ZWEI LÄNDER: Eine lange Geschichte

May 26, 2016 | Author: Rudolf Dittmar | Category: N/A
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1 3/2004 Sept/ Okt/Nov ZEITSCHRIFT DER AUSLÄNDERBEAUFTRAGTEN DES LANDES NIEDERSACHSEN H 5957 M E H R HEITEN MINDER ...

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Sept/ Okt/Nov

ZEITSCHRIFT DER AUSLÄNDERBEAUFTRAGTEN DES LANDES NIEDERSACHSEN

MEHR HEITEN

MINDER HEITEN

Z W E I L Ä NDER: Niedersachsen

Eine lange Geschichte

H 5957

Zwei Länder: Liebe Leserinnen, liebe Leser, der Titel dieses Heftes lautet „Zwei Länder: Eine lange Geschichte“. Da gibt es quer durch die Jahrhunderte viel zu erzählen. Eine lange Beziehung zwischen den heutigen Staaten Türkei und Deutschland. Lauter Begegnungen, möchte man meinen – auf der politischen wie wirtschaftlichen Ebene, in Kunst, Kultur und Wissenschaft, im Aufeinandertreffen der Religionen, auch im heutigen Alltag der Menschen. Bloß: Wer oder was begegnet(e) sich da überhaupt? Und welche Bilder sind voneinander entstanden? Die ewig Gestrigen prophezeien den Untergang des Abendlandes, weil es vom Morgenland überwältigt werden wird. Auch wenn beide Bezeichnungen veraltet sind, diese Angst ist aktueller denn je. Die Lyrischen schwärmen von der kunstvollen Begegnung zwischen Orient und Okzident, die Sozialromantischen meinen, die Menschen gleich welcher Herkunft und Geschichte berührten einander. Es ist mitnichten so. Denn beide Länder haben jeweils ihre eigene verschlungene Geschichte und waren enormen Wandlungen unterworfen. An historischen Eckpunkten kann man wohl von gewissen Allianzen sprechen, vielleicht sogar von Begegnung – wenn auch nur zwischen den Eliten –, aber blieben die Menschen dabei nicht auf der Strecke? Ihr Beziehungsgeflecht ist heute komplizierter denn je, denn vielen fehlt das, was einen Menschen überhaupt erst beziehungsfähig macht: das Menschliche in der Gesellschaft.

Eine lange Geschichte Auf ein Wort Buchstaben im Kopf von Gabriele Erpenbeck ............................................................................3

Thema Politische und wirtschaftliche Begegnung: Nur in gewissen Kreisen von Klaus Schneiderheinze .......................................................................4 Von Menschen und Identitäten: Unheilvolles Spiel von Gazi Caglar ..........................................................................................7 Kultur und Wissenschaft: Zwischen Furcht und Faszination von Nico Sandfuchs..................................................................................10 Tausendundeine Angst: Muslime unter Generalverdacht von Taner Yüksel ......................................................................................12

Forum Kopftuchverbot: Voreilig und einseitig von Hamideh Mohagheghi .....................................................................14 Portrait: „Ich bin schon ein halber Ostfriese“ von Nigel Treblin ......................................................................................15 Holocaust: „Jeder muss das wissen“ von Joachim Göres ...................................................................................16 Trauma: Der Schrecken bleibt von Waltraut Wirtgen .............................................................................18 Nachrichten ..............................................................................................20 Medien zum Schwerpunktthema ...........................................................23

Impressum Herausgeberin/Verlegerin (ViSdP) und Redaktionsanschrift: Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport (MI) – Ausländerbeauftragte, Postfach 2 21, 30002 Hannover Produktion: Liza Yavsan, Tel. (05 11) 1 20-48 65, E-Mail: [email protected] Redaktion: Katerina M. Agsten, Swaantje Düsenberg, Gabriele Erpenbeck, Anette Hoppenrath, Dieter Schwulera, Liza Yavsan Titelfoto: Katerina M. Agsten Gestaltung: set-up design.print.media, Hannover · Druck: Sponholtz Druckerei GmbH & Co. KG, Hemmingen · Vertrieb: Lettershop Brendler GmbH, Laatzen Erscheinungsweise: jeweils Ende März, Juni, September, Dezember Bezugspreis: Die Zeitschrift kann gegen einen Kostenbeitrag (Einzelexemplar 2 € inkl. Versandkosten) bezogen werden. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin (wird gern erteilt). Alle Rechte vorbehalten. © Die Ausländerbeauftragte des Landes Niedersachsen. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung der Herausgeberin und der Redaktion wieder. Für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Materialien übernimmt die Redaktion keine Haftung; im Falle eines Abdrucks kann die Redaktion Kürzungen ohne Absprache vornehmen. Betrifft wird auf chlorfrei gebleichtem Material gedruckt. ISSN 0941-6447

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Auf ein Wort

Foto: Haubner

Erdem Ö. hat während seines Sommerurlaubs in der „Domi“ einen gehörigen Schreck bekommen, als er die aktuelle Schlagzeile der auch dort weit verbreiteten BILD las. Weg mit der „Schlechtschreibreform“, stand da, BILD kehre zur guten alten deutschen Schreibweise zurück. Wo kämen wir denn da hin, dachte Erdem in korrektem deutschem Konjunktiv empört, wenn sich eine Zeitung einfach über das Gesetz stellte?! Ja, leben wir denn in einer Bananenrepublik? Wieder zu Hause, hört er dann in der Tagesschau erleichtert: ARD und ZDF bleiben bei der neuen Rechtschreibung, nur BILD und ein paar andere Zeitungen scheren aus. Da atmet Erdem Ö. auf! Jetzt kann er beruhigt Deutscher werden. Das will er nämlich unbedingt, schon weil sich wieder mal gezeigt hat, dass die Einreise in die „Domi“ mit türkischem Pass viel länger dauert als bei den anderen. Obwohl er seine Reise doch auch bei TUI gebucht hatte. Übrigens war es für Erdem ziemlich aufwändig, alle für die Einbürgerung notwendigen Unterlagen zu besorgen. Aber jetzt ist Erdem soweit. Nur ausreichende Deutschkenntnisse muss er noch nachweisen. Kleiner Vortrag und vielleicht ein kurzes Diktat, fertig.

Das schreckt Erdem gar nicht – solange das nur bei der neuen Rechtschreibung bleibt. Seit seine Tochter Fatma 1998 eingeschult wurde, hat er mit ihr nämlich richtiges Deutsch gelernt. Vor allem richtig und flüssig schreiben und Fatma als Lehrerin. Die Tochter fand das cool. Sprechen und Schreiben – das waren damals für Erdem zwei Paar Schuhe. Reden ging ihm irgendwann leicht über die Lippen, aber das Schriftdeutsch! Wer brauchen ohne zu gebraucht, braucht brauchen gar nicht zu gebrauchen. Gar nicht wird gar nicht zusammengeschrieben. Adjektive vor Substantiven werden klein geschrieben, substantivierte Adjektive aber groß. Kommaregeln, Getrenntschreibung, Erdem schwirrte der Kopf. Und dann hat Fatma ihm auch noch was von alter und neuer Rechtschreibung erzählt. „Er ist“ bedeute was anderes als „er isst“, ganz falsch sei aber „er ißt“ (klingt doch alles gleich!), tolpatschig kriege ein zweites l und der Rolladen vor seinem Schaufenster im Geschäft sogar ein drittes, aufwendig schreibe man jetzt mit ä (wegen Aufwand), die Phantasie nun Fantasie (vielleicht weil das von Fanta kommt, meinte Fatma), ein ß werde zu ss (aber nur nach kurzem Vokal). Erdem hat sich das alles in seinen Kopf gepackt. Aber jetzt, wo die Deutschen sich wegen der Rechtschreibung streiten, kommt auch er ins Grübeln: Tut die Reform den Deutschen jetzt Leid – oder leid? Schmecken die Spagetti schlechter als Spaghetti? Und wo liegt das Problem bei der Schifffahrt? Allerdings findet er es auf den ersten Blick auch verwirrend, „gräulich“ zu lesen, da es sowohl von Grau als auch von Greuel

Quelle: Marcel Arand

Buchstaben im Kopf

kommen kann. Fatma hat für beides sowieso nur ein Wort: „uncool“. Erdem hat mal gelesen, dass fast 90 % der Deutschen nicht mehr alle Nachrichten der Tagesschau verstehen. Aha, denkt er und erinnert sich an eine Meldung von gestern zur Wettbewerbspolitik aus Brüssel. Was da berichtet wurde, findet Erdem gut: Jeder soll sich sein Auto in der EU dort kaufen können, wo es am günstigsten ist. Aber dann fiel irgendwie das Wort „Gruppenfreistellungsverordnung“ oder so ähnlich. Seitdem weiß Erdem, wie es den fast 90 % Nicht-Verstehern geht – auch wenn sie „Gruppenfreistellungsverordnung“ in einem Diktat wahrscheinlich fehlerfrei schreiben könnten. Gabriele Erpenbeck

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Thema: Eine lange Geschichte

Politische und wirtschaftliche Begegnung:

Nur in gewissen Kreisen Die deutsch-türkischen Beziehungen haben vor allem auf der politischen Ebene eine lange Geschichte. Sie lässt sich bis zu den Kreuzzügen zurückdatieren, als die Kreuzfahrer auf dem Weg durch Kleinasien auf seldschukische Türken trafen. Der Blick quer durch die Jahrhunderte zeigt, wie sich diese Beziehungen gestaltet und verändert haben.

Nach dem Sieg über die Muslime in Spanien und der Entdeckung Amerikas stieg Spanien zur Weltmacht auf. Im 16. Jahrhundert waren das spanischhabsburgische Reich Kaiser Karls V. und das Osmanische Reich unter Süleyman dem Prächtigen die beiden um die Vorherrschaft ringenden Weltmächte. Davon zunächst wenig betroffen war die Bevölkerung des Heiligen Römischen Reiches. Die erste Belagerung Wiens durch die Osmanen 1529 wirkte dann aber als Schock und Sensation. Während des ganzen 16. Jahrhunderts erschienen zahlreiche Flugblätter und Pamphlete, die immer wieder nachgedruckt wurden. So erhielt das Osmanische Reich nun auch im Weltbild der einfachen Leute einen Platz: als „Türkengefahr“, die schließlich zur Erhebung des so genannten „Türkenpfennigs“ führte. Mit dieser Sondersteuer sollten Abwehrmaßnahmen finanziert werden. Zur Zeit Kaiser Karls V. war Frankreich, das ebenfalls in dauernder Rivalität zu Spanien stand, der „natürliche“ Verbündete der Osmanen. Später kamen die protestantischen Staaten in West- und Nordeuropa hinzu, die zwar nicht in der direkten Interessensphäre des Osmanischen Reiches lagen, sich aber als protestantische Staaten in einem andauernden Konflikt mit den katholischen Habsburgern befanden. Das ebenfalls protestantische Preußen sah sich zusätzlich im Konflikt um den Einfluss im Reich.

Erster Freundschaftsvertrag

Nach der Thronbesteigung Friedrichs des Großen 1740 entstanden schnell Kriege mit dem habsburgischen Österreich. So verwundert es nicht, dass der preußische König diplomatische Kontakte zum Osmanischen Reich pflegte

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und eine osmanisch-preußische Allianz oder doch zumindest Unterstützung gegen die gemeinsamen Feinde Österreich und Russland erhoffte. 1761 wurde in Istanbul schließlich ein Freundschaftsvertrag unterzeichnet, dem ein militärisches Bündnis folgen sollte. Doch der Tod der russischen Zarin Katharina und des Großwesirs Ragib Pascha sowie das Ende des siebenjährigen Krieges vereitelten diese Pläne. Trotzdem wurde damals der Grundstein der preußisch-deutschen Beziehungen zum Osmanischen Reich gelegt. Die französische Revolution hatte die Idee der Nationalstaaten hervorgebracht. In deren Folge entstand auch in Griechenland eine Unabhängigkeitsbewegung, die sich gegen die osmanische Herrschaft richtete und von freiwilligen Philhellenen unterstützt wurde. Denn in ganz Europa begeisterten sich Gebildete für das antike Griechenland. Auch in Deutschland, vor allem in Bayern war man davon ergriffen. So erlangte Griechenland schließlich seine Unabhängigkeit vom osmanischen Reich durch die Unterstützung der europäischen Großmächte, die Otto von Bayern zum ersten griechischen König machten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts führte die andauernde militärische Schwäche des Osmanischen Reiches zusammen mit den Ansprüchen vor allem Russlands und Habsburgs zur „Orientalischen Frage“: Was soll mit dem „kranken Mann am Bosporus“, wie es schließlich hieß, geschehen? Diese Frage blieb bis zum Ende des Osmanischen Reiches ein Dauerbrenner der europäischen Politik. An den Ideen zu seiner Aufteilung, die dabei vor allem diskutiert wurden, hatte das aus zahllosen kleinen und kleinsten Herrschaftsgebilden bestehende Deutsche Reich allerdings keinen Anteil.

