Zeitschrift für die Religionslehre des Islam

December 22, 2017 | Author: Eike Ritter | Category: N/A
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1 Interdisziplinäres Zentrum für Islamische Religionslehre Zeitschrift für die Religionslehre des Islam Z...

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Interdisziplinäres Zentrum für Islamische Religionslehre

Zeitschrift für die Religionslehre des Islam

Inhalt

Harry Harun Behr

Harry Harun Behr: „Wir sind besser“............... Seite 1

„Wir sind besser“

Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff Zur Stellungnahme der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş e.V. (IGMG) gegen das Schulbuch Saphir.............. Seite 2

Der Fachkollege aus der Türkei hat es nicht wörtlich gesagt, aber so kam es an. Es ging in seinem Vortrag, kürzlich an einer bayerischen Universität, um das türkische Schulsystem. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit den religiösen Lehrplänen zu: Die türkischen Lehrpläne für den Islamunterricht seien gut, die deutschen nicht. Eine Lehrerin, die islamischen Unterricht in Bayern erteilt, rief dazwischen, was er denn damit meine. Antwort: Die türkischen Islamlehrpläne seien religiöser, die deutschen enthielten zu viel deutsche Kultur.

Amin Rochdi: „Two Jews, Three Options!“ Was kann man von einer jüdischen High School in Kalifornien für den Islamunterricht in Deutschland lernen?............................ Seite 26 Zu den Autoren · Impressum......................... Seite 31

Heft 5 • Aug. 2009 • 3. Jg.

Das lässt aufhorchen. Der Kulturbegriff des Kollegen wird hier nicht zur Debatte gestellt. Auch er weiß: Kultur, wir reden hier vom Unterricht an der öffentlichen Schule in Deutschland, hat nichts mit dem Unterschied zwischen türkischer Linsensuppe und deutscher Erb-

sensuppe zu tun. Regie führte hier wohl ein fundamentaler Unterschied darin, was als kulturelles Gut verstanden wird: Rechtsstaatlichkeit, Freiheitlichkeit und Demokratie sind Ausdruck der politischen Kultur und nicht nur Manifest des politischen Systems. Sie erfordern und bewirken eine bestimmte Lebensweise. Damit verbunden sind die Kultursphären des Rechts und der Bildung. Beiden liegt die Idee der Subjektfähigkeit des Menschen zu Grunde. Kultur im Rahmen heutiger Bildung und ihrer Institutionen zielt deshalb auf die Befähigung junger Menschen ab, das zivilgesellschaftliche Zusammenleben nach den oben genannten Kriterien mitzugestalten. Das berührt auch die Bildungsziele des Religionsunterrichts. In ihm finden kulturell gewachsene

ZRLI

Konventionen ihren Niederschlag, das Gespräch zwischen Religion und Gesellschaft zu führen: nachdenklich, weltoffen und kritisch. In Abwandlung Böckenfördes: Ja, die Religionen schaffen Voraussetzungen, von denen der Staat lebt, die er selber aber nicht schaffen kann. Aber: Sie entfalten sich in Deutschland unter Voraussetzungen, die sie selber nicht schaffen können. Nachzufragen wäre, wodurch sich nach Ansicht des Kollegen „deutsche“ von „türkischer“ Kultur unterscheidet. Oder hat er das am Ende gar nicht so gemeint? Missverständnisse sind alte Grenzgänger zwischen den Kulturen. Was heißt „Schwamm drüber!“ auf Türkisch?

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Harry Harun Behr

Ein Saphir mit Schliff Zur Stellungnahme der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş e.V. (IGMG) gegen das Schulbuch Saphir Sehr geehrte Damen und Herren der IGMG, werte Schwestern und Brüder, assālamu calaikum. Seit Mai 2009 findet sich auf Ihrer Homepage eine Stellungnahme zu Saphir 5/6 ([Saphir 2009], [IGMG 2009]). Als Mitherausgeber des Buchs werde ich in Ihrer Stellungnahme namentlich erwähnt und zitiert. Das gibt mir die Gelegenheit, mich persönlich dazu zu äußern. Ich habe Ihnen bereits im Rahmen meiner Frankfurter Vorlesung am 15. Juni geantwortet, zu der Sie eingeladen waren. Hier nun die schriftliche Version.

Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

1. Vorrede

Ich begrüße Ihre Stellungnahme. Ich meine das nicht ironisch. Sie haben einen Text veröffentlicht, der zweierlei leistet: Ich lerne Sie ein wenig besser kennen, und ich kann mich auf ihn beziehen. Mit Blick auf ein siebenseitiges, in türkischer Sprache gehaltenes Vorläuferdokument, das Ende 2008 über elektronische Verteiler in Umlauf geriet, war das schwieriger: Es wurde von internen Nutzern (Mitglieder muslimischer Elternvereine zum Beispiel), die sich auf Ihre Organisation beriefen, als vertraulich eingestuft ([Dokument a 2008]); ich kann das nunmehr ignorieren.

dass Sie das tun und hoffe, Ihnen mit dieser Vorausannahme nicht zu nahe zu treten. Natürlich freue ich mich, dass Sie meine Botschaft erreicht hat.

Ich interessiere mich nicht dafür, ob Sie intensiver als ich von den Organen des Verfassungsschutzes beobachtet werden. Ich erwähne das, weil bereits andere Erwiderungen auf Ihre Stellungnahme im Netz kursieren, die bei Ihnen eine rigoristische und integristische Agenda vermuten. Ich prüfe Ihre Kritik und erkläre sie nicht einfach deshalb für irrelevant, weil es sich bei Ihnen um die IGMG handelt. Dessen ungeachtet sind Sie aber keine anerkannte ReligionsgeIch habe zuletzt am 17. März 2009 meinschaft in dem Sinne, wie Sie das im Rahmen der Hohenheimer Taeingangs Ihrer Stellungnahme erörgungen zum Islamischen Religitern. Zwischen Ihnen und mir gibt es onsunterricht (siehe [Hohenheim zudem einige Unterschiede: Sie sind 2009]), und dort nicht zum ersten nicht mit der Erteilung konfessioMal, die islamischen Organisatinellen oder kundlichen Unterrichts onen zum kritischen Austausch und für Musliminnen und Muslime an zur Zusammenarbeit eingeladen. der öffentliche Schule betraut. Sie Aus Ihrer Stellungnahme geht nicht haben kein Mandat, muslimische ausdrücklich hervor, dass Sie sich Lehrerinnen und Lehrer auszubilexpressis verbis als eine Religionsgeden oder fortzubilden. Sie sind auch meinschaft verstehen. Ich denke aber, streng genommen nicht vom Fach,

