Eritrea DER. Was BALKAN. bringt die Zukunft? UNHCR. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen

September 3, 2020 | Author: Benedikt Haupt | Category: N/A
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DER BALKAN

Was bringt die Zukunft?

UNHCR

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen

EDITORIAL

Ist das Glas halb voll oder halb leer?

E © S. SALGADO/ALB•1999

s war einer dieser beunruhigenden Widersprüche, die für die Situation auf dem Balkan so charakteristisch sind.

Einerseits standen Vertreter der slawischen und der albanischen Volksgruppen unmittelbar vor der Unterzeichnung eines umfassenden Friedensvertrags für die Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien; andererseits gab es wie in den gesamten sechs Monaten zuvor Meldungen über anhaltende Kämpfe zwischen den beiden Konfliktparteien nahe der Hauptstadt Skopje. Die feierliche Unterzeichnung, an die sich viele Hoffnungen knüpften, barg immer noch so viel Sprengstoff, dass Ort und Zeitpunkt dafür bis zur letzten Minute geheim gehalten wurden. Die Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien war jedoch nur der jüngste Konfliktherd in der Region. Selbst in den Ländern, in denen die Waffen seit geraumer Zeit schweigen, war die Lage für Flüchtlinge und andere Vertriebene ebenfalls voller Widersprüche. Bis zu 1,8 Millionen Menschen sind in den letzten Jahren an ihre früheren Wohnorte in ihren Herkunftsländern zurückgekehrt. Selten hat sich das Schicksal so rasch gewendet wie nach der Vertreibung fast der gesamten albanischen Bevölkerungsgruppe des Kosovo 1999. Ermutigend ist auch, dass in Bosnien und Herze-

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gowina immer mehr Menschen in Gebiete zurückkehren, in denen sie zur ethnischen Minderheit zählen werden. Selbst Serbien, das lange ausschließlich als Urheber der „ethnischen Säuberungen“ galt, hat zum ersten Mal wieder Angehörige einer ethnischen Minderheit zurückkehren lassen – ethnische Albaner, die während des Konflikts geflohen waren. In Kroatien und Jugoslawien haben demokratische Regierungen die autoritären Regime abgelöst. Die Überstellung von Slobodan Milosevic nach Den Haag hat Hoffnungen geweckt, dass bald auch andere mutmaßliche Kriegsverbrecher festgenommen werden können. Es gibt aber auch weiterhin große ungelöste Probleme. Schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen warten immer noch darauf, zurückkehren zu können, und es ist heute vielleicht schwieriger als in der Vergangenheit, ihnen dabei zu helfen. Schätzungsweise 230.000 Serben, Roma und Angehörige anderer Minderheiten, die das Kosovo nach der Rückkehr der Albaner in einer zweiten Fluchtwelle verließen, sind angesichts ihrer unsicheren Lage zunehmend frustriert. In Jugoslawien leben nach wie vor 390.000 Flüchtlinge aus früheren Konflikten. Die Mittel für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit werden immer knapper, obwohl der Wiederaufbau von Wohnraum und Infrastruktur noch längst nicht abgeschlossen ist. In manchen Gebieten sind Korruption und ethnischer Hass weit verbreitet. An einem Tag wird in Bosnien ein sechzehnjähriges Mädchen rücksichtslos niedergeschossen und durch einen solchen Vorfall monate- oder jahrelange geduldige Vermittlungsarbeit zwischen den verfeindeten Volksgruppen zunichte gemacht. Und 24 Stunden später gibt es im Kosovo Anlass zu Optimismus, weil ein Projekt zum Wiederaufbau der Häuser von 50 serbischen Rückkehrern beginnt. Auf dem Balkan ist weiterhin unklar, ob die Optimisten oder die Pessimisten Recht behalten werden.

FLÜCHTLINGE NR. 3/2001

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Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) Postfach 2500 CH-1211 Genf 2 Depot www.unhcr.ch

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UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•2001

Redaktion: Ray Wilkinson Deutsche Ausgabe: Stefan Telöken Angelika Emmelmann Redaktionelle Mitarbeit: Astrid van Genderen Stort, Udo Janz, Tony Land, Andrej Mahecic, Vesna Petkovic, Aida Pobric, Maki Shinohara, Kirsten Young und UNHCR-Mitarbeiter in allen Balkan-Staaten. Redaktionsassistenz: Virginia Zekrya Photoredaktion: Suzy Hopper, Anne Kellner Layout: Vincent Winter Associés Produktion: Françoise Peyroux Verwaltung: Anne-Marie Le Galliard Vertrieb John O’Connor, Frédéric Tissot

Der Balkan erneut am Scheideweg.

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Abzüge der mit einer UNHCR-Referenznummer versehenen Photographien sind von der UNHCR-Informationsabteilung erhältlich. Artikel und Photographien, die nicht mit dem Vermerk Copyright versehen sind, können ohne vorherige Anfrage unter Erwähnung UNHCRs abgedruckt werden. Gesamtauflage: 226.000 Druck: (dt. Ausgabe) Greven & Bechtold, Hürth ISSN 0252-791 X Bestellungen der deutschen Ausgabe bei: UNHCR, Wallstr. 9-13, 10179 Berlin Tel.: 030/202202-26, Fax: 030/202202-23

Chronologie der jüngeren Geschichte des Balkans.

Gute Nachbarn Eine Familie aus dem Kosovo erweist sich mazedonischen Flüchtlingen gegenüber erkenntlich.

Gorazde Das neue Gesicht der früheren UN-Schutzzone.

UNHCR/M. VACCA/CS•BIH•1996

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KARTE IN DER HEF TMITTE Ein Überblick über die Ereignisse auf dem Balkan.

Die Suche nach der Wahrheit Auf dem Balkan gibt es immer mehrere Wahrheiten.

Minderheiten

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Wie andere UNSchutzzonen wurde Gorazde zu einem Symbol des Krieges in Bosnien. In den letzten Jahren hat sich dort viel verändert. UNHCR/S. BONESS/CS•ERI•2001

Die von beitragenden Autoren ausgedrückte Meinung entspricht nicht unbedingt der Meinung UNHCRs. Die in dieser Veröffentlichung verwendeten Bezeichnungen und Darstellungen drücken in keiner Weise die Meinung UNHCRs über den rechtlichen Status eines Gebietes oder seiner Behörde aus.

TITEL Viele Menschen sind bereits an ihre früheren Wohnorte zurückgekehrt. Aber es gibt immer noch 1,3 Millionen Vertriebene auf dem Balkan. Eine neue Krise droht in der Region. Von Ray Wilkinson

Der Balkan steht erneut am Scheideweg, und die zukünftige Entwicklung ist sehr unklar. Die Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien stand seit Anfang des Jahres vor dem Ausbruch eines großen Bürgerkrieges. Mehrere hunderttausend Flüchtlinge und Vertriebene aus früheren Konflikten in den neunziger Jahren sind an ihre früheren Wohnorte zurückgekehrt, aber schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen sind noch immer entwurzelt.

Karte: UNHCR - Kartenabteilung Historische Dokumente: UNHCR-Archiv „FLÜCHTLINGE“ wird in deutscher, englischer, französischer, spanischer, italienischer, japanischer, arabischer und russischer Sprache von der Informationsabteilung des Amtes des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen herausgegeben.

EDITORIAL

Für die Angehörigen der kleinsten Minderheiten war das Leben besonders hart.

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ERITREA Eine der am längsten bestehenden Flüchtlingsgemeinschaften kehrt nach Hause zurück. Von Newton Kanhema und Wendy Rappeport MENSCHEN UND LÄNDER ERLESENES

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Eine der größten und am längsten bestehenden Flüchtlingsgemeinschaften kehrt endlich vom Sudan in ihr Herkunftsland Eritrea zurück.

Spendenkonto: Deutsche Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe e.V. Commerzbank Bonn, BLZ 380 400 07, Kto.-Nr. 258266601 Titelbild: Wie geht es weiter? © S. SALGADO/BIH•1994

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© S . S A L G A D O / ALB•1999

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Der Krieg hat sie entwurzelt.

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ZURÜCK Der Balkan bietet ein verwirrendes Mosaik voller Hoffnung und Verzweiflung. Hunderttausende Menschen versuchen, ihr Leben neu zu ordnen. Für viele sind die Zukunftsaussichten düster. Fortsetzung auf Seite 6 Ã

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von Ray Wilkinson

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1999. Bis zu 1.000 Leichen wurden mittlerweile aus dem Fluss und umliegenden Seen geborgen, die weit entfernt von der damaligen Front liegen. Der Fund löste bei den Jugoslawen Empörung, Wut, Dementis und schiere Ungläubigkeit aus. „Was man sieht, hängt davon ab, wer in den Spiegel sieht und wie die Betreffenden das Spiegelbild interpretieren, das sie anschaut“, sagt die humanitäre Helferin kopfschüttelnd. Dies gilt nicht nur für Jugoslawien. Der gesamte Balkan bietet ein verwirrendes Mosaik von Hoffnung und Verzweiflung, Fortschritten und neu ausbrechenden Krisen. Die mächtigsten Staaten der Welt und die Militärmaschinerie der NATO haben

in einem winzigen Dorf oberhalb der einst berüchtigten bosnischen Stadt Gorazde wieder zusammenzuleben und „sogar das kleinste Stück Schokolade, das wir erhalten“, miteinander zu teilen, neue Hoffnung aufkeimen lassen. Vielleicht könnte das Experiment doch noch gelingen.

DIE POSITIVEN NACHRICHTEN

UNHCR/R. CHALASANI/CS•BIH•2001

s ist sehr schwierig, in den Spiegel zu schauen und dem Teufel ins Gesicht zu blicken“, sagt eine Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation in Belgrad. „Dies ist eine ernüchternde und verwirrende Zeit für uns.“ Sie versucht die raschen und oft widersprüchlichen Veränderungen im ehemaligen Jugoslawien einzuordnen. Dass Slobodan Milosevic an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgelie-

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Etwa 1,8 Millionen Menschen sind seit dem Ende der Kriege in den neunziger Jahren an ihre früheren Wohnorte zurückgekehrt. Dazu zählen auch diese zur muslimischen Minderheit gehörenden Rückkehrer in die Republika Srpska (Bosnien und Herzegowina), die emsig ihre Häuser wieder aufbauen.

fert und eine demokratische Regierung gebildet worden war, dass sich das Land nach Jahren der Isolation wieder der Außenwelt geöffnet hatte und Hunderttausende Flüchtlinge und Vertriebene wieder Hoffnung auf eine bessere Zukunft schöpfen konnten, all dies zählte zu den positiven

in Bosnien und Herzegowina und im Kosovo eine Situation geschaffen, die als Frieden bezeichnet wird, in Wirklichkeit aber nur ein instabiles Patt von zweifelhafter Dauer ist. Vorfälle wie der kürzlich begangene kaltblütige Mord an einem 16-jährigen mus-

Auf dem gesamten Balkan sind seit der Einstellung der Kriegshandlungen mindestens 1,8 Millionen Menschen an ihre früheren Wohnorte zurückgekehrt. Unter ihnen mehrere hunderttausend Angehörige der albanischen Volksgruppe, die in das Kosovo innerhalb weniger Wochen im Schutz der NATO-Panzer zurückgekehrt sind. Doch es gibt auch viele Menschen, die individuell den Entschluss gefasst haben, ihr Leben neu zu beginnen, und sei es unter Nachbarn, die sie vielleicht weiterhin verdächtigen, Kriegsverbrechen begangen zu haben. Autoritäre Regimes in Jugoslawien und Kroatien wurden durch demokratische Regierungen ersetzt. Zu ihren ersten Ankündigungen zählten die Zusagen, sich für die Lösung der anhaltenden Flüchtlingsprobleme einsetzen zu wollen. 100.000 – 120.000 Menschen sind bereits nach Kroatien zurückgekehrt. Die Regierung in Zagreb hat versprochen, dass auch die anderen Flüchtlinge, die in den neunziger Jahren geflohen waren, bis Ende 2002 vollständig reintegriert sein werden. Die Regierung in Belgrad hat die Gesetze gelockert, was es für viele der dort lebenden 390.000 Flüchtlinge leichter macht, die Staatsangehörigkeit zu beantragen und auf Dauer dort zu bleiben. Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen Ruud Lubbers hielt die Entwicklung für ermutigend und meinte, zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt bestehe eine reelle Chance zur Lösung des Flüchtlingsproblems. Die internationale Gemeinschaft signalisierte ihre Zufriedenheit über die Flexibilität der Regierung in Belgrad und ver-

DER BALKAN BIETET EIN VERWIRRENDES MOSAIK VON HOFFNUNG UND VERZWEIFLUNG,

FORTSCHRITTEN UND NEU AUSBRECHENDEN KRISEN.