Quelle: Württembergische Landesbibliothek

Türken beim Mahl Holzschnitt, Ende 16. Jh.

Auch nach dem Ende des alten Deutschen Reiches durch Napoleon 1806 und der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress 1815 – der ersten europäischen Konferenz, an der auch Vertreter des Osmanischen Reiches teilnahmen – unterhielt allein Preußen, abgesehen vom habsburgischen Österreich der größte deutsche Staat, intensivere Beziehungen zur „Hohen Pforte“, dem Amtssitz des Großwesirs. So hatte Sultan Mahmud II. 1835 deutsche Militärberater unter Hellmuth von Moltke ins Land geholt, um das osmanische Heer zu modernisieren. Diese Zusammenarbeit wurde zur Tradition und blieb bis zum Ende des 1. Weltkrieges bestehen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde das Osmanische Reich für die deutschen Staaten, vor allem seit der Reichsgründung 1871 für das neue Deutsche Kaiserreich, auch wirtschaftlich interessant. Denn als späte Kolonialmacht hatte das Deutsche Reich nur noch ökonomisch zweitrangige Kolonien erobern können. Jetzt bot sich ihm die Chance, im Osmanischen Reich mit seiner großen Bevölkerung und seinen Ressourcen das wirtschaftliche Betäti-

staatliche Unabhängigkeit ihrer Völker kämpften. Neben anderen entstanden auch türkische Nationalbewegungen. Die stärkste dieser Gruppen – die Jungtürken – zwangen 1908 Sultan Abdülhamid II. durch eine Militärrevolte, die von ihm 1878 ausgesetzte Verfassung von 1876 wieder in Kraft zu setzen. 1909 scheiterte ein Putschversuch Abdülhamids, die Jungtürken setzten ihn ab und machten seinen Bruder zum Sultan Mehmet V. Dieser führte die Verfassung wieder ein. Die wahre Macht lag aber trotzdem nicht beim Parlament, sondern bei den jungtürkischen Offizieren. An den Beziehungen zum Deutschen Reich änderte sich dadurch nichts.

Unterschiedliche Interessen

In den 1. Weltkrieg trat das Osmanische Reich als Verbündeter Deutschlands und Österreich-Ungarns ein. Die Niederlage bedeutete das Ende der multiethnischen Reiche der Habsburger und der Osmanen. Im Unterschied zu Österreich, das als selbständiger Staat bestehen blieb, sollte ein türkischer Staat höchstens als „Rumpfstaat“ im Inneren Anatoliens entstehen. Der Rest Kleinasiens wurde in Einflusssphären der Siegermächte aufgeteilt. Überdies begann die griechische Regierung, die Gunst der Stunde nutzend, das westliche Kleinasien zu erobern, um die Idee eines Großgriechenlands zu realisieren. Da Deutschland zu den Kriegsverlierern gehörte, gab es nun keine Großmacht mehr, die das im Wesentlichen auf die

Foto: Yavsan

Traditionelle Zusammenarbeit

gungsfeld zu finden, das die eigenen Kolonien nicht boten. Auf der anderen Seite hatte der Sultan seinerseits Interesse an einem Verbündeten, der nicht an den Aufteilungsplänen beteiligt und deshalb nicht diskreditiert war. Außerdem konnte er so dem wirtschaftlichen Einfluss Großbritanniens Einhalt gebieten. Nach dem russisch-türkischen Krieg 1877/78, der russische Soldaten bis vor die Tore Istanbuls gebracht hatte, gelang es dem deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck, 1878 den Frieden auf dem Berliner Kongress zu verhandeln. Da alle Parteien einen zu großen Einfluss Russlands in Europa ablehnten, fielen die territorialen Einbußen nicht so groß aus, wie dies Russland dem Osmanischen Reich zuvor im Frieden von San Stefano diktiert hatte. Das Interesse Sultan Abdülhamids II. an Militärhilfe und Rüstungsgütern intensivierte die politischen und ökonomischen Beziehungen zum Deutschen Reich weiter. 1881 nahm eine deutsche Militärmission ihre Arbeit auf. Schon bald nach seiner Thronbesteigung fuhr Kaiser Wilhelm II. zu einem Staatsbesuch ins Osmanische Reich. In Damaskus erklärte er in einer pathetischen Rede die Freundschaft Deutschlands zur islamischen Welt. 1888 erhielt ein Konsortium deutscher Firmen die Konzession zum Bau einer Eisenbahnstrecke von Üsküdar nach Ankara. Weitere Bahnlinien folgten und im 1899 genehmigten Bau der Bagdadbahn fand das Interesse der deutschen Wirtschaft am Osmanischen Reich seinen Höhepunkt. Im Osmanischen Reich, wie Österreich-Ungarn ein Vielvölkerstaat mit ähnlichen inneren Problemen, entstanden nationale Bewegungen, die für die Autonomie und schließlich die

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Thema

heutige Türkei reduzierte Osmanische Reich unterstützten konnte. Zudem war es auf Befehl der jungtürkischen Führung 1915 zum Völkermord an etwa einer Million Armeniern gekommen, denen sie pauschal die Unterstützung Russlands – des Kriegsgegners im Osten Kleinasiens – unterstellt hatten. Nach Massakern in Städten und Dörfern wurden die Überlebenden zu Fuß in die syrische und irakische Wüste getrieben, wobei die meisten starben. Nach der Niederlage flohen die jungtürkischen Führer, zum Teil nach Deutschland.

ten verschiedener Professionen machten die Türkei nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten schnell zu einem Zufluchtsort für deutsche Flüchtlinge, unter ihnen viele Ingenieure, Architekten und Ärzte. Zudem existierte vor allem in Istanbul bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts eine deutsche Kolonie, sodass die Flüchtlinge nicht vollkommen auf sich gestellt waren. Da aber die nationalsozialistische deutsche Regierung um die Türkei als Verbündete warb, zudem die Auslieferung mancher Emigranten verlangte und auch einige in der türkischen Elite nach Atatürks Tod durchaus mit dem Dritten Reich sympathisierten, blieb die Situation der Flüchtlinge nicht wirklich sicher. Während des 2. Weltkrieges blieb die Türkei trotz Drängen beider Seiten neutral bzw. erklärte Deutschland erst am 23. Februar 1945 den Krieg, als dieser bereits entschieden war. Nach Abkommen mit Italien (1955), Griechenland (1960) und Spanien (1960) schloss die Bundesregierung 1961 auch mit der Türkei ein Abkommen über die Anwerbung von Arbeitskräften. Von etwa drei Millionen türkischen Arbeitnehmern, die nach Deutschland kamen, kehrten rund zwei Millionen wie geplant zurück. Die übrigen holten meist Frau und Kinder nach. Während Türken nach dem Anwerbestopp 1973 vor allem im Zuge der Familienzusammenführung nach Deutschland einreisten, kamen nach dem Militärputsch in der Türkei 1980 jedes Jahr Zehntausende als politische Flüchtlinge.

Zufluchtsort

Nach der Gründung des türkischen Nationalstaats 1923 durch Mustafa Kemal, der sich später den Beinamen Atatürk, „Vater der Türken“, gab, wurden vor allem die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei langsam wieder reaktiviert. Dies und der Bedarf der Türkei an Fachleu-

Foto: Yavsan

Historischer Wandel

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Das Bild, das Deutsche und Türken voneinander haben, ist wie alles dem historischen Wandel unterworfen. Vor 100 Jahren war dieses Bild positiv besetzt, der direkte Kontakt auf einen kleinen Personenkreis – deutsche Offiziere, Vertreter aus Wirtschaft und Politik sowie türkische Militärs, Studenten und Auszubildende – beschränkt. Im deutschen Kaiserreich galten die Türken als „Preußen des Orients“. Den Osmanen wiederum galt das Deutsche Reich als reellerer Partner als England, Frankreich oder gar Russland, da es keine offenen imperialistischen oder kolonialistischen Ziele verfolgte. Die Türkische Republik

wurde in den 20er und 30er Jahren in Deutschland als Beispiel für die Modernisierung und Europäisierung mit Interesse beobachtet. Heute ist das gegenseitige Bild nicht mehr so uneingeschränkt positiv, allerdings sind die Kontakte auch wesentlich zahlreicher, komplexer und intensiver. Heute leben rund zwei Millionen Türken in Deutschland, außerdem etwa eine halbe Million eingebürgerter Türken. Sie sind zu einem festen Bestandteil der deutschen Gesellschaft geworden. Gleichzeitig ist die Türkei heute für Millionen Deutsche ein wichtiges Urlaubsziel. Die komplizierten Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei, zwischen Deutschen und Türken spiegeln sich auch in der Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei. Sie bewegt sich hier wie dort zwischen wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen auf der einen Seite und der Instrumentalisierung im Wahlkampf auf der anderen Seite. Dabei sind die Voraussetzungen und Hindernisse einer EU-Mitgliedschaft der Türkei nicht beliebig, wenn sie auch in der Öffentlichkeit selten genau benannt werden. Der türkische Antrag auf Vollmitgliedschaft 1987 musste scheitern, weil viele Voraussetzungen nicht erfüllt waren. Nach der Zollunion mit der EU 1995 hat die Türkei jedoch zahlreiche Gesetze der EU-Gesetzgebung angepasst und auch die stets geforderten Verbesserungen in der Frage der Menschenrechte vorgenommen. So wird ihre Mitgliedschaft trotz aller Rhetorik vom „christlichen Europa“ vielleicht nicht mehr an der Türkei, sondern eher an den Problemen der Europäischen Union, den Zusammenschluss von jetzt 25 Staaten als ein politisch und administratorisch funktionierendes Gebilde zu erhalten, scheitern. Klaus Schneiderheinze Historiker, Duisburg

Von Menschen und Identitäten:

Foto: Agsten

Unheilvolles Spiel

Wir sagen: Menschen „beider Länder“ begegnen sich. Aber tun sie das wirklich? Ist der Unterschied zwischen den Formulierungen „Menschen beider Länder“ und „beide Länder des Menschen“ also bloß der sekundäre eines Sprachspiels? Ich denke nicht. Denn er bringt alle Ambivalenzen auf den Punkt, die in den Begegnungen von „Türken“ und „Deutschen“ ihr zumeist unheilvolles Spiel treiben. Hier ist bewusst die Rede von „Türken“ und „Deutschen“ in der männlichen Form. Denn am Anfang waren in dieser wie jener Nation zunächst nur besitzende und mächtige Männer eingeschlossen. Die „Nation“ ist also ursprünglich ein Männerprojekt. Von Deutschland und der Türkei „Länder des Menschen“ zu sagen, ist aus historischen wie aktuellen Gründen fast eine Unmöglichkeit, denn in ihnen sind und waren Menschen nicht gleich – und nicht gleich frei. Die Formulierung „Menschen bei-

der Länder“ hingegen bringt klar zum Ausdruck, dass die Menschen auch in der heutigen Moderne den Ländern gehören und nicht umgekehrt. Als Zugehörige heißen sie dann „Deutsche“ und „Türken“. Begegnungen zwischen „den Deutschen“ und „den Türken“ sind nicht so alt, wie Geschichtsschreiber oft unterstellen. Zwar meinten die Generäle, Berater und Geschäftemacher (zunächst aus deutschen Landen und später aus dem Deutschen Kaiserreich), die sich im Osmanischen Reich aufhielten, sie würden „Türken“ begegnen – tatsächlich begegneten sie aber Osmanen und vielen religiösen Identitäten. Denn das Osmanische Reich war in Europa schon längst „die Türkei“, bevor diese sich als solche auf dessen Trümmerhaufen überhaupt gründete.