weil Sie in den einschlägigen Fachzirkeln nicht präsent und auch nicht durch Publikationen zu den hier in Rede stehenden Themen in Erscheinung getreten sind. Sie haben auch bisher offenbar noch keine Anstrengung unternommen, ein Schulbuch herzustellen und es im Durchgang durch ein gutachterliches Genehmigungsverfahren auf seine Tauglichkeit hin prüfen zu lassen. All das blende ich aus Gründen des Takts aus. Jemand meinte, Ihre Stellungnahme klinge wie die Klage des Halbmondes, der nicht für voll genommen wird. Wie wir aber wissen, ist das manchmal nur eine Frage der Zeit. Vieles von dem, was Sie heute alles nicht sind, kann noch werden. Ich baue sogar darauf: In meiner oben erwähnten Frankfurter Vorlesung nahmen überraschend viele Studenten teil, einige von weit her angereist, in der Mehrheit Frauen, viele von ihnen gut betucht, und von denen wiederum nicht wenige, die Ihre Moscheen besuchen und aus Ihrem Jugendkader stammen. Kluge, fromme, weltoffen eingestell-

Seite  te junge Menschen, mit denen zu diskutieren eine wahre Freude war. Ich weiß nicht ob es Sie interessiert zu erfahren, dass bei den Studierenden Ihre Stellungnahme auf breite Ablehnung stieß. Ich möchte das nur erwähnen, weil von Ihnen niemand anwesend war. Ich denke so: Ihre Organisation steht, meiner Einschätzung nach, wie andere muslimische Interessenverbände auch vor einem Generationenwechsel, was die Kultur des Umgangs mit Religion in unserem Land angeht. Ich freue mich, dass Sie mir die Gelegenheit geben, dazu einen Beitrag zu leisten. Ich möchte Ihnen gegenüber auch meine Anerkennung für Ihre Aufbauarbeit für den Islam in Deutschland zum Ausdruck bringen und beziehe mich dabei vor allem auf die Jugendarbeit in Ihren Moscheen. In den Schulklassen, in denen ich bisher Islamischen Religionsunterricht erteilt habe, sitzen auch Schülerinnen und Schüler, die bevorzugt die Moscheen Ihrer Organisation frequentieren. Das liegt an dem Stadtviertel, in dem die Schule liegt. Sie bilden sich dort in ihrer Freizeit im Islam fort. Manchmal hält der Dialog mit jungen Muslimen interessante Herausforderungen bereit. Das liegt an dem Weltbild, das sie zum Besten geben: Die Deutschen seien Ungläubige, Christen kämen Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

in die Hölle, die Juden beherrschten die Welt, der Satan und Amerika steckten unter einer Decke, Schwule seien Tiere, die Demokratie sei am Ende, das Osmanische Kalifat habe den Weltfrieden gesichert… Alles, was jugendlicher Überschwang gepaart mit Halbwissen bereithält. Ich kann mir denken, dass Sie in Ihren Moscheen, so wie unsere Lehrerinnen und Lehrer in der Schule auch, alle Hände voll zu tun haben, derlei wieder einzufangen. Was mich an Ihrer Kritik an Saphir überzeugt, habe ich dem Verlag, dem Herausgeberteam und den Autorinnen und Autoren zur Abwägung zugeführt und nehme mich selbst in die Pflicht. Dass Sie mich namentlich und mit einem hingebogenen Zitat erwähnen, nehme ich Ihnen nicht übel. Das ist Ihnen aus Mangel an Bedacht passiert, und ich kläre das weiter unten. Worüber wir uns hier austauschen, wird uns und andere noch eine Weile beschäftigen. Es geht ja nicht nur um Saphir, sondern um das ganze Paket. Dazu gehört zum Beispiel der Lehrzuchtanspruch kirchenähnlicher Körper, die für ihre Anerkennung als Islamische Religionsgemeinschaft streiten. Bedenkenswert finde ich dabei, wie bereitwillig sich manche islamische Organisation eines reli-

Die unterschiedlichen muslimischen Bewertungen zu Saphir oszillieren deshalb zwischen der grundsätzlichen Ablehnung, der Ablehnung unter Vorbehalt, der grundsätzlichen Zustimmung oder der Zustimmung unter Vorbehalt.

gionsverfassungsrechtlichen Instrumentariums bedienen möchten, das aus dezidiert christlich-kirchlicher Kulturgeschichte in Deutschland erwachsen ist, andererseits aber monieren, islamische Schulbücher seien ihnen zu christlich und islamische Lehrpläne zu deutsch. Ich rede hier natürlich nicht von Ihnen, aber: An Saphir entfacht sich eben Grundsätzliches. Die unterschiedlichen muslimischen Bewertungen zu Saphir oszillieren deshalb zwischen der grundsätzlichen Ablehnung (IGMG 2009), der Ablehnung unter Vorbehalt, der grundsätzlichen Zustimmung oder der Zustimmung unter Vorbehalt (Ünal 2009, 180). Der gegenwärtig geführte Machtdiskurs um die Anerkennungsfrage tut sein Übriges (siehe dazu [Behr 2009 a]). Die fachwissenschaftlichen Beurteilungen von Saphir (zum Beispiel Leimgruber 2008) scheinen demgegenüber wieder auf anderen Ebenen angesiedelt zu sein.

