Fabriklerkinder am Millionenbach

February 16, 2017 | Author: Valentin Lichtenberg | Category: N/A
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Ein Kapitel Sozialgeschichte

Fabriklerkinder am Millionenbach «Gesucht in eine hiesige Feinspinnerei eine solide, Ordnung liebende Familie mit arbeitsfähigen Kindern. Schöne und billige Wohnung nebst Pflanzland ganz in der Nähe der Fabrik.» Dieser Text aus einem Stelleninserat erzählt in knappster Form ein Kapitel Sozialgeschichte. Aufgesetzt wurde die Anzeige in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in einem Kontor am «Millionenbach», wie man die acht Kilometer lange Aa zwischen Wetzikon und Uster ihrer blühenden Industrie wegen nannte.

Max Lemmenenmeier - In krassem Gegensatz zum «millionenfachen» Reichtum der Fabrikorte, der sich in grossen Baumwollspinnereien und prachtvollen Fabrikantenvillen wohlgefällig zur Schau stellte, stand das harte Los der Spinnereiarbeiter und ihrer Kinder. Da die Löhne in der Spinnerei danach bemessen waren, «was der Mensch notwendig zu seinem Lebensunterhalte braucht», mussten die Kinder schon früh mitverdienen. Spätestens mit zehn Jahren — oft auch schon früher – wurden sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die Fabrik geschickt, wo sie oft zusammen mit ihren Eltern arbeiteten. Aber nicht nur die frühe und harte Arbeit in der Fabrik bestimmte das Leben der Kinder. Ihr Elend begann schon mit der Geburt.

Baumwollspinnerei von Heinrich Kunz in Oberuster, 1832 bis 1834 erbaut mit seitlichem Wohnhaus des Unternehmers

«Der Tod aus der Milchflasche» Die kärgliche materielle Lage der Spinnerfamilien erzwang während des ganzen 19. Jahrhunderts die Lohnarbeit beider Elternteile. Die häufige ausserhäusliche Tätigkeit der Mütter hatte verheerende Folgen für die Gesundheit der Kleinkinder. Laut Ustermer Stillstandsprotokoll von 1834 kehrten die Frauen «sogleich nach dem Wochenbette» an ihren Arbeitsplatz zurück. Die im bäuerlich-heimgewerblichen Milieu übliche Stillzeit von sechs bis zwölf Monaten wurde dadurch radikal verkürzt. An die Stelle der Muttermilch traten Seite 1 von 11

Ein Kapitel Sozialgeschichte Kuhmilch oder gar schwer verdauliche Mehlbreie. Eine deutsche Untersuchung von 1911 prägte dazu den Begriff «Tod aus der Milchflasche». Und tatsächlich: Vor 1880 starben 23 Prozent der Spinnerkinder aus Uster schon im ersten Lebensjahr. (Zum Vergleich: Damals lag die Säuglingssterblichkeit in ländlichen Gebieten bei 14 Prozent, gesamtschweizerisch beträgt sie heute etwa ein Prozent.) Besonders erbärmlich war das Schicksal unehelicher Kinder von Fabriklerinnen. In der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts unterlagen die ledigen Mütter einer extremen sozialen Achtung. Der sittenstrenge protestantische Pfarrer pflegte sie in seinen Protokollen regelmässig als «Huren», «Dirnen» oder «Erzdirnen» zu bezeichnen und taufte solche Kinder nur wochentags ausserhalb des Gottesdienstes. Neben die soziale Diskriminierung trat die grosse wirtschaftliche Not: das Einkommen der Arbeiterinnen reichte nicht aus, um ihr Kind in Pflege zu geben. Der unerträgliche wirtschaftliche, soziale und psychische Druck, der auf den Müttern lastete, führte zu einer hohen Sterblichkeit der Kinder: Von zwölf zwischen 1835 und 1845 vor dem Bezirksgericht Uster abgewickelten Vaterschaftsprozessen wurde die Hälfte infolge Todes des Kindes eingestellt.