„Die Türken“…

… entstanden gemeinsam mit der türkisch-nationalen Bewegung – und zwar gemeinsam mit einer neu geschriebenen „Geschichte“, die sich grundsätzlich von der osmanischen Hofgeschich-

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Thema

te unterscheidet, mit einer „Sprache“, die trotz eifriger Arbeit von Sprachsäuberern bis heute nicht von persischen, arabischen und sonstigen Sprachen „gereinigt“ werden konnte, und mit einer „Kultur“, die ewig neu definiert wird, weil bisher kaum jemand sagen kann, was „die türkische Kultur“ überhaupt ist. Auf der Seite der Deutschen sieht das nicht viel anders aus: Sie sind nur einige Jahrzehnte vor den Türken zu „den Deutschen“ geworden. Auch sie sind gemeinsam mit der deutschen Nationalbewegung, ihren Dichtern und Sprachvereinheitlichern, vor allem aber mit dem „eisernen Kanzler“ Bismarck und den preußischen Tugenden entstanden. Auch ihre Geschichte wurde bis heute immer wieder neu geschrieben.

Zwei geschichtliche Szenen …

… intensiver Begegnung zwischen Türken und Deutschen zeigen, wie die Deutschlandbilder und Türkeibilder bis zum Beginn der Anwerbung massenhafter anatolischer Arbeitskräfte entstanden sind. Beide Bilder stammen im wesentlichen aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Da ist das Bild der „deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft“ aus dem Ersten Weltkrieg, aus deren Niederlage die Türkei entstanden ist. Die Fraktion unter Führung Mustafa Kemals, die die Türkei gründete, hatte nicht gera-

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de ein gutes Bild von dieser Waffenbrüderschaft – obwohl (oder vielleicht gerade weil) Kemal selbst unter einem deutschen General gedient hatte. In manchen Texten des später Atatürk genannten Mustafa Kemals schneiden die Deutschen gar nicht gut ab. Denn gerade ihre auch militärisch bestimmende Rolle wird für die Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg verantwortlich gemacht. Das zweite Bild vermittelten die osmanischen sozialistischen Studenten aus dem Deutschland der Revolutionszeit am Ende des Ersten Weltkrieges: Das Bild der Revolution, die endlich menschliche Verhältnisse auf Erden einrichten sollte, und ihrer Urahnen Marx, Engels, Bebel, Liebknecht und Rosa Luxemburg. Beide Bilder beeinflussen die deutsch-türkischen Beziehungen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und darüber hinaus. Dass die Türkei trotz einer starken nazifreundlichen Fraktion nicht auf der Seite Deutschlands am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hat, hat mit beiden Bildern, vor allem aber mit dem ersten viel zu tun.

Türkisch-deutsche Begegnungen …

… bleiben also bis zum Beginn der Einwanderung anatolischer Arbeitskräfte vor allem militärische, politisch-diplomatische, geschäftliche und in geringerem Ausmaß studentische Begegnungen. Dann aber kommen massenhaft Türken, Kurden und andere aus den verschiedenen Gebieten Anatoliens. Vor allem Männer. Sie werden als vorübergehende „Gastarbeiter“ möglichst so ausgesondert, dass sich Begegnungen unerwünschter Art mit Deutschen gar nicht erst ergeben sollen und können. Als „Gastarbeiter“ sind sie offiziell willkommen, wenngleich schon damals deutschnationale Kräfte gegen ihre Existenz agitieren. Vor allem der Zypernkrieg, der in Deutschland gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den in „Heimen“ zusammengepferchten Türken und Griechen auslöst, aktualisiert das aus der Zeit der Gründung Griechenlands stammende Klischee von der „türkisch-griechischen Feindschaft“ in den Augen der Deutschen. Natürlich wird jedem Türken spätestens nach ein paar Minuten der Begegnung die Frage

gestellt, wie er es denn mit den Griechen halte. Hauptsächlich ihre ökonomisch schlechte Position in Deutschland, gemeinsam mit dem Militärputsch in der Türkei, bestimmen später lange Zeit das „Türkenbild“, das sich mit der Entdeckung der Türkei als billiges touristisches Ziel teilweise relativierte. Der Familienzuzug versetzt nur unter anderen ökonomischen Bedingungen mögliche Großfamilien nach Deutschland, so dass sich bis heute das Bild der „familienfreundlichen Türken“ hartnäckig erhält – obwohl die Scheidungsraten unter den Türken laut SPIEGEL inzwischen die der Deutschen übertroffen haben.

Alltäglicher Rassismus …

… ist es, der das Türkenbild in Deutschland bestimmt. Und alltäglicher reaktiver Ethnizismus, der das Deutschenbild unter den Türken bestimmt: Gegen „Knoblauchfresser“ stehen die „Kartoffelfresser“, gegen „Dönertürken“ die „Wurstdeutschen“ – obgleich tatsächliches Konsumverhalten etwas anderes zeigt. Auch Klischees folgender Art sind kaum mit empirischen Daten zu bekämpfen: „Die Türken nehmen den Deutschen Arbeitsplätze weg“ (tatsächlich ist ihre Arbeitslosigkeit fast um das Dreifache höher als die der Deutschen) – „Die Türken nehmen uns die deutschen Frauen weg“ (tatsächlich sind binationale Eheschließungen trotz des enormen Wachstums bisher immer noch selten) – „Die Türken schmarotzen am Sozialstaat“ (tatsächlich tragen sie enorm viel dem Bruttosozialprodukt bei) und so weiter und so fort. Insgesamt haben „die Türken“ in Deutschland aufgrund erfahrener rassistischer Klischees und Beziehungen ein schlechteres Deutschenbild als die Türken in der Türkei. Ebenso scheinen die Deutschen ein schlechteres Bild von den Türken in Deutschland zu haben als von denen, die sie in ihrem Billigurlaub in der Türkei sehen. Inzwischen gibt es mächtige Lobbys, die versuchen, das schlechte Türkenbild in Deutschland und Europa zu verbessern, vor allem um Aufnahme in die EU zu finden.

Wer aus Anatolien stammte …

… und seine Arbeitskraft nach Deutschland brachte, dem wohnte aber lange

Plakatwand Berlin

Foto: Agsten (2)

hangs. Sie versteht sich als fremd zu den entfremdenden, ein- und ausschließenden Identitäten und Verhältnissen und sieht ihre Heimat jenseits dessen. Für sie ist weder „das Deutsche“ noch „das Türkische“ wirklich menschlich. Sie will also weg von einer Welt der Fremde in eine Welt der wirklich menschlichen Heimat. Die ganze Welt ist ihr also eine noch zu vermenschlichende Heimat. Sie will das vom „Deutschen“ wie vom „Türkischen“ erfasste Menschliche hinüberretten. Ihr Projekt ist nicht bloß nur Zukunftsmelodie: Sie empfindet und lebt, soweit dies in einer Welt voller Identitäten möglich ist, bereits jetzt und hier in dieser Philosophie.

ein anderer Wunsch als die Anerkennung als Türke inne: „Ich will Mensch sein!“ Er formulierte so gut er eben konnte seinen Widerstand gegen das „Menschsein zweiter Klasse“. Damit begehrte er seinen Aufstieg vom zoon economicus zum zoon politicon. Denn der staatsbürgerlich definierte Deutsche stellte für ihn sozusagen das Idealbild des menschlichen Aufstiegs dar. Vom Standpunkt des modernen zoon economicus ist diese irrationale Sichtweise fast rational. Der Mensch wollte eingeschlossen werden, sozusagen eine neue Heimat „fühlen“ – wobei „Heimat“ ihm als Inbegriff seiner ökonomischen, sozialen und politischen Anerkennung galt.

Seit einiger Zeit …

… erleben wir einen allmählichen Wechsel der Perspektive, nachdem „dem Türken“ die staatsbürgerliche Gleichstellung dadurch versagt wurde, dass sie fest an das Kriterium der deutschen Staatsbürgerschaft gebunden wurde. Drei Tendenzen sind dabei zu beobachten:  Die auch zahlenmäßig weitaus stärkere regressiv-identitätsorientierte Tendenz kultiviert das „Türkische“, ohne wirklich angeben zu können, was das genau sein soll. Sie terrorisiert jegliche kritische Einstellung gegenüber dem „Türkischen“ und übt einen enormen

sozialen Identitätsdruck auf die Mitwelt aus.  Eine andere Variante dieser Tendenz klammert sich an die neu gewonnene „deutsche“ Identität mit fast gleicher Vehemenz, betrachtet alles Türkische als minderwertig, setzt sich von allem ab, was so erscheinen könnte, und betont vor allem den neu erworbenen, nicht einmal allzu realen Statusunterschied: „Ich finde die Türken blöd“, sagt eine Bankangestellte und ehemalige Türkin, die Neudeutsche geworden ist. Hier ist also die ganze Wucht des sich zum Paulus verwandelten Saulus zu beobachten. Die „Begegnungen“ zwischen den „Türken“ und „Neudeutschen“ sind ein besonders wertvolles Praxisfeld. Es zeigt, wie kleinkariert, engstirnig und zugleich tragikomisch Identitätskämpfe ausgetragen werden können.  Die progressiv Identitäten überschreitende Tendenz ist noch verschwindend klein. Aber ihre Stimme, die eine bisher kaum bekannte und daher fremd erscheinende Melodie summt, hören wir schon: Sie möchte sich von den gegebenen Identitäten loslösen, um eine menschliche zu entfalten. Sie definiert sich nicht als fremd, weil sie als „Türken“ in Deutschland als Fremde wahrgenommen wird. Vielmehr versteht sie auch die „Deutschen“ als Fremde eines mächtigen Entfremdungszusammen-

Wenn man also heute eine Bilanz der deutsch-türkischen „Begegnungen“ ziehen will: Menschen sind sich bisher noch nicht begegnet. Die deutsch-türkischen Beziehungen sind vielmehr ein Tummelplatz von Identitäten und Kulturen, Arbeitshierarchien und Unterwerfungsstrategien, Toleranzgebärden und echten Akzeptanzbemühungen sowie alltäglichen Übergriffen auf Leib und Seele. Menschliche Begegnungen bleiben also noch Prozess und Aufgabe in die Zukunft hinein.

Erst wenn sich der Mensch …

… als solcher gewinnt, also die humane Gestaltung überkommener unmenschlicher Verhältnisse dem „Deutschen“ wie dem „Türken“ ermöglicht, sich in Menschen zu verwandeln, werden „menschliche Begegnungen“ stattfinden. Sie müssen dann extra als solche nicht mehr betont werden. Ein Vorschein auf die menschlichen Begegnungen ist vielleicht in manchen raren Momenten türkisch-deutscher Liebesbeziehungen gegeben, wenngleich sie als „türkisch-deutsche“ voller identitätsterroristischer Reibungen im kleinsten Raum sind. Ein anderer, allerdings noch schwächerer ist dort zu erblicken, wo sich Menschen, Noch-Türken und Noch-Deutsche, um die Einrichtung humaner Verhältnisse bemühen. Prof. Dr. Gazi Caglar Politikwissenschaftler, Fakultät Soziale Arbeit der Fachhochschule Hildesheim

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Thema

Kultur und Wissenschaft:

Quelle: Staatliches Museum für Völkerkunde München, Fotoarchiv

Zwischen Furcht und Faszination Die heutigen Länder Türkei und Deutschland haben sich gegenseitig auf vielfältige Art in Wissenschaft und Kultur beeinflusst. Diese besondere Art ihrer nicht immer einfachen Beziehungen reicht bis ins 15. Jahrhundert zurück. Am Anfang stand dabei die Furcht vor den Osmanen, die sich nach der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 schier unaufhaltsam auch dem deutschsprachigen Raum näherten, bis sie 1529 schließlich vor Wien standen. Das Bild der kriegerischen und bedrohlichen „Türken“ schlug sich in der zeitgenössischen Dichtung deutlich nieder – im Werk des Nürnberger Meistersingers Hans Sachs (1494–1576) beispielsweise, wo schwangere Frauen niedergemetzelt und abgeschlagene Kinderköpfe auf Spieße gesteckt werden.

„Türkenmode“

Doch die Osmanen wurden keinesfalls ausschließlich als Bedrohung wahrgenommen, denn sie weckten auch ein hohes Maß an Bewunderung. Hierzu trugen

vor allem ihre kunsthandwerklichen Erzeugnisse bei, die als prachtvoll gestaltete Waffen, Schmuck und Gewänder schon recht bald ihren Weg an die deutschen Fürstenhöfe fanden – und dort eine regelrechte „Türkenmode“ auslösten. Bereits ab 1547 findet das Türkenmotiv bei Turnieren und Umzügen künstlerische Verwendung, und die reichhaltigen orientalischen Sammlungen zahlreicher deutscher Höfe zeugen noch heute von der Faszination, die vom osmanischen Handwerk ausging. Ihren Zenit erreichte die „Türkenmode“ schließlich im 18. Jahrhundert, als Friedrich der Große über seine Zeitgenossen bemerkte: „Datteln essen gehört zum guten Ton in Berlin, und die Gecken pflanzen sich einen Turban auf‘s Haupt.“

Transfer als Einbahnstraße Lehva, kalligrafische Komposition in Form eines Löwen; osmanisch, Ende 19. Jh.