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2. Zu meiner „Schule“

Bevor ich auf Details eingehe, die Saphir betreffen, möchte ich Ihnen vorstellen, welche Prinzipien für mich regelleitend sind. Das betrifft nicht nur meine Forschung und Lehre an der Hochschule, sondern auch meine Haltung als Person. Als Imam einer Moschee würde ich auch nicht anders können. Ich erwähne das, weil ich vor kurzem von Muslimen dort wo ich arbeite gefragt worden bin, ob ich neben meiner Professur in ihrer Moschee als Imam arbeiten würde. Eine Anfrage, die mich ehrt und im Herzen rührt, die ich aber aus zeitlichen Gründen ablehnen muss, vorerst jedenfalls. Ich gehe davon aus, dass Sie meine Publikationen mitverfolgen (falls nicht, siehe www.izir.de • Publikationen). Dann wird Ihnen auch klarer, warum ich manchmal, zugegeben nicht immer frei vom provokanten Impuls, die Dinge so sage wie ich sie sage. Von dritter Seite her ist in jüngerer Zeit öfter von der „Schule Behr“, der „Schule Harun“ oder der „Erlanger Schule“ die Rede. Dann wären meine Studentinnen und Studenten wohl als Angehörige der Haruniyya zu bezeichnen. Darauf verzichte ich gern, könnte das aber nur steuern, indem ich so eklatanten Unsinn produziere, dass selbst die Dümmsten von alleine Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

drauf kommen (und selbst dann wäre ich nicht vor Anhängerschaft gefeit, wie man an anderen Fällen sieht). Das mit dem Unsinn scheint aber glücklicherweise nicht der Fall zu sein. Wie ich die Dinge lehre, hat offenbar Hand und Fuß und bewährt sich vor allem in der Praxis. Aber ich mache auch Fehler. Sie vermuten in mir, deshalb taucht bei Ihnen mein Name auf, den spiritus rector hinter Saphir. In Wirklichkeit aber ist alles, was Ihnen aus Saphir entgegentritt, unter den Autorinnen und Autoren, der Herausgeberinnen und Herausgebern und dem Verlag eingehend diskutiert, oft kontrovers, am Ende aber gemeinsam verantwortet. Wussten Sie, dass es den Kösel Verlag schon gab, als die Türken in der Schlacht am Kahlenberg bei Wien am 12. September 1683 vernichtend geschlagen wurden? Hätten die damals geahnt, dass genau 325 Jahre später weit hinter Wien ein islamisches Buch in diesem Verlag erscheinen würde… Der Verlag und unser vorzüglicher schulbuchdidaktischer Berater, ein Kollege von mir, mischen sich nicht in die theologischen Fragen ein, helfen uns allerdings immer wieder mit klugen Rückfragen weiter. Es ist das eine, sich untereinander zu verständigen, und das andere, sich

Es ist das eine, sich untereinander zu verständigen, und das andere, sich Außenstehenden verständlich zu machen – eine Sache übrigens, die auch unsere muslimischen Schülerinnen und Schüler im islamischen Religionsunterricht einüben müssen.

Außenstehenden verständlich zu machen – eine Sache übrigens, die auch unsere muslimischen Schülerinnen und Schüler im islamischen Religionsunterricht einüben müssen. Was ich gleich hier erwähnen will: Ich bin vor einigen Jahren von besagtem Kollegen als muslimischer Mitautor eingeladen worden, an einem evangelischen Schulbuch mitzuarbeiten, damit dort eine authentische Binnenperspektive in der Darstellung des Islams zum Tragen kommt. Wir halten das bei Saphir auch so. Auf das Risiko des unbotmäßigen Übergriffs in das jeweils andere Deutungssystem weisen Sie ja in Ihrer Stellungnahme hin, und ich komme weiter unten darauf zurück. In unseren Teams gibt es keine Mehrheits- gegen Minderheitsvoten. Was sich fachwissenschaftlich oder fachdidaktisch nicht für alle zweifelsfrei erschließen lässt, wird verworfen. Dass dabei Fehler unterlaufen, steht hier nicht zur Debatte, ich bin beim Grundsätzlichen. Übrigens: Alle Autorinnen und Autoren sind, anders als Sie das darstellen, bis auf eine Ausnahme bekennende Musliminnen und Muslime. Ich selbst bekenne mich zum Schöpfer und zum gelebten Islam. Ich bezeuge: Kein Gott neben dem einen Gott, und ich bezeuge: Muhammad

Seite  ist Sein Gesandter. Die von verschiedener Seite unlängst in Umlauf gebrachte Nachricht, ich sei Christ, ehrt mich, trifft aber nur zum Teil zu: Ich war Christ, römisch-katholisch, bis ich 1980 zum Islam übertrat und nach meiner Rückkehr von Indonesien nach Deutschland aus der Kirche austrat. Dass in meiner Familie jüdische Wurzeln eine größere Rolle spielen als christliche, wissen nur wenige Eingeweihte. Ich stamme aus einer Familie mit unterschiedlichen religiösen Konversionserfahrungen und bin selber Konvertit. Die Konversionsforschung erörtert die These, dass religiöse Konversionen potenziell unvollständig bleiben. Konvertiten bleiben für beide Seiten, ihrem Herkunfts- und Ankunftsmilieu, verdächtige Mutanten. Ich bin auf meine Art ein Migrant (vertiefend Bochinger 2009), und ich bin mit den Horizonten von Heterogenitäts- und Diskriminierungserfahrung vertraut. Aber wer das an die Entstehungszeit des Islams anlehnt, sieht die Dinge in anderem Licht: Die Gemeinschaft der Musliminnen und Muslime ist durch Konversion entstanden. Das soziale und spirituelle Erbe aus der Erfahrung des Zusammenlebens in anderer, vorfindlicher religiöser Gemeinschaft spielte dabei eine wichtige Rolle.

Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

Es könnte also sein, dass ich da einen kleinen Vorsprung habe. Viele von Ihnen haben den Islam über die kulturräumliche Erstsozialisation erworben, wohingegen ich von Beginn an in der Situation war, mir erarbeiten zu müssen, woran ich glauben und wie ich leben möchte. Von Nachteil ist dabei, dass Konventionen, Selbstverständlichkeiten und kulturelle Etikette, die Sie als „islamisch“ identifizieren, von mir manchmal verkannt werden. Da muss ich immer wieder dazulernen. Ich bin, so sagt man mir nach, deutlicher durch den schafiitischen Islam beeinflusst worden und weniger durch den hanafitischen. Abgesehen davon könnte durchaus zutreffen, dass ich in mancher Hinsicht einfach nur „deutsch“ bin, so wie Sie vielleicht in manchen Dingen vielleicht einfach nur „türkisch“ sind. Von Vorteil scheint hingegen, ich vermute das nur und behaupte es nicht, dass ich meine zu verstehen, wovon ich spreche, wenn ich rede. Mir reicht es nicht, mich auf Autoritäten zu berufen (nach denen werde ich von Muslimen, für die das besonders wichtig ist, immer wieder gefragt). Ich will die Dinge nachprüfen, und dann nehme ich das Recht in Anspruch, zu entscheiden, wie ich damit umgehe. Ich male mir manchmal aus, wie es sein wird, wenn ich vor Demjenigen stehe,

2 Konvertiten bleiben für beide Seiten, ihrem Herkunftsund Ankunftsmilieu, verdächtige Mutanten.

zu Dem ich mich bekenne. Eines ist mir klar geworden: Ich will nur für das in die Verantwortung genommen werden, für das ich mich entschieden habe, und nicht für das, was andere entschieden haben. Wenn ich es richtig rekonstruiere, bin ich vor allem deswegen Muslim geworden. Ich bin als Siebzehnjähriger, in einem anderen Land und weit weg von meinen Eltern, einer inneren Spur gefolgt. Ich war neugierig und habe den Koran auf die Frage hin überprüft, ob er für mich als Weisung in Frage kommt. Sie kennen das ja (siehe im Koran 4:82), und dazu habe ich schon in meiner Bildungslehre (Behr 1998) einiges geschrieben. Für jene Publikation wurde ich damals von zwei Seiten in die Zange genommen: Muslimen war sie zu unislamisch, Nicht-Muslimen zu islamisch. Ich wurde unlängst gefragt, ob ich das Buch heute noch so schreiben würde wie damals. Das weiß ich nicht. Ich habe es seitdem nicht mehr genau gelesen. Aber ich stehe zu ihm. Keine Refutatio. Meine Neugier habe ich mir bewahrt. Ich habe dadurch gelernt, zwischen sozialen Feldern mit unterschiedlicher religiöser Signatur zu moderieren. Das hat mich schließlich zu dem gemacht, der ich heute bin, nach fast 30 Jahren aktiver Betei-

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Wir stritten gelegentlich darüber, warum wir die Religion eigentlich brauchen: Weil wir an Gott glauben, oder weil wir an ihm zweifeln?

ligung am Aufbau der islamischen Szene in Deutschland. Manchmal fühle ich mich gefangen zwischen der vertrauten Bindung an die eigene Herkunft und der gleichzeitigen Entfremdung von ihr, und dann wieder zwischen meiner geschwisterlichen Verbindung zu Muslimen und meiner Entfremdung von ihnen. Dass ich einmal ein „Grenzgänger“ werden würde, wie mein Kollege Lehmann das nennt (Lehmann 2008), war nicht mein Lebensziel. Ich wollte eigentlich Schiffskoch werden. Aber da muss mein muslimischer Ziehvater Sudjoko Prasodjo schon damals in Jakarta etwas gesehen haben, was mir selbst erst später klar wurde: „Du wirst Lehrer.“, meinte er und vertraute mir den Beinamen „Harun“ an. Die Geschichte Haruns im Koran kennen Sie. 2.1 Der Mensch Zuerst zu meiner Auffassung vom Menschen (siehe [Behr 2005 a]). Ich sehe den Menschen in seiner Qualität als Subjekt, als Person. Das überragt sein unwillentliches Geworfensein in die Welt. Er kann nichts dafür, dass er da ist, ergreift aber Besitz von der Welt so als gehöre sie ihm. Was, soviel hat er verstanden, nicht geht. Solche Erkenntnis macht ihn zur Religion zugleich bereit und fähig, man könnte sagen: Er bedarf der Religion. Darin liegt

Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

ein Indiz für seine Freiheit (barā’a; T®BoQ), besonders die Freiheit in seiner Entscheidung, wie er mit Religion verfahren möchte (vgl. im Koran 6:78) – gleich ob er einer bestimmten angehört oder nicht. Gäbe es diese Freiheit nicht, gäbe es keine Religion. So lese ich den ersten schöpfungsthematischen Zyklus des Korans, der mit 2:30 seinen Anfang nimmt: als eine Geschichte der Freisetzung des Menschen. Die einschlägigen Textpassagen in Sure 17 greifen das vertiefend auf (Koran 17:70). Der Koran nimmt den Menschen sowohl als Subjekt als auch als Mitglied mitmenschlicher Gemeinschaft wahr und ernst. Das erschließt sich mir aus der Idee der „Würde“ (karāma; UÆBo¾ ) des Menschen, die darauf zurückzuführen ist, dass Gott den Menschen „freisetzt“ und ihm die Entscheidung, wie er sich binden möchte, in letzter Konsequenz überlässt (vgl. [Behr 2007 a], 2 ff.). Das satanische Moment, dies in Klammern hinzugefügt, nimmt seinen Ausgangspunkt genau in der Infragestellung dieser Freiheit und Würde (vgl. [Behr 2009 b]). Muslimische Schülerinnen und Schüler sehe ich folglich bevorzugt in diesem Licht ihrer, wenn auch störanfälligen, so doch nicht negierbaren Fähigkeit zur Autonomie: als

Individuen mit eigenem Kopf, als Menschen mit Herz, als Handelnde. Deshalb kommt es mir im Unterricht besonders darauf an, sie in ihrer Auseinandersetzung mit der Religion zu befähigen, sich zur Religion zu stellen. Was ich meine: selbstverantwortet Position zu beziehen. Anderes würde mich in meinem religiösen und pädagogischen Ethos unangenehm berühren – eine Gewissensfrage also. Hier kommt auch die Sache mit der „Distanz“ ins Spiel, die Sie so beunruhigt; dazu unten mehr. Ich rede hier nicht von der Verkopfung von Religion. Klar ist nämlich, dass der Religionsunterricht auch von der didaktisch klug publizierten Positionalität der Lehrkraft lebt. Die muslimischen Realschüler, die ich in den 7., 8. 9. und 10. Klassen in islamischer Religionslehre unterrichtet habe, erfuhren mich als Muslim, der über seinen Glauben Zeugnis ablegt. Wir stritten gelegentlich darüber, warum wir die Religion eigentlich brauchen: Weil wir an Gott glauben, oder weil wir an ihm zweifeln? In dieser Hinsicht gehe ich wohl eher nicht als Vertreter religionskundlicher Modelle durch; ich vertrete das Zusammenspiel zwischen kundlichen, verkündigenden und habitualisierenden, also die religiöse Praxis einübenden Elementen des Religionsunterrichts.

