ISSN Redaktion: Für den Inhalt der Beiträge tragen die Autoren die Verantwortung.

May 10, 2016 | Author: Alexander Schmidt | Category: N/A
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Heft 40 September 2013

ISSN-1617-9374

Redaktion: Doris Lange Layout:

Wolfgang Otto

Korrektur:

Doris Lange

unter Mitarbeit von:

Petra Saltuari

Für den Inhalt der Beiträge tragen die Autoren die Verantwortung.

Mitglieder der A.F.E. erhalten ein Exemplar des Heftes kostenlos. Weitere Exemplare können bei der Geschäftsstelle zum Preis von 5,- € plus Portogebühren erworben werden. Die neueren Theorie-Hefte können auch im Internet unter www.afe-deutschland.de heruntergeladen werden. Dort sind die Abbildungen überwiegend farbig wiedergegeben.

Inhalt

Vorwort Reinhard Plassmann Einführung in die prozessorientierte Psychotherapie

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Angela von Arnim Die Arbeit am Körperbild als Heilungsfaktor

17

Verena Lauffer Funktionelle Entspannung (FE) am Beispiel einer Traumatherapie

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Ulrike Reddemann Wieder in Balance kommen.

38

Doris Lange Die Bedeutung der Gegenübertragungsregulation in der Körperpsychotherapie mit Kindern

56

Ingrid Herholz Einverleibungen deutscher Geschichte

67

Sabine Buntfuss Grenzerfahrung Pubertät

71

Irene Bucheli-Zemp Wenn es mir die Stimme verschlagen hat

77

Richard Sohn Funktionelle Entspannung und Palliativmedizin

84

Gabriele Martin Abgrenzung statt Mitleid

88

Dieter W.J. Schwibach Wenn die Welt untergeht

90

Eckhard Frick Spiritual Care

97

Autorinnen und Autoren

104

VORWORT Die Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Funktionelle Entspannung vom 09.-11.11.2012 in Rothenburg o.d.T. stand unter der Überschrift: "Das Leben neu erfinden" Funktionelle Entspannung in und nach Grenzerfahrungen "Grenzerfahrungen" sind in der Anwendung der Methode der Funktionellen Entspannung ein häufig anzutreffendes Thema. In therapeutischen, beratenden und pädagogischen Berufsfeldern sind wir mit "Notfällen" wie schweren Verlusterfahrungen, Traumatisierungen, chronischen oder lebensbedrohlichen Krankheiten und mit den unterschiedlichsten Lebenskrisen unseres Gegenübers befasst. Wir sind gefordert, Hilfe und Begleitung anzubieten. Nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für ihre Angehörigen, vor allem aber für die "Helfer" gilt die Funktionelle Entspannung als hilfreiche, ihre Potenziale und Ressourcen hervorholende und ihre Resilienz unterstützende Methode. Die Zeitschrift der AFE versteht sich als "Tagungsband", in dem die externen Referenten in einer Fachzeitschrift ihre Vorträge veröffentlichen können und ihre Texte den TeilnehmerInnen und nicht-teilnehmenden AFE-Mitgliedern noch einmal zum Nachlesen zur Verfügung stellen. Ich danke den diesjährigen Referenten aus Forschung und Lehre an dieser Stelle für ihre Kooperation! Wir erhalten hier Gelegenheit, uns Grundsatzfragen wissenschaftlichen Denkens mit zu stellen und "über den Tellerrand hinauszuschauen". Die Darstellung und Lehre der Methode in ihren Praxisfeldern, die Möglichkeit kontinuierlicher Selbsterfahrung und der Erfahrungsaustausch unter den Mitgliedern ist die Aufgabe der Tagungs-Workshops. Es ist ein Anliegen dieser Zeitschrift, den Workshop-LeiterInnen ein Forum zu bieten, ihre Arbeit in Theorie und Anwendung darzustellen. Wie immer bietet die Zeitschrift aber auch anderen FE-Autorinnen und -autoren die Möglichkeit der Veröffentlichung von Grundsatz-Artikeln zur Methode und zum Thema, die auf ihre Weise der Lehre dienen. Die Mitglieder der AFE erhalten so Gelegenheit, an dem spannenden Prozess der Weiterentwicklung der Methode teilzuhaben. Ich danke Petra Saltuari für ihre zuverlässige redaktionelle Mitarbeit, Wolfgang Otto für viele Stunden Layout-Arbeit. Den Autorinnen und Autoren aus Forschung und Lehre, aus Kliniken und anderen Institutionen und aus eigenen Praxen danke ich für ihre Kooperation. Den Leserinnen und Lesern wünsche ich mit diesem Heft Bereicherung und Anschub für ihr eigenes Arbeiten! Doris Lange Gießen, im Mai 2013

5

Reinhard Plassmann

Einführung in die prozessorientierte Psychotherapie 1. Denkinhalte und Denkprozesse In der stationären Psychotherapie sehen wir zahlreiche Patienten mit schweren emotionalen Belastungszuständen und zum Stillstand gekommenen Verarbeitungsprozessen. Gerade diese Situation, so schwierig sie ist, scheint aber zum Lernen gut geeignet. Wir können genau beobachten, wann der Verarbeitungsprozess wieder in Gang kommt, welche behandlungstechnischen Regeln sich bewähren, und wir können versuchen, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Diese Beobachtungen möchte ich nutzen, um typische Muster zu beschreiben, in denen sich der Transformationsprozess psychischer Inhalte vollzieht. Dazu ist die systematische Unterscheidung zwischen Inhalt und Prozess sinnvoll und notwendig. Das krankmachende, blockierte psychische Material, also negative Emotionen, damit verbundene Körperrepräsentanzen, Gedanken und Träume wären die Kategorie der Inhalte, die Integration und Transformation dieser Inhalte wäre jenes psychische Geschehen, das wir Prozess nennen und sowohl begrifflich wie klinisch von den Inhalten trennen. Psychotherapie, mit welcher Methodik auch immer sie arbeitet, kann dann als Verfahren verstanden werden, welches dem Zweck dient, psychische Transformationsprozesse zu induzieren. Die zwischen Inhalten und Prozessen unterscheidende Konzeptualisierung und zugehörige Behandlungstechnik finden wir immer häufiger in neueren Entwicklungen der Psychoanalyse. Mein Beitrag zu diesen Themen sind einige Arbeiten über Deutungstechnik bei traumatisierten Patienten. Mir war evident geworden, dass wir bei Traumatisierten nicht auf einen normal funktionsfähigen, seelischen Mentalisierungsapparat vertrauen können. Es war immer klarer geworden, dass in der Arbeit mit Traumatisierten, mit Borderlinepersönlichkeiten und auch mit psychosomatisch Kranken die Restitution des beschädigten Verarbeitungsapparates Vorrang hatte, bevor das Material inhaltlich gedeutet werden konnte. Ich habe deshalb das behandlungstechnische Begriffspaar von Inhaltsdeutung und Prozessdeutung eingeführt (Plassmann 1996). Ein wesentlicher Bestandteil, ein Ausgangspunkt einer prozessorientierten Psychotherapie sowohl in der Ausbildung wie in der Behandlung muss deshalb der Aufbau einer bifokalen Wahrnehmung sein: mit einem Teil der Aufmerksamkeit auf das Was, die Inhalte des Prozesses; dies sind Gedanken, Fantasien, Träume, Gefühle, Körperreaktionen. Ein anderer Teil der Aufmerksamkeit richtet sich auf das Wie, den Prozess: wie hoch ist die aktuelle Belastung im gegenwärtigen Moment, sind außer emotionalem Belastungsmaterial auch positive emotionale Komplexe, also Ressourcen präsent, geht die Belastung zurück und entstehen neue positive psychische Elemente? Was wir nach meiner Überzeugung brauchen, sind Behandlungstechniken, die sowohl dem freien Fluss des emotionalen und assoziativen Geschehens Raum geben, wie

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auch eine zuverlässige Prozesssteuerung dann ermöglichen, wenn es nötig ist. Dies kann der Fall sein, wenn der spontane Transformationsprozess im Geschehen der Stunde durch traumatische emotionale Übererregung oder auch durch Dissoziation stockt. Klinisch können wir beobachten, dass sich beispielsweise Emotionen wie Töne verhalten. Sie klingen an, haben eine Verlaufskontur der Intensität (die Vitalitätsaffekte oder Flugbahnen nach Stern). Mentalisierungprozesse ebenso wie Interaktionsprozesse zeigen Rhythmen und Tempi, sie haben irgendwie musikalischen Charakter. Sie erinnern an die Atmung mit einem, wenn es gut geht, beständigen Schwingen zwischen den Repräsentanzsystemen. Der Analytiker kann hierauf bei entsprechender Neigung mit gleichsam musikalischen Wahrnehmungs- und Denkvorgängen reagieren. Ich erinnere hier an Joseph Dantlgrabers (2008) Arbeit über das musikalische Zuhören. Die Dialogmuster ihrerseits können an Tanzfiguren erinnern mit hypersynchronen, asynchronen oder kohärenten Mustern des Denkens und Sprechens. 1.2 Konzeptualisierung Organisiert sich die Verarbeitung von Inhalten grundsätzlich in diesen, evtl. weiteren Prozessmustern, die wir dann klinisch, modelltheoretisch und auch entwicklungspsychologisch von den Inhalten trennen sollten, so wie der Verdauungsapparat etwas anderes ist als das Verdaute? Nach meiner Auffassung sind Verarbeitungsprozesse psychische Leistungen, die wir unabhängig von ihren Inhalten beobachten und beschreiben können. Die traumatisch starken negativen Emotionen und alles mit ihnen verbundene Material von Körperrepräsentanzen und Gedanken, wären die Kategorie der Inhalte, deren Verarbeitungsprozess sich in bestimmten Mustern organisiert. In der Beschäftigung mit wechselnden Inhalten sind diese Prozessmuster konstant, also von den Inhalten klinisch und logisch zu unterscheiden. Ich werde hierzu einige Arbeiten aus Kinderanalysen über frühe Formen der seelischen Entwicklung zur Diskussion stellen, insbesondere Arbeiten der Boston-ChangeProcess-Group. Zwei Dinge sind für das Verständnis mentaler Transformationsprozesse absolut grundlegend. Das menschliche Gehirn ist ein komplexes System. Es bildet selbstorganisatorisch Ordnungsmuster und ist permanent aktiv, dysfunktionale Muster durch funktionale zu ersetzen. Wir haben als Therapeuten die Aufgabe, die Gesetzmäßigkeiten dieses Vorgangs zu verstehen und ihn zu unterstützen. Die wichtigste dieser Gesetzmäßigkeiten ist: das mentale Geschehen wird von Emotionen organisiert. Ob und wie Informationen verarbeitet werden, hängt in allererster Linie von den Vorgängen im emotionalen System ab. Von Bedeutung sind insbesondere die Regulation der Emotionsstärke und die Regulation der Emotionsqualität. Wir nennen dies in der modernen Traumatherapie das emotiozentrische Prinzip. Ich komme ausführlich darauf zu sprechen. Lassen Sie uns anschauen, wie das in der Therapiestunde aussieht. Wir sehen den Transformationsprozess bei der Arbeit und können bestimmte Muster erkennen und beschreiben.

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2. Prozessmuster in der Therapie Damit medias in res. Welche Muster erzeugt der Transformationsprozess in der Stunde? Mentalisierungsmuster: Prozesse innerer Kommunikation zwischen Körperlichkeit, Emotion und Bewusstsein Dialogmuster: Gelingende oder scheiternde Koordinationsvorgänge der Dialogstruktur in Bezug auf Wechselseitigkeit, Rhythmus, Tempo Muster in der Regulation der Emotionsstärke Muster in der Regulation der Emotionsqualität (bipolare Muster) zwischen negativem und positivem emotionalem Material Lassen Sie uns dies genauer beobachten:

2.1. Mentalisierungsmuster Das Bilden neuer Repräsentanzen scheint ein rhythmischer Vorgang zu sein. Im Nachdenken und Verarbeiten kommuniziert die höhere Repäsentanzebene in einem rhythmischen Geschehen mit den jeweilig niedereren, also vorgelagerten Repräsentanzebenen. Der Vorgang wurde von frühen Zeichentheoretikern wie C. S. Peirce (Uexküll, Geigges, Plassmann 2002) postuliert und von der modernen Neurobiologie bestätigt (Damasio 2000). Damasio, ein sehr scharfsinniger Neurobiologe, sieht dies so: Die basale Repräsentanzebene des Protoselbst enthält unbewusste Repräsentanzen von Körpervorgängen, also alles, was wir an unbewusstem Wissen über den Körper haben. Damasio (2000) nennt diese Zeichen 'Emotion', auf der Ebene des Protoselbst noch unbewusst. Diese Körperrepräsentanzen werden auf der Ebene des Kernselbst integriert zu neuen, komplexeren psychischen Objekten. Aus unbewusster Emotion wird bewusstes Gefühl, das seinerseits auf der höchsten Repräsentanzebene des autobiografischen Selbst zu neuen, bewusstseinsfähigen psychischen Objekten integriert wird: Das autobiografische Narrativ, die Sprache. Mentalisierungsprozesse zeigen Rhythmen und Tempi, sie haben irgendwie musikalischen Charakter. Sie erinnern an die Atmung mit einem, wenn es gut geht, beständigen Schwingen zwischen den Repräsentanzsystemen. In der Stunde sehen wir die Oszillationsvorgänge im Wechsel von Denken, Sprechen und Fühlen, im Wechsel der Bewegung zwischen den Repräsentanzsystemen: Mal mehr Körperliches, dann mehr Emotionales, dann mehr Begriffliches, Bewusstes. Will ein Patient sich durch sehr schnelles, intellektuelles Sprechen den Kontakt mit Emotion und Körper ersparen, so werden wir nicht nur die Beschleunigung des Tempos, sondern auch die Starre des Verhaftetseins an eine Repräsentanzebene wahrnehmen. Gesunden Symbolisierungsrhythmen scheint hingegen eigen, dass sie ständig spielen, d.h. leicht variieren. Ich möchte das als semiotische Oszillation bezeichnen. Sie sind nie starr. Der Gegenpol zur Starre wäre der chaotische Rhythmus: Plötzliche, regellose, eher psychotische, also desintegrierte Einschübe aus anderen Repäsentanzebenen.

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1. Vignette: Mentalisierungsmuster Frau H. rief mich an, um eine Behandlung zu beginnen. Sie ist Anfang 50, selbst Psychotherapeutin, sie lebt und arbeitet in einer norddeutschen Großstadt, von wo sie mit dem Zug zu ihren Stunden kommt. Sie sagte, es sei an der Zeit, ihre Bulimie, die sie seit 28 Jahren praktiziere, zu beenden. Darüber, warum sie sich an mich wandte, weiß ich nur, dass sie auf einer Weiterbildung meinen Namen gehört habe im Zusammenhang mit Essstörungen. Von dem weiten Weg macht sie kein Aufheben, sie kommt in nicht ganz regelmäßigen Abständen einige Male im Monat. Sie ist eher klein gewachsen, ein dunkler südlicher Typ, sehr sorgfältig gekleidet. Nach einer mehrwöchigen Therapieunterbrechung durch meinen Urlaub kommt sie zur ersten Stunde. Sie denkt kurz nach, womit sie beginnt, und erzählt dann, dass es ihr in Bezug auf ihre Bulimie sehr gut gehe, sie habe sogar, früher undenkbar, Kuchen gegessen und einige starke Belastungssituationen gut durchgestanden, ohne Rückfall. Ihr Stolz klingt an, ihre Erleichterung und gleichzeitig ein Ernst, weil sie jetzt beginnt, eine wenige Tage zurückliegende Krisensituation zu erzählen. Sie war mit ihrem Mann bei Bekannten zu Besuch, insgesamt drei Ehepaare. Der Gastgeber hatte eine etwas aufdringliche Art, alle zum gemeinsamen Saunagang aufzufordern mit reichlich Bier trinken. Der Gedanke war ihr zuwider, so dass sie alleine im Wohnzimmer blieb, während die fünf übrigen in die Sauna gingen. Der Gastgeber kam zwischen jedem Saunagang noch oben, schaute nach ihr, nicht jedoch ihr Mann. Sie erwähnte, dass seine Abwesenheit sehr schlimm für sie war und gebrauchte einige starke Worte, die mir auffielen: "Es war wie sterben". Sie verfolgte dann einige Gedanken über dieses Ereignis. Mein Eindruck war, dass nur ein Teil des Ereignisses in die Stunde gekommen war, nämlich die Worte, nicht hingegen ihre Emotionen und nicht ihre Körperreaktion. Ich sagte ihr das. Sie schaute mich direkt an, nahm offenbar nochmal Kontakt mit diesem Ereignis auf und sagte: "Der schlimmste Moment war: ich sitze im Wohnzimmer, mein Mann ist nicht da, ich verliere seinen Körper. Das war ein Schmerz in mir, hier im Brustkorb und im Bauch. Ein unglaubliches Einsamkeitsgefühl." Sie weinte, atmete tief, ich war mir sicher, dass sich erst jetzt die Begegnung mit diesem Material komplettiert hatte. Ich gab ihr an dieser Stelle eine Prozessdeutung, indem ich ihr sagte, wie gut sie nach meiner Beobachtung in dieser eben zurückliegenden Sequenz die Welt der Gedanken mit denen der Gefühle und der Körpergefühle verbinden konnte, so dass ein Ganzes entstand. Im Rest der Stunde ergaben sich sowohl die Gelegenheit zu einer Übertragungsdeutung über mein Wegsein und eine genetische Deutung, die von ihr selbst kam: Solche Gefühle hätte ihre Mutter dem Vater gegenüber niemals ertragen, sondern mit depressiver Leblosigkeit ummantelt.

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2.2. Interaktionsmuster Eine Gruppe psychoanalytischer Autoren hat im Kontext der Säuglingsbeobachtung Transformationsprozesse beobachtet und sehr viel Sorgfalt auf deren Beschreibung und auf die Modellentwicklung verwendet. Die change prozess study group wurde Anfang der 80er Jahre in Boston gegründet, ihr gehörten bekannte Kinder- und Erwachsenenanalytiker und -analytikerinnen an, beispielsweise Daniel Stern, Beatrice Beebe, Frank Lachmann, Joseph Jaffe. Beebe, Jaffe et al untersuchten die vokale Koordination zwischen Mutter und Kind, das Wechselspiel von stimmlichen Äußerungen und Sprechpausen bei viermonatigen Säuglingen und ihren Müttern. Im Alter von 12 Monaten wurde dann überprüft, ob die Kinder normale oder pathologische Bindungsmuster entwickelt hatten. Man erwartete natürlich, dass Muster von perfekter vokaler Koordination gut sein würden für die Entwicklung, sah aber etwas anderes. Kinder mit maximaler vokaler Koordination mit ihren Müttern entwickelten sich schlecht, ebenso Kinder mit minimaler Koordination. Gute Entwicklung fand sich bei Koordinationsmustern von mittlerer Güte. Beebe und Lachmann (2004) nennen diesen Befund das Balancemodell des Mittelbereichs und schreiben: „Dieses Prozessmuster gilt vollkommen unabhängig vom jeweiligen emotionalen und thematischen Inhalt und lässt sich problemlos auf die analytische Arbeit übertragen." (S. 226). Der mentale Apparat des Patienten nimmt regelmäßig durch rhythmische Koordination mit dem Analytiker Kontakt auf, um die Koordination gleich darauf wieder zu unterbrechen und dann erneut herzustellen. Mentales Wachstum ist dann zu erwarten, wenn diese Koordination weder hypersynchron noch asynchron, sondern ausbalanciert im Mittelbereich liegt (Beebe, Jaffe et al 2002). In der Therapiestunde sind es also nicht die Bedürfnisse und Gewohnheiten des Einen oder des Anderen allein, die den Rhythmus des Dialogs bestimmen sollen, sondern Ziel ist die Koordination. Ich habe es schon häufig erlebt, dass eine Patientin eine Pause machte, in der ich gerne etwas gesagt hätte. Wenn mir gerade nichts Sagenswertes einfällt, schweige ich, nur um dann zu bemerken, wie die Patientin selbst weitersprechend der Stunde einen neuen Impuls gab. Eine Beschleunigung des Dialogrhythmus mit rascher Redeaktivität von meiner Seite hätte dies gestört. In Supervisionen berichten Ausbildungskandidaten häufig von extremen Rhythmusstörungen in ihren Behandlungen: Patienten sprechen ohne Pause in hohem Tempo mit Themensprüngen, denen das Denken nicht mehr folgen kann. Die Kandidaten versuchen dann meistens, sich irgendwie mit Inhaltsdeutungen Gehör zu verschaffen, sie greifen irgendeinen Teil des Redestroms heraus und versuchen den analytischen Raum durch eine möglichst zutreffende Deutung dieses Materials zu öffnen, fast immer ohne Erfolg. Stattdessen wäre auch eine Prozessdeutung möglich, die einige Eigenschaften des Dialogrhythmus beschreibt, z. B. das hohe Tempo, die Einseitigkeit der Sprechaktivität und die Auswirkungen auf den Mentalisierungsprozess, also z. B. die Lähmung des Denkens und die fehlende Verknüpfung des Gesprochenen, dessen Teile unverbunden und deshalb auch unverstanden bleiben. Ein mutiger Patient könnte seinem zu viel und zu schnell oder zu wenig redenden Therapeuten den gleichen Hinweis geben, bis sich ein gemeinsames Wissen von kohärenten Dialogmustern bildet. Ganz allgemein gilt, dass asynchrone oder hypersynchrone Dialogrhythmen den seelischen Transformationsprozess solange blockieren, bis sie behoben werden.

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2.3. Regulation der Emotionsstärke Blutdruck oder Pulsfrequenz können zu hoch oder zu niedrig sein, beides ist nicht gesund. So scheint es sich auch mit der Stärke der Emotionen zu verhalten. Weil Emotionen zentrale Organisatoren des mentalen Geschehens sind, sehen wir, dass zu schwache Emotion nichts bewegt, es kommt kein Transformationsprozess in Gang. Das wäre beispielsweise bei einer Patientin, die über das, was sie emotional berührt, nicht spricht, sondern über einen Pseudofokus; die Stunde bleibt infolgedessen fühlbar leblos durch Beschäftigung mit emotional unbesetztem Pseudomaterial. Umgekehrt sehen wir an Patienten mit traumatisch starkem negativem emotionalem Material, wie ein Zuviel an Emotionsstärke den gesamten davon berührten Bereich der Persönlichkeit an normaler Entwicklung hindert, bis in die aktuelle Stunde hinein. Die Stunde wiederholt das Trauma, indem eine emotionale Erregung von gleichsam toxischer Stärke den Transformationsprozess blockiert. Affektive Pluszustände zeigen dann die fehlende Verarbeitung des pathologischen emotionalen Materials an: Impulsdurchbrüche, Übererregung, Störungen der Symbolisierungsfähigkeit, Störungen des Denkens, Sprachzerfall und eine allgemeine Überflutung und Paralyse des gesunden Teils der Persönlichkeit. Beide Grenz-Zustände, den Untererregungs- wie den Übererregungszustand hingegen können wir als Analytiker wahrnehmen. Ein im Moment der Therapiestunde hingegen gut funktionierender Heilungsprozess wäre erkennbar an einem ständigen autoregulativen Pendeln der Emotionsstärke um den optimalen Mittelbereich herum. Anders ausgedrückt: Die Patientin reguliert die emotionale Annäherung und Distanzierung an ihr Thema selbständig so, dass die schädlichen Extreme korrigiert werden, so wie auch Blutdruck und Herzfrequenz niemals konstant sind, sondern sich ständig um einen Mittelbereich spielend auf den im Moment richtigen Wert einregulieren. Wir erleben dann, wie die gesunde Persönlichkeit in der Stunde präsent und aktiv ist, das pathologische Material verändert sich im Moment des Geschehens der Stunde, kreative neue Aspekte werden geboren, der Dialog mit dem Therapeuten ist unbeeinträchtigt, Bewusstsein, Sprache und ein Mehr an innerer Ordnung entstehen, die Erlebnisse bekommen einen Ort in der Zeit. 2. Vignette: Muster der Emotionsregulierung In den Stunden mit Frau H. nehme ich häufig eine Art emotionalen Wellengang wahr. Es sind viele Worte in ihr, sie ist klug, belesen und denkt über sich, ihre Krise und über ihre Therapiestunden gründlich nach. All die Worte, die dabei entstehen, können Abschnitte der Stunde füllen. Ich konnte anfangs dann zwei unterschiedliche Rhythmen, Melodien waren es noch nicht, wahrnehmen. Im einen Rhythmus folgen die Worte einander in eher hohem Tempo, kluge Worte, und ich kann auch folgen, sie scheint dabei aber emotional eher unberührt. Ich bemerkte dann in mir selbst eine subtile Verlangsamung, die, wie ich vermute, aus einer Einstimmung von den expliziten Wortinhalten auf die impliziten emotionalen Vorgänge entstand. Manchmal sprach ich das auch aus, meist als Frage an die Patientin, wie sie Rhythmus und Tempo der bisherigen Stunde empfand, ob die Stunde in ihrem Rhythmus angekommen sei. Meist führte das zu einer Verlangsamung mit weniger Worten, mehr Aufmerksamkeit nach Innen, zu nachdenklichen Pausen, in denen sie nicht spricht. In einer Stunde, es war erst die fünfte, sagte sie nach einer solchen nachdenklichen Pause: „Wissen Sie, die drei Wochen seit der letzten Stunde waren lang. Es war mir aber wichtig zu wissen, dass ich es auch drei Wochen lang alleine kann. Es gab Momente, wo ich mich so hilflos gefühlt habe, ich habe mich geschämt für

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meine Essstörung." In diesem Moment in der Stunde fühle ich, dass sie stark in Kontakt ist mit belastendem emotionalem Material. Ich weiß natürlich nicht genau, was es ist, allenfalls ungefähr, bin mir aber auf der Prozessebene sehr sicher, dass sie es ertragen kann. Sie ist nicht im traumatischen Bereich überstarker Emotion, aber viel fehlt nicht. Sie denkt an ihre Tochter, die ihr erstes Kind nicht beruhigen konnte und deshalb sich selbst überließ und nun jede Gelegenheit sucht, um ihr, der Patientin, Vorwürfe zu machen, sie sei eine schlechte Mutter und schuld an den Schwierigkeiten der Tochter mit der Enkelin. Sie weint hier tief und schmerzlich, ohne viel zu sprechen. Es entspricht mittlerweile meiner Arbeitsweise, mir nicht nur über das Was, die Inhalte, Gedanken zu machen, sondern noch mehr Gedanken über das Wie der emotionalen Annäherung: Ist dieser emotionale Komplex des verlassenen Kindes jetzt im Moment der Stunde in einem heilsamen Fluss? Während ich mich das fragte (ich bin überzeugt, unsere Patienten merken solche still gestellten Fragen an einem subtilen Innehalten), sagte sie: „Was mir gerade in den Sinn kommt, ist ein Gefühl von Zorn. Ich fühle das in der Brust und besonders im Bauch, wo sonst die Bulimie ist. Ich habe Einiges ganz gut gemacht als Mutter, ich brauche mich nicht zu verstecken". Sie war nun in ganz anderer Verfassung, ich würde sagen: vergnügt. Ich sagte ihr, nach meiner Wahrnehmung habe sie gerade eben starken Kontakt mit Belastungsmaterial gehabt, ich sei am Überlegen gewesen, ob sie Hilfe brauchte, als sie am Weinen war, hätte mich aber dagegen entschieden. Nach meinem Eindruck sei dann etwas Gesundes vor sich gegangen. Obwohl ich natürlich nicht genau wüsste, was, sei mir aufgefallen, dass ihr Zorn den Übergang zum Gesunden gerade eben hergestellt hätte. Dieser Punkt ist mir methodisch wichtig: ich brauche Sicherheit auf der Ebene der Prozessmuster, auf der Ebene der Inhalte kann ich dann mit Vorläufigkeit gut leben. In dieser Vignette waren mir die Regulationsmuster der Emotionsstärke aufgefallen, erst Untererregung, dann hohe Belastung, dann Normalisierung. Dabei war schon ein Weiteres zu erkennen: Ein innerer selbstorganisatorischer Übergang von einem negativen emotionalen Komplex zu offenbar damit verknüpftem positivem Material. Inhaltlich sind davon einige Elemente bekannt: Ein positives Körpergefühl, Emotionen von Zorn, die ihr im Moment der Stunde in Bezug auf dieses Material zu helfen schienen, und zugehörige Gedanken: Ich brauche mich nicht zu verstecken. Diese Muster rhythmischer Oszillation zwischen offenbar zusammengehörigen negativen und positiven Materialkomplexen beobachte ich mittlerweile sehr genau und beziehe sie in die prozessbezogene Deutungsarbeit mit ein.

2.4. Regulationsmuster der Emotionsqualität (bipolare Muster) Die moderne Traumatherapie sieht den Heilungsprozess als eine Wechselwirkung zwischen Traumaschema und Heilungsschema, die jeweils im Kern aus Emotio-

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nen bestehen: negativen Emotionen wie Furcht, Scham, Schuld, Ekel im Traumabereich und positiven Emotionen wie Stolz, Freude, Neugier im positiven Bereich. Bei Kontakt mit dem emotionalen Traumamaterial taucht, so können wir klinisch beobachten, stets auch positives emotionales Material auf. Seine Wirksamkeit und Stärke entscheiden, ob der Transformationsprozess gelingt. Daraus leiten sich die in der modernen Traumatherapie allgegenwärtigen Techniken der Ressourcenorganisation und Stabilisierung ab. Jedem Belastungsschema steht also spontan ein Heilungsschema gegenüber, welches aber noch desorganisiert ist. Es kann aber für die aktive Selbstregulation genutzt werden, insbesondere durch die Nutzung von spontan auftauchenden Ressourcen. Wir nennen sie dynamische Ressourcen. Ein typischer Ablauf der emotionalen Selbstregulation in einer Therapiestunde wäre also bei deutlich ansteigender, kritisch intensiver emotionaler Belastung die Bitte an den Patienten, die aktuelle Belastungsstärke zu bestimmen und dann zu entscheiden, ob eine Regulation der Erregung wünschenswert wäre, weil der kreative Prozess stockt. Falls dem so ist, wäre die nächste Frage, was der Patient schon an Regulierungsmöglichkeiten kennt, also an vorhandenen Ressourcen. Selbstverständlich verfügt jeder Mensch über ein entsprechendes Repertoire, da ja die Emotionsregulation ein lebenslanges, nicht erst in der Psychotherapie begonnenes Geschehen ist. Allerdings werden solche Fähigkeiten erst in der Therapie systematisch aktiviert, organisiert und genutzt. Ein Patient wird über diese Frage, was jetzt im Moment zu einer besseren Verfassung dazugehören würde, kurz nachdenken. Das Nachdenken als Solches ist bereits eine Distanzierungstechnik. Der Patient wird sich umfokussieren und innerlich mit entsprechenden Fähigkeiten, die er von sich kennt, Kontakt aufnehmen. Das Nachdenken, Umfokussieren und der entstehende Ressourcenkontakt werden bis hier hin vielleicht ein bis zwei Minuten gedauert haben. Ganz regelmäßig beginnen dann subtile Veränderungen im Bereich der Körperrepräsentanzen: als erstes meist ein gelöster Atemzug, dann ein etwas anderes freieres Sitzen, eine leicht aufgerichtete Haltung, ein Blick, der seine Freiheit wieder gewinnt und das Starre verliert. Wir nennen dies in der Traumatherapie dynamische Ressourcen oder Spontanressourcen. Wie schon bei den Regulierungsvorgängen der Emotionsstärke fallen auch hier rhythmische Phänomene auf; der Transformationsprozess strebt anscheinend einen jeweils optimalen Eigenrhythmus im oszillierenden Wechsel zwischen negativem und positivem Material an. Man wird in der Stunde dann auch beobachten, dass dabei Störungen auftreten, oft genug von uns selbst verursacht. Wir reden zu viel, fragen zu viel nach Inhalten, verlieren den Prozess aus dem Auge. Prozessorientiertes Arbeiten bedeutet, nicht ausschließlich auf das gerade berührte Problem zu fokussieren, sondern die Rhythmik der Präsenz von Positivem und Negativem und die Vorgänge in der Emotionsregulation bewusst zu machen, zunächst sich selbst. Das Innehalten, Bewusstwerden, die emotionale Selbstregulation der Therapeutin geht der Deutung voraus und bringt die Veränderung in die Stunde, ob es dann ausgesprochen wird oder nicht. Man könnte das als Prozesskommunikation bezeichnen. Zwei Transformationssysteme, das der Patienten und das der Therapeuten kommunizieren miteinander. Das dürfte der Kern jeder Psychotherapie und jeder sicheren Bindung sein.

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3. Die Sprache der Prozessdeutung Aus der analytischen Grundregel der Abstinenz wird in der klassischen Behandlungstechnik abgeleitet, dass in der Therapie vom Patienten die Rede ist, nicht vom Analytiker. Daraus resultiert ein Deutungstyp, den ich als Sie-Deutung (Plassmann 1996) bezeichnen möchte. Die Sätze dieses Deutungstyps beschreiben die Subjektivität des Patienten aus der Beobachterposition des Analytikers und haben in der Regel die Struktur „Sie fühlen, glauben, wollen, dass …etc.“ Sie enthalten in ihrer Sprachgestalt das Gesättigte, Abschließende, Objektivistische, nicht hingegen das Vermutende, Konstruierende. Dieser Deutungstyp scheint für Inhaltsdeutungen geeignet, nicht aber für Prozessdeutungen. Ich habe wiederholt Behandlungen supervidiert, die wegen der monomanen Verwendung dieses Sie-Deutungstyps in eine unauflösbare Stagnation geraten waren. Eine Lösung des Problems kann in der Verwendung des Deutungstyps der IchDeutung liegen. Dieser Deutungstyp beschreibt die Tätigkeit des analytischen Ichs des Therapeuten, also Wahrnehmen, Reflektieren, Verstehen und evtl. auch die Störungen dieses Prozesses. Die Gestalt solcher Deutungssätze ist dann zum Beispiel: „Ich habe über die letzte Stunde nachgedacht und mir scheint wichtig, dass ich, obwohl Ihre Erinnerungen sehr überwältigend waren, trotzdem Kontakt zu Ihnen hatte, und auch in der Stunde gut mitdenken konnte. Das spräche dafür, dass die Macht der Erinnerungen etwas nachgelassen hat. Wie fügt sich das zu Ihren Wahrnehmungen?“ Warum bewährt sich für Prozessdeutungen die Sprache der Ich-Deutung besser? Die Ich-Deutung enthält in ihrer Sprachgestalt das Entwerfen, Vermuten, Konstruieren und den Dialog zwischen Therapeut und Patient. Während die Sie-Deutung der 1-Personen-Psychologie entstammt und der Therapeut ein Beobachter zu sein scheint, der die Vorgänge im Patienten unbeteiligt beschreibt, wird dagegen in der Ich-Deutung anerkannt, dass der Transformationsprozess etwas ist, was in beiden und zwischen beiden, Therapeut und Patient stattfindet. Wir brauchen deshalb eine Sprache der Intersubjektivität (Zwiebel 2004). Diese Aufgabe lässt sich mit der Ich-Deutung gut lösen. Sie beruht begrifflich auf der Unterscheidung zwischen dem analytischen Ich und dem privaten Ich des Analytikers. Der analytische Reflexions- und Transformationsprozess im Analytiker ist das eigentlich heilsame Geschehen, das sich auf alles psychische Material richtet, also Erinnerungen, Übertragungen, Inszenierungen etc. Beim traumatisierten Patienten muss sich im pathologischen Bereich, also jenem Bereich, in dem der Transformationsprozess durch traumatische Erfahrung strukturell beeinträchtigt ist, diese Fähigkeit erst in der Therapie bilden. Es ist deshalb nach meiner Auffassung nicht nur nützlich, sondern unverzichtbar, den Transformationsprozess im Therapeuten offenzulegen. Wo der Analytiker Störungen des Transformationsprozesses bei sich selbst als Gegenübertragung erlebt, also Beeinträchtigungen des Denkens in der Kategorie von Zeit und Raum, Überflutung durch Emotionen, psychosomatische Reaktionen oder Leeregefühle, können diese Vorgänge, in Gestalt einer Prozessdeutung, verwendet werden.

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4. Die Transformation des seelischen Materials: neue Muster Wie verändert, wie transformiert sich nun desintegriertes Material im psychischen Reorganisationsprozess? Woran erkennen wir, dass aus Krankmachendem Gesünderes entstanden ist? Eine „Anatomie des Gesunden“ wird eher selten beschrieben, und doch brauchen wir sie. Selbstorganisatorisch betrachtet, führt ein erfolgreicher mentaler Transformationsprozess zur Entstehung neuer Muster. Einige typische Formen solcher Muster möchte ich hier kurz zusammenfassen (ausführlicher siehe Plassmann 1996).

Merkmale für Veränderungen zum Positiven - Fortschritte in der Repräsentanzenbildung durch Symbolisierung (semiotische Progression) - Fortschritte in der Ordnung von Raum und Zeit (Integration) - Fortschritte in der Einordnung des Materials in das autobiografische Narrativ (Vernetzung)

4.1. Semiotische Progression Alles psychische Material, alles was in die Stunde kommt, ist Ergebnis eines Gestaltungsvorgangs, in dem Repräsentanzen, Symbole erzeugt worden sind. Die Repräsentanzenbildung ist Bestandteil des Transformationsprozesses, der blockiert war und den Therapie fördern soll. Ein Traumaschema wird also daran erkennbar sein, dass das Material ein niedriges semiotisches Niveau hat, beispielsweise als isoliertes körperliches Geschehen, die zugehörigen Affekte (emotionale Repräsentanzen) und die Einfälle zur Bedeutung dieses Symptomes, also höhere sprachliche Symbole, fehlen. Die semiotische Progression zeigt sich dann in der Erweiterung der Symbolsprache. Aus einem Körpersymptom wird vielleicht ein Traum, eine Inszenierung, ein Bild, die Gefühle werden wahrgenommen, ein Hof von Assoziationen, also Sprachsymbolen entsteht. Auch das Herstellen von Übertragung kann als psychischer Gestaltungs-, d.h. Symbolisierungsvorgang aufgefasst werden. Ein Symptom beziehungslos zu haben ist etwas anderes, als es in die Stunde zu bringen, dort zu thematisieren oder das Symptom sogar in der Stunde zu erleben, es in Berührung mit der Therapie zu bringen und evtl. sogar von den Veränderungen des Symptoms im Zusammenhang mit der Therapiestunde zu sprechen. In der Nutzung dieser Möglichkeiten wird die Stunde selbst zum Medium, zum Material, in welchem sich der Patient ausgestaltet. Inhaltsdeutungen würden nun eher die Art des Übertragenen herausarbeiten, also die unbewussten, in der Übertragung ausgedrückten Phantasien, während Prozessdeutungen eher die Tatsache registrieren, dass "die Stunde" oder "die Therapie" unter den Einfluss des Patienten kommen kann, also Übertragung stattfindet.

4.2. Kontextualisierung: die Einordnung in Raum und Zeit Krankmachende Erlebnisbereiche haben keinen sicheren Platz in der inneren Zeitordnung des Patienten, insbesondere fehlt ihnen die Eigenschaft des Vergangenen. Jede Wiederholung macht die ursprüngliche Erfahrung scheinbar wieder zur Gegenwart.

15 Einführung in die prozessorientierte Psychotherapie

Der Heilungsvorgang zeigt sich darin, dass sich in der Stunde das Zeitgefühl für den Unterschied zwischen Jetzt und Damals wieder bildet, also auch der Kontakt zur Gegenwart der Therapie. Damit verbunden ist eine stark verbesserte Verfügbarkeit des Patienten über das jeweilige Material, ein Mehr an Fähigkeit und Freiheit zu entscheiden, ob und wie jetzt in der Stunde mit dem eindeutig als dem Damals zugehörigen Material gearbeitet wird. Eine Patientin kann dann sagen: „Ich hatte gestern eine solch furchtbare Angst, ich würde Sie bald verlieren und alles wäre wieder so, wie es nach dem Tod meiner Mutter war! Jetzt im Moment sehe ich das schon mit viel mehr Abstand.“ Die Inhaltsdeutung hat die Patientin sich schon selbst gegeben, die Prozessdeutung könnte beschreiben, wie sich dieses Wissen über den Unterschied von Jetzt und Damals im Verlauf der Stunde, vielleicht auch im Verlauf der Therapie gebildet hat. Auch hier wird es so sein, dass der Prozess im Therapeuten beginnt, der auch unter dem Ansturm von heftigstem Material die innere Ordnung von Zeit und Raum behält.