Nachrichten, die nur Monate zuvor noch undenkbar gewesen wären. Aber zur gleichen Zeit wurden die Menschen in der Hauptstadt mit einer schrecklichen Entdeckung konfrontiert: Menschlichen Überresten in der Donau, den „jüngsten“ Opfern der Kosovo-Krise im Jahre

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limischen Mädchen in einem serbisch dominierten Gebiet Bosniens können die jahrelange geduldige Vermittlungsarbeit zwischen den verfeindeten Volksgruppen zunichte machen. Umgekehrt kann die Entscheidung früher verfeindeter serbischer und muslimischer Gemeinschaften, FLÜCHTLINGE NR. 3/2001

abschiedete ein Hilfspaket mit einem Volumen von 1,3 Milliarden Dollar als Rettungsanker für eine Wirtschaft, die durch Jahre des Krieges und der Isolation am Boden liegt. Die Auslieferung des früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic Ã

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Der Balkan: Ein geschichtlicher Überblick 1878 Nach Jahren des Konflikts legen die Großmächte auf dem Berliner Kongress die Grenzen auf dem Balkan neu fest. Drei neue Staaten – Serbien, Montenegro und Rumänien – entstehen. Die Wünsche der Bevölkerung in der Region werden dabei jedoch weitgehend ignoriert.

1912/13 In zwei Balkankriegen wird versucht, die jahrhundertelange türkische Herrschaft zu beenden. Alle regionalen Völker – Rumänen, Serben, Bulgaren, Griechen und Albaner – nehmen daran teil.

28. Juni 1914 Ein serbischer Attentäter erschießt in der bosnischen Hauptstadt Sarajewo Erzherzog Franz Ferdinand, den österreichisch-ungarischen Thronerben. Der Anschlag löst den Ersten Weltkrieg aus.

1. Dezember 1918 Aus den früher von der Türkei und Österreich beherrschten Gebieten wird Jugoslawien, das „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen”, geschaffen.

24. Oktober 1944 Die kommunistischen Partisanen unter der Führung von Josip Broz Tito befreien Belgrad von den Nazis und errichten ein kommunistisches Regime in Jugoslawien.

25. Juni 1991 Kroatien und Slowenien erklären die Unabhängigkeit von der Sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien. Serbische Truppen besetzen 30 Prozent des kroatischen Territoriums.

8. Oktober 1991 Jugoslawien bittet UNHCR um Unterstützung. Der UN-Generalsekretär ernennt das Amt zur federführenden humanitären Organisation.

3. März 1992 Bosnien und Herzegowina erklärt die Unabhängigkeit. Die bosnischen Serben erobern 70 Prozent des Staatsgebietes und belagern Sarajewo.

3. Juli 1992 UNHCR beginnt eine dreieinhalbjährige Luftbrücke nach Sarajewo, die sich zur längsten humanitären Luftbrücke der Geschichte entwickeln wird. Auf dem Höhepunkt des Konflikts unterstützen Hilfsorganisationen bis zu 3,5 Millionen Menschen im gesamten ehemaligen

Jugoslawien. Schätzungsweise 700.000 Bosnier ergreifen die Flucht.

11. Juli 1995 Srebrenica, eines von mehreren von den Vereinten Nationen zur „Schutzzone” erklärten Gebieten, fällt an die serbischen Truppen. Etwa 7.000 Männer und männliche Jugendliche werden bei der schrecklichsten Gräueltat in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ermordet. Andere Schutzzonen wie Gorazde entgehen einem ähnlichen Schicksal.

den, rücken NATO-Truppen und russische Einheiten in das Kosovo ein. Am nächsten Tag kehren UNHCR und andere humanitäre Organisationen zurück. Auch die Flüchtlinge beginnen zurückzukehren. In einem

soll. Die neue Regierung in Belgrad bezeichnet die Lösung des Flüchtlingsproblems in der Region und die Rückkehr der Vertriebenen in das Kosovo als eines der wichtigsten Anliegen des Landes. © B. GYSEMBERGH/CS•BIH•1992

12. August 1995 Kroatien leitet die Operation Sturm ein und erobert die Krajina von den serbischen Rebellen zurück. 170.000 Serben ergreifen die Flucht. Viele sind heute noch Flüchtlinge.

21. November 1995 Die Unterzeichnung des Friedensabkommens von Dayton soll die Kampfhandlungen beenden und den Weg für die Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen an ihre früheren Wohnorte frei machen. Mehrere hunderttausend Menschen sind bislang immer noch nicht zurückgekehrt. Die Schutztruppe IFOR (Implementation Force) unter der Führung der NATO wird in der Region stationiert.

Als in den neunziger Jahren ein umfassender Krieg ausbrach, richteten Serben in Bosnien und Herzegowina Kriegsgefangenenlager wie dieses nahe Banja Luka ein.

März 1998 Im Kosovo brechen Kämpfe zwischen der Mehrheit der Albaner und Serben aus. Nur wenige Monate später sind etwa 350.000 Menschen vertrieben worden oder geflohen.

24. März 1999 Nach dem Scheitern der Friedensgespräche im französischen Rambouillet und wiederholten Warnungen beginnt die NATO ihren 78-tägigen Luftkrieg. Nur drei Tage später beginnen Albaner zu fliehen oder werden von serbischen Truppen aus der Region vertrieben. Insgesamt flohen fast 444.600 Menschen nach Albanien, 244.500 in die Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien und 69.900 nach Montenegro. Um die politischen Spannungen in der Region zu verringern, werden später mehr als 90.000 Albaner vorübergehend in 29 Länder in Sicherheit geflogen.

12. Juni 1999 Nach der Annahme eines Friedensplans durch Jugoslawien mit der Voraussetzung, dass alle Truppen aus dem Kosovo abgezogen wer-

der schnellsten Rückkehrbewegungen der Geschichte kehren innerhalb von drei Wochen 600.000 Menschen zurück. In einer Gegenbewegung suchen schätzungsweise 230.000 Serben und Roma aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen Schutz in Serbien und Montenegro. Eine UN-Zivilverwaltung wird eingesetzt. Der Wiederaufbau der Provinz beginnt.

11. Dezember 1999 Politische Veränderungen erfassen die Region. Der starke Mann Kroatiens, Franjo Tudjman, stirbt in Zagreb. Sein Tod ebnet den Weg für die Bildung einer demokratischen Regierung in dem Land.

6. Oktober 2000 Erst nachdem Demonstranten das jugoslawische Parlamentsgebäude in Brand gesteckt haben, gesteht Slobodan Milosevic seine Niederlage bei den Präsidentenwahlen ein. Er wird unter Hausarrest gestellt und am 28. Juni 2001 an das internationale Tribunal in Den Haag ausgeliefert, vor dem er sich wegen Kriegsverbrechen verantworten

FLÜCHTLINGE NR. 3/2001

Februar 2001 In der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien kommt es zu einem offenen Konflikt. Während sich internationale Vermittler und die Regierung bemühen, die Einheit des Landes zu bewahren, fliehen mehr als 150.000 Menschen, vor allem in das benachbarte Kosovo.

Juli 2001 Trotz massiver Unterstützung in den letzten Jahren, der Wiederaufnahme regionaler und internationaler diplomatischer Beziehungen sowie der Bildung demokratischer Regierungen bleibt der Balkan ein Unruheherd. Viele Kriegsverbrecher sind nach wie vor auf freiem Fuß, mehr als eine Million Menschen sind noch nicht an ihre früheren Wohnorte zurückgekehrt, und der Region droht ein weiterer großer Konflikt.

13. August 2001 Aufmerksam verfolgt von den einflussreichen westlichen Staaten und der NATO schließen die Konfliktparteien in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien einen Friedensvertrag.

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| Ã nach Den Haag, wo er wegen Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden soll, könnte den Weg für die baldige Festnahme von möglicherweise mehreren tausend anderen gesuchten Kriegsverbrechern ebnen. Nach Ansicht von Wolfgang Petritsch, dem Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft in Bosnien, ist dies eine Vo-

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Milliarden US-Dollar. In der Hauptstadt Sarajewo spürt man wieder einiges von dem Schwung und der Lebensfreude, die der Stadt in besseren Zeiten einmal halfen, Austragungsort der olympischen Winterspiele von 1984 zu werden. Der einst mit unzähligen Sandsäcken geschützte Flughafen, Symbol des Wider-

Obwohl die Kriege der neunziger Jahre einem prekären Patt gewichen sind, geriet ein anderer Staat – die Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien – in der ersten Hälfte des Jahres 2001 an den Rand eines Bürgerkrieges. In einem wiederum ethnisch motivierten Konflikt lieferten sich Regierungstruppen und örtliche Guerilla-

„DIE ALTE GESCHICHTE VON GEWALT, UND ,ETHNISCHER SÄUBERUNG‘ AUF DEM BALKAN IST NOCH NICHT VORBEI.„ stands, wurde wieder aufgebaut. Über ihn wurde die Stadt mit der längsten je durchgeführten humanitären Luftbrücke während dreieinhalb Kriegsjahren versorgt. Die Zahl der in dem Land stationierten NATO-Soldaten wurde drastisch auf etwa 20.000 verringert. Mehr als 730.000 Bosnier sind zurückgekehrt. Bezeichnenderweise hat die Zahl jener Menschen in den letzten beiden Jahren deutlich zugenommen, deren Wohnort in Gebieten liegen, in denen sie in diesem zutiefst geteilten Land nun die ethnische Minderheit bilden,. Optimisten meinen, die in weniger als sechs Jahren erzielten Fortschritte seien zwar nur ein Anfang, aber angesichts des tiefen Hasses zwischen Serben, Muslimen

UNHCR/H. CAUX/DP•MKD•2001

raussetzung für einen wirklichen Durchbruch zur Versöhnung. Auf dem Zentralbalkan kehrten so gut wie alle der 880.000 Kosovaren, die im Frühjahr 1999 aus der Provinz geflohen waren oder vertrieben wurden, innerhalb weniger Monate zurück. Selten hat sich in der Flüchtlingsgeschichte das Schicksal so schnell und so dramatisch gewendet. Heute herrscht auf den Straßen des Kosovo Verkehrschaos, auf den Dächern der Hauptstadt Pristina findet sich kaum noch ein freier Platz für weitere Satellitenschüsseln, und der Wiederaufbau ist in vollem Gange. Eine der größten amerikanischen Militärbasen mit dem etwas merkwürdigen Namen Bondsteel zeugt davon, wie stark sich die Welt in der Region engagiert.

Neue Sorgen auf dem Balkan: In diesem Jahr brachen in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien Kämpfe aus. Mehr als 150.000 Menschen verließen deshalb ihre Wohnorte.

In Bosnien und Herzegowina brachte der Friedensvertrag von Dayton 1995 die Waffen zum Schweigen. Während des Krieges waren mehrere zehntausend Menschen getötet und mehr als zwei Millionen entwurzelt worden. Fast eine Million Häuser und Wohnungen wurden zerstört oder beschädigt. Die humanitäre Hilfe für das Land erreichte ein Volumen von fünf

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und Kroaten nach dem Krieg und des Ausmaßes der Zerstörung der Infrastruktur, von Wohnraum wie Strom- und Wasserversorgung, seien große Fortschritte unverkennbar.

DIE NEGATIVEN NACHRICHTEN Pessimisten sahen die Ereignisse auf dem Balkan in einem anderen Licht. FLÜCHTLINGE NR. 3/2001

Einheiten in den nördlichen Landesteilen um die Hauptstadt Skopje Gefechte. Das Ausmaß der Kämpfe war gering im Vergleich zu den früheren Auseinandersetzungen. Dennoch bewirkten sie eine Verschlechterung der Beziehungen zwischen der albanischen Minderheit und der slawischen Mehrheit, stürzten die Regierung in eine Dauerkrise und führten zur Flucht von rund 150.000 Menschen. Die meisten der Betroffenen suchten im benachbarten Kosovo Zuflucht, wo die Albaner, die nur zwei Jahre zuvor Schutz in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien gesucht hatten, sich nun erkenntlich zeigen. Sie nahmen ihrerseits die Flüchtlinge aus dem Nachbarland in ihren Häusern auf (siehe Seite 11). Humanitäre Organisationen entwarfen Krisenpläne für das weit schlimmere Szenario eines offenen Krieges mit mehreren hunderttausend Vertriebenen, der nicht nur die Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien ins Unglück stürzen, sondern auch die Sicherheit und die Stabilität der umliegenden Staaten gefährden würde. Selbst vor dieser jüngsten Krise gab es in der Region weiterhin schätzungsweise 1,3 Millionen Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Mitarbeitern von Flüchtlingsorganisationen zufolge wird es zunehmend schwieriger, Perspektiven für diese entwurzelten Menschen zu finden – noch schwieriger als für die, die bereits zurückgekehrt sind. Für einige Probleme wurden Lösungen gefunden. Dazu zählt beispielsweise die Entscheidung der Regierung in Belgrad, es den Flüchtlingen zu erleichtern, die jugoslawische Staatsangehörigkeit zu beantragen. Hingegen bleibt der Wohnraummangel eine der gravierendsten Kriegsfolgen im ganzen ehemaligen Jugoslawien. Während des Konflikts wurden Städte und Dörfer mutwillig zerstört, was zu einer drastischen Wohnraumknappheit nach dem Ende der Kämpfe führte. Der noch

