-Mail: [email protected]

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Impressum

Die „Materialien der DGSGB“ sind eine Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung e.V. (DGSGB) und erscheinen in unregelmäßiger Folge. Anfragen und Bestellungen an die Redaktion erbeten (Bestellformular über die Website www.dgsgb.de).

Herausgeber Deutsche Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung e.V. (DGSGB) Maraweg 9 33617 Bielefeld Tel. 0521 144 2613 Fax 0521 144 3096 www.dgsgb.de

Redaktion Prof. Dr. Klaus Hennicke Brüderstr. 5 12205 Berlin Tel.: 0174 9893134 E-mail [email protected]

1.Aufl. 05/10/200

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Zweck Die Deutsche Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung (DGSGB) verfolgt das Ziel, bundesweit die Zusammenarbeit, den Austausch von Wissen und Erfahrungen auf dem Gebiet der seelischen Gesundheit von Menschen mit geistiger Behinderung zu fördern sowie Anschluss an die auf internationaler Ebene geführte Diskussion zu diesem Thema zu finden. Hintergrund Menschen mit geistiger Behinderung haben besondere Risiken für ihre seelische Gesundheit in Form von Verhaltensauffälligkeiten und zusätzlichen psychischen bzw. psychosomatischen Störungen. Dadurch wird ihre individuelle Teilhabe an den Entwicklungen der Behindertenhilfe im Hinblick auf Normalisierung und Integration beeinträchtigt Zugleich sind damit besondere Anforderungen an ihre Begleitung, Betreuung und Behandlung im umfassenden Sinne gestellt. In Deutschland sind die fachlichen und organisatorischen Voraussetzungen für eine angemessene Förderung von seelischer Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung noch erheblich entwicklungsbedürftig. Das System der Regelversorgung auf diesem Gebiet insbesondere niedergelassene Nervenärzte und Psychotherapeuten sowie Krankenhauspsychiatrie, genügt den fachlichen Anforderungen oft nur teilweise und unzulänglich. Ein differenziertes Angebot pädagogischer und sozialer Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung bedarf der Ergänzung und Unterstützung durch fachliche und organisatorische Strukturen, um seelische Gesundheit für Menschen mit geistiger Behinderung zu fördern. Dazu will die DGSGB theoretische und praktische Beiträge leisten und mit entsprechenden Gremien, Verbänden und Gesellschaften auf nationaler und internationaler Ebene zusammenarbeiten. Aktivitäten Die DGSGB zielt auf die Verbesserung • der Lebensbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung als Beitrag zur Prävention psychischer bzw. psychosomatischer Störungen und Verhaltensauffälligkeiten • der Standards ihrer psychosozialen Versorgung • der Diagnostik und Behandlung in interdisziplinärer Kooperation von Forschung, Aus-, Fort- und Weiterbildung • des fachlichen Austausches von Wissen und Erfahrung auf nationaler und internationaler Ebene. Um diese Ziele zu erreichen, werden regelmäßig überregionale wissenschaftliche Arbeitstagungen abgehalten, durch Öffentlichkeitsarbeit informiert und mit der Kompetenz der Mitglieder fachliche Empfehlungen abgegeben sowie betreuende Organisationen, wissenschaftliche und politische Gremien auf Wunsch beraten. Mitgliedschaft Die Mitgliedschaft steht jeder Einzelperson und als korporatives Mitglied jeder Organisation offen, die an der Thematik seelische Gesundheit für Menschen mit geistiger Behinderung interessiert sind und die Ziele der DGSGB fördern und unterstützen wollen. Die DGSGB versteht sich im Hinblick auf ihre Mitgliedschaft ausdrücklich als interdisziplinäre Vereinigung der auf dem Gebiet tätigen Fachkräfte. Organisation Die DGSGB ist ein eingetragener gemeinnütziger Verein. Die Aktivitäten der DGSGB werden durch den Vorstand verantwortet. Er vertritt die Gesellschaft nach außen. Die Gesellschaft finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge und Spenden. Vorstand: Prof. Dr. Michael Seidel, Bielefeld (Vorsitzender) Prof. Dr. Klaus Hennicke, Berlin (Stellv. Vorsitzender) Prof. Dr. Theo Klauß, Heidelberg (Stellv. Vorsitzender) Prof. Dr. Gudrun Dobslaw, Bielefeld (Schatzmeisterin) Dr. Knut Hoffmann, Bochum Dipl.-Psych. Stefan Meir, Meckenbeuren Prof. Dr. Georg Theunissen, Halle

ISBN 978-3-938931-23-3

Postanschrift Prof. Dr. Michael Seidel v. Bodelschwinghsche Anstalten Bethel Stiftungsbereich Behindertenhilfe Maraweg 9 D-33617 Bielefeld Tel.: 0521 144-2613 Fax: 0521 144-3467 www.dgsgb.de

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