4.3. Das autobiografische Narrativ Auch ein Traumaschema ist etwas Eigenes, Inneres. Es will anerkannt, angenommen und in die eigene Lebensgeschichte integriert werden. Das Erkranken, das Verarbeiten, das Heilen will zum Bestandteil des autobiografischen Narrativs werden. Oft beginnt die Arbeit mit traumatisierten Patienten deshalb damit, die scheinbare Sinnlosigkeit der aufgetretenen Lebens- und Gesundheitskrise und des jeweiligen Symptoms zu thematisieren. Das Festhalten am Zustand der Sinnlosigkeit, das Verweigern von Sinngebung ist in der Regel mit dem Wunsch verbunden, der jeweiligen Symptomatik oder Erfahrung die Existenzberechtigung abzusprechen. Alles schiene in Ordnung, wenn nur Symptom, Krankheit, Ereignis etc. nicht vorhanden wären. Erst die Einordnung des desintegrierten seelischen Materials in das autobiografische Narrativ macht solche ausgegrenzten Erlebnisbereiche zu dem, was sie sind, nämlich zu einem Teil des eigenen Selbst und seiner Geschichte. Dadurch wird auch der traumatische Komplex als etwas Eigenes erkannt, verbunden mit dem eigenen Wunsch, die Wege zu mehr Gesundheit zu finden. Jede Patientin, jeder Patient mit starken dissoziativen Störungen wird im Zuge einer erfolgreichen Therapie die eigene Geschichte und die Geschichte der eigenen Familie umschreiben und neu bewerten mit entsprechenden Folgen auf das Selbstbild und das Bild der Familie. Dies ist ein Vorgang, der äußerste Kraftanstrengungen erfordert und in der Regel Jahre dauert.

16 Reinhard Plassmann

5. Zusammenfassung Wir können das reiche Wissen der Psychoanalyse von den unbewussten psychischen Inhalten ergänzen um die Beobachtung und Beschreibung der Muster, die der Transformationsprozess in der Stunde erzeugt. Die Modellbildung des Transformationsprozesses ist in lebhafter Entwicklung, innerhalb und außerhalb der Psychoanalyse. Diesen Prozessmustern ist gemeinsam, dass sie keine lineare, sondern eine rhythmische, musikalische Textur haben. Wir können sie gleichwohl behandlungstechnisch wie jedes andere Material auch in die Deutungstätigkeit einbeziehen, mit einem Deutungstyp, den ich Prozessdeutung nennen würde. Wenn wir uns nun solchen Regulationsrhythmen im Patienten und zwischen Patienten und uns zuwenden, in welcher Situation finden wir uns dann aber wieder? Psychotherapie ist komplex genug; soll sie noch komplexer werden? Ich meine, es ist umgekehrt. Die Arbeit mit dem Prozessmodell vereinfacht. Es ist wie mit dem Hören von Musik. Wollte man Gehörtes erfassen, indem man jeden einzelnen Ton, seine Höhe, seine Dauer, seine Lautstärke beschreibt, so wäre das Resultat eine unendlich große ungeordnete Datenmenge. Indem wir Ordnungsmuster erkennen, orientieren wir uns und werden dadurch aufnahme- und handlungsfähig. Ich gebe mittlerweile in der Deutungsarbeit der Beschäftigung mit Prozessmustern solange den Vorzug, wie Störungen der Transformationsprozesse vorliegen, die eine erfolgreiche Arbeit an den Inhalten erschweren. Was mich dann immer wieder erstaunt, ist die Leichtigkeit, mit der Inhalte bewusst werden können, häufig ohne mein Zutun. Der Widerstand gegen die Bewusstwerdung geht anscheinend stark zurück, wenn ein zur Verarbeitung kompetenter psychischer Apparat aktiv ist. Sehr häufig wird diese Arbeit von den Patientinnen erledigt, was mich immer aufs Neue beeindruckt.

Vortrag im Rahmen der Jahrestagung der AFE in Rothenburg, Nov.2012

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Angela von Arnim

Die Arbeit am Körperbild als Heilungsfaktor In der Funktionellen Entspannung geht es um die Stärkung der leiblichen Ressourcen, die jedem Menschen implizit, im sog. „leiblichen Unbewussten“ (Fuchs 1997), zur Verfügung stehen - sofern sie nicht blockiert sind, z.B. durch Angst und Depression, durch Folgen früher Defizite in der Stressregulation oder durch im Körper „verkapselte“ Traumatisierungen. Der Zugangsweg der FE zu diesen leiblichen Ressourcen – und damit gleichzeitig auch ein besonders wichtiges therapeutisches Agens - liegt in der Verbesserung der Selbstregulationskräfte unserer Pat. durch eine Arbeit am Körperbild, d.h. durch eine eher leise, jedoch haltgebende, die Wahrnehmung der Körpergrenzen stabilisierende und rhythmusbezogene Arbeit, die sich orientiert an den Körpersystemen (wie dem Bewegungssystem, der Haut, den inneren Räumen usw.), der Beziehung zum Boden als dem tragenden Grund, und eben dem leiblich spürbaren eigenen Rhythmus, der insbesondere den Atemrhythmus prägt. Eher indirekt orientieren sich die körperlichen Angebote dieser Methode an der sog. „autonomen Atmung“, dem sogenannten Eigenrhythmus, und zwar dadurch, dass Körperwahrnehmungsangebote differenziert gegeben werden unter Beachtung und „wie absichtloser“ Beobachtung der (und sich dadurch indirekt durch eine Balance des sympathischen und parasympathischen vegetativen Systems beruhigenden) Atmung. Diese Angebote und die sich daraus im Rahmen einer therapeutischen Beziehung ergebenden Körpererlebnisse werden vom Patienten „er-innert“ und „wieder-holt“, so dass sie als kurze „körperliche Mini-Meditationen“ den Alltag strukturieren helfen und allmählich zu einer verbesserten Selbstorganisation der Körpersysteme beitragen können. An den die Selbstregulation behindernden Faktoren (wie frühen Beziehungs- und Regulationsstörungen sowie traumatischen Erfahrungen) wird bei dieser Methode im psychotherapeutischen Sinne „bearbeitend“ (z.B. durch Identifizierung der Bedeutungen der Körpererinnerungen) erst nach ausreichender Stabilisierung und leiblicher Ressourcenorganisation gearbeitet. Auch die für einen traumaspezifischen Ansatz wesentliche Traumasynthese und Traumaintegration erfolgt durch den selbstwahrnehmungsbezogenen Ansatz der Methode, mit der Betonung der Erfahrungen von Halt und Grenzen, d.h. äußerst schonend, da die traumabezogene Arbeit einhergeht mit einer allmählichen Verbesserung der Kompetenz zur Selbstregulation. So kann die Methode einerseits primär zur Verbesserung basaler Kompetenzen wie der Fähigkeit zu Selbstheilung angewendet werden, andererseits arbeitet die Funktionelle Entspannung als Körperpsychotherapiemethode auch an den biographisch bedingten Bedeutungsgebungen der gestörten Körperwahrnehmung und somit auch an der Bearbeitung unbewusster Aspekte der durch Traumata und Konflikte gestörten Affektregulation innerhalb der therapeutischen Beziehung.

18 Angela von Arnim

1994 kam die erste Auflage der Publikation "Subjektive Anatomie" heraus, an der Marianne Fuchs und einige andere FE-Therapeut/innen, z.B. Gabriele Janz, Liselotte Löhlein, Doretta Woelk und ich, zusammen mit Psychosomatikern, z.B. auch Reinhard Plassmann, auch Rolf Johnen, und dem Nestor der Psychosomatik in Deutschland, Thure v. Uexküll, mitarbeiteten. In dieser Arbeitsgruppe unter Leitung von Thure v. Uexküll wurde der Begriff Selbstregulation durch Aktivierung des inneren Heilungssystems zu dem systemtheoretischen Begriff der Autopoiese in Beziehung gesetzt. Sie bezeichnet einen Vorgang, der ein lebendes System sowohl hervorbringt als auch erhält. Als zweites ist der Begriff Selbstreferentialität (Maturana 1982) zu nennen, d.h. Systeme, die sich durch Selbstreferentialität auszeichnen, beziehen sich auf sich selbst: Lebende Systeme werden danach als autopoietisch gesehen, da sie sich selbst erschaffen und erhalten, und der eigene Körper wird als selbstreferentiell erkannt und durch Selbstorganisation geprägt aufgefasst. Bedeutsam ist dabei auch der Bezug zum Körperbild, das fasst die eigenen Körpererfahrungen zu einem dreidimensionalen Bild von sich selbst, mit bewussten und unbewussten Anteilen zusammen, auf Grundlage des eher physiologisch definierten Körperschemas. In der AG Subjektive Anatomie wurde die Definition des Körperschemas von Head neu interpretiert: Das Körperschema wird in der "Subjektiven Anatomie" als eine Art emotionaler Code definiert, der sensorischen und motorischen Zeichen die Bedeutung zuschreibt, dass sie zum eigenen Selbst gehören (ähnlich dem propriozeptiven feedback von Stern, 1992). Diese semiotische Sichtweise ermöglicht die Differenzierung und Wahrnehmung von Zeichen, die vom Selbst dechiffriert, d.h. „gelesen“ werden, um im Rahmen der Interaktion zwischen dem lebenden System und seiner Umwelt die lebensnotwendige Herstellung der Einheit von Organismus und Umwelt (Bateson) zu ermöglichen und die Homöostase des Systems durch selbstorganisatorische Aktivierung der Heilungsressourcen zu gewährleisten. Dabei handelt es sich in der FE-Körperarbeit um Aktivierung von KörperHeilungsressourcen z.B. durch die basale leibliche Erfahrung von Halt und Grenzen, was besonders von Sophie Krietsch betont wurde: Sophie Krietsch, die ja kürzlich, am 25.10.2012, im Alter von 90 J. verstarb, hat als einzige Lehrbeauftragte der FE in Langzeitbehandlungen mit psychotischen Patient/I nnen gearbeitet und daher wertvolle Beiträge zur Arbeit mit sehr früh in ihrer Entwicklung gestörten Menschen geleistet. Wie Verena Lauffer in ihrer Würdigung durch den Vorstand der AFE ausgeführt hat, hat Sophie Krietsch der FE den Weg in die Körperpsychotherapie mit gebahnt. Sie schrieb 1993 in einer Publikation der Arbeitsgemeinschaft der Funktionellen Entspannung (A.F.E. intern 16-1993): „Das Gefühl, Halt zu haben, entsteht über das Gehaltenwerden im Säuglingsalter. Je sicherer, liebevoller, wärmer ein Kind gehalten wird, umso selbstverständlicher wird das Gefühl von Halt verinnerlicht.“. „Winnicott schreibt in seinem Aufsatz "Angst gepaart mit Unsicherheit": „"Wir sind hier der wohl bekannten Beobachtung nahe, dass die früheste Angst mit dem Gefühl zusammenhängt, unsicher gehalten zu werden."“ (Winnicott, 1994, S.126) ) „Wenn ich also in einem therapeutischen Prozess den Halt und die Haltung erarbeite, geht es nicht nur um den Halt von außen, den Boden, und um den Halt von innen, Wirbelsäule und das ganze Skelett, sondern auch um die Haut, die als Hülle den ganzen Körper zusammenhält, und die eines der Organe darstellt, die schon im frühen Kontakt mit der Mutter besonders wichtig sind. Ich möchte hier noch einmal ein Zitat von Winnicott aus demselben Aufsatz bringen: „Wenn der Säugling krabbeln und später gehen

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lernt, übernimmt der Boden immer mehr die stützende Funktion der Mutter “(Winnicott, 1994, S. 127). In einer kurzen Fallvignette aus meiner Behandlung einer 40-jährigen AnorexiePatientin, Frau M., soll das Selbst-Heilungspotenzial der Methode an einem kleinen Detail veranschaulicht werden: Die kleine, zart und zerbrechlich wirkende, sehr zwanghafte und gleichzeitig hyperaktivunruhig bis chaotisch wirkende Patientin litt an einer chronischen anorektischen Essstörung seit Beginn der Pubertät, mit seit einigen Jahren bulimischer Komponente, daneben auch an einer ausgeprägten Nikotinsucht, was sie mir anfangs verheimlichte. Das Rauchen war für sie eine Beruhigung und damit eine pathologische Form der Selbstregulation. Die Patientin war nach einer komplikationsreichen Schwangerschaft und Geburt, als Einzelkind und "Ersatzkind" für ein früh verstorbenes Geschwisterkind, von der sehr ängstlich-zwanghaften Mutter nicht ausreichend angenommen und gehalten worden, sie wurde als Kind als „verrückt“ abgestempelt, weil sie wild und temperamentvoll war, vor den Nachbarn versteckt, ständig eingeengt und entwertet sowie häufig geschlagen. Sehr oft versteckte sie sich in einem großen Wäschekorb der Mutter, um von dieser nicht bemerkt und also auch nicht ausgeschimpft oder bestraft werden zu können. Als Erwachsene ließ sie in ihren Schilderungen wiederum an dieser Mutter kein gutes Haar. Andererseits ließ sie sich noch mit 40 J. von der Mutter Vorschriften zur Lebensführung machen, während sie heimlich, durch Hungern, in den letzten Jahren durchbrochen von exzessiven Essanfällen, und durch exzessives Rauchen, sowohl ihre Rebellion gegen die Mutter ausdrückte, als auch ihren Drang zur Selbstzerstörung auslebte. Im beruflichen Bereich funktionierte sie, bis es in dem Callcenter, in dem sie auch im Controllingbereich arbeitete, zu einem Mobbing-Konflikt mit der Vorgesetzten mit nachfolgender Abstufung kam, woraufhin sie depressiv dekompensierte und zu mir kam. In der Therapie war ich ihren ununterbrochenen Entwertungen und ihrer sprunghaften Unruhe ausgesetzt, gleichzeitig entzog sie sich allen ressourcen-aktivierenden Themen und einer engeren therapeutischen Beziehung zu mir. Ein erstmaliges FE-Angebot von mir - in einer verzweifelten Stunde nach einem Rückfall in einen bulimischen Essanfall -, mit dem Boden Kontakt aufzunehmen, indem sie ihre Füße mit dem Fußboden in eine Berührung kommen ließ, anstatt mit ineinander verschraubten Beinen im Sitzen kaum Kontakt nach unten aufzunehmen, bezeichnete die Patientin zunächst als "völlig daneben" und "langweilig"… Dann probierte sie doch noch einmal, die „Antennen“ in ihre „Kontaktfühlerchen“ ihrer Füße Richtung Boden zu richten. Nach einiger Zeit wagte sie eine Aussage darüber, wie sie den Boden wahrnahm, nämlich als sehr hart und kalt - mir fiel dabei ein: „wie ihre Mutter“. Sie hatte durch ihre verschraubte Körperhaltung jeglichen Kontakt zum „Mutter-Boden“ zu vermeiden versucht. Ich merkte, wie ich sie erstmals, körperlich mitspürend, mit-leidend, ein kleines Stück mehr verstand und versuchte, gleichzeitig sie in ihrer Suche begleitend, ihre Boden- vermeidende Haltung mit zu fühlen. Dabei spürte ich ihre Anspannung, Einsamkeit und Verlorenheit. Plötzlich setzte sie sich anders hin und wagte Bodenkontakt mit beiden Füßen, merkte einen für sie sinnmachenden, bedeutenden Unterschied. Sie bekam dann von mir eine Decke für ihre Füße und konnte sich auf dem nunmehr wärmeren, weicheren Untergrund eine Sekunde lang erstmals entspannen.

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Im Verlauf vorsichtiger weiterer Experimente der inzwischen immer neugieriger auf sich selbst und ihr Körpererleben gewordenen Pat. mit dem Kontakt zum tragenden Grund konnte sie den Boden allmählich auch einmal als Halt- gebend empfinden. Sie wollte immer öfter „das mit dem Körper“, zunächst angeblich, weil sie das für ihr Callcenter und die Einarbeitung neuer Kollegen verwenden wollte (also, wie sie anfangs betonte, nur für die Kollegen und nicht für sich selbst!), sie konnte daraufhin nach und nach im Alltag lernen, spüriger für ihre Körperwahrnehmung zu werden und sich sogar öfter einmal leiblich Halt zu suchen, wenn es ihr – z.B. bei Konflikten mit der Chefin-Mutter nicht gut ging. Im Zusammenhang mit der jetzt vermehrten Sensibilität für sich selbst merkte sie in einer Stunde z.B. auch, durch eine kleine Intervention von mir ( ich spüre, bei mir sei das irgendwie anders beim Atmen als bei ihr ), dass sie „paradox“ atmete: sie merkte, dass das Einatmen für sie bedeutete, nach oben hin immer schmaler und enger zu werden, damit auf gar keinen Fall ihr verhasster Bauch spürbar und sichtbar würde. Die Wahrnehmung ihrer eigenen Körpergrenzen bei einer physiologischen Ein- und Ausatmung, bei der sich beim Einatmen aufgrund der Zwerchfellbewegung die Grenzen des Rumpfes nach außen und bei der Ausatmung wieder nach innen verschieben, war für diese Patientin zunächst mit panischer Angst verbunden: Panik, zu viel Raum einzunehmen. Allmählich gelang es ihr etwas besser, sich innerhalb ihrer flexiblen Körpergrenzen zu akzeptieren. Nach einiger Zeit konnte sie, nachdem an der Bedeutung ihrer Angst in ihrem biografischem Kontext, z.B. von der Mutter vor den Nachbarn versteckt worden sein, bzw. sich vor der Mutter zu verstecken, gearbeitet wurde, allmählich eine - wenn auch zunächst geringgradige - Zunahme ihres Bauchumfangs und des Körpergewichtes im Rahmen einer Normalisierung ihres Essverhaltens akzeptieren. Und ohne dass sie vorher ihre Nikotinsucht thematisiert hatte, konnte sie nach einigen Monaten völlig überraschend einen weiteren Schritt zur Verbesserung ihrer Selbstregulation vornehmen, was sie daraufhin wie beiläufig erwähnte: Es gelang ihr, mit dem seit Jahren exzessiven Rauchen (bis zum Therapieende dauerhaft und vollständig) aufzuhören. Gleichzeitig berichtete sie, dass der „dicke Bauch“ nicht mehr das bisherige Zentrum ihres Erlebens darstelle, wie es am Anfang der Therapie gewesen war. Dies hatte sich anfangs z.B. auch in dem 1. Körperbild-Interview zu Therapiebeginn gezeigt, nachdem sie mit geschlossenen Augen eine 1. Körperbildskulptur plastiziert hatte. EXKURS: Beim Körperbild-Skulptur-Test handelt es sich um ein dreidimensionales Verfahren zur Erfassung des Körperbildes. Die Patientin modelliert aus Ton mit geschlossenen Augen eine menschliche Figur. Mit dem Ausschluss der visuellen Komponente wird die Abbildung des unbewussten Körpererlebens gefördert und die Orientierung an kulturabhängigen, ästhetischen Maßstäben verringert. Direkt an das Plastizieren schließt sich ein problemzentriertes Interview an, das der Anregung von Assoziation zur Figur in Verbindung mit der eigenen Körpergeschichte dient und die Fähigkeit zur Symbolisierung körperbezogener Affekte fördert. Die klinische Bedeutsamkeit des KST wird neben seiner diagnostischen Rolle auch in seiner Funktion als ein Instrument gesehen, das den therapeutischen Dialog fördert (v. Arnim, Joraschky und Lausberg, 2007).

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Interview 1, Frau M (Es folgt ein kleiner Ausschnitt zum Körperbildskulptur-Interview der 1. Skulptur dieser damals, zu Therapiebeginn, noch untergewichtigen Pat.): I: Jaa, wenn Sie sich Ihre Figur so .. so anschauen .. äh .. was fällt Ihnen dazu ein? M: Hat ‘n wahnsinnig dicken Bauch! (lacht) ... I: Und wie finden Sie das? M: Sieht bald aus wie ich (klopft sich auf den Bauch). I: Mmh ... M: Ich stehe ja eigentlich nicht so auf dicke Bäuche. I: Ahh, wie war das beim Formen, haben Sie sich das anders vorgestellt? M: Ja! (nickt vehement) Auf jeden Fall nicht so dick. ... I: Wie dachten Sie, dass die Figur aussehen würde? Als .. als die Augen noch zu waren? M: Gut. Dass der Bauch so dick ist, wollte ich nicht. Es sollte eigentlich, der Oberkörper sollte ein bisschen schlanker werden, ansonsten isses eigentlich fast so, wie ich’s mir vorher gedacht habe. I: (nickt) ... M: Sitzt auch fast alles da, wo’s hingehört (lacht). I: Können Sie’s .. können Sie es beschreiben? Was wo sitzt und wo Sie das Gefühl haben, das soll woanders hin, und das, das stimmt? M: Na, die Beine die stimmen nicht. Die müssten etwas anders. Die Arme sind reichlich lang (lacht). Die Haare passen, sitzen auf dem Kopf (lacht). Aber ansonsten is ok. I: Mmh. Und gefällt sie Ihnen? M: Ehrlich? I: Mmh! M: Ähäh {verneint} (schüttelt mit dem Kopf) I: Was gefällt Ihnen nicht daran? M: Dass die Proportionen nicht stimmen. I: Inwiefern?

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M: Na die langen Arme .. der dicke Bauch .. und dass alles nicht ganz da ist, wo’s hingehört. I: Wie geht es Ihnen, wenn Sie das sagen und wenn Sie die Figur angucken? M: Könnt’n Bild von mir sein! I: Bitte? M: Ich sach: Könnte ‘n Bild von mir sein (lacht). I: Inwiefern? M: Ich mag meinen dicken Bauch nicht und .. körperlich stimmt momentan ooch allet irgendwie nich .. ja das .. das kommt fast hin. Überlegungen dazu: Der „dicke Bauch“, der sich in der Körperbildskulptur zeigt, jedoch real nicht da ist, sondern befürchtet wird, entspricht der schweren Körperbildstörung dieser komplex traumatisierten Patientin, die ihren realen Körper wegdissoziiert hat und stattdessen ihren Angst-Körper, der ihren traumatischen Erlebnissen der frühesten Lebenszeit von „bestraft werden dafür, da zu sein“, entspricht. Die Säuglingsforschung hat seit ca. 30 Jahren empirisch belegt, wie eng die Verbindung von körperlichen und seelischen Vorgängen von Beginn des Lebens an ist. Körperwahrnehmung, Bewegungen, Haltungen, Berührungen sind im frühen Lebensalter nicht von der Haltung der Pflegeperson und der Beziehungen zu Mutter, Vater und später der weiteren Familie zu trennen. Wir wissen durch die Untersuchungen der Säuglingsforscher heute viel über die rasch abgestimmte Folge von aufeinander abgestimmten Bewegungen, in denen sich die Beziehung zwischen Säugling und Pflegeperson äußert. Es ist eine Form von „Mikroaktivität“ (Krause, 1983), die Stern (1992) mit einem „Tanz“ zwischen Mutter und Kind verglich, dessen „Choreographie“ sich in Bruchteilen von Sekunden, und zwar in bestimmter Weise synchronisierten Rhythmen, abspielt. Damit sind Bewegung, Berührung, Halten und Stützen sehr grundlegende, in die erste Beziehung eingebundene Phänomene, die in der ersten Lebensphase in einer für das Empfinden des Säuglings sehr langen Zeitspanne als basale Erlebnisspuren in uns niedergelegt sind, noch bevor sie sprachlich benannt werden können. Aber nicht nur diese frühen Erlebnisse beeinflussen das Körpererleben. Auch belastende emotionale Einflüsse, die sich häufig wiederholen, oder auch einmalige traumatische, reizüberflutende Eindrücke werden in der weiteren Entwicklung immer von körperlichen Veränderungen im vegetativen System und der willkürlichen Muskulatur begleitet. Passiv erlittene unlustbetonte Situationen führen zu negativen Erwartungen und im Zusammenhang damit zu häufig unbewussten entsprechenden Körperhaltungen oder auch körperlich - vegetativen Reaktionsbereitschaften. Diese körperlichen Haltungen tragen auch zum Weiterbestehen der psychischen Fehlhaltungen bei.

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Die überwiegend in der präverbalen, d.h. vorsprachlichen Phase verursachten Dispositionen und Fehlhaltungen, die in ihrer Bedeutung für die Entstehung von psychosomatischen Störungen zunehmend auch neurobiologisch und im Rahmen von Forschungen zur Epigenese auch von somatischen Erkrankungen gewürdigt werden, legen nahe, über körperbezogene Psychotherapieverfahren einen Zugang zu noch nicht sprachlich codierten Erlebnissen zu finden, die damit dem sprachlichen Ausdruck und Austausch zugänglicher gemacht werden können. Jede körperbezogene Psychotherapie bezieht daher das Erleben des eigenen Körpers aktiv in den psychotherapeutischen Prozess mit ein. Unter anderem durch Wahrnehmung des eigenen Körpers, auch der Atmung, Bewegung, Berührung, Körperhaltung und verbalen Austausch können körperbezogene Methoden sowohl zu einer Art „Umstimmung“ eingefahrener vegetativer und motorischer Fehlhaltungen führen, als auch die mit diesen Phänomenen eng verbundenen emotionalen und kognitiven Abläufe anregen und bewusster erleben lassen. Damit fördern sie, in Verbindung mit der Verbalisierung und innerhalb des Beziehungsfeldes zum Therapeuten, das Erleben sowie die Veränderung und Integration bisher unintegrierter Anteile der Persönlichkeit. Dadurch verändert sich auch allmählich das Bild vom eigenen Körper, wie Untersuchungen zum Körperbild, als Basis des eigenen Selbstbildes, z.B. mit Hilfe der mit geschlossenen Augen plastizierten Körperbildskulptur (v. Arnim, 2002), zeigen. Dazu zum Schluss noch ein ganz kurzer Ausschnitt aus Körperbildinterview 2 von Frau M: I: Jaa .. Was sagen Sie zu Ihrer zweiten Figur? M: Die Arme bleiben lang (lacht) .. aber sie hat ein Gesicht gekriegt! .. Und dat lächelt sogar. I: Und das war Ihnen wichtig? M: Ja. (nickt vehement) … Ich hab einiges, was ich jetzt hier mitnehme aus den Therapiestunden. I: Was denn zum Beispiel? M: Die Inneren Helfer, die Imagination mit dem Inneren Ort. Das sind zwei Sachen, die ganz, ganz doll bei mir greifen. … So (zeigt auf die Skulptur)…. Ich hatte nämlich extra die Beinchen auch schon ein bisschen gezogen! Die sollten nämlich schön mit Bodenhaftung sitzen! Jetzt ham’ wer se so, wie se sein sollen! I: Also, das wollten Sie eigentlich. M: Eigentlich, ja. Eigentlich schon so, zwar teilweise auf dem Boden bleibend, nicht abheben, aber trotzdem auch mal locker werden .. I: Aha, ok! M: .. und nicht mehr ganz so verspannt wie vorher.

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I: ... Und was verbinden Sie damit, so mit dem am Boden bleiben? Was heißt das für Sie speziell? M: Mmh, nicht mehr die Kontrolle zu verlieren. Nicht mehr so zu verlieren, wie wir es hier auch schon hatten, sondern wirklich zu merken, irgendwo wieder der Fels in der Brandung zu werden. Weil ich dadurch wahrscheinlich auch mit meinen Problemen dann anders umgehen kann. Und nicht mehr irgendwo immer die Flucht nehme, sondern dadurch wirklich mal sagen kann: So! Heute nehmen wir das in Angriff, und es bleibt dann auch mal dabei. Zusammenfassung: Die FE ist körpertherapeutisch, körperpsychotherapeutisch und präventiv-pädagogisch anwendbar. In allen 3 Anwendungsbereichen steht – vermittelt über die Arbeit am bewussten und unbewussten Körperbild - das Wirkprinzip Verbesserung der Selbstorganisationsressourcen durch Aktivierung des eigenen Heilungssystems im Vordergrund. Die Arbeit am Körperbild ist somit eine Kern-Kompetenz innerhalb des salutogenetischen Potenzials unserer Methode.

Literatur: Eigene Publikationen zum Thema: Arnim A. v., Lausberg, H, Joraschky P, Körperbild-Diagnostik, in „Analyse der Lebensbewegungen“, Geissler P, (Hrsg.) Springer, Wien, New York, 2007 Arnim A.v., Körperbezogene Therapie bei traumatisierten Menschen, in: Körper und Persönlichkeit, Kernberg, O.,Remmel A,(Hrsg.) Schattauer, 2006 Arnim A. v. (1996): Funktionelle Entspannung In: Herrmann J. M., Lisker H, Dietze G. J. (Hrsg.): Funktionelle Erkrankungen, S. 205-219, München, Urban & Schwarzenberg Arnim A. v. (1997): Das Wunderknäuel. In : Uexküll v T, Fuchs M, Müller-Braunschweig H, Johnen R (Hrsg.) Subjektive Anatomie – Theorie und Praxis körperbezogener Psychotherapie. Stuttgart, Schattauer, 1994, 2. Auflage 1997. Beiträge Arnim A. v.: S. 102 – 118, S. 135 – 143, S. 8 – 10, S. 86 – 92, S. 160 – 169. Arnim A. v. (1998): Funktionelle Entspannung als Therapie bei Autodestruktion. In: Wiesse J , Joraschky P. (Hrsg.) Psychoanalyse und Körper (S. 9-26) Psychoanalytische Blätter, Bd. 7. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Arnim A. v., Joraschky P. (1999): Körperbezogene Psychotherapieverfahren. In: Egle TU et al (Hrsg.) Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung. 2. Auflage; Schattauer Arnim A. v. (2001): Frühes Trauma und körperbezogene Psychotherapie (am Beispiel der Arbeit mit Funktioneller Entspannung) In: Milch W, Wirth H-J (Hrsg.) Psychosomatik und Kleinkindforschung, . Gießen, edition psychosozial S. 199-216

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Arnim A. v. (2002): Integrierte Medizin und körperbezogene Therapieansätze. In: Uexküll,T.v., Geigges, W., Plassmann,R. (Hrsg): Integrierte Medizin. Modell und klinische Praxis. Schattauer Stuttgart- New York; S. 257-289 Arnim A v (2009): Spielregeln fürs Leben – FE und Selbstregulation. In: Herholz, I.,Johnen,R., Schweitzer,D. (Hrsg.)"Funktionelle Entspannung - Das Praxisbuch". Mit Funktioneller Entspannung zum therapeutischen Erfolg.Schattauer Verlag Stuttgart New York, S. 23-29 Arnim A v (2009): „Das bin ja ich!“ – FE und Körperbildskulpturen bei einer Schmerzpatientin. In: Herholz,I., Johnen,R., Schweitzer,D.(Hrsg.)"Funktionelle Entspannung Das Praxisbuch". Mit Funktioneller Entspannung zum therapeutischen Erfolg. Schattauer Verlag Stuttgart New York, S. 103-109 Arnim A v, Joraschky P (2009):Körperbildskulpturtest bei Fibromyalgiepatientinnen. In:Joraschky,P., Loew,T., Röhricht, F. (Hrsg.) : Körpererleben und Körperbild. Ein Handbuch zur Diagnostik. Schattauer, S. 192-201 Arnim A v (2009): Funktionelle Entspannung. In: Thielen,M.(Hrsg.) Körper-GefühlDenken. Körperpsychotherapie und Selbstregulation. Psychosozial-Verlag Gießen Arnim A v (2008): Funktionelle Entspannung bei Patientinnen mit Anorexia Nervosa, in:Joraschky,P., Lausberg,H., Pöhlmann (Hrsg) : Körperorientierte Diagnostik und Psychotherapie bei Essstörungen. Psychosozial-Verlag Gießen, S. 229-254 Weiterführende Literatur: Fuchs M (1997): Funktionelle Entspannung, Theorie und Praxis eines körperbezogenen Psychotherapieverfahrens, 6. Aufl. Hippokrates, Stuttgart Krause R (1983): Zur Taxonomie der Affekte, Psychosomatik,Psychotherapie und me dizinische Psychologie 38: S. 77-86 Krietsch S, Heuer B (1997): Schritte zur Ganzheit, Gutstav Fischer, Stuttgart, Lübeck, Jena, Ulm Maturana H R (1982): Die Organisation des Lebendigen. In: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig / Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn Stern D N (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings, Klett-Cotta, Stuttgart Winnicott D W (1994): Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse, Fischer TB , Frankfurt

Vortrag im Rahmen der Jahrestagung der AFE in Rothenburg, Nov.2012

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Verena Lauffer

Funktionelle Entspannung (FE) am Beispiel einer Traumatherapie Von der Freundlichkeit des Leibes – wie Symptome der Heilung dienen

»Seufzen ist eine feine Sache« »Mit dem Leib mit Liebe umgehen« »Krankheit ist nicht mehr ein Besitz, sondern Lebensäußerung in Veränderung« »Der Wille ist es nicht« Dies sind Kerneinsichten von Frau L. Der Zusammenarbeit mit ihr verdanke ich den Fallbericht, von dem Teile aus meinem Artikel im FE Praxisbuch (Lauffer 2009) entnommen sind. Die Therapie fand statt in den Rahmenbedingungen einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie von 100 Stunden während sieben Jahren. Die 65-jährige Patientin kommt zu mir empfohlen durch ihren Schmerztherapeuten. Sie läuft mithilfe zweier Unterarmgehstützen und kann nur eine Gehstrecke von 20 Metern bewältigen. Ich bin verwirrt von der Vielzahl von Diagnosen und dem in meiner Fantasie damit unerfüllbaren Therapieauftrag. Die Diagnosen lauten u.a.: »Schmerzstörung in Verbindung mit sowohl psychischen als auch medizinischen Krankheitsfaktoren, chronische Osteomyelitis nach Umstellungsosteotomie der linken Hüfte 1969, Polyneuropathie seit 1980, Coxarthrose rechts, Totalendoprothese links 1994, Fibromyalgie, Migräne, arterieller Hypertonus, Osteoporose, Sicca-Symptomatik der Augen, verschiedenste Allergien.« Frau L. sitzt mir sehr korrekt, bemüht und angestrengt gegenüber, wirkt auf mich einerseits verborgen hoffnungsvoll, andererseits vorsichtig und misstrauisch. Sie ist Ärztin und schildert mir sehr klar und sachlich ihre Krankheitsgeschichte und Teile ihrer Lebensgeschichte. Sie sei bei Breslau in liebevollen familiären Verhältnissen aufgewachsen. Die Eltern waren Bauern. Wegen einer angeborenen Hüftdysplasie musste sie bis zum dritten Lebensjahr häufig ins Krankenhaus und circa einjährig ein halbes Jahr im Gipsbett verbringen. 1945 während der Flucht und später als Flüchtlingskind erlebte die Patientin wiederholt Traumatisches, was in der Therapie im Lauf der ersten 50 Stunden allmählich Sprache fand. Ich erfahre zunächst noch von ihrer Osteomyelitis, die nach einer Hüftoperation vor 40 Jahren lange nicht erkannt, dann verschwiegen wurde. Ihre Schmerzen seien von Ärzten abfällig kommentiert worden. Mir fällt neben ihrem Misstrauen und ihrer Ablehnung in diesem ersten Kontakt ihre Kieferspannung auf. Ich frage sie, ob wir als Einstieg versuchen könnten, für

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diese Spannung etwas Hilfreiches zu finden. Sie entdeckt dann die Möglichkeit, sich im Rücken an der Lehne des Stuhles zu entlasten und dabei den Kiefer ein wenig hängen zu lassen. Als Therapieziel für den Anfang einigen wir uns darauf, dass es darum gehen könnte, behutsamer mit sich an den gegebenen Grenzen umzugehen, vielleicht zu versuchen, unangenehme Spannungen loszulassen – wie vorhin die Spannung im Kiefergelenk –, und mit den sich dann ergebenden Veränderungen umzugehen. In den ersten Stunden fangen wir an, weiter Vertrauen zueinander zu gewinnen, indem wir – ganz auf den Moment bezogen – wahrnehmen, wie sich Tun und Lassen leiblich anfühlt, und was ein wenig Erleichterung bringen kann. Es geht dabei zunächst nicht um Biografisches, sondern um die Arbeit mit dem Gegenwärtigen. Worte für die leibliche Empfindung zu finden. Wir arbeiten daran, leibliche Störungen als Hinweis für Ruhebedürfnisse oder andere übergangene Grundbedürfnisse zu beachten, und orientieren uns am Wohlgefühl. So entdeckt sie, dass ihre Schmerzen weniger werden, wenn sie sich erlaubt, die schmerzenden Gegenden mit einem für sie stimmenden Laut zu begleiten und danach im Nachspüren sich selbstregulativen Veränderungen zu überlassen. »Seufzen ist eine feine Sache.«

Zum methodischen Vorgehen der FE Das für Frau L. Entspannung schenkende und Schmerzen erleichternde Seufzen hat zusätzlich zum Klagen-Dürfen oder hörbaren Ausdruck für Schmerzen Finden in der FE eine besondere Bedeutung. Marianne Fuchs (geboren 1908, gestorben 2010), die Begründerin der Funktionellen Entspannung, entwickelte in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts in Auseinandersetzung mit der anthropologischen Medizin Viktor von Weizsäckers einen Zugang zum leiblichen Unbewussten über den indirekten Umgang mit dem Atemrhythmus. Sie schreibt: »Sich-Annehmen, Sich-leben-Lassen hat mit dem unbewußten Atemablauf zu tun, der durch die FE frei werden soll« (Fuchs 1997, S. 30). Weiter: »Im gelösten Atemrhythmus wird eine ›ordnende Instanz‹ zwischen Bewußtem und Unbewußtem erfahren. Das Schwingende und Befreiende des Eigenrhythmus kommt in Gang, also nicht durch aktives und direktes Tun, sondern durch Loslassen, das in den unbewußten autonomen Antrieb des Zwerchfells übergeht. Im autonomen Antrieb liegt die elementare Grundlage der Spannkraft« (ebd., S. 31). Sie fasste ihren Erfahrungsschatz in den sogenannten Spielregeln zusammen, in denen sich die Achtung des Rhythmusprinzips als ordnende Kraft ausdrückt (wahrnehmen, bewegen wird indirekt mit dem Atemrhythmus verbunden – erste Spielregel, in der begrenzten Wiederholung nochmal ausprobiert – zweite Spielregel, sich im Nachspüren überlassen und Worte finden – dritte Spielregel). So wird versucht, zu einer Aktivierung des autonomen Rhythmus, einer Balance zwischen parasympathischem und sympathischem System zu kommen. Eine Bestätigung dieses Vorgehens findet sich bei Porges. Er bildet mit der Polyvagal-Theorie, der Unterscheidung von verschiedenen vagalen Zweigen, die unterschiedliche autonome Reaktionen ermöglichen, Hypothesen zu Zusammenhängen zwischen Affektregulation, Emotionen, visceralen Empfindungen und autonomer Regulierung im Dienst der Bindung und Kommunikation. »Außerdem fördert langsames Ausatmen, der mit ausdrucksstarken sozialen Vokalisationen assozi-

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ierte respiratorische Prozeß, eine Wirkung des myelinisierten Vagus auf das Herz, die ruhige Zustände begünstigt« (Porges 2010, S. 222). Für Frau L. war das Seufzen »eine feine Sache«. Ihr tat es gut, sich dem Seufzen (Phase der Ausatmung) zu überlassen und über die Aktivierung von Loslassen, Entspannen, den parasympathikus-verstärkenden Anteil des vegetativen Systems zur Vitalisierung ihres Rhythmus zu kommen. Für einen anderen Menschen, der vielleicht schon sehr verausgabt ist, kann es nötig sein, auf indirektem Weg sich zunächst einer anderen Phase des Atemrhythmus zuzuwenden, um zu Balance und Vitalisierung des autonomen Rhythmus zu gelangen. In der methodischen Vorgehensweise der FE versuchen wir, den Patienten einerseits in seiner Selbstregulationsfähigkeit zu stärken, andererseits mit den im Leib prozedural gespeicherten impliziten Erfahrungen umzugehen und stimmende Antworten auf Impulse zu finden. Wir begleiten den Patienten dabei, sich zu spüren, Bewegungsimpulse, Berührungswünsche oder was »es braucht« wahrzunehmen und zu realisieren, mit Worten zu versuchen, die leiblichen Empfindungen und auftauchenden Gefühle zu beschreiben, dem Gefundenen nachzuspüren und sich den selbstregulativen Vorgängen zu überlassen. So wird ein dynamischer Selbstumgang ermöglicht und können Bedürfnisse aufgenommen werden. Systematisch regen wir im Patienten einen Dialog an zwischen den verschiedenen Ebenen, dem Leib – dem Empfinden –, der emotionalen Gefühlsebene, der geistigen Ebene – Worte und Sprache finden für bis dahin Unbeachtetes – und der sozialen Ebene – der Auswirkung des Wahrnehmens, Bewegens und Nachspürens für das Tun im Miteinander. Eberhard Eberspächer beschreibt diesen Vorgang des Ebenenwechsels als ein »zielorientiertes, individuelles und situationsspezifisches Zusammenwirken von Psyche und Soma« (1986, S. 2–7). Th. v. Uexküll und Kollegen benennen die FE als eine Methode, »das Unbemerkte im Körper zu bemerken« (zit. n. Arnim 2002, S. 272). In diesem Vorgehen ergänzen und erweitern sich die Ressourcen der verschiedenen Ebenen und es kommt zu einer kleinschrittigen Verknüpfung von bis dahin Unbemerktem, Unbewusstem, Vorbewusstem, bewusst Werdendem und Bewusstsein, einer Verknüpfung von implizitem und explizitem Gedächtnis. Lebensgeschichtlich formuliert eine Verbindung von präverbalem Erleben bis in den pränatalen Erfahrungsraum hinein mit dem Gegenwärtigen. Neurobiologisch können wir diese dynamische Verknüpfung von Vegetativem und Kognition als Vernetzung verschiedener Hirnanteile verstehen, dem jüngeren Neocortex mit dem Sitz des Sprachverständnisses mit dem phylogenetisch älteren, den vegetativen Bereich regelnden limbischen System und dem noch älteren, für Reflexmechanismen zuständigen Reptiliengehirn. Es geschieht eine sehr kleinschrittige Integration von Top-Down zu Bottom-Up und umgekehrt. Im Moment des Dialogs mit einem Patienten gehen wir begleitende Therapeuten in einen entsprechenden Dialog der Ebenen mit uns selbst. In diesem dreischichtigen Dialog, im sich Einlassen auf sich und den anderen, geschehen zwischen PatientIn und TherapeutIn besondere, zunächst präreflexiv ablaufende Resonanzphänomene, Vorgänge der Synchronizität und Abstimmung. Auf diese Weise entwickelt sich ein intersubjektiver Raum der Zwischenleiblichkeit, ein vorher nicht denkbarer oder planbarer Möglichkeitsraum. M. Fuchs sprach von »lebendig machender Gegenseitigkeit«. Die Orientierung in der Zusammenarbeit gibt die leibliche Auswirkung.