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© S. SALGADO/YUG•1995

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kehrer muss damit rechnen, in einen nervenaufreibenden und verzwickten administrativen Wettbewerb zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen in mehreren Ländern hineingezogen zu werden. UNHCR/R. WILKINSON/CS•YUG•2001

vorhandene Wohnraum wurde als Mittel zur Festigung der „ethnischen Säuberung“ an Angehörige der neuen „Mehrheiten“ verteilt. Seit dem Ende der Kampfhandlungen findet in der gesamten Region eine gigantische „Reise nach Jerusalem“ statt, bei der es nicht um freie Stühle, sondern um leer stehende Häuser geht. Ein Teil des Wohnraums wurde wieder aufgebaut bzw. instand gesetzt – in Bosnien beispielsweise 125.000 von fast 500.000 zerstörten oder beschädigten Wohneinheiten. Internationale Bevollmächtigte und die Regierungen änderten oder verschärften die Wohnraumgesetze oder schrieben sie ganz neu. Dies trug dazu bei, mehr Menschen die Rückkehr in ihren früheren Wohnraum zu ermöglichen. In einigen Gebieten wurden auch die Demarkationslinien an die Realität angepasst. (In einigen Stadtteilen Sarajewos verlief die Trennlinie zwischen den serbischen und muslimischen Gebieten bis vor kurzem mitten durch einige Hochhäuser und sogar mitten durch einzelne Wohnungen.) Hardliner in den örtlichen Behörden, die entschlossen waren, den Status quo zu festigen, oder Menschen, die in dem von ihnen okkupierten Wohnraum bleiben

Fast die gesamte serbische Bevölkerung verließ 1995 fluchtartig Kroatien. Manche wie Slobodan Pupovac und seine Ehefrau entschieden sich jetzt dafür, auf Dauer in Jugoslawien zu bleiben.

wollten, weil sie nirgendwo anders hin konnten, entwickelten großes Geschick, mit allen möglichen Tricks die Rückkehr von Angehörigen von Minderheiten in ihr Wohneigentum zu verzögern oder zu verhindern. Das Problem wurde dadurch verschärft, dass manche Familien zwei oder mehr Wohnungen belegten und unzählige freie Wohnungen absichtlich verborgen oder verschwiegen wurden. Jeder RückFLÜCHTLINGE NR. 3/2001

EINE SCHWIERIGE AUFGABE Die Entscheidung der Regierung in Belgrad, neben der Rückkehr als bestmöglicher Lösung die „Integration vor Ort“ zu unterstützen, ist lobenswert. Aber in einer Zeit, in der die Mittel für humanitäre Hilfe immer knapper werden und alle Länder in der Region um die ebenfalls begrenzten Mittel der Entwicklungshilfe konkurrieren, ist die Aufgabe ein schwieriges Unterfangen, in einer Volkswirtschaft mit einer Arbeitslosigkeit von bis zu 70 Prozent Arbeitsplätze für alle zu schaffen sowie Bildungsmöglichkeiten, Wohnraum und aufwändige Versorgungsmöglichkeiten für viele ältere Flüchtlinge und Vertriebene bereitzustellen. Paradoxerweise hat sich in dieser neuen Ära der Liberalisierung die Lage der meisten Flüchtlinge wie auch der Bevölkerung insgesamt erst einmal verschlechtert, weil die humanitäre Hilfe gekürzt wird, die Preise steigen und es noch keine Arbeitsplätze gibt. Die serbischen Flüchtlinge aus Kroatien stehen der dortigen Regierung trotz Ã

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n UNHCR: Wie Der Einsatz vo

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alles begann.

ihrer Versprechungen weiterhin skeptisch gegenüber, was die Aussichten auf ihre baldige Rückkehr verschlechtert. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen sagte jüngst nach einem Besuch in Belgrad und Zagreb, dass viele Flüchtlinge der Meinung sind, in Kroatien „fehle der politische Wille“, sie willkommen zu heißen. „Dies ist immer noch ein Teil der vergangenen Tragödie“, sagte er. Und während die Kosovo-Albaner sich langsam von ihrem eigenen Exodus im Jahr 1999 erholen, leben die 230.000 Serben, Roma und Angehörige anderer Minderheiten, die nach der Rückkehr der Albaner flohen oder vertrieben wurden, nun in Sammelunterkünften, Lagern oder Pri-

vathäusern in den an die Provinz angrenzenden Gebieten und sind über ihre rechtlich und wirtschaftlich unsichere Situation zunehmend frustriert. Ein paar Hundert hatten den Mut, zurückzukehren. Aber es gibt wenig Anlass zur Hoffnung, dass ihnen viele in absehbarer Zeit folgen werden. „Die Albaner kehrten innerhalb von zwei Monaten zurück“, sagt ein verärgerter Serbe. „Wir sind bereits seit zwei Jahren hier. Warum gibt es

gute Regelungen für die Albaner und schlechte Regelungen für die Serben?“ Im Vergleich zu der Hetzsituation unmittelbar nach der Rückkehr der Albaner, als Angehörige von Minderheiten offen bedroht, vertrieben, geschlagen und sogar getötet wurden, hat sich die Lage im Kosovo beruhigt. Ein leitender Mitarbeiter einer Flüchtlingsorganisation in Pristina: „Die Zeit, in der die Angehörigen von Minderheiten Freiwild waren und ihr Besitz zur Beschlagnahme oder Zerstörung freigegeben war, ist vorbei. Es gibt Licht am Ende des Tunnels, bei dem es sich vielleicht sogar nicht um einen entgegenkommenden Zug handelt.“ Trotz dieser Einschätzung bleibt die Sicherheitslage prekär. Bei einem Anschlag auf einen Bus wurden Anfang des Jahres elf Kosovo-Serben getötet. Orthodoxe Kirchen sind mit Stacheldraht umzäunt und werden von Soldaten der Schutztruppe KFOR mit gepanzerten Fahrzeugen bewacht. Minderheitenenklaven müssen genauso geschützt werden – seien es serbische Dörfer in den Bergen oder albanische Wohnblocks im serbisch dominierten Teil der Stadt Mitrovica. Der jugoslawische Präsident Vojislav Kostunica schwor, „es gibt keine einzige Tür, an die ich nicht anklopfen werde“, um das Flüchtlingsproblem und andere Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Auf einem Gipfeltreffen warnte er jüngst aber auch: „Die alte Geschichte von Gewalt und ,ethnischer Säuberung‘ auf dem Balkan ist noch nicht vorbei.“ In Bosnien ist die Zahl der zurückgekehrten Angehörigen von Minderheiten, die eine der entscheidenden Messlatten für die Beurteilung der Lage ist, ermutigend und in den letzten 18 Monaten auf fast 100.000 Ã Fortsetzung auf Seite 15

UNHCR STEHT VOR DEM HEIKLEN BALANCEAKT, SICH FÜR DIE RÜCKFÜHRUNG DERJENIGEN, DIE ZURÜCKKEHREN WOLLEN, EINSETZEN UND GLEICHZEITIG DEN BLEIBEWILLIGEN BEI DER INTEGRATION VOR ORT HELFEN ZU MÜSSEN. FLÜCHTLINGE NR. 3/2001

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Die Großzügigkeit erwidern UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•2001

Eine Familie aus dem Kosovo erhielt eine unerwartete Gelegenheit, sich für die ihr erwiesene Gastfreundschaft erkenntlich zu zeigen.

Sie hielten in schwerer Zeit zusammen.

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ls serbische Truppen am 29. März 1999 in das Dorf Zhegra eindrangen, erschossen sie sogleich einen Nachbarn von Mitant Zimani. 14 andere Dorfbewohner wurden ebenfalls getötet. Ihr selbst, ihrem Ehemann und ihren Kinder gelang dagegen die Flucht in die nahe gelegenen Berge. 30 Stunden waren sie unterwegs, bevor sie die Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien erreichten und in Sicherheit waren. Auf der mazedonischen Seite der Grenze standen die Familie von Rexhep Murseli und ihre neun Kinder bereit. „Wir mussten ganz einfach helfen. Wir sind auch Albaner, und diese Menschen brauchten uns“, sagt sie. Sie nahmen die gesamte Familie von Mitant Zimani unter ihre Fittiche. „Wir haben zusammen gekocht und schliefen gemeinsam auf dem Fußboden“, fügt sie hinzu. „Das war keine große Sache. Es gab ja gar keine andere Möglichkeit.“ 1999 flohen fast eine Million Menschen aus dem Kosovo oder wurden aus der Provinz vertrieben. Die meisten von ihnen wurden von Familien in den angrenzenden Ländern Albanien und in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien auf-

genommen. Flüchtlinge wurden bereitwillig in deren Häusern untergebracht. Als Gegenleistung erhielten sie nur wenig Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft. Humanitäre Organisationen wie UNHCR räumen ein, dass es ohne die Hilfsbereitschaft der privaten Haushalte nicht möglich gewesen wäre, so viele Menschen in so kurzer Zeit unterzubringen. Die Kosovaren blieben drei Monate bei ihren Gastgebern. Als das Schicksal sich zu ihren Gunsten wendete, kehrten sie unter dem Schutz von NATO-Truppen in ihre Dörfer zurück und begannen, ihre Häuser und ihr Leben neu aufzubauen.

SICH ERKENNTLICH ZEIGEN Im Krieg kommt es immer wieder vor, dass Menschen in sehr großzügiger Weise anderen in Not helfen. Aber nur selten kann eine solche Großzügigkeit auf so spektakuläre und spiegelbildliche Weise wie im Fall dieser beiden Familien aus der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien und dem Kosovo erwidert werden. Als jüngst in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien die Unruhen FLÜCHTLINGE NR. 3/2001

eskalierten, beschloss die Familie Murseli, ihren Wohnort zu verlassen und in der relativen Sicherheit des Kosovo Zuflucht zu suchen. Einige Mitglieder der Familie wählten den gleichen Weg über die Berge, den Mitant Zimani zwei Jahre zuvor benutzt hatte. Andere reisten über einen Grenzübergang aus. Die beiden Familien hatten lockeren Telefonkontakt zueinander gehalten, sich aber nie gegenseitig besucht. Jetzt machte sich die mazedonische Familie auf den Weg in das Dorf Zhegra. „Wir wussten nicht, dass sie kamen, bis es an der Tür klopfte und sie vor uns standen“, sagt Mitant Zimani. Für alle ist es keine einfache Situation. Insgesamt 25 Erwachsene und Kinder teilen sich vier kleine Zimmer. Wie zuvor wird gemeinsam gekocht, gegessen und geschlafen. Die mazedonischen Kinder besuchen die örtliche Schule, aber die Familie wird in die Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien zurückkehren, wenn sich die Lage jenseits der Grenze beruhigt hat. Sie haben vereinbart, dass sie einander künftig regelmäßig besuchen wollen – hoffentlich zu Urlaubszwecken und nicht infolge erneuter Kämpfe. B

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1994 wurde Gorazde als

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Rückkehr in die Hölle UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•2001

Stadt bezeichnet, „in der nur die Toten glücklich sind“. Heute ist das anders.

Heute gehen die Menschen im Zentrum von Gorazde wieder im Fluss Drina schwimmen.

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A/CS•

n einem heissen Tag lagern mehrere hundert Menschen auf einer Insel aus Kies und Sand inmitten des Flusses Drina. Über ihnen ragen die bewaldeten Berge auf, von denen damals Tod und Zerstörung auf die Stadt herabregneten. Eine wackelige Fußgängerbrücke, die unterhalb der großen Straßenbrücke über den Fluss gespannt wurde, um Fußgängern bei der Überquerung Schutz vor Heckenschützen zu bieten, schwingt leise im Wind. Niemand benutzt sie mehr. Auf den Bürgersteigen hat eine Vielzahl von Straßencafés aufgemacht. Sie liegen in unmittelbarer Umgebung jenes Gebäudes im Zentrum, aus dem dort festsitzende Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen in verzweifelten Telexen Tag für Tag von der fortschreitenden Zerstörung der Stadt berichteten. Unter den Angriffen serbischer Truppen ging Gorazde während des Krieges in Bosnien beinahe zugrunde. Die Vereinten Nationen hatten die Stadt zur Schutzzone erklärt, aber die Be-

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lagerungstruppen ignorierten die internationale Gemeinschaft. Fast gelang es ihnen, die Stadt zu erstürmen. Der Friedensschluss erlöste die Einwohner. Heute versucht die Stadt inmitten tiefer Schluchten, hoher Berge und undurchdringlicher Wälder noch immer, wieder zu sich selbst zu finden. Im Gegensatz zu der ebenfalls berüchtigten Enklave Srebrenica im Norden wurde Gorazde nie eingenommen, und die muslimische oder bosniakische Bevölkerung hat die Stadt nie verlassen.

FORTSCHRITTE UND PROBLEME Die Stadt ist ein Spiegel sowohl der Fortschritte als auch der Probleme, die seit der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Dayton vor fast sechs Jahren in ganz Bosnien anzutreffen sind. Die Waffen schweigen, und die Menschen genießen wieder die kleinen Freuden des Lebens wie im Fluss zu schwimmen oder in einem Straßencafé zu sitzen. Die Gebäude wurden notdürftig

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| instand gesetzt, und sogar zwei Ampeln funktionieren. Ein Teil der Agrarflächen, die früher reiche Ernten an Pflaumen, Äpfeln und Birnen erbrachten, wird zum ersten Mal seit fünf oder sechs Jahren wieder bestellt. Es werden nur wenige sicherheitsrelevante Zwischenfälle registriert, und immer mehr Familien sind in das Gebiet zurückgekehrt.

rnen, milien leleben. a F e h c u serbis menz che und wieder zusam Albanis

Aber es gibt in Gorazde auch nach wie vor riesige Probleme. Die Fabriken, in denen vor dem Krieg Ersatzteile, Munition und Chemikalien hergestellt wurden, sind zerstört. Die Arbeitslosigkeit beträgt bis zu 80 Prozent, und internationale Organisationen sind buchstäblich die einzigen Arbeitgeber. In den Außenbezirken der Stadt liegen viele zerstörte Privathäuser verlassen da. Vor dem Krieg war Gorazde eine multiethnische Stadt. Heute leben dort fast nur Muslime. Maßgebliche Kräfte der serbischen Seite haben anfangs versucht, den Status quo der strikten Trennung der Gemeinschaften aufrechtzuerhalten und die Rückkehr von Serben in bosniakische Viertel im Stadtzentrum zu verhindern.