Seite  Es gibt zwar, grob angezeichnet, das Beschulungsmodell einerseits der Islamkunde und andererseits des Islamischen Religionsunterrichts, aber damit ist keine Aussage über die Kinder getroffen: Sie begegnen dem Unterricht immer auch mit einer Neugier auf existenzielle Fragen. Wie sehr sich Kunde und Verkündigung in der Unterrichtspraxis annähern, können Sie in den Beiträgen meiner Kollegen Tosun, Ucar und anderer in [Behr 2008 a] nachlesen. Dass die Moschee oder das Elternhaus hier vielleicht andere Akzente setzen wie etwa die Einweisung in den Glauben im Sinne der Gewöhnung an eine äußere und innere Ordnung, ist mir bewusst. Sollten Sie aber ernsthaft der Meinung sein, dass der islamische Unterricht in der öffentlichen Schule dieser Aktzentuierung religiöser Erziehung folgen soll, dann hätten wir ein Gesprächsthema. 2.2 Die Gesellschaft Ob Sie hinsichtlich meiner Auffassung von Gesellschaft Unüberbrückbares entdecken, wäre eine weitere Frage. Ich teile jedenfalls nicht die Bewertung anderer, das Gegenteil von „Muslim“ sei der „Ungläubige“ (vgl. [Behr 2008 b]). Ich bevorzuge den Blick auf die Mitmenschen als diejenigen, mit denen wir als Muslime in Solidargemeinschaft leben. Der Islam teilt uns nach meinem Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

Dafürhalten mehr über Dinge mit, die uns alle gemeinsam betreffen, und weniger über Dinge, die uns exklusiv als Muslime betreffen. Mein Interesse gilt also der „Veröffentlichung“ von Religion in dem Sinne, dass wir mit unseren nicht-muslimischen Mitmenschen mehr über diese wichtigen Dinge sprechen sollten als über die nebensächlichen. Wenn Sie es anschaulicher haben wollen: Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit ist mir wichtiger als die nach islamischer Kleidung, und wie wir die Welt unseren nachrückenden Generationen übergeben prekärer als die Sache mit dem Moscheebau. Ein guter Bekannter von mir, Muhammad Natsir, gehörte zu meinen frühen Lehrern. Er leitete einst den islamischen „Dewan Dakwa“ mit Sitz in Jakarta. Das über die Religionsgrenzen hinweg gemeinsame Bemühen um die gute Sache bezeichnete er als dacwa bil-hāl (ÁCdÂCQ U®j), als den „Ruf um der gemeinsamen Sache willen“. Er sprach von Dingen, die uns mit Nicht-Muslimen verbinden und nicht von ihnen trennen. Er gab mir kurz vor seinem Tod den Rat, lieber in Deutschland zu bleiben und dort „etwas Nützliches für die Muslime“ zu studieren, die in Deutschland leben. Also nahm ich Abstand von meinem Vorhaben, Islam in Omdurman zu studieren,

Der Islam teilt uns nach meinem Dafürhalten mehr über Dinge mit, die uns alle gemeinsam betreffen, und weniger über Dinge, die uns exklusiv als Muslime betreffen.

wohin ich ebenso hätte gehen können wie nach Bagdad, von wo ich ein Stipendium erhalten hätte. Die Türkei wurde in den internationalen Zirkeln islamischer Religionsgelehrsamkeit zwischen Rabat und Kuala Lumpur damals übrigens nicht als Land wahrgenommen, aus dem Impulse für den Islam zu erwarten gewesen wären – eher das Gegenteil. Aber das hat sich ja geändert. 2.3 Der Islam Mein Verständnis des Islams führt auch unter meinen Studenten gelegentlich zu Kontroversen, wobei ich niemanden mit dieser Auffassung majorisiere; das ist ein sehr persönlicher Punkt. Eine Benediktiner der Abtei Münsterschwarzach will mich deswegen als seinesgleichen, nämlich als einen Mystiker erkannt haben: Ich sehe den Islam, so wie Religion generell, zuerst als ein Mittel zum Zweck und nicht als Ding an sich. Sie müssen dem nicht zustimmen, und ich will Sie keineswegs provozieren. Ich sehe es so: Der Islam ist wie ein Instrument, das gespielt werden will. Er ermöglicht es mir, Muslim zu sein und im umfassenden Sinne dieser inneren Haltung (Koran 2:208) und Lebensweise (Koran 6:161 folgende) Ausdruck zu verleihen. Er macht es mir möglich, wohlgemerkt, aber Muslim sein muss ich selber – das kann mir der Islam nicht ab-

Seite  nehmen. Das wirft natürlich weitere Fragen auf: Kann man das Instrument nur nach Noten spielen oder auch frei improvisieren? Spielt man es solo oder im Konzert mit anderen? Eins ist klar: Man kann ein Instrument nur virtuos spielen, wenn man es liebt und pflegt und es anderen bevorzugt; es schwingt sich auf den Spieler ein und gibt nicht seinen eigenen, sondern den Ton des Spielers wieder. Ich bin schließlich Muslim geworden und geblieben, weil sich mir der Islam als das Klangvollste anbot und sich als solches auch bewährt hat. Ich sage das, ohne damit ausschließen zu wollen, dass sich anderen anderes erschließt und sich für sie bewährt. Muslim zu sein sehe ich deshalb weniger als Selbstzweck, sondern als einen Weg, wahrer und guter Mensch zu werden; der Ton macht die Musik. Da ist es auch wie mit dem Üben: Nur in der Weiterentwicklung lässt sich das Erreichte bewahren; wer innehält, fällt zurück. So verstehe ich auch die Sache mit dem „Nutzen“ von Religion, wie sie im Koran entfaltet wird (80:1-10). Dazu gibt es einen schönen Text von Maulana, der das aus einer anderen Perspektive veranschaulicht; er wurde von einem meiner Studenten unlängst im Unterricht der 10 Jahrgangsstufe verwendet: „Jemand fragte: Was gibt es, das edler als das Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