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Zur gemeinsamen Gestaltung des intersubjektiven Möglichkeitsraums zunächst ein Beispiel aus der Zusammenarbeit mit Frau L., das den Settingswechsel betrifft. Durch Kopfschmerzen und den Einfall von Frau L., Liegen könnte gut tun, kommen wir dazu, statt wie bisher im Sitzen im Liegen weiter zu arbeiten. Für die folgenden Stunden wird dies der bleibende Wunsch von Frau L. Eine weitere Änderung des Settings entsteht durch Frau L.s Klage, die Zeit reiche ihr nicht aus. So verlängern wir auf 90 Minuten pro Termin, was sie als stimmig erlebt. Im Laufe der Therapie stellt sich noch eine weitere Settingsänderung ein, die mich zunächst sehr verwundert. Immer häufiger passiert es mir, dass ich mich während unserer Stunden selbst hinlege. Nach Reflexion der Gegenübertragung verstehe ich diesen Impuls am ehesten aus dem leiblichen Resonanzphänomen heraus. Es ist wohl wichtig, dass ich während unserer Begegnungen genauso konsequent mit mir leiblich umgehe, wie die Patientin es versucht zu finden. Dass ich meine Impulse und Entlastungswünsche ebenso ernst nehme, wie die Patientin es für sich entwickeln möchte. Das konkrete Verwirklichen meines Resonanzphänomens führt für mich zu einer entspannteren vegetativen Gestimmtheit, die sich über Spiegelungsvorgänge wiederum auf die Patientin auswirkt. Dies erscheint mir für die Gestaltung und Wirksamkeit unseres zwischenleiblichen Raumes grundlegend für die weitere therapeutische Arbeit.

Der Umgang mit dem Resonanzphänomen Der Umgang mit dem Resonanzphänomen, vor allem den leiblichen Anteilen, ist ein zentrales therapeutisches Instrument in der FE. Er dient zum Teil der Realisierung von Passung zwischen Patient und Therapeut (Uexküll et al. 2002) sowie der Beachtung von selbstregulativen Notwendigkeiten für Therapeuten als Schutz vor Sekundärtraumatisierung. Wenn wir das Resonanzphänomen beachten, gehen wir der Frage nach, was nehme ich bei mir an Veränderung wahr, wenn ich Dir begegne. Es können leibliche Empfindungen, Wahrnehmungen aus allen Sinnesmodalitäten, Bilder, Gedanken, Assoziationen, Handlungsimpulse etc. auftauchen. Es handelt sich zunächst um flüchtige Vorgänge, die wechselseitig geschehen und es geschieht spontanes, vorgedankliches, intuitives Verstehen. Das Resonanzphänomen umfasst zum Teil Gegenübertragungsphänomene als Antwort des Therapeuten auf die einverleibten Erfahrungen des Klienten wie projektive Identifizierung als eine Weise des Aufnehmens, Haltens und Umformens, geht über Bions Begriff des Containments, der bergenden Hülle, hinaus und meint das Berührtund Verändertwerden auf allen Ebenen. V. v. Weizsäcker beschrieb das folgendermaßen: »Darüber hinaus aber gelingt ein Fortschritt ausschließlich dort, wo der Arzt selbst den Kanon seiner Haltungen gemeinsam mit dem Kranken aufgibt«(1986, S. 188). Da wir in der FE nicht als vordringliches Arbeitsinstrument die Transformation einer Symptomneurose in einen Übertragungsvorgang haben, sondern orientiert an der leiblichen Auswirkung versuchen, eine neue Erfahrung zu ermöglichen, die passenden Antworten auf Impulse zu finden, wird der Begriff des Resonanzphänomens in seiner offenen Gefasstheit dem phänomenologischen Ansatz der FE gerecht und erweitert die Begrifflichkeit der Gegenübertragungsvorgänge.

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Um die Voraussetzungen dafür in der therapeutischen Haltung zu beschreiben, möchte ich nochmals V.v.Weizsäcker zitieren. Er schildert die Phänomenologie bei Max Scheler auf eine Weise, wie sie für die dem Resonanzphänomen zu Grunde liegende Haltung zutreffend ist: »Denn für ihn ist Phänomenologie ein aufgeschlagenes Auge, eine geöffnete Hand, also eine Empfangsbereitschaft, die von der liebenden Art ist« (Weizsäcker 1956, S. 73–76). Wenn wir uns, ohne zu bewerten, unserem Gewahrwerden der Veränderungen unserer leiblichen Empfindungen überlassen »in einer Empfangsbereitschaft, die von der liebenden Art ist«, sowohl für uns selbst als auch für das Gegenüber, können wir die auftauchenden Resonanzphänomene vorbehaltlos würdigen und nutzen für die Gestaltung des gemeinsamen Vorgehens. Als neurobiologisches Format für die Resonanzvorgänge beschreibt J. Bauer (2005) die spontan, unwillkürlich und ohne Nachdenken einsetzende, vorsprachliche Funktion der Spiegelneurone. Er unterscheidet zwei Spiegelungserfahrungen, die konkordante (intuitiv, mitfühlend, bestätigend) und die komplementäre (ergänzend, weiterführend). Im Wahrnehmen des leiblichen Resonanzphämonens ist es zunächst noch eine Einheit von Konkordantem und Komplementärem. Die Unterscheidung wird möglich durch den achtsamen Selbstumgang des Therapeuten auf der Basis seiner körperpsychotherapeutischen Selbsterfahrung und im Austausch mit dem Patienten über die wahrgenommenen Veränderungen. Im komplementären Anteil, der Wechselseitigkeit des Geschehens und dem Austausch darüber, liegt eine wesentliche Chance, mit dem Patienten eine Weiterentwicklung von bis dahin blockierten Möglichkeiten zu finden. In der oben beschriebenen kleinschrittigen Systematik der FE, im Patienten einen Dialog der verschiedenen Ebenen anzuregen, dabei als TherapeutIn mit sich in einem entsprechenden Dialog zu sein, sowie miteinander einen Dialog zu führen, finden auf allen Ebenen diese Resonanzvorgänge statt. So stimmen sich Therapeuten und Patienten wechselseitig ständig aufeinander ein, synchronisieren sich immer wieder neu. D. Stern schreibt dazu: »Damit eine andere Person eine Resonanz in uns finden kann, müssen wir unbewußt mit ihr synchronisiert sein« (2005, S. 93). In Anlehnung an Winnicott entspricht dies der Situation einer genügend guten Mutter, die im Zusammensein mit ihrem Kind sich an dessen Bedürfnisse anpasst und gleichzeitig sich selbst beachtet in ihren Notwendigkeiten. Aus der langjährigen Erfahrung mit frühverletzten und schizophrenen Patienten benennt es Sophie Krietsch, Lehrbeauftragte für FE, so: »Die Ich-Strukturen Halt und Abgrenzung sind die Basis für eine keimende Beziehungsfähigkeit« (Krietsch/Heuer 1997, S. 116). Resonanzphänomene in Therapeuten sind in ihrer Bedeutung oft erst im fortlaufenden therapeutischen Prozess zu verstehen. Die Umsetzung von daraus entstehenden Impulsen müssen Therapeuten als Teil ihrer Kokreativität verantworten. Die Verwirklichung meines Impulses, mich während der Arbeit mit der Patientin hinzulegen, wurde mir in seiner Tragweite erst später verständlich, als die Patientin Zugang fand zu ihren tiefen Traumatisierungen. Wirksam für unsere Zusammenarbeit war sicher, dass dadurch in mir im Moment unserer Zusammenarbeit eine möglichst gut entspannte, Gelassenheit und Sicherheit signalisierende, vegetative Verfasstheit auf die Patientin ausstrahlen konnte. Stephen W. Porges beschreibt in der Darlegung der Polyvagal-Theorie als neurophysiologische Grundlage in der Therapie die Feinfühligkeit von Säugetieren für den physiologischen Zustand ihrer Artgenossen. Auf diese Weise wird

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zwischen Artgenossen kommuniziert, welche Situation vorliegt – die Notwendigkeit zu Kampf oder Flucht oder die Möglichkeit zu Entspannung und prosozialem Verhalten. Allmählich beginnen sich über das Spüren Erinnerungen einzustellen, zunächst aus der Zeit vor 40 Jahren, als nach ihrer Hüftoperation ihre lange Krankheitsgeschichte begann. So tauchen jetzt Phantomschmerzen auf an drei Zähnen, die vor langer Zeit wegen der Suche nach einem Osteomyelitisherd zu Unrecht gezogen wurden. Hilfreich wird, Bewegungsimpulsen zu folgen, Berührungswünsche zu beantworten, sich dann liebevoll bei den Zähnen zu bedanken für das, was sie auf sich nehmen mussten, und den Zähnen zu sagen: »Es tut mir leid, dass ich Euch nicht besser schützen konnte.« Daraufhin spürt sie, wie es im Kiefer ruhig wird. Sie staunt darüber sehr und nennt es: »Mit dem Leib mit Liebe umgehen«.

Üben ohne Übungen im Dienst der Einverleibung Über das Nachspüren und Erinnern in den Zeiten zwischen den Stunden findet ein Einverleibungsprozess statt, in dem die Einverleibungen der historisch gültigen Vergangenheit durch die neue Erfahrung in eine neue funktionale Vergangenheit verwandelt werden. Im Nachspüren, Erinnern, wieder Ausprobieren der neuen Erfahrung geschehen Schritte zur Selbststärkung und Selbstfürsorge. Neue synaptische Vernetzungen werden gefestigt. Dies nimmt bei unterschiedlichen Menschen und unterschiedlichen Traumatisierungen verschiedene Wege, die ich nur individuell aufnehmen und würdigen und nicht verallgemeinernd zuordnen kann. Manchmal stellen sich traumatisierende Erfahrungen in mehreren Stunden immer wieder ein und führen so zu einer Vertiefung der Lösungsarbeit, bevor sie als stabile neue affektmotorische Tendenzen in den Alltag integriert werden können. Und manchmal nimmt es den umgekehrten Weg: Die im Leib angelegten lebendigen Möglichkeiten werden in unserem gegenwärtigen, von den traumatischen Vergangenheitserinnerungen nicht belasteten, intersubjektiven Raum zunächst entdeckt, ausprobiert und zum Teil als neue Seinsweise in den Alltag mitgenommen. Erst später, auf dem Boden dieser neuen Sicherheit, wird es möglich, eine Spur zu den traumatisierenden Erfahrungen zu finden. Auf den Spuren einverleibter Biografie kommen wir in mehreren Schritten zu den traumatischen Erfahrungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Ausgehend vom gegenwärtig Spürbaren lassen wir uns leiten von ihren Schmerzen zu leiblichen Veränderungsimpulsen, zu Wohlgefühlen und Resonanzen, die zwischen uns auftauchen. Beispielhaft aus einer Stunde: Die Patientin nimmt ihre Kopfschmerzen »wie Schraubzwingen« wahr, und sie entdeckt den Wunsch nach ausstreichender Berührung. Am Kopf wird es leichter. Dem Gefühl der Enge auf der Brust folgend legt sie sich auf den Bauch. Wegen ihrer Schmerzen am Steiß frage ich sie, ob ihr eine Berührung dort gut tun könnte, was sie bejaht, sodass ich sie dort mit meiner Hand berühre. Die Art der Berührung – Ort, Druck, Intensität – bestimmt die Patientin. Dabei taucht in meinem Kopf dauernd der Satz »meine liebe Kleine« auf, den ich schließlich der Patientin sage. Sie erinnert dann Erlebnisse als Achtjährige auf der Flucht, die Erschießung zweier Onkel, die sie mit ansehen musste, die Verletzung der Mutter. Sie beginnt zu weinen. Auf meine Frage, wie sie als Erwachsene mit dieser Kleinen umgehen würde, nimmt sie jetzt liebevoll

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die Kleine in die Arme und streichelt sie, weint dabei und spürt mit, wie es sich wohlig auswirkt. Sie findet Laute und Worte für ihre Trauer und Wut, und sie versteht manche ihrer Schmerzen als Revolte des Körpers nach außen. Später versteht sie sich mit ihrer Krankheit so, dass sie sagt: »Krankheit ist nicht mehr ein Besitz, sondern Lebensäußerung in Veränderung«.

Berühren in verantworteter Beziehung Der Umgang mit Berührung ist ein weiteres wesentliches Arbeitsinstrument in der FE. Es schließt mit ein, dass die Vorgänge der Übertragung und Gegenübertragung beachtet werden, d.h. die Berührung in der Beziehung verantwortet wird. Berühren hat vielfältige Funktionen: –

berühren, um einen lebendigen Halt zu geben



Berührung als annehmende, bestätigende, antwortende, ordnende Funktion



als Spürhilfe für abgespaltene Anteile



zur Ermutigung partieller Regression



als Bestätigung von aggressiven Impulsen



als Beziehungshilfe, im Da-Sein sich abgegrenzt erleben zu können.

Die Steuerung bleibt beim Patienten. Er bestimmt auch die Art und Weise des Kontakts, wie viel Druck, die Ausformung – Rücken an Rücken, mit den Händen oder vielleicht nur eine Fingerspitze, mit den Füßen, usw. In der Begleitung von Frau L. staunten wir beide immer wieder über ihre Feinfühligkeit, mich genau anweisen zu können, was gerade stimmig und hilfreich für sie war – manchmal ein Halten ihres Kopfes mit beiden Händen, manchmal nur eine Annäherung meiner Hand in jeweils verschieden weit entferntem Abstand von bis zu etwa einem dreiviertel Meter. Während des Berührens bleibt die Therapeutin mit sich im FE-Dialog und dem Prozess folgend im Dialog mit der Patientin. Beide orientieren sich an der leiblichen Auswirkung, und die Patientin bestimmt die Veränderung oder das Ende der Berührung.

FE und Traumatherapie Die Grundannahme ist das Vertrauen auf die Möglichkeit des Leibes, um die gesunden Fähigkeiten zu »wissen« bei allen durch das Trauma bewirkten Einschränkungen, Störungen, Verhinderungen, Verdrängungen, Abspaltungen. Es geht darum, Impulse, die sich verwirklichen wollen, aufzunehmen und ihnen die passende Entfaltung zu ermöglichen oder die für sie stimmenden Antworten zu finden. Die Grundlage für die Arbeit mit Traumaauswirkungen liegt in der FE wie in anderen Traumatherapien darin, zunächst für eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung sowie für Stabilisierung und Sicherheit zu sorgen und Zugang zu den Ressourcen zu finden. So suchen wir danach, dem Patienten –

Halt erfahrbar werden zu lassen (zum Beispiel bei Frau L. in der ersten Stunde beim Erleben, sich im Rücken anlehnen zu können),

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sich der eigenen Beweglichkeit versichern zu können, und damit



Zugang zur Wirkmächtigkeit wiederzugewinnen,



in der indirekten Verbindung mit dem Atemrhythmus das autonome vegetative System in seiner Selbstregulation zu stärken,



Grenzen erfahrbar werden zu lassen,



sich am leiblichen Wohlgefühl zu orientieren,



Impulse beachten zu lernen,



Gefühlen Raum zu geben und sie regulieren lernen,



auch im Störenden die Verbindung zu den kraftvollen Anteilen zu spüren.

Mit FE wird der Weg gesucht, vom sympathikotonen Schockerleben – Enge, Erregung, Stau, erhöhter Druck, erhöhte Geschwindigkeit, erhöhte Spannung in den Gelenken – oder der verbliebenen Erstarrung (vermittelt über den dorsalen Vagus; s. Porges 2010) hin zu kommen zum parasympathikotonen (von Porges beschrieben als über den ventralen vagalen Anteil vermittelten) Erleben von Ruhe, Erholung, Durchlässigkeit, im Fluss sein, gegenwärtig sein. Im Moment des Umgangs mit traumatischen Einverleibungen ist es notwendig, gleichzeitig die Verbindung zu den gesunden, kraftvollen Möglichkeiten zu halten. Das Sowohl-als-Auch im Gespür zu verfolgen, sich dem Leib anzuvertrauen, der über die Störungen zu den Lösungen führt. Das Erspüren der leiblichen Realität kann eine Ressource sein, z.B. die klare Abgegrenztheit der Füße im Kontakt mit dem haltgebenden Boden, die Festigkeit des eigenen knöchernen Gerüstes, die Beweglichkeit der Gelenke, die Schutz gebende Haut. Ebenso kann dies der bisher abgespaltene Ort der Traumatisierung sein und uns direkt in die Arbeit mit dem verletzten Anteil führen – ein sich zum Verschlingen auftuendes Loch, die verletzten Knochen, die vor Schreck erstarrten Gelenke, die grenzverletzte Haut. Es ist wichtig, offen zu sein für die unerwartete und ungewöhnliche Ressource. Dies hängt auch damit zusammen, dass in der Arbeit mit dem Leib die frühen Einverleibungen aktiviert sind. Sie sind dem expliziten Bewusstsein des Patienten meist unbekannt. Im Erfahrungswissen der Zellen sind sie jedoch gespeichert. Sie werden über die leiblichen Empfindungen des Patienten aufspürbar und können im Resonanzgeschehen des intersubjektiven Raumes als einverleibtes Beziehungswissen bearbeitet werden. Die Erfahrung aus der Arbeit mit dem pränatalen Raum ist, dass die Verarbeitung postnataler Traumata häufig Anschluss nimmt an frühere, pränatal erlebte (vgl. Renggli 2009). Das Traumaverarbeitungsmuster gleicht sich. Die frühen Traumata werden im Erleben des gegenwärtigen mit belebt und suchen mit nach einer Lösung. Möglicherweise hat das frühe Traumaerleben zum jetzigen geführt im Sinn einer Traumawiederholung. Im frühen Erleben geht es im innersten Kern um Sein-Dürfen und sich Verwirklichen-Wollen. Es braucht dann, Impulsen eine möglichst gedeihliche Antwort zu geben, die einverleibt wird und zu weiteren Impulsen führt. Für den gelingenden Umgang mit frühen Erfahrungen gilt das Gleiche wie im Umgang mit Traumaauswirkungen. Um die Arbeit damit zu ermöglichen und Patienten wie Therapeuten Schutz vor Sekundärtraumatisierung zu geben, ist es erforderlich, Druck in jeder Form herauszunehmen, Erwartungsdruck des Therapeuten wie auch

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Zeitdruck. Die Geschwindigkeit des Vorgehens sowie die Dosierung des traumatisierenden Materials bestimmt der Patient. Ein weiteres, den Druck verhinderndes Element liegt in der therapeutischen Haltung. Sie ist geprägt von einem feinfühligen Selbstumgang der Therapeuten, mit FE für sich gut zu sorgen, bei sich zu bleiben, auch für sich genauso unbestechlich liebevoll aufmerksam zu sein wie für die Patienten. Darauf zu achten, wie gut habe ich Halt, wie leicht, frei, beweglich bin ich, welche Gefühle bewegen mich, wo sind meine Grenzen und was brauche ich dann. Damit sorgen Therapeuten dafür, in einer Haltung bleiben zu können, die sichere Bindung anbietet, statt durch eigenen Stress die Bindung zum Patienten zu unterbrechen. Dies geschieht auf allen Ebenen, vor allem auf der leiblichen und vegetativen, die sich äußert in der Qualität der Stimme, des Blickkontakts, des Atemrhythmus, der Körperhaltung, der Durchlässigkeit der Gelenke und in allen auch minimalen Signalen des leiblichen Unbewussten. Dieser kleinschrittige FE-Dialog des Therapeuten mit sich selbst ermöglicht, den kokreativen Anteil des Therapeuten im intersubjektiven Möglichkeitsraum so zu regeln, dass eine situativ gut angepasste, vegetative Entspanntheit des Therapeuten wirksam wird. Darüber hinaus bietet die FE verschiedene Möglichkeiten im Umgang mit traumatischen Erfahrungen. Die Fähigkeit zur Selbstregulation wird gestärkt. Dazu noch einmal ein Blick auf die historische Einbindung der FE. Sie entstand in Deutschland in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Eine Zeit, in der fast alle Menschen traumatisiert waren, sich stabilisieren und in Ordnung bringen mussten. Im methodischen Vorgehen der FE findet sich ein großes Potenzial, verlorengegangene Ordnung in der leiblichen Orientierung wiederzufinden. Die indirekte Bindung von Tun und Lassen an den Atemrhythmus ermöglicht die dynamische Balance des autonomen Nervensystems. Im Erleben der durch den Patienten bestimmten, begrenzten Wiederholbarkeit einer Erfahrung wird das Gefühl von Sicherheit und Selbstwirksamkeit gestärkt: die Erfahrung, begrenzen zu können, anstelle grenzenlos ausgeliefert zu sein. Weitere Möglichkeiten liegen in der Arbeit mit verletzten Selbstanteilen und mit einzelnen, erinnerten Traumen. In der Arbeit mit verletzten Selbstanteilen, wie in der Zuwendung von Frau L. zu ihrem Zahnphantomschmerz, wird die Verbindung zu den gesunden Anteilen, Fähigkeiten und Resourcen genutzt. Zum Beispiel auch bei Schmerzen die sich relativ wohlig anfühlenden Gegenden wahrzunehmen und zu benennen, den Einfluss auf die schmerzenden aufspüren und zum spürbaren Dialog zwischen den Polaritäten einladen, das Sowohl-als-Auch gleichzeitig da sein lassen, die Auswirkung mit spüren. Auf andere Weise werden die gesunden, handlungsfähigen Anteile genutzt für die Unterstützung der verletzten. Z.B. in der Arbeit von Frau L. mit ihrem verletzten kindlichen Anteil. Aus den Fähigkeiten der Erwachsenen kam der Einfall, die 8-jährige Kleine in die Arme zu nehmen und dem kindlichen Anteil die der Situation angemessene liebevolle Zuwendung zu geben. Die leibliche Auswirkung davon wahrzunehmen, sich einzuverleiben und im Alltag immer wieder zu erinnern, nachzuspüren und neu aufzuspüren, ermöglicht dann eine neue Selbstbeelterung und wirkt selbststärkend. In dieser dialogischen Art ist es auch möglich, mit transgenerational vermittelten Anteilen umzugehen oder mit unterschiedlich dissoziierten Persönlichkeitsanteilen.

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In der Arbeit mit einem eingegrenzten, erinnerten Trauma können wir die Situation vor, während und nach dem traumatischen Ereignis durchgehen und auf unterbrochene selbstregulative Impulse achten, sie aufnehmen, zu Ende führen und in ihrer Wirksamkeit einverleiben. P. Levine (2010) beschreibt die unterbrochenen Orientierungsreaktionen, unterbrochenen Kampf- oder Fluchtreaktionen, das belebende Auftauchen aus einer Erstarrungsreaktion. Notwendige hilfreiche Einfälle können imaginativ eingeführt und in ihrer leiblichen Auswirkung gespürt werden. Dabei gehen wir in der FE meist nicht so systematisch vor wie von P. Levine beschrieben. Wir orientieren uns an den spürbaren Auswirkungen und vertrauen der ordnenden Funktion des Leibes. Verschiedene Traumaumstände und -folgen brauchen möglicherweise sehr unterschiedliche Schwerpunkte der Aufmerksamkeit für Schicksalhaftes oder Zeitgeschichtliches über das Individuelle hinaus. Die Frage ist, was braucht es noch Besonderes, dass das Leben gewürdigt und die Freude am Leben zelebriert werden kann? Zur weiteren Veranschaulichung der Möglichkeiten mit FE möchte ich eine Zusammenfassung einer Stunde gegen Ende der Therapie von Frau L. geben. Unser Termin liegt zufällig einen Tag vor Frau L.s 71. Geburtstag. Sie erinnert die Zeit, in der sie vor 40 Jahren nach der lange nicht erkannten Osteomyelitis mit entzündlicher Gehirnbeteiligung nur noch die Arme bewegen konnte und das Gehen wieder erlernen musste, das heute noch gestört ist. Ihr fällt auch ein, wie schlimm die Auswirkungen der Trennung von ihren kleinen Kindern damals waren. Und sie spricht von den Sorgen um ihren heute krebskranken Sohn. Morgen sei ihr Geburtstag, an dem vor sechs Jahren ihre eine Tochter mit der jüngsten Enkeltochter tödlich verunglückte. Wir schweigen für eine Weile. Dann frage ich sie, wie es sich jetzt leiblich anfühle. Sie beschreibt Druck auf der Brust, am Herzen und in der Lunge. Ich sehe die spontane Bewegung ihrer rechten Hand zum Brustkorb hin und frage sie, ob sie ausprobieren möchte, wie es sich anfühlt, wenn sie mit ihrer Hand über die Brust streicht oder ihre Hand aufs Herz legt. Sie legt die Hand still aufs Herz, nimmt wahr, wie der Brustkorb vorne und hinten verspannt ist, und bemerkt jetzt, wie schwierig es ist, durchzuatmen. Sie überlässt sich der Wärmespende ihrer Hand, sagt: »es sprüht heraus«. Sie nimmt wahr, wie sich die Verspannung teilweise löst, streckt sich spontan von Kopf bis Fuß durch und beschreibt mir, dass sich eine Blockierung im linken Brustkorb gelöst habe. Von der vorher blockierten Stelle aus strömt von hinten nach innen Wärme »wie von einem Ofen«. Wieder bilden sich Streckimpulse die ganze Wirbelsäule entlang bis in die Füße, sie dehnt den Brustkorb, folgt mit der Aufmerksamkeit der sich weiter ausdehnenden Wärme von hinten nach vorne und der Wärme, die aus ihrer Hand ausstrahlt. In dieser Art geht die Stunde weiter. Immer wieder tauchen schmerzende Stellen im Körper auf wie die Schultern, der Bauchraum, die Wirbelsäule. Sie hat dort besondere traumatisierende Erfahrung erlebt, z.B. osteoporose-bedingte Wirbelkörperbrüche. Jetzt entdeckt sie, dass sie sich in diesen Gegenden etwas Besonderes wünscht. Hilfreich ist ihr heute immer ihre eigene Hand. Manchmal tut es ihr gut, sich mit Tönen und Lauten in der Gegend zu streicheln, und jedesmal spürt sie sich ausdehnende Wärme und findet Streck- und Dehnimpulse. Ich spüre mit und assistiere nur, bringe ihr Kissen zum Abpolstern, als sie durstig wird, Wasser zum Trinken. Sie hat die ganze Zeit die Augen geschlossen, beschreibt eine innere Helligkeit (»wie eine Sonne«). Sie dehnt sich wieder, ist

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glücklich über das Geschenk der inneren Sonne und dankt dafür. Ich frage etwas vorschnell, was das Ganze für sie bedeute, sie meint: »weiß ich nicht«. Weil es im Rücken zu schmerzen beginnt, bewegt sie die Wirbelsäule, erlebt ihre Beine voll strömender Energie und meint: »Der Wille ist es nicht, … es sich einfach schenken lassen«. Sie bemerkt, wie es warm von unten nach oben den Rücken aufsteigt, sagt: »dazu braucht man Zeit, zum Loslassen, ausgesprochene Sorgen belasten nicht so«. Sie bewegt behutsam ihren Kopf, Schleim löst sich im Rachen. Sie spricht von gewachsenem Vertrauen, sich fallen lassen zu können, von dem Ansporn, sich zu öffnen und Größerem anzuvertrauen, das auch in jeder Zelle des Körpers wirksam ist. Sie beginnt mit den Füßen zu zappeln und sagt: »Ich mag meinen Körper heute!«, und staunt sehr. Dann steht sie über die Vierfüßler- Position auf und sagt lächelnd beim Verabschieden: »Ich möchte Ihnen ein individuelles Geschenk machen!« – als sie mir ihre warme Hand gibt. Ich spüre ihre Wärme und habe das Gefühl von vollen Händen, fühle mich voll Liebe und staune über das belebende Kribbeln in meinem zu der Zeit oft schmerzenden rechten Großzehengrundgelenk.

Zusammenfassung Am Beispiel des »Spezialfalls« einer Traumatherapie wurde die Vorgehensweise der Funktionellen Entspannung in ihrer körperpsychotherapeutischen Anwendung gezeigt. Der spezielle Zugangsweg zum leiblichen Unbewussten führt über die feinfühlige Beachtung elementarer Bedürfnisse der Patienten im leiblichen Dialog zur Verknüpfung der Ressourcen der verschiedenen Ebenen. Durch den gleichzeitigen dialogischen Selbstumgang der Therapeuten mit sich werden feine Abstimmungen, Synchronizität und Resonanzphänomene besonders nutzbar. Es entsteht ein Raum der Zwischenleiblichkeit, in dem Selbstregulationsvorgänge gestärkt werden und die Achtung der autonomen Balance Affektregulierung ermöglicht. Im Leib prozedural gespeicherte, implizite Erfahrungen werden aufgenommen. Die Orientierung an der leiblichen Auswirkung und die uneingeschränkte Wertschätzung der Fähigkeit des Patienten steuert den Prozess, die in den Störungen verborgenen Lösungsvorschläge des Leibes zu finden.

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Dieser Beitrag erschien erstmals unter dem Titel: "Funktionelle Entspannung (FE) am Beispiel einer Traumatherapie. Von der Freundlichkeit des Leibes – wie Symptome der Heilung dienen. In: Thielen, Manfred (Hg.): Körper – Gruppe – Gesellschaft. Neue Entwicklungen in der Körperpsychotherapie. Gießen (© Psychosozial-Verlag) 2013, S.373-387 © Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Psychosozial-Verlags Gießen 2013

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Ulrike Reddemann

Wieder in Balance kommen. Resilienzförderung als Basis der Potentialentfaltung bei Menschen mit Traumafolgestörungen Ich freue mich, bei Ihnen darüber zu sprechen, wie trotz Schwerem und Leid im Leben die Entwicklung von Resilienz gelingen kann. Ein gutes Eingekörpert - Sein halte ich für eine wichtige Ressource, der noch immer viel zuwenig Bedeutung beigemessen wird.. Im Rahmen meiner Arbeit mit schwer traumatisierten Menschen finde ich es immer wieder erstaunlich, wie diese es oft unter schwierigsten Bedingungen geschafft haben, zu überleben, und dabei ein erstaunliches Potential an Fähigkeiten entwickelt haben, mit Herausforderungen umzugehen. Die Suche und Stärkung resilienter Seiten und Stärken von KlientInnen ist - neben deren ausreichender Würdigung und der Anerkennung von momentanem Leid und Schmerz - die Basisvoraussetzung, um wieder in innere Balance zu kommen. Sie dient dazu, Fähigkeiten zur Stressregulation an die Hand zu geben. Erst bei ausreichenden Bewältigungsmöglichkeiten ist die Konfrontation mit belastenden Erfahrungen gut möglich. Die Resilienzforschung geht davon aus, dass es allen Menschen gut tut, ihre innere Widerstandskraft "Resilienz" zu stärken, um für Krisenzeiten gewappnet zu sein. Selbst den Stärksten unter uns rutschen in Zeiten schwerer Belastungen vorhandene Stärken weg, können dann aber schneller wieder aktiviert werden. Bei akuten Traumatisierungen wird deutlich, wieviel resiliente Kräfte in der Selbstorganisation unseres Körpers vorhanden sind. Im Laufe vieler Beratungen und psychotherapeutischer Behandlungen, auch mit anderen KlientInnen, habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Stärkung von Resilienz „gut tut“, dass sie die KlientIinnen für den Alltag stabilisiert, ihnen ihre Widerstandskräfte, Stärken und Fähigkeiten wieder bewusst werden lässt und sie sich damit wieder einen Schritt handlungsfähiger fühlen. Die weitere Arbeit an Schrecken und Leid, an dem, was eh von selbst da ist und auch immer wieder kommt, bekommt eine gute Basis. Resiliente Fähigkeiten machen das „Schwere leichter“, helfen in die eigene Präsenz zu kommen und tun auch mir als Therapeutin/ Beraterin zur Förderung von Selbstachtsamkeit gut. Nach Bessel van der Kolk muss ich in meinem Körper sein, um mit dem Körper zu arbeiten. Krankenraten und vor allem stressbedingte Erkrankungen, Depressionen u.a. nehmen erschreckend zu. Inzwischen wird der Resilienzansatz auch in Schulen, Unternehmen, im Militär und anderen Institutionen genutzt, um die Widerstandskraft und die Flexibilität von Mitarbeitern und Unternehmen zu fördern. Hier muss allerdings auch eine kritische Seite der Nutzung von Resilienzkonzepten angemerkt werden. Unser Arbeits- und Privatleben soll in unserer Gesellschaft rationell durchorganisiert werden. Es geht darum, Stress effektiv zu bewältigen, die besten Seiten im Menschen

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effizient zu aktivieren. All das geht heute, womit Wünsche nach schnellerem und Besserem bedient werden. Damit geht aber auch die Gefahr einher, dass ein menschliches Perfektionsideal bedient wird. Unser Leben ist kein Trainingslager zur Optimierung von Gewinn, Kriegseinsatz, Glück und Wohlstand. Gesundheit im ganzheitlichen Sinn heißt auch, Unangenehmes eine Weile auszuhalten: Leere, Mangel, Verluste, und sich grundlegende menschliche Werte bewusst zu machen, an denen wir unser Handeln ausrichten. Im Vortrag werden Möglichkeiten zur Ressourcenaktivierung und Erweiterung von Resilienz angesprochen, mit denen im Konzept der Psychodynamisch-Imaginativen Traumatherapie von Luise Reddemann gearbeitet wird. Dies sind u.a. Konzepte zur Salutogenese, der Positiven Psychologie, der FlowForschung, Resilienzforschung und der Gehirnforschung, soweit sie diese Konzepte untermauert. Resilienz (innere psychische Widerstandskraft) kommt von resilio = ich springe zurück (in einen Zustand des Wohlbefindens) Resiliente Menschen sind Glückskinder, Überlebenskünstler, wie „Hans im Glück“, sie haben eine innere Widerstandskraft oder innere psychische Stabilität gegenüber Belastungen. Es handelt sich um einen Idealzustand. Dabei bezeichnet Resilienz sowohl die Fähigkeit als auch den Prozess von Menschen oder auch von (Körper-) Systemen, sich immer wieder zu fangen und sich neu aufzurichten; trotz widrigster Umstände erfolgreich mit diesen Herausforderungen oder belastenden Situationen umzugehen, sich diesen anzupassen. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Werkstoffkunde und bezeichnet eine Flexibilität. Resiliente Menschen haben eine innere Fähigkeit, die dafür sorgt, weiterzumachen. Dabei fühlen sich resiliente Menschen nicht dauernd wohl, denn Veränderungen und das Überwinden von schmerzlichen Erfahrungen brauchen Zeit. Von akutem Leid betroffene Menschen mit hoher Resilienz finden schneller dahin zurück, auch ihnen wohltuende Momente wieder wahrzunehmen und dafür dankbar zu sein (z.B.nach 9/11, B. Frederickson, 2011). Resilienz kann als dialektischer Prozess gesehen werden, findet im Hin-und Herpendeln zwischen leidvollen und nicht-leidvollen Emotionen statt. Die Resilienzforscherin Ann S.Masten schreibt: „Die größte Überraschung der Befunde auf diesem Gebiet ist das Gewöhnliche an der Resilienz. Menschliche Resilienz in der Entwicklung entsteht offenbar durch das ganz normale Operieren protektiver Systeme, von denen wir einige zweifellos mit anderen Arten teilen... Was resiliente Individuen charakterisiert, sind aber normale menschliche Fähigkeiten, wie die Fähigkeiten zu denken, zu lachen, zu hoffen, dem Leben einen Sinn zu geben, zu handeln oder das eigene Verhalten zu unterbrechen, um Hilfe zu bitten und diese zu akzeptieren, auf Gelegenheiten zu reagieren oder Erfahrungen und Beziehungen zu suchen, die für die Entwicklung gesund sind...” (Masten, 2001, S.192 )

40 Ulrike Reddemann Resilienz bestimmt sich aus dem Verhältnis von Schutz- und Risikofaktoren. Resilientes Verhalten ist individuell und notwendigerweise veränderbar, wie auch Herausforderungen im Leben sich immer wieder neu stellen und individuelle Lösungsmöglichkeiten erfordern. Bei Menschen in Krisensituationen häufen sich Risikofaktoren, Schutzfaktoren fallen weg, Ressourcen sind verschüttet und zunächst ohne Zugriff. Es ist jedoch immer wieder erstaunlich, wie Menschen es oft unter schwierigsten Bedingungen geschafft haben zu überleben, dass sie dabei ein erstaunliches Potential an Fähigkeiten und Kräften entwickeln mussten, wie das auch die Forschungen zu Resilienz aufzeigen. Dieses "Gute im Schlechten" können KlientInnen im späteren Verlauf ihrer Behandlungen oft auch selbst sehen: Kl.:“Ich hatte eine schreckliche Kindheit voller Gewalt, aber sie hat mir auch ermöglicht, eine Feinfühligkeit zu entwickeln, mit der ich heute mein Brot verdiene.“ Andere sprechen von "Ausdauer, Geduld", "Spiritualität - ich wusste immer, es gibt etwas Unverletzliches, Geschütztes, ganz tief in mir". Entwicklung von der Pathologie- zur Resilienzorientierung Es gab in der Psychotherapie zwar schon immer auch Schulen und Schulenbegründer, die von Selbstheilungskräften überzeugt waren (C.G.Jung, C.Rogers, M.Erickson u.a. ). Negative Kindheitserlebnisse wurden dennoch lange Zeit als Garant für problematische Entwicklungen und das Fehlen von Widerstandskraft gesehen. Die Resilienzforschung wies deutlich darauf hin, dass dem nicht zwangsläufig so ist. Interessierte früher fast ausschließlich Pathologie, so ist heute verstärkt auch von Interesse, wie Menschen gesund bleiben oder wieder gesund werden können. Konzepte, die einen Resilienzansatz unterstützen, sind u.a. Salutogeneseforschung (A.Antonovsky) Resilienzforschung (E.Werner, R.Smith) Neuropsychologie (K.Grawe) Positive Psychologie (M. Seligman) Flow (M.Czikszentmihaly) Traumatric Growth Visualisierungen bei Krebskranken (C. Simonton) Logotherapie (V.Frankl) Achtsamkeitsarbeit Aaron Antonowsky definierte das Konzept des „sense of coherence“, der nach G.Hüther ein zentraler Faktor seelischer Ausgeglichenheit ist. A. hat in Israel Frauen untersucht, welche die Zeit im Konzentrationslager überlebten. Entgegen seinen Erwartungen hatten sie in den Wechseljahren keine besonderen Schwierigkeiten entwickelt, wenn a) sie dem Geschehenen einen Sinn zusprechen konnten, b) sich selbst als wirksam erlebten und c) das Schwere im Leben als Herausforderung sehen konnten.