DIE LETZTE CHANCE

„Je länger sie warten, desto mehr verlieren sie. Mehr und mehr Menschen haben sich entschlossen, die letzte Chance zu nutzen.“

Dies ändert sich nun, weil alle Seiten zunehmend ungeduldig Fortschritte herbeisehnen und erkannt haben, dass unter verschärften Eigentumsgesetzen nicht mehr viel Zeit bleiben wird, um die Rückgabe von Wohneigentum aus der Vorkriegszeit zu beantragen oder Wohnraum zu verkaufen oder zu tauschen. „Je länger sie warten, desto mehr verlieren sie“, kommentierte ein einheimischer Mitarbeiter einer Hilfsorganisation den verstärkten Druck zur Rückkehr. „Mehr und mehr Menschen haben sich entschlossen, diese letzte Chance zu nutzen.“ Das Dorf Bukve Miljanovici liegt hoch oben in den Bergen.

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Tief unter uns schmiegt sich Gorazde in ein natürliches Becken. In der Nähe verlief während des Krieges die Front, und von hier war es ein Leichtes, die Stadt präzise mit Granaten zu beschießen. „Willkommen in der ersten multiethnischen Zeltstadt Bosniens“, begrüßt uns Muhamed Bukva überschwänglich. Während des Wiederaufbaus leben viele Rückkehrer überall im Land in von UNHCR bereitgestellten Zelten neben ihren zerstörten Häusern, sodass die Existenz einer „Zeltstadt“ ein Synonym für den Fortschritt ist. Vor dem Krieg war dies ein ethnisch gemischtes Dorf, das während der Kämpfe vollständig verlassen wurde. Mittlerweile sind acht serbische, sieben bosniakische und zwei albanische Familien zurückgekehrt. Der Vater von Muhamed Bukva wurde nur hundert Meter von seinem wieder aufgebauten Haus entfernt mit automatischen Gewehren niedergeschossen, aber er sagt: „Das war keiner meiner Nachbarn, und wir können erfolgreich unsere Freundschaft und unser Dorf erneuern.“ Und er fügt hinzu: „Selbst jedes Stück Schokolade, das wir bekommen, teilen wir miteinander.“ Seine serbischen Nachbarn nickten zustimmend. Vor dem Hintergrund anhaltender Unruhe auf dem Balkan könnte man Bukve Miljanovici leicht ignorieren. Aber solche nachbarschaftlichen Versuche, das schlimme Erbe des Krieges zu überwinden, sind die einzige realistische Hoffnung auf wirkliche Versöhnung. B

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HOFFNUNGEN UND BEFÜRCHTUNGEN

die Furcht, auf Dauer nicht zurückkehren zu können, die Leidenschaft und die anhaltenden Animositäten, das Durchhaltevermögen der Flüchtlinge und eine bewundernswert großzügige Geisteshaltung von Menschen, die sich materielle Freigebigkeit nicht leisten können. Sowohl der jugoslawische Rumpfstaat als auch Kroatien stehen am Scheideweg. In beiden wurde eine demokratische Regierung gebildet; beide haben ihre Beziehungen zur internationalen Gemeinschaft wieder aufgenommen und versprochen, die Flüchtlingskrise rasch zu lösen. Sie haben Erwartungen geweckt, aber vorläufig ist alles erst einmal schlimmer geworden. In Serbien liegt die unter den Kriegsfolgen und einem weltweiten Embargo leidende Wirtschaft weiterhin am Boden. In manchen Gebieten beträgt die Arbeitslosigkeit 70 Prozent. Die Unterstützung vieler der schätzungsweise 390.000 Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien und Herzegowina wurde schrittweise gekürzt. Auch UNHCR musste sein Budget von ursprünglich schätzungsweise 65 Millionen US-Dollar im Jahre 2000 auf 27 Millionen für 2002 zusammenstreichen. Slobodan Pupovac und seine Ehefrau Danka zählten zu den 60 Prozent der vor kurzem umworbenen Flüchtlinge, die sich dafür entschieden haben, das Angebot der Regierung zur Integration anzunehmen, statt nach Kroatien zurückzukehren, von wo sie 1995 geflohen waren. Das Problem verlangt von UNHCR einen heiklen Balanceakt: Das Amt muss sich für die Rück-

kehr derjenigen einsetzen, die zurückkehren wollen, und gleichzeitig den Bleibewilligen bei der Integration vor Ort helfen. Pupovac, ein kräftig gebauter Serbe, gelang es, bei seiner Flucht aus Kroatien einen Lkw und einen Traktor mitzunehmen. 700 Kilometer quer durch Serbien legte die Familie in zwölf Tagen zurück. Schließlich ließ sie sich nahe Belgrad nieder. Er kaufte Land und begann, ein Haus zu bauen. Seinen Lkw verkaufte er Stück für Stück, um die neue Zukunft zu finanzieren.

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So treten Widersprüche zutage: die mit der Rückkehr verbundenen Hoffnungen,

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gestiegen. Udo Janz, stellvertretender UNHCR-Missionschef in Bosnien, meint, der Druck zurückzukehren, wächst. „In einer Beziehung ist die Rückkehr nicht aufzuhalten. Die Menschen sind es leid“, sagt er. „Sie wollen nur noch zurückkehren. Sie hören nicht mehr auf die unablässige Propaganda und möchten sich allen Schwierigkeiten zum Trotz ein neues Leben aufbauen.“ Aber diese Schwierigkeiten sind nach wie vor riesengroß. In einer Region, die einmal auf ihre gemischte Bevölkerung stolz war, machen die Angehörigen von Minderheiten etwa 13 Prozent aller Rückkehrer aus. Ein tiefer Graben klafft weiterhin zwischen der Republika Srpska und der kroatisch-bosnischen Föderation. Verstockte Nationalisten träumen immer noch von ihrem eigenen Teilstaat oder einer Föderation mit Kroatien. Menschen, die in umstrittene Gebiete zurückkehren, drohen Schikanen und Gewalt bis hin zu Morden oder subtilere Formen der Ausübung von Zwang wie überhöhte Steuern, Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt oder Hindernisse beim Zugang ihrer Kinder zu Bildungseinrichtungen. Zudem wirkt es wie eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, zu dem mehr Angehörige von Minderheiten zurückkehren, die Mittel für die Unterstützung, mit der man die Tragfähigkeit ihrer Entscheidung verbessern könnte, immer knapper werden.

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Für Vertriebene gibt es 600 Sammelunterkünfte in Jugoslawien.

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Unterkunft zu finden, ist eines der größten Probleme für entwurzelte Menschen. Die Trennlinie zwischen den serbisch und den kroatisch-muslimischen dominierten Teilen Sarajewos verlief bis zu einer jüngst erfolgten Korrektur buchstäblich mitten durch diesen Wohnblock.

1997 wurde Pupovac von einem anderen Lkw überfahren und brach sich das Rückgrat. Seitdem ist er an den Rollstuhl gefesselt. Mit drei kleinen Kindern, einem kranken Schwiegervater und einem arbeitsunfähigen Ehemann hat Danka keine Zeit, einer anderen Arbeit nachzugehen. Sie haben ein paar Tiere, können sich aber nur dank der Hilfsbereitschaft der Nachbarn und mit der Unterstützung von Hilfsorganisationen über Wasser halten. Die Familie entschloss sich, in Serbien zu bleiben, und Pupovac erhielt kürzlich die Staatsangehörigkeit. Wird er je nach Fortsetzung auf Seite 18 Ã

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DER BALKAN 2001 |

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DEUTSCHLAND BOSNIEN

UNHCR/A. HOLLMANN/CS•BIH•1994

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SCHWEIZ

Als in den neunziger Jahren der Krieg fast den gesamten Balkan erfasste, wurden mehrere Millionen Menschen entwurzelt. Viele suchten Zuflucht innerhalb der Grenzen ihres Herkunftslandes. Andere flohen in angrenzende Staaten oder wurden zu Flüchtlingen, vor allem in anderen Teilen Europas. Die bosnische Hauptstadt Sarajewo musste während dieser Zeit lange aus der Luft versorgt werden.

SLOVENIEN LJUBLJANA ITALIEN

ZAGREB KROATIEN

BOSNIEN

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BOSNIEN-HERZEGOWINA

In den letzten beiden Jahren nahm in Bosnien die Zahl der zurückgekehrten Angehörigen von Minderheiten deutlich zu. Diese serbischen Bauern leben in einem bosniakisch dominierten Gebiet. Wie viele Rückkehrer sind sie in von UNHCR bereitgestellten Zelten untergekommen, bis ihre Häuser wieder aufgebaut werden können.

9 1 SARAJEWO

MONTE

TIRAN ROM WOHNRAUM

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Der Mangel an Wohnraum auf Grund der großen Kriegszerstörungen und Schwierigkeiten bei der Wiederinbesitznahme von Eigentum zählen zu den gravierendsten Problemen, die überwunden werden müssen.

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Menschen, die dort, wo sie leben, die ethnische Minderheit bilden, benötigen im Kosovo weiterhin Schutz. Im serbischen Nordteil von Mitrovica wohnende Albaner werden von französischen Soldaten geschützt und gelangen über eine streng bewachte Fußgängerbrücke über einen Fluss in den albanischen Südteil der Stadt.

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UKRAINE

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Die jüngsten Kämpfe lieferten sich Regierungstruppen und albanische Guerilla-Einheiten in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien. Rund 150.000 Menschen haben deshalb ihre Wohnorte verlassen.

JUGOSLAWIEN

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Schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen in der Region konnten noch nicht an ihre früheren Wohnorte zurückkehren. Die größten Gruppen bilden 390.000 Flüchtlinge und 230.000 vertriebene Kosovaren in Jugoslawien, zu denen diese älteren kroatischen Frauen zählen, und fast 560.000 Menschen in Bosnien und Herzegowina. UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•2001

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MAZEDONIEN

UNGARN

SERBIEN

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RUMÄNIEN UNHCR/R. WILKINSON/CS•YUG•2001

BELGRAD JUGOSLAWIEN

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5 PRISTINA PRISTiNA

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E NEGRO TE

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KOSOVO

SOFIA BULGARIEN

KOSOWO

SKOPJE

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Viele Flüchtlinge aus Kroatien würden sich gerne auf Dauer in Serbien ansiedeln. Nach und nach erhalten sie dauerhafte Unterkünfte oder bauen ihre eigenen Häuser wie dieser Flüchtling außerhalb von Belgrad.

MAZEDONIEN ALBANIEN

Einige Serben sind in ausgewählte sichere Gebiete im Kosovo zurückgekehrt. Für die Rückkehr der großen Mehrheit ist die Lage aber noch nicht sicher genug.

GRIECHENLAND ROMA

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Die Roma und andere Minderheiten haben in den diversen Konflikten besonders gelitten. Tausende Angehörige von Minderheiten warten weiterhin auf eine Rückkehrmöglichkeit. Einige wenige wie diese Aschkali im Kosovo sind bereits zurückgekehrt und haben begonnen, ihre Häuser neu aufzubauen.

