GOTT UND DIE WELT Muss die wahre Liebe warten? Enthaltsamkeit als religiöses Gebot. Clarisse Cossais. Produktion:

October 10, 2017 | Author: Hetty Kraus | Category: N/A
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1 Abteilung: Kirche und Religion Redaktion: Anne Winter Sendereihe: Gott und die Welt Autor/-in: Jantje Hannover Sendeda...

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Abteilung: Sendereihe: Sendedatum: Produktion:

Kirche und Religion Gott und die Welt 14.02.2016

08.02.2016

Redaktion: Autor/-in: Sendezeit:

Anne Winter Jantje Hannover 9.04-9.30 Uhr/kulturradio

9.15-17.00 Uhr/T9

_____________________________________________________________________________ Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt; eine Verwertung ohne Genehmigung des Autors ist nicht gestattet. Insbesondere darf das Manuskript weder ganz noch teilweise abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Eine Verbreitung im Rundfunk oder Fernsehen bedarf der Zustimmung des RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg).

_____________________________________________________________________________ GOTT UND DIE WELT Muss die wahre Liebe warten? Enthaltsamkeit als religiöses Gebot

Sprecherin:

Nina West

Zitator:

Manfred Suttinger

Regie:

Clarisse Cossais

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Auf Musikbett: 1. O-Ton Markus: Ich hab gelernt, okay, du darfst das nicht machen, habe diese Regel einfach akzeptiert, kein Sex vor der Ehe, steht in der Bibel - will Gott nicht. 2 O-Ton Anni: Als wir damals gesagt haben: wir wollen warten - ja woher willst du wissen, was du verpasst, hinterher denkst du hätte ich besser ausprobiert usw. man kann es ausprobieren, aber das garantiert dann nicht, dass es in der Ehe funktioniert. 3 O-Ton Matthias: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Leute, die vorher schon freizügig sexuelle Erfahrungen gemacht haben, dass die das eigentlich auch in die Ehe reinbringen, da denkt man dann vielleicht an die anderen Frauen zurück. 4 O-Ton: Wir Kritikerinnen oder Feministinnen nennen das Jungfrauenwahn. Ein tatsächlicher Wahn, der auch nach wie vor vorherrscht, dass die Mädchen, jungen Frauen vor der Ehe kein Verkehr haben sollten, dass sie Jungfrauen sein sollten. Das wird auch noch zelebriert, das wird gefeiert, das wird kontrolliert, überprüft und entsprechend gelebt. Titelsprecherin Muss die wahre Liebe warten? Enthaltsamkeit als religiöses Gebot Eine Sendung von Jantje Hannover

5 O-Ton: Ich habe erlebt, dass Sexualität eine unwahrscheinlich tiefe Berührung zwischen zwei Menschen ist. Ich habe ein gutes Bild, um das zu erklären, wie ich das sehe. Sprecherin: Markus Mudrich, 23 Jahre alt.

6 O-Ton: Das ist, wie wenn man zwei Blätter aneinander klebt, mit Leim, das ist für mich eine sexuelle Verbindung, einfach Sex mit einer Person zu haben. Dann ist das, wie wenn ich die Blätter auseinanderreiße. Wenn zum Beispiel die Beziehung auseinander geht, bleibt immer ein Stück von dem Einen an dem Anderen kleben, hängen. Sprecherin: Und damit das nicht passiert, hat Markus noch nie Sex mit einem anderen Menschen gehabt. Er will auf die Frau seines Lebens warten, seine zukünftige Ehefrau:

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8 O-Ton:

Für mich ist es wichtig, dass die Beziehung zu meiner Freundin oder meiner späteren Frau dann auch auf einer sicheren Grundlage basiert. Und zwar auf der Grundlage: wir sind verheiratet, wir haben uns füreinander entschieden, und wenn es einen Streit gibt, gehen wir nicht einfach auseinander, sondern wir bleiben zusammen und wir versuchen einen Kompromiss zu finden zusammen. Sprecherin: Markus sieht gut aus, er treibt viel Sport und tritt selbstbewusst auf. Zur Zeit studiert er Musik in Dresden, er spielt Gitarre und Saxophon und steht regelmäßig mit verschiedenen Bands auf der Bühne. An Gelegenheiten, junge Frauen kennenzulernen, mangelt es ihm also nicht:

7. O-Ton: Für mich ist das wie eine Pyramide: ich habe eine Freundin und ich will sie erst kennen lernen. Für mich ist die Grundlage eine Freundschaft, du kennst dich, du verstehst dich, du redest über dich selbst, über deine Probleme. Irgendwann, wenn man diese Freundschaft gebaut hat, ist die Spitze der Sex, wenn ich die Pyramide umdreh, kippt die um. Ich finde, wenn eine Beziehung nur auf Sex aufbaut, dann fehlt ganz ganz viel. Sex ist eine sehr sehr sehr schöne intensive Sache, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass man sich nur darauf konzentriert. Sprecherin: Mit dieser Haltung liegt Markus ganz auf der Linie der internationalen christlichen Initiative „True Love waits“, der deutsche Ableger nennt sich entsprechend „Wahre Liebe wartet“. Die Initiative wurde 1992 von den Baptisten in den USA ins Leben gerufen und erlangte in kurzer Zeit weltweite Bekanntheit. Mehr als drei Millionen Jugendliche sollen eine Verpflichtungserklärung unterschrieben haben, in der sie sich vor Gott, Familie, Freunden sowie den künftigen Ehepartnern dazu bekennen, sich bis zu ihrer kirchlichen Heirat sexuell zu enthalten. Ein Versprechen, das offenbar leichter gesagt ist, als einzuhalten: Amerikanische Studien fanden heraus, dass 88 Prozent der Teenager, die das Keuschheitsversprechen abgelegt hatten, in den folgenden sechs Jahren doch vorehelichen Geschlechtsverkehr hatten.

9 O-Ton: Ich persönlich verurteile niemanden, der das macht. Ich bin da nicht der Moralkeule schwingende Richter, der anderen sagt: ihr müsst das tun. Ich hab mich selbst dafür entscheiden, diese Regel zu befolgen.

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Sprecherin: Eine Regel, die Markus aus der Bibel ableitet –und an die er sich aus eigener Überzeugung halten will:

10. O-Ton: Ich hab mich selbst entschieden, frei von aller Religion, frei von allem, was gesagt wird oder von all dem, was meine Eltern mir erzählt haben, whatever. Sprecherin: Markus ist praktizierender Christ und besucht an Sonntagen die Gottesdienste des International Christian Fellowship, kurz ICF, eine Freikirche. Hier predigt der Pastor in Lederjacke, statt eines Kirchenchors gibt es Popmusik – das zieht vor allem junge Leute an. Mit dem Sex bis zur Ehe zu warten, wie es besonders die Freikirchen empfehlen, ist für die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland nicht wirklich ein Thema. Im November letzten Jahres hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung die Studie „Jugendsexualität 2015“ vorgestellt: Zitator: „Die heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind sexuell aktiv und verhüten gut. Sie legen großen Wert darauf, dass das „erste Mal“ in einer festen Partnerschaft stattfindet. Mit 19 Jahren haben 90 Prozent der jungen deutschen Frauen Geschlechtsverkehr – Erfahrung, im Schnitt zwei Jahre früher als männliche Jugendliche. Annahmen, wonach junge Menschen immer früher sexuell aktiv würden, bestätigen sich nicht. Sprecherin: Nur rund vier Prozent der befragten deutschen Frauen gaben an, dass sie Sex vor der Ehe nicht richtig finden. Bei den Frauen mit Migrationshintergrund sagte das immerhin jede Dritte. Aber ähnlich wie Markus wollen sie „das erste Mal“ in einer verbindlichen Beziehung erleben. Umso schmerzhafter sei es dann allerdings, wenn die Beziehung scheitert, meint Markus – und vor solchen Verletzungen wolle Gott die Menschen mit dem Gebot der Enthaltsamkeit bis zur Ehe schützen:

10 O-Ton: Ich glaube, dass Gott den Menschen gemacht hat und dass Gott will, dass es dem Menschen gut geht, und dass Gott nicht deswegen die Regel gemacht hat, damit er mich strafen kann sozusagen: du hast die Regeln nicht befolgt, duff, kriegste eine

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drauf. Ich glaube, Gott kennt den Menschen am besten, weil er ihn gemacht hat, das heißt: die Regel ist dafür da, dass ich mich nicht verletze. Sprecherin: Aber existiert eine Regel oder ein Gebot in der Bibel, das Sex vor der Ehe verbietet? Das sechste Gebot sagt: Du sollst nicht ehebrechen. Über das Verhalten vor der Hochzeit steht dagegen nichts in der Bibel, sagt der evangelische Pfarrer und Psychologe Dieter Wentzek: 11 O-Ton:

Die Bibel ist in dem Sinne kein Moralbuch. Das, was da an Ordnungen beschrieben wird, sind Ordnungen, die () für den Menschen gemacht sind, damals auch für die Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens im Volke Israel. Sprecherin: Dieter Wentzek hat viele Jahre das Evangelische Zentralinstitut in Berlin geleitet, das Menschen für die Fort- und Weiterbildung in psychologischer Beratung ausbildet. In der evangelischen Kirche orientiere man sich nicht in erster Linie an Normen oder Geboten, stattdessen gäbe es eine Verantwortungsethik, erklärt Wentzek:

12 O-Ton: Letztlich muss ich mir selbst die Frage stellen, wie will ich eigentlich christlich leben? Wie setze ich das eigentlich um in die Praxis und woran orientiere ich mich da? Es gibt kein Gebot, du darfst eben deine Sexualität, deine Triebe nur in der Ehe leben. Das ist das, was der Kirchenvater Augustin mal abgeleitet hat, indem der das Ausleben des sexuellen Triebes gekoppelt hat an die Zeugung von Kindern, () im Grunde genommen hat er die Sexualität funktionalisiert und damit versucht einzudämmen. Sprecherin: Augustinus sah den Sündenfall von Adam und Eva als Ursache der Fleischeslust. Nach seiner Lehre war diese Lust als solche abzulehnen, sogar in der Ehe. Diese Haltung stamme aber keinesfalls aus der Bibel, betont der Theologe:

13 O-Ton: Die Sexualität ist eigentlich als Leiblichkeit, die ja im Alten Testament eine ganz große Bedeutung hat, der Leib als Gefäß der Seele, Sexualität als Ausdruck der Leiblichkeit wird überwiegend positiv gesehen. Wenn man das Hohelied der Liebe sieht, wie da schwärmerische Worte für die Schönheit der Frau gefunden, und Zärtlichkeit wirklich sehr erotisch beschrieben wird. Da kann man grundsätzlich sagen, dass Sexualität als Ausdrucksform der Leiblichkeit als gute Gabe Gottes verstanden wird, als Teil der Schöpfung des Menschen, die eben dem Leben dient und letztlich ja auch zum Leben führt.

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Sprecherin: In diesem Geist hat die Evangelische Kirche in Deutschland im Sommer 2013 eine Orientierungshilfe zum Thema „Familie“ veröffentlicht. Sie beschäftigt sich mit dem tiefgreifenden Wandel, den Ehe und Familie seit den biblischen Zeiten durchlaufen haben: Zitator: Ein normatives Verständnis der Ehe als „göttliche Stiftung“ () entspricht nicht der Breite des biblischen Zeugnisses. Wohl aber kommt bereits in der Schöpfungsgeschichte zum Ausdruck, dass Menschen auf ein Gegenüber angewiesen sind, an dem sich die eigene Identität entwickelt. In diesem Sinne ist die Ehe eine gute Gabe Gottes, die aber, wie das Neue Testament zeigt, nicht als einzige Lebensform gelten kann. () Deswegen versteht die Reformation die Ehe als „weltlich Ding“; sie ist kein Sakrament, sondern eine Gemeinschaft, die unter dem Segen Gottes steht. Ihre Aufgabe besteht in der Bewahrung und Weitergabe des Lebens in den vielfältigen Formen der Sorge für andere über die Generationen hinweg. 14. O-Ton:Wentzek

Dieses: „du sollst nicht Ehebrechen“ hat nichts zu tun mit einem falsch verstandenen, nicht gezügelten Sexualtrieb, den man dann irgendwie auslebt in einer anderer Beziehung, dass das dann Sünde ist. Sondern es geht darum, dass die Versorgungsund Lebensgemeinschaften, die dadurch entstanden sind, dass sich Mann und Frau verbunden haben zu einer Familie, dass das nicht gefährdet wird. Weil auch die Frau als Eigentum des Mannes galt, damals, dass man das Eigentum respektiert des Anderen, und deswegen nicht in die Ehe einbricht, nicht in die Gemeinschaft eindringt, Musikalischer Akzent als Trenner Sprecherin: In biblischen Zeiten war die Vielehe eine Selbstverständlichkeit. Schlief ein verheirateter Mann mit einer Prostituierten, galt dies nicht als Ehebruch – wohl aber der Verkehr mit einer verheirateten Frau. Die Sexualität wird in der Bibel nicht als eigenständiges Thema behandelt, anders als im Koran. Obwohl die Verhaltensregeln und Gebote zur Sexualität in islamischen Ländern heute sehr rigide ausgelegt und gelebt werden, ist der Koran alles andere als lustfeindlich. Die Frauenrechtlerin und Anwältin Seyran Ates hat ein Buch mit dem Titel „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“ geschrieben:

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15 O-Ton: Aufgrund der Tatsache, dass Mohammed das ideale Vorbild eines Menschen ist, und der ein sehr sehr ausgiebiges Sexualleben hatte, durchaus Sexualität auch beschrieben wird. Also man durchaus sagen könnte, es gibt ein islamisches Kamasutra. Sprecherin: Und wie das über tausend Jahre alte indische Lehrwerk über Erotik wird auch Mohammed ziemlich konkret:

16 O-Ton: Man beschreibt in den Hadithen und auch nach den Aussprüchen des Propheten, wie ein Mann zu einer Frau zu gehen hat, wie er das Vorspiel zu machen hat, dass er sie vorbereitet für den Verkehr, und dass die Frau beim Verkehr genau soviel Lust empfinden soll wie der Mann. Also dass auch sie ein Recht auf Befriedigung hat. Und dass zum Beispiel nach den schariarechtlichen Regeln eine Frau das Recht hat, sich von einem Mann scheiden zu lassen, wenn er impotent ist. Weil er ihr nicht die sexuellen Wonnen bieten kann und auch nicht dafür sorgen kann, dass sie ein Baby bekommt zum Beispiel, all das ist geregelt, und das ist etwas, was wir aus dem Christentum nicht kennen, dass das so en detail beschrieben wird. Sprecherin: Auch wenn die Sexualmoral, die uns heute in islamischen Ländern begegnet, das kaum vermuten lässt, ist der Islam in dieser Hinsicht viel frauenfreundlicher als das Christentum. Musik Heilsarmee

1 Atmo: Du bist mein Zufluchtsort, ich wärme mich… Sprecherin: Gottesdienst bei der Heilsarmee. Die Gemeinde in Berlin Friedenau feiert in einem schlichten Raum mit niedriger Decke, auf der Bühne vorne steht ein großes Holzkreuz, davor ein paar Blumen. Ein Altar fehlt. Die Texte der Lieder werden auf eine große Leinwand geworfen, seitlich sitzt ein Orchester mit Hörnern in verschiedenen Größen, es gibt ein Schlagzeug und ein Klavier, manche Stücke werden von E-Gitarren begleitet. Eine junge Frau in Jeans und kurzärmeligen T-Shirt singt dazu.