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Resilienzforschung Ergebnisse der Resilienzforschung zeigen, dass Kinder mit erheblichen Belastungen zu erstaunlich kompetenten, leistungsfähigen und stabilen Persönlichkeiten heranwachsen können. Die PionierInnen der Resilienzforschung, Emmy Werner und Ruth Smith, haben in ihrer Langzeitstudie 40 Jahre, von 1955 bis 1995, auf der Insel Kauai (Hawaii) die Entwicklung von 700 Kindern beobachtet. Die Zusammensetzung der untersuchten Kinder entsprach einer Normalpopulation in den USA. 1/3 der Kinder entwickelte sich - trotz vieler Risikofaktoren wie chronischer Armut, elterlicher Psychopathologie und dauerhafter Disharmonie in den Familien - zu lebenstüchtigen Erwachsenen. Bei diesen resilienten Kindern zeigten sich schützende „personale“ Faktoren im Kind selber und soziale Ressourcen innerhalb und außerhalb der Familie (Gemeinde) als wesentlich. Diese Kinder hatten wenigstens eine sie beantwortende und fürsorgliche Bezugsperson, so dass ein Großteil der Kinder sogar sichere Bindungen entwickeln konnte. Sie waren aktiv in der Suche nach Lösungen, hatten ein gewinnendes Temperament und konnten so auch Erwachsene außerhalb ihrer Familie als wichtige Bezugspersonen gewinnen, die ihnen dann wiederum als Rollenmodell für eine gute Lebensbewältigung dienten. Resiliente Vorschul- und Schulkinder zeichnete eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung aus. Sie erwarteten, dass sie Ereignisse beeinflussen können, und dennoch hatten sie realistische Kontrollüberzeugungen; sie bewerteten Situationen realistisch und hatten eine hohe soziale Kompetenz sowie die Fähigkeit, sich Unterstützung bei Anderen organisieren zu können. Vom restlichen 2/3 der Kinder der Studie, die noch als Jugendliche erhebliche Probleme hatten, sog. „Risikojugendliche“, fanden der Großteil, immerhin ¾, bis zum 30/40 Lj. doch noch zu einem gesunden und befriedigenden Leben. Werner & Smith fanden bei diesen besonders auffällig: • eine hohe persönliche Kompetenz, sie hatten weitere schulische und berufliche Ausbildungen in Angriff genommen • Entschlossenheit, aktives, „proaktives Verhalten“ • Unterstützung durch einen Partner/Partnerin • Glaube/spirituelle Dimension Ähnliche Prozentzahlen wie in der Kauai-Studie sind aus der Traumaforschung bekannt. Etwa 70% der Menschen, die ein traumatisches Erlebnis erfahren, entwickeln daraufhin neue Bewältigungsstrategien und verarbeiten dies gut, nur bei etwa 25-30% der Betroffenen kommt es zu Traumafolgestörungen. _____ Ich lade Sie ein, kurz innezuhalten und sich bewusst zu machen, was Ihnen in schwierigen Situationen geholfen hat? Was hat Ihnen Mut gemacht? _____

42 Ulrike Reddemann Leidvolles gehört zum Leben dazu. Wichtig ist es, dies zu akzeptieren. Viele Menschen fühlen sich durch schwierige Kindheitserlebnisse eher gestärkt, wenn sie diese als Herausforderung sehen können, ihnen einen Sinn zusprechen können und sie sich dabei selbstwirksam/ handlungsfähig erleben, wie die israelischen Frauen in Antonovskys Untersuchungen. Sir M. Rutter, englischer Kinderpsychiater und ebenfalls ein Pionier der Resilienzforschung, hat 100 Mädchen eines Londoner Kinderheims untersucht, die trotz schwieriger Kindheit später überraschend gut zurechtkamen. Er betont, dass es um die individuelle Art und Weise geht, in der Menschen auf Risiken reagieren. So kommt es darauf an, wie ein Mensch seine Erfahrungen definiert (z.B. als Herausforderung, als Möglichkeit oder Bedrohung), wie seine Reaktion darauf verläuft (z.B. Planung, Bewältigung, Resignation oder Akzeptanz) und ob er eine adaptive oder eine schlecht angepasste Bewältigung wählt (z.B. Problemlösung oder Drogenkonsum). Auch jüngere Studien im deutschen Raum bestätigten die bisherigen Ergebnisse: - Mannheimer Risikokinderstudie: 364 Kinder (Laucht et.al., 2000) - Bielefelder Invulnerabilitätsstudie: 146 Kinder aus Heimen (Lösel, Bender, 2008) - BELLA Studie mit 4000 Kindern (Bengel, 2009) Leid und Probleme in der Kindheit können das Risiko für Lebensprobleme erhöhen, sie können jedoch nicht als ihre Ursache gesehen werden. In der neueren Forschung geht man davon aus, dass Resilienz kein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal eines Kindes bezeichnet, sondern dass es sich um eine Kapazität handelt, die im Verlauf der Entwicklung im Kontext der Kind-Umwelt-Interaktion erworben wird.

Schutz-und Risikofaktoren stehen in einer Wechselwirkung Im Hinblick auf die Entstehung psychischer und psychosomatischer Krankheiten sind folgende biographische Schutzfaktoren empirisch abgesichert: 1 • dauerhafte gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson • sicheres Bindungsverhalten • Großfamilie, kompensatorische Elternbeziehungen, Entlastung der Mutter • gutes Ersatzmilieu nach frühem Mutterverlust • das Vorkommen unterschiedlicher genetischer Varianten in dem Gen-Abschnitt, der für den Serotonin2-Transport sorgt, und im Monoaminooxidase-A3-Genabschnitt • überdurchschnittliche Intelligenz • robustes, aktives, kontaktfreudiges Temperament

1 2 3

Egle & Hardt, 2005 Serotonin gilt als „Glückshormon“, sein Mangel kann Depressionen fördern Baut u.a. Serotonin ab; Monoaminooxidase-Hemmer werden als Antidepressiva eingesetzt

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• • • • •

internale Kontrollüberzeugungen („self-efficacy“)1 soziale Förderung (z.B. Jugendgruppen, Schule, Kirche) verlässlich unterstützende Bezugsperson(en) im Erwachsenenalter lebenszeitlich späteres Eingehen „schwer auflösbarer Bindungen“ geringe Risiko-Gesamtbelastung

Gina O'Connell Higgins(„Resilient Adults - Overcoming a cruel past“), die sich mit Resilienz bei Erwachsenen beschäftigt, empfiehlt, Resilienz zu kultivieren. Auch die Resilienten brauchen es, an ihre Stärken erinnert zu werden. Diese können nach schrecklichen Erfahrungen „verschüttet“ sein und es bedarf, sie wieder nach oben zu holen, sie zugänglich zu machen. Resilienz hat mit Entwicklung zu tun; es gibt immer neue Herausforderungen bzw. man kann neue Freiheitsgrade erreichen. Soziales Eingebunden – Sein Wir sind als Menschen eine soziale Spezies, sozusagen "Bienenstockkreaturen". Der wichtigste Befund in allen Untersuchungen zur Resilienz nach belastenden Kindheitserfahrungen ist, dass diese Kinder sich gesund entwickeln, wenn sie wenigstens eine erwachsene Bezugsperson haben, die sich ihnen liebevoll zuwendet, die beantwortend und wertschätzend ist. Sie brauchte nicht dauernd verfügbar sein, aber es musste sie geben. Frau C., die wenig positive Erfahrungen in ihrem Leben findet, kann sich sehr gut an eine Nachbarin erinnern. Bei ihr wurde sie immer wieder mal nachmittags zum Zwetschgenkuchen eingeladen, den sie noch heute schmecken und riechen kann. Da Resilienz in einem spezifischen Lebensbereich nicht automatisch auf alle anderen Lebens- oder Kompetenzbereiche übertragen wird, können Menschen, die chronischen Konflikten im Privatleben ausgesetzt sind, z.B. hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit im Arbeitsleben resilient, hinsichtlich ihrer sozialen Kontakte und Beziehungen dagegen nicht resilient sein. Aus diesem Grund wird heute nicht mehr von einer universellen/ allgemeingültigen, sondern von einer situations- und lebensspezifischen Resilienz ausgegangen. Das Konzept der Resilienz richtet sich auf die Fähigkeiten, Potentiale und Ressourcen jeder einzelnen Person, ohne dabei Probleme zu ignorieren oder zu unterschätzen. Erfasst werden persönliche Ressourcen (Selbstreflektion, Lernfähigkeit, Kontaktfähigkeit, Humor), soziale Ressourcen (Familie, Freude, Berater, KollegInnen, Vorbilder), eine proaktive Grundhaltung. Die hohe Resilienz des Körpers spielt bislang keine Rolle, wobei dieser über eine enorme Fähigkeit verfügt, sich selbst zu organisieren und über bottom-up Regulationen (also vom Körper ausgehende) Emotionen und Geist reguliert, gleichlaufend zu den topdown Regulationen, die vom Kognitiven ausgehend in Richtung Körper wirken. 1 5

Die Überzeugung, dass das eigene Verhalten positive oder negative Ereignisse beeinflusst Fröhlich-Gildhoff et.al., 2007

44 Ulrike Reddemann Von Interesse ist bei Resilienz insbesondere, wie individuell mit Stress bzw. mit Stressbewältigung umgegangen wird und wie Bewältigungskapazitäten aufgebaut bzw. gefördert werden können. Die Fragestellung heißt grundsätzlich: „Was stärkt Menschen?" Als grundlegend wirksam zur Entwicklung von Resilienz haben sich aufgrund einer Analyse der bisherigen Forschungsergebnisse sechs Faktoren gezeigt, die zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, aktuellen Anforderungen und Krisen führen:1 Selbst-und Fremdwahrnehmung – angemessene Selbsteinschätzung und Informationsverarbeitung Selbststeuerung – Regulation von Gefühlen und Erregung, Aktivierung und Beruhigung Selbstwirksamkeit(serwartung) – Überzeugung, Anforderungen bewältigen zu können Soziale Kompetenzen – Unterstützung holen, Selbstbehauptung, Konfliktlösung Umgang mit Stress – Fähigkeit zur Realisierung vorhandener Kompetenzen in der Situation Problemlösen – allg.Strategien zur Analyse und zum Bearbeiten von Problemen Antwort aus der Gehirnforschung/ Neuropsychologie: Klaus Grawe (Psychotherapieforschung) kommt zum Ergebnis, dass wir erfreuliche Erfahrungen fördern sollten, um damit Bahnungen im Gehirn auszubauen, die für sog.“gehobene Emotionen“, Erfüllung, Glück und Lebensfreude, stehen. Allein diese Neu-Bahnungen seien in der Lage, die ebenfalls immer vorhandenen Bahnungen in Bereichen wie Angst , Trauer und Schmerz zu hemmen. Die meisten Menschen (nach B.Frederickson, 2011, etwa 80%) haben gut ausgebildete Verbindungen der Amygdala/Mandelkern, einer emotionsbewertenden Struktur, zum rechten präfrontalen Cortex und zu den Gehirnregionen, die für Angst, Wut, Schmerz, Vermeidung stehen, und haben zu wenig Kapazität, um Angstreaktionen zu hemmen. Gehen wir im Gespräch und im Verhalten überwiegend in diese Bereiche, nähren wir diese Bahnungen. Eine Aktivierung dieser Areale führt zu negativen emotionalen Zuständen, z.B. zur Aktivierung von Vermeidung. Der Neurowissenschaftler LeDoux vertritt die Ansicht, dass Angstbahnungen nicht gelöscht werden können. Vergessen oder diese Bahnungen nicht mehr zu benutzen funktioniert nicht. Es muss ein alternatives neuronales Erregungsmuster aufgebaut sein, um immer wieder ins Gleichgewicht zurückzupendeln. Gut ausgebildete Bahnungen zu Bereichen des linken präfrontalen Cortex, die für das Erleben positiver Emotionen und Annäherungsziele stehen, sind in der Lage, die starke Amygdalaerregung in Angstbereiche etc. zu hemmen. Sind sie eher verkümmert, müssen sie zum Aufbau durch aktives Nutzen aktiviert werden, d.h.Wahrnehmen auch des Gelingenden. Grawe (S.429): „Wenn ein Therapeut erreichen möchte, dass der Patient bestimmte Dinge neu denkt, tut oder fühlt, sollte er alles tun, damit diese Gedanken, Verhaltensweisen oder Gefühle überhaupt auftreten. Wenn KlientInnen Freude entwickeln sollen, muss man mit ihnen in diese Bereiche gehen.“ 1

Fröhlich-Gildhoff et.al., 2007

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Use it or loose it! Wie der Gehirnforscher G. Hüther schreibt, ist unser Gehirn plastisch, nutzungsabhängig und kann wie ein Muskel trainiert werden. Das bedeutet: Use it or loose it. So wie wir eine durch Schonhaltung schwache Beinmuskulatur etwa 1000 Mal trainieren müssen, um wieder laufen, walken oder joggen gehen zu können, müssen wir auch verkümmerte Regionen des Gehirns, die für „positive“ Emotionen zuständig sind, durch 1000-maliges Üben ausbilden, um eine Balance im Gehirn herzustellen, und müssen uns auch weiterhin um den Erhalt dieser Balance kümmern. Dies ist besonders wichtig, wenn wir uns nicht zu den Glückskindern zählen. G. Hüther spricht davon, dass wir die Verantwortung für unsere Vorstellungen übernehmen müssen. Es geht darum, ein Gegengewicht zu den Schreckenswelten, den Leid verursachenden Gefühlen aufzubauen. Stefan Klein benutzt in seinem Buch "Die Glücksformel" das Bild von Autobahnen, die in den rechten Bereichen 6-spurig und in den linken wie Trampelpfade angelegt sind. Natürlich werden 6-spurige Bahnungen schneller befahren. Dieses Bild kann helfen zu verstehen, um was es geht. Da unser Gehirn - evolutionär bedingt - zunächst Problemlösungen sucht, ist es für uns alle wichtig, aktiv in Bereiche von Neutralität, Gelingen, Wohlbefinden zu gehen; wir müssen lernen, das Belastende für gewisse Zeit auszublenden. Abschied, Tod, schwierige Herausforderungen und Belastungen gehören in unserem Leben dazu. Ruth im Roman "Chuzpe" von Lily Brett beschreibt dieses Problem anschaulich:, "Ich kenne das Bedürfnis nach Schwierigkeiten..Ich komme mir vor als würde ich immer nach Schwierigkeiten suchen. Vor allem, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Sobald ich ein tiefes Glücksgefühl empfinde, fange ich an zu suchen und zu graben, als wäre ich eine Schnecke am Meeresgrund mit riesigen Fühlern und Augen mit einem Blickfeld von 360° am Ende der Fühler. Sobald ich Glück spüre, beginnen diese Augen sich zu drehen. Sie haben einen Auftrag, sind auf der Suche nach Schwierigkeiten. In der Regel brauche ich 10 Minuten, um eine Sorgenquelle zu lokalisieren. Zehn Minuten später habe ich so viele Sorgen angehäuft, dass das Glück sich weitgehend in Luft aufgelöst hat. Inzwischen habe ich gelernt zu warten. Wenn ich etwas Schönes erlebe, warte ich und versuche nicht wegzulaufen und nicht herumzusuchen, bis ich etwas finde, um es kaputtzumachen" (Brett, S.80) Wenn Sie sich selbst mit Freude beschäftigen, werden Sie merken, dass die andere Seite auch immer dazugehört. Zu einem lebendigen Leben gehört die ganze Bandbreite von Empfindungen dazu, wo wir flexibel auf die unterschiedlichen Alltagssituationen reagieren können. Problemzentriert-Sein geht dann gut, wenn Gehirnbereiche linkspräfrontal schon gut entwickelt sind, wie bei Menschen mit ausreichender innerer Stärke. Ist unsere defizitorientierte Seite übermäßig gestärkt, wird es in Situationen von extremem Stress schwierig. Forderung der Resilienzorientierung ist es, sich mit Verwundung und /oder Defiziten und Heilung/ Lösungen zu beschäftigen, um dem ganzheitlichen Wahrnehmen von Menschen gerecht zu werden.

46 Ulrike Reddemann Es geht um das Wahrnehmen von uns als „Ganzen Menschen“ mit Fähigkeiten, Kompetenzen, Begrenzungen und Schwierigkeiten. Hilfreich kann die Haltung sein, dass wir unsere Persönlichkeit als „Summe von Gewohnheiten verstehen, die veränderbar ist" (Isebeart, 2005, S.6). Es geht darum, das Leid ausreichend und angemessen zu würdigen und durch Pendeln zum Gelingenden, zur Freude oder zu Möglichkeiten der Erfüllung, ein Gleichgewicht/eine Balance herzustellen oder darin zu bleiben. Die Balance (Wiederherstellung von Selbstregulationsfähigkeit) ist Voraussetzung zur Regulierung von negativem Dauerstress und ermöglicht auch, mit dem „Schrecken“ besser umgehen zu können. Die meisten Menschen finden verschiedene Dinge, die sie in ihrem „Notfallkoffer“ oder in ihrer Schatzkiste für Stresssituationen sammeln können. Was hat mir bereits in anderen Situationen/ Krisen geholfen ? Sie sind ihre beste Expertin/Experte für ihr Wohlbefinden! Andere Menschen können Ideen dazubringen oder mit ihrem Wissen über möglicherweise hilfreiche Dinge unterstützen. Sie selbst müssen auch zu Hause die Expertin sein, wenn Sie in stressige Situationen kommen. Neuere Untersuchungen zeigen auch für Beratungen und Therapien, dass Klientinnen 87% selbst machen. Bei nur 13% liegt der Beitrag von Therapeutinnen/ Außenstehenden; aber sie sollte es ebenfalls geben, wie die Resilienzforschung zeigt. Es kann einem niemand die Arbeit abnehmen, Hilfreiches zu tun und zu denken. Das Pendeln in Gelingendes ist harte Arbeit, erfordert Üben und Dranbleiben. Das Konzept der neuen Positiven Psychologie von M. Seligman M. Seligman beschäftigte sich lange mit gelernter Hilflosigkeit und Depression, in den Forschungen der letzten Jahren liegt sein Schwerpunkt darauf, was Menschen gesund hält und wie sie aufblühen können ("Florish"). Seine ursprüngliche Theorie des authentischen Glücks hatte zunehmende Lebenszufriedenheit zum Ziel. Diese Theorie hat er inzwischen erweitert zu einer Theorie des Wohlbefindens, da "Lebenszufriedenheit" hauptsächlich als heitere Stimmung erfasst werde, was ihm zu kurz gegriffen erscheint und er keine "Glückologie" verkünden möchte, da Glück nicht das A und O des Wohlbefindens und dessen bestes Maß sei (2011) . Als Maßstab für Wohlbefinden gelten: positives Gefühl, Engagement, Sinn, positive Beziehungen und Erfolg. Wohlbefinden ist ein Konstrukt aus diesen Elementen. Jedes der Elemente muss zum Wohlbefinden beitragen und beinhaltet, dass viele Menschen um der Sache selbst willen danach streben. Ziel ist ein zunehmendes Aufblühen von Einzelpersonen, Teams, Organisationen durch die Verstärkung dieser 5 Elemente: Positives Gefühl: Lust, Entzücken, Wärme, Enthusiasmus, Ekstase, Behaglichkeit u.a., also ein angenehmes Leben. Engagement, Zustände von Flow, dazu muss ein Mensch alle seine Begabungen und Kraft einsetzen Sinn; einer Sache, die größer ist als ich, dienen positive Beziehungen als verlässlichste Aufmunterung und bestes Mittel gegen Betrübnisse des Lebens

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Zielerreichung, Erfolg: Menschen handeln oft, um Vorherrschaft über ihre Umgebung zu gewinnen Die Positive Psychologie soll nicht vorschreiben, was Leute für ihr Wohlbefinden tun sollen, sondern beobachten, was sie tun. Gegen "Positives Denken" verwahrt sich Seligman ausdrücklich, da es in seiner Verleugnung von Realität und "Schönreden" - laut 20-jähriger Forschung - eher zu Depression führt, sogar krank machen kann, statt Resilienz zu fördern. "Gute Laune auf Befehl ist unmöglich!" (lächeln) Positive Psychologie ist allerdings auch mehr als „das halb volle Glas zu sehen“. Sie ist eine Haltung, eine Art zu Denken, mit der wir an das Leben herangehen. Seligman u.a. haben herausgefunden, dass diese Art zu denken lernbar ist.(Seligman, 2001, Frederickson, 2010) Als Pessimisten werden wir nicht geboren. Schaffen wir es, in einem Verhältnis von etwa 3:1 optimistisch zu sein, dann geraten wir nach B. Frederickson sogar in einen Bereich lebenserfüllten und kreativen Erblühens (Flourishing). Ärger, Konflikte, Trauer, Schmerz etc. gibt es dann allerdings noch immer, wir sind jedoch handlungsfähig für uns selbst und mit Anderen (Teams, Partnerschaft, Schulklasse). Die sog. negativen (Leid verursachenden) Emotionen haben eine Funktion. Sie machen auf Veränderung, Abschied, Gefahr aufmerksam, die wir nicht ignorieren oder zumindest in ihrem Bedeutungsgehalt überprüfen sollten. Selbst Flow als "höchstes Stadium gehobener Emotionen" ist nur erfahrbar, wenn es auch Frustration, Wettbewerb und Veränderung gibt. In weiteren Forschungen haben Seligman und sein Team in verschiedenen Weisheitsschriften der Welt Tugenden gefunden, die zu Lebenserfüllung und Zufriedenheit führen. 24 Fähigkeiten, von denen jeder Mensch mindestens 5 bereits besitzt, sollen helfen, diese Tugenden zu entwickeln. Dabei wird für wichtig erachtet, den Blick auf Stärken zu richten, die einem vorrangig und damit mühelos zur Verfügung stehen, sog. „Signaturstärken“ , und diese verstärkt zu nutzen, statt den Blick auf das Fehlende zu richten. Es geht darum, das mühelos Vorhandene bewusst wahrzunehmen, anzuerkennen und zu leben. Diese Stärken sind die Grundlage, um Wohlbefinden zu fördern. Die sechs Tugenden und zugeordnete Fähigkeiten nach M. Seligman: Weisheit und Wissen 1. Neugier/Interesse für die Welt 2. Lerneifer 3. Urteilskraft/ kritisches Denken/ geistige Offenheit 4. Erfindergeist/ Originalität/ praktische Intelligenz 5. Soziale Intelligenz/ personale Intelligenz/ emotionale Intelligenz 6. Weitblick Mut 7. Tapferkeit und Zivilcourage 8. Durchhaltekraft/ Fleiß/ Gewissenhaftigkeit 9. Integrität/ Echtheit/ Ehrlichkeit/ Lauterkeit

48 Ulrike Reddemann Liebe und Humanität 10. Menschenfreundlichkeit und Großzügigkeit 11. Lieben und sich lieben lassen Gerechtigkeit 12. Staatsbürgertum/ Pflicht/ Teamwork/ Loyalität 13. Fairness und Ausgleich 14. Menschenführung (leadership) Mäßigung 15. Selbstkontrolle 16. Klugheit/ Ermessen/ Vorsicht 17. Demut und Bescheidenheit Spiritualität und Transzendenz 18. Sinn für Schönheit und Vortrefflichkeit 19. Dankbarkeit 20. Hoffnung/ Optimismus/ Zukunftsbezogenheit 21. Spiritualität/ Gefühl für Lebenssinn/ Glaube/ Religiosität 22. Vergeben und Gnade walten lassen 23. Spielerische Leichtigkeit und Humor 24. Elan/ Leidenschaft/ Enthusiasmus

Flow erleben Mit "Flow" ist eine besondere Form des Glückserlebens gemeint, ein Zustand, in dem man mit einer Sache völlig eins ist, wie ein spielendes, in sich selbst vergessenes Kind, oder während einer Meditation, beim Musizieren, Malen und anderen Tätigkeiten, in denen man aufgeht. Flow wird interessanterweise häufiger beim Arbeiten als in der Freizeit erfahren. Das Wichtigste, um flow zu erleben, ist - nach M. Czikszentmihaly (2001)- was man aus den Umständen und Verhältnissen macht. Nicht, was ich tue, sondern wie ich es tue, ist entscheidend. So kann auch ein Fabrikarbeiter, der den ganzen Tag Thunfischkonserven eindost, flow erleben, wenn er in seiner Arbeit aufgeht und in ihr einen Sinn sieht. Nach G. Hüther führt flow zu Ausschüttungen von Dopamin, was uns motiviert, weiter an einer Sache zu bleiben. Flowerleben kann ich begünstigen, indem ich zunächst achtsam wahrnehme, was ich jeden Tag tue, erkenne, welche Gefühle das in mir auslöst, und herausfinde, was sich für mich besonders bewährt. Das ist für jeden individuell. Das kann Musik sein, die man gerne hört; sie führt zur Ausschüttung des Hormons Oxytoxin, das begünstigt flow. Umgeben Sie sich mit Menschen, die Ihnen gut tun! Nach Forschungen von Frau Prof. Uvnas-Moberg (2007) wird Oxytoxin auch durch Berührung oder die Vorstellung von Berührung ausgeschüttet und reduziert Schmerz, schafft Wohlbefinden. Das geht auch mit Vorstellungskraft.

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Verletzte jüngere "Ichs" von mir, mit einer großen Sehnsucht nach Trost und Geborgenheit, kann ich beruhigen, indem ich sie tröste, versorge, sie mir gut versorgt in ihren Bedürfnissen an einem Ort von Geborgenheit vorstelle und ihnen vermittle: die Große von heute ist jetzt da und sorgt für Euch bzw.lernt immer mehr, für Euch zu sorgen. Posttraumatic growth Die Forschung zu Posttraumatic growth zeigt, dass es häufig zu sogenanntem Posttraumatischem Wachstum kommen kann, wenn durch systematischen Aufbau von Stressregulationfähigkeiten das individuelle Resilienzerleben gestärkt wird (Zöllner und Maerker, 2006). Simonton-Methode Der Onkologe C. Simonton (2001) hat mit seiner Visualisierungsmethode bei Krebskranken ebenfalls einen bedeutenden Ansatz zur Entwicklung von Resilienz beigetragen. _________ Ich möchte Sie nochmals einladen, innezuhalten und Ihrer eigenen Resilienz im Alltag nachzuspüren: Was stärkt Ihre innere psychische Widerstandskraft ? Überlegen Sie zu den folgenden 10 Wegen zum Aufbau von Resilienz, wo Sie jeweils zwischen 0 – 100 stehen. Sie können anschließend Ihren eigenen Resilienzwert berechnen, der zwischen 0 – 1000 liegt (entsprechend der American Psychological Association (APA) www.helping.apa.org) 10 Wege zum Aufbau von Resilienz: • • • • • • • • • •

Soziale Beziehungen pflegen Krisen nicht als unüberwindbar ansehen Veränderungen als Teil des Lebens akzeptieren Eigene Ziele anstreben Aktiv werden Belastungen als Gelegenheit zum Wachstum ansehen Ein positives Selbstbild pflegen Eine breitere Perspektive behalten Optimistisch und hoffnungsvoll bleiben Für sich sorgen

Was können Sie konkret mit KlientInnen tun? • Sicherheit und Angenommensein vermitteln, d.h.eine Situation von Angenommensein und Wohlbefinden herstellen. Wer sich außerhalb des "Windows of Tolerance" befindet, lernt nicht dazu, sondern scannt seine Umwelt auf Gefahren hin ab. • Wenn möglich gute Beziehungserfahrungen fördern, nach einem tragenden Umfeld Ausschau halten und wenn möglich einbeziehen

50 Ulrike Reddemann • Den „Ganzen Menschen“ wahrnehmen, mit allen Fähigkeiten, Kompetenzen, Begrenzungen und Schwierigkeiten. Die Haltung, Persönlichkeit zu verstehen als „Summe von Gewohnheiten, die veränderbar ist", kann es leichter machen (Isebeart, 2005) Nach Ben Furmann ist es nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben. Negative Gefühle anerkennen, aber nicht verstärken. Sie haben ein Recht darauf und sie brauchen Raum. Vielleicht gezielt 30min.klagen und sich mindestens so sorgfältig mit Positivem beschäftigen wie mit den Defiziten, d.h. liebevoll beharrlich ressourcenorientiert arbeiten, im Wissen, wie schwer es ist, das „Negative“ auszublenden, speziell wenn entsprechende Bahnungen/Übung fehlen. Was hat bisher geholfen? Welche Erfahrungen gibt es, was schon einmal geholfen hat im eigenen Leben, schwierige Erfahrungen zu überwinden? Wie ist Ihr Umfeld, trägt es auch durch schwierige Zeiten, sind Sie gut eingebunden? Pflegen Sie Beziehungen, die Ihnen gut tun, wo Sie sich angenommen fühlen? Sich grundsätzlich infrage gestellt zu fühlen ist ungünstig. Stress und belastende Erfahrungen sind gut zu verkraften, wenn wir uns auf Beziehung und Gemeinschaft einlassen können. Es muss nicht immer die anhaltende, verlässliche Bindung sein. Prüfen Sie auch, wie die Räume sind, die Umgebung, in der Sie leben. Auch bei schlimmsten Lebensereignissen kann ich fragen: Wie/ mit wem/ durch was habe ich das überlebt ? Warum geht es mir nicht noch schlechter ? Gibt es Ausnahmen, Momente, in denen es besser, freier, "ohne" ist ? Helfen, den Schrecken bewusst wegzupacken statt zu "verdrängen". Für manche Menschen ist es hilfreich, den „Schrecken“ in der Vorstellung in einem Behältnis vorübergehend zu deponieren, bis es angeschaut und bearbeitet werden kann bzw. wenn ausreichend Stressbewältigungs-Strategien zur Verfügung stehen. Oft ist es entlastend, wenn nicht nur und ständig in schlimme Erfahrungen und belastende Kindheitserinnerungen eingetaucht werden muss. "Wegpacken" heißt nicht "verdrängen"! Diese Behandlungstechnik hat nichts mit Verdrängung zu tun, sondern ist ein bewusstes Beiseitestellen, bis über ausreichende Stabilität oder Stressregulierungsfähigkeiten verfügt werden kann, um an den kritischen Themen bei Bedarf zu arbeiten. Frau H. kam zur Krisenintervention, nachdem sie einem sexuellen Übergriff durch einen Familienangehörigen ausgesetzt war. Durch die akute Symptomatik drohte Arbeitsunfähigkeit. Sie war sehr erleichtert, nicht auch noch in auftauchende extreme Ohnmachtserfahrungen ihrer Kindheit eintauchen zu müssen, wie sie befürchtet hatte, sondern diese erst einmal in einen "Tresor" abzulegen und sich auch wieder mit vorhandenen guten Kontakten, mit Walken usw. zu beschäftigen. Lange Zeit wurde davon ausgegangen, dass in der Therapiesituation das Schlimme immer wieder erzählt werden müsse, bis es verarbeitet ist. Dem ist nicht so; im Gegenteil: das kann sehr destabilisieren.

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Nach Erfahrungen aus der Bielefelder Klinik ging es Klientinnen mit Traumafolgestörungen schlechter, wenn dieses "klassische" Vorgehen angewandt wurde. Daraufhin entstanden andere Vorgehensweisen in der Traumaarbeit. Etwa 60% der komplextraumatisierten Klientinnen wollten keine Traumakonfrontation. Sie standen nach einer guten Stabilisierungsarbeit wieder so gut im Leben, dass sie sich nicht mehr mit den alten Schrecken belasten wollten. Ziel der Traumaarbeit ist auch nicht, Traumata zu bearbeiten, sondern Erfüllung im Leben zu finden. Auch die Forschungen von Emmy Werner in der Kauai-Studie verweisen darauf, dass es den Menschen gut ging, wenn sie sich aktiv bestimmte Bedingungen schaffen konnten (Partnerschaft, Bildung, Glaube). - Die eigene Resilienz fördern durch Wahrnehmen von Ressourcen d.h.durch Beschäftigung mit Freude/Stärken/Fähigkeiten, diese hervorholen oder/und entwickeln. Alle Stärken/ Fähigkeiten sammeln. Erfahrungen der Freude, Stärken, Fähigkeiten sollten im "Plaudern" hervorgeholt werden. Suchen Sie persönliche innere und äußere Ressourcen und unterstützen Sie deren Aktivierung. Wo werden diese Stärken jetzt schon eingebracht oder wo könnten sie noch eingebracht werden? Welches sind meine stärksten Ressourcen in belastenden Zeiten? Sich ein „Freudetagebuch“ anschaffen ist eine gute Möglichkeit, oder erst einmal ein Buch: “Das hat geklappt“, und die kleinen Dinge, die wir für viel zu selbstverständlich halten, hineinschreiben. Es geht dabei um die kleinen, alltäglichen Dinge (das Lächeln der Kassiererin im Supermarkt, Sonne scheint, gutes Gespräch, Knospe). Man kann auch aufschreiben: „Was ist mir gelungen?", dran bleiben, den Tag durchgehen. Die "Bohnen-Übung" ist oft hilfreich (Bohnen in der Tasche sammeln für gute Erfahrungen). Wichtig ist dabei, die eigenen Ansprüche zurücknehmen! Für Frau E. ist es unmöglich, in Freudebereiche zu gehen; dann versündige sie sich. Aber sie hat es heute geschafft, zu duschen, zu frühstücken, zur Stunde zu kommen, sich nett zu kleiden..., ein Amt zu besuchen, den Einkauf... - Wahrnehmung für Erfreuliches fördern, insgesamt die Wahrnehmung fördern Achtsamkeit in Alltagshandlungen anregen: Viele wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen inzwischen den großen Nutzen von Achtsamkeit. Im "Hier und Jetzt" lässt sich oft am besten sein. Pilger Mu aus "Einer wie du und Ich" (Ignatius, 1987): „Die Vergangenheit belastet mich, die Zukunft macht mir Angst, in der Zwischenzeit geht es mir gut.“ "Freudetagebuch" und "Bohnenübung" eignen sich, um wieder achtsamer zu werden und die Wahrnehmung für Erfreuliches zu fördern. - Wahrnehmungen stimulieren, die mit positiven emotionalen Zuständen zusammenhängen „Man hat, worum man sich kümmert." "Wir erschaffen uns die Welt“ Freudetagebuch, Fotoalbum anschauen, in die Natur gehen, beten, Musik... Traditionen nutzen: Lieder, Rituale: “Geh aus mein Herz und suche Freud...“ Den Tag am Abend noch einmal reflektieren oder mit Kindern ein Einschlaf-Ritual einführen: „Was war heute gut?“ "Was hat Freude gemacht?" „Was ist mir gelungen?" "Wofür bin ich dankbar?"

52 Ulrike Reddemann - Erfahrungen stimulieren, die positive, emotionale Zustände hervorrufen im „Plaudern“ über Interessen Welche Erfahrungen rufen bei mir positive emotionale Zustände hervor ? Bäume, Pflanzen, bestimmte Musik, körperliche Aktivitäten, die angenehm erfahren werden, z.B. Spazierengehen, Walken gehen. Oder: haben Sie ein Lieblingsgericht, einen Geruch, der Wohlbefinden hervorruft? Stoffe, Kleidung etc. Schenken Sie diesen Dingen, die Sie schon in Ihrem Repertoire haben, wieder Aufmerksamkeit. - Imagination nutzen (Selbstfürsorge: "Geborgener Ort", Wohlfühlorte) Wir sind in Gedanken ständig in Vorstellungen, Bildern, Gerüchen, Geschmack, Empfindungen, guten und schlechten, d.h.wir imaginieren ständig. Viktor Frankl, Begründer der Logotherapie, schreibt, dass ihm in schlimmsten Momenten der Zeit im Konzentrationslager die Phantasie an seine geliebte Frau geholfen habe. Eine andere Phantasie war, er würde vor interessiertem Publikum einen Vortrag halten zu den Folgen des Aufenthalts im Konzentrationslager. - Wenn die Angst vor Gefühlen zu groß ist, können Sie versuchen, das Beobachten zu lernen - Affektregulation lernen durch Distanzierung , d.h.lernen, eine beobachtende Haltung Gefühlen, Geschehen etc. gegenüber einzunehmen, sich zu distanzieren statt sich zu identifizieren und die Gefühle damit kontrollieren zu können. Wenn Sie eine beobachtende Haltung Ihren Gefühlen, Gedanken, Körperempfindungen gegenüber einnehmen, können Sie sich von diesen distanzieren, statt sich mit ihnen zu identifizieren. „Ich bin mehr als meine Trauer, ich kann meine Trauer beobachten." Sie können sich vorstellen, dass Sie sich aus Distanz beobachten, Sie können sich aus der Distanz auch beschreiben, was die Frau/ der Mann, die Sie sind, gerade tut, wie eine Kamerafrau, wie ein Zeitungsreporter, der ein Geschehen von außen in der 3.Person beschreibt. Damit ist es möglich, Gefühle zu kontrollieren. Auch das Schreiben eines Tagebuchs in der 3.Person, wie ein Schriftsteller, kann helfen. Oder beschreiben oder betrachten Sie Ihre Erfahrungen aus der Sicht anderer Menschen . Was würde Ihre Nachbarin, Freundin... Einen liebevollen Umgang mit sich selbst vermitteln – Selbstfürsorge Oft gehen wir lieblos und respektlos mit uns um. Mit den „dummen", hilflosen Anteilen wollen wir nichts zu tun haben, sie gerne „loswerden“. Man will nicht so "kindisch" sein.„ Warum habe ich nicht...", "Hätte ich doch...“. Lernen Sie einen liebevollen Umgang mit sich und Ihren verletzten inneren Anteilen, d.h. sich liebevoll anzunehmen, Anerkennung, Trost und Mitgefühl sich selbst gegenüber zu entwickeln. Vorgestellte innere Helfer können Trost spenden, fast wie eine reale Person. - Fähigkeit zu unterscheiden zwischen Einschränkungen und Problemen. Nicht jede Belastung/Herausforderung kann gelöst werden. Es ist wichtig, Einschränkungen zu akzeptieren (Verluste von Personen, körperliche Handicaps) und diese von "Problemen" zu unterscheiden. Was muss ich akzeptieren, was kann ich ändern, was brauche ich dazu, was gibt mir Halt ? Akzeptanz fördern bei Einschränkungen; Trauer und Schmerz des Abschieds begleiten.

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- Das Gute im Schlechten erkennen kann hilfreich sein Viktor Frankl schreibt, er habe Glück gehabt, dass er nicht im Schneesturm Wache stehen musste. Frau I. tröstet 2 Jahre nach dem plötzlichen Tod der 40-jährigen Tochter der Gedanke, was dieser an Leid und Demütigungen durch die Familie des Schwiegersohns erspart bleibt. Herr Z.empfand die Scheidung seiner Eltern lange als schwierig, aber aus heutiger Sicht meint er, es wäre für ihn als Kind eine Katastrophe gewesen, so strukturlos und sich selbst überlassen aufzuwachsen. Viele auch unserer Stärken - wie: Empathiefähigkeit, Feinfühligkeit, Verständnisbereitschaft – begleiten uns und stammen aus schweren Herausforderungen in unserer Kindheit. Was wäre, wenn wir das, was wir an uns nicht mögen, nicht gehabt hätten? Zu was hat es uns verholfen ?

Zukunftsorientierung: wenn in 1-2 Jahren die Krise überstanden ist, was war hilfreich? erzählen, was man von anderen Personen weiß, die mit dem Leben zurechtgekommen sind, ermutigende Vorbilder: Es gibt andere Personen, die trotz schwieriger Lebensumstände mit dem Leben zurecht gekommen sind: wie schaffen es Andere ? Frida Kahlo, die im Alter von 6 J. an Kinderlähmung erkrankte und ein ¾ Jahr bettlägerig war, nutzte Imagination, indem sie durch das O in Pinzon im Schaufenster zu einer imaginären Freundin ging, mit der sie tanzen konnte J.S. Bach (viele Todesfälle), Paul Gerhard (Kälte, Hunger, Pest, Tod): beiden war Musik und Glaube wichtig Niki de SaintPhalle (Kunst, Tarot-Garten) Margarethe Steiff auch in Kinderbüchern wird beschrieben, wie die Maus Frederick im Sommer Farben für den Winter sammelt, Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga, Jim Knopf und viele andere können ermutigende Vorbilder sein. Sie haben auch das Recht, sich gegen dieses Konzept der Resilienzentwicklung zu entscheiden ...und es braucht auch Raum zum Klagen und Jammern.