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Doch der Kulturaustausch zwischen dem deutschsprachigen Raum und dem Osmanischen Reich verlief bis ins 19. Jahrhundert hinein recht eingleisig von Ost nach West. Dies änderte sich erst, als die Osmanen und das Wilhelminische Reich aus jeweils eigenem Kalkül gegen Ende des Jahrhunderts dazu übergingen, militärisch und wirtschaft-

„Wer hat wen beeinflusst?“, osmanisch, 18. Jh.

„Beste deutsche Uni“ in Istanbul

Stärker und vor allem nachhaltiger als die Nationalsozialisten dürfte in jenen Jahren jedoch ein weiterer Aspekt des deutschen Einflusses auf die türkische Bildung und Kultur gewirkt haben: die Emigranten. Unter den Wissenschaftlern, Künstlern und Intellektuellen, die ab 1933 Deutschland verlassen mussten, befanden sich zahlreiche Größen ihres Faches. Allein rund 80 Professoren flüchteten im Laufe der Jahre in die Türkei, wo sie beim Aufbau einer modernen westeuropäischen Hochschullehre Verwendung fanden. Die Mediziner Rudolf Nissen und Albert Eckstein, der Zoologe Curt Kosswig, die Wirtschaftswissenschaftler Alexander Rüstow und Fritz Neumark oder der berühmte Rechtswissenschaftler Ernst Eduard Hirsch sind nur einige Beispiele für die Kapazitäten, die in jenen Jahren an den Universitäten von Istanbul und Ankara unterrichteten. In vielen Fällen war ihre Arbeit grundlegend. Erwähnt seien hier nur die Philosophen Hans Reichenbach, ein Mitbegründer des „Wiener Kreises“, und Ernst von Aster, deren Tätigkeit die Rezeption moderner westlicher Philosophie in der Türkei entscheidend voranbrachte. Die Lehrbücher, die von Aster im Exil verfasste, finden noch heute an türkischen Universitäten Verwendung. Nicht ohne Ironie wurde in jenen Jahren in Emigrantenkreisen gewitzelt, in Istanbul befinde sich „die beste deutsche Universität“ überhaupt – was angesichts der hochkarätigen akademischen Abwanderung aus Nazideutschland vielleicht auch gar nicht sonderlich übertrieben war. Doch auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen wirkten die Emigranten: In der Musik beispielsweise der bahnbrechende Komponist Paul Hindemith, in der Architektur Clemens Holzmeister und Bruno Taut. Ernst Reuter, der legendäre spätere Bürgermeister von Berlin, war wie einige andere nicht nur als Hochschuldozent, sondern auch als Berater für die türkische Regierung tätig.

Das Ende der Einseitigkeit

Der kulturelle und später auch der wissenschaftliche Austausch zwischen der Türkei und Deutschland verlief durch

die Jahrhunderte vornehmlich einseitig. Zunächst, als das Osmanische Reich in voller Blüte stand, von Ost nach West; später aber, als es zum Spielball der europäischen Mächte geworden war, von West nach Ost. Auch die kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen der Bundesrepublik zur Türkei waren noch lange Zeit von dieser Einseitigkeit geprägt. So recht ändern sollte sich dies erst durch zwei Faktoren: Den deutschen Massentourismus in die Türkei und insbesondere durch die Nachkommen der „Gastarbeitergeneration“. Beides trug dazu bei, die Schlagseite in den kulturellen Beziehungen zu korrigieren und darüber hinaus den deutsch-türkischen Beziehungen, die immer auf einen kleinen und elitären Personenkreis beschränkt waren, eine wohltuende Breitenwirkung zu verschaffen. Völlig zu Recht führte der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder in diesem Zusammenhang kürzlich den deutsch-türkischen Regisseur Fatih Akin als jüngsten Beweis „für den kulturellen Reichtum, der aus dem Zusammenleben und der Zusammenarbeit von Menschen aus unseren beiden Kulturkreisen entstehen kann“, an. Nico Sandfuchs Turkologe, München

Quelle: Linden-Museum-Stuttgart (2)

lich in immer stärkerem Maße zusammenzuarbeiten. 1909 schließlich setzte sich auch in Deutschland die Erkenntnis durch, dass eine Kooperation im Bildungs- und Kultursektor für die Stärkung der politischen Interessengemeinschaft beider Länder ebenfalls von großem Wert sein kann. In Schwung kamen die deutschtürkischen Wissenschaftsbeziehungen aber erst 1916, als sich 20 Professoren auf den Weg nach Istanbul machten, um dort bei der Modernisierung der einzigen türkischen Universität (Darülfünûn) mitzuwirken. Zeitgleich erfolgte die massive Entsendung türkischer Schüler, Studenten und Lehrlinge zu Ausbildungszwecken nach Deutschland. Mit dem 1. Weltkrieg endeten auch diese Anfänge im Bildungstransfer nach kaum zwei Jahren – ohne richtig Fuß gefasst zu haben. Im kulturellen Sektor war man über die Planungsphase gar nicht erst hinausgekommen. So blieben Pläne für ein groß angelegtes deutschtürkisches „Freundschaftshaus“ in Istanbul, in dessen Vortragssälen auch die deutsche Kultur vermittelt werden sollte, weitestgehend Makulatur. Stärker noch als das Wilhelminische Reich erkannte später das nationalsozialistische Deutschland den Wert von Kultur- und Bildungsarbeit in der Türkei als ein Mittel der Propaganda und Sympathiewerbung. Recht deutlich wird dies in einer Rede, die anlässlich der feierlichen Übergabe einer bedeutenden Bücherspende an die Landwirtschaftliche Hochschule in Ankara, an der ausschließlich Deutsche lehrten, im Jahre 1934 gehalten wurde. Nicht ohne Hintergedanken bestand die Schenkung auch aus Büchern über deutsche Kultur und Geschichte, die „Kriegsschuldfrage“ und den Nationalsozialismus, „so dass diese Bibliothek auch in hohem Maße werbend für die deutsch-türkische Freundschaft und für den Ausbau der zwischenstaatlichen Beziehungen wirken dürfte.“ Auch die Betreuung der nicht wenigen türkischen Studenten, die trotz aller Umstände bis 1944 in Deutschland studierten, wurde unter ähnlichen Gesichtspunkten verstanden. Bildungsund Kulturvermittlung bedeutete hier immer auch die Propaganda für das „neue Deutschland“.

Brunneneinsatz, 16. Jh.

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Thema Tausendundeine Angst:

Muslime unter Generalverdacht Fremde Religionen faszinieren und beängstigen zugleich. Das geht Muslimen nicht anders als Christen – und Türken, sofern sie muslimisch sind, nicht anders als Deutschen, sofern sie dem christlichen Glauben angehören. Viele Islamwissenschaftler beschäftigen sich schon länger mit der Wahrnehmung dieser Religion in der Vergangenheit und Gegenwart. So weiß z. B. Silvia Kuske, die im Medienprojekt Tübinger Religionswissenschaftler mitgearbeitet hat: Gerade der Islam wurde im Laufe

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der Jahrhunderte Gegenstand von romantischer Verklärung wie von feindseliger Abgrenzung, die als Stereotypen das Islambild in der christlichen Welt oft bis heute prägen. Was hier als „der Islam“ bezeichnet wird, ist somit auch ein Produkt von interessengeleiteten Konstruktionen in verschiedenen Epochen und Kontexten. „Noch heute erweckt die Erwähnung von „Tausendundeiner Nacht“ Sehnsüchte und Fantasien“, schreibt die Akademie der Diözese RottenburgStuttgart, die sich auf einer Tagung mit dem „Islam zwischen Feindbild und Faszination“ beschäftigt hat. „Doch seit den 70er Jahren, mit Beginn der Ölkrise und der Islamischen Revolution im Iran dominiert zunehmend die Wahrnehmung vom Islam als Bedrohung für den Westen. Schlagwörter wie Tradition und Moderne, Religion und Ratio, Aufklärung und Rückschrittlichkeit als angeblich unüberbrückbare Gegensätze bestimmen häufig die Diskussion.“ Neue Nahrung hat die Debatte seit den entsätzlichen Terroranschlägen am 11. September 2001 und weiteren Gewalttaten im Namen „des Islam“ erhalten. In welcher Situation sich Muslime auch in Deutschland seitdem wiederfinden, beschreibt im Folgenden Taner Yüksel, der in Nienburg an der Weser lebt und bekennender Muslim ist: „Neulich hörte ich von unserer ehemaligen Nachbarin zur Rechten, dass unsere ehemalige Nachbarin zur Linken gemutmaßt habe, ich sei möglicherweise ein „Schläfer“. Also einer, der unauffällig konspirative Pläne schmiedet, plötzlich von einem harmlosen Mitmenschen zu einem gefährlichen, menschen- und lebensverachtenden Terroristen mutiert und in Selbstmordattentaten Unschuldige zu Dutzenden in den Tod reißt. Im ersten Augenblick war ich sprachlos und wusste solch eine Vermutung gar nicht zu entkräften. Denn alles, was ich nun täte, könnte gegen mich verwendet werden. Zwar würde den Menschen, die mich kennen, nur ein süffisantes Schmun-

je nach historischen Ereignissen mal so und mal anders ausfielen und mal mehr, mal weniger etwas mit dem Islam zu tun hatten: Wie hältst Du es mit dem Mordaufruf gegen Salman Rushdi, mit der Verschleierung oder Beschneidung von Frauen, mit der Teilnahme von Mädchen am gemischten Schwimmunterricht an Schulen, mit der Demokratie? Und nun: Wie hältst Du es mit dem Terrorismus? Ich kenne tatsächlich wenig Menschen, die auf diese Fragen mit einer angemessenen Darstellung ihrer Gedanken reagieren können, ohne sich dabei zu verzetteln. Da sollen plötzlich Gastarbeiter, sich im Reifeprozess befindende Schüler oder Hausfrauen und Arbeiter, deren Professionen allesamt nichts mit der Analyse solcher Themen zu tun haben, Antworten auf Fragen geben, die schwierig sind, an denen sie aber gemessen werden sollen. Dabei ist dies eine anspruchsvolle Aufgabe für Organe und Sprachrohre der Diplomatie, die sich eingehend mit diesen Fragen beschäftigen und als kulturelle Mittler fungieren können. Muslime in Deutschland sind jedoch noch weit davon entfernt, solche Mittler in ausreichender Anzahl vorhalten zu können. Diesbezüglich sehe ich im muslimischen Teil unserer Gesellschaft eine mit Stolz gepaarte Unbeholfenheit, die dazu verleitet, sich aus Selbstschutz stärker zu zeigen, als man in Wirklichkeit ist. Der Terrorismus und die Terrorismusdebatte schaden den Muslimen in Deutschland immens. Denn da wird eine Diskussion, die seit Beginn der Einwanderung und auch lange davor existierte, am Leben erhalten und mit neuem Stoff genährt. Es ist die Diskussion um „den Fremden“, der am Stadttor steht und um Einlass ersucht. Jahrzehntelange Integrationsbemühungen hatten dazu geführt, dass Muslime selbstverständlicher denn je durch dieses Tor schreiten konnten. Doch die Terrorismusdebatte droht nun, dem Zusammenleben ihre Natürlichkeit zu rauben. Aber Muslime, die um ein friedliches Zusammenleben bemüht waren und sind, dürfen sich jetzt weder von der einen noch der anderen Seite beirren las-