Ritualgebet wäre? Eine Antwort ist, wie ich schon gesagt habe, dass die Seele des Gebets besser ist als das Gebet. Die zweite Antwort ist, dass der Glaube besser als das Gebet ist. Denn das Ritualgebet besteht aus fünf Pflichtgebeten im Laufe von Tag und Nacht, während Glaube eine fortwährende Pflicht (farīda) ist. Das Gebet kann um einer gültigen Entschuldigung willen unterlassen und durch Spezialerlaubnis verschoben werden. Der andere Vorzug, den der Glaube gegenüber dem Gebet hat, ist, dass man den Glauben um keiner Entschuldigung willen aufgeben und ihn nicht durch einen Dispens aufschieben kann. Wiederum ist Glaube ohne Gebet nützlich, während das Gebet ohne den Glauben keinen Nutzen bringt – so wie das Gebet der Heuchler.“ (Maulana 1988 S. 97) Analog hierzu hätte der Islamische Religionsunterricht die pädagogische Aufgabe, jede muslimische Schülerin und jeden muslimischen Schüler unabhängig von ihren Biographien und bestimmten Gruppenzugehörigkeiten als denjenigen anzunehmen, der schon Mensch ist, und als den zu führen, der noch Mensch wird. Das gelingt nur, wenn nicht nur die Lehrpläne, sondern auch die Lehrerinnen und Lehrer keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Menschen nicht dazu da sind, Mus-

lime zu werden, sondern dass der Islam dazu da ist, aus Menschen wahre Menschen zu machen, auf die die islamischen Kriterien von „Reife“ (kamāl) und „Güte“ (salāh) zutreffen. Ziemlich hoch gegriffen, ich weiß, aber bei der pädagogischen Konzeption des islamischen Religionsunterrichts dürfen wir uns nicht bücken: Wir müssen uns strecken. 2.4 Der Koran Der Koran ist „Rede“. Wie bei Rede an sich, kommt es mehr auf das Gesagte an als darauf, wie es gesagt wird. Die Lehrpläne für den islamischen Religionsunterricht legen deshalb Wert darauf, dass das sinnorientierte Verstehen des Korans Vorrang hat vor seinem litteralen Verständnis. Immerhin spielt der Koran in vielerlei Hinsicht eine zentrale Rolle für den islamischen Religionsunterricht: Er ist „Schrift“ im Sinne der Quelle spiritueller und religiöser Erkenntnisse und Erfahrungen. Er ist aber auch „Text“ insofern, als er ein historisches Diskursdokument darstellt. In seiner Textur sind spirituelle und religiöse Erkenntnisse und Erfahrungen aus einer anderen Zeit und einem anderen kulturräumlichen Gefüge geronnen. Wer den Koran liest, erfährt etwas über andere Menschen, die vor langer Zeit gelebt haben, und wer ihm zuhört, erfährt etwas über sich selbst.

Im Zentrum des Korans steht also weniger Gott als vielmehr der Mensch, der sich in Beziehung zu Gott gestellt sieht. Das ist die tiefere Erkenntnis aus dem bereits oben kurz angerissenen Befund, dass sich die Aussagen des Korans in seinen ersten Versen um den Menschen drehen. Deshalb sind die Antworten des Korans, die gleichermaßen klären wie verwirren können, als Angebot zu verstehen: Gott ist für alle Menschen da (2:185); er hat jeden einzelnen Menschen mit Bedacht erschaffen (44:38), und dies zu keinem anderen Sinn als seinerseits für Gott da zu sein (51:56). Damit ist das Verhältnis von Mensch zu Gott ebenso wie das Verhältnis von Mensch zu Mensch wie eine dialogische Beziehung zwischen solchen angelegt, die in der Lage sind, sowohl das „Du“ vom „Ich“ zu unterscheiden als auch das „Ich“ im „Du“ zu entdecken. Wer erwartet, vielleicht inspiriert aus der Leseerfahrung mit dem Ersten Testament, dass der Anfang der Welt folglich auch den Anfang der Schrift bilde, lernt Neues kennen: Der Koran entwirft die Welt zuerst als psychologischen Raum (ich, andere, oben, unten, vorne, hinten, neben, hell, dunkel, weit, eng, begrenzt, gestern, heute, morgen…). Alles andere wird in den Kontext der anthropologischen Eröffnung der Korans

Seite  gestellt. Somit geht es um den Menschen in seiner Rolle als Person. Ich möchte nicht die ordo legendi der Koranentstehung angreifen, muss aber auf die Problematik hinweisen, dass unter Musliminnen und Muslimen die ordo discendi unterdrückt wird. Das liegt daran, dass die Lehre von der Entstehung des Islams Teil der Lehre des Islams selbst geworden ist; das klarer voneinander zu unterscheiden stößt auf Widerstände. Negativ wirken sich hier andere flankierende Umstände aus: Die islamische Religionsgelehrsamkeit hat sich auf die Weitergabe anstelle der Wiedergabe der Lehre kapriziert, und die theologisch motivierte Rekonstruktion historischer Wahrheit wird mit historischer Wirklichkeit gleichgesetzt. Da das besonders die von Ihnen angemahnte „Sunna“ betrifft, geht das Hand in Hand mit einer Übersteigerung der Gestalt Muhammads, die vor allem von unseren jungen Musliminnen und Muslimen Besitz ergreift und sie berauscht. All das schwächt letztlich zentrale Authentizitätsmerkmale des Korans als Text, denn: Der Gewinn an Reproduzierbarkeit und Standardisierung der hermeneutischen Grundlagen unter Zuhilfenahme der Unterschlagung seiner realen Entstehungskontexte ist nur für den Preis eines erheblichen Verlusts an InforHarry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

mation und Plastizität zu haben.