Wer einen grünen Zweig im Herzen trägt, können sich auch Singvögel darauf niederlassen. Chinesische Weisheit

54 Ulrike Reddemann Literatur: Auhagen (Hrsg.) (2004) Positive Psychologie, Anleitung zum besseren Leben, Beltz PVU Klein, S. (2002) Die Glücksformel, Rowohlt Czykszentmihaly,M. (2004) Flow, Klett-Cotta Czykszentmihaly, M. (2001) Lebe gut! Wie Sie das Beste aus Ihrem Leben machen, dtv Frankl, V. E. (2005)...trotzdem ja zum Leben sagen, Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, dtv Frederickson, B. (2010) Positivity Fröhlich-Gilthoff,K., Rönnau-Böse, M., (2009) Resilienz, Reinhardt UTB Furmann, B.(2005) Es ist nie zu spät eine glückliche Kindheit zu haben, borgmann Grawe,K. (2005) Neuropsychologie, Huber Grün, A. (2005) Quellen innerer Kraft, Erschöpfung vermeiden – Positive Energien nutzen, Herder Hüther,G. (2004) Die Macht der inneren Bilder, Vandenhoeck & Ruprecht Hüther,G. (2011) Was wir sind und was wir sein könnten, Ignatius, A. (1987) Pilger Mu – Einer wie du und ich, Schangrila Isebeart, L. (2005) Kurzzeittherapie – ein praktisches Handbuch, Thieme Klaus, Ph. in: Brisch, K.H. /Hellbrügge, Th. (Hrsg.) ( 2005) Die Anfänge der Eltern-Kind-Bindung, Klett-Cotta Kere Wellensiek, S.(2011) Handbuch Resilienz-Training, Beltz LeDoux, J. (2002) Das Netz der Persönlichkeit, dtv Masten, Ann S.(2001) Resilienz in der Entwicklung: Wunder des Alltags.In:Röper,G., Hagen, C.v., Noam, G.(Hrsg.): Entwicklung und Risiko. Perspektiven einer klinischen Entwicklungspsychologie. Kohlhammer, Stuttgart, 192-219 Seligman, M., (2005) Der Glücksfaktor. Warum Optimisten länger leben, Bastei-Lübbe Seligman, M. (2001) Pessimisten küsst man nicht, Optimismus kann man lernen, Knaur Seligman, M. (2012) Florish - Wie Menschen aufblühen, Kösel Reddemann, L. (2004) Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt, Herder Spektrum Reddemann, L. (2006) Überlebenskunst, Klett-Cotta Leben! Reddemann, L. (2011) Das Manual, Stuttgart Pfeiffer bei Klett-Cotta Siegel, D. (2007) Das achtsame Gehirn, Arbor

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Siegrist, U., Luitjens, M. (2011) Resilienz, Gabal Uvnas-Moberg, K. in: Brisch, K.-H./Hellbrügge, Th. (Hrsg.), (2007) Die Anfänge der Eltern-Kind-Bindung, Klett-Cotta Welter-Enderlin, R.; Hildenbrand, B.(Hrsg.)(2006) Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände, Carl Auer

Vortrag im Rahmen der Jahrestagung der AFE im November 2012

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Doris Lange

Die Bedeutung der Gegenübertragungsregulation in der Körperpsychotherapie mit Kindern Vortrag, gehalten auf der Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Körperpsychotherapie (dgk) am 01.12.12 in Frankfurt a.M. In den letzten Jahren habe ich mich aus persönlichem Anlass, aber auch aufgrund meiner kollegialen Erfahrungen in der Leitung von Workshops und Supervisionen zunehmend mit Phänomenen der BurnOut-Gefährdung unseres Berufsstandes und mit Resilienzforschung beschäftigt. Da ich bei meinem Vortrag hier keine Folien und auch keine Video-Mitschnitte benutze, mache ich Ihnen –passend zum Thema- ein körperorientiertes praktisches Angebot: Sie "müssen" ja jetzt nichts sehen, könnten also während des Zuhörens Ihre Augen entlasten. Ihr Augapfel liegt wie in einer Schale, gehalten hinten von einer Rückwand und unten von einem Boden. Wenn Sie diese "haltgebenden Funktionen" Ihres eigenen Körpers nutzen, können Sie Ihre Augenspannung "nach hinten/unten loslassen" (wenn man ein Kamera-Synonym benutzt: den ZOOM zurückfahren). Was macht das mit Ihrer Kieferspannung? Kann der Unterkiefer dann auch mehr "hängen"? Wenn Sie dieses "sich hinten/unten halten lassen" auch mit Ihrem Rücken, mit Ihrer Sitzfläche, mit Ihren Füßen fortsetzen: was passiert? was macht das mit Ihrer Körperspannung? mit Ihrem Atem? mit Ihrem "Da-Sein"? mit Ihrer Anstrengung nach so vielen Vorträgen heute? Sie können also, während Sie mir zuhören, sich gleichzeitig sich selbst zuwenden, für sich sorgen, sich regulieren. Wir sind "mitten im Thema". Als weiteres "Warming Up" zitiere ich aus einer Studie an der Gießener Psychosomatik in den 90er Jahren "Zur Lebensqualität von Psychotherapeuten": "Aufgrund ihrer Ausbildung sind Psychotherapeuten hinsichtlich des Umgangs mit Belastungen qualifiziert. Allerdings scheinen sie ihr Wissen in Bezug auf ihre eigene Person oft nicht anzuwenden". (REIMER/JURKAT, S.107) Mit einem besonders besorgt-fürsorglichen Blick schaue ich dabei auf die außerordentliche Belastung von Kindertherapeuten. Sie haben es nie nur mit einem Gegenüber zu tun wie in der Erwachsenentherapie. In ihr inneres und äußeres "Containment" müssen auch noch leibliche Eltern, manchmal Pflegeeltern oder Adoptiveltern, Geschwister, zunehmend auch Patchworkfamilienangehörige (nicht selten mit getrennten Partnern heftig zerstritten), Lehrer, Jugendamtsmitarbeiter, Heimerzieher, Familienhelfer, Kinderärzte usw. Platz finden. Es entstehen mehrere Übertragungs- und Gegenübertragungs-

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beziehungen gleichzeitig, die bewusstgemacht, gespürt und in der Therapeutenperson verarbeitet werden müssen. Es ist nicht selten, dass man das Gefühl hat, es platzt einem der Schädel (oder das Herz, je nachdem). Eine weitere, wirklich nicht zu unterschätzende Belastungsquelle ist, dass wir es meist nicht nur mit in der Vergangenheit stattgefundenen Schädigungserfahrungen und deren Folgen zu tun haben wie in der Erwachsenentherapie, sondern: das Elend, das Trauma, findet sozusagen im "life stream" vor unseren Augen statt. Im schlimmsten aller Fälle müssen wir erleben, dass vernachlässigende, sadistische, manipulierende Eltern am längeren Hebel sitzen. Ein weiterer erschwerender Aspekt: Kinder kommen durch den Kontakt mit einer nährenden, schützenden, ermutigenden therapeutischen Bezugsperson nicht selten in einen Loyalitätskonflikt mit ihrer Anhänglichkeit zu ihren wie auch immer beschaffenen Eltern; die Spannungswirkung dieses Loyalitätskonfliktes ist in vielen Therapiesitzungen zu spüren. Kindertherapeuten müssen sehr sehr viel aushalten. Die gute Nachricht ist, dass Kinder ungeheure Ressourcen haben - und dass es so viel Spaß macht, mit ihnen zu arbeiten. Wenn wir im psychodynamischen Grundverständnis arbeiten, arbeiten wir in und auch mit dem Prozess einer therapeutischen Beziehung. Es ist eine ganz besondere Behandlungskunst, leibhaftig anwesender Teil eines realen Vorgangs zwischen zwei Menschen zu sein, gleichzeitig aber auch sozusagen in die Vogelperspektive zu gehen und den Vorgang von außen, mit Abstand zu sich selbst und zum anderen, reflektierend zu beobachten; und dann wollen wir auch noch beim anderen und bei uns selbst einen Körper spüren und regulieren! Das erscheint "viel verlangt". Um mit Begriffen der Funktionellen Entspannung zu sprechen: wir brauchen außen und innen viel Raum, wir brauchen inneren und äußeren Halt, wir brauchen einen tragenden Boden, und wir brauchen einen langen Atem. Es ist für unser kindliches oder jugendliches Gegenüber not-wendend, dass wir uns einlassen, dass wir "berührt sind", wie es so schön heißt. Wenn ich vermitteln möchte, wie komplex das Geschehen ist, das sich in der therapeutischen Beziehung und vor allem auch in der Therapeutenperson ereignet, nehme ich gern den Begriff der "traumatisierenden Übertragung" von Hans Holderegger zu Hilfe. Er versteht darunter "eine ganz spezielle Form der projektiven Übertragung" (Holderegger, S.19). (Projektion ist eine 'frühe', archaische Form der Abwehr, darauf kann ich aus Zeitgründen jetzt nicht näher eingehen). "Es scheint so, als würde die 'Aufgabe', die (unaushaltbaren, Einfügung d.Verf.) Gefühle des traumatisierten Kindes zu empfinden und zu äußern, dem … (Behandler) zugewiesen. Er wird mit z.T. schwer erträglichen Affekten konfrontiert, deren Integration dem Ich des Patienten bisher nicht möglich war. Der Patient setzt den … (Behandler) der von ihm erlebten Traumatisierung aus, … so dass dieser in irgendeiner Weise, die der Patient übrigens sehr aufmerksam registriert, reagieren muss." (Holderegger, S.23f.) Wir alle kennen diese uns quälenden Zustände von Hilflosigkeit, Verwirrung, Ängstigung, Besorgnis, diese Gefühle des Schwimmens, des Schwebens, des Nichtverstehens, des Nicht-bei-sich-Seins. An dieser Schnittstelle des therapeutischen Prozesses setzt mein Vorschlag zur Selbstregulation in der Gegenübertragung ein.

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Die Spannungen und Verwerfungen in meinem Gegenüber gehen ja, wenn ich so arbeite wie ich arbeite, permanent auch durch meinen eigenen Organismus hindurch, wie durch einen Halbleiter oder Seismographen. In ( für mich ) emotional hoch aufgeladenen Situationen schüttet mein Körper das Stresshormon Cortisol aus, mein Herz schlägt schneller, mein Blutdruck steigt evtl. an, meine Muskeln ziehen sich zur Körpermitte hin zusammen und üben dabei einen feinen Zug auf die Sehnen an den Gelenken aus, mein Atem wird eng. Wenn Sie sich das als "Körper-Szene" vorstellen, dann sehen Sie jemanden "auf dem Sprung", im Präfrontal-Cortex aktiv, im sympathikotonen Spannungszustand des "Flüchtens oder Angreifens". Wenn wir zu häufig in einem solchen Alarm-Modus verweilen, können Bluthochdruck, Schulter-Nacken-Schmerzen, Schlafstörungen und ähnliche somatoforme Beschwerden die Folge sein. Wenn mein Gegenüber über den Weg der projektiven Identifikation seine Spannungen in mich hineinverlagert, muss ich mich also in seiner Anwesenheit regulieren, um nicht krank zu werden, nicht erst hinterher, in der Pause oder nach Feierabend oder gar erst am Wochenende (was ja auch sehr wichtig ist, ohne Frage). Hilfreich ist es für mich, wenn ich sozusagen in einer "Parallelspur" mich hinter meiner eigenen Haut nicht "aus den Augen verliere", in Anwesenheit des Anderen mich selbst spüre, mich frage "Was ist?", "Was braucht's?" Die fürsorgliche Haltung, die Selbstempathie über den Körper ist mir sowohl für meine Patienten als auch für mich selbst ein unverzichtbares Anliegen. Ein "Einschlupf" in meine Propriozeption/meine Tiefenwahrnehmung kann sein: mein Atem (wieviel Platz ist da, wieviel Durchlässigkeit für das Einatmen, für das Ausatmen), - meine Muskelspannung (ziehe ich mich zusammen? oder nehme ich Platz? kann ich loslassen?), - die Durchlässigkeit meiner Gelenke (fühlen sich meine Bewegungen geschmeidig genug an? halte ich irgendwo fest?), - der Kontakt zum Boden (ist er da? ist er gut?), -- je nachdem, was zuerst in den Fokus meiner Wahrnehmung kommt. Auf diese spontanen, authentischen, nicht-"gemachten" Impulse kann ich mich verlassen. Mir ist es selbstschützend wichtig, so oft ich kann, aus unguten sympathikotonen Zuständen in's parasympathische System zu wechseln. Ich habe drei Fallbeispiele ausgewählt, um unterschiedliche Prozesse therapeutischer Selbst-Regulation zu veranschaulichen und in ihrer Wirkung auf das therapeutische Geschehen zu verdeutlichen: eine Mutter-Kind-Behandlung, eine Szene aus der Behandlung eines 6jhrg. Jungen mit ADHS und das Erstgespräch mit einem 17jhrg. Jugendlichen. Neurobiologische Forschungsergebnisse zeigen, dass selbst (nur) gedachte Bewegungen und Empfindungen in bildgebenden Verfahren nachweisbar sind. Ich biete Ihnen an, für sich selbst mitzuspüren, mitzutun, wenn Ihnen danach ist, während Sie mir zuhören. Fall 1 Nina und ihre Mutter Montagsmorgens höre ich eine sehr jung klingende Frau auf meinem Anrufbeantworter in der Praxis mit der verzweifelten, sehr nachdrücklich und auch sehr fordernd klingenden Ankündigung einer Notsituation: "Ich kann nicht mehr. Ich brauche dringend einen Therapieplatz für mein Kind! Ich drehe sonst durch!" Ihre Stimme kippt, klingt metallisch

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und laut, ähnlich dann auch beim Telefonat: sie sei gestern kurz davor gewesen, ihre Tochter zu schlagen, weil sie sich von ihr tyrannisiert fühle. "Sie ist unwahrscheinlich wild, bleibt beim Essen nicht sitzen, hat Verstopfung und Bauchschmerzen, sie hört nicht, und vor allem: sie schläft ewig nicht ein, schreit wie am Spieß, wacht mehrmals in der Nacht auf und bleibt nicht in ihrem Bett." Die vorgetragenen Auffälligkeiten des Kindes werden nicht wie dessen "Nöte" beschrieben, sondern klingen schon am Telefon wie eine Anklage der Mutter an's Kind, wie eine Litanei von Vorwürfen. In mir entsteht das Bild eines Vorschulkindes. Ich frage, wie alt ihre Tochter sei: "Zwei" sagt Frau F. knapp. - Nach kurzem Überlegen bitte ich sie, zum Erstgespräch allein zu kommen, weil ich ihr, der Mutter, gern Zeit geben möchte, ihre Lebenssituation zu schildern, damit ich den gesamten Zusammenhang verstehen lernen könne. Während ich das sage, wundere ich mich über mich selbst, denn normalerweise vereinbare ich zur Indikationsstellung ein Familien-Erstgespräch mit beiden Eltern und allen Kindern, um einen übergreifenden szenischen Eindruck zu bekommen und zu allen Kontakt aufnehmen zu können. Ich frage nicht einmal nach, wer noch alles zur Familie gehört, sondern nehme zuallererst einmal die junge Frau als Einzelwesen in den Vordergrund meiner Aufmerksamkeit. Dieser intuitive Impuls in mir führt zu einer Veränderung in ihrer Stimme am Telefon: sie wird ruhig, geordnet, sie spricht tiefer und leiser; bei der Terminvereinbarung fragt sie sachlich nach einer Wegbeschreibung zu meiner Praxis. Ihre Aufregung hat sich 'gelegt'. In mir läuft parallel ein ähnlicher Vorgang ab: bei der ersten Konfrontation mit dieser sehr scharfen Stimme schießt mein Erregungsniveau schlagartig nach oben; ich ziehe mich zu meiner Körpermitte zusammen, spüre heftig meinen Puls, mein Kopf überhitzt, mein Atem bleibt hinter dem Brustbein arretiert. Ich fühle mich unter Druck, sofort und auf der Stelle helfen zu müssen und "bloß nichts falsch machen" zu dürfen, um nicht die Wut der jungen Frau auszulösen. Die Angst vor der unkontrollierten Wut des Anderen ist ein für mich typisches (sicher nicht für Sie alle hier Anwesende), biografisch herleitbares, besonders verletzliches Gegenübertragungsgefühl. Als ich Frau F. bitte, erst einmal allein zu kommen und dies mit der mir notwendig erscheinenden Zuwendung für sie selbst begründe, habe ich sozusagen ihr eigenes "Schreien" für-wahr-genommen und den ersten Schritt getan, das schreiende "innere Kind" in dieser jungen Mutter zu beruhigen. Es entsteht eine Passung unserer beider Bedürfnisse: ihres Bedürfnisses nach Aufmerksamkeit für ihre eigene Not und meines Bedürfnisses nach einem verlangsamten, überschaubaren Setting, in dem noch Raum bleibt, mich zu spüren. Ihre sofortige Beruhigung klärt und beruhigt wiederum auch mich. Ich spüre mein Aufatmen nach vorn zur Schreibtischkante hin, spüre dadurch angenehm meine Körpergrenze, wenn sich meine Rippen aufdehnen und mir einen angenehmen Abstand zum Gegenüber spürbar machen. Von unten, vom Steißbein her kommt ein Impuls, mich aufzurichten. Ich habe danach wieder einen 'klaren Kopf'. Eine wechselweise gute Regulation hat am Telefon stattgefunden. Frau F., 23 J.alt, wirkt auf den ersten Blick mädchenhaft zierlich, sehr jung, mit harten Gesichtskanten, blass ohne Lächeln, überstreckt noch vor der Tür ihren Arm ruckartig und gibt einen sehr festen und forschen Händedruck; sie schaut mich mit einem bitteren Blick an, mit leicht vorgeschobenem Unterkiefer. Ihr Gang ist laut und hart. Mein Angebot an sie, drei verschiedene Sitzmöglichkeiten auszuprobieren, wie ich das immer mache, schlägt sie aus. Sie steuert auf das Sofa zu, setzt sich auf die Kante und fängt sofort an zu reden, die Tasche noch in der Hand. – Ich spüre, dass ich gereizt reagiere.

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"Ich würde Ihnen gern etwas erklären", sage ich.-- Sie stutzt, lächelt unsicher und fragt: "Bin ich zu schnell?" --"Ich möchte Ihnen nur meine Berufserfahrung zukommen lassen: Ich weiß, dass man, wenn man gut und möglichst entspannt sitzt, sich besser fühlt und dann auch besser denken kann." -- "Klingt plausibel. Und was muss ich jetzt machen?"--"Nehmen Sie sich Zeit, die drei Sitzgelegenheiten auszuprobieren und die auszuwählen, die zu Ihnen passt." -- Sie wirkt neugierig, etwas unschlüssig, entscheidet sich dann für einen kleineren Sessel. "Hier sitze ich am besten."--"Wie fühlt sich das Bessersitzen für Sie an?"--"Ich kann gut meine Ellbogen auflegen."--"Wenn Sie die Ellenbogen auflegen können, was ist daran so angenehm?"--"Dann geht irgendwie Druck weg."--"Wo in Ihrem Körper geht Druck weg?"--"Vorn. Und gleichzeitig sitze ich fester."--"Wo fühlt sich's jetzt fester an?"--"Hinten am Rücken. Und auch auf der Sitzfläche sitze ich tiefer."--"Können Sie sich noch erinnern, wie Sie vorhin auf der Sofakante gesessen haben und wie sich das angefühlt hat?"--"Hektisch."--"Und wie war Ihre Stimmung und wie ist sie jetzt?"--"Vorhin war ich geladen und ich hatte Angst vor der Therapie. Jetzt ist das weg."--"Und was ist jetzt da?"--"Mehr Ruhe." Die Stimme der Patientin drückt diese Veränderung auch deutlich aus. Sie lächelt weicher mit einem tieferen und weiteren Blick. Ich fange an, sie zu mögen, was mir vorher schwer fiel, ohne das es aber nicht "geht". Frau F. erzählt dann sehr kompakt und präzise ihre Geschichte, die ich aus Zeitgründen nicht ausführen kann. Wichtig ist, dass sie mit 17J. einen stationären Aufenthalt wegen Bulimie hatte und in zwei Kliniken die Körpertherapiegruppen als hilfreich erlebte. Schon die unerwünschte Schwangerschaft mit 21 hatte sie als fremdbestimmend und ihren Körper zerstörend erlebt, ihr Kind jetzt als vereinnahmend, sie beherrschend und ausschließlich tyrannisierend. Ich arbeite mit ihr zunächst einzeln, in unregelmäßig eingeschobenen Stunden, im Sinne einer Krisen-Intervention. In mir bildet sich ein zunehmendes Gefühl des "Gelingens". Sie äußert den Wunsch, Nina mitbringen zu können. Die erste Mutter-Kind-Sitzung: Bei der Begrüßung strahlt mich Frau F. an und streckt mir die Hand hin; das Kind steht vor ihr in der Tür, ohne Körperkontakt zur Mutter, schaut unter sich, an der Hand baumelt eine Babypuppe: eine sehr krass 'unabgestimmte' Interaktion. Auffallend ist der permanent belehrende, scharfe Ton in dem, was sie zu Nina sagt. Diese reagiert wie ein kleiner Roboter: zieht ihre Jacke aus, zieht ihre Schuhe aus, geht in's Spielzimmer. Der große Raum animiert sie zum Rennen; Mutter und Tochter drehen auf; die Kleine stößt sich an einer Regalecke und fängt an zu schreien (nicht zu weinen, das ist etwas Anderes!). "Sehen Sie, so ist das immer!" sagt Frau F. zu mir. Auf Nina redet sie auch in diesem "Siehst Du!"-Modus ein, zieht sie heftig auf ihren Schoß und lenkt sie ab, indem sie ihr Spielsachen hinhält. Die Kleine ist zunächst im Zustand des "freezing", ausdruckslos, bewegungslos, in sich gekehrt, ohne Blickkontakt. Ich erschrecke über dieses Ausmaß der Bindungsstörung; der therapeutische Prozess in den Einzelstunden hatte in mir Illusionen geweckt, die sich jetzt auflösen. Ich stehe mitten im Raum, wie hingestellt, die Hände in den Hosentaschen. Als mir das bewusst wird, beende ich meine Erstarrung und setze mich auf einen Petzi-Ball, auf dem ich ganz minimal in's Schwingen komme. Das Kind bewegt sich wieder, fängt an, das Regal auszuräumen, das Puppenbett. Die Mutter sitzt mitten im Raum auf dem Boden, ihre Gesichtszüge wirken leer und müde. Sie ist "in einem anderen Film", wie Karl-Heinz BRISCH, der Münchner Bindungsforscher, einmal eine Video-Sequenz einer Mutter-Kind-Szene kommentierte. Daran muss ich denken, als ich "meiner" Mutter-Kind-Interaktion zuschaue. Ich bin "außen vor", die kleine Tochter auch, die immer lauter und fordernder wird. Die

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Mutter reagiert, indem sie all' die Dinge benennt, die die Kleine anfängt, ihr zu bringen: "Das ist eine Puppe; das ist ein Ball" usw. Nina wiederholt wie ein Echo "Puppe", "Ball". Die Mutter sagt unvermittelt: "Das müssen wir nachher auch alles wieder aufräumen!" Das wirkt wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Kleine schreit wieder und fängt an zu toben, Sachen durch die Gegend zu werfen. -- Da werde ich munter und stehe auf: "Heute machen wir das 'mal so, dass ausnahmsweise ich aufräume, wenn Sie nachher weg sind." Das entspannt die Atmosphäre. Ich setze mich zu ihr auf den Boden und frage sie, was sie von sich spürt? -- "Nichts", antwortet sie. – Ob sie spüren könne, dass sie atmet? – Doch, das schon. Sie lächelt. "Na ja, ich weiß schon, was Sie meinen". – Sie schaut ihr Kind an. Zum ersten Mal 'macht' sie nichts, sondern lässt etwas geschehen. Es entsteht der erste gut gelingende Kontakt zwischen beiden in dieser Stunde. Sie schaukelt Nina auf ihrem Schoß, etwas zu heftig für meinen Geschmack, aber ohne sie zu sehr zu stimulieren. Ich kommentiere es nicht, frage nur nach ihrem Kontakt zum Boden. "Ich sitze gut", sagt sie. Die Kleine stößt sich ab und holt sich ihren Schnuller aus der Tasche, steckt ihn sich in den Mund und kuschelt wieder. Frau F. schaut nur zu, wendet sich dann an mich und sagt, es tue ihr gut, am Boden zu sitzen. Nina ist dabei still, lässt sich halten und schaut tief und ruhig in die Augen der Mutter. –Ich spiegele der Mutter, was ich sehe: wenn sie sich vom Boden gehalten fühlt, lässt sich ihr Kind von ihr halten und auch vom Schnuller beruhigen. Sie fragt nach der Bedeutung eines Schnullers und wie lange man ihn geben dürfe. "So lange, wie er gebraucht wird", antworte ich und erkläre meine Antwort noch etwas. Ich sitze gut am Boden im Schneidersitz, habe die Arme verschränkt, lehne mich am Regal an und spüre eine ruhige Sicherheit, dass jetzt nichts mehr eskalieren wird. Die Stunde endet entspannt inmitten eines chaotischen Spielzimmers. Es tut mir gut, danach in Ruhe aufzuräumen und mich selbst dabei zu 'sortieren'. Fall 2 Kevin Kevin ist gerade eingeschult, wird von der Lehrerin geschickt, weil sie öfter in der Pause beobachte, dass er wehrlos dastehe und von anderen verprügelt werde. Er war schon stationär in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, ist durchgetestet, wurde trotz leicht über-durchschnittlicher Intelligenz wegen Entwicklungsrückständen und ADHS in die Sonderschule für Lernbehinderte (so hieß sie damals noch) eingeschult. Er habe oft blaue Flecken. Sie habe das auch schon dem Jugendamt gemeldet. Dort sei die Familie bekannt. Die Vorgeschichte, die Familiengespräche und die vorangegangenen Kontakte führe ich nicht aus. Ich schildere jetzt hier nur die erste Stunde mit ihm. Kevin steht 10min. vor'm Termin allein vor der Tür, klingelt Sturm, schnauft, strahlt, freut sich offensichtlich, stürmt an mir vorbei in's Spielzimmer. Ich laufe hinterher. Als ich in der Tür stehe, sehe ich gerade noch, wie er den großen, fest aufgeblasenen Petzi-Ball vor sich herrollt, mit Anlauf sich drauffallen lässt, abprallt und im hohen Bogen durch die Luft fliegt und mit Kopf und Schultern gegen das Regal knallt. Er springt sofort auf. Ich weiß nicht mehr, was ich gerufen habe, nur noch, dass ich auf ihn zulief. Er schlägt meine hingestreckte Hand weg, läuft in die Zimmerecke, dreht mir den Rücken und bleibt dort stehen.

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Ich setze mich in die Mitte des Zimmers, schaue wie gebannt zu ihm hin und sage: "Das muss doch unheimlich weh tun!" Ich weiß noch, dass ich mit meiner Hand an meinen Hinterkopf dabei fasste. Er dreht sich um, kommt zu mir und legt sich in ca 1m Entfernung mit dem Bauch auf den Boden, ohne mich anzuschauen. Ich stehe auf und lege ihm ein Kissen unter den Kopf und setze mich wieder hin, weiß nicht, wie ich mich setzen soll, habe Rückenschmerzen. Um meine Unruhe zu kanalisieren, frage ich ihn, ob ich noch mehr Kissen und auch Decken für ihn holen dürfe. Er lässt zu, dass ich ihn entlang seiner Körperkonturen auspolstere, zum Schluss lege ich eine Decke über ihn. Er dreht sich darunter auf den Rücken, liegt steif wie ein Strich auf dem Boden, schaut zur Decke. Ich bin ratlos, setze mich neben ihn, weiß nicht, was ich sagen oder tun könnte. Es breitet sich ein großes Unsicherheitsgefühl in mir aus, so als wäre ich leicht, klein, eher kindlich, alles andere als mütterlich-versorgend, wie man vielleicht erwarten könnte. Er fragt mit dünner Stimme: "Kann ich aufstehen?" Ich springe auf: "Na klar!", wieder unsicher, wie ertappt, dass ich etwas falsch mache. Er deutet auf den großen Berg an Schaumstoffteilen: Würfel, Matten, dicke Kissen, und fragt, was man damit machen kann. "Vielleicht etwas bauen?" antworte ich. Als er anfängt, einen Turm mitten im Raum aufzuschichten, helfe ich ihm, reiche ich ihm die Teile an. Ich spüre meine Hände, kraftvoll. Der Turm wächst über seinen Kopf in die Höhe. Er fängt an, dagegen zu boxen, der Turm fällt um. Er schaut mich an und lächelt. "Noch mal?" frage ich. Ich fühle mich wie beim Spiel mit einem Kleinkind, entspannt und mit ihm mit neugierigerkundend. Wir bauen wieder, ich frage: "Soll ich?" und setze noch 2 Klötze höher obendrauf, über seinen Kopf hinaus. Er tritt dagegen und fällt in den Berg aus Klötzen hinein, zwar weich, aber es ist ihm peinlich. "Soll ich Dir zeigen, wie man nicht umfällt?" Ich zeige ihm, wie man "auf drei Beinen steht": sich breit auf die Fußsohlen stellen, sich vorstellen, dass die Wirbelsäule eine Verlängerung bis zum Boden hat – ich frage nach seinem Einverständnis und mache sozusagen einen "Abdruck" von seiner Wirbelsäule mit meinen Händen auf seinem Rücken, von oben nach unten, eine hinter der anderen, ganz langsam, sozusagen als "Spürhilfe" für ihn – auf deren Verlängerung zum Boden man sich dann wie auf ein drittes Bein leicht aufsetzt. Er geht intuitiv ein ganz klein wenig in die Knie. Ich freue mich und bestärke ihn: "Ja genau! Prima!" Ich mache ihm vor, wie man auf einem Fuß und gleichzeitig auf dem dritten Bein steht und den zweiten Fuß vom Boden abhebt. Er probiert und tritt in die Luft, ohne umzufallen. Ohne weiter zu sprechen, entwickelt sich daraus so eine Art 'Schattenboxen'. Wir bewegen uns zunächst im Zeitlupentempo. Ich spüre dabei sehr klar meine eigene Achse. (Um Missverständnissen vorzubeugen: ich habe keine Ahnung von Kampfkunst, Judo oder dergleichen; ich habe auch nie Leistungssport betrieben; diese Bewegungen haben sich alle aus Spielimpulsen entwickelt). Wir boxen und treten in die Luft. Ich mache Töne wie: "Boff!" "Ha!" "Hu!" u.ä. Er greift das auf, übertönt mich. Ich stehe breit und fest im Raum, trete und boxe in alle Richtungen, genieße dieses innere feste Gefühl im Körper. Er tritt und boxt gegen neue Türme, ohne umzufallen. Die Stunde ist zu Ende. Wir räumen auf. Er fragt: "Kann ich jetzt Kung-Fu?" Ich muss lachen, antworte: "Ja, vielleicht". Im Elterngespräch fragt die Mutter, ob das stimme, dass Kevin bei mir Kung-Fu mache. In einer späteren Stunde erzählt er, er mache jetzt auch auf dem Schulhof Kung-Fu. Auf meine Nachfrage bestätigt er dann, dass er jetzt in der Schule nicht mehr verhauen wird. - Das war natürlich nur die erste kleine Baustelle in seinem Leben. Eine Zwischenbemerkung: in der Therapie mit schwer bindungsgestörten Kindern gehe ich sehr vorsichtig mit emotionaler und auch körperlicher Nähe in der therapeutischen Beziehung um; da sie sich bei ständig wechselnden professionellen Betreuungsperso-

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nen immer werden trennen müssen, ist es mir wichtig, diese Kinder eher 'in sich' zu festigen als sie auf eine 'dichte' Übertragungsbeziehung auszurichten. Die Funktionelle Entspannung in ihrem großen Spür-Repertoire der 'Hilfe zur Selbsthilfe' ist mir ein großer Fundus hierfür. Nach einem halben Jahr war Kevin so weit gefestigt, dass er im Jugendamt aussagen konnte, dass er zu Hause geschlagen werde. Das hätte er früher nicht geschafft. Er kam mit seiner Zustimmung in eine Wochengruppe des Albert-Schweitzer-Kinderdorfes. Meine Bedingung, dass er einmal wöchentlich zur Therapiesitzung gebracht wird, konnte ich durchsetzen. Diese innere Ich-Achse, die sich bei mir in der ersten Stunde aufbaute, war, glaube ich, das Wichtigste, das ich ihm mitgeben konnte. Fall 3 Alex Damals 17 Jahre alt. Er wurde von seinem Patenonkel angemeldet. Sein Neffe habe einen "Autounfall" gehabt; es sei ihm nicht viel passiert, aber der Polizeipsychologe habe eine Psychotherapie empfohlen. Alex gehe seitdem nicht zur Schule. Es sei dringend! – An der Tür steht mir ein sehr kleingewachsener, schmächtiger, blasser, unbeholfenkindlich wirkender junger Mann gegenüber, der mich nicht anschaut, nur kurz murmelt: "Ich bin der Alex", meine ausgestreckte Hand übersieht, an mir vorbeigeht und sich auf die Sesselkante setzt. Er starrt auf den Boden wie in Panik, mit eingezogenem Nacken, reibt seine schweiß-verklebten Hände an den Knien ab und versucht damit auch gleichzeitig, das Wippen des rechten Beines zu unterdrücken, dessen Fuß auf der Schuhspitze steht. "Was soll ich erzählen?" fragt er. "Vielleicht das, was Du dem Polizeipsychologen erzählt hast?" antworte ich. "Das ist eine lange Liste", sagt er und fängt tatsächlich chronologisch beim Anfang seiner Leidensgeschichte an. Er redet leise, fast ohne mich anzuschauen, ohne Punkt und Komma, und auch ohne Bezug zu mir. Der Vater verließ die Familie wegen einer anderen Frau, als Alex drei Jahre alt war, und gründete eine neue Familie mit 2 neuen Kindern. Seine Mutter habe das nicht verkraftet, sie habe Vollzeit arbeiten gehen müssen, was nicht gut gewesen sei. Seinem Bruder, 2J. älter, sei das alles egal gewesen. In mir entsteht das Bild einer Mutter, die in einem Klima ängstlich-depressiver Separationsverhinderung die Kinder eng an sich gebunden hat, mit stark aufbegehrendem älteren Sohn und einem sich reaktiv-passiv auf die Mutter einstellenden feinfühligen Jungen. Beide Geschwister sind Gymnasiasten, Alex mit guten Noten in den Naturwissenschaften. Nach schweren Auseinandersetzungen sei der Bruder vor einem Jahr nach seinem Abitur ausgezogen. Seitdem gehe er nicht mehr zum Handball, ziehe sich nur noch in sein Zimmer zurück; er esse auch dort, allein. Seine Freundin habe Schluss gemacht, er wisse bis heute nicht, warum. Er mache seitdem keine Hausaufgaben mehr, habe Angst vor dem Abitur. Es sind Tics und Zwänge bei ihm eruierbar. Beide Eltern machten ihm nur Vorwürfe und Druck. An dem besagten Abend habe er mit Freunden "vorgetrunken", wie immer, wenn sie zusammen in die Disco gingen. Er habe zum ersten Mal viel Wodka getrunken; er wisse nichts mehr von diesem Abend. Beim Gehen nach der Disco habe er offenbar seinem Freund im Spaß dessen Autoschlüssel weggenommen, sei in dessen Auto gestiegen

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und habe mit Vollgas mehrere Autos gerammt. Ihm sei nichts passiert. Er habe sich wirklich nicht umbringen wollen, ehrlich. Ohne Alkohol könne er nicht in die Disco gehen und sich nicht mit Freunden verabreden. Führerschein könne er jetzt auch keinen machen wie geplant, das sei fast das Schlimmste von allem. Die Freunde hätten sich "zu Recht" von ihm zurückgezogen. Er könne nicht in die Schule gehen, weil er dort ja jetzt nur noch gemobbt werde. Das, was er schon seit vielen Jahren mache, viele Stunden am Tag zu 'zocken', mache er jetzt nur noch. Auf Befragen nannte er "Counterstrike" oder "W-O-W" (World of Warcraft), die anderen kannte ich nicht, auch Ego-Shooter, nahm ich an. -- Als er meinen Blick sah, wurde er wütend: das mache nicht aggressiv, das sei Blödsinn! Und wenn ich ihm das ausreden wolle, komme er nicht mehr. Spüren Sie mal in sich hinein? Während des Zuhörens hatte ich, ohne es zu merken, zunehmend den Kontakt zu mir selbst verloren. Ich spürte mich kaum, hatte ein Gefühl, als würde ich schweben. Mir ging wie ein quälendes perpetuum mobile ständig durch den Kopf: "Wo soll ich denn da bloß ansetzen?" Von seinem letzten Satz fühlte ich mich schachmatt gesetzt. Mir fiel nichts ein. "Puuh! Da muss ich erst mal durchatmen. Das ist ja viel auf einmal", sagte ich, ohne zu überlegen, und drückte mich aus einem inneren Impuls heraus mit den Händen von den Armlehnen ab, kam dadurch mit den Füßen fest auf dem Boden auf, hob mich ca 1cm von der Sitzfläche ab, ließ mich nach hinten in den Sesselknick fallen und atmete dabei kräftig aus. Durch den kleinen 'Plumps' saß ich sozusagen wieder 'fest im Sattel'. Beim Erinnern an diese Szene jetzt beim Schreiben habe ich ein Bild, als hätte dieses "Puuh!" auf meinem Zwerchfell wie auf einem Trampolin „aufgedotzt“ (ich finde kein hochsprachliches Wort dafür). Die Erschütterung ging durch alle Gelenke. Ich hatte meine "Ich-Achse", wie wir es in der Funktionellen Entspannung nennen, wieder. Meine Ellbogen lagen auf den Armlehnen, dadurch hatte ich mehr Raum zum Atmen. Es wurde ruhig und klar in mir. Ich konnte wieder denken. Ich schaute ihn wieder an. Er saß verändert, hatte sich angelehnt und die Arme und Hände auf der Sessellehne neben sich abgelegt. Sein Bein wippte nicht mehr. Er hatte beide Füße auf dem Boden. Er schaute mir zum ersten Mal voll in die Augen, lächelte schüchtern. "Und jetzt?" fragte er. Die Arbeit mit diesem Patienten war "Knochenarbeit". Ich kam mir oft wie eine "Verfolgerin" vor mit meinen Fragen an ein sprechungewohntes Gegenüber und mit meinen Spür- und Fühl-Angeboten. Es mutete oft wie skalierende Fragebogen-Fragen an (ist es so oder so? oder mehr so? oder anders?), half ihm aber, wie er sagte. Die Wiederaneignung eines realen Lebens mit aus-zu-halten-müssenden Ängsten, mit enormen Selbstunsicherheiten, mit desillusionierenden Bauchlandungen, "die Rückkehr aus dem CyberSpace", geschah in winzig kleinen Schritten. Wir haben sozusagen gemeinsam sein reales Leben neu erfunden. Ich habe noch nie so oft in einer Therapiestunde den Satz gehört: "Das geht gaaar nicht!" oder "Keine Ahnung!" Ich hatte häufig das Gefühl, zu "schwimmen" oder zu "schweben", ohnmächtig, hilflos, inkompetent und unwirksam zu sein. Immer wenn ich beim Hören, beim Denken, beim Sprechen dann in meine Füße spürte, Bodenkontakt bekam, ging's mir besser.