Foto: Agsten (2)

zeln über die Lippen gleiten, wenn sie das hörten. Aber dass mein Lächeln im Sinne analoger Kommunikation genauso als Freundlichkeit wie auch als ihr Gegenteil – nämlich hinterhältige Verschleierungstaktik – interpretiert werden könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Das Ergebnis gelungener Integration – und nur so kann ich mein Dasein als türkischstämmiger Muslim in Deutschland beschreiben – kann also in Zeiten misstrauischer Stimmung schon verdächtig sein. Dazu müssen Menschen nicht einmal an Angst vor Terror und Gewalt leiden. Es reicht oft schon allzu menschliches Verhalten, beispielsweise Abweisung, fehlende Offenheit oder Neid, um den anderen mit Argwohn zu betrachten. Die Gründe, das jeweils Schlechteste im anderen anzunehmen, sind genauso vielfältig wie die Gründe, warum so etwas auf offene Ohren stößt. Da entsteht ein bitterer Brei, in dem Selbstmordattentäter und kopftuchtragende Lehrerinnen, bärtige Gastarbeiter und fünfmal am Tag betende Mekkapilger gleichermaßen zu einer brodelnden Masse verschmolzen werden. Wo gestern über drei Millionen muslimische Migrantinnen und Migranten waren, die man in Frieden und Freiheit in eine Gesellschaft integrieren wollte, ist heute ein gefährliches Potenzial an offenbar unkontrollierbaren trojanischen Pferden, aus deren Bäuchen bei Nacht und Nebel Meuchelmörder hervorquellen könnten. Für Muslime in Deutschland ist sowohl der Terrorismus als auch die Terrorismusdebatte zu einem Minenfeld geworden, das unsere Gesellschaft auf dem Weg zu mehr Selbstverständlichkeit im Zusammenleben ausbremst. Denn als Muslim kommt man heute kaum mehr dazu, mit Nicht-Muslimen einen „normalen“ Dialog über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu führen – oder einfach eine Unterhaltung über den Duft herrlich süßen Schwarztees –, ohne in einen Zickzackkurs explosiver Themen zu geraten. Seit Beginn ihrer Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland waren Muslime gezwungen, sich über jeweilige Gretchenfragen zu äußern, die

Selimiye Camii, DITIB, Lehrte (Foto links und oben) sen. So wie das Kopftuchverbot für Lehrerinnen an öffentlichen Schulen heute als Prävention vor islamisch-politischer Beeinflussung von Kindern deklariert wird, so könnten in der jetzigen Stimmung das Beten, das Fasten und die Pilgerfahrt nach Mekka mit eben diesem Argument in Verdacht geraten. Denn ist nicht jede aktive religiöse Handlung, wovon es viele im Islam gibt, ein nach außen wirkendes Bekenntnis? Nach etwa 45 Jahren Einwanderungsgeschichte dürfen sich Muslime jedoch nicht schweigend in Generalverdacht bringen lassen, nur weil sie ihre Religion ausüben. Ich wünsche mir, dass ich in Anlehnung an einen Ausspruch des amtierenden Berliner Bürgermeisters einen Aufkleber auf mein Auto anbringen kann, ohne dass er falsch verstanden wird. Und darauf steht: „Ich bin Muslim und das ist gut so!“ Taner Yüksel Nienburg Weitere Informationen zum Thema unter: www.muslime-gegen-terror.de

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Forum: Kopftuchverbot

Voreilig und einseitig Landauf, landab wird diskutiert, ob muslimische Frauen in Deutschland im öffentlichen Dienst ein Kopftuch tragen dürfen. Hamideh Mohagheghi, selbst gläubige Muslima, sagt

Foto: Agsten

hier, wie sie diese Frage sieht.

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Der Spruch des Verfassungsgerichts über das Kopftuch der muslimischen Lehrerin in der Schule eröffnete eine lang anhaltende Debatte über das Thema. Das Urteil hob ein generelles Verbot auf und ermöglichte den Ländern, diesem eine gesetzliche Grundlage zu geben. Dafür sollte eine nachdrückliche Debatte bezüglich des gesellschaftlichen Wandels aufgrund der vielfältigen religiösen Prägungen geführt werden. Einige Bundesländer haben allerdings eilig Gesetzesentwürfe für ein Verbot vorgelegt, ohne die notwendigen und erwünschten Diskussionen und das Bemühen um Antworten auf die offenen Fragen abzuwarten. Das Kopftuch wurde als Symbol der Ungleichheit der Geschlechter und Unterdrückung der Frau und als ein politisches Symbol deklariert. Diese Beurteilung sollte begründen, dass eine Frau, die dieses Symbol trägt, nicht geeignet sei, in den Schuldienst aufgenommen zu werden. Sie verstöße mit ihrer Kleidung gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Menschenrechte und die freiheitlich-demokratischen Grundprinzipien der Bundesrepublik Deutschland. Sie gefährde den „Schulfrieden“ und stünde für einen politischen Islam, der aggressiv und gegen Demokratie und Menschenrechte sei. Als Lehrerin verkörpere sie den Staat, ihre Einstellung sei ein Verstoß gegen die Neutralitätspflicht des Staates. Diese politische und einseitige Betrachtung des Kopftuches entfachte emotional geführte Diskussionen, die eine objektive Behandlung des „Problems“ weiterhin erschweren. Das Kopftuch ist an erster Stelle religiös begründet, darin sind sich die muslimischen Gelehrten mehrheitlich einig. Im Qur‘an, dem Offenbarungsbuch der Muslime, gibt es zwei Stellen, die sich auf die Kleidung beziehen (Sure 24:30– 31 und Sure 33: 59). Aus diesen Stellen kann durch eine wörtliche Auslegung

eine verbindliche, uneingeschränkte religiöse Pflicht abgeleitet werden. Die Betrachtung der Verse im historischen Kontext kann aber auch zu einer Auslegung führen, die abhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation ist. Beide Auslegungsmethoden legitimieren unterschiedliche Kleidungsformen der muslimischen Frauen. Denn auch der Islam ist keine homogene Religion und muss in seiner Vielfalt wahrgenommen werden. Der Missbrauch der Kleidung der muslimischen Frauen für die Durchsetzung der patriachalen Willkür und Ausübung der machtpolitischen Herrschaft kann jedoch ein Verbot grundsätzlich nicht legitimieren. Die garantierte positive Religionsfreiheit im Grundgesetz gewährt die Ausübung der Religiosität auch in der Öffentlichkeit. Dieses Grundrecht gilt auch für die muslimischen Frauen, die sich freiwillig und aus eigener Überzeugung für diese Art Kleidung entschieden haben. Das Kollidieren dieses Grundrechts mit der negativen Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schülern sowie dem Erziehungsrecht der Eltern und dem Neutralitätsgebot des Staates erschweren eine klare rechtliche Position. Die voreilig beschlossenen Gesetze führen zu komplexen Rechtsstreitigkeiten und verursachen weitere Spaltungen in der Gesellschaft sowie auch Probleme bei der Integration der Muslime. Auch ein partielles Kopftuchverbot ist die Kehrseite des Kopftuchzwangs: in beiden Fällen werden die Frauen darin bevormundet, wie sie zu glauben und zu leben haben. Diese Bevormundung, ganz gleich in welchem Namen, ist für die bewusst Kopftuch tragenden muslimischen Frauen unbegreiflich und inakzeptabel. Auch sie haben das Recht, Freiheit und Emanzipation aus ihrem eigenen Verständnis heraus zu definieren und danach zu leben. Die reale Freiheit und Selbstbestimmung kann nicht in der Kleidung festgestellt werden, sie manifestiert sich in der Lebensweise. Und diese kann unterschiedliche religiöse und kulturelle Ausformungen haben, die in der Zeit der Globalisierung eng nebeneinander leben. Hamideh Mohagheghi Hannover

Forum: Portrait

„Ich bin schon ein halber Ostfriese“ Seit einem Jahrzehnt arbeitet Shevqet Proni nun als Busfahrer im schönen Ostfriesland. Um sich diese gesicherte Existenz aufFoto: privat

bauen zu können, hat der heute 36-jährige gebürtige Albaner in den letzten 15 Jahren viele Hürden überwunden. Weil Shevqet Proni keine Zukunft mehr in seinem Heimatland sah, floh er 1989 zusammen mit seiner schwangeren Frau aus dem Kosovo. Mit einem gefälschten Pass reiste er nach Deutschland ein und beantragte in Aurich Asyl. Schon zwei Jahre nach seiner Einreise zog er mit Frau und Tochter aus einer Zwei-Zimmer-Wohnung in ein Haus – zusammen mit seinen Eltern, die ein Jahr vor ihm aus dem Kosovo geflohen waren. Doch nach weiteren zwei Jahren fiel ihm zu Hause die Decke auf den Kopf. Ein Landsmann erzählte ihm dann von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme und so kümmerte sich Proni um einen Job. Bei der Kreisvolkshochschule schleppte er fortan Möbel, zerkleinerte Holz und reparierte Fahrräder. Eine Arbeitsgenehmigung erhielt Proni nicht, denn dafür war seine Anerkennung nötig. 1992 wurde er vom Bundesamt zur Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zum Interview gebeten, sein Asylantrag wurde jedoch schon wenig später abgelehnt. Aber Proni gab nicht auf und klagte gegen die Entscheidung. Gleichzeitig machte er ein Praktikum bei einem Großmarkt. Aber auch hier konnte er ohne eine Arbeitserlaubnis nicht auf eine dauerhafte Anstellung hoffen. So entschloss sich der Albaner,

einen Busführerschein zu machen. Damaliger Kostenpunkt: 5.000 DM. Den Führerschein in der Tasche, begann er ein Jahr später als Aushilfe bei einem Busunternehmen. „Nach drei Monaten hatte ich das Geld für die Fahrschule wieder raus“, sagt Proni. Als er dann im Februar 1994 doch seine Anerkennung erhielt, wurde er gleich fest angestellt. Mehrere Jahre kurvte er nun per Bus zahllose Fahrgäste quer durch Ostfriesland, verdiente gutes Geld und kaufte 1997 ein großzügiges Einfamilienhaus für sich, seine Frau und seine drei Töchter. Doch die Arbeitsbedingungen wurden härter. „Irgendwann habe ich gedacht, das geht so nicht weiter“, sagt der dreifache Familienvater. Er kündigte und stand zunächst auf der Straße. Dann heuerte er für ein knappes halbes Jahr bei Volkswagen in Emden an. Aber die Fließbandarbeit konnte ihn nicht überzeugen. „Das Geld war gut, aber ich wollte lieber mit Leuten zu tun haben“, erzählt er heute. 1998 wird Shevqet Proni eingebürgert. Wenig später findet er einen neuen Job in Oldenburg bei einem städtischen Busunternehmen. Jetzt sind seine Arbeitszeiten geregelt, das Leben planbar. Allerdings sitzt er nun jeden Tag zwei Stunden im Auto, um von Aurich

zum Arbeitsplatz nach Oldenburg und abends wieder nach Hause zu kommen. „Diese Fahrerei macht mir schon etwas zu schaffen“, gesteht der Vielfahrer. Trotzdem steht fest: nach 15 Jahren in Deutschland kann sich Shevqet Proni zurücklehnen. Er hat es geschafft. Seine drei Töchter, die jüngste 8, die älteste 14 Jahre alt, kommen in der Schule gut mit. Vor dem Haus steht ein gepflegtes Auto der Oberklasse. „Viele wundern sich über unser Haus und das Auto“, verrät er, „doch wer fleißig ist und etwas erreichen will, der schafft das auch.“ In Ostfriesland fühlt sich der gebürtige Albaner jedenfalls wohl und meint augenzwinkernd: „Ich bin schon ein halber Ostfriese.“ Nigel Treblin Student, Aurich

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Forum: Holocaust

„Jeder muss das wissen“ Auch in Niedersachsen geborene und aufgewachsene Kinder aus Migrantenfamilien interessieren sich sehr für die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands. Ein Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen zeigt, dass dieses Interesse sehr unterschiedliche Gründe hat.