TÜRKEI

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GUTE NACH-

RICHTEN

¬ Die Regierung in Belgrad hieß jüngst erstmals zurückkehrende Staatsangehörige willkommen, die wie Hussein Abdijevic zur albanischen Volksgruppe zählen – eine wichtige politische Kehrtwendung. UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•2001

√Trajko und Divna Arsiare zählen zu den erst sehr wenigen Serben, , die bislang in das Kosovo zurückgekehrt sind. √

à Kroatien zurückkehren wollen? „Nein“, antwortet er, ohne zu zögern. „Dort wurde alles zerstört. Meine Häuser wurden niedergebrannt. Warum sollte ich dorthin zurückgehen?“ Wenig später gibt er jedoch zu: „Wenn alle zurückkehren, würden wir vielleicht auch darüber nachdenken.“ Diese ambivalente Haltung kam in vielen Gesprächen zum Ausdruck, die wir in der Region

geführt haben. Zuerst ein entschiedenes „Nein“, dann doch ein „Vielleicht“– wenn sich die Situation in Kroatien verbessern sollte. Hinsichtlich des Sturzes von Slobodan Milosevic und der im Kosovo begangenen Verbrechen, die nach und nach ans Tageslicht kommen, zeigten sich die Flüchtlinge zwiespältig, ablehnend und feindselig. „Wir haben alle gehofft, dass nach der Ausliefe-

rung von Milosevic etwas geschieht“, sagt Pupovac. „Es ist auch etwas passiert: Die Strompreise sind drastisch gestiegen, und das Kindergeld wurde gekürzt.“ Ein anderer Flüchtling in Südserbien meint verärgert: „War Milosevic der einzige Kriegsverbrecher? Was ist mit den Albanern, den Kroaten und den Muslimen? Sie waren alle schuldig. Man hätte ihn nicht ausliefern

Unterschiedliche Sicht… T ihomir Stanimorovic hat sich in Rage geredet: „Die internationale Gemeinschaft hat die Albaner innerhalb von zwei Monaten zurück an ihre Wohnorte gebracht. Wir sind jetzt schon zwei Jahre hier.“ Die Rückkehr schien diesem Serben wie ein unerfüllbarer Traum. „Die Menschen können heute anscheinend problemlos zum Mond fliegen“, sagt er. „Aber hier auf dem Balkan können wir nicht einmal die paar Kilometer zurück an unsere früheren Wohnorte fahren.“ Stanimorovic, seine Ehefrau und seine beiden Kinder verließen das Kosovo genau wie schätzungsweise 230.000 Serben, Roma und Angehörige anderer Gruppen Ende 1999, als die alliierten Truppen in die Provinz einmarschierten und ihnen die zuvor geflohenen oder vertriebenen Albaner auf dem Fuß folgten. Es war eine dramatische Wende des Schicksals für die Menschen in dem Gebiet. Wie Stanimorovic es darstellt, wurden sie von den NATO-Truppen bewusst vertrieben. Seinen Angaben zufolge hatten „Terroristen“ ihn eine Woche lang mit verbundenen Augen gefangen gehalten und geschlagen, bevor er wieder freigelassen wurde. Schließlich gelangte er bis zu diesem ehemaligen Motel am Stadtrand von Bujanovac in Südserbien, das in eine Sammelunterkunft für 130 Menschen umgewandelt wurde. Seit zwei Jahren leben die Bewohner dort. Ein paar Traktoren und Fahrzeuge, die sie mit sich nehmen konnten, sind in der Nähe geparkt. Jede Familie erhielt ein Zimmer oder ein winziges Chalet auf dem Motelgelände. Es gibt fließen-

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Die Suche nach der

des Wasser und Strom. Verglichen mit der Situation anderer entwurzelter Menschen in der Region und in anderen Teilen der Welt geht es ihnen nicht schlecht. Aber es herrschen ein nagender Groll und zunehmende Frustration im Motel Bujanovac. Die Bewohner gefallen sich in der Opferrolle. Die Waffen schweigen, und politische Veränderungen haben die Region erfasst, aber die vertriebenen Serben scheinen nicht davon zu profitieren. „Es sollte nicht eine Regelung für die Albaner und Bosniaken und eine andere Regelung für die Serben geben“, sagt Stanimorovic, dem die Rolle des Sprechers der Menschen im Motel auf den Leib geschnitten ist. Ein junges Mädchen in der Gruppe, die sich um uns versammelt hat, trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Niemand singt so gut wie die Serben, und wir feiern auch die besseren Partys.“ Aber hier herrscht keine Partystimmung. „Die NATO ist an allem schuld“, beharrt er. Diese und ähnliche Aussagen sind von den vertriebenen Serben in der ganzen Region zu hören. „Hätten sie nicht eingegriffen, würden wir immer noch friedlich zusammenleben. Wir haben nichts Unrechtes getan. Es sind immer die kleinen Leute, die es am schlimmsten erwischt.“

WER SAGT DIE WAHRHEIT? Stanimorovics Heimatdorf Novo Selo liegt weniger als eine Fahrtstunde von Bujanovac entfernt. Vor dem Konflikt war es ein ethnisch gemischtes Dorf. Er behauptet, alle Häuser von Serben wären bei deren Flucht von Albanern niedergebrannt und „die

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dürfen.“ Seine Nachbarn nickten zustimmend. Dusan Karapandze, seine Ehefrau und seine drei Kinder kehrten im letzten Jahr nach Kroatien zurück. Bei der Ankunft mussten sie feststellen, dass ein bosnischer Kroate ihr Haus im Dorf Majske Poljane in Besitz genommen hatte. Die Familie bezog einen kleinen Schuppen auf dem Grund-

stück und beantragte die Rückgabe ihres Hauses. „Wir warten immer noch auf eine Entscheidung“, sagt Karapandze. Was die Familie zusätzlich verbittert, ist die Tatsache, dass der Hausbesetzer nicht dort lebt, sondern angeblich in Deutschland arbeitet, und Karapandze wegen Hausfriedensbruch angezeigt wurde, als er in seinem eigenen Haus angetroffen wurde.

Ähnliche Absurditäten gibt es zur Genüge. Einem serbischen Rückkehrer in Nordkroatien wurde die Wiederinbesitznahme seines Hauses verweigert, weil ein anderer kroatischer Hausbesetzer dort seinen Hund untergebracht hatte. In Jugoslawien gibt es 600 Sammelunterkünfte in früher als Fabriken, Hotels, Turnhallen oder Büros genutzten Gebäu- Ã

Brunnen in Anwesenheit amerikanischer Soldaten vergiftet“ worden. Nach den Gesprächen mit den geflohenen Serben fahren wir nach Novo Selo. Die Häuser im Besitz von Serben sind nach wie vor Ruinen. Fernseher, vor sich hin rostende Herde und angesengte Sofas liegen in den Trümmern. Eine Schar Gänse watschelt vorüber. Die KFOR hat in der Nähe einen Schießübungsplatz eingerichtet, und Geschützfeuer dröhnt durch das Tal und die Berge. Die Wahrheit ist jedoch schwierig herauszufinden, denn jede Seite hat eine eigene Sicht der Dinge. „Er kann gerne zurückkommen“, meint ein albanischer Kleinbauer achselzuckend, der nur ein paar hundert Meter vom Haus des Serben entfernt wohnt. „Warum auch nicht?“ Es ist die Art von oberflächlicher Antwort, die man hier ständig bekommt. Sie erschwert es, die wahren Gefühle der Menschen und die Gesamtstimmung in jeder Teilregion des Balkans zu ergründen. Im weiteren Gesprächsverlauf verschieben sich die Akzente. „Die Serben haben unsere Moschee niedergebrannt, bevor sie von hier weggingen“, berichtet der Bauer. „Dieser Kerl hat ihnen geholfen. Er war einer ihrer Anführer. Sein Sohn kämpfte hier und in Bosnien auf Seiten der Serben.“ Der Bauer und seine Familienangehörigen geben ihre Zurückhaltung immer weiter auf. Die Serben, behaupten sie, haben in Wirklichkeit ihre eigenen Häuser niedergebrannt, bevor sie fortgingen, um die Brandstiftungen später den Albanern in die Schuhe zu schieben. Eine halbe Stunde später wäre ein zurückkehrender Stanimorovic nicht mehr besonders willkommen: „Wenn er sich

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Wahrheit darüber, was während des Krieges wirklich geschah, bleibt schwierig.

Serbische Familien aus dem Kosovo warten in einer Sammelunterkunft auf die Möglichkeit, zurückkehren zu können. Aber das Dorf, in dem sie früher lebten, wurde zerstört.

hierher wagt, wird sich die Polizei seiner annehmen müssen.“ Aber die albanische Familie fügt auch hinzu: „Seine Ehefrau könnte immer noch friedlich hier leben.“ Die Wiederherstellung guter Beziehungen zwischen Nachbarn in Dörfern wie Novo Selo bleibt eine Voraussetzung für dauerhafte Stabilität auf dem Balkan, aber die Gefühle der Menschen sind ständigen Schwankungen unterworfen. B

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Ãden. 40.000 Menschen sind dort untergebracht. Häufig sind es die sehr Alten und Gebrechlichen, die nirgendwo anders hin können. Die Bedingungen differieren sehr stark von überfüllten Schlafsälen mit kaum Komfort zur vorübergehenden Unterbringung bis zu einfachen, aber sauberen Familienunterkünften. Auch die Stimmung der Bewohner dieser Sammelunterkünfte schwankt zwischen Gleichgültigkeit und Wut. Juplja Stena (Hohler Stein) nahe Belgrad ist ein ehemaliges Ferienzentrum für Kinder inmitten bewaldeter Hügel. Manche Bosnier leben bereits seit zehn Jahren hier. „Drei Mitglieder meiner Familie einschließlich meines Ehemanns sind hier gestorben“, berichtet eine ältere Frau und fügt hinzu: „Aber meine Enkelkinder wurden ebenfalls hier geboren.“ „Als wir Mostar (in Bosnien) 1992 verließen, hatte ich einen noch warmen Brotlaib bei mir“, sagt sie. „Sonst nichts. Als wir hier eintrafen, dachten wir, wir würden bald zurückkehren. Jetzt gibt es keine Hoffnung mehr, zumindest nicht für uns Ältere. Es gibt keinen einzigen Tag, an dem ich nicht weine“, sagt sie und beginnt zu schluchzen. „Für mich gibt es keine Freude mehr und keine Zukunft.“ Je länger die Menschen in Sammelunterkünften bleiben, wo sie nur ein Mindestmaß an Unterstützung erhalten, desto apathischer, aber auch desto abhängiger werden sie. Viele Langzeitflüchtlinge haben einfach nicht mehr die Willenskraft, Entscheidungen zu treffen. Manche Flüchtlinge zögern beispielsweise, die jugoslawische Staatsangehörigkeit anzunehmen, weil sie dann ihre Sammelunterkunft verlassen und für sich selbst sorgen müssten.

VERSTÖRT UND ZORNIG In der Pension Belgrad und anderen Sammelunterkünften in Südserbien treffen wir Vertriebene aus dem Kosovo an. Sie leben noch nicht so lange im Ausland wie die bosnischen Flüchtlinge und sind verstört und zornig. „Hunderte Behördenvertreter und Journalisten sind hier gewesen. Sie haben sich unsere Geschichten angehört und Fotos von uns gemacht, aber nichts ist geschehen“, sagt eine Frau in der Pension Belgrad, bevor sie sich auf dem Absatz umdreht und weggeht. In einer umgerüsteten Turnhalle in der Stadt Vranje, in der etwa 120 Menschen untergebracht sind, schlägt dem Besucher Feindseligkeit entgegen. „Was ist mit den 1.300 Serben geschehen, die im Kosovo ent-

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S. SALGADO

führt wurden?“ fragt einer der Bewohner. „Niemand hat ihre Leichen gefunden.“ „Warum sollten wir an den Wahlen teilnehmen?“ meint ein anderer mit Blick auf den bevorstehenden Urnengang im Kosovo im November. „Sie werden nicht für uns durchgeführt, sondern für die Albaner.“ Kurze Zeit später wird der Besucher schroff aufgefordert, die Sammelunterkunft zu verlassen.

kehr der Kosovo-Serben fordern zu können. Doch selbst mit Unterstützung der Regierung und Polizeischutz sehen die Albaner in Serbien einer schwierigen Zukunft entgegen. Ihre Häuser wurden geplündert. „Als ich von hier fortging, habe ich zuletzt das Vieh freigelassen“, sagt Hussein Abdijeviq mit einem Blick auf die Überbleibsel seines Hauses und das malerische Tal, in

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JE LÄNGER DIE MENSCHEN IN SAMMELUNTERKÜNFTEN BLEIBEN, DESTO APATHISCHER, ABER AUCH DESTO ABHÄNGIGER WERDEN SIE. Als die Albaner im Sommer 1999 in das Kosovo zurückströmten, verließen die Serben aus Angst vor Rache die Provinz. Mehrere Tausend in Serbien lebende Albaner, die mit dem Konflikt direkt nichts zu tun hatten, wurden in die zunehmenden Spannungen hineingezogen. Sie entschieden sich für die Umsiedlung in das Kosovo. Es war eine kaum beachtete Entwicklung parallel zum Hauptstrang der Ereignisse – nur ein kleines Steinchen in dem irrwitzigen Mosaik der damaligen Flüchtlings-, Vertriebenen- und Migrationsbewegungen. Nun haben auch diese Menschen begonnen, zurückzukehren, und zum ersten Mal hat die Regierung in Belgrad, die bislang immer für ihre ethnische Politik gescholten wurde, die Rückkehr einer großen Minderheit offen begrüßt. „Hier wurde ein Konflikt vermieden. Die Situation hätte leicht in ein totales Chaos mit mehreren zehntausend Vertriebenen ausarten können“, sagt UNHCR-Mitarbeiter Bill Tall, während er beobachtet, wie die ersten 99 Rückkehrer Busse besteigen, die sie zu ihren abgelegenen Bauernhöfen in den umliegenden Bergen bringen sollen. Natürlich handelt es sich auch um eine kalkulierte politische Geste. Indem die Regierung in Belgrad die Angehörigen ihre eigenen Minderheiten zur Rückkehr ermutigt, bringt sie sich in eine bessere Position, die Rück-

dem seine Tiere verschwunden waren. Die Türen und Fenster wurden geraubt. Matratzen und Schulhefte liegen auf dem Fußboden. Eine Wand ist mit serbischen und albanischen militaristischen Parolen beschmiert. Im Hof liegt ein mutwillig unbrauchbar gemachtes Kinderfahrrad. Hussein erhielt ein paar Hilfsgüter, einen Ofen, Decken und ein paar Lebensmittelrationen mit auf den Weg und machte sich darauf gefasst, erst einmal im Freien zu übernachten. „Ich muss hier alles sauber machen, bevor meine Ehefrau eintrifft“, grinst er breit. „Ich bin sehr froh und gleichzeitig sehr traurig. Was soll ich sagen? Das ist mein Zuhause, und ich bin wieder hier.“ Ähnliche Szenen spielen sich in den umliegenden Tälern ab. (Doch selbst Geschichten mit gutem Ausgang müssen nicht von Dauer sein. Kurze Zeit später erschossen bewaffnete Unbekannte zwei örtliche Polizisten und verletzten zwei andere. Der Vorfall droht die Rückkehr und die Stabilität der gesamten Region zu gefährden.)