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Es war ganz oft so, dass ich, wenn ich mich selbst erst einmal innerlich ordnete, auch ihm zu mehr Struktur verhalf. Die Behandlung mit Alex ging nach gut 2 Jahren zu Ende. Alkohol war für ihn ein Genussmittel, kein Rauschmittel mehr. Zum Wochenende gehörte auch mal eine Nacht Online-Spielen am PC. Er bestand sein Abitur besser als erwartet. Er studierte dann an einer Fachhochschule, schaffte seine Klausuren. Er hatte eine Freundin, Schülerin, die ihn sehr "beschäftigte": sie hatte Neurodermitis, hyperventilierte, war extrem eifersüchtig. Er hat ihr "das mit den Füßen" beigebracht. "Das hilft", sagte er. Wenn's ihr ganz schlecht ging, kaufte er ihr ein Kuscheltier, so klein, dass es in ihre Hand passte. "Das hilft auch", sagte er. Mir war es ein Anliegen, Ihnen die Bedeutsamkeit der Gegenübertragungsreflexion, wie ich sie in meinen verschiedenen Therapieausbildungen gewohnt bin zu pflegen, aus unterschiedlichen Perspektiven zugänglich zu machen: aus der Perspektive der Beziehungsdynamik, die in der Arbeit mit Kindern immer sehr komplex und oft schwer überschaubar ist und viele "Fallen" für Verwicklung bietet aus der Perspektive der intrapsychischen Belastung der Therapeutenpersönlichkeit, psychisch und physisch, wenn wir neurobiologisch denken daraus resultierend die Notwendigkeit der Selbstregulation in der Gegenübertragung: bei ausreichend viel körperpsychotherapeutischer Selbsterfahrung gelingt vielleicht die Selbstempathie über den Körper rascher als emotional oder mental? Daraus entwickelt sich nicht selten im Behandlungsprozess die Chance, auch in meinem Gegenüber heilsame Impulse auszulösen. Da wird's dann körperpsychotherapeutisch besonders "spannend", finde ich.

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Literatur: BURISCH, M. Das Burnout-Syndrom. Theorie der inneren Erschöpfung. Berlin: Springer 1989 FENGLER,J. Helfen macht müde. Zur Analyse und Bewältigung von Burnout und beruflicher Deformation. München: Pfeiffer 2002 HERBERTH,F., MAURER,J. (Hrsg.) Die Veränderung beginnt im Therapeuten. Anwendungen der Beziehungsanalyse in der psychoanalytischen Praxis. Frankfurt: Brandes & Apsel 1997 HOLDEREGGER,H. Der Umgang mit dem Trauma. Stuttgart: Klett-Cotta 1993 KERNBERG,O.F., DULZ, B., ECKERT,J. (Hrsg.) und ihren unmöglichen Beruf. Stuttgart: Schattauer 2006

WIR: Psychotherapeuten über sich

REIMER,C., JURKAT,H. Lebensqualität von ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten in: Psychotherapeut, 50, 107-114 FUCHS,M. Funktionelle Entspannung. Theorie und Praxis eines körperbezogenen Psychotherapieverfahrens. Stuttgart: Hippokrates 1997 6.Aufl. FUCHS,M., ELSCHENBROICH,G. (Hrsg.) Funktionelle Entspannung in der Kinderpsychotherapie. Basel: Reinhardt 1996 HERHOLZ.,I., JOHNEN,R., SCHWEITZER,D. (Hrsg.) Funktionelle Entspannung – Das Praxisbuch. Stuttgart: Schattauer 2009 .

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Einverleibungen deutscher Geschichte Seit der JT 2010 beschäftigen wir uns mit der unbewussten Weitergabe von Auswirkungen unserer deutschen Geschichte, mit den Folgen der Traumatisierungen der KriegsGeneration durch Nationalsozialismus, Krieg, Holocaust, Flucht und Vertreibung. Es gibt inzwischen viele Untersuchungen über die Langzeitfolgen, z.B. eine auffallende Häufung psychosomatischer Erkrankungen der inzwischen alt gewordenen Kriegskinder(1). Nicht bewältigte Ängste, Schuld- und Schamgefühle, Bitterkeit und Wut über Ungerechtigkeit und Verluste wurden an die nächste Generation weitergegeben und wirken in unterschiedlichster Form weiter. Wir haben dieses Phänomen „Einverleibungen“ genannt. Der Prozess der Einverleibung umfasst die Auseinandersetzungsvorgänge zwischen Innen und Außen von Beginn des Lebens an. Schon auf zellulärer Ebene findet ein Austausch statt von Impulsen, die sich verwirklichen wollen, und Antworten der Umgebung, die sich einverleiben und wieder zu neuen Impulsen verarbeitet werden. Diese Vorgänge begleiten unser ganzes Leben und können lebensförderlich sein oder störend und krankmachend. Auf die Einverleibungen deutscher Geschichte bezogen ist für die jeweils betroffene Generation Verschiedenes gemeint. So kann es sein, dass Kriegskinder in ihrem natürlichen Bindungsstreben unzureichend befriedigt wurden (2). Für Nachkriegskinder und Kriegsenkel kann sich daraus ergeben, dass etwas Fremdes übernommen und zu einem Teil der eigenen Person wird (3). Identifizierungen mit den Einstellungen der Eltern- guten wie schlechten- gehen buchstäblich „in Fleisch und Blut über“. Mehrgenerational weitergegeben wird ein kollektives Geschehen dann als persönliches Leid erfahren, obwohl es im Erleben der direkten eigenen Geschichte nicht mehr zu verorten ist. Diese Muster zu erkennen und zu bearbeiten macht unsere tägliche therapeutische Arbeit aus. Sie auch bei uns selbst zu erkennen, ist oft schwierig, weil wir unser ganzes Leben hindurch von kriegstraumatisierten Erwachsenen umgeben waren und im Kontakt mit ebenso transgenerational beschädigten Gleichaltrigen sind. In einer nachdiktatorischen Gesellschaft ist keiner frei von transgenerationalem Erbe. Die Langzeitfolgen des Krieges wurden aber erst in letzter Zeit erforscht und beschrieben (4,5). Entsprechende blinde Flecken im Prozess der Selbsterfahrung waren während der eigenen psychotherapeutischen Ausbildung die Regel und nicht die Ausnahme. Erfahrungen aus den Workshops Viele der genannten heiklen Themen setzten sich auch bei den Workshops in Szene. Die jüngeren Teilnehmer (jünger in Bezug auf Alter und/oder Mitgliedschaft zur AFE) fühlten sich belastet und unbehaglich und die älteren, eigentlich nicht weniger belastet, richteten sich im Schweigen ein. Zum Glück nur am Anfang. Am Ende war klar, dass nur durch Zuwendung zu den eigenen verletzten Anteilen und durch ein „Gespräch unter Vertrauten“ heilende Prozesse in Gang kommen können. Dass man mit Belastungen und Verletzungen nicht allein ist und Bewältigungsstrategien sich ähneln, wurde in beiden Workshops mit Erleichterung erlebt. Aber Generationsunterschiede fielen ins Auge: Die Generation der Kriegskinder und deren Kinder hatten zu schweigen gelernt, um die Eltern zu schonen und im Rückzug einen gewissen Trost gefunden. Die „Enkelgeneration“ dagegen konnte und wollte Belastung und Trauer

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benennen- weil sie besser als ihre Eltern wussten, dass sie unter etwas litten, was sie nicht selbst zu verantworten hatten. Benannt wurde im ersten Workshop von jüngeren Teilnehmern so konkret wie überraschend ein diffuses Unbehagen, das sie bei der Mitgliederversammlung und der Jahrestagung befallen hatte. Es hatte mit Spannungen und dem Schweigen der Älteren zu tun, das Phantasien über „Täter und Opfer“ und leibliche Empfindungen von Beklemmung auslöste. Das Band zwischen den Generationen wird durch traumatische Einwirkungen zerrissen. Zurückweisungen, gekränkter Rückzug, Gefühle von Ausgeschlossen-Sein, Wut, Trauer und Schuld blockieren auch leiblich. Die älteren reagierten betroffen auf die Belastung der jüngeren. Es gab und gibt blinde Flecken für einverleibte Muster in allen Gremien der AFE und sie inszenieren sich buchstäblich abstoßend. Einverleibungen müssen sich erst in Szene setzen bevor FE-gemäß durch Spüren danach gesucht werden kann, was gebraucht wird: Trost und Nähe suchen bei anderen, darüber reden, Gefühle zeigen. Die Älteren merken, dass sie die jüngeren brauchen, um Tabus wahrzunehmen und zu lernen, wie man sich geschwisterlich tröstet. Die Jüngeren werden entlastet, wenn ihre Rückmeldungen ernst genommen und ihr Fragen beantwortet werden und die Alten im übrigen „ihre Hausaufgaben machen“. Die Grenzen des sprachlichen Austauschs wurden immer wieder erreicht, die Frage nach Tätern und Opfern blieb unbeantwortet im Raum. Im zweiten Workshop war die „Enkelgeneration“ kaum vertreten, die Belastungen waren aber ähnlich: Erinnerungen an Verluste und Mangel, an einverleibte Erziehungsmaßnahmen und an Anstrengung und Tüchtigkeit. Von den Eltern übernommen wurde auch das lebenslange Grundgefühl von „Überlebenskampf“. Das Sicherheitsgefühl der Kriegskinder blieb auch in friedlicheren Zeiten fragil, der Mangel an Halt war zeitlebens ein Problem. Die Eltern mussten geschont werden. Spürbar waren eine gewisse Vorsicht, eine Achtsamkeit, aber auch Verletzlichkeit. Immer wieder fanden Projektionen statt; die eigenen bedürftigen Anteile beim anderen zu erkennen und dort stellvertretend zu bearbeiten ist leichter, als sie schmerzend bei sich selbst zu verorten. Eine Neigung zu Idealisierung anderer Kulturkreise war zu spüren, verbunden mit Scham und Entwertung der deutschen Identität. Erinnerungen an das Unbehagen auf Reisen als Kind oder Jugendlicher- bloß nicht als Deutsche auffallen! Kann man leiblich „das Deutsche“ in sich verorten? Oder sind es kulturübergreifend nicht immer dieselben Muster? Viele Fragen blieben auch hier unbeantwortet. Raum wurde gesucht für eingesperrte Empfindungen, Raum in sich und Raum außerhalb, in der Gruppe oder beim Blick durch das geöffnete Fenster. Zärtlichkeit wurde als rettendes Gefühl genannt, Lebendigkeit, auch Dankbarkeit für die heilsame Achtsamkeit und Selbstfürsorge, die in der FE erworben wurde. Es entstanden leibliche Impulse: sich aufzurichten gegen den Impuls, sich in sich zurückzuziehen, sich durch Nähe zu anderen, im Aufeinander-Zugehen zu trösten und Wünsche zuzulassen: nach Aufbruch, nach Erwachsen-Werden und nach Mut, negative Empfindungen zu äußern. Es gab auch warme, rettende Erfahrungen, die sich in Bildern und Geschichten ausdrückten, die man miteinander teilte. Auch in der Gruppe der Workshop-Leiterinnen inszenierte sich die Bedürftigkeit der verhärteten Eltern und des Kindes, das sich bemüht, die Aufgaben der Eltern zu übernehmen und sich dabei überfordert. Auch hier bestand die Gefahr, die eigenen bedürftigen Anteile beim anderen zu erkennen und dort stellvertretend zu bearbeiten. Selbstschutz durch Rückzug ist erlaubt, wenn Situationen emotionaler Überforderungen entstehen; aber die sekundär Traumatisierten der Nachkriegsgeneration brauchen

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manchmal mehr, nämlich weitere Bearbeitung ihrer verletzten Anteile in Selbsterfahrung oder eigener Psychotherapie. Welche Erkenntnisse und Konsequenzen ergeben sich daraus? 1. Bei der Aufarbeitung individueller wie institutioneller Geschichte gibt es Risiken und Nebenwirkungen Der Prozess der Bearbeitung traumatischer Einverleibungen kann erhebliche Verwerfungen mit sich bringen. Schwierige Erinnerungen und Gefühle tauchen auf, können Beziehungen belasten und aktuelle Lebensbezüge instabil werden lassen. Nicht umsonst gilt die Regel, in diesem Prozess keine wichtigen lebensverändernden Entscheidungen zu treffen- zu sehr können alte Erfahrungen und Gefühle die Wahrnehmung der Gegenwart verzerren. Die Wiederholung alter Muster kann dazu beitragen, sekundäre Traumatisierungen zu bearbeiten, birgt aber gleichzeitig die Gefahr, neue Verletzungen zu verursachen. Wie lange es dauert, bis Wiederholungen durch Trauerarbeit abgelöst werden, wissen wir aus unserer eigenen Selbsterfahrung und aus der Arbeit mit unseren Patienten. Die Gefahr einer Wiederholung alten Unrechts und erneuter Verletzungen besteht auch bei institutioneller Aufarbeitung. Wir sind auch hier damit konfrontiert, uns auf unsicherem Terrain bewegen zu müssen und dabei sowohl die Rollen von Tätern als auch die der Opfer zu übernehmen- es gibt dabei keine neutrale Zuschauerrolle und keine „richtige“ Seite. Da wir nicht „Herr im eigenen Haus“ unserer unbewussten Wünsche und Ängste sind, können unsere scheinbar lauteren Absichten Deckmantel für eigennützige Motive sein, die Feindseligkeit der anderen die Projektion u n s e r e r Wut und Selbstverachtung. Aggressive Auseinandersetzungen sind dann nicht Zeichen von Konfliktfähigkeit, sondern im Gegenteil Spaltungen als Folge unreflektierter Vorurteile, mit denen wir identifiziert sind. Wenn wir Glück haben, erfahren wir dann - wie in den Workshops - konstruktive Kritik durch andere; wenn wir Pech haben, lernen wir nichts aus der Geschichte und ziehen uns gekränkt zurück. 2. Den einmal begonnenen Prozess der Aufarbeitung kann man nicht aufhalten- die Alternative, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen, birgt noch größere Risiken. Individuell wie kollektiv bestätig sich: Wenn geschwiegen wird, kommt es meist noch schlimmer. Die innere Dynamik von Lebenslügen, tragischen Ereignissen und persönlicher Beteiligung führt häufig früher oder später zu Problemen. Überzeugender ist es, selbst die Dinge in die Hand zu nehmen, statt von außen dazu gezwungen zu werden. Die Jüngeren spüren sowieso Unbehagen und Verwirrung über zurückliegende Dinge, über die nicht geredet wird. Im schlimmsten Fall ziehen sie sich zurück. Den Älteren ist oft gar nicht bewusst, wie sehr sie die nächste Generation durch ihr Schweigen belasten. Sie haben darin Zuflucht gesucht, um sich zu trösten und die nächste Generation zu schonen. Konkret heißt das: es gibt keine Alternative dazu, miteinander zu reden und Konflikte auszutragen. 3. Der „Austausch unter Vertrauten“ kann ein wertvolles Instrument der Aufarbeitung werden. Die Folgen kollektiver Traumatisierung werden fälschlicherweise als individuelles Unglück und eigenes Versagen erlebt und nicht als Muster, das andere in gleicher Weise erlebt haben. Diese Erkenntnis kann sehr entlastend sein, wie in den Workshops beim „Austausch unter Vertrauten“(6) deutlich wurde. Der von Ermann so benannte „Austausch unter Vertrauten“ kann Schuld- und Schamgefühle sowie das Gefühl zu ver-

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sagen verhindern oft Aussprache. Traumatisierung beschädigt Bindungen. Bindung muss also wiederhergestellt werden, zwischen den Generationen oder innerhalb derselben. Bindung braucht ausreichend Freiheit und Respekt. Nur dann kann ein Vertrauen entstehen, das wiederum Austausch ermöglicht. Dies gilt für den therapeutischen Rahmen ebenso wie für unsere eigene Psychohygiene und die der Institutionen, in denen wir arbeiten. 4. Der leibliche Selbstbezug mit FE hilft bei traumatischen Einverleibungen Die FE kann dazu beitragen, gemeinsam danach zu suchen, was heilt und wie Vertrauen wiederherstellt werden kann. Sie bietet in diesem Austauschvorgang besondere Möglichkeiten, in den verschiedenen Bereichen der Gruppenarbeit, im Zugang zur Selbstregulation, im Aufnehmen einverleibter Biographien, im Umgang mit Resonanzphänomenen und der Stärkung der autonomen zwischenmenschlichen Regulation. Der Rückbezug auf den eigenen Leib ist eine Hilfe, in dem verwirrenden Gemisch aus auftauchenden Bruchstücken transgenerationaler Traumatisierung und den Auswirkungen anderer, direkter oder sekundärer Traumatisierung eine Orientierung zu finden und weniger auf andere zu projizieren. Wir nehmen vorurteilsfrei und wertfrei wahr: wie spüre ich mich, welche Impulse in mir möchten sich verwirklichen, was braucht es jetzt. Dabei kann über die feinfühlige Selbstregulation eine Ordnung im Gegenwärtigen geschehen. Ebenso können Spuren einverleibter Biographie aufgenommen werden. Implizites Beziehungswissen wird über den Schritt, Sprache für bisher Unbemerktes zu finden, ins explizite Bewusstsein gehoben. Im Nachspüren und im Ebenenwechsel integrieren sich vorhandene Ressourcen mit gefundenen Lösungsimpulsen kleinschrittig. Auf diese Weise kann der Umgang mit Trauma-Bruchstücken "dosierbar" gestaltet werden. Hilfreich ist dabei, sich auf die uns allen vertrauten Ressourcen zu beziehen: den Halt gebenden Boden, die spürbare Eigenbeweglichkeit, die Sicherheit der Grenzen, die Wahrnehmung der Veränderungen im Rhythmus. Eine positive Auswirkung liegt auch darin, dass wir versuchen, mit FE immer wieder für eine angemessen entspannte, Gelassenheit und Sicherheit signalisierende vegetative Verfasstheit zu sorgen (7). So nutzen wir den behutsamen Umgang mit Resonanzphänomenen und Synchronisationsvorgängen im Suchen nach stimmigem, gemeinsamem Vorgehen. Dies wiederum ermöglicht Vertiefungsprozesse in der Gruppe und im Einzelnen. Literatur: 1. Plassmann, R und Huber M (Hrsg): Transgenerationale Traumatisierung. Junfermann Paderborn 2012 2. Chamberlain S: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. PsychosozialVerlag Gießen 1997 3. Alberti B: Seelische Trümmer, Kösel- Verlag München 2010 4. Janus L (Hrsg): Geboren im Krieg. Psychosozial- Verlag Gießen 2006 5. deMause L: Was ist Psychohistorie? Psychosozial- Verlag Gießen 2000 6. Ermann M: Unauslöschbare Spuren. Funktionelle Entspannung. Beiträge zu Theorie und Praxis, Heft 38, 9-19 2011 7. Lauffer V: FE am Beispiel einer Traumatherapie. In M. Thielen: Körper – Gruppe – Gesellschaft. Psychosozial-Verlag Gießen 2013 Workshops im Rahmen der Jahrestagung der AFE in Rothenburg im November 2012

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Sabine Buntfuss

Grenzerfahrung Pubertät Um verstehen zu können, warum für alle Beteiligten der Lebensabschnitt der Pubertät als besonders herausfordernd erlebt wird, lade ich Sie ein, mir bei der Ausführung einer eher ungewöhnlichen Entwicklungspsychologie der Lebensphasen zu folgen. Angeregt von Sam Keen, einem amerikanischen Psychologen, dessen Buch „ Die Lust an der Liebe, Leidenschaft als Lebensform“(Keen 1995) mich außergewöhnlich inspiriert hat, beginne ich den Workshop mit ein paar grundlegenden Gedanken, bevor wir dann mit FE dem Gehörten nachspüren. Sam Keen ordnet unseren Lebenszyklus den folgenden Phasen zu: • Das Kind • Der/die Rebellin • Der/die Erwachsene/r • Die/der Gesetzlose • Der/die Liebende Beginnen möchte ich mitten in der oft turbulenten Übergangsphase zwischen jugendlichem Rebell und Erwachsenem. Da sich dies auch im Leben nicht kausal und stringent vollzieht, springe auch ich immer wieder zwischen diesen Phasen, um Ihnen die wechselseitige Beeinflussung aufzuzeigen. Am Beginn des sogenannten Erwachsenenalters stehen ein paar elementare Aufgaben: Fantasien von dem, was alles sein könnte, müssen sich in die Grenzen eines einzigen möglichen Lebens einfügen. Wir übernehmen Pflichten, bauen den eigenen Herd und beackern den Boden, der durch feste Zäune abgegrenzt wird. Wir lernen zu warten, zu arbeiten und Pflichten zu erfüllen. Zwei Menschen bilden die Dyade, umgeben vom Clan, eingebettet in die Gesetze der Gesellschaft, welche ein verbindliches System von Mythen und Regeln aufgebaut haben. Liebe hat den Sitten und Gesetzen der Kultur zu entsprechen, die vorschreiben, wen man wann und wie lieben darf. Reife bedeutet, dass man (irgendwelche) sozialen Meilensteine erreicht hat, heiratsfähig ist oder wählen darf. Man kontrolliert sein Verhalten und lebt in effektiven zwischenmenschlichen Beziehungen mit gleichzeitiger Internalisierung von moralischen Normen. Um erwachsen zu werden, schieben wir die biologischen Triebe beiseite und akzeptieren neue, soziale Motivationen. Das Individuum gibt Einmaligkeit auf, zugunsten von Mitgliedschaft. Konnte der „Rebell“ großzügig Energien verschwenden, so werden diese jetzt für Familie, Firma und Funktionieren geopfert. Die Zeit zum Staunen, zum Verweilen, zum „Chillen“ und Genießen weicht dem Machen, Tun, Leisten und Produzieren. Gleichwohl erfüllt den Erwachsenen dieses mit Zufriedenheit, Sinn und schöpferischer Genugtuung. Konnte der „Rebell“ es sich leisten, spielerisch und spontan Gefühle auszuleben, so gilt für den Erwachsenen das Primat der Arbeitsethik und des Triebaufschubs. Eros (als universelle Lebenskraft) folgt nicht länger Kairos (Gott des richtigen Augenblickes), sondern Chronos (Gott der Zeit/ des Zeitabschnitts). Während der „Rebell“ experimentiert mit „ich will“, findet der Erwachsene Erfüllung und Aufgabe im „wir wollen“. Dies entspringt natürlich dem inneren Wissen und der Erfahrung, dass wir ohne Gemeinschaft, ohne „wir“, sterben würden. Stabilität, Geduld, Fleiß und Freundlichkeit sind die Tugenden, die uns das Lob des Stammes und die Gewissheit des Überlebens einbringen. Und wenn wir schon unsere Individualität, unser Ausleben von Leidenschaften der Gruppe und ihrer Zugehörigkeit opfern, so erwarten wir unbewusst als Gegen-

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leistung, dass die Stammeszugehörigkeit unsere tiefsitzende Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe und Anerkennung befriedigt. Der „Kreis der Liebe“ droht jedoch mit zunehmender Rollenübernahme kleiner zu werden, indem unsere Liebesfähigkeit reduziert wird auf die, die sie verdienen. Dazu gehören in der Regel die engsten Familienmitglieder (zumindest die, die sich ebenfalls konform verhalten), die Nachbarn, die nicht streiten oder antisozial sind, die Politiker, die keine krummen Sachen machen usw. Wir lernen, aggressive Impulse zu unterdrücken oder sie durch geeignete Abwehrmechanismen zu zivilisieren. Das Andere, das Animalische, das Dunkle, das Fremde wird ausgegrenzt, Gruppenidentität geht nur mit einem Feind im Außen. Der Konsens der Stammessitten fordert Gehorsam in der Befolgung von Regeln und Gebräuchen. Diese mythisch geprägte Normalität (Mythos = ein System von Bildern und Geschichten, die das Wahrnehmen und Erinnern eines Volkes prägt, seine Institutionen formt und Rituale definiert) wird irgendwann zur Massenhypnose, die unsere Entwicklung begrenzt. Was ein gutes Leben ist, wird durch Propaganda definiert. Dass wir diese Stellung erkaufen mit dem Preis unserer Beschneidung von Lebenskraft, ahnen wir vielleicht, wenn der Gefühls- und Körperpanzer, den wir uns zugelegt haben, um das Aufbegehren nicht mehr zu spüren, schmerzhaft ins Bewusstsein rückt. Wenn wir uns der Lebensmitte nähern, scheint es eine Kraft in uns zu geben, die die Einschränkung des Eros als universeller Lebenskraft nicht mehr duldet. Während die östliche Tradition diesen Aufbrechenden Bilder und Handlungen anbietet, tun wir uns im Westen schwer, die Weiterentwicklung des Erwachsenen sichtbar und nachvollziehbar zu machen. Denn offensichtliche Kontemplationsphasen, altmodische Nervenzusammenbrüche oder gewagte Liebesaffären sind allesamt geeignete Strategien, die Panzerung aufzubrechen, kaum eine/r erkennt jedoch die tiefe Sehnsucht, die uns zu diesen normverletzenden Lebensformen zwingt, und, mehr noch als das, sind Antworten rar. Meist ist es eine tief verspürte Leidenschaft für Gerechtigkeit, Würde, Freiheit und Überwinden der selbst gesetzten Grenzen in den sozialen Bezügen, die uns zu manch ungewöhnlichen Taten inspiriert. Doch innerlich entscheiden sich die meisten Menschen, den Schlaf fortzusetzen, sie sterben lieber, um den Stamm zu retten, als das Risiko einzugehen, alleine zu leben, sprich ausgeschlossen zu werden. Wiederholungszwang in endlosen Neuauflagen ist Gesetz. Doch irgendwann bricht eine/r auf (oder ein Teil in uns), ein Regelbrecher, ein Individuum, eine Ketzerin, die sich nach einer Form des Gewissens auf die Suche macht, die mehr ist als bloßer Gehorsam gegenüber dem Konsens der Stammessitten. Denn die Entwicklung der Psyche kann sich mit dem erreichten Status, gleichwohl dieser als Ablösung der Zeit der Rebellin wichtig war, nicht begnügen. Eine „gesetzlose“ Zeit bricht an, die Mut erfordert, zu sich zu stehen und sich teilweise dem Konsens der Gesellschaft zu entziehen. Um den Übergang in diese Entwicklung zu vollziehen, bedarf es, nach Auffassung derer, die diese Transformation bereits begonnen haben, einer mehr oder weniger langen Zeit des Rückzugs. Rückzug meint, ich entziehe mich bewusst den von mir inszenierten Dramen, in denen ich wechselweise die Rollen des Opfers und des Tyrannen übernehme. Ich entscheide mich für eine Weile, das Theater der Welt zu beobachten, ohne zu bewerten, ohne zu beurteilen, ohne zu urteilen, ohne Stellung zu beziehen, ohne mich auf eine Seite zu schlagen, ohne zu diagnostizieren, kurz, ohne zu reagieren. Ich beobachte die Spiele und wie ich selbst andere manipuliere, um das zu bekommen, was ich will. Ich identifiziere mich nicht mit oder gegen etwas. Um meine internalisierten Denkmuster abzule-

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gen, muss es diese Zeit der untätigen Beobachtung geben. Ich kann die Fähigkeit entwickeln, zwischen Reiz und Reaktion eine Pause einzulegen. Ich lege die Knechtschaft meiner Impulse, biologischen Programmierungen und Urteile ab und finde zu der Freiheit, selbst zu entscheiden, wie meine Reaktion ausfallen wird, wer mich wie und wann berührt (im ganzheitlichen wie im wörtlichen Sinn)… Ich überwinde die größte aller Süchte: die Abhängigkeit von meiner Persönlichkeit und meiner Geschichte. Von hier aus können wir den Herausforderungen der jugendlichen „Rebellen“ gelassen, liebevoll und stark gegenübertreten. Schauen wir uns noch einmal an, was den Motor des „Rebellen“ ausmacht: ausgestattet mit genügend körperlicher und hinreichend emotionaler Stärke wagt er sich aus mütterlicher und väterlicher Autorität hinaus, um in seinem Aufstand gegen alle Autoritäten die eigenen Grenzen zu überschreiten und in unterschiedlichsten Kämpfen neu zu besetzen. Die aufsteigenden Körpersäfte erlauben es, Energien verschwenderisch fließen zu lassen, alles scheint möglich, Eros folgt dem Kairos. Die Welt, die Liebe, die Geliebten, die Möglichkeiten scheinen einer endlosen Auswahl zu unterliegen. Aber um etwas zu erschaffen, muss der Rebell erst zerstören. Er muss die Bande mit dem Zuhause lösen, das Vertraute hinter sich lassen, Tabus verletzen. Das aufkeimende Selbst des Jugendlichen verwandelt Gehorsam in Ungehorsam, Widerstand und Rebellion. Gemeinsam mit anderen Genossen bildet er/sie eine Gegenkultur, die die Werte der Eltern kritisieren. Die erwachende Leidenschaft braucht ein Ideal, einen Traum, eine Liebe, eine Ideologie, eine neue Gesellschaftsform. Die romantische Liebe zieht die Jugend in den Bann, verspricht Heilung von aller Einsamkeit. Mittlerweile wird in unserer Gesellschaft eine rebellische Phase der Jugend akzeptiert. Der „Rebell“ muss seinen Willen üben, gegen Autoritäten angehen und alte Tabus brechen. Dennoch ist die Rebellion unangenehm. Sie stört die Erwachsenen und wird kaum ermutigt oder beklatscht, außer in der Abspaltung auf „berühmte Kriminelle“, die stellvertretend für uns antisoziale Impulse leben (Computerspiele, Filme, Medien allg.). Allgemeine Furcht provoziert sie, dass Gesetz und Ordnung, die wir uns doch so mühsam als Erwachsene aufgebaut haben, weggefegt werden. Wenn wir ausschließlich vom Erwachsenenstatus aus auf die Bollwerke der jugendlichen Rebellen reagieren, werden der hohe Einsatz und die emotionale Kraft verständlich, die uns nur zu oft hilflos und erschöpft zurücklassen. Gilt es doch für den Erwachsenen, die Regeln und Normen zu verteidigen. Und in der Energie des Kampfes sind uns die Jugendlichen schnell überlegen. Zu den in der westlichen Kultur relativ übereinstimmend festgelegten Mythen zählen, was speziell die Regelung von Konflikten betrifft: • Es geht in jedem Fall um Gewinnen und Verlieren, wer verliert, verliert auch sein Gesicht. • Es wird einen Kampf geben, einen Entschluss, ein Urteil, das darüber entscheidet, wer Recht und wer Unrecht hat. Wer Unrecht hatte, hat sich daran zu halten. • Auf beginnendes Aufbegehren muss man sofort reagieren, sonst läuft alles aus dem Ruder. • Ich muss versuchen, soviel Kontrolle wie irgend möglich zu bekommen, um die Situation nach meinem Willen zu steuern. • Respekt muss man sich verdienen. • In einem lang andauernden Streit, in dem ich viele Kompromisse versucht habe, gibt es irgendwann die Rechtfertigung zum Vernichtungsschlag (Konsequenz). Die permanente Provokation und darauffolgende Reaktion der Erwachsenen zeigt, dass sich beide auf einer Ebene einig sind, um sich in den Kampf zu verwickeln: die Schlacht

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um die „Stammesregeln“. Was die Einen machtvoll einreißen, wird von den Anderen nicht minder macht- und gewaltvoll verteidigt. Der Kampf tobt um die Definition von Licht und Dunkel, von Gut und Böse. Leicht missrät dann erzieherische Verantwortung in eine Abwehrreaktion gegen eigene unterdrückte Minderwertigkeitsgefühle, Ängste und unterdrückte Lust. Es sei darauf hingewiesen, dass „Provokation“ „hervorrufen“ bedeutet. Es handelt sich hierbei um eine gezielte Handlung, die eine bestimmte Reaktion beabsichtigt. Im medizinischen Sinn handelt es sich um gezielte Tests, bei denen bestimmte Reize Symptome einer vermuteten Erkrankung hervorrufen sollen. Es scheint also geradezu die Aufgabe der rebellischen Altersspanne zu sein, allzu Statisches und Unverarbeitetes ans Tageslicht zu bringen, um es einer Weiterentwicklung anzuvertrauen. Zum Glück haben viele Erwachsene, wenn die Sprösslinge die Zeit der Rebellion erreichen, bereits einiges an Lebenszeit hinter sich und sind bereits auf dem Weg, die festgefahrene Seite des Erwachsenenstatus zu verlassen und sich auf den Weg des Gesetzlosen zu begeben. Denn die Erfahrungen des Gesetzlosen ermöglichen zum Einen die nötige Gelassenheit, auf Provokationen zu reagieren, garantieren aber auch gleichzeitig, dass das eigene Auftreten präsent, respektvoll und fest sein kann. Wer wenigstens ansatzweise geübt hat, zwischen Reiz und Reaktion eine kleine Pause einzulegen, wer sich Gedanken gemacht hat, dass der erreichte Status von Pflicht und Gehorsam eine zu erweiternde Lebensphase ist, wer das bürgerliche Gewissen in seinen Vorzügen aber auch Begrenzungen kennengelernt hat, wird in der Lage sein, Rebellen zu begleiten, auszubilden. Der Gegenkampf birgt immer die Möglichkeit, aus Rebellen Kriminelle zu erziehen. Wenn wir den Jugendlichen lehren, dass es einen Kampf gibt um Gewinnen und Verlieren, dass Recht haben versus im Unrecht sein entscheidend für ein friedliches Miteinander ist, dass das Böse generell im Anderen zu finden ist und dort unter Kontrolle gebracht werden muss, dann lehren wir sie, auch weiterhin in Freund und Feind zu unterscheiden. Sie werden unsere Hilflosigkeit spüren, dem per Definition erschaffenen Feind ins Auge zu blicken und sie werden, so beschädigt wie wir selbst, keine Antworten auf die uns innewohnenden Kräfte der Destruktivität, der Gewalt, der Aggression und Antisozialität bekommen. Der "Kriminelle" setzt sein Messer im Außen gegen andere ein, er ist vordergründig verhaftet im Kampf gegen Autoritäten, tief im Inneren jedoch gegen die eigenen Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle, gegen nicht gelebte und ungeliebte Impulse, gegen den Eros. Der „Gesetzlose“ benutzt sein Messer, um den eigenen Charakterpanzer zu zerschlagen, um Abwehrmechanismen zu zerstören, um sich von der unbewussten Paranoia der Massen abzuschneiden. Von dieser Position aus kann der „Gesetzlose“ gleichzeitig die Rebellion des Jugendlichen verstehen, begleiten UND begrenzend lenken. Durch ein Aufkündigen der unreflektierten Stammeszugehörigkeit und ein begleitendes Erkennen, dass mein Stamm, wie alle anderen auch, Schuld auf Feinde projiziert, kann hoffentlich die Maschinerie abgestellt werden, die fortwährend Feinde und Gewalt produziert. Dies führt zu einem neuen Verständnis von Autorität. In die alten Vorstellungen und Kämpfe verfallen wir, wenn wir aus Furcht vor Ohnmacht und „Respektverlust“ alles tun, um die Kontrolle zu behalten. Wenn wir um den Sieg kämpfen, weil wir keine andere Idee haben, wie wir die antizipierte Niederlage verhindern könnten. Wenn wir uns verstricken im Kampf um Gewinnen und Verlieren, gönnen wir uns selbst nicht die Erfahrung, ein wirkliches Gegenüber zu sein, an dem sich die Jugend testen, reiben, aufreiben und wieder annähern kann. Ein neues Verständnis von Autorität

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bezieht die Legitimation, eine Autoritätsperson zu sein, einzig aus sich selbst. Sie macht sich nicht abhängig von der Anerkennung anderer, denn dieses Abhängigkeitsverhältnis hält den Kampf um Gewinnen und Verlieren aufrecht. Sie ist verwundbar, hinterfragbar, macht Fehler und hat Schwächen, das entlässt sie aus dem aufreibenden Kampf, das eigene Gesicht nicht verlieren zu dürfen. Und gleichzeitig bietet sie Widerstand, folgt den Werten von Liebe, Gerechtigkeit, Güte und Mitgefühl und tut alles dafür, die Kontrolle über das eigene, gewaltfreie Verhalten zu erhalten. Menschen, die mit ganzer Hingabe und Leidenschaft sich diesem Weg anvertrauen, werden früher oder später den Bewusstseinszustand des/ der Liebenden betreten. Liebe bedeutet, sich der Aufgabe des Heilens zu stellen. Die Berufung geht dahin, andere (und die Teile in sich selbst, die alte Wunden und Ängste nähren) zur Wiederentdeckung ihres wahren Selbst zu verlocken. Es ist die Kunst des Vergebens, die alle Kategorien zerschmettert, die Empathie auf alles ausdehnt, was uns umgibt, und das Gefängnis des eigenen Bewusstseins verlässt. Das neu entdeckte, autonome Selbst des Gesetzlosen liegt jenseits der Definition von Gut und Böse und der Persönlichkeitsmasken. Wenn mit zunehmendem Alter der Geist der Liebenden und der Gesetzlosen die sog. erwachsene Persönlichkeit ersetzen kann, wird dies zum Anwachsen des Friedens führen. Anwendung und Aufspüren der eigenen Biographie mit Hilfe der FE: Im Anschluss spürten die Teilnehmenden im Workshop den einzelnen Phasen nach und beschrieben ihr Erleben. Unterschiedlichstes wurde berichtet, z.B: Wie fühlt es sich ganz leiblich an, wenn es im Alltag zu Konflikten mit Jugendlichen oder den eigenen Kindern kommt, und welche leiblichen Lösungsvorschläge habe ich bereits erfahren? Wo wird es in mir eng, wenn ich denke, ich muss sanktionieren, was hilft mir dann leiblich? Der/ die Jugendliche Rebell Eros als Lebenskraft setzt verstärkt Energien frei, die dazu dienen sollen, den Weg des Aufbruchs zu wagen. Körperkräfte werden mobilisiert für die notwendigen Aufgaben der Abgrenzung, des Aufbruchs, des Einreißens und neu Erfindens. Gleichzeitig sehen wir unterdrückte, fehlgeleitete Energien in Form von Verspannungen, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Übergewicht, Übererregbarkeit, verhaltenem Atemrhythmus, ängstlicher Zurückhaltung, Obstipation, Anorexie und Bulimie u.a.

Der /die Erwachsene Strukturen, Halt, Grenzen, Verlässlichkeit, Wiederkehrendes, Bekanntes, das Gerüst, Skelett, knöcherner Halt Im „Zuviel“ und gleichzeitig „Zuwenig“ kommt es zu Verspannungen, Körperpanzerung, Verkürzungen der Sehnen und Muskeln, Blockaden, sich abstellen, sich zurücknehmen usw.

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Der/ die Gesetzlose Neues ausprobieren und Spielräume entdecken, nichts machen und nichts Tun bewirkt den Impuls zur Wandlung, Grenzen auch einmal loslassen können, im Loslassen werden unbewusste Antriebe frei, die zur Entfaltung drängen, Rhythmus wird befreit, eine freie aufrechte Haltung, auch die Hauthülle ist nicht statisch, sie gibt beweglichen Schutz, sich gehen lassen, sich atmen lassen (Georg Groddeck: Atmung symbolisiert den Eros), den Atemrhythmus vertiefen, sich und dem/der Anderen Raum und Zeit gönnen, Impulse entdecken und zulassen, Innenräume neu entdecken, Ausloten der eigenen Breite und Tiefe, festgestellte Gelenke wieder durchlässig machen, Verbesserung der Selbstregulation, immer wieder Halt spüren, um nicht ins Bodenlose abzugleiten.

Der /die Liebende Über mich hinaus gehen, mich verbinden, erweiterter Körper, Erfahrungen, die eingebettet in ein Größeres sind, Meditation, Erleben von universeller Liebe.

Literatur: Keen, Sam: Die Lust an der Liebe. Leidenschaft als Lebensform. Heyne (1995) Workshop im Rahmen der Jahrestagung der AFE im November 2012 in Rothenburg

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Irene Bucheli-Zemp

Wenn es mir die Stimme verschlagen hat - ist sie nicht für immer verloren ... Über das Erleben der Zuverlässigkeit des eigenen Gerüsts (Skelett und Haltemuskulatur), über die Belebung des Raums im Leib und über vermehrten Spielraum an den Gelenken kann sich Druck ( z.B. Kloß im Hals) verändern. Durch die Selbstregulation mit FE kann ich meinen eigenen Grundton (Wohlfühlton) neu entdecken und sowohl Raum als auch Kraft für meine Stimme nutzen.