Eigentlich könnte man folgende Haltung vermuten: „Mein Opa und mein Vater kommen aus der Türkei, die haben nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun gehabt. Warum soll ausgerechnet ich mich damit beschäftigen?“ Aber die Realität sieht anders aus. „Es spielt doch keine Rolle, woher meine Familie stammt. Das ist einfach ein wichtiges Thema, darüber sollte jeder Bescheid wissen“, meint der 13-jährige Sedat. Und sein Klassenkamerad Celal ergänzt: „Man darf den Holocaust nicht vergessen, damit er in Zukunft nicht noch mal geschieht.“ Sie sind Schüler einer 5. Klasse der Orientierungsstufe Westercelle und haben vor kurzem das nahe gelegene ehemalige KZ Bergen-Belsen besucht. Dort starben bis 1945 mehr als 70.000 Menschen. Jetzt sitzen die 13 Schüler, davon

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etwa die Hälfte mit nicht in Deutschland geborenen Eltern, in ihrem Klassenraum und besprechen mit Lehrerin Elisabeth Stratenschulte das Erlebte. „In der Ausstellung waren schlimme Bilder zu sehen, von Menschen kurz vor dem Hungertod. Damals mussten in Belsen die Häftlinge die Plumpsklos saubermachen und mit ihren Händen die Scheiße rausholen, dadurch sind sie krank geworden und später gestorben.“ Celal, dessen Klasse nicht gerade den besten Ruf an der Schule hat, erinnert sich an zahllose Details aus der Führung über das einstige Lagergelände. „So ruhig und konzentriert wie in Bergen-Belsen habe ich diese Klasse noch nie erlebt“, sagt seine Lehrerin. Sie ist überzeugt: beim Interesse am Thema Nationalsozialismus gibt es zwischen den Schülern, deren Familien seit Generationen in Deutschland leben, und denen, die zugezogen sind, keine Unterschiede. Zumindest die Vorbedingungen in ihrer Klasse scheinen aber unterschiedlich zu sein: drei Schüler waren schon vorher mit ihren Eltern in der Gedenkstätte, darunter kein Migrantenkind. Auch für Serkan und Celal war das Thema neu. Umso größer ist ihr Entsetzen über die Grausamkeiten. „Geschichte ist nicht so interessant, aber der Nationalsozialismus sehr“, auf diesen Nenner bringen es die kurdischstämmigen Kinder. Auch ihre Parallelklasse hat gerade die Gedenkstätte Bergen-Belsen besucht. Alle Schüler gleich welcher Herkunft erinnern sich besonders an die riesigen Massengräber, die Entlausungsstation, den Appellplatz und daran, dass die Häftlinge dort bei Wind und Wetter zehn Stunden und länger stramm stehen mussten. Das, was sie in Bergen-Belsen über den Nationalsozialismus erfahren haben, verbinden sie nun mit der Lebensgeschichte und den Erzählungen ihrer Eltern. „Meine Mutter kommt aus Russland. Die wurde nach dem Krieg in der Schule als Deutsche so komisch angeschaut“, erzählt Nicole. Und Yusuf sagt: „Ich interessiere mich mehr für deutsche als für türkische Geschichte. In der Türkei sind ja auch nicht so schlimme Dinge passiert.“ „Heute machen die Juden das so mit den Arabern. Zumindest so ähnlich“, glaubt Serine, deren Eltern aus Tunesien stammen.

Evin Ekinci ist 21 Jahre alt und hat gerade ihr Abitur am Wirtschaftsgymnasium bestanden. Sie ist in Celle geboren, ihre Eltern stammen aus der Türkei, sie selbst sieht sich als Kurdin und deutsche Staatsbürgerin. In BergenBelsen ist sie als Kind mit ihren Eltern gewesen. „Jetzt habe ich vor kurzem in Hamburg eine Demo von Neo-Nazis erlebt. Da musste ich wieder an die KZ-Massengräber denken und war wütend, dass es heute noch Nazis gibt.“ Die Menschen, die in den Konzentrationslagern starben, dürften nicht vergessen werden, betont sie. „Aber ich finde schrecklich, dass den Deutschen das bis heute nachgetragen wird. Wir können nichts für unsere Vorfahren. Und man weiß nicht, wie man damals selber reagiert hätte. Aber man darf Verbrechen damit natürlich auch nicht entschuldigen.“ Michael Bridgemans Hautfarbe ist dunkler als die seiner Mitschüler. Sein Vater ist ein schwarzer Engländer aus Trinidad, der als Soldat in Deutschland seine deutsche Frau kennenlernte. Michael besucht in Celle die 13. Klasse des Gymnasiums, Geschichte ist eines seiner Leistungsfächer. Als Zehnjähriger besuchte er mit seinen Eltern Bergen-

Belsen und war von den schrecklichen Bildern geschockt. Seitdem hat er viele Fragen gestellt, in der Schule, an seine Mutter, an die Mitschüler. „Ich wollte wissen, was ihre Großväter im Dritten Reich gemacht haben. Die haben als Soldaten gedient, nicht aus Überzeugung, sondern weil sie mussten. Und selbst wenn es anders gewesen wäre, könnten meine Freunde ja nichts dafür.“ Sein Interesse am Nationalsozialismus hat viel mit der eigenen Biografie zu tun: „Ich weiß, dass ich als Dunkelhäutiger von Neonazis einen rübergezogen kriegen kann, da muss ich mich mit ihren Wurzeln auseinandersetzen.“ Aber er glaubt nicht, dass so etwas wie damals noch mal möglich sein könnte. „Ich habe trotz der NS-Geschichte keine Distanz zu Deutschland. Es gibt Reps, aber die meisten Deutschen sind gegen sie. Ich werde für mein Vaterland den Wehrdienst leisten.“ Mit seinen Freunden ist er sich einig, dass in der Schule das Thema Nationalsozialismus eine zu große Rolle spielt. Die Geschichte des Geburtslandes seines Vaters hat ihn bislang nicht besonders bewegt – dabei sieht er durchaus Parallelen zur NS-Zeit: „Die Bewohner wurden von den Wei-

ßen versklavt und als minderwertige Rasse betrachtetet. Bei den Nazis war es noch schlimmer, denn sie sahen sich als Arier, die das Recht zur Herrschaft auch über andere Weiße für sich in Anspruch nahmen.“ Seiner Meinung nach müsste sich jeder mit dem Thema Nationalsozialismus auseinandersetzen, schließlich gebe es überall Neo-Nazis. Julius Krizsan führt seit 20 Jahren Gruppen über die Gedenkstätte Bergen-Belsen und war dort lange Leiter des pädagogischen Dienstes. „Manche Jugendliche haben gesagt: ‚Wir müssen uns mit dem Holocaust beschäftigen, denn das kann uns als Minderheit in Deutschland auch passieren.‘ Mir ist aber aufgefallen, dass gerade junge Russlanddeutsche die Verfolgung der eigenen Familie in der Sowjetunion betonen, was auch schon mal zu extremen Aussagen wie ‚Das hier in Belsen war doch gar nichts, unter Stalin haben die Menschen viel Schrecklicheres erlebt‘ führen kann“, sagt er. Der ehemalige Lehrer lehnt spezielle Führungen für Migrantenjugendliche ab, um sie nicht auszugrenzen. Beim Interesse am Thema Nationalsozialismus sieht er keine Unterschiede zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen. Warum es in der Gedenkstätte Bergen-Belsen allerdings Info-Broschüren in zehn verschiedenen Sprachen, aber weder in Türkisch noch in Kurdisch gibt, darauf fällt auch Krizsan keine Antwort ein. Joachim Göres Journalist, Celle

Quelle: Gedenkstätte Bergen-Belsen, Fotoarchiv (2)

Von Viola B. Georgi, Erziehungswissenschaftlerin und Soziologin, ist 2003 das Buch „Entliehene Erinnerung – Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland“ in der Hamburger Edition (ISBN 3-930908-89-1) erschienen. Darin wird erstmals die Bedeutung des Nationalsozialismus für in Deutschland aufgewachsene Kinder ausländischer Herkunft untersucht (s. auch S. 20).

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Foto: UNHCR

Der Schrecken bleibt Dr. Waltraut Wirtgen hat 1993 das Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer, REFUGIO München, mit gegründet und aufgebaut. Seitdem diagnostiziert und begutachtet die Ärztin für psychotherapeutische Medizin und Psychoanalyse dort traumatisierte Flüchtlinge und Folterüberlebende. Hier beschreibt sie, was diese Menschen so schwer belastet.

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Flüchtlinge in Deutschland sind Einzelpersonen und Familien mit zum Teil vielen Kindern, aber auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Sie kommen aus etwa 30 verschiedenen Ländern und sind Überlebende von Gewalt, die im gesellschaftspolitischen Kontext des jeweiligen Landes geschehen ist. Aber nur ein Bruchteil der Flüchtlinge weltweit kommt nach Europa und auch nach Deutschland. Der Anteil der Flüchtlinge, die an Traumafolgen leiden, wird in einzelnen Studien unterschiedlich angegeben: Kessler beschreibt in der größten amerikanischen Sammelstatistik (fast 6.000 Personen) die Häufigkeit von Posttraumatischen Belastungsstörungen bei „Krieg“ mit 38 %, Butollo spricht von 27–33 % bei „Kriegstraumatisierung“. Nach Vergewaltigung werden Zahlen zwischen 50 % (Flatten) und 55 % (Kessler) angegeben, nach Folter 87 % (Ferrada-Noli). Flatten spricht von 50–70 % Traumastörungen bei Flüchtlingen allgemein.

Drei traumatische Sequenzen

Etwa 1993, sehr viel später als in anderen Ländern, wurde auch in Deutschland zunehmend mehr beachtet, dass schwerwiegende Erlebnisse zu körperlichen, überwiegend aber zu seelischen traumabedingten Erkrankungen und Störungsbildern führen. Im Gegensatz zur Traumatisierung durch Großunfälle, Erdbeben u.ä. handelt es sich bei Flüchtlingen im allgemeinen um mehrere aufeinander folgende schwerwiegende Ereignisse. Sie erleiden ein kumulatives Trauma mit einem nicht endenden Prozess der Traumatisierung. Hans Keilson (1979, Studie zu jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden) unterscheidet mehrere traumatische Sequenzen, wie wir sie auch bei den heutigen Flüchtlingen finden: • die erste traumatische Sequenz als diejenige „… mit dem beginnenden Terror“, • die zweite traumatische Sequenz, „… die direkte Verfolgung“, • und die dritte traumatische Sequenz als die „Nachkriegsperiode“. Diese

Forum: Trauma

Situation in Deutschland

Ein traumatisierter Flüchtling darf nach § 54 AuslG nur so lange in Deutschland bleiben, wie er behandlungsbedürftig ist. Diese äußeren Bedingungen gefährden meiner Erfahrung nach jedoch seine Gesundung und können sogar zu einer weiteren Traumatisierung führen. Denn die Anerkennung des erlittenen Unrechts und der erlittenen Gewalt ist vorrangige Vorraussetzung für die Linderung seiner Beschwerden und die Möglichkeit, wieder Vertrauen in das Gute und in den eigenen Wert und Sinn zu finden. Dagegen fühlen sich traumatisierte Flüchtlinge, die z. B. als „unbegründet“ abgelehnt und zwangsweise abgeschoben werden, wieder einer Macht hilflos ausgeliefert. Ihr ursprüngliches Trauma wird wiederholt. Schon bei der Erstanhörung, kurz nach der Flucht, wird von Asylbewerbern erwartet, dass sie detailliert und widerspruchsfrei ihre Asylgründe darlegen. Aber gerade das können traumatisierte Flüchtlinge und Folterüberlebende nicht. Scham, Angst und die typischen Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD), insbesondere Vermeidung, Konzentrations- und Erinnerungsstörungen, stehen dem entgegen. Hinzu kommen weitere Rahmenbedingungen im Aufnahmeland, die traumatisierende Erinnerungen auslösen und zu einer weiteren Chronifizierung des Krankheitsbildes führen können. Dies sind z. B. • die Unterbringung in Sammelunterkünften mit häufigen Polizeirazzien, • am frühen Morgen das Abholen von Mitbewohnern zur Abschiebung, • das Arbeitsverbot, • die Anhörung beim Bundesamt, unter Umständen sogar die Fragen der Ärzte und Psychologen. Dies alles löst immer wieder aufs Neue die Erinnerungen an die Schrecken im Herkunftsland aus, an Bedrohung, Erniedrigung, Verhöre, Folter. Zu den traumabedingten Beschwerden kommen die Migrationsfolgen: die fremde Sprache und Kultur, die fehlende Integration, der tiefe Bruch in der Lebenslinie und die Aussichtslosigkeit, sich eine neue Existenz aufbauen zu

können. Die Flüchtlinge leiden an Sinnund Werteverlust, an Depression und fehlender Zukunftsperspektive. Besonders gravierend wirkt sich eine drohende Abschiebung aus. Für manche Betroffene steht fest, dass sie in ihr Herkunftsland, also aus ihrer Sicht zu den Tätern, nicht zurückkehren können. Sie ziehen den Suizid vor.

hen können, werden sie zu ihren eigenen Erlebnissen z. B. damit belastet, für die Familie sorgen und bei Ärzten und Behörden dolmetschen zu müssen. Zusätzlich leiden sie an der fehlenden emotionalen Zuwendung der Eltern, wenn diese selbst eingebunden sind in ihre eigenen Trauma-Erlebnisse. In vielen Fällen kommt es zu Entwicklungsstörungen und Entwicklungsstillstand.