EIN „MEHRHEITSPROBLEM“ Im Kosovo haben die Albaner, die noch vor zwei Jahren selbst Flüchtlinge waren, eindeutig die Oberhand. Hingegen werden die Serben und die Angehörigen anderer Minderheiten offenkundig diskriminiert. Fortsetzung auf Seite 24 Ã

MUSLIMISCHE ÜBERLEBENDE AUS SREBRENICA Es war die schlimmste Gräueltat in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Nachdem serbische Truppen 1995 die muslimische Enklave Srebrenica eingenommen hatten, töteten sie systematisch mehr als 7.000 bosnische Männer und männliche Jugendliche. Anfang 2001 kehrten unter dem Schutz bewaffneter amerikanischer Soldaten mehrere tausend Muslime zu einer Gedenkfeier zurück. Der Grundstein eines Mahnmals wurde zur Erinnerung an die Opfer gelegt. Einige Wochen später wurde der serbische General Radislav Krstic für seine Beteiligung an dem Massaker wegen Völkermord zu 46 Jahren Haft verurteilt. Die Waffen schweigen seit vielen Jahren, aber die Stadt wird heute überwiegend von Serben bewohnt – ein bleibendes Vermächtnis des Krieges.

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Das Rad, das niemals quietscht A

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ls die NATO-Truppen ins Kosovo kamen, dachte ich, der Albtraum wäre vorüber“, sagt Ragip Kovaqi kopfschüttelnd. „Aber die Dinge ändern sich für uns im Kosovo nur langsam. Ich baue mein Haus wieder auf, aber ich kann mir noch immer nur eine Mahlzeit am Tag leisten, wenn meine Kinder genug zu essen haben sollen.“ Ragip gehört zur Minderheit der Aschkali, die eng mit den Roma und den Kosovo-Ägyptern verwandt sind. Während des Kosovo-Konflikts im Jahre 1999 musste seine Sippe in die Berge fliehen. In ihrer Abwesenheit wurden ihre Häuser im Dorf Batlava dem Erdboden gleichgemacht. Letztes Jahr wurden sie aufgefordert, zurückzukehren und im Rahmen der internationalen Bemühungen zum Wiederaufbau des Kosovo ihre Häuser neu zu errichten. Grainna O’Hara, UNHCRMitarbeiterin, bezeichnet das Projekt vorsichtig als „Rückkehr in Raten“. Der Begriff könnte auf weite Teile des Balkan angewendet werden. Nicht alle Familien sind zurückgekehrt. Der Wiederaufbau ist nur langsam vorangekommen, und es gibt keine Garantie, das er jemals abgeschlossen werden kann. Ragip bewarb sich um eine Stelle bei der Polizei. Ohne Erfolg. Angeblich diffamierten ihn feindselig gesinnte Nachbarn.

STÄNDIGE OPFER VON DISKRIMINIERUNG Als Beweis für die tiefen Gräben, die in der gesamten Region weiterhin klaffen, liegt ein Grab wie eine bedrückende Mahnstätte nur wenige Meter von der Baustelle entfernt. Ragips Bruder war während des Konflikts ebenfalls in die Berge geflohen, aber als er versuchte, in das Dorf zurückzukehren, wurde er auf der Stelle von serbischen Polizisten erschossen. Das Grab ist mit frischen Blumen geschmückt.

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„Ich bin mir überhaupt nicht sicher, was die Zukunft bringen wird“ sagt Ragip. Diese Minderheiten leben seit Jahrhunderten auf dem Balkan. Dennoch sind sie zu allen Zeiten Opfer von Schikanierung und Diskriminierung geworden. In den Unruhen der neunziger Jahre in Bosnien, Kroatien und im Kosovo war das nicht anders. Die jüngsten Reintegrationsbemühungen sind nur langsam vorangekommen und waren nur begrenzt erfolgreich. Die Roma-Gemeinschaft in Mitrovica im Kosovo gehörte zu den wohlhabendsten in der gesamten Region. 6.000 Menschen lebten in modernen zwei- und dreigeschossigen Gebäuden, bevor sie im Juni buchstäblich „ausgeräuchert“ wurden. Die Menschen mussten fliehen, um rachgierigen Albanern zu entkommen, die sie beschuldigten, sich auf die Seite der serbischen Behörden geschlagen zu haben. Roma Makalla ist bis heute eine schwelende leere Ruine. Gebäude wurden mit Brandbomben beworfen. Andere wurden Stein für Stein abgetragen. Die Plünderer schafften das Baumaterial mit Schubkarren davon, um es für ihre eigenen Häuser zu verwenden. Gleichzeitig versperrten sie damit den Eigentümern die Möglichkeit, ihre Häuser wieder aufzubauen. Als jüngst die Frage einer Rückführung der Roma nach Mitrovica zur Debatte gestellt wurde, kam man zu der Einschätzung, dass damit aus Sicherheitsgründen zurzeit noch ein zu hohes Risiko verbunden wäre. In Städten wie Gnjilane im Kosovo entgingen die Häuser von Roma der Zerstörung. Es haben sich darin jedoch Serben oder Albaner niedergelassen, die aus ihren eigenen Häusern vertrieben wurden. Bei dieser anscheinend nie endenden „Reise nach Jerusalem“ um freien Wohnraum gelangten einige Roma in das Lager

Minderheiten wurden zu allen Zeiten Opfer von Schikanierung und Diskriminierung. Das war auch in den neunziger Jahren nicht anders. FLÜCHTLINGE NR. 3/2001

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Die Reintegration von Minderheiten ist langwierig und war bis jetzt nur in begrenztem Maße erfolgreich.

Eine einst blühende Roma-Gemeinschaft in Mitrovica wurde zerstört. Mehrere tausend Roma leben in Sammelunterkünften und Lagern und warten auf den Tag, an dem sie zurückkehren können.

Salvatore in Südserbien. Die „glücklichen“ 145 Roma leben in rostfarbigen umgerüsteten Containern. Eine Familie mit zehn Personen bewohnt ein „Zimmer“ von fünfeinhalb mal fünfeinhalb Metern. Zum Schlafen haben sie ein Bett und ansonsten übereinander gelegte Teppiche auf dem Fußboden. An einer Wand des Containers hängt ein Webteppich mit dem Konterfei von Elvis Presley. „Einer der Helden meiner Jugend“, sagt die Mutter. Die „Unglücklichen“ hausen in wackeligen Konstruktionen aus Plastikplanen und Karton, die häufig keine Türen haben und bei Regen unter Wasser stehen. Es gibt keine Arbeit, und ein Stück Brennholz kostet den Gegenwert von 2,50 Euro. Uns schlägt ein Hagel von Klagen entgegen. „Wir haben keine Arbeit, keine Lebensmittel, keine Zukunft. Meine Tochter liegt im Sterben. Ich werde versuchen, sie am Leben zu halten, aber wenn sie stirbt, gebe ich sie bei Ihnen im Büro ab“, sagt ein junger Mann. „Es herrscht Frieden, aber für uns gibt es noch immer keine Hoffnung“, fügt ein anderer hinzu. Eine ungewöhnliche Begebenheit mischt sich in die Erinnerungen an diese bedrückende Szenerie. In einer Ecke des Geländes zieht ein von Roma umgebener, gut gekleideter Mann Gebühren ein. Auf Nachfrage gibt er an, Mitarbeiter der örtlichen Mobilfunkgesellschaft zu sein. Buchstäblich jeder der dort Versammelten besitzt ein Mobiltelefon. Die Älteren halten damit Kontakt zum Kosovo, und die Jüngeren telefonieren einfach von einer zur anderen Ecke des Lagers, das seit so langer Zeit ihr Zuhause bildet.

LANGSAM UND ZÖGERLICH

Dies sind Menschen, deren Stimmen nirgendwo gehört werden und die von keinem maßgeblichen Politiker etwas zu erwarten haben. Ein Roma-Sprecher bezeichnet sie als “das Rad, das niemals

quietscht“ und dem niemand Aufmerksamkeit widmet. Vor dem Krieg lebten in Pristina sehr viele Roma. Aber die meisten flohen oder wurden gezwungen, nach Serbien oder in temporäre Unterkünfte wie das Lager Plemetina umzuziehen, eine frühere Wohnbaracke für Arbeiter des Elektrizitätswerks am Stadtrand. „Menschen mit dunkler Hautfarbe trauen sich nicht in die Stadt hinein“, sagt ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. Doch werden Maßnahmen unternommen, damit die Roma wieder in die Stadt zurückkehren können. Ihre Häuser werden instand gesetzt. Ein Spielplatz, ein Abwasserprojekt und der Bau einer Straße sind geplant. Diese werden nicht nur den Roma, sondern allen Bewohnern zugute kommen. Einige prominente Vertreter der Albaner haben Kontakt zu den Minderheiten aufgenommen, und ihre eigenen Sprecher haben im örtlichen Fernsehen Interviews gegeben. Aber die Reintegration ist eine langwierige Aufgabe. Die Rückführung einer einzigen Familie kann ein ganzes Jahr der Vorbereitung erfordern, die dennoch binnen Sekunden zunichte gemacht werden können. So lange hatte es gedauert, ein Umfeld zu schaffen, dass RomaFamilien im letzten Jahr überzeugte, der Rückkehr in das DrenicaTal zuzustimmen. Zwei Tage, nachdem drei Männer und ein Jugendlicher zurückgekehrt waren, wurden ihre Leichen neben ihren Zelten aufgefunden. Der Vorfall ließ allen Angehörigen von Minderheiten auf dem Balkan das Blut in den Adern gefrieren. „Dies war ein Modellprojekt für die Rückkehr, und es brauchte nur wenige Augenblicke, um es zu zerstören“, sagt Grainna O’Hara. „Wir sind uns der Risiken bewusst, aber die Menschen möchten an ihre früheren Wohnorte zurückkehren. Wir können nicht einfach alles aufgeben, selbst nach Vorfällen wie diesem, oder?“ Dies bleibt eines der schwierigsten Dilemmas auf dem Balkan in der heutigen Zeit. B

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unseres Gemüses gefangen. Die Sicherheitslage hat sich im letzten Jahr verbessert, aber die Präsenz der schwedischen Soldaten ist weiterhin absolut unverzichtbar“, sagt er. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir ohne sie hier leben könnten.“

KRISENHERD

Ethnische Minderheit benötigen im Kosovo weiterhin Schutz – unabhängig davon, ob es sich um Albaner, Serben oder Roma handelt. Britische Soldaten und ein UNHCR-Mitarbeiter sprechen mit einem serbischen Bauern über die Sicherheitslage.

à Eine Zivilverwaltung der Vereinten Nationen namens UNMIK soll die instabile Provinz mit Unterstützung der KFOR-Truppen in die Zukunft führen, doch ist diese ungewiss. „Im Kosovo gibt es kein Minderheitenproblem“, sagt ein hochrangiger Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. „Hier ist die Mehrheit das Problem“, fügt er hinzu und spielt damit auf die Haltung der Albaner gegenüber den Serben an. Hinter dieser pauschalen und vereinfachenden Feststellung stecken Tausende individueller Geschichten: von Serben, die trotz der Feindseligkeit um sie herum geblieben sind, von den wenigen, die zurückgekehrt sind, von Albanern in der umgekehrten Situation, in Enklaven in Gebieten mit serbischer Mehrheit und von der überraschenden Ankunft von mehr als 80.000 Flüchtlingen aus der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien (siehe Seite 11). Slivovo, ein Bezirk mit acht Dörfern, erinnert in seiner landschaftlichen Schönheit an kitschige Postkarten aus der Schweiz. Als hier 1999 vier Brüder von Angehörigen einer albanischen Bürgerwehr an einem Baum erhängt wurden, verließen die meisten serbischen Einwohner das Gebiet. Miro Pavic wollte sein Gemüse, seinen Weizen, seinen Mais, seine Obstbäume und sein Vieh nicht aufgeben und beschloss, zu bleiben.