Es sollte genau andersherum sein: Mehr über den Koran zu erfahren hilft, ihm besser gerecht zu werden – gerade aus dem Blickwinkel frommer theologischer Hermeneutik heraus.

Es sollte genau andersherum sein: Mehr über den Koran zu erfahren hilft, ihm besser gerecht zu werden – gerade aus dem Blickwinkel frommer theologischer Hermeneutik heraus. Das würde dann auch helfen, den Koran als ein Diskursdokument von vielfältigen Verhältnisbestimmungen zu lesen, ohne damit seiner „himmlischen Herkunft“ Abbruch zu tun. Für seine Verwendung im Rahmen pädagogischen Handelns kommt es auf seine Erdung an. Dabei geht es um die grundlegenden Dinge, die bereits während der Entstehung des Korans die frühen Muslime beschäftigt haben, sonst hätten sie nicht in so deutlicher Form ihren Niederschlag im Text selbst gefunden: Gemeint sind die Verhältnisbestimmungen zwischen Inspiration und Instruktion, Kultur und Religion, Bewahren und Aufbruch, Intention und Implementierung, sichtbarer und nicht sichtbarer Religion, Rahmung und Gehalt, Motiv und Handlung, Lebensart und Perspektive, Glauben, Denken, Reden und Tun, Subjekt und Gemeinschaft, Gnade und Gerechtigkeit sowie Freiheit und Bindung. Das sind die eigentlichen Themen, die unter der Textoberfläche des Korans ruhen und die klangvoll seinen Grundton bestimmten.

Nicht zu vergessen jene Verhältnisbestimmung, die weiterer wissenschaftlicher Bearbeitung bedarf: die des Übergangs von der mündlichen zur schriftlichen Tradierung des Korans als erzählter Wirklichkeit, mit allen institutionalisierenden Nebeneffekten sich vollziehender Litteralität (der Übertrag in ein Symbolsystem; die Festlegung von Lexik, Syntax und Vokalisation im späten 7. und frühen 8. Jahrhundert n. Chr.). Noch zu wenig Beachtung scheint mir auch der Gedanke zu finden, dass der Koran seine Lehre im Grunde nur mit Hilfe der sozial- und kulturräumlichen Signatur seiner Entstehungszeit wiedergeben kann; er muss, von heute aus gesehen, rekontextualisiert, das heißt „wiedergelesen“ und „übersetzt“ werden. Um diese Frage entzündet sich unter Muslimen bis heute immer wieder ein Grundsatzdiskurs mit der Dimension des Kulturkampfs: Ist der Koran der Endbahnhof, wo sie auszusteigen und sich niederzulassen haben, oder ist er das Gleis, auf das sie gesetzt wurden und auf dem sie weiterfahren sollen? Die Unterscheidung zwischen einerseits der Entwicklung des Korans als Schrift und andererseits seiner Entwickelbarkeit als Lehre würde es gestatten, seine Historizität für

Seite 10 die theologische Expertise zu nutzen anstatt sie trotzig abzuwehren: Gerade die Spuren im Koran, die seine historische Entstehung als Text offenbaren, unterstützen auch seine religiöse Lehrkraft und demontieren sie nicht etwa. Das hätte auch positive Rückwirkung auf die Wahrnehmung der Person Muhammads: Der Korantext als Diskursdokument einer vielschichtigen Konfliktgeschichte gelesen, zeigt in aller Deutlichkeit auf, dass er ohne einen charismatischen Sprecher keinen Sinn ergibt. Aufgeklärte Zugänge können unbeschadet der Glaubensfrage Berücksichtigung finden, dass es sich beim Koran um die wortwörtliche Offenbarung Gottes handelt. Zwar beruft sich Muhammad auf Gott als den eigentlichen Urheber, aber für den Koran als geronnene Rede gilt der Macht- und Geltungsanspruch individueller Urheberschaft. Mit dem Prinzip der Autorenschaft erfindet sich für das Genre der Heiligen Schrift eine neuartige Ordnungskategorie. Diese wiederum, ich leihe mir hier eine Formulierung einer hochgeschätzten Kollegin der Universität Wien, erhält einen autoritativen Status, sofern und so lange Werk und Autor assoziiert und in dieser Assoziation rezipiert werden – paradoxerweise um so deutlicher übrigens, je vehementer Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

im Koran selbst die Autorenschaft Muhammads negiert wird. Dass beim Koran die personale Urheberschaft Muhammads in Abrede gestellt wird, ist zum Gegenstand der koranischen Dramaturgie selbst geworden. Der wissenschaftlich regelgeleitete Abbau dieses Bildes trifft den Nerv, aber er setzt das Potenzial zukunftsweisender Interpretationen des Korans frei. Nennen wir es Heilkrise.

von Verlustangst wissenschaftlichen Erkenntnissen zu nähern, auch wenn sie die Grundmauern des Islams zu erschüttern drohen, den Koran und den historischen Muhammad, an dem im Übrigen nicht zu rütteln ist.