Zum verrückt werden

Traumafolgen können sich z. B. in allgemeiner Übererregbarkeit und gleichzeitiger Gefühllosigkeit äußern. Unerträgliche Erlebnisse werden in Erinnerungsbildern und Alpträumen ständig und unwillkürlich wieder erinnert. Verschiedene Auslöser „triggern“ auch im Wachzustand plötzlich auftretende Erinnerungen an. Diese lösen oft mit dem Trauma verbundene Gefühle und Körperreaktionen aus, so als ob sich das schreckliche Ereignis gerade jetzt wiederholt. Diese Flashbacks sind häufig Symptome der Posttraumatischen Belastungsreaktion; andere Traumafolgen sind ausgeprägte Angst, Trauer, Depression sowie vielfältige psychosomatische Erkrankungen. Viele Betroffene befürchten, dass sie aufgrund ihrer Erinnerungsbilder, Alpträume, verstärkter Reizbarkeit und Gefühlsausbrüche „verrückt“ sind. Sie sind sich selbst fremd geworden und das hat verheerende Folgen, es macht Angst und isoliert. Von weit reichender Bedeutung ist auch, dass die traumatischen Erlebnisse für Flüchtlinge oft einen tiefgreifenden „Bruch“ in ihrer Lebenslinie bedeutet. Viele von ihnen hatten vor ihrer politischen Verfolgung in ihrem Heimatland darum gekämpft, einen guten Beruf zu erlernen. In ihrem jetzigen Lebensabschnitt besteht für sie unter den derzeitigen Umständen keine Möglichkeit mehr, sich eine Existenz aufzubauen. In vielen Fällen ist diese Erkenntnis über lange Zeit eine weitere Quelle für Grübeln, Sinnlosigkeit, Trauer und subakute und akute Suizidalität. Auch Kinder können selbst Opfer oder Zeuge von schweren traumatisierenden Erlebnissen sein. Sie haben oft neben nahen Angehörigen und Freunden alles, was ihnen bis dahin lieb und wert war, verloren. Wir wissen, dass auch Kinder unter „Überlebensschuld“ leiden können, besonders, wenn die übrige Familie ermordet wurde und sie die einzigen Überlebenden sind. Sofern sie mit ihren Eltern haben flie-

Begrenzte Behandlungsmöglichkeiten

Psychotraumatologen machen immer wieder deutlich, dass bei jedem erlittenen Trauma die frühzeitige Hilfe Priorität haben sollte – also der Schutz und die Sicherheit vor weiterem Schaden, wenn gewünscht, auch eine psychotherapeutische Behandlung. Viele Flüchtlinge und Folterüberlebende erhalten aber eine Psychotherapie (wenn überhaupt) oft viel zu spät, auch weil Dolmetscher fehlen. Sie könnte die Überlebenden jedoch dabei unterstützen, die eigene Lebenskraft zurück zu gewinnen, sich aus dem Schatten der Vergangenheit zu lösen und trotz der erlittenen Gewalt eine hoffnungsvolle Zukunftsperspektive zu entwickeln. Die Aufnahmeländer haben damit die Chance, Kindern und Eltern bei der Verarbeitung ihrer traumatischen Erfahrungen zu helfen. Möglicherweise schaffen sie es so zu einem späteren Zeitpunkt, freiwillig in ihr Herkunftsland zurück zu gehen. Dr. med. Waltraut Wirtgen wurde 2003 für ihr außergewöhnliches Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Sie hat diese Ehrung stellvertretend für alle Menschen, die im Bereich Flüchtlingsarbeit und Folteropfer tätig sind, angenommen. Foto: Agsten

ist für den weiteren Verlauf des Lebens und des Krankheitsgeschehens entscheidend.

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Nachrichten Studien

Bücher

Bestandsaufnahme

Offene Worte

Hamburg 2003, ISBN 3-930908-89-1 In der aktuellen Studie geht es um die Frage, welchen Einfluss Migration auf die eigenen historischen Erinnerungen hat. Jugendliche MigrantInnen müssen sich mit fremder, entliehener Geschichte, etwa dem Nationalsozialismus und dem Holocaust als historischem Erbe ihres Einwanderungslandes, auseinander setzen. Viola Georgis empirische Bestandsaufnahme antizipiert die demographische Entwicklung der deutschen Gesellschaft. Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH, Mittelweg 36, 20148 Hamburg, www.his-online.de

Berlin 2004, ISBN 3-89602-486-8

Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland

Zu Hause ist, wo ich verliebt bin – Ausländische Jugendliche in Deutschland erzählen

delle für gelungene Organisationslösungen vorgestellt. Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Nordrhein-Westfalen, 40190 Düsseldorf www.mgsff.nrw.de [email protected] Erinnerungen

gekommen und geblieben. Deutschtürkische Lebensgeschichten Hamburg 2003, ISBN 3-89684-048-7

Zehn Jahre danach

Irakisch-Kurdistan: Untergehen im sicheren Hafen

Frankfurt/M. 2002, ISBN 3-88864-334-1 In diesem Buch berichten 20 ausländische Jugendliche verschiedener Nationen offen über ihre Gefühle, Ängste und ehrgeizigen Träume. Sie sprechen über die Kopftuchfrage, Ausländerfeindlichkeit, Religion, Krieg und Politik. Katrin Panier zeigt ein spannendes Gegenwartsbild frei von Klischees. Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag GmbH, Kastanienallee 32, 10435 Berlin Telefon 030 44336300 [email protected] www.schwarzkopf-schwarzkopf.de Vor Ort gelungen

Integration der Zuwanderer. Handbuch für Kommunen – „Integrationsarbeit effektiv organisiert“

Die Studie ist das Ergebnis eines mehrjährigen Diskussionsprozesses des Vereins Haukari e. V. zu seiner Arbeit in Irakisch-Kurdistan und berichtet über die Situation der sozialen und politischen Verhältnisse in Irakisch-Kurdistan zehn Jahre nach dem zweiten Weltkrieg. Südost Verlags Service GmbH, Am Steinfeld 4, 94065 Waldkirchen, Telefon 08581 96050, service@südostverlags-service.de

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Düsseldorf, April 2004 Das Handbuch ist im Auftrag von Sozialministerin Fischer von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung erstellt worden und zeigt auf, wie Integration vor Ort organisiert wird. Die Empfehlungen des Handbuches beruhen auf Erkenntnissen aus Modellversuchen, Feldstudien und Interviews mit Praktikern. Anhand von ausgesuchten Praxisbeispielen werden Mo-

In elf Lebensgeschichten erinnern sich Arbeiterinnen und Arbeiter, Studenten, Kaufleute, Handwerker und politische Flüchtlinge an ihre Wurzeln in der Türkei, an harte Jahre in der Fremde, schleichende Gewöhnungsprozesse, aber auch an die Erfüllung mancher Lebensträume in der neuen Heimat. Edition KÖRBER-STIFTUNG, Kurt-A.Körber-Chaussee 10, 21033 Hamburg Telefon 040 72502827, [email protected], www.edition-koerber-stiftung.de Kritische Betrachtung

Der Kopftuch-Streit – Das Abendland und ein Quadratmeter Islam

Frankfurt/M. 2004, ISBN 3-86099-786-6 Wie unter einem Brennglas bündeln sich im Kopftuch-Streit gesellschaftliche Konflikte. Die muslimische Frau mit Tuch – eine Provokation auf mehren Ebenen. Staatliche Neutralität, Frauenbilder, „echte“ oder „falsche“

Nachrichten Toleranz, Integration, Religionsfreiheit, vieles gilt es zu überdenken. Heide Oestreich dokumentiert und diskutiert all diese Positionen gründlich und prüft kritisch deren Argumente. Das Buch spannt den Bogen vom Rechtsstreit der Lehrerin Ludin über die Gesetze der Bundesländer bis zu den Parteien, von den türkischen Vereinigungen und fundamentalistischen Organisationen bis zu den europäischen Nachbarn, von feministischen Positionen über sozialwissenschaftliche Studien bis hin zur multikulturellen Debatte. Brandes & Apsel Verlag GmbH, Scheidswaldstr. 33, 60385 Frankfurt/M. Telefon 069 95730186 [email protected] www.brandes-apsel-verlag.de

nen Band stellen Wissenschaftler die Grundpfeiler einer universitären Ausbildung von Lehrern für eine ethischreligiöse Erziehung von Muslimen an öffentlichen Schulen vor, die die Standards der etablierten Lehrerbildung erfüllt. Der Band entstand im Rahmen des Osnabrücker Projekts „Forum des Interreligiösen Dialogs“, einem internationalen universitären Netzwerk zur Erarbeitung von Grundpositionen einer dialogisch konzipierten Religionspädagogik für Muslime im Westen. V & R unipress GmbH, Robert-BoschBreite 6, 37079 Göttinge, Telefon 0551 5084333, Fax 0551 5084301 www.vr-unipress.de [email protected]

Zusammenhänge

Dokumentationen

IMIS-Beitrag 23. Migration – Integration – Bildung.Grundfragen und Problembereiche IMIS-Beitrag 24. Migrationsreport 2004: Fakten – Analysen – Perspektiven

Der Migrationsreport und der begleitende Band 23 beleuchten, was man über den Zusammenhang von Migration und Integration in Deutschland wissen kann, was als ungesichert gelten muss und worüber zu wenig Wissen vorliegt. Geboten werden allgemeine Einschätzungen und konkrete Bestandsaufnahmen zur Lage in einem widerwilligen Einwanderungsland. Seitenblicke auf Europa und auf die Diskussion im klassischen Einwanderungsland USA erlauben, national verengte Perspektiven an internationalen Erfahren zu brechen. Heft 23 der IMIS-Beiträge kann angefordert werden bei: Universität Osnabrück, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), 49069 Osnabrück Telefon 0541 9694384 [email protected] Dialogische Religionspädagogik

Der Islam im Westen – der Westen im Islam. Positionen zur religiösethischen Erziehung von Muslimen

Göttingen 2004, ISBN 3-89971-150-5 Der Islam ist in Deutschland, Europa und weltweit nach den Christen die zweitgrößte Religionsgemeinschaft. In dem von Peter Graf herausgegebe-

Vertiefter Dialog

Der lange Weg der Türken. 1500 Jahre türkische Kultur

Linden-Museum, Stuttgart 2003

Mit der gleichnamigen Ausstellung hat das Linden-Museum Stuttgart ein aktuelles Thema aufgegriffen: Gerade die Geschichte der Türken ist von Migration wie von soziokultureller und religiöser Vielfalt geprägt. Das Hauptanliegen der Ausstellung war die Vertiefung des deutsch-türkischen Dialogs, zu dem sie einen umfassenden Einblick in die Facetten der türkischen Geschichte geboten hat. Der vorliegende Katalog zur Ausstellung ist als Reader zur türkischen Kulturgeschichte angelegt und bringt reiche Bebilderung mit wissenschaftlich hochrangigen Beiträgen zusammen. Er entspricht der Gesamtkonzeption der

Ausstellung und will in allen Beiträgen die inspirative Kraft der Migration, Multireligiosität und Multikulturalität für die türkische Kunst und Kultur herausarbeiten. Dauerausstellung

Der neue Orient – Annäherung an eine Weltkultur

Die neue Orient-Dauerausstellung präsentiert, ausgehend von der Darstellung des Islams als Buchreligion, die verschiedenen Lebenswelten des islamischen Kulturraums – von den feudalen Stadtkulturen des Orients bis zu Beispielen bäuerlichen und nomadischen Lebens. Außerdem findet sich in der Ausstellung der originalgetreue Nachbau einer afghanischen Bazarstraße, die den Besucher auf eine kleine Reise ins Morgenland entführt. Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, 70174 Stuttgart Info-Telefon 0711 2022-456 [email protected] Migration und Gesundheit

Prämierte Arbeiten des BKK-Innovationspreises Gesundheit 2003

Frankfurt/M., 2004, ISBN 3-935964-26-9 Die Autorinnen von „Migration und Gesundheit“ analysieren die Unterschiede im Gesundheitszustand und der Inanspruchnahme von medizinischen und sozialen Leistungen zwischen Migranten und Deutschen. Das AutorInnenteam um Christina Reith beschreibt ein Nürnberger Modellprojekt, das die Kommunikation zwischen Schwangeren ausländischer Herkunft und medizinischem Fachpersonal verbessert. Angela Keller vergleicht die Inanspruchnahme medizinischer Versorgungs- und Vorsorgeleistungen unter Eltern von Kindern im einschulungspflichtigen Alter. Mit den Problemen von Arbeitsmigranten im Rentenalter beschäftigt sich Sandra Hinz. Mabuse-Verlag GmbH Kasseler Str. 1 a, 60486 Frankfurt/M. Telefon 069 70799613, Fax 069 704152 www.mabuse-verlag.de

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Nachrichten Konzept Mehr Gesundheit