1 Atmo

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Sprecherin: Einige Gemeindemitglieder sind aufgestanden, sie lassen ihre Körper im Takt der Musik mitschwingen, manche halten ihre Hände geöffnet, andere lauschen dem Lobpreis Gottes mit geschlossenen Augen. Das Gemeindezentrum in Friedenau ist das Reich von Anni und Matthias Lindner, die hier als Prediger arbeiten. In der Armee des Herrn, also der Heilsarmee, haben sie den Rang eines Offiziers inne. Anni und Matthias sind seit 13 Jahren verheiratet. Mit dem geschlechtlichen Liebesleben haben sie bis zur Hochzeit gewartet:

17 O-Ton: M: Nach einer Zeit hat es sich wirklich rauskristallierisiert, () dass wirklich das Warten sich gelohnt hat. A: die Herausforderung ist ja, dass wir sehr komplexe Wesen sind, das heißt M: vor allem Frauen, (lachen) A: eine Beziehung, die lange halten soll, wir reden ja über Ehe, die eigentlich lebenslang sein sollte, optimalerweise. Viele träumen ja davon, die Liebe ihres Lebens zu finden, die bezieht sich ja nicht nur auf Sex, sondern auf ganz viele andere Sachen. Das Ausprobieren kann vielleicht auch dazu führen, dass man sagt: okay, mit dem war es total super im Bett, aber wir haben uns nicht verstanden im Thema: wie wollen wir unsere Kinder erziehen oder was haben wir für Berufswünsche oder so. Sprecherin: Anni und Matthias Lindner haben sechs Kinder. Die Ehepartner sind 35 und 36 Jahre alt, und sie sind glücklich miteinander, sagen sie:

18 O-Ton: Definitiv - lachen Sprecherin: Beim Gespräch sitzen sie einander zugewandt, von Zeit zu Zeit berührt Matthias seine Anni zärtlich am Rücken. Und er bleibt ganz entspannt, während Anni das Wort führt:

19 O-Ton: A: Nicht dass bei uns alles perfekt wäre, wir in allen 100% übereinstimmen. Aber wir wussten, bevor wir geheiratet haben, dass wir uns auf jeden Fall supergut verstehen, dass wir beste Freunde sind, dass wir ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Vision für unser Leben haben, und wir haben drauf vertraut, dass das Sexuelle dann passt. Wir waren natürlich total verliebt und auch heiß aufeinander, um es mal so zu sagen, als wir geheiratet haben, war das jetzt nicht ganz so hollywoodmäßig, dass wir dann im Bett waren und alles war gleich, juhu superschön. Aber wir sind jetzt 13 Jahre verheiratet und das wird eigentlich immer besser. Deswegen glaube ich, dass man Sex nicht nur ausprobieren kann, sondern auch ausbauen kann je mehr man sich kennt und je mehr man sich aufeinander einlässt.

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Sprecherin: Das scheint Anni und Matthias gelungen zu sein. Die Heilsarmee zählt zu den evangelikalen Freikirchen, die sich auf die Bibel als alleinige Glaubens-grundlage berufen. Mit Zitaten aus der Bibel versucht auch Anni Lindner zu belegen, dass Gott für die Sexualität ausschließlich die Ehe vorgesehen hat.

20. O-Ton: Jesus überspitzt eigentlich diese Aussagen vom Alten Testament, macht die einfach noch schärfer, ich lese das jetzt mal vor: Ihr habt gehört, dass es im Gesetz von Mose heißt, du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage, wer eine Frau auch nur mit Blick voller Begierde ansieht, hat im Herzen mit ihr die Ehe schon gebrochen. Er ist richtig scharf mit diesen Aussagen, und er ist ja selber Gott, er weiß schon, was da im Alten Testament auch gelaufen ist. Von Gott ist es eigentlich so gewollt, dass Mann und Frau zusammen bleiben. Gerade wenn es um Ehe geht, hat das neue Testament noch mal total bestätigt, was im Alten steht und auch ausgeweitet auf uns heute. Sprecherin: Ob es etwas mit Gehorsam gegenüber Gott zu tun hat, dass Anni und ihr Mann mit dem Sex bis zur Ehe gewartet haben?

21 O-Ton: A. Auch. M: Naja, eigentlich denke ich, es steht ja nicht als Regel in der Bibel, sondern es wird einfach vorausgesetzt. Wenn gerade so die Gebote über Liebe, Sexualität liest, da ist das für Gott einfach normal. Er sagt: okay, wenn du mit jemand geschlafen hast, bist du eigentlich in meinen Augen verheiratet, dann gehört ihr zusammen. 22 O-Ton: A: 2. Mose 22, 15 und 16: Wenn ein Mann eine Jungfrau, die noch nicht verlobt ist, verführt und mit ihr schläft, muss er die übliche Mitgift bezahlen und sie zur Frau nehmen. Falls ihr Vater sich jedoch weigert, sie ihm zur Frau zu geben, soll der Mann trotzdem die übliche Mitgift für eine Jungfrau zahlen. 22 a O-Ton M: Das Spannende ist ja, wenn es um Sünde geht, also das, was einen von Gott trennt, da wird immer gesagt halt: die Sünde trennt dich von Gott, das macht das. Bei Sex hat er gesagt, nee, da geht es um dich und deinen Körper, seid da vorsichtig. Deswegen sehe ich das weniger als ein Gebot, sondern als einen ganz tollen Hinweis, wenn du dein Leben langfristig gut, schön haben willst auch im Bereich Sex, dann ist das eigentlich der richtige Weg. Musiktrenner: Orientalische Musik

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Sprecherin: Während manche junge Christen aus Überzeugung mit dem Sex bis zur Ehe warten, scheint die Keuschheit der Ehepartner vor der Hochzeit im Islam ein unumstößliches Gesetz zu sein. Zumindest die Keuschheit der Braut. Auch hier wird das Gebot religiös begründet, erklärt die türkischstämmige Anwältin Seyran Ates:

23 O-Ton Seyran: Alles ist im Islam in Erlaubtes und Verbotenes eingeteilt, und zu dem Verbotenen, außerhalb der Ehe, außerhalb der Nikah, Nikah bedeutet Eheschließung und Geschlechtsverkehr, ein einziges Wort für beides im Arabischen, deshalb soll das nur da stattfinden. Sprecherin: Das Verbot von Sex außerhalb der Ehe gilt im Islam für beide Geschlechter gleichermaßen, tatsächlich aber wird es nur von den Frauen eingefordert. Aus Sorge, die Braut könne vorzeitig ihre Jungfräulichkeit verlieren, werden Minderjährige verheiratet, Zwangsehen angebahnt und Morde begangen. Die Jungfräulichkeit gilt als eine Frage der Ehre für die ganze Familie:

24 O-Ton: Wenn man sagt, die Frauen haben kein Recht, über ihren Körper selbstbestimmt zu entscheiden, dann hat man sofort die Verbindung zu den Männern, die zu den Träger der Ehre der Frau gemacht werden. Männer maßen sich an und Großfamilien maßen sich an, die Ehre meiner Mitglieder sitzt zwischen den Beinen der Frauen und Mädchen. Und wenn das verletzt ist, ist meine Ehre verletzt, nämlich die der gesamten Familie, die des Mannes, des Bruders, und diese Einstellung zum Thema Ehre muss sich verändern. Sprecherin: Seyran Ates ist selbst religiös. Die Regel, dass man keinen Sex vor der Ehe haben sollte, hält die 53jährige jedoch nicht für ein unumstößliches Gesetz:

25 O-Ton: Ich bin Muslimin, gläubige, bekennende Muslimin, und habe nie geheiratet, und habe ein Kind. Das heißt, ich habe außerehelichen Verkehr gehabt und habe danach auch nicht geheiratet, und bin immer noch nicht verheiratet. Ich bin der Überzeugung, dass ich ins Paradies komme, dass dieser Gott mich liebt, Allah mich liebt. Ich denke, wenn ich eine Beziehung zu einem Mann eingehe, ich brauche nicht den zivilrechtlichen Vertrag, den ich dann dem Staat vorlege. Sondern ich kann das ja für mich selbst mit dieser Person, mit der ich dann zusammen bin, vor Gott erklären: dass das für mich eine ernsthafte Beziehung ist, dass ich mich verpflichte, dass ich in dieser Beziehung

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treu bin, in dieser Beziehung auch Verantwortung trage, dass das für mich auch ohne dieses standesamtliches Papier geht. Sprecherin: Das scheinen viele junge Musliminnen in Deutschland inzwischen ähnlich zu sehen. Laut der Studie „Jugendsexualität 2015“ hatten 90 Prozent aller jungen Frauen mit Migrationshintergrund im Alter von 21 Jahren bereits Geschlechtsverkehr – im Schnitt zwei Jahre später als ihre deutschen Geschlechtsgenossinnen. Einige von ihnen sind in dem Alter natürlich schon verheiratet, aber längst nicht alle. Trotzdem ist es für die meisten muslimischen Frauen weiterhin sehr wichtig, als Jungfrau in die Ehe zu gehen. Zumindest sollen die Eltern das glauben, ihnen gegenüber gilt es die Fassade zu wahren:

26 O-Ton Ates: Was dazu führt, dass sehr viele junge Frauen, die vorehelichen Verkehr haben wollen, andere Wege suchen um als Jungfrau in die Ehe zu gehen. Das heißt, die haben dann Anal- oder Oralverkehr, um das Jungfernhäutchen nicht zu verletzen. Sprecherin: Ates nennt das „Jungfrauenwahn“. Die türkische Alewitin Nursen Aktas berät bei Pro Familia junge Araberinnen und Türken. Auch hier ist die Pflicht zur Jungfräulichkeit ständig Thema: 27 O-Ton:

Vielleicht findet der Vaginalgeschlechtsverkehr nicht statt, aber Oral- und Analverkehr. Es ist eher, vorsichtig ausgedrückt, nicht unbedingt der Phantasie der Frauen entsprungen, diese Methoden, das ist eher ein bisschen aus dem Pornografischen, was ist das Bedürfnis des Mannes? Ja, anal geht auch und oral, das wünschen keine 15, 16jährigen ihre erste Erfahrungen so machen zu müssen. Aber aus der Scham nicht schwanger zu werden oder diese dünne Haut zu schützen, die angeblich der Beweis für Unberührtheit ist, das ist verlogen. Sprecherin: Wenn vorehelicher Sex stark tabuisiert wird, steigt außerdem die Gefahr, dass die Partner auf Verhütungsmittel verzichten. Viele Patientinnen von Nursen Aktas sitzen wegen einer ungewollten Schwangerschaft in der Sprechstunde. Dann fragt die Beraterin:

28 O-Ton: Wie habt ihr verhütet? Und da kam raus, die dachten, beim ersten Mal passiert nix… ()Dann merke ich: oh, es gibt immer noch so ein Tabuthema darüber zu reden, ()Wie,

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ihr habt darüber nicht gesprochen? Nein, wenn die dann ganz offen sind, sagen die: ach, ich hab mich geschämt, ich hab nicht gefragt und dachte mir: er nimmt Kondom, und er hoffte: Pille. Ich hab gesagt, ja wie denn, so einfach ist es auch nicht für Mädchen gleich zum Gynäkologen zu gehen, wenn sie noch nie dort war… Sprecherin: Aber selbst wenn mit der Verhütung alles geklappt hat. Voreheliche sexuelle Erfahrungen sind für Musliminnen ein Risiko: 29 O-Ton:

Es gibt wirklich solche Situationen, wo die jungen Frauen halt Sex vor Ehe hatten, und jetzt wollen sie heiraten. Vielleicht nicht den gleichen Mann, oder den gleichen, aber die Familie erwartet, dass sie Jungfrau ist. Und die sind verzweifelt. Sprecherin: In islamisch geprägten Kulturen ist es üblich, nach der Hochzeitsnacht ein blutbeflecktes Laken als Beweis für die Jungfräulichkeit der Braut zu präsentieren. Ärzte, die sich auf die Wiederherstellung des Jungfernhäutchens spezialisiert haben, machen inzwischen gute Geschäfte. Auch in Deutschland:

30 O-Ton Aktas: Klar wird es in jedem Land gemacht, wenn man das Geld hat, kann man alles machen. Das findet in den muslimischen Ländern permanent statt. Wir sind der Meinung, wir sollten erstmal mit der Frau reden, warum es wichtig ist, jetzt nähen zu lassen, was das bedeutet. Weil auch wenn Sie nähen lassen, die Garantie ist nicht da, dass das blutet. Sprecherin: Zum Glück gibt es da noch das künstliche Hymen aus China, zwei Stück kosten im Internet 49 Euro. Es handelt sich um eine Kapsel zum Einführen, die Blut enthält. Mancher jungen Frau rettet diese Möglichkeit ihre Zukunft. Von deutschen Jugendlichen wird kaum jemand erwarten, dass sie mit dem Sex bis zur Ehe warten. Der Musiker Markus stößt mit seiner Entscheidung bei Gleichaltrigen sogar eher auf Unverständnis:

31 O-Ton: Sie sind erstaunt erstmal natürlich, weil es nicht mehr so typisch für diese Gesellschaft ist, nicht die ganze Zeit – ich sag’s jetzt mal böse - seinen Trieben folgen und das, was mir Spaß macht und ich, mich, meiner, mir, das ist eine bisschen andere Ausrichtung, die ich mit meiner Lebensphilosophie fahre, aber oft ist es Erstaunen und

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Interesse und tatsächlich auch Bewunderung. Ich wurde mal gedisst in der Schule, es waren mehrere Typen: Ähh, Markus, du bist noch Jungfrau. Ich hab sie angeguckt und hab gesagt: hey Typ, ich kann in drei Minuten so sein wie du, aber du kannst nie wieder so ein wie ich, und damit war es erledigt, das Problem. Sprecherin: Als junger unverheirateter Mensch ohne Sex zu leben, das wirkt heute schon fast ein bisschen verdächtig. Wer seine Entscheidung allerdings mit dem richtigen Selbstbewusstsein zu vertreten weiß, kann mit dem Respekt von Freunden und Bekannten rechnen. Titelsprecherin Muss die wahre Liebe warten? Enthaltsamkeit als religiöses Gebot Sie hörten eine Sendung von Jantje Hannover Es sprachen: Nina West und Manfred Suttinger Ton: Bettina Mikulla Redaktion: Anne Winter Regie: Clarisse Cossais Das Manuskript der Sendung können Sie bei unserer Serviceredaktion bestellen, aus Berlin oder Potsdam unter 97993-2171. Oder per email [email protected] und zum Nachhören oder lesen finden Sie die Sendung auch im Internet unter kulturradio.de

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