2.5 Die Ästhetik Ich komme nun zur Ästhetik. Es geht mir um die Religion in ihrer Dimension der Inszenierung. Damit gebe ich den Dingen eine neue Wozu ist das alles wichtig? Ich werde Wendung. Ich bejahe und befürimmer wieder von muslimischen worte den Ritus und den Kult. Ich Schülerinnen und Schülern gefragt, ermutige meine Schülerinnen und ob ich ihnen garantieren könne, dass Schüler zur Einhaltung der islader Koran „echt“ sei und dass Mumischen Gebote. Überrascht? Meine hammad „kein Betrüger“ war – Sie Studenten, die meinem Unterricht mögen diese Formulierung verzeihen. zuschauen, sind es oft. Die SchüIch habe inzwischen begriffen, dass lerinnen und Schüler fragen übridie Mädchen und Jungs hier nicht gens oft danach, ob ich dies und nach der Glaubensdimension fragen das praktiziere und ob sie das auch („Für so eine billige Antwort können sollen, und was mit ihnen geschieht wir auch in die Moschee gehen, Herr wenn sie es unterlassen oder anderes Behr!“), sondern nach Indizien aus tun. Der Chor der Gebetsrufer in anderen Systemen, in deren KateJakarta, noch bevor die Diesel am gorien sie in der Schule zu denken Morgen knattern, und die Erfahrung lernen: die Sprach-, Text- und Kuldes Gebets, aber auch die Schönheit turwissenschaften, die Geschichtsder arabischen Schrift spielten für und Sozialwissenschaften, besonders die Entdeckung meiner Liebe zum auch psychologische Fragen, nur Islam und für meinen persönlichen um einige zu nennen. Ganz besonWerdegang danach eine große Rolle. ders die muslimischen Schülerinnen und Schüler fordern vehement ein, Muslimische Schülerinnen und was die islamische ReligionsgelehrSchüler, die sonst gerne alles befrasamkeit aus Arroganz heraus jahrgen und begreifen wollen, genießen zehntelang versäumt hat: sich frei es auch, zu schweigen und sich zu

Wer einen Ritus durchführt, zum Beispiel das Gebet leitet, tritt in der Inszenierung als Person einen Schritt hinter die Sache zurück; er überantwortet sich zusammen mit der Gemeinschaft dem Charisma des religiösen Ereignisses.

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Islamische Religionspädagogik kann verstanden werden als eine besondere Art der „Anstrengung“ (idschtihād; jCÏX_H), im Sinne eines orientierungswissenschaftlichen, durch Erfahrung und durch die Weisungen des Islams als Religionslehre begleiteten „Ringens“.

sammeln, wenn ich im Unterricht den Koran auf die Rahle lege und ihn nach den Regeln verlese. Damit fokussiere ich sie bewusst und entgegen mancher pädagogischen Ideologie auf mich als Person, und zwar gezielt in der Situation der frontalen Begegnung. Kommunikation findet nicht statt, aber Verständigung. Wer einen Ritus durchführt, zum Beispiel das Gebet leitet, tritt in der Inszenierung als Person einen Schritt hinter die Sache zurück; er überantwortet sich zusammen mit der Gemeinschaft dem Charisma des religiösen Ereignisses. Auch im schulischen Unterricht soll es die Momente geben, in denen Religion stattfindet, indem die Dinge getan und nicht besprochen werden. Dabei geht es mir nicht so sehr um den sekundären Nutzen, um die Entlastung vom Alltag oder den Zugewinn an Spiritualität, der damit verbunden ist, auch nicht um die Effekte der Beruhigung und Selbstdisziplinierung, sondern um den Eigenwert der Sache an sich: Die Wahrheit und das Gute haben ihre eigene Schönheit. Ich vertrete hier stärker das konfessionelle Element als Sie es mir vielleicht nachsagen, weil Sie mich nicht kennen und noch nie den Unterricht derer gesehen haben, die ich ausbilde. Ich weiß nicht ob es Sie interessiert, aber ich will es erwähnen, weil mich

Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

das auch auf eine bestimmte Art und Weise beenflusst hat: Ich habe das arabische Koranlesen vor vielen Jahren von einem ziemlich strengen türkischen Koranlehrer kaukasischer Herkunft gelernt, einem Handwerker. Er wohnte wie ich in Stuttgart, hatte eine „eigene“ kleine Moschee, trug weite Kleidung und einen langen roten Bart; er trank viel Tee und lachte viel. Dass er, Querkopf der er war, damals schon, Mitte der 1980er Jahre, die türkischen Vereine als „Krawatten“, „Egoisten“ oder „Mafia“ beschimpfte, habe ich so wenig ernst genommen wie manch andere seiner Flausen: Er wollte mir ein Bekenntnis zur hanafitischen Rechtsschule abringen, bevor er mich unterrichten würde, was ich ihm nicht habe durchgehen lassen. Wenn ich heute den Koran aufschlage, denke ich in Dankbarkeit an ihn zurück. 2.6 Die Pädagogik, die Didaktik und der Unterricht des Islams Vieles von dem, was ich hier für Sie zusammenfasse, ist mit einer bestimmten Konzeption der Pädagogik und Didaktik des islamischen Religionsunterrichts verknüpft. Im Rahmen meiner eingangs erwähnten Frankfurter Vorlesungen zur Verhältnisbestimmung von Islam und Pädagogik im Sommersemester 2009 habe ich mit den Studierenden eine Reihe von Formulierungen erörtert.

Die stellen keine abschließenden Definitionen dar, sondern einen Beitrag zur Diskussion. Allerdings können Sie hier eine grundsätzliche Stoßrichtung erkennen, wie sie auch in Saphir ihren Niederschlag gefunden hat. Ich will also für Sie einmal anreißen, was bislang so noch nicht publiziert wurde: Islamische Religionspädagogik kann verstanden werden als eine besondere Art der „Anstrengung“ (idschtihād; jCÏX_H), im Sinne eines orientierungswissenschaftlichen, durch Erfahrung und durch die Weisungen des Islams als Religionslehre begleiteten „Ringens“. In der Mitte steht das Bemühen, die Verhältnisbestimmung von Kindern und der Welt zu beschreiben, zu verstehen, vorauszusehen und zu beeinflussen. Mit „Welt“ sind die Menschen und die Dinge gemeint, denen die Kinder begegnen. Sie begegnen dabei auch sich selbst. Diese Verhältnisbestimmung geschieht mit Rücksicht auf die Domänen, in denen sie sich generell bewegen, und die Situationen, in denen sie sich aktuell befinden. Unter „Domänen“ sind die inneren Abbilder der sozialen Felder zu verstehen, in denen sich die Menschen bewegen, also nicht etwa nur „die Familie“, sondern „die Familie“ als persönlicher Erfahrungsraum und mit den Bewertungen, welche das

Seite 12 Kind mit ihm verbindet. Ziel ist, muslimische Kinder und Jugendliche dazu zu befähigen, ihr Leben