Türkisch-muslimische Patienten in der Rehabilitationsklinik

MEDIAN Klinikum für Rehabilitation Bad Oeynhausen Das MEDIAN Klinikum richtete sich als erste Rehabilitationseinrichtung in Deutschland auf die Bedürfnisse der muslimischen Patienten ein. Ein neues Konzept berücksichtigt dabei in besonderer Weise den kulturellen Hintergrund der türkisch-muslimischen Patienten sowie deren religiösen Bedürfnisse. Es beinhaltet verschiedene Merkmale bezüglich der Versorgung und Betreuung und legt neben der ärztlichen und therapeutischen Versorgung auf die vier wichtigen Punkte „Verständigung, Ernährung, Riten und Scham“ in der Begegnung mit türkisch-muslimischen Patienten besonderen Wert. Informationen: MEDIAN Klinikum für Rehabilitation, Am Brinkkamp 15, 32545 Bad Oeynhausen, Telefon 05731 565-0, gl.badsalzufl[email protected], www.median-kliniken.de

Bildung Verbesserte Chancen

Mit Power zum Abschluss! Schulabschlusskurse für junge Migranten

15.9.2004 bis 23.7.2005 in der Akademie Klausenhof Gute Schulabschlüsse verbessern die Chancen für eine qualifizierte Berufsausbildung – ein wichtiger Schritt zur Integration jugendlicher Migranten. Die Akademie Klausenhof bietet die Möglichkeit, Schulabschlüsse nachzuholen und die unbedingt notwendige Ausbildungsreife zu erlangen. Informationen: Akademie Klausenhof, Klausenhofstr. 100, 46499 Hamminkeln Telefon 02852 89344 [email protected] Geschichte der Opfer

Informationen zur Gedenkstätte Bergen-Belsen

In der Lüneburger Heide erinnern auf dem Gelände des ehemaligen Kriegsgefangenen- und Konzentrationsla-

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gers Gräber und Mahnmale an das Leiden und Sterben der Häftlinge und Gefangenen. Das Dokumentationszentrum informiert über die Geschichte der Opfer und des Lagers. Die Internetseite der Landeszentrale für politische Bildung www.bergenbelsen.de weist auf u. a. aktuelle Veranstaltungen, Publikationen und Bildungsangebote hin.

Migrations-Atlas Die Ausländerbeauftragte des Landes Niedersachsen, Gabriele Erpenbeck, hat einen „Atlas“ zur Migrationsarbeit in Niedersachsen herausgegeben, in dem Anschriften von Beratungsstellen für Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten enthalten sind. Dieser Migrations-Atlas umfasst landesweit niedersächsische Beratungsstellen im Rahmen der Integrations- und Ausländersozialberatung und der Aussiedlerarbeit. „Mit diesem Verzeichnis soll die Arbeit der Beratungsstellen sinnvoll unterstützt werden. Wir haben intensiv recherchiert, einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt der Migrations-Atlas jedoch nicht. Gerade im ehrenamtlichen Bereich gibt es sicherlich noch weitere Beratungs- und Betreuungsangebote. Eine laufende Aktualisierung ist vorgesehen“, so Gabriele Erpenbeck. Der Migrations-Atlas kann im Internet unter www.mi.niedersachsen.de (unter Service/Publikationen) eingesehen und herunter geladen werden.

Erstmalig in der Bundesrepublik

Kontaktstudium für hoch qualifizierte Flüchtlinge an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Carl von Ossietzky Universität Oldenburg – Interdisziplinäres Zentrum für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen/Zentrum für wissenschaftliche Weiterbildung Eine umfassende empirische Studie des Interdisziplinären Zentrums für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen (IBKM) an der Universität Oldenburg aus dem Jahr

2003 hat ergeben, dass die berufliche Integration vieler Flüchtlinge in Niedersachsen weitgehend misslungen ist. Trotz hoher Bildungs- und Berufsabschlüsse, die die Migranten aus ihren Herkunftsstaaten mitgebracht haben, waren 65 % der befragten Flüchtlinge mit einem festen Aufenthaltsstatus in Niedersachsen ohne Arbeit. Das gilt auch für diejenigen Berufe, bei denen in Deutschland ein Mangel an entsprechenden Fachkräften herrscht. Der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt wird vor allem dadurch erschwert, dass die Gleichwertigkeit mitgebrachter Qualifikationen und Abschlüsse meist nicht anerkannt wird, dass die Betroffenen bei Qualifizierungsmaßnahmen häufig unberücksichtigt bleiben oder dass es an geeigneten Weiterbildungsangeboten für diese Gruppe der Zuwanderer mangelt. An dieser Stelle setzt dieses in Deutschland bislang einmalige Qualifizierungsangebot an. Es bietet den genannten Flüchtlingen die Möglichkeit, ihre Ressourcen und Qualifikationen so zu erweitern, dass ihre Chancen auf einen Arbeitsplatz nachhaltig verbessert werden. Das Kontaktstudium an der Carl von Ossietzky Universität richtet sich an anerkannte Flüchtlinge und jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion mit einer sozialwissenschaftlichen oder (sozial-)pädagogischen Grundausbildung. Wie die Studie gezeigt hat, haben nicht weniger als 18 % der befragten Einwanderer in Niedersachsen eine solche Qualifikation. Ziel des Studienangebots ist die Vermittlung von Fachwissen und Handlungskompetenzen in pädagogischen Berufsfeldern (z. B. Formen des Lehrens und Lernens in der Bundesrepublik, Ergebnisse der Spracherwerbsforschung, Grundsätze der interkulturellen Pädagogik). Dabei wird das Programm besonders an den mitgebrachten Qualifikationen und Erfahrungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer anknüpfen. Zu der Weiterbildungsmaßnahme, die am 1. Oktober 2004 beginnt und am 31. Mai 2005 endet, gehört ein 12wöchiges Praktikum, das einen Einblick in die Praxis einschlägiger Arbeitsbereiche vermitteln soll.

Medien zum Schwerpunktthema Die Seminare werden in Hannover durchgeführt. Der erfolgreiche Abschluss des Kontaktstudiums wird durch ein Zertifikat der Universität Oldenburg bescheinigt. Das Vorhaben wird als Modellprojekt aus dem Europäischen Flüchtlingsfonds finanziert. Leitung und Kontakt: Prof. Dr. Rolf Meinhardt Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fakultät 1, Pädagogik, IBKM Telefon 0441 798-2081 Telefax 0441 798-5821 E-Mail: rolf.meinhardt@uni-oldenburg. de

Lesetipps

Veröffentlichungen

Bozay, Kemal: Exil Türkei. Ein Forschungsbeitrag zur deutschsprachigen Emigration in der Türkei (1933–1945). Münster 2001

Veröffentlichungen des Ausländerbeauftragten des Senats von Berlin:

Berliner Brücken nach Europa – zum Beispiel Estland, Polen, Tschechische Republik, Ungarn

Die gemeinsam mit der Vertretung der Europäischen Kommission herausgegebene Broschüre stellt anhand der vier Länder die Bedeutung dar, die Berlin für die Beitrittsländer und für den EU-Erweiterungsprozess spielt. Die Autoren haben sich in den Berliner Migrantencommunities umgesehen und Stimmen zur EU-Erweiterung zusammengetragen.

Ukrainer in Berlin

In der Reihe „Miteinander leben in Berlin“ informiert die Veröffentlichung über in Berlin lebende Minderheiten, ihren Beitrag zu Geschichte und Gegenwart der Stadt. Die Autorinnen haben ein ganz eigenes Kapitel Berliner Stadtgeschichte erschlossen, stellen eine lebendige Community vor und zeigen auch, wie eng und vielfältig die Kontakte zwischen Spree und Dnipro sind – und entwickelt werden können. Beauftragter des Senats für Integration und Migration, Potsdamer Str. 65, 10785 Berlin, Telefon 030 9017-2357 oder 9017-2322, Fax 030 2625407 integrationsbeauftragter@auslb. verwalt-berlin.de

König, Karin: Zuflucht bei den Türken. Die wissenschaftliche deutschsprachige Emigration in der Türkei von 1935 bis 1945. in: Mittelweg 36. Heft 5 (1997)

ZWEI LÄNDER:

Eine lange Geschichte

Çırakman, Aslı: From the „Terror of the World“ to the „Sick Man of Europe“. European Images of Ottoman Empire and Society from the Sixteenth Century to the Nineteenth. New York 2002. Gencer, Mustafa: Bildungspolitik, Modernisierung und kulturelle Interaktion. Deutsch-türkische Beziehungen (1908-1918). Münster 2002 Neumark, Fritz: Zuflucht am Bosporus. Deutsche Gelehrte, Politiker und Künstler in der Emigration 1933–1953. Frankfurt/M. 1980 Schwartz, Philipp: Notgemeinschaft. Zur Emigration deutscher Wissenschaftler nach 1933 in die Türkei. Marburg 1995 Widmann, Horst: Exil und Bildungshilfe. Die deutschsprachige akademische Emigration in die Türkei nach 1933. Frankfurt/M. 1973 Haymatloz: Exil in der Türkei, 1933– 1945. Dokumentation einer Ausstellung des Vereins Aktives Museum und des Goethe-Instituts mit der Akademie der Künste, 8. Januar bis 20. Februar 2000. Berlin 2000. Im Lichte des Halbmonds: Das Abendland und der türkische Orient. [Staatliche Kunstsammlungen Dresden Albertinum, 20. August bis 12. November 1995]. Dresden 1995.

Kreiser, Klaus: Die Anfänge der deutsch-türkischen Hochschulbeziehungen. in: Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul (Hrsg.): Das Kaiserliche Palais in Istanbul und die deutsch-türkischen Beziehungen. Istanbul 1989 Zeitschrift für KulturAustausch, Jg. 47/ Heft 1–2 (1997): Schwerpunktthema Die Türkei und Deutschland: Schwieriger Dialog.

Interessante Links Zu den Themen Politik, Wirtschaft, Kultur, Stand der bilateralen Beziehungen, Reise- und Sicherheitshinweise, Einreisebestimmungen, Gesundheitshinweise u.v.m.: www.auswaertiges-amt.de/www/de/ laenderinfos/index.html die fontäne online, Archiv, Ausgabe Nr. 17: „Ein kurzer Einblick in die Geschichte deutsch-türkischer Beziehungen“ www.fontaene.de/archiv/nr-17/ deutsch-tuerkische-beziehungen01. htm Über die Kulturbeziehungen zwischen der Türkei und Deutschland: www.tcberlinbe.de/de/trde/ kulturbeziehungen.htm Zum Deutsch-Türkischen Dialog der Körber-Stiftung, Forum für Impulse www.stiftung.koerber.de/tuerkei/ Auf der Homepage weist der Verband binationaler Familien und Partnerschaften (iaf e.V.) auf bundesweit interessante Seminare, Fortbildungen und interkulturelle Veranstaltungen sowie auf interessante Themen wie z. B. Kopftuchverbot, Zuwanderungsgesetz usw. hin. www.verband-binationaler.de

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Be s s e re

Bildungschancen! Stiftung unterstützt Förderunterricht für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund!

Die Stiftung Mercator GmbH aus Essen möchte dazu beitragen, die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Deshalb unterstützt sie ab sofort im gesamten Bundesgebiet Projekte, • die sprachliche und fachliche Fähigkeiten von Schülern mit Migrationshintergrund durch systematischen außerschulischen Förderunterricht fördern. • bei denen Studierende (idealerweise Lehramtsstudierende) den Förderunterricht erteilen und sich damit für ihre spätere Berufstätigkeit zusätzlich qualifizieren.

Foto: EIZ

Die für jedes Projekt bereitgestellten Fördermittel betragen bis zu 180.000 Euro für einen Zeitraum von drei Jahren. Einzusetzen sind diese Mittel für die Honorare der studentischen Lehrkräfte. Bewerben können sich Universitäten, aber auch private oder öffentliche Institutionen, deren Projekte zusätzlich zu den oben genannten Voraussetzungen mindestens die folgenden Kriterien erfüllen: • Der Förderunterricht ist für die Schüler kostenlos. • Die wissenschaftliche Begleitung des Projekts und die pädagogische Betreuung der Lehrkräfte werden durch eine Universität sichergestellt. • Die organisatorischen Rahmenbedingungen (z. B. Projektleitung, Räumlichkeiten) sind erfüllt und werden aus Dritt- oder Eigenmitteln des Antragstellers finanziert.

Informationen:

www.stiftung-mercator.de

Stiftung Mercator GmbH Huyssenallee 44 D-45128 Essen Telefon 0201 2452254 Telefax 0201 2452222

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