So stand es im Ausschreibungstext. 12 Personen fanden sich im Gelben Salon ein. Eingangsrunde: Ich lade die Teilnehmenden ein, kurz zu berichten, weshalb sie sich

angesprochen fühlten, an diesem Workshop teilzunehmen. Was war ihre Motivation? Hier einige Antworten der Teilnehmenden:

-

oft bleibt mir die Stimme weg, wenn ich etwas Trauriges höre ich kann mich nicht auf meine Stimme verlassen, wenn Emotionen kommen ich möchte etwas erfahren über körperliche Zusammenhänge bei der Stimmarbeit man versteht mich oft nicht, weil ich zu leise und undeutlich spreche ich möchte einfach singen deine spezielle Arbeitsweise interessiert mich im Stress geht meine Stimme nach oben ins Schrille sobald ich laut singe oder rufe, werde ich heiser

Wenn ich mit Gruppen arbeite, frage ich immer nach den individuellen Bedürfnissen und versuche nach Möglichkeit diese persönlichen Anliegen mit einzubeziehen. Ich arbeite dann vor allem konkret praktisch, die theoretischen Inputs gebe ich im Verlauf der praktischen Arbeit genau dann, wenn sie zum Thema passen. Das ruhige, beschauliche Lied „Zeit für Ruhe - Atem Holen“ (siehe Anhang) hat diesem Workshop einen gesanglichen Rahmen gegeben. Im Folgenden berichte ich in der Gegenwartform, damit die Lesenden besser in der Lage sind, die Angebote mitzumachen. Zusammenfassung des Stimmworkshops: Um es kennen zu lernen, singen wir das Lied

im Sitzen einfach mal durch. Text und Melodie lassen wir auf uns wirken. Was löst das Lied aus? Wo bemerken wir etwas und wie wird es da? Ist es mehr der Text oder ist es die Melodie, die uns berührt? Bei einigen kommt die Stimme nur zaghaft, schüchtern, verhaucht oder krächzend, bei andern merkt man, dass sie des Singens kundig sind. Das mischt sich hier schon recht gut. Viele Menschen trauen es sich heute kaum mehr, zu singen. Man hat es irgendwann verlernt, ist enttäuscht über die eigene Stimmqualität.

78 Irene Bucheli-Zemp Singen ist erwiesenermaßen äußerst gesund, weil dabei der ganze Mensch aktiv betei-

ligt ist, Atmung, Kreislauf, Bewegung, Gedanken und Emotionen. Wir singen das Lied nochmals, gehen dazu aber im Raum umher, bleiben zuerst noch mit der Aufmerksamkeit beim Boden, bei den Füßen, bei uns selber, beim inneren Halt, der Wirbelsäule mit den gelenkigen Verbindungen. Als nächstes hören wir auf die andern, die noch im Raum sind. Dabei verändert sich die Stimme. Sie reagiert fein auf unser Inneres. Unsere Stimme ist wie ein Seismograph. Sie zeigt an, wie es uns leib-seelisch geht, sowohl beim Singen als auch beim Sprechen. Im Gehen fließt der Atem wie von selbst und der Rhythmus passt sich an. Das Lied wird

vertrauter, die Stimmen klingen mutiger. Wir kommen über das Singen in Kontakt mit den anderen. Mit freundlichem Blick singen wir uns zu. Wir setzen uns wieder und spüren nach. Es vibriert in der Brust, im Bauch breitet sich Wärme aus. Im Innern fühlt es sich lebendiger und bewegter an. Räusperbedürfnisse treten zutage, um dem Frosch im Hals beizukommen. Räuspern schadet aber der Stimme, deshalb schlage ich vor, eine sanftere Variante auszuprobieren: Ölen, statt räuspern: In der Vorstellung, also mental, massieren wir liebevoll die Stimm-

bänder und die ganze Kehlkopfmuskulatur mit einem feinen Olivenöl ein. Dabei können wir uns vorstellen, dass der Kehlkopf wirklich innen locker aufgehängt ist. Darauf wird sanft geschluckt. 2x wiederholen. Diese einfache Intervention kann bewirken, dass sich der Schleim im Hals verflüchtigt. Menschen, die eine zu hohe oder zu tiefe Sprechstimme gebrauchen, werden schneller heiser, weil sie mit Druck sprechen. Sie wirken meistens nicht ganz echt und man hört ihnen nicht so gern zu. Ihr Instrument ist nicht gestimmt. Wenn jemand eine angenehme Sprechstimme hat, spricht er in seinem Grundton, ich nenne ihn den Wohlfühlton. Menschen, die sich in ihrem Körper wohl fühlen, sozusagen in sich ruhen, haben über ihre Stimme eine enorme Wirkung, eine Resonanz auf die Umgebung. Wie finden wir unsern Grundton? Indem wir z.B. ganz normal bis 10 zählen ohne spe-

zielle Betonung, aber im Fluss. Durch das Zählen hindurch vernehmen wir subtil den Grundton, wir können ihn am Schluss einfach aushalten. Es ist auch unser Grundton, wenn wir „mhm“ sagen, im Sinn von „Ja“. Tipp: Bevor ich beginne mit meinem Vortrag oder Votum kann ich z.B. unauffällig das Skript zurechtrücken und dabei halblaut zu mir selber mhm – mhm – mhm – sagen. Diese entspannte Herangehensweise ist auch empfehlenswert fürs Telefonieren oder beim Besuch am Krankenbett. Zuwendung inspiriert: Ich mache darauf aufmerksam, dass wir immer genug Luft zur

Verfügung haben, um einfach zu beginnen. Man muss nicht zuerst einatmen. Sobald ich mich jemandem bewusst zuwende, erfüllt mich das automatisch mit Luft, vorausgesetzt meine Räume im Innern stehen zur Verfügung. Das heißt auch, dass meine Lippen bereits geöffnet sind, bevor ich zu sprechen beginne, sonst muss ich im letzten Moment schmatzend den Mund öffnen und die Luft hörbar einziehen. Zuwendung ist ein inneres Bewegtsein. „Das Leibspüren kommt vor dem Tonhören“. Mein Lehrer Horst Coblenzer hat sich bei

diesem Satz immer auf Marianne Fuchs bezogen. Er hat sich ihre Erkenntnisse zunutze gemacht und in sein Konzept der Atemrhythmisch Angepassten Phonation (AAP) einfließen lassen. Mit „Bewegung kommt vor dem Ton“ meinte er die Kontaktaufnahme mit dem eigenen Leib und dann nach außen treten. Sich aufrichten und den Mund öffnen, mit dem Boden in Spürkontakt bleiben, sind Bewegungen. Sobald wir in Bewegung

79 Wenn es mir die Stimme verschlagen hat - ist sie nicht für immer verloren ...

sind, fliesst auch der Atem und der Ton kommt wie von allein, ohne Druck. Und wenn wir uns bewegen beim Sprechen oder Singen, fließen sogar die Gedanken leichter. Wie bekomme ich eine laute klangdichte Stimme? Hierfür muss der ganze Körper in

Aktion treten, spielerisch und lustvoll. Wir machen die Stimme nicht im Hals, obwohl der Ton natürlich in den Stimmbändern erzeugt wird. Wir haben vegetative Körperfunktionen, die autonom gesteuert sind, wie z.B. das Lachen. Beim Lachen ist die innerste Bauchmuskulatur (Musculus transversus abdominus), die mit dem Zwerchfell eng verwoben ist, gut spürbar. Nach der ansteckenden Lachrunde singen wir wieder das Lied und achten dabei, wie wir sitzen, wie leicht sich das Zwerchfell bewegen kann bei aufrechter Haltung und Gelenkigkeit. Der Klang der Stimme verändert sich sofort, wenn wir krumm und eingeknickt sind. Wir müssen der Stimme die Räume zur Verfügung stellen, damit sie klingen kann. Im Vierfüßlerstand imitieren wir Kühe und Schafe mit „Muh“ und „Bläh“ ! Im Aus die Lenden-Wirbelsäule verlängernd dehnen. Ins Tönen hinein loslassen (abspannen), da breiten sich laute Töne aus im Raum, und das Spiel bringt uns zum Lachen, was wieder belebend wirkt. Nun wenden wir uns dem Atem noch speziell zu und schnaufen extra fest und laut ein beim Singen, was als sehr anstrengend wahrgenommen wird. Wenn wir hingegen die Endlaute deutlich plastisch artikulieren und abspannen, erhalten wir in 0,2 Sekunden die ganze Atemportion, die wir herausgesungen haben, gratis rückerstattet. Wir sprechen von automatischer Luftergänzung. Dies kann nur automatisch funktionieren, wenn wir nicht extra Luft holen, sondern sie uns offen empfangend schenken lassen. Im Folgenden zitiere ich meine Lehrbeauftragte Adelheid Ganz. Sie schreibt in ihrem Beitrag zum pädagogischen Anwendungsfeld der Funktionellen Entspannung: „Hinwendung nach innen: FE arbeitet nicht am bewussten Atem. Auch im Rahmen der Stimmbildung ist dies sinnvoll. Es geht darum, mit feinen Sinnen zu spüren, wie und wo überall in der Ruhe die Druckveränderungen im Körper beim Ein- und Ausatmen erfahrbar werden. Wichtig für den Lernprozess ist es, den autonomen Atem mit dem Bewusstsein zu begleiten. Der Leib mit seinen Realitäten und Empfindungen wird in der Ruhe erkundet, die Mitteorientierung und der Kontakt zum Boden gesucht. Hinwendung nach außen: Zudem geht es darum zu erleben, was sich wie von selbst verändert, wenn die Bereitschaft wach wird, zum Gegenüber Kontakt aufzunehmen, wenn z.B. über die Stimme die Bewegung auf ein Ziel hin wichtig wird. Schon ein Blickkontakt setzt kleine Reize, die die Empfindung für das Körperhaus und seine Spannungsverhältnisse verändern. Ent- sprechend der Intensität der Bereitschaft zur Kommunikation wird die Qualität der Atemergänzung erlebt. Als ökonomisch, mühelos und vitalisierend wird die federnde, autonome Atemergänzung beim Sprechen, Singen, Seufzen und Musizieren erlebt (von Coblenzer als Abspannen in der atemrhythmisch angepassten Phonation, AAP benannt). Je mehr Loslassen möglich wird, je mehr der Körper in jedem Intensitätsgrad der Kontaktnahme sich dem Geschehen elastisch zur Verfügung stellen kann, desto belebter und klarer wird die Stimme, desto reicher die Atemfülle und desto klarer die Kommunikation. Die Botschaft kommt besser an, die aufnehmende Hörsensibilität verfeinert sich.

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Kongruenz von gewünschter und tatsächlicher Mitteilung: In der Regel sind bei Säuglingen und Kleinkindern und vergleichbar bei Säugetieren folgende Faktoren in gut aufeinander abgestimmter Art vorzufinden: körperliche Präsenz, die auf ein Ziel gerichtete Konzentration und die Lautgebung. Man stelle sich einen Hund vor, wie er sich strafft in Aufmerksamkeit, bevor er bellt, oder man beobachte auch eine Kuh, wenn sie sich zum Tönen bereit macht. Nie wird beim gesunden Tier das Einatmen hörbar sein. Immer wird der gesendete Laut klangdicht und klar sein. Die Orientierung an solchen unverstellten animalischen Prozessen hilft sehr und nimmt der Arbeit die Last allzu großer Bedeutungsschwere. Lachen, Humor und Spielen ermöglichen neues Spüren und neue Blickwinkel auf sich selbst und die Umgebung“ (Ganz 2003). AAP-Angebot: „Bärensitz“: Wir sitzen dazu auf dem Boden, der Oberkörper ist leicht

zurückgelehnt. Wir strecken die Beine vor, balancieren auf den Sitzhöckern. Aus dieser Schwebeposition heraus winken und zappeln wir kräftig mit Füssen und Händen (etwa auf gleicher Höhe gehalten). Gleichzeitig rufen wir verschiedene Namen: „Anna!“ – „Remo!“ - „Jutta!“ – „Silvio!“ Was wird dabei erfahrbar gemacht? Abspannen (Loslassen des Lautgriffs gleichzeitig mit dem Zwerchfell) geschieht zwangsläufig aus starkem grobmotorischem Engagement heraus. Luftholen (Schnappen) wird als enorm störend und schwächend empfunden. Beim Loslassen der Vokal-Lautgriffe achten wir auf Beweglichkeit der Lippen und des Kiefers (bei o, u, e, i,) und des Zungengrundes (vor allem bei a). Gesamtkörperlich wird der Unterschied zwischen Abspannen mit reflektorischer Atemergänzung einerseits und Luftholen mit mangelhaftem Loslassen des Lautgriffs andererseits in Bewusstsein und Körperempfindung registriert. Bei allen wird eine stärkere, resonanzvollere Stimme vernehmbar, und es gelingt ohne Anstrengung im Kehlbereich. Es wird erfahren, dass die Grobmotorik der Feinmotorik hilft und dass das Kraftzentrum tief im Becken ist und nicht im Kehlkopf bei den Stimmbändern. Stabilität und Labilität: Im Stehen machen wir das Experiment mit dem Einbeinstand,

was schon eine gewisse Balance erfordert. Stellen wir uns vor, wir hätten einen Ski verloren und führen nun auf einem Ski die Buckelpiste runter, ohne zu stürzen. Und dabei sprechen wir den Text des Liedes. Oder wir balancieren sprechend auf einem Seil, was ebenfalls viel Gleichgewicht erfordert und eine tolle Herausforderung für den Stimmklang ist. Angebote im Liegen: Einen Ton von oben nach unten durch die Wirbelsäule fließen las-

sen und dabei eine kleine, leichte schlängelnde Bewegung machen. Wenn der Ton unten ankommt, die Bewegung anhalten, nichts mehr tun und das EIN von selbst kommen lassen. Beim nächsten AUS wieder bewegen und tönen und evtl. gleich noch ein drittes Mal. Dann nachspüren und sich eine Weile in Ruhe lassen. Dann unten am Steiß beginnen und den Ton mit Schlängeln nach oben strömen lassen, 2-3x im Aus. Nachspüren und vergleichen, welche Richtung leichter geht. Diese dann nochmals wählen. Wieder Pause und nachspüren, dann weiter im eigenen Rhythmus, sich wenn möglich an die Spielregeln halten. Dehnen, Räkeln, Gähnen ist erlaubt und soll viel Platz haben. Es geht jetzt hier im Moment nicht um die Gesangsstimme, sondern um einen absichtslosen „Wohlfühlton“ von Brummeln oder Stöhnen bis Seufzen oder Gähnen, was gerade kommt. Weniger kann hier sogar mehr sein. Es geht um nichts Spektakuläres, sondern um etwas eher Banales. Wir tönen, während wir uns sachte bewegen. Wir wiederholen

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dasselbe nochmals, lassen uns wieder in Ruhe und spüren nach. Wo bemerken wir im Körper eine Veränderung und wo noch? Wie wird es da? Finden wir Worte dafür? Wenn es einfach fließt und die Stimme ohne Hindernis durchkommt, gibt das ein Gefühl von Stimmigkeit im Leib und in der Seele. Verbundenheit und Durchlässigkeit können gespürt werden. Wenn jemand heiser ist oder ein Kratzen spürt, ist es ratsam, sich den Ton nur mental einfach vorzustellen. 3 Kreuze und Mundraum Die Querverbindungen können ins Schlängeln miteinbezogen

werden. So kommen wir auf die 3 Kreuze der FE und spielen mit dem inneren Gerüst, unter Beachtung der Spielregeln. Wie geht es dabei dem Mundraum? Kann der Kiefer loslassen oder beißt er zu und hält fest? Wie fühlt es sich im Rachen oder im hinteren Mundloch an? Ist es da eng oder weit? Wenn wir den Kiefer im AUS mit einem Seufzen fallen lassen, ermöglichen wir der Kehlkopfmuskulatur Entspannung und dem Zungenbein mehr Freiheit. Der Kehldeckel darf offen sein wie beim Staunen, beim Hecheln oder auch beim Gähnen. Der ganze Kehlkopf ist aufgehängt mit seiner hochsensiblen Muskulatur. Die Stimme reagiert auf den kleinsten Druck in diesem Bereich. Sie will frei fließen können und genug Raum und Freiheit haben. Wie wirkt sich ein „ng“ aus im Vergleich zu einem A oder O? Wie ist es da jeweils mit der Spannung, mit dem Fließen, mit dem Klang- und Raumgefühl? Die Teilnehmer äußern differenzierte Spürempfindungen. Pressen, Klemmen, Verhauchen und Nachschieben werden ausprobiert. Wo überall wird der gepresste Vokal noch gespürt? (Weil die Zeit schon vorgerückt war, beschloss ich, bei diesem Workshop auf die Sequenz im Liegen zu verzichten.)

Es folgt nochmals Gehen aber mit geschlossenen Augen und eine Sequenz im Stehen: Den äußeren und inneren Halt abrufen, Bauch-, Brust- und Kopfraum mit Ton umschmeicheln. Spezielle Beachtung schenken wir nun dem Mundraum, damit die Vokale mehr Klang und Resonanz bekommen und die Konsonanten geschärft werden. Kauen, schmatzen, Lippenflattern, zischen, pusten usw. Dann singen wir unser Lied auf Mm.. wechseln zu ng....br.... und dondon.... Wir gehen nochmals umher und wagen es im Kanon zu singen, schließlich sogar in 3 Gruppen. Es klingt immer voller und schöner. Und die Stimmung im Raum steigt. Rückmeldungen: „Wenn ich gewusst hätte, dass hier drin gesungen wird, wäre ich nicht zu diesem Workshop gekommen. Nun habe ich erlebt, dass ich doch noch singen kann, obwohl mir von medizinischer Seite jegliche Erwartung genommen wurde.“ „Es hat Spaß gemacht, singen wirkt so befreiend.“ „Ich habe gemerkt, dass ich wieder vermehrt singen will.“ „Die Stimmbänder werde ich nun künftig einölen, statt mich ständig zu räuspern.“ „Können wir zum Schluss den Kanon nochmals dreistimmig singen!“ „Das Singen, den ersten Ton aus der Bewegung heraus erklingen lassen, ohne tiefes Einatmen, mehr im Fließen lassen des Atems war besonders. Du sagtest, es ist immer genug Luft da zum Beginnen. Mit der Zeit klang meine Stimme immer klarer und voller. Das war ein wunderschönes Erlebnis.“

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Eine Teilnehmerin berichtet mir 2 Monate später: „Mir ist dieses wunderbare Lied und die Ruhe, die es ausströmte, so im Gedächtnis geblieben. Ich hab es in meine Praxis mitgenommen und singe es immer wieder, besonders wenn ich sehr angespannt bin. Du hast auch diese Ruhe wirken lassen, das hat mir gut getan, über die eigene Stimme zur Ruhe zu kommen...“ Literaturliste: Abresch, Jürgen (1988): Stimmstörung als Krisenvertonung. Über biographische Ein-

flüsse auf die Gewordenheit unserer Stimme und über die Entstehung funktioneller Stimmstörungen. Integrative Therapie 1: S. 40-62 Bauer, Joachim: „Warum ich fühle, was du fühlst.“ – Intuitive Kommunikation und das

Geheimnis der Spiegelneuronen – Hoffmann und Campe, 9. Auflage, 2006 Damasio, Antonio R.: „Ich fühle, also bin ich“ – Die Entschlüsselung des Bewusstseins,

4. Auflage 2003 Feil, Monika: Atem und Stimme in der Arbeit mit Funktioneller Entspannung, Heft 39,

2012, S. 25 Fuchs, Marianne: „Funktionelle Entspannung“ – Theorie und Praxis eines Körper bezo-

genen Psychotherapieverfahrens mit Beiträgen von Eckhart Wiesenhütter, Rolf Johnen und Hans Müller-Braunschweig – Hippokrates, 6.Auflage, 1997 Ganz, Adelheid: „Stimme und FE“, 2003 www.aap-online.com Gschwend, Gino: „Neurophysiologische Grundlagen der Hirnleistungsstörungen“

Karger 1998 Gschwend, Gino: „Die neurophysiologischen Grundlagen der Rhabilitation“, herausge-

geben von Theodor Hellbrügge, Hansisches Verlagskontor Lübeck,1994 Herholz- Johnen- Schweitzer: „Funktionelle Entspannung“ das Praxisbuch – Schattauer,

2009

83 Wenn es mir die Stimme verschlagen hat - ist sie nicht für immer verloren ... Hüther, Gerald: „Biologie der Angst“ – Sammlung Vandenhoek, 1998, Göttingen Hüther, Gerald: „Was wir sind und was wir sein könnten“ – Ein neurobiologischer Mutmacher – S.Fischer, 9. Auflage Feb. 2012 Hannaford, Carla: „Bewegung, das Tor zum Lernen“ – VAK-Verlag, 2.Auflage, 1997 Porta, Sepp: „Gib den Stresshormonen, was sie brauchen“ – Was im Körper vor

sich geht, was wir gezielt tun können, was uns stressresistenter macht – Kreuzverlag 2002 Kohllbrunner, Jürg: „Funktionelle Dysphonien bei Erwachsenen“, ein psychodynami-

scher Therapieansatz, 2006 Ratay, John J.: „Das menschliche Gehirn“ – Eine Gebrauchsanweisung, 2.Auflage

2003 Storch- Cantieni- Hüther- Tschacher: „Embodiment“ – Die Wechselwirkung von Körper

und Psyche nutzen – Hans Huber, 20 Coblenzer/ Muhar: „Atem und Stimme“ Anleitung zum guten Sprechen,

Bundesverlag, 12. Auflage 1993 Coblenzer, Horst: „Erfolgreich sprechen“ Fehler und wie man sie vermeidet, dazu 2

CDs mit Hör- und Übungsbeispielen. Bundesverlag, 1993 Schürmann, Uwe: „Mit Sprechen bewegen“ Stimme und Ausstrahlung verbessern mit

atemrhythmisch angepasster Phonation, mit Übungsanleitungen auf DVD , Ernst Reinhardt Verlag München Basel, 2007 Wittstock, Sabine: „Stimmig sprechen - Stimmig leben“ Körper-Sprache-Mimik,

2001, Beustverlag

Workshop im Rahmen der Jahrestagung der AFE in Rothenburg im November 2012

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Richard Sohn

Die Funktionelle Entspannung und die Palliativmedizin - Erfahrung eines FE-Therapeuten in der palliativmedizinischen Begleitung Sterbender und deren Angehöriger Die Funktionelle Entspannung ist ein wichtiges therapeutisches Mittel im Umgang mit Sterbenden und Angehörigen in der Palliativmedizin. Es zeigt sich hier häufig die Indikation des therapeutischen Begleitens aufgrund von depressiven Symptomen , psychischen Krisen bis zu Krisen mit suizidalen Tendenzen. Dabei weisen folgende Symptomatiken auf die Notwendigkeit der therapeutischen Begleitung hin: - Gedrückte Stimmung (dies ist von Trauer zu unterscheiden, die wir eher fördern müssen, um den Kontakt zwischen Angehörigen und Sterbenden zu aktivieren und das Abschiednehmen dabei zu unterstützen) - Verlust jeder Freude (Adhedonie) - Perspektivlosigkeit des Patienten - Schuld - Versagensgefühle - Interessensverlust - Selbstbestrafungs-Überzeugung - Selbstwertverlust Weitere Hinweise, auf die wir dabei achten müssen sind: - Hoffnungslosigkeit - Antriebslosigkeit - Entscheidungsambivalenz - Suizidgedanken, aber auch Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, die den Patienten deutlich beeinträchtigen können. Somatische Symptome der Depression, die wir in der Palliativmedizin nicht übersehen dürfen, sind: - Schlafstörungen - Appetitlosigkeit - fehlende Energie und körperliche Erschöpfbarkeit - Schmerzsymptomatiken

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- vegetative Symptome - häufige Angstsymptomatiken Dabei gehören zu den schwerwiegenden Symptomen der Depression, die auch in der Palliativmedizin zu beachten sind: - der Verlust von Interesse und Freude - depressive Stimmungslagen und - die erhöhte Ermüdbarkeit mit vermindertem Antrieb als Hauptsymptome, die schon eine Intervention für sinnvoll erachten lassen. Schätzungen erfahrener Palliativmediziner weisen darauf hin, dass mindestens 40 % der palliativmedizinisch begleiteten Patienten unter einer Depression leiden, die nicht adäquat behandelt wird (Zenz u.a. auf dem palliativmedizinischen Kongress Mai 2012 in Sylt). Betrachten wir die allgemeinen Ursachen der Depression aus psychologischer Sicht, so sind folgende zu nennen: 1. psychischer und körperlicher Stress 2. Beeinträchtigung des Körperbildes 3. körperliche Behinderung 4. Verlust von Selbstständigkeit und Unabhängigkeit 5. andere Stressoren wie Einsamkeit u.a. Übertragen auf die palliativmedizinisch begleiteten Patienten, so treffen mindestens vier (1-4) dieser Ursachen der Depression allein auf diese zu und führen vermehrt zu depressiven Verstimmungen, wenn nicht aktiv Kontakt und menschliche Nähe in diesem Stadium des Zusammenseins gefördert werden. Betrachtet man die Struktur der 5 Säulen der Identität, die von H. Petzold u.a. (1988, 1993) entwickelt und modifiziert wurden, so stellt sich auch aus dieser Sicht dar, dass der palliativmedizinisch zu begleitende Patient körperlich (Säule1) stark eingeschränkt ist, von seinen Fähigkeiten (Säule 3) deutlich sich vermindert ausprägen kann und damit an Selbstwert verliert und häufig auch im Bereich der Säule 5 (Sicherheit/Materielles) sich selbst in Frage stellt. Hier ist die Einladung, »depressiv zu verfallen», mehr als gegeben. Im Körperlichen (Säule 1) fehlt es dem Patienten an Gesundheit, an Belastbarkeit, er zweifelt an seinem Aussehen, lebt keine Sexualität mehr und beginnt je nach Erkrankung auch mit Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen sich selbst zu erleben. Spirituelle und Werte-Inhalte sind die tragenden Elemente (Säule 4), die das Menschsein hier wiederum betonen. Der Patient beginnt, über sein Leben auch im Rückblick nachzudenken, er kann therapeutisch hier im Danke-sagen, im Zurückblicken begleitet und gefördert werden. Im Bereich Arbeit, Leistung und Fähigkeit, (Säule 3 nach Petzold) ist er damit aus dem Beruf geschieden, nicht selten nicht mehr in der Lage, seine bisher gewohnte

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Familienarbeit zu leisten und wird darunter leiden, dass er Alltäglichkeiten wie Laufen, Essen, Nahrungsaufnahme schon jetzt nur noch vermindert nachgehen kann. Im Bereich der materiellen Sicherheit (Säule 5) gibt es zum Teil Unsicherheiten bezüglich der Absicherung Rente, Besitz und Einkommen, was gerade für einsame Menschen eine hohe Bedrohung ausmacht. Der Verlust der eigenen Wohnung, das Verlassen des gewohnten Umfeldes, das Verlieren der Geborgenheit „des eigenen Nestes“ bedroht Menschen massiv. Dem gegenüber sind Beziehungen, soziale Kontakte, auch spirituelle Werte/ Gedanken tragender und wichtiger denn je. Hier kommt der therapeutischen Begleitung des warmherzigen Kontaktes, der auch die Berührung und den Körper miteinbezieht durch körpertherapeutisches Begleiten, eine hohe Bedeutung zu. Was sind die Risikofaktoren für Depression? Ganz allgemein gelten als Risikofaktoren psychiatrische Vorkrankheiten, ein prinzipiell schon vorhandenes labiles Selbstwertgefühl, mangelnde soziale Unterstützung, schwere körperliche Symptome und ungelöste psychosoziale Probleme als Risikofaktoren für Depression auch im Palliativen Begleiten. Im differenzialdiagnostischen Denken zwischen Befindlichkeitsstörung und Depression muss dargestellt werden, dass bei multimorbiden Patienten häufig die Befindlichkeit hoch beeinträchtigt ist. Die Erkennung von Depressionen ist dadurch erschwert. Insofern muss auf folgende Symptome besonders geachtet werden: - Affektstarre - Gefühl der Gefühllosigkeit -

Schuldgefühle Tagesschwankungen Suizidalität Wahnsymptomatik und depressive Episoden in der Vorgeschichte

In der Therapie und Begleitung palliativmedizinischer Patienten mit Depression sind folgende psychotherapeutische Ansätze sinnvoll und empfehlenswert: 1. Zuwendung bei sozialer Isolation 2. Unterstützung in grundlegenden Coping-Fähigkeiten 3. Aufarbeiten belastender Erlebnisse und familiärer Spannungen Die FE im therapeutischen Setting ist eine sehr hilfreiche Methode für die Intervention mittels Kontakt und Berührung. Dabei zeigt sich der Kontakt nicht nur in der verbalen Auseinandersetzung, sondern in dem „Dasein“. Die Berührung der Patienten kann auch indirekt über das körpertherapeutische Ansprechen und Begleiten des Patienten erfolgen, das den Patienten symptom- und körperorientiert betrachtet.

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Für die Sterbenden sind folgende Aspekte deswegen zu sehen und strukturell anzugehen: - Platz für den Rückblick - Platz für die Trauer - Raum für das Danken - Raum für abrundende Worte finden - „Ich bin da für meine letzten Bedürfnisse " - „Ich bin selbstbestimmt über mein Gehen“ Für die Angehörigen gilt es, die Stärkung zu fördern. Hier sind die Angehörigen ein sehr wichtiger Aspekt in der Begleitung, da die Stärkung der Angehörigen bedeutet, dass der Kontakt zwischen den Familienmitgliedern wieder gefördert wird, hier eine Nähe und Wärme angeregt werden kann, möglicherweise eine Nähe, die beide Seiten seit Jahren vermissen. Folgende Sätze geben wir deshalb als Therapeuten den Angehörigen mit: - „Ich bin da, bereit zum Begleiten, für deine Wünsche!“ - „Ich darf danken für die gemeinsam gelebte Zeit“. - „Ich gebe dir äußere sichere Struktur, stehe auf meinen Füßen für dich!“ - „Du darfst gehen und ich darf traurig sein!“ Im Rahmen dieser Schritte können palliativmedizinische Patienten und deren Angehörige in einem sehr hohen Ausmaße gestützt werden, kann der Weg Angehöriger und Sterbender füreinander, aber auch der Weg des Sterbens und des „Gehens“ deutlich erleichtert werden.

Literaturangaben: H. Petzold (Hrsg.): Methoden des therapeutischen Umgangs mit Symbolen und Symbolisierungsprozessen. Überlegungen zu Kernqualitäten des Menschenwesens. ( Vortrag auf dem 7.Symposium für Kunsttherapie, 27.-30.11.1988) Fritz-Pearls Akademie, Hückeswagen 1988 H.G. Petzold 1993, www.therapiedschungel.ch/5_Säulen_der_identität.htm

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Gabriele Martin

Abgrenzung statt Mitleid Funktionelle Entspannung zur Unterstützung von Krisenhelfern Für Menschen, die anderen Menschen in Notfallsituationen helfen, können durch ihren Einsatz für andere selbst in Not kommen, sozusagen "außer sich" geraten. Helfer, insbesondere professionelle Helfer, sind auf besondere Weise gefordert, sich nicht vom Leid anderer mitreißen zu lassen, sondern sich vom Katastrophalen abzugrenzen, "bei sich" zu bleiben. Sie müssen dies tun, um ihre Handlungsfähigkeit zu erhalten, um sich selbst zu schützen, aber auch, um den Leidenden eine Orientierung zu bieten, belastbar zu wirken und ein Gespür für Ressourcen behalten zu können. Die FE bietet an dieser Stelle die Möglichkeit, über die Wahrnehmung des tragenden Grundes (mit beiden Füßen auf dem Boden bleiben), die Wahrnehmung und Fokussierung der Rückseite des Körpers (Rückzug, Rückendeckung) und der Zentrierung im Atemrhythmus stabilisierend zu wirken. Ich stelle hier eine Auswahl von F.E.-Interventionen vor, wie ich sie den TeilnehmerInnen des Workshops zur Selbsterfahrung angeboten habe. Nach einem „Ankommen“ und „Platz nehmen“ folgte eine Vorstellungsrunde, die mit dem Nachfragen der Erwartungen und Wünsche verbunden war. Hier zeigte sich, wie wichtig eine solche Orientierung an den Bedürfnissen der Gruppenteilnehmer immer wieder ist: für die meisten Teilnehmerinnen stellte sich weniger die Frage des Abgrenzens von Menschen, die in Grenzerfahrungen außer sich geraten, sondern mehr die Frage, wie sie in ihrem Arbeitsalltag mit den Erwartungen und den Problemen ihrer Patienten/ Klienten umgehen, wie sie adäquate Empathie entwickeln, wie sie hilfreich sein können, ohne sich selbst zu überfordern. Zunächst wurde im Liegen weitergearbeitet und dabei - nach einer Orientierung am tragenden Grund - die Vorderseite bzw. Rückseite des Körpers focussiert. Die meisten Teilnehmer hatten spontan die Rücklage gewählt. Einige fühlten sich nach vorne/ oben ungeschützter, zum Boden, also hinten/ unten geschützt und geborgen. Es ergaben sich aber auch ganz andere Wahrnehmungen, die den Boden als eher einschränkend, gar einzwängend erlebten und sich nach vorne/ oben hin freier fühlten. In der Weitergabe der FE ist es immer wieder wichtig, die Wahrnehmungen in diesem Moment für diese Person als "wahr" anzunehmen, die Bedeutung der Eigenwahrnehmung mit der Person gemeinsam zu erarbeiten. In der Gruppe ist die Differenzierung der eigenen Wahrnehmung über die Unterscheidung zu den Wahrnehmungen der anderen möglich und gelingt manchmal besser als im Einzelsetting. Zudem bietet die Arbeit in der Gruppe die Möglichkeit, Erfahrungen, die man zunächst mit sich selbst gemacht hat (ich mit mir), in der Begegnung mit anderen Menschen zu erproben (ich mit anderen).

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Im Workshop wurde nun - nach gestärkter leiblicher Präsenz - ein „Experiment“ gewagt: das Thema "Schutz und Abgrenzung" sollte in Partnerarbeit im Rollenspiel erlebt werden . Im 2er-Setting sollte sich eine Person auf eine sitzende Person in eher fordernder, aggressiver Weise zubewegen. Was nimmt die „bedrohte“ Person wahr, wie schützt sie sich, weicht sie eher zurück oder kann sie sich ihrer selbst sicher sein? Wo spürt sie das? Und was erlebt die „aggressive“ Person? Die gemeinsame Arbeit in den 2er-Gruppen gestaltete sich sehr lebendig Es wurden die Rollen nochmals getauscht, das Erlebte besprochen und dann in die Gesamtgruppe eingebracht. Hier eine Sammlung von Rückmeldungen (von teilweise "überraschenden" Erfahrungen): „der Raum hinter mir ist wichtig“ „der Halt an einer Stuhllehne stabilisiert mich“ „es ist eher meine eigene Haltung (mein "innerer Halt"), die dem Aggressor imponiert“ aber auch: „es fällt mir schwer, bei mir zu bleiben, mich nicht hineinziehen zu lassen“ und auch: „ich erlebte meine Lust, mal forsch aufzutreten“ und wieder andere spürten, wie sie nur zögerlich und unsicher den aggressiven Part spielen konnten . All dies konnte mit den erlebten leiblichen Wahrnehmungen beschrieben werden. Einige hatten sich in die Beobachterposition begeben und wahrgenommen, wie unterschiedlich und vielfältig die Strategien der Teilnehmer waren. Für jede(n) war es wichtig, sich gut zu kennen, zu wissen, was schwerfällt, und wo die eigenen Ressourcen stecken, um sich im Alltag in helfenden Berufen nicht selbst zu "verlieren".

Workshop im Rahmen der Jahrestagung der AFE im Nov.2012 in Rothenburg

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Dieter W. J. Schwibach

Wenn die Welt untergeht Funktionelle Entspannung als wirksame Stabilisierung für Hinterbliebene nach Suizid Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Bevor ich Ihnen von meiner Tätigkeit als Notfallseelsorger berichte, möchte ich Sie und uns im Hier und Jetzt auf unsere leiblichen Ressourcen aufmerksam machen. Bitte nehmen Sie in Ihrer inneren Wahrnehmung Kontakt zu Ihrer Unterlage auf. Im Ausatmen nehmen Sie den Boden unter Ihren Füßen wahr. 2 – 3 Mal. Und dann bitte ich Sie, sich dem „Nichtstun“ zu überlassen. Wie ist der Boden für Sie jetzt? Im Ausatmen nehmen Sie bitte die Sitzfläche unter Ihnen wahr. Im Ausatmen richten Sie sich darauf ein. 2 – 3 Mal Und dann bitte ich Sie, sich dem „Nichtstun“ zu überlassen. Wie ist der Halt jetzt? Und wo werden Sie noch getragen? Im Ausatmen nehmen Sie bitte die Lehne wahr, die Ihnen Halt anbietet. Im Ausatmen suchen Sie Ihren Halt. 2 – 3 Mal Und dann bitte ich Sie wieder, sich dem „Nichtstun“ zu überlassen. Wie ist es jetzt für Sie? Und wie noch? Im Dehnen und Strecken, im Gähnen und „Laut-Geben“ bitte ich Sie wieder hier um Ihre Aufmerksamkeit, und dazu schauen Sie sich bitte noch freundlich um. Wer ist auch noch neben mir da? Mit wem kann und will ich mich einer weiteren Ressource überlassen? Der Poesie? Erich Fried Was es ist Es ist Unsinn sagt die Vernunft Es ist was es ist sagt die Liebe Es ist Unglück sagt die Berechnung Es ist nichts als Schmerz sagt die Angst

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Es ist aussichtslos sagt die Einsicht Es ist was es ist sagt die Liebe Es ist lächerlich sagt der Stolz Es ist leichtsinnig sagt die Vorsicht Es ist unmöglich sagt die Erfahrung Es ist was es ist sagt die Liebe

Verehrte Zuhörerinnen, verehrte Zuhörer! 1. Grundvoraussetzung des Begleiten-Könnens. Menschen, welche Menschen begleiten, die vom Suizid betroffen sind, brauchen einen vielfältigen und differenzierten Zugang zu ihren eigenen Ressourcen, damit sie ihre Resilienzfähigkeit immer wieder neu in Anspruch nehmen können, denn.... 2. Wahrnehmbare Phänomene 2.1 Erschütterung .... Menschen, die vom Suizid eines ihnen lieben Menschen betroffen werden, sind sehr häufig zutiefst, ja existentiell erschüttert. Ihnen wird der Boden unter den Füßen entzogen. Der Boden scheint subjektiv „inexistent“ zu sein, und Lebenskonzepte wie auch Lebens-Werte kommen wie bei einem Erdbeben ins Schwanken; nicht selten stürzen die Lebensüberzeugungen und Lebensgewissheiten wie eine brüchige Mauer ein. 2.2 In der Sprache der Psychotraumatologie Menschen, die vom Suizid eines ihnen lieben Menschen betroffen werden, sind verstört. Die Psychotraumatologen, voran Peter A. Levin1, sprechen von einer massiven Irritation des Stammhirnareals. Andere berichten, dass die sog. „aktiven“ inneren wie äußeren Bewegungsmuster des „Flüchtens“ oder des „Kämpfens“ im Limbischen System vom „Einfrieren“ dominiert werden und der Zugang zum sog. „Broca-Sprachzentrum“ wie abgeschnitten ist. Somit ist das differenzierte Einordnen in den „präfrontalen Cortex“ zunächst und oft auch auf lange Sicht kaum möglich. 2.3. In der Sprache der Betroffenen „Das darf doch nicht wahr sein!“ ist ein sehr oft gehörter Satz von Menschen, die unmittelbar vom Suizid betroffen sind. 1

Vgl. Levine, Peter A., Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt. München 2010 oder: Levine, Peter A. Trauma-Heilung. Das Erwachen des Tigers. Essen 1998

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Das Nicht-Wahrhaben-Können und das Nicht-Wahrhaben-Wollen der vorfindbaren Situation bewerten die Helferinnen und Helfer der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) als "normale" Belastungsreaktion innerhalb des ersten Zeitintervalls; wir denken hier in dem Zeitraum von 0 bis 6 Stunden und wissen (außerhalb der PSNV), dass sehr viele Menschen ein Leben lang mit dem Umstand zu ringen haben, was denn am Geschehen des Suizides eines lieben Menschen „wirklich wahr“ ist. • „Ist es wirklich wahr, dass er mich so verlassen hat?“ • „Ist es wirklich wahr, dass er mich geliebt hat? Hat sie mich geliebt? Warum tut sie mir dann so etwas an?“ • „Ist es wirklich wahr, dass sie tot ist?“ • „Ist es wirklich wahr?“ Die Integration eines solch potentiell traumatisierenden Erlebnisses braucht einen mäandernden Trauerprozess, der sowohl in Zeit als auch in der Form individuell vonstatten geht. 3. Ein multifaktorielles Geschehen Alle Kundigen der sog. „Suizidologie“ wissen, dass dem Suizid-Vollzug in der Regel eine vielfältige Vorgeschichte - sowohl im subjektiven Innenraum des Suizidanten als auch in dessen sozialem Netzwerk – vorausging und sich entwickelte; es wird nicht ohne Berechtigung im Kontext von Suizid von einem „Multifaktoriellen Geschehen“ gesprochen. Den unmittelbar betroffenen Hinterbliebenen ist dieses aus verschiedenen Mosaiksteinen zusammengesetzte „Bild“ zumeist nicht zugänglich. Offensichtlich brauchen sie, um das „Unerwartete“, das „Unerhörte“ und das „Ungehörige“ vorderhand einordnen zu können, monokausale Erklärungsmuster, die meist sofort von Schuldzuweisungen bzw. von Scham begleitet werden. 4. Reaktionen 4.1. Verleugnung Verleugnung, Verheimlichung, Schuld, Scham und der Rückzug in das eigene sog. "Trauerhaus", von dem Ruthmarijke Smeding1 mit Ulrich Keller aus München spricht, ist sehr häufig zu erleben. 4.2. Schuld und Scham Es wird nach Gründen und Begründungen gesucht. Es wird Schuld zugewiesen und Scham kaschiert. Es wird der Rückzug in das eigene Schneckenhaus gesucht, und/oder die übermächtigen, inneren Zensoren und Bestrafungsinstanzen haben freien Zugriff in die Persönlichkeit des Betroffenen, um dessen Selbstwert und dessen Selbstfürsorge in Grund und Boden zu rammen. Es gibt ein niederbayerisches Mantra, das lautet: „häd i, dad i, war i“, übersetzt: „Hätte ich nur... z.B. nichts gesagt, täte ich nur .... z.B. die richtigen Dinge zur Unterstützung, wäre ich nur....z.B. nicht fort gewesen“. 1

Smeding, Ruthmarijke. Trauer erschließen. Eine Tafel der Gezeiten. 2005

93 Wenn die Welt untergeht

Dieses "Mantra" wird lange Zeit innerlich wiederholt. „hädidadiwari...“ dient nur der Selbstbezichtigung, der Selbstentwertung und der eigenen Schuldzuweisung; dennoch ist es eine Form der „Neu-Er-Findung“ des eigenen, veränderten Lebens. 4.3. Belastungsreaktion und Belastungsstörung Hinterbliebene nach Suizid sind allen belastenden Reaktionen ausgesetzt, die Menschen erleben können, wenn sie mit einem potentiell traumatisierenden Erleben konfrontiert werden. Eine Belastungsstörung liegt vor, wenn die Person mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert wurde, bei dem die folgenden Kriterien erfüllt waren: 4.3.1. Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die den tatsächlichen oder drohenden Tod oder eine ernsthafte Verletzung oder Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten. 4.3.2. Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen. 4.3.3. Der Mensch ist nicht gut genug versorgt mit Erfahrungen des “Gehalten-UndGetragen-Seins“. Bessel van der Kolk schreibt dazu: „Erst allmählich wurde uns klar, dass die schwersten Störungen bei Menschen auftraten, die in ihrer Kindheit keine verlässliche Betreuungsperson gehabt hatten. Emotionale Misshandlungen, Verlust der engsten Bezugspersonen, Inkonsistenz der Lebensverhältnisse und häufiges Erleben disharmonischer Zustände erwiesen sich als die entscheidenden Faktoren für die Entstehung vielfältiger psychiatrischer Probleme.“1 Fest steht: Hinterbliebene nach Suizid können nicht nicht-reagieren. Das Erlebte wirkt und führt fast immer zu ….. 4.4. Veränderungen der Lebens-Konstrukte. Die eigenen Lebensüberzeugungen werden bei Hinterbliebenen nach Suizid in Frage gestellt, verunsichert, ja sogar zerstört. Die individuelle Verunsicherung hängt vor allem davon ab, in welcher Intensität Suizidant und Hinterbliebener in Beziehung standen, inwieweit die persönlichen Ressourcen des Hinterbliebenen greifbar sind, ob seine Resilienzfähigkeit in Anspruch genommen werden kann und ob ein Zugang zu einer persönlich tragfähigen Spiritualität gegeben ist. Ein Behelfswort sei gegeben: • sterben Eltern, stirbt ein Teil der Vergangenheit • stirbt der Partner/die Partnerin, stirbt ein Teil der Gegenwart • stirbt ein Kind, stirbt die Zukunft.

1

Porges, Stephen W. Die Polyvagal-Theorie Paderborn 2010 S 12

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5. "Wenn die Welt untergeht" F.E. als wirksame Stabilisierung für Hinterbliebene nach Suizid 5.1. F.E. ist Stütze für die Helfenden Physische, emotionale, kognitive und habituelle Phänomene bei Menschen mit Belastungsreaktionen lassen erahnen, dass es für jene, die sich mit der Funktionellen Entspannung einen flexiblen Halt erworben haben, das Begleiten nicht zur Leichtigkeit, dennoch aber zur Möglichkeit wird, die sehr wohl an die Grenzen der Belastbarkeit führt, die sie dennoch aber - weil F.E. eine wesentliche Ressource geworden ist - resilienzfähig werden lässt. Ein Mensch mit geübter Erfahrung in Methode und Haltung der Funktionellen Entspannung weiß um den eigenen Boden, den eigenen Halt und die eigene Haltung. Er und Sie kann „lassen“ und im Rhythmus des eigenen Atems in eine tragende Spiritualität eintauchen sowie aus ihr schöpfen. Allein durch die Benennung der Belastungs-Phänomene ist klar, dass die Seelsorge mit F.E. sich vielfältiges erprobtes Wissen aneignen und adaptieren muss. Die Seelsorger und Seelsorgerinnen brauchen eine profunde, reflektierte Selbstkompetenz, in der die Leibkompetenz von ausschlaggebender Bedeutung ist. Es ist klar, dass hier die Angebote der F.E. - seien sie als Körpertherapie oder als Körperpsychotherapie verstanden - von großer Bedeutung sind. Es ist unabdingbar wichtig, dass die in der NFS Tätigen ihren eigenen Halt und ihre eigene Haltung leiblich realisieren können und im eigenen bewussten Habitus zur Verfügung haben. Das Nämliche gilt für alle Belange und Bereiche, welche die Funktionelle Entspannung erarbeitet und ins Wort zu bringen vermag. Das heißt nichts anderes, als dass die Notfall-Seelsorger/innen sich ein hohes Maß an Selbsterfahrung erarbeiten müssen, damit sie den extremen Anforderungen, die der Eintritt des plötzlichen Todes mit sich bringt, flexiblen Stand entgegenbringen können. Extrem- und Notfallsituationen sind Schnittstellen des Lebens, an denen Lebensentwürfe schlagartig zusammenbrechen können; auch jene der Helfenden. Hier werden die faktisch wirksamen religiösen bzw. weltanschaulichen Prägungen aller Betroffenen einschließlich der Helfer verifiziert bzw. falsifiziert. 5.2. F.E. ist Stütze für die Betroffenen Für die F.E.-erfahrenen Menschen im Kontext des Suizides gilt: Im BODENLOSEN – den Boden erreichen Im CHAOS – Halt geben Im ENGEN – Raum finden Im UFERLOSEN – Grenzen suchen Im ATEMLOSEN – Rhythmus und Ruhe gewinnen. 5.2.1. Im Bodenlosen den Boden erreichen Viele Betroffene bemerken auf ihrem mäandernden Trauerprozess sehr häufig, dass der Boden unter ihren Füßen nur langsam belastbar wird. Das eigene Leben neu auf

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dem unbekannten Terrain nach Suizid auszurichten und zu finden, bedarf der fortwährenden Vergewisserung, dass das leiblich Vorhandene auch habituell, physisch, emotional und kognitiv eingeholt werden muss. Es gehört zum Ritual einer geleiteten Gruppe „Hinterbliebene nach Suizid“, dass die leibliche Vergewisserungsarbeit auch Gewissheit für das eigene Leben im Hier und Jetzt anbietet. Es ist wie es ist – und – es ist Boden für die eigene Existenz vorhanden. 5.2.2. Im Chaos den eigenen Halt, die Verbindung und die neue Lebensstruktur erfinden. Es dauert. Es braucht aktiv erworbene Zeit. Es braucht innere Aufmerksamkeit und die Entwicklung der Achtsamkeit, um aus dem Gefühls- und Lebenschaos heraus den inneren Halt und die verschiedenen Lebens-Verbindungen neu zu finden, um zu einer neuen, verlässlichen Lebensstruktur zu kommen. Auch hier ist die Arbeit an den Gelenkverbindungen, der dialogische Prozess mit sich selbst und mit dem jeweils unterschiedlichen Gegenüber von hilfreicher Bedeutung, den die Funktionelle Entspannung fordert und fördert. 5.2.3. Im Engen den eigenen Raum finden: wo gelingt es mehr als in der F.E.? Wir üben, ohne zu üben, dass selbst in der vermeintlichen Erstarrung durch/während/im „Lassen“ Raum für Bewegung und damit für Leben ist: welch eine Chance für jene, die meinen, dass ihr Leid sie einzurrt, sodass sie als Opfer, als Bestrafter das weitere Leben fristen. 5.2.4. Im Uferlosen die eigenen Grenzen suchen Trauer ist keine Krankheit. Sie kann dennoch kränken und krank machen, wenn sie sich uferlos in Raum und Zeit breit machen darf. Das individuell richtige Maß erkunden und .... 5.2.5. - aus der Atemlosigkeit heraus kommend - den eigenen Rhythmus und die darin sich verbergende, aber auffindbare Ruhe zu er-finden, sind heilsame Prozesse, die in der Funktionelle Entspannung grundgelegt sind. Das sagt sich alles so leicht dahin – für Menschen mit F.E. Erfahrung ist es ein tägliches, achtsames Exerzitium. Für Betroffene, also Hinterbliebene nach Suizid ist es zunächst unfassbar schwer. Dennoch profitieren sie vom Halt des anderen, wenn die eigene Welt untergeht. Sie nehmen den Halt und die Haltung des F.E.-erfahrenen Gegenübers auf und können in der Beziehung zu einem Menschen mit flexiblen Halt diesen für sich nützen. In diesem „Gehalten-Sein“, in diesem „Loslassen“, in dem „Auffinden“ des eigenen autonomen Rhythmus erfindet sich das Leben neu. Langsam. Nach und nach. Und ganz anders. Es ist, was es ist: die Erfindung der Liebe zu sich selbst und zu dem, was geschehen ist und geschieht und geschehen wird.

5.6. Was kann angeboten werden? Natürlich die gesamte Vielfalt der Funktionellen Entspannung. Und hier hat vor allem natürlich die "Basis-Arbeit" an „Halt“, an „Boden“ und weiter an „Haltung“, Vorrang.

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In einer Gruppe von 8 Personen, nur Frauen, die unterschiedlich lange Erfahrung mit „Suizid eines Angehörigen“ haben (von 6 Monaten bis zu 15 Jahren), und die sich regelmäßig treffen, arbeite ich immer an der Vergegenwärtigung des momentanen „Haltes“. So wie zu Anfang dieses Referates wird der Boden erfahrbar „gemacht“! Und es wird immer spürbar, dass in der achtsamen Vergewisserung des eigenen Haltes der „aufgeregte“ Tonus der Gruppe nach unten, zum Boden reguliert wird, der Platz in der Gruppe eingenommen wird und die Konzentration hin zu einer „Gelassenheit“ fließt. Den Boden „erarbeiten“, ihn „vergewissern“ kann von den Teilnehmerinnen geschätzt werden. Und dieser Halt am Boden, auf der Stuhlfläche, mit der Stuhllehne wird im inneren Dialog zur Haltung. „Nach so einem Abend trau ich mich wieder 'aufrecht gehen' " erzählen die Teilnehmerinnen – die Trauerhaltung1 kann aufgegeben werden, und ein aufrechter Gang wird wieder möglich für einige Zeit. Das Leben wird wieder einmal neu erfunden.

Vortrag im Rahmen der Jahrestagung der AFE in Rothenburg im November 2012

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Das Wort „Trauer“ kommt vom gotischen „driusan“, dessen Bedeutung lautet „sinken; matt, kraftlos werden“ Seine eigentliche Bedeutung wäre demnach etwa „Den Kopf sinken lassen“, oder die Augen niederschlagen. Eine gebeugte Haltung.

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Eckhard Frick

Spiritual Care In diesem Beitrag möchte ich nach der spirituellen Dimension der FE als einer Ressource fragen, und zwar im Kontext der Ungewissheit, mit der wir umgehen, die wir aus einer respektvollen therapeutischen Haltung heraus erkunden oder auch annehmen. Zunächst nehme ich einige Begriffsklärungen vor. Auch das hilft dabei, sich ins Ungewisse zu wagen. 1. Ausgangspunkt: der gemessene und behandelte Körper Die Vergegenständlichung des menschlichen Leibes als Körper schafft Gewissheiten, die wir tagtäglich und in großem Umfang therapeutisch nutzen. Wir können den lebendigen menschlichen Organismus vermessen und beeinflussen wie andere Gegenstände auch, die wir mit physikalisch-chemischen Mitteln beobachten. In der Medizin ist die Vergegenständlichung des Leibes sehr nützlich, weil wir dadurch Symptome objektivieren, lokalisieren und quantifizieren können. Was wir vom Patienten als Beschwerde hören, ist nie vollständig mitteilbar, bleibt letztlich unmitteilbar und privat. Durch die Vergegenständlichung können wir jedoch objektive Korrelate dieser Beschwerden „behandeln“ und die Wirksamkeit unserer therapeutischen Maßnahmen wiederum anhand objektiver Kriterien überprüfen. Evidenzbasierte Medizin heißt, dass Studien (am liebsten Doppelblindstudien mit zufallsgenerierter Aufteilung der Probanden auf Behandlungs- / Kontrollgruppe) die Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen belegen. Eine Therapie wird auf Grund klarer diagnostischer Einordnung bestimmten Patienten verordnet und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und ihrer Wirtschaftlichkeit evaluiert. Die Psychotherapie eifert der evidenzbasierten Medizin nach. Auch hier soll es möglichst objektiv zugehen. Das Seelische am Menschen ist schwerer zu fassen und zu beeinflussen. Es wird in „psychischen Funktionen“ operationalisiert, sodass validierte Messinstrumente, Leitlinien und Manuale eine rationale, erfolgsorientierte Behandlung ermöglichen, die auch evaluiert werden kann. Der gespürte eigene Leib und die Seele – deine und meine – werden zu altmodischen Begriffen. 2. „das noch nicht festgestellte Tier“ In unserer Alltagswelt unterscheiden wir zwischen Steinen, Tischen, Maschinen oder anderen (unbelebten) Gegenständen einerseits und den Lebewesen (Pflanzen, Tieren, Menschen) andererseits. Eine feststellende Wissenschaft kann Lebewesen hingegen genauso untersuchen wie andere Gegenstände. Zwar tritt der Tierschutz oder die eigene Ethik des Forschers auf den Plan, bevor etwa ein Hund in einen Kernspintomografen gelegt oder gezogen wird. Aber innerhalb des Kernspintomografen sind alle gleich: Pflanzen, Tiere, Menschen, und zwar lebendige und tote, ebenso wie Steine, Tische und Maschinen. Sicher sind die Befunde sehr unterschiedlich, auch die Befunde, mit denen „Leben“ operationalisiert wird. Aber es ist kein Unterschied des Wesens, nur einer von einzelnen Merkmalen.

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Spätestens hier erhebt sich ein Protest, den ich mit dem folgenden Aphorismus zum Ausdruck bringen möchte: „Grundsatz: das, was im Kampf mit den Tieren dem Menschen seinen Sieg errang, hat zugleich die schwierige und gefährliche krankhafte Entwicklung des Menschen mit sich gebracht. Er ist das noch nicht festgestellte Tier.“ (Friedrich Nietzsche, Frühjahr 1884, in: Nachgelassene Fragmente, 25 [428], KSA, 11, 125). Es gibt offenbar etwas am Menschen, das sich der Feststellung entzieht. Vieles von dem, was wir mit den Tieren, teilweise auch mit den Pflanzen, teilen, ist bereits festgestellt, etwa in genetischer Hinsicht. Anderes wird mit den Fakten, die uns die Forschung liefern wird, noch entschlüsselt werden. Was aber ist mit dem „noch nicht Festgestellten“? Man kann diesen Ausdruck im Sinn eines eliminativen Materialismus verstehen: Jetzt, heute ist dieses oder jenes Faktum am Menschen noch nicht festgestellt. Aber dann, morgen wird auch dieser Rest aufgeklärt und das Rätsel des Menschen restlos entschlüsselt. Auf den ersten Blick hat diese Position manches für sich. Sie verwandelt die gesamte Anthropologie, unser Bild vom Menschen, in eine Tatsachenfrage und überlässt deren Beantwortung der Zukunft. Eine Konsequenz für die heutige Medizin und Psychotherapie könnte sein: Wir halten uns an das, was wir sicher (evidenzbasiert) wissen. Über das Unbekannte, Ungewisse können wir nichts sagen oder höchstens soviel: Vielleicht wird es einmal bekannt sein, vielleicht wird die Ungewissheit sich in Gewissheit verwandeln. Das Geheimnis des Menschen „Geheimnis“ ist zunächst einmal eine theologische Kategorie: Gott entzieht sich meinem „begreifenden“ Zugriff. Er /sie ist absolut, kein Rätsel, das ich entschlüsseln kann, sondern ein Geheimnis, das ich respektieren darf. Ich möchte nun nichts Theologisches in den Menschen ‚hineingeheimnissen’, sondern das Geheimnis als eine sinnvolle anthropologische Kategorie annehmen, v.a. in den helfenden Berufen. Ergänzend zu aller nützlichen Evidenzbasiertheit scheint es mir sinnvoll zu sein, den Menschen, besonders den kranken Menschen, als Geheimnis zu respektieren (Weiher). Grenzen des Verstehens, der Mitteilung, der Datensammlung sind nicht nur ein Problem der therapeutischen Praxis, sie gehören vielmehr dazu. Ungewissheit kann und sollte unruhig machen, wenn ich nicht gut genug untersucht, mir nicht die Zeit zum Gespräch genommen habe. Ungewissheit ist aber auch eine Konstante jeder therapeutischen Beziehung, die diesen Namen verdient: Der Respekt vor dem incomunicado, wie Winnicott sagte, vor dem nicht Mitgeteilten, nicht Mitteilbaren, nicht Feststellbaren. 3. Ungewissheit in der Zwischenleiblichkeit Meine Überlegungen zur Ungewissheit und zu Spiritual Care möchte ich in den Kontext der FE als Leibtherapie stellen. Die FE ist eine Leibtherapie, nicht einfach eine objektivierende Körper-Behandlung, sondern eine Begegnung in der Zwischenleiblichkeit, die all unser Empfinden und Kommunizieren trägt. Ich verwende für Merleau-Pontys intercorporeité bewusst nicht „Zwischenkörperlichkeit“. Denn der Raum zwischen zwei Körpern ist physikalisch beschreibbar und messbar, unabhängig davon, ob es sich um den Raum zwischen zwei Steinen, zwei Leichen oder zwei lebendigen Menschen handelt. Anders entsteht der Raum zwischen zwei aufeinander bezogenen Menschen. Jede(r) von beiden ist Leibkörper, also sowohl ein Körper unter anderen in einem physikalisch beschreibbaren Raum als auch Leib. Meinen Leib spüre ich vor aller Benennung und

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Vergegenständlichung, vieles davon ist mir gerade nicht zugänglich, ungewiss. Anderes taucht als „Leibesinseln“ (Hermann Schmitz) auf, z.B. durch das Gewahrwerden in bestimmten kleinen Bewegungsangeboten, die ich mir mache, oder auch mit Wucht durch Schmerz oder eine andere Missempfindung. Mein Leib ist das Zentrum meines eigenen Raumes, der so weit reicht, wie ich meine Arme und Beine ausstrecken kann. Die Grenzen des Eigenraumes sind nicht fest, sondern verschieblich. Beim Einparken reichen sie bis zur Stoßstange und beim Singen bis zum Ende des Klangraumes meiner Stimme. Eines bleibt jedoch fest: mein Leib als absoluter Nullpunkt. Von ihm aus lege ich fest, was vorne / hinten, oben / unten ist. Und so organisiere ich auch meine Bewegung. Wenn Menschen sich aufeinander zubewegen, dann gelingt es ihnen meistens, ein zwischenleibliches Miteinander zu finden, ohne die ausgestreckte Hand, die zum Kuss bereite Wange zu verfehlen oder beim Vorbeigehen zusammenzustoßen. Letzteres gilt auch in größeren Menschenansammlungen und in gewisser Weise auch mit Hunden, die uns begegnen. Wie ist es nun in der therapeutischen Zwischenleiblichkeit? Sie ist vor allem Abhorchen mit dem Stethoskop oder Messen des Blutdrucks oder Beobachten der simultan erzeugten Ultraschallbilder auf dem Bildschirm. Sie ist ein unmittelbares Zwischen ohne Vergegenständlichung, ein Zwischen in der Ungewissheit. Diese Zwischenleiblichkeit ist vorsprachlich, noch nicht gedeutet und in Begriffe gebracht. Verbalisierung kann hilfreich sein, aber sie setzt die Zwischenleiblichkeit voraus, die wiederum das eigenleibliche Spüren der beiden Interaktionspartner voraussetzt, unabhängig von deren sozialen Rollen (Patient, Arzt, Angehöriger usw.). 4. Leichenschock und Korporifizierung Der Leichenschock (Schmitz 1998) entsteht dann, wenn wir vorreflexiv und unbewusst eine Zwischenleiblichkeit mit dem toten Mitmenschen aufbauen wollen, was uns bewusstwerden kann, wenn wir ihn berühren oder ansprechen. Das Schockierende ist dann, dass ‚nichts zurückkommt’, keine Resonanz, vor allem kein Mitatmen. Dann wird uns der Unterschied bewusst zwischen irgendeinem Gegenstand unserer Forschung und diesem bestimmten Gegenstand des Leichnams. Geistes- und seelengeschichtlich entsteht aus dem Leichenschock die Repräsentanz des inneren Menschen. Das ist bei den Ägyptern so (Assmann 1993) und auch bei den Griechen, etwa bei Homer, der von der psyché angesichts des toten Kriegers spricht, aus dessen Mund oder Wunde die Totenseele wie ein Vogel in den Hades hinwegflattert oder wie ein Schmetterling, denn das ist die Wortbedeutung von psyché: Schmetterling. Wenn der Mensch als Jäger in die gebrochenen Augen seiner Beute schaut oder als Krieger in die gebrochenen Augen des erschlagenen Feindes, dann fragt er angesichts des verlorenen Lebens nach der eigenen Seele und nach dem verlorenen Zwischen. Auch für die Bibel Israels ist der Atem die differentia specifica zwischen dem toten und dem lebendigen Menschen. Der Schöpfer formt auf der Töpferscheibe Adam, den Lehmigen, der von der Adamah kommt, von der Erde, und haucht ihm den Atem ein. Leben kommt von der göttlichen Mund-zu-Nase-Beatmung. Wieder eine Konspiration: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen (Genesis 2:7)“.

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Der lehmige Ackerboden heißt im Hebräischen Ādāmāh und der Mensch Ādām, der Lehmgemachte: Gott töpfert Adam, den Lehmgemachten, aus Erde vom Lehmboden und bläst in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Lehmgemachte zu einem lebendigen Wesen. Wesen steht in der Übersetzung für das hebräische Wort næfæš, das je nach Kontext auch Kehlkopf oder Seele heißen kann. Die griechische Bibel hat næfæš mit psychē übersetzt. So heißt es an unserer Stelle, dass Adam, der Lehmgemachte, zu einer lebendigen Seele (psychē zôsa) wird.

5.„Conspiration“ Spiritualität heißt nicht nur in der vordergründigen Wortbedeutung, sondern in tieferem Sinn Atmen, sich atmen lassen, den Atem empfangen und loslassen, sich öffnen für den göttlichen Atem. Lat. spiritualis (geistlich) ist die Übersetzung des paulinischen pneumatikós, und Paulus sagt über das Pneuma (Geist, Wind, Atem, Hauch): Römer 8:16 Autò tò pneûma summartyreî tô pneûmati hämôn hóti esmèn tékna theoû. Der Geist selbst – gemeint ist der göttliche Geist - bezeugt zusammen mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Summartyreîn (mitbezeugen, zusammenbezeugen) ist das Verbum, das Paulus für das Zusammenstimmen zwischen meinem Pneuma, meinem Geist, und dem anderen Geist, dem heiligen, wählt. Ich umschreibe das mit „Konspiration“, hier nicht im Sinn einer konspirativen Wohnung oder kriminellen Vereinigung, sondern des Zusammenatmens, der Sympathie. Sympathie, Empathie, Einfühlung stehen in den helfenden Berufen hoch im Kurs, sie sind Ideale, die unsere professionelle Ethik bestimmen, ebenso wie Sinn und Werte, und zu einer Stellungnahme herausfordern, ebenso wie das Heilige uns entweder Ehrfurcht abnötigt oder auch Verschlossenheit und Flucht auslöst. In den Bereichen der Ethik und der religiösen Vollzüge bekommen wir es mit Überzeugungen zu tun, mit Verhaltensweisen und persönlichen Entscheidungen. Leibphänomenologisch geht es aber um etwas viel Basaleres, Vorreflexives, philosophisch gesprochen: um die Möglichkeitsbedingung des Ich-Sagens, der Stellungnahme, des Ja- und Nein-Sagens, des interpersonalen Austauschs. Nun werden Sie vielleicht sagen: Der Atem ist etwas hoch Individuelles, was sich besonders in der Atemnot zeigt, in der Angst, die vereinzelt. Gleichwohl: In der zwischenleiblichen Begegnung atmen wir nie allein, wir atmen in das Zwischen hinein, und auch wenn wir den eigenen Rhythmus haben, z.B. ruhiger und bauchiger atmen als unser Gegenüber, uns abgrenzen, nehmen wir den Atemrhythmus des anderen atmend wahr, z.B. seine schnelle Frequenz und das Heben der Schultern. Die neuere Forschung zur sozialen Kognition wirft auch ein neues Licht auf die Leibphänomenologie und auf die Leib-Körper-Differenz (Krüger 2011). Dies gilt sowohl für das neue Interesse an der Empathie als auch für die Entdeckung der Spiegelneuronen (Zahavi 2011). Im Zusammenhang der Spiritualität, dessen was ich „Conspiration“ genannt habe, geht es mir um ein mögliches Missverständnis von Empathie. Max Scheler hat dieses Missverständnis Einsfühlung (im Unterschied zur Einfühlung) genannt. EinSfühlung nennt er die Illusion oder das Risiko eines völligen Grenzverlustes zwischen mir

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und dem anderen, also eine falsch verstandene „Sympathie“. Echte Einfühlung (ohne „s“) braucht hingegen genau diese Grenze der Veränderung des Anderen. Dass der / die andere trotz aller therapeutischen Annäherung Geheimnis ist und bleibt, kann dieser Veränderung helfen. Jakob Levy Moreno, der Schöpfer des klassischen Psychodramas, wählte für die Einfühlung in der dialogischen Verschiedenheit den schönen Ausdruck „Zweifühlung“.

6. Das Spirituelle mentalisieren Mit unserem Thema bewegen wir uns in einer breiten interdisziplinären Debatte zwischen empirischer Neurowissenschaft, Bindungsforschung, Psychoanalyse, Phänomenologie und Ethik. Mit modernen bildgebenden Verfahren werden die sozialen Kognitionen erforscht, insbesondere die Spiegelneuronen. Auch die Bindungsforschung spricht vom „Spiegeln“, nämlich von der feinfühligen Art und Weise, wie in einer sicheren Bindungsbeziehung auf die entstehenden Gefühle und Gedanken des Babys eingegangen werden. Die Psychoanalyse formuliert mit Peter Fonagy: „Secure infant becomes mentalizing child”. In der sicheren Bindung lernt es das kleine Kind, sich und die anderen als intentionale Wesen wahrzunehmen, weil es von Anfang an als ein solches behandelt wird. Dem Leid, aber auch anderen zunächst nur dumpf erlebten inneren und äußeren Widerfahrnissen einen Platz im seelischen Binnenraum geben: Das soll hier „Mentalisieren“(Allen et al. 2008/2011) genannt werden. Forschungsgeschichtlich taucht die Frage nach der Theory of Mind im Vergleich der Arten auf, also im Zusammenhang mit der Frage, ob die uns phylogenetisch nahestehenden Primaten eine Vorstellung von eigenen und fremden geistigen Zuständen haben: „An individual has a theory of mind if he imputes mental states to himself and others” (Premack und Woodruff 1978). Bei der Untersuchung von Affen ist das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein einer Theory of Mind eine empirisch zu klärende Frage. Beim Menschen setzen wir sie vor aller Forschung als Vermögen ebenso voraus wie die grundsätzliche Schuldfähigkeit, an der wir in Ethik und Recht trotz prominenter neurobiologischer Skepsis (Singer 2004) festhalten. Dies wird besonders deutlich an der Einschränkung der sozialen Kognition, unter der autistische Menschen leiden (Dziobek et al. 2006) sowie an den schweren Empathie-Mängeln ‚kaltblütiger’ Mörder und anderer Rechtsbrecher, denen es unmöglich zu sein scheint, die Täterperspektive zu relativieren und sich zumindest ansatzweise in die Opfer-Perspektive ‚hineinzuversetzen’. In diesem Beitrag wird das Verbum „Mentalisieren“ sowohl für die im engeren Sinne kognitiven als auch für die emotionalen Anteile der sozialen Kognition verwendet, geht also über eine bloße Theory of Mind hinaus. Das Verbum „Mentalisieren“ kann aktiv oder passiv gebraucht werden: Ich bin in der Lage, meine eigenen geistigen Zustände und die deinigen zu repräsentieren, und ich bin mentalisiert worden, habe Denken und Fühlen innerhalb der frühen Bindungsbeziehung oder auch innerhalb eines psychotherapeutischen Prozesses gelernt. Geschickt zu mentalisieren, insbesondere die Gefühle anderer, ist keine gleichbleibende Fähigkeit, sondern situations- und beziehungsabhängig, gelingt mehr oder minder gut. Die Spiegelung durch eine feinfühlige (responsive) Bindungsperson ist sowohl kontingent als auch markiert, d.h. als Präsentation des kindlichen Gefühlsausdrucks gekenn-

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zeichnet. Markierung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Bindungsperson die Spiegelung mit einer persönlichen Note versieht, z.B. mit einem Necken oder Foppen, ohne in eine Ironie zu verfallen, mit der ein Kleinkind überfordert wäre. Charakteristisch für die feinfühlige Spiegelung ist ferner, dass sie nicht vollständig kontingent ist. Wäre die Spiegelung nämlich zu 100% kontingent, hätte das Baby den Eindruck, die Mutter mit einem Gefühlsausdruck angesteckt zu haben, z.B. mit Angst oder Wut. Aber auch fehlende Kontingenz bei starker Markierung kann das Baby verstören. Das Konzept „Mentalisieren“ umfasst neben kognitiven auch affektive Merkmale (Juen und Fitzke 2010). In einer Sicherheit vermittelnden Bindungsbeziehung behandeln die Eltern schon den Säugling als intentionales (fühlendes, wollendes, interaktives) Wesen. Sie mentalisieren ihr Kind, indem sie Affektäußerungen, Bewegungen, Spannungszustände nicht nur registrieren und mechanisch beantworten, sondern feinfühlig zurückspiegeln. Im persönlichen Markieren solcher Spiegelungen reichern sie das noch namenlose und undifferenzierte Erleben des Kindes an, unterlegen es mit eigenen, gefühlsmäßig gefärbten Bedeutungen und beziehen das Kind lange vor dem semantischen Spracherwerb in ihre Kommunikationsgemeinschaft ein. Das Kind beantwortet das kommunikative Spiegeln, lässt sich mentalisieren. Es entwickelt sich ein Dialog, aus dem sich Sprache, geistige Binnen- und geteilte Welt aufbauen. Aus Wahrnehmen und spiegelndem Beantworten entsteht das Selbst des Kindes, und insofern auch die Voraussetzung für Personalität. Versuchen wir, das Gesagte auf die Leibtherapie FE anzuwenden. Die Feinfühligkeit einer Sicherheit gewährenden Bindungsperson kann uns dabei helfen. Das Baby erlebt von Anfang an wechselnde Affektzustände und leibliche Erfahrungen. Das eigenleibliche Spüren ist von Anfang an da, aber noch namenlos, nicht mit Sinn unterlegt, vorreflexiv oder, wie wir auch sagen können: noch nicht mentalisiert. Mit H. Schmitz: Leibesinseln, die auftauchen und wieder verschwinden. Es gibt noch keine Sprache dafür und natürlich noch nicht die Kartierung und Beschreibung des korporifizierten Leibes, des Körpers. Die frühe Mutter oder Bindungsperson ist eine mitspürende, mentalisierende, die das Baby nicht „behandelt“ wie ein technisches Gerät, an dem ich Probleme löse. Das Baby schreit, und die Mutter versteht, ob es Hunger hat oder Schmerzen oder volle Windeln oder sich mutterseelenallein fühlt. Auch ein Computer blinkt oder piepst und „erwartet“ eine Eingabe des Nutzers. Auch die Espressomaschine blinkt und „erwartet“, dass der Kaffeetrinker den Kaffeesatzbehälter leert, den Wassertank oder Bohnen nachfüllt oder eine Reinigungsprozedur durchführt. Dass Geräte etwas „erwarten“, denken oder wollen, sind mentalistische Ausdrücke, die wir in Analogie zum Lebendigen verwenden. Das ist nicht schlimm. Gefährlich wird es erst, wenn wir andere Lebewesen unempathisch-mechanistisch wie Maschinen behandeln. Jedoch wissen wir, dass blinkende oder piepsende Geräte und schreiende Babys verschieden sind. Wir begegnen schon ganz kleinen Mitmenschen mit einer Theory of Mind, wir verwickeln sie in einen Bedeutungszusammenhang von Sprache, Intentionalität, Denken und Gefühl, lange bevor sie kognitiv mitkommunizieren können. Die Attachment-to-God-Theorie (Granqvist et al. 2010) besagt, dass wir Gott, Maria, Engel und andere religiöse Figuren als Bindungsfiguren wahrnehmen, die Sicherheit verleihen, entweder in Kontinuität mit einer sicheren Bindungserfahrung oder auch kompensierend für eine unsichere oder gar traumatisierende Bindungserfahrung. Neutraler

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gesprochen: die Spiritualitätsgeschichte eines Menschen bewegt sich zwischen den Polen der Sicherheit und der Traumatisierung, und sie beginnt lange vor den kognitiven Konzepten. Sie beginnt in der vorsprachlichen Zwischenleiblichkeit, in der Gerüche, Klänge, Berührungen, Wärme und Kälte, Rhythmus und Konstanz zuhause sind. In der Zwischenleiblichkeit wird das Geheimnis des Anderen spürbar. Hier können wir es berühren und respektieren.

Literatur: Allen JG, Fonagy P, Bateman A (2008/2011): Mentalisieren in der psychotherapeutischen Praxis. Klett Cotta, Stuttgart. Assmann J (Ed.) (1993): Die Erfindung des inneren Menschen. Gütersloh. Dziobek I, Fleck S, Kalbe E, Rogers K, Hassenstab J, Brand M, Kessler J, Woike JK, Wolf OT, Convit A (2006): Introducing MASC: A movie for the assessment of social cognition (DOI 10.1007/s10803-006-0107-0). Journal of Autism and Developmental Disorders Fonagy P, Target M (1997): Attachment and reflective function: Their role in self-organization. Development and Psychopathology 9:679-700. Frick E (2009): Psychosomatische Anthropologie. Ein Lehr- und Arbeitsbuch für Unterricht und Studium (unter Mitarbeit von Harald Gündel). Kohlhammer, Stuttgart. Granqvist P, Mikulincer M, Shaver PR (2010): Religion as attachment: Normative processes and individual differences. Personality and Social Psychology Review 14:49–59. Juen F, Fitzke E (2010): Mentalisierung in der Kindheit. Entwicklung und klinische Erfassung in frühen Lebensjahren. Psychodynamische Psychotherapie 9:233-234. Krüger H-P (2011): Die Körper-Leib-Differenz von Personen: Exzentrische Positionalität und homo absconditus. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59:577–589. Premack D, Woodruff G (1978): Does the chimpanzee have a theory of mind? Behavioral and Brain Sciences 4:515-526. Schmitz H (1998): Der Leichenschock. In: Stefenelli, Norbert (Ed.): Körper ohne Leben: Begegnung und Umgang mit Toten. Böhlau, Wien, 891-898. Singer W (2004): Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen. In: Geyer, Christian (Ed.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 30-65. Wendel S (2003): Inkarniertes Subjekt. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51:559-569. Zahavi D (2011): Empathy and mirroring: Husserl and Gallese. In: Breeur, R., Melle, U. (Ed.): Life, subjectivity and art: Essays in honor of Rudolf Bernet. Springer Netherlands, Dordrecht Heidelberg London New York,

Vortrag im Rahmen der Jahrestagung der AFE in Rothenburg, Nov.2012

Autorinnen und Autoren von Arnim, Angela, Dr. med., Internistin, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Lehrbeauftragtenanwärterin der A.F.E., bis 2007 Ltd. Oberärztin der Psychosomatischen Abteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik Erlangen, seit 2007 niedergelassen in freier Praxis in Berlin, Dozentin und Supervisorin am Institut für Psychotherapie Potsdam mit Schwerpunkt Körperpsychotherapie Viktoria-Luise-Platz 8, 10777 Berlin, Bucheli-Zemp, Irene, diplomierte Logopädin, Körpertherapeutin AAP, NFR, FE Lehrbeauftragte für Funktionelle Entspannung, Praxis:Eschenbachstrasse 13, CH- 6023 Rothenburg, 0041 041 322 14 86 Neurofunktionelle Therapie für Sprache Stimme und Lernen, www.buchelly.ch Buntfuss, Sabine, Diplom-Psychologin, Systemische Elterncoach, Lehrbeauftragtenanwärterin der A.F.E. Beim Steinbruch 43, 90518 Altdorf, [email protected] Frick, Eckhard, Prof. Dr. med., Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiater, Psychoanalytiker, Theologe, Philosoph, Professur für Spiritual Care am Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin des Klinikums der Uni München Kaulbachstr. 22a, 80539 München, [email protected] Herholz, Ingrid, Dr. med., Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in eigener Praxis und an der Universitätsklinik zu Köln, Psychoanalytikerin, Lehrbeauftragte der A.F.E. Schlehdornweg 15, 50858 Köln, [email protected] Lange, Doris, Dipl.-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin (TP) und Kinderund Jugendlichen-Psychotherapeutin (TP) in eigener Praxis, Weiterbildung in analytischer Paar- und Familientherapie, Lehrbeauftragte der A.F.E. Badborngasse 1a, 35510 Butzbach, [email protected] Lauffer, Verena, Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, Lehrbeauftragte der A.F.E., tätig in eigener Praxis mit tiefenpsychologisch fundierter Ausrichtung, Einzelund Gruppentherapie, Integration von FE-Körperpsychotherapie, Hypnotherapie n. Milton Erickson, Kurzzeittherapie n. Steve de Shazer, pränatale Körperpsychotherapie, Weiterbildungsberechtigung der ÄK Mecklenburg-Vorpommern Hafenstr.32B, 17489 Greifswald, [email protected] Martin, Gabriele, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Lehrbeauftragte der A.F.E. Hauptstr. 36, 23738 Riepsdorf, [email protected]

Plassmann, Reinhard, Prof. Dr. med., Nervenarzt, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Lehr- und Kontrollanalytiker (DPV) und EMDR-Therapeut. Ärztlicher Direktor des Psychotherapeutischen Zentrums Bad Mergentheim und Professor der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkt ist die stationäre Psychotherapie mit Erwachsenen und Kindern. Psychotherapeutisches Zentrum Kitzberg-Klinik, Erlenbachweg 24, 97980 Bad Mergentheim, [email protected] Reddemann, Ulrike, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Fachpsychotherapeutin für Traumatherapie (DAPT), Ausbildung in personzentrierter Psychotherapie (GwG), Hypnosystemische Verfahren in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (M.E.G.), Sandspieltherapie nach Dora Kalff. Private Praxis mit Schwerpunkt Psychotraumatologie, Häberlinstr. 24, 73730 Esslingen, [email protected] Schwibach Dieter W. J., Diplom-Theologe, Pastoralreferent, Diözesanbeauftragter für Notfallseelsorge, Sprecher der Notfallseelsorger in den Bayerischen Diözesen, TZI-Diplom, Lehrbeauftragter der A.F.E. Kirchenplatz 2, 84347 Pfarrkirchen, [email protected] Sohn, Richard, Dr. med., Allgemeinmedizin, Palliativmedizin, tiefenpsychologische Psychotherapie, Leiter des Weiterbildungskreises Psychotherapie Erlangen, GB in FE Haydnstr. 21, 90768 Fürth, [email protected]

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Geschäftsführerin ist Erika Pokorny, FE-Lehrbeauftragte, Geschäftsstellenleiterin ist Christl Martin, Übersetzerin.

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