Schwedische Soldaten haben einen Kommandoposten am Fuß des Hügels errichtet, auf dem Pavics Bauernhof steht, und halten Wache auf den nahe gelegenen Berggipfeln. UNHCR hat eine Buslinie eingerichtet, mit der die wenigen Serben in dem Bezirk durch albanisch dominiertes Gebiet in die „Außenwelt“ gelangen können. Die Lage ist heikel. Dennoch gilt Slivovo als eines von knapp mehr als zehn Gebieten im Kosovo, die angeblich sicher genug sind, um frühere serbische Bewohner zur Rückkehr aufzufordern. Miro Pavic führt eine Liste aller geflohenen serbischen Familien und spricht sich nachdrücklich für ihre Rückkehr aus. „15 Familien sind zurückgekommen“, sagt er. Dieser Anfang ist ermutigend. Dennoch bezweifeln auch Mitarbeiter von Flüchtlingsorganisationen, dass die meisten der 230.000 Serben und Angehörigen anderer Minderheiten, die hier einmal lebten, in absehbarer Zeit zurückkehren werden. Die britische Regierung hat 15 Gewächshäuser gespendet, um einen weiteren Anreiz zur Rückkehr zu geben und zur Sicherung des Lebensunterhalts der Serben beizutragen. Pavic beklagte jedoch, die Enklave sei zu „einem vergoldeten Käfig“ geworden. „Wir sitzen immer noch inmitten

Das Gleiche gilt für Slobodanka Nojic, die Ehefrau eines Priesters an der orthodoxen Bischofskirche von Mitrovica. Die zweitgrößte Stadt im Kosovo ist de facto die Frontlinie bei den Auseinandersetzungen zwischen den Albanern in den südlichen Stadtteilen und den Serben im Norden. Fanatismus und Hass werden nicht selten offen zur Schau gestellt. Eine Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation fürchtet sich sogar, wenn es in der Stadt ruhig ist. „Ich habe ständig Angst, dass etwas passieren wird. Hier ist es zu ruhig. Die Stimmung ist unheimlich.“ Die Bischofskirche liegt im Süden der Stadt inmitten der albanischen Viertel. Griechische Soldaten haben sie mit Stacheldraht, Sandsäcken und bewaffneten Mannschaftstransportfahrzeugen umgeben. Die Kirche ist offiziell geöffnet, aber nur wenige Menschen nehmen an den Gottesdiensten teil. Die Priester werden von Soldaten begleitet, wenn sie das Gelände verlassen. Slobodanka Nojic traut sich das nicht mehr. „Ich habe zu viel Angst“, sagt sie. „Wenn wir versuchen würden, das Gelände ohne Eskorte zu verlassen, würden wir entführt oder getötet. Wir würden mit Sicherheit nie mehr in dieses Haus zurückkehren.“ Halit und Zadi Maxhuni stecken unter umgekehrten Vorzeichen in einer ähnlichen Situation. Sie leben als Albaner im serbisch dominierten Norden der Stadt. Halit Maxhuni ist beinahe blind. Auf dem Höhepunkt des Konflikts verbrachten sie ein ganzes Jahr in ihrer abgedunkelten Wohnung mit Decken vor den Fenstern. Abgesehen von zwei ihnen wohlgesinnten serbischen Nachbarn, die ab und zu für sie einkauften, war ein kleines Radio ihr einziger Kontakt zur Außenwelt. Als Halit Maxhuni sich jüngst endlich auf die Straße traute, um zum Friseur zu gehen, standen in der Nachbarschaft alle Serben auf ihren Balkons und beobachteten

AUF DEM HÖHEPUNKT DES KONFLIKTS VERBRACHTEN SIE EIN GANZES JAHR IN IHRER ABGEDUNKELTEN WOHNUNG, MIT DECKEN VOR DEN FENSTERN. EIN KLEINES RADIO WAR IHR EINZIGER KONTAKT ZUR AUßENWELT. 24

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| ihn. Als seine Frau die Wohnung zum ersten Mal verließ, war sie überwältigt: „Zuerst hatte ich das Gefühl, alles um mich herum würde sich drehen. Aber dann sah ich den Himmel und die Sonne. Es war wunderbar.“

RÜCKKEHR NACH TUROVI

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fahrungen und seiner Freude, endlich heimkehren zu können, berichtet, kommt überraschend Mustafas Bruder, dessen Ehefrau und ihre beiden Söhne, die im selben Dorf gelebt hatten, aber irgendwann nach Schweden geflohen waren, zu Besuch. „Heute meint es das Leben gut mit uns“, sagt Mustafa, obwohl sein Bruder es im Krieg leichter gehabt hat. Zuko Rasim, ein anderer Muslim, kehrte in die Stadt Trnovo zurück, die während des Krieges von den Serben beherrscht wurde. Er hatte weniger Glück. Als er seine Bäckerei wieder eröffnete, kauften anfangs auch viele Serben bei ihm ein. Aber Hardliner in der Kommunalverwaltung intervenierten, indem sie seine Kunden verjagten und übermäßig hohe Kommunalabgaben von ihm forderten. Selbst die Kinder von der anderen Straßenseite begannen, sein Geschäft zu meiden, obwohl es dort so gut riecht. „Ich nehme an, sie versuchen einfach, mich aus der Stadt zu vertreiben“, sagt Zuko.

SCHWIERIGER KANN ES NICHT SEIN Das Panorama im Drina-Tal gehört zu den schönsten in Europa. Hier gibt es tiefe Schluchten und urtümliche Wälder, und in den Höhenlagen blühen gelbe, violette, weiße und rosafarbene Wildblumen. Das Gebiet um die Stadt Visegrad war besonders hart umkämpft, bevor die serbischen Truppen die Muslime vertrieben. Heute ist es Schauplatz eines außergewöhnlichen Rückkehrversuchs. Hoch an einem Berghang rumpelt ein roter Renault aus den fünfziger Jahren über einen fast

zugewachsenen Weg. Nur eine kurze Strecke entfernt liegt vollkommen von Blattwerk zugedeckt das zerstörte Dorf Dubocica. Cato Feridjz fährt vorsichtig den Hang hinunter, vorbei an bröckelnden Mauern und ein paar verwitterten Palisadenzäunen. Er hat Schwierigkeiten, sein altes Haus zu finden, entdeckt aber schließlich ein silberfarbenes Tablett in den nun deutlich erkennbaren Ruinen. „Meine Mutter wurde hier erschossen. Ermordet“, berichtet er. „Sie war 80 Jahre alt. Sie haben das Haus niedergebrannt.“ Er zeigt auf einen Obstbaum. „Slibowitz“, ein örtlicher Pflaumenbranntwein, sagt er stolz. Er pflückt eine Wildblume, zerreibt sie zwischen den Fingern und erklärt dann: „Tee.“ Das Einzige, was auf diesem Berg noch funktioniert, ist ein Rohr, aus dem Quellwasser in einen Zuber läuft. Cato zieht seine Kleidung aus und springt in das eiskalte Nass. „Mein Wasser“, sagt er stolz. Er und die anderen Männer, die sich auf den Weg zu diesem Dorf gemacht haben, haben nur ein paar Decken und Lebensmittel erhalten. Aber sie sind entschlossen, in den Ruinen zu bleiben, und das Dorf wieder aufzubauen. Schwieriger kann es nirgendwo sein. An Orten wie diesen entscheidet sich die Rückkehr auf den Balkan. Wenn diese Dorfbewohner mit fast nichts in den Händen die Unbilden auf dem Berg überleben, die Feindseligkeit der in der Nähe wohnenden Serben überwinden sowie ihre Häuser und ihre Existenz neu aufbauen können, dann besteht Hoffnung für die Zukunft. B UNHCR/R. WILKINSON/CS•BIH•2001

Im Jahre 1998 hieß es in der Zeitschrift FLÜCHTLINGE (Nr. 1, März/April 1999) über die Stadt Turovi in Bosnien: „Seit beinahe zwei Jahren steht UNHCR in zermürbenden Verhandlungen mit dem serbischen Bürgermeister von Trnovo wegen der Rückkehr von Minderheitenangehörigen nach Turovi. Als Gegenleistung für den Wiederaufbau von 20 muslimischen Häusern, so das Angebot von UNHCR, sollten 20 serbische Häuser, eine Schule und das Sägewerk instand gesetzt werden. Die Serben änderten jedoch ständig die Spielregeln – zunächst in der Frage, welche Häuser als Erste wieder aufgebaut werden sollten, dann mit Blick auf die Zahl der Nutznießer. Turovi ist ein verlassener Ort mit Ruinen unter Schichten aus Schnee und Müll“ Es ist ein Zeichen des Fortschritts in Bosnien, dass sich heute ein anderes Bild in der Stadt bietet. 60 Häuser wurden wieder aufgebaut. Rote Ziegeldächer glänzen in der Sonne und vor den Fenstern blühen Blumen, obwohl das Leben immer noch hart ist. Die muslimischen Dorfbewohner sind überwiegend ältere Menschen, es gibt zu wenig Vieh, und die meisten, die hier leben, sind in einer ähnlichen Lage wie Mustafa und Sevda Dedovic, die mit einer Rente von umgerechnet 55 Euro auskommen müssen. Als dieses Ehepaar von seinen Kriegser-

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Muslime bei der Ankunft in ihrem Heimatdorf hoch über dem Drina-Tal.

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ERITREA

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ENDLICH ... GRÖSSTEN UND BESTEHENDEN AM LÄNGSTEN FLÜCHTLINGSGEMEINSCHAFTEN BEGINNT

DIE RÜCKKEHR EINER DER

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ERITREA

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Von Newton Kanhema und Wendy Rappeport

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Nach drei Jahrzehnten auf dem Weg nach Hause.

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zilal Kidane Maasho umarmt und küsst ihre langjährigen Nachbarn. Die Enkelkinder um sie herum weinen, und auch ihr laufen die Tränen über die Wange. Ihr Ehemann Kidane Maasho schluchzt ebenfalls hemmungslos, doch seine Stimme ist fest: „Ich habe 20 Jahre auf diesen Tag gewartet, und ich habe keine Angst zurückzukehren. Es ist traurig, dass ich meine Freunde verlassen muss, aber ich gehe zurück in das Land, das Gott den Eritreern gegeben hat.“ Das ältere Ehepaar hat zwiespältige Gefühle. Einerseits naht das Ende guter Freundschaften, die unter den härtesten Lebens- und gefühlsmäßigen Bedingungen entstanden waren, die man sich nur vorstellen kann. Andererseits freuen sie sich auf die bevorstehende Rückkehr in ein Herkunftsland, das sich in der Zwischenzeit drastisch verändert hat, das sie aber niemals vergessen haben. Bis zu 500.000 Menschen flohen während des erbittert geführten, 30 Jahre währenden Krieges in den Sudan, nachdem Äthiopien im Jahre 1962 Eritrea am Horn von Afrika besetzt hatte. Die Maashos verließen Eritrea vor 20 Jahren, nachdem die äthiopische Luftwaffe ihr Dorf unablässig bombardiert hatte und 13 Nachbarn von äthiopischen Soldaten getötet worden waren. Sie entkamen durch die Wüste. Vor sich her trieben sie eine winzige Herde mit 20 Stück Vieh, Eseln und Ziegen. Einige Tiere waren in der glühenden Hitze zusammengebrochen, bevor die Familie die relative Sicherheit im Sudan erreichte, wo sie sich zu den anderen Eritreern gesellten, die schließlich eine der größten und am längsten bestehenden Flüchtlingsgemeinschaften überhaupt bildeten. Das Leben in diesem Teil Afrikas ist sehr hart. Der aus der Wüste kommende heiße Wind fegt über eine raue Landschaft hinweg, in der es so gut wie keine Bäume oder

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ERITREA

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ABER ES WAR IMMER EIN LEBEN AM RAND DES ERTRÄGLICHEN. DER BODEN EIGNETE SICH NICHT FÜR DEN ACKERBAU, UND DIE KARGE LANDSCHAFT GAB NICHT EINMAL BRENNHOLZ HER. auch nur Sträucher gibt. Es ist einer der heißesten Orte auf der Erde mit Tagestemperaturen von weit über 40 Grad, auf die jeweils bitterkalte Nächte folgen. Anfangs verdingte Maasho sich als Handlanger auf dem Bau in der Grenzstadt Kassala. Dort verdiente er umgerechnet 2,50 Euro pro Woche. Dennoch musste die Fa-

viel Geduld und Mühe sammelten sie nach und nach kürzere Stöcke, um das Grundstück mit einem provisorischen Zaun zu umgeben. Ein Mindestmaß an Privatsphäre und Sicherheit sind wichtig in dem lauten Gewirr eines riesigen Flüchtlingslagers, in dem fast alle Not leiden und es immer wieder zu Verbrechen wie Vergewaltigun-

zügigkeit von zwei verheirateten Töchtern angewiesen, die in einer nahe gelegenen Stadt lebten und ihnen Geld für Holzkohle und Lebensmittel zusteckten. Während sich das Leben in solchen Lagern nur um eines, nämlich das blanke Überleben, dreht, steht die Außenwelt nicht still. Eritrea erlangte 1993 auf friedli-

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Ein Gebet vor der Abfahrt

milie Stück um Stück ihr Vieh verkaufen, um überleben zu können. Schließlich wurden sie von den örtlichen Behörden gezwungen, in eines der zahlreichen Lager umzuziehen, die in dem Gebiet eingerichtet worden waren. Im Lager Wad Sherife erhielten sie Nahrungsmittelrationen, die das Überleben sicherten, und ein kleines Stück Land. Aber es war immer ein Leben am Rand des Erträglichen. Der Boden eignete sich nicht für den Ackerbau, und die karge Landschaft gab nicht einmal Brennholz her. Zum Kochen mussten sie daher winzige Mengen Holzkohle kaufen, wann immer sie ein paar Cent gespart hatten. Auf dem kleinen Stück Land, das man ihnen zugewiesen hatte, bauten sie zwei Lehmhütten und eine Außentoilette. Mit

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Ankunft in Tesseney

gen kommt.