Stelleninserate aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im «Anzeiger von Uster»

Broschüren gegen Kindersterblichkeit Zuhanden der zürcherischen Fabrikkommission bezeichnete der Ustermer Arzt Dr. Werdmüller 1858 die hohe Kindersterblichkeit als «den Krebsschaden» des Fabriklebens. Nach 1870 begann ein breiter, vorwiegend von Ärzten getragener Propagandafeldzug gegen die Kindersterblichkeit. In einer umfangreichen Broschürenliteratur wurden die elementarsten Kenntnisse über richtige Ernährung, Hygiene und medizinische Betreuung der Säuglinge in breite Bevölkerungsschichten getragen. Medizinische Versorgung und Infrastruktur erfuhren einen langsamen Ausbau. Ausserdem verbot das hart umkämpfte Fabrikgesetz von 1877 die Fabrikarbeit von Wöchnerinnen für insgesamt acht Wochen vor und nach der Geburt. Die Wiederaufnahme der Arbeit durfte nicht früher als sechs Wochen nach der Niederkunft erfolgen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen diese Bemühungen Früchte zu tragen: Die Kindersterblichkeit in den Ustermer Spinnerfamilien sank auf 13 Prozent, was etwa dem schweizerischen Durchschnitt entsprach.

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Eintragung ins Geburtsregister der Gemeinde Uster. Am Rande ist das Todesdatum des Arbeiterkindes vermerkt.

Aufopfernde Mütter... War das Fabriklerkind dem Säuglingsalter entwachsen, so prägten vor allem drei Elemente seinen weiteren Lebenslauf: die enge Bindung zur Mutter, der oft rabiate Erziehungsstil des Vaters und die Bedeutung der Arbeitsleistung der Kinder für das Überleben der Familie. Die im 19. Jahrhundert übliche elf- bis dreizehnstündige Arbeitszeit ermöglicht es den Eltern kaum, sich ihren Erziehungsaufgaben zu widmen. Die Betreuung der Heranwachsenden wurde deshalb oft einer angestellten Haus Magd, Verwandten oder älteren Geschwistern übertragen. In vielen Fällen waren die Kinder mit vier, fünf Jahren während der Arbeitsabwesenheit der Eltern einfach «sich selbst überlassen». Trotz dieser Erziehungsdefizite besassen die «Fabriklerkinder» enge emotionale Bindungen an ihre hart arbeitenden Mütter. In der Textilarbeiterfamilie Küng, die zuerst in Wald und später am Millionenbach arbeitete, ging die Mutter mit geradezu aufopfernder Liebe auf ihre sieben Kinder ein, und diese waren «stets alle so glücklich. wenn ihre Mutter mit den Liedern ihrer Jugend» das Glück eigener Kindheit «zurückrufen konnte».

Fabrikanlage der Spinnerei Bachmann in Uster um 1900: Von links nach rechts sieht man: Kosthaus, ehemalige Sägerei. Fabrik. Schuppen. Wohnhaus. Im Vordergrund Aabach und Zulaufkanal Seite 3 von 11

Ein Kapitel Sozialgeschichte und... und schlagende Väter Streng und autoritär war der Erziehungsstil der Väter, und geschlagen wurde viel. Die körperliche Züchtigung bildete im 19. Jahrhundert eine weit verbreitete, auch durch die protestantische Religion und Ethik legitimierte Erziehungsmethode und war in Arbeiterfamilien wie in grossbürgerlichen Haushalten anzutreffen. Die körperliche Misshandlung der Kinder war über die unmittelbare Disziplinierung hinaus allerdings auch Ausdruck der elenden und verzweifelten Lage. So hatte 1872 ein «armer Spinner und geplagter Familienvater» mit Namen Johann Wickli die Absicht, sein zweieinhalb Monate altes Kind zu Verwandten zur Pflege zu bringen. Auf der Reise nach Rapperswil wollte er in Rüti den Zug besteigen. «Das Kind schrie heftig. Auf dem Wege zum Bahnhof schüttelte er es heftig, damit es schweige. Umsonst. Im Wartsaal angekommen, schüttelte er es heftiger. Jetzt wurde es nach zwei Atemzügen still» — das Kind war tot.

Kosthaus der Spinnerei Kunz in Niederuster, erbaut 1827. Die mehrstöckigen Wohnhäuser bildeten damals eine völlige Neuheit im ländlichen Siedlungsbild, und in zeitgenössischen Klagen wurde von «Mietskasernen» gesprochen.

In der Fabrik zu Hause Bedingt durch die lange Arbeitszeit, verlagerte sich ein grosser Teil des Familienlebens in den Betrieb. Bei Küngs schlich der Jüngste regelmässig in die Fabrik: «Nirgends war Fritzli so gerne, wie an der Seite seiner Mutter. Wenn sie hier bei der Arbeit noch so wenig Zeit für ihn hatte, wenn es noch so ratterte von diesen Tausenden von Rädern (...), der Fabrikduft der Kleider seiner Mutter war dem Buben Zeichen ihrer Nähe.» Die Fabrik wurde zur eigentlichen Erziehungs- und Wohnstätte, wo die Kinder die Arbeitswelt ihrer Eltern kennenlernten und sich - nicht zuletzt mit stillschweigender Duldung der interessierten Unternehmer - frühzeitig mit den Maschinen vertraut machten. Seite 4 von 11

Ein Kapitel Sozialgeschichte Das war allerdings nicht ungefährlich: 1872 kam «der siebenjährige Knabe des Aufsehers Morf» (Fabrikarbeit für Kinder unter 10 Jahren war seit 1859 verboten) in der Spinnerei Bussenhausen-Pfäffikon «dem Getriebe zu nahe und verlor dadurch den rechten Arm».

Fabrikanlage der Baumwollspinnerei und -weberei Oberuster (1920/: Das Bild zeigt den typischen Herrschschaftsbereich eines Spinnereiunternehmers. im Zentrum steht die Fabrikanlage von 1836. Im Hintergrund links liegt ein grosses Kosthaus. Das Unternehmerwohnhaus jenseits der Strasse dominiert von der Anhöhe den gesamten Fabrikbereich (1825). Neben dem Fabrikantenwohnhaus rechts befindet sich der zum Haushalt gehörende Gutsbetrieb. Im Vordergrund liegen Weiheranlagen und Zulaufkanal

Fabrikarbeit seit Generationen In einem langsamen Prozess entstanden im Verlauf des 19. Jahrhunderts - meist gegen den Widerstand der Fabrikarbeiter, welche eine Gefährdung ihrer Existenz befürchteten - die ersten staatlichen Kinderschutzgesetze. Eine kantonale Regelung von 1859 hob die Altersgrenze – mit Ausnahmen – auf zwölf Jahre an; das eidgenössiche Fabrikgesetz von 1877 setzte das vierzehnte Altersjahr als Limite. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts waren die Kinder eine beinahe doppelt so lange Lebenszeit vom Produktionsprozess ausgeschlossen wie zu Beginn. Die Arbeiterschutzgesetze schufen die institutionellen Voraussetzungen für eine «zweite Kindheit». An der ökonomischen Not der Fabriklerfamilie änderten die staatlichen Polizeigesetze aber wenig. Sobald es die Rechtssetzung zuliess, meist auch schon früher, mussten die Arbeiterkinder den Gang zur Fabrik antreten: «Hat eine Textilfamilie arbeitsfähige Kinder, so erheischt es der Kampf ums Dasein, diese mit 14 Jahren in die Fabrik zu schicken. Hier muss sich das Kind wohl oder übel an die Arbeitszeit gewöhnen und wächst darin auf.» An eine weitere Schulausbildung – beispielsweise in der Sekundarschule – war nicht zu denken: «Fabriklerbuben gehören in die siebte und achte Klasse: die Fabrikherren brauchen Aufstecker, Ansetzer, Spinner, Schlichter und Weber.» Für die meisten «Fabriklerkinder» war es selbstverständlich, frühzeitig mitzuverdienen: «Seit Generationen ist ja oft die Fabrikarbeit in ihren Familien zu Haus und darum auch für sie Tradition geworden.» Seite 5 von 11

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Kosthaus und Pflanzland Die Arbeiterkinder mussten aber nicht nur mit ihrem Fabrikverdienst einen frühzeitigen Beitrag zum Familieneinkommen leisten, sondern wurden auch für die verschiedensten familiären Arbeiten herangezogen. Dazu gehörten etwa Waschen, Putzen, Gartenarbeit, das Zusammentragen von Brennholz und das Sammeln von Waldfrüchten. Seit den 1860er Jahren entstand am Aabach in unmittelbarer Nähe der Spinnfabriken eine grosse Anzahl von Arbeiterwohnhäusern. Kosthäuser dienten in erster Linie zur Unterbringung der wachsenden Zahl von ortsfremden Arbeitskräften, welche die Unternehmer durch das Angebot von günstigen Wohnungen an den Betrieb zu binden hofften. Jede Kosthauswohnung verfügte über ein grösseres Stück von Pflanzland, dem für die Ernährung der Familie eine wichtige Rolle zukam. Die Kinder mussten regelmässig bei der Gartenarbeit helfen oder auch den anfallenden Strassenmist für eine gute Düngung zusammenlesen.

Arbeiterwohnhäuser (Kosthäuser) im Unteraalthal, im Volksmund oft als «chly Aarau» bezeichnet

Klein Aarau» — isoliert vom Dorf Durch die Unterbringung in mehrgeschossigen Kosthäusern in der Nähe des Betriebes wuchs ein grosser Teil der «Fabriklerkinder» ausserhalb der eigentlichen Dörfer auf. Die räumliche Trennung brachte für die Arbeiterkinder zunehmend auch eine soziale Diskriminierung als «Kosthäusler», als dörfliche Aussenseiter mit sich. Von den Dorfbewohnern der Gemeinden Seegräben und Wetzikon wurden die Kosthaussiedlungen am Aabach abschätzig «Klein Aargau» oder «s chly Aarau» genannt, weil viele kantonsfremde Arbeiter aus dem Aargau dort lebten. Die Welt des Kosthauses trennte die Kinder erfahrbar von der Welt des Dorfes. Hier erlebten sie die gemeinsame soziale Lage, aber auch soziale Abgrenzung und Distanz untereinander. Der Fabrikarbeiter «Küng» zum Beispiel grenzte sich Zeit seines Lebens gegen andere «Fabrikler» ab, denn er «wollte nicht versinken in der Masse der Armen, der Namenlosen, Hoffnungslosen, Willenlosen, Geknechteten». Seite 6 von 11

Ein Kapitel Sozialgeschichte Früh akzeptierte Verhältnisse In den ländlichen Industriegebieten am Aabach bildeten Fabrik, Kanalanlagen, Arbeiterwohnhäuser und Fabrikantenvilla seit der Jahrhundertmitte ein einheitliches Siedlungssystem. Das prachtvolle «Herrenhaus» stand meist in nächster Nähe der ärmlichen Kosthäuser. Zwar wurden die Heranwachsenden dadurch unmittelbar mit dem Reichtum und Wohlstand der Unternehmer konfrontiert, der in krassem Widerspruch zur eigenen Situation stand. Anderseits sorgte die räumliche Nähe und der bewusst gepflegte Patriarchalismus für ständigen sozialen Kontakt der ländlichen Fabrikanten mit ihren Arbeitern und deren Kindern. In der von Otto Kunz in seinem Roman «Barbara, die Feinweberin» geschilderten Spinnerei am «Millionenbach» eilten die «Kleinen aus den Fabriklerfamilien halb schüchtern, halb freudig herbei, um dem Herrn die Hand zu strecken», und er hatte «Zeit für ein freundliches Wort». Das Herrenhaus stand den Buben in der Beerenzeit zum Verkauf der Waldfrüchte offen, und «eine der liebenswürdigen Frauen öffnete auf das Schellen der Hausglocke mit aufmunternden Worten auch für die ärmsten Buben». Die Unternehmer wurden trotz der harten Arbeitsbedingungen als treu sorgende Väter erfahren. welche durch bescheidene Legate und freundliche Worte ihre Loyalität erwarben. Diese Kindheitserlebnisse von Güte und Verständnis sorgten für ein frühes Akzeptieren der Herrschaftsverhältnisse: die Bereitschaft für einen gewerkschaftlichen Zusammenschluss war entsprechend gering.

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Fabriklaufbahn: Aufstecker—Ansetzer— Spinner

Ein Spinner bei der anstrengenden Arbeit am Halbselfactor (Baumwollspinnerei Schuler in Wetzikon). 1 Aufsteckgatter für die Vorgarnspulen (Arbeit - den Hutstecker. 2 Zylinderbank mit Streckwerken, 3 Draht (Aufwinder) zur Einführung des Garns bei der Kötzerbildung, 4 Handkurbel, für die Steuerung der Wageneinfahrt (Geschick des Spinners wichtig). 5 Spindelbank, 6 Kniepolster zum Anschieben des Wagens bei der Einfahrt. das grosse Kraft erfordert. 7 Wagen. Zu den Aufgaben des Ansetzers gehört das Anknüpfen der bei der Wagenausfahrt gerissenen Fäden.

Der Produktionsprozess in der mechanischen Baumwollspinnerei erfolgte in fünf Stufen: Reinigen und Lockern der Baumwolle, Kardieren, Strecken, Vorspinnen sowie Feinspinnen. Bei sämtlichen Arbeitsabläufen fanden in unterschiedlichem Ausmass minderjährige Arbeitskräfte Verwendung. Bis zur verstärkten Mechanisierung in den 1830er Jahren bildeten die Vorbereitungsarbeiten ein wichtiges Tätigkeitsfeld der Kinder. Der überwiegende Teil arbeitete aber als Hilfskraft an den Feinspinnmaschinen. Der wichtigste für das Feinspinnen eingesetzte Maschinentyp war die Mule (Halbselfactor/Selfactor bildeten lediglich automatisierte Weiterentwicklungen). Neben dem erwachsenen Spinner, dessen Tätigkeit bis zur Einführung des Selfactors sehr viel Geschick und Kraft erforderte, benötigte die Mule Aufstecker und Ansetzer zu ihrer Bedienung. Die Jugendlichen begannen ihre Fabriklaufbahn als Aufstecker. Als solche hatten sie die Vorgarnspulen zu erneuern, die vollen Garnkörper abzunehmen sowie bei Putzarbeiten zu helfen. Nach einer gewissen Anlernzeit stiegen sie zum Ansetzer auf und mussten die Seite 8 von 11

Ein Kapitel Sozialgeschichte während des Spinnprozesses gerissenen Fäden zusammenknüpfen (andrehen). Im Alter von 18 bis 20 Jahren übernahmen die männlichen Ansetzer allmählich die Position des Spinners, und die Frauen wechselten zu den Streckwerken oder in die Hasplerei.

Auspeitschen eines Kindes in einer englischen Wollspinnerei um 1850. Die Züchtigung mit dem «Hagenschwanz» in den Spinnereien am Aabach dürfte sich davon kaum unterschieden haben.

Leistungszwang durch Akkord Bei der Knüpfarbeit mussten die Ansetzer der Bewegung eines dreimal pro Minute über einer Strecke von anderthalb Metern hin- und herfahrenden Wagens folgen. Zudem hatte der Ansetzer zusammen mit einem anderen Kind die ganz: Breite der Maschine – immerhin etwa 14-Meter! – zu überwachen. Die hohe Belastung der jungen Arbeiter bestand in «der steten aufrechten Haltung», dem «in beständigem Hin- und Hergehen zurückgelegten Weg und der erforderlichen steten Aufmerksamkeit auf die Maschinerie». Die Leistung der Maschine war umso geringer, je mehr Fäden nicht angeknüpft und leere Vorgarnspulen bzw. volle Garnspulen nicht erneuert wurden. Da der Spinner im Akkord bezahlt wurde, unterwarf er Aufstecker und Andreher einer scharfen Kontrolle und anhaltendem Leistungszwang. Umgekehrt verlangte die Maschine auch ein kooperatives Zusammenarbeiten von erwachsenem Spinner und jugendlichen Hilfskräften, was die Position der Jungen wiederum stärkte. Die Stellung der jungen Arbeiter auf der untersten Stufe der Fabrikhierarchie äusserte sich auch darin, dass sie alle zusätzlichen und unangenehmen Tätigkeiten im Auftrag der Erwachsenen zu übernehmen hatten. So «verständigten» sich die Spinner- und Ansetzer, um nicht Zeit und Lohn zu verlieren, «dass das Reinigen der Maschinen durch die Ansetzer nach dem Mittagessen stattfinde, was bloss zehn bis fünfzehn Minuten erfordere». Mittagszeit der Jugendlichen betrug demnach nur noch 30 bis 45 Minuten, was gegen das eidgenössische Fabrikgesetz verstiess. Seite 9 von 11

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Disziplin durch den «Hagenschwanz» Zur alltäglichen Disziplinierung von Fabrikkindern durch Unternehmer, Aufseher und erwachsene Arbeiter gehörte bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein die körperliche Züchtigung. 1835 klagte der sechzehnjährige, in der Spinnerei Kunz arbeitende Heinrich Senn, der blutend beim Ustermer Gemeindeammann erschien, dass er von Aufseher Schneider «mit einem sogenannten Hagenschwanz Schläge auf die Arme, Beine und den Leib erhalten habe, von demselben am Hals angepackt und an einen Cylinderstuhl zurückgestossen worden sei» (Gerichtsprotokoll). In der Baumwollspinnerei Frei in Niederuster legte der Unternehmer und Kantonsrat 1837 gleich selbst Hand an: «Herr Frei kommt in den Spinnsaal und findet den Zollinger auf dem Tambour liegen. Da durch ihn auch andere ausser Tätigkeit gesetzt wurden, so nahm ihn Herr Frei bei den Haaren und riss ihn herunter. Zollinger wollte nun fortgehen, Herr Frei nahm ihn beim Rocke und gab ihm mit der flachen Hand ein paar Schläge.»

«Ein gewisses Züchtigungsrecht» Staat und Gerichte schützten das Verprügeln von Minderjährigen ausdrücklich: Das Obergericht verurteilte den oben erwähnten Aufseher Schneider zwar zu einer Busse von 40 Franken, hielt aber gleichzeitig fest, dass «wenn die Beschaffenheit solcher Etablissements, so die der in denselben arbeitenden minderjährigen Personen berücksichtigt wird, es keinem Zweifel unterliegen kann, dass dem Inhaber einer solchen Fabrik und den von diesem angestellten Aufsehern ein gewisses Züchtigungsrecht zustehen muss». Ausgleich bei Spass und Unfug Doch man wusste sich auch zu wehren, die grosse Belastung durch Spass und Unfug Seite 10 von 11

Ein Kapitel Sozialgeschichte abzureagieren. Immerhin hatte der von Aufseher Schneider blutig geschlagene Senn dem an der Fabrik vorbeigehenden Arzt Sallenbach Wasser auf den Kopf geleert und einem anderen Passanten einen alten Schuh nachgeworfen. Im Bussebuch der Firma Trümpler in Oberuster findet sich eine breite Palette von jugendlichem Schabernack: «Unfug und Beleidigungen» kann man da als Grund von fabrikinternen Strafen finden oder «Unanständiges Rufen im Hof» oder «Obst im Zimmer herumwerfen». Besonders spannungsgeladen gestaltete sich der nächtliche Heimweg nach Fabrikarbeit. 1844 verurteilte das Bezirksgericht Uster vier Fabrikler im Alter von 17 bis 21 Jahren wegen Eigentumsbeschädigung. Die vier hatten nachts um zehn Uhr «übermässig gelärmt», bei einem Haus die «Fenster-bollen» weggezogen und Trauben aus einer Reblaube entwendet.

Der Autor Max Lemmenmeier, geboren 1951. Historiker, verfasste zusammen mit drei weiteren Autoren eine Lizentiatsarbeit über den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandel im Gebiet zwischen Pfäffikersee und Greifensee in der Zeit von 1750 bis 1920, beschäftigte sich nach einjähriger Assistenzzeit an der Universität Bielefeld weiter mit Problemen von «Fabrik und Alltag» am Beispiel der Aabachregion, arbeitet zur Zeit an der Luzerner Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an einer Untersuchung über die Veränderungen im Agrarsektor im 19. Jahrhundert und unterrichtet daneben an der Kantons-schule St. Gallen. Der vorliegende Bei-trag ist eine Kurzfassung eines Aufsatzes aus dem Buch «Arbeitsalltag und Betriebsleben. Zur Geschichte industrieller Arbeits- und Lebensverhältnisse in der Schweiz», das dieser Tage erscheint (Verlag Rüegger, Diessenhofen).

Aus Heimatspiegel N. 11 / November 1981

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