EIN NEUES LEBEN Es gab keine Arbeit, sodass das Leben von apathisch machender Langeweile und Warten geprägt war. In diesem deprimierenden Umfeld schlossen die Maashos Freundschaften und zogen sieben Kinder groß. Als sie älter wurden, gingen die Kinder fort – in die eritreische Armee, nach Kenia oder nach Saudi-Arabien. Einige verschwanden in der immer größer werdenden Flüchtlingsdiaspora und verloren den Kontakt zu ihren Eltern. Ein Sohn kehrte Anfang dieses Jahres „heim“ nach Eritrea. Ein anderer starb vor nur wenigen Monaten. Die Maashos wurden im Exil langsam alt. Immer mehr waren sie auf die GroßFLÜCHTLINGE NR. 3/2001

chem Wege die Unabhängigkeit von Äthiopien. Flüchtlinge verließen die Lager, um in ihr Herkunftsland zurückzukehren oder in anderen Ländern ein neues Leben anzufangen. Als sich die politische Lage in der Region stabilisierte, begann UNHCR als vorbereitende Maßnahme für eine mögliche Rückführung mit der Registrierung der Flüchtlinge, von denen einige seit mehr als 30 Jahren von Zuhause fort waren. Die Maashos zählten zu den Ersten, die sich in die Listen eintrugen. Aber wieder kam ein Krieg dazwischen, der neue Flüchtlingsströme in die Lager brachte. Als Äthiopien und Eritrea sich gegenseitig so zermürbt hatten, dass eine Pattsituation entstanden war, mussten die

| Pläne für die Rückführung vorläufig aufgegeben werden. In dem Konflikt starben so viele Menschen und ihr Tod wurde so bedenkenlos in Kauf genommen, dass er an das Massensterben in den Schlachten des Ersten Weltkrieges erinnerte. Insgesamt forderte der Konflikt, der schließlich im Juni letzten Jahres beigelegt wurde, mehrere zehntausend Menschenleben. Im Mai begann UNHCR schließlich doch mit der Rückführung zumindest eines Teils der mehr als 170.000 noch immer im Sudan lebenden Eritreer. Trotz einkalkulierter Unterbrechungen in der Regenzeit entschloss sich das Amt, in diesem Jahr

ERITREA

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zu mir und meiner Familie“, teilt der alte Mann mit Hilfe eines Dolmetschers mit. Als Letztes sagt er: „Bevor ich in den Sudan kam [ein streng islamisches Land, in dem Alkoholgenuss verboten ist], habe ich immer gerne ein Bier getrunken. Jetzt freue mich schon auf das erste Bier nach meiner Rückkehr.“

WIEDER ZU HAUSE Die eritreische Stadt Tesseney ist ein Durchgangspunkt für viele Rückkehrer. Sie werden nicht selten feierlich willkommen geheißen, stehen aber vor einer schwierigen Zukunft. Eritrea ist eines der

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Formalitäten

mehr als 60.000 Eritreer in Konvois auf dem schwierigen Landweg zurückzuführen. Diese Konvois sollen bis Ende 2002 fortgesetzt werden. „Wir wollten immer zurückkehren. Wir haben auf diese Gelegenheit gewartet, seitdem wir hier leben“, sagt Kidane Maasho in den letzten Minuten vor der Abfahrt. Andere Eritreer haben Einheimische geheiratet, vor Ort Arbeit gefunden oder die Bereitschaft zur Rückkehr verloren, weil sie nicht den Mut aufbringen, in ein Land zurückzufahren, von dem sie heute nur noch wenig wissen. Keines der Kinder der Maashos war bei der Abfahrt zugegen, doch drei Enkelkinder waren gekommen, um auf Wiedersehen zu sagen. „Der Sudan war sehr gut

gensatz zur Abfahrt im Sudan war bei der Ankunft eine Tochter der Maashos zugegen und hatte zwei Zimmer für sie gemietet. „Ich danke meinem Gott, dass er mich so lange am Leben erhalten hat, um diesen Tag erleben zu können“, sagt Kidane Maasho. „Ich bin alt und schwach, aber ich habe es endlich nach Hause geschafft.“ Seine Ehefrau fügt hinzu: „Wir sind alt, und wir wollen uns ausruhen. Wir haben unsere Pflichten erfüllt.“ Ein Neffe kam mit seinen Kindern per Flugzeug aus den USA zu Besuch, und die Maashos nahmen die zehnstündige Busfahrt in die eritreische Hauptstadt Asmara

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Neubeginn

ärmsten Länder auf der Welt und hat kaum Mittel übrig, um Menschen zu unterstützen, die mit leeren Händen zurückkehren. Abgesehen von dem brutalen Klima wurde die Infrastruktur in dem jahrelangen Krieg zerstört. Viele Flüchtlinge haben weder Unterkunft noch Strom- und Wasserversorgung oder Grund und Boden, um Landwirtschaft zu betreiben. Neben den aus dem Sudan zurückkehrenden Flüchtlingen beginnen auch schätzungsweise 1,1 Millionen Eritreer, die durch den Krieg mit Äthiopien zu Binnenvertriebenen wurden, an ihre früheren Wohnorte zurückzukehren, was die Behörden vor weitere Probleme stellt. Für den Augenblick sind jedoch alle diese Unwägbarkeiten vergessen. Im GeFLÜCHTLINGE NR. 3/2001

auf sich, um ihn zum ersten Mal nach 17 Jahren wieder zu sehen. Andere Freunde und Verwandte kamen sie besuchen. Das Ehepaar bezog ein Zimmer auf dem Gelände einer Kirche mit einem Blick über Quellen mit angeblicher Heilwirkung. Beider Augen werden schlechter. Jeden Morgen schließen sie sich den Pilgern an, um in den Quellen zu baden und für eine Heilung im Frühjahr zu beten. Die Rückkehrbeihilfe von 2.000 Nakfa (200 Euro) ist fast aufgebraucht, und das Ehepaar wird zurück in den Westen ziehen, nachdem Mzilal Kidane Maasho operiert worden ist. Trotz dieser unsicheren Zukunft ist das Ehepaar optimistisch und glücklich. Und, „ja“, sagte Kidane, „das erste Bier war kalt, und es schmeckte köstlich“. B

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MENSCHEN UND LÄNDER

© D. VENTURELLI/DP•ITA•2001

Neue Leitung

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Nansen-Preis für Pavarotti F

ür seine Bemühungen, die internationale Aufmerksamkeit auf die Not entwurzelter Afghanen in Pakistan zu lenken, wurde dem italienischen Tenor Luciano Pavarotti der Nansen-Preis verliehen. Die nach dem norwegischen Polarforscher und ersten Hohen Flüchtlingskommissar benannte Auszeichnung

wird seit 1954 jedes Jahr an Personen oder Organisationen vergeben, die sich in herausragender Weise für Flüchtlinge eingesetzt haben. Zu den früheren Preisträgern zählen Eleanor Roosevelt, König Juan Carlos I. von Spanien, Ärzte ohne Grenzen, der frühere tansanische Präsident Julius Nyerere und die Bevölkerung Kanadas. B

Bootsflüchtling mit hohem Amt betraut

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ls Zehnjähriger verbrachte er zwölf Tage fast ohne Nahrung und Trinkwasser an Bord eines überfüllten und leckenden Bootes. Als die vietnamesischen Flüchtlinge Malaysia erreichten, wurde ihr Boot beschossen und zurück aufs Meer gedrängt. Selbst nachdem der Jugendliche und seine Familie die USA erreicht hatten, war ihnen das Glück nicht immer hold. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt als Erdbeerpflücker, aber der Ausbruch des Vulkans Mount St. Helens im Jahre 1980 zerstörte erneut ihre Lebensgrundlagen. Kürz-

lich wurde der 33 Jahre alte Viet D. Dinh vom amerikanischen Senat mit 96:1 Stimmen zum Assistant Attorney General und Leiter des Office of Legal Policy ernannt. Das Amt ist für die Planung, Entwicklung und Koordination wichtiger rechtspolitischer Initiativen zuständig. „Mit seiner Sichtweise und seinem Intellekt wird er uns bei unseren Bemühungen, dem Recht Achtung zu verschaffen, wertvolle Dienste leisten“, sagt der amerikanische Justizminister John Ashcroft über den ehemaligen vietnamesischen Flüchtling.

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er erfahrene tunesische Beamte und Diplomat Kamel Morjane wurde zum neuen beigeordneten Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen ernannt. Morjane war 20 Jahre bei dem Amt tätig, ehe er den Posten als Vertreter Tunesiens bei den Vereinten Nationen in Genf übernahm. Zuletzt war er Sonderbeauftragter des UNGeneralsekretärs in der Demokratischen Republik Kongo. Mit seiner Ernennung wurde die Umstrukturierung der Leitung der Organisation abgeschlossen. Anfang des Jahres hatte der frühere niederländische Ministerpräsident Ruud Lubbers das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen angetreten, und Mary Ann Wyrsch, die damalige Leiterin der US-Einwanderungsund Einbürgerungsbehörde, war zur Stellvertretenden Hohen Flüchtlingskommissarin ernannt worden. B

Flüchtlingsweltmeisterschaft COPYRIGHT

Pavarotti „and friends„ beim jährlichen Konzert in Modena, bei dem 1,8 Millionen Euro für afghanische Flüchtlingskinder in Pakistan eingenommen wurden.

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Die somalischen Gewinner der ersten Fußballweltmeisterschaft von Flüchtlingen.

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ie Veranstaltung war als die wahrscheinlich erste Fußballweltmeisterschaft von Flüchtlingen angekündigt. 14 Flüchtlings-Mannschaften aus Ländern wie Afghanistan, Somalia, Sri Lanka, dem Sudan und Äthiopien nahmen an dem achtwöchigen Turnier in London teil. „Fußball kann auf bewundernswerte Weise Grenzen überwinden“, sagt John Barnes, einer der bekanntesten Fußballspieler Englands und einer der Schirmherren des sportlichen Wettkampfs. „Ich habe auf Auslandsreisen gesehen, wie Fußball dazu beitragen kann, Straßenkindern und ehemaligen Kindersoldaten ein Selbstwertgefühl zu vermitteln.“ Einige der Mannschaften werden jetzt ständig in örtlichen Ligen spielen können. Im Finale schlug das Team Somalias im Elfmeterschießen die Angolaner mit 4:3. Zahlreiche Fernsehsender einschließlich BBC und CNN berichteten ausführlich über das Spiel. B

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ERLESENES

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CARTOON: REPRODUCED WITH PERMISSION

Ein entwurzelter Serbe aus dem Kosovo, der in einer Sammelunterkunft in Serbien lebt.

FFF „Zuerst hatte ich das Gefühl, alles um mich herum würde sich drehen. Aber dann sah ich den Himmel und die Sonne. Es war wunderbar.“ Die Reaktion einer älteren Frau aus dem Kosovo, die nach einem Jahr zum ersten Mal ihre verdunkelte Wohnung verlassen hatte.

FFF „Je länger sie warten, desto mehr verlieren sie. Mehr und mehr Menschen haben sich entschlossen, diese letzte Chance zu nutzen.“ Ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation in Bosnien über Flüchtlinge, die zurückkehren und ihr Wohneigentum wieder in Besitz nehmen möchten.

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„Die alte Geschichte von Gewalt und ,ethnischer Säuberung‘ auf dem Balkan ist noch nicht vorbei.“ Der jugoslawische Präsident Vojislav Kostunica kürzlich auf einem Gipfeltreffen

„Der Hai ist weg, aber es gibt immer noch einige Piranhas im Wasser.“ Der bosnische Außenminister Zlatko Lagumdzija, als er von der Auslieferung von Slobodan Milosevic nach Den Haag erfuhr.

FFF „Aus den Konflikten des letzten Jahrzehnts gibt es immer noch mehr als eine Million Vertriebene auf dem Balkan. Das Letzte, was die Region braucht, sind neue Flüchtlinge.“ Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen Ruud

Lubbers zum Konflikt in Mazedonien.

FFF „Es ist ein Tag, den wenige sich vorstellen konnten. Man wird sich daran erinnern – nicht, weil an diesem Tag Rache geübt, sondern weil der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Es ist ein Sieg der Rechenschaft über die Straflosigkeit.“ UN-Generalsekretär zur Auslieferung von Milosevic an den Internationalen Gerichtshof zur Verfolgung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien.

FFF „Wir sind zusammen hier eingerückt, wir werden auch zusammen abziehen.“ Der amerikanische Präsident George Bush bei einem Besuch im Kosovo zur Bekräftigung des anhaltenden militärischen US-Engagements in der Region.

„Wir wussten nicht, dass sie kamen, bis es an der Tür klopfte und sie vor uns standen.“ Eine Frau aus dem Kosovo zur Ankunft einer Familie, die vor den jüngsten Unruhen in Mazedonien geflohen war. Die mazedonische Familie hatte die Kosovaren aufgenommen, als diese vor zwei Jahren zu Flüchtlingen geworden waren.

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„Für uns endete an diesem Tag die Zeitrechnung.“ Eine Frau, die 22 männliche Familienangehörige verlor, bei den Feierlichkeiten zum Gedächtnis an das Massaker von Srebrenica in Bosnien, der schlimmsten Gräueltat in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

„Ein neues Jahrhundert hat begonnen, aber wir müssen offene Feuer anzünden wie die Indianer. Das Essen, das wir bekommen, werfen wir den Schweinen vor.“

„Wir sind das Rad, das nie quietscht.“ Ein Roma-Sprecher über den fehlenden Einfluss der RomaMinderheit auf die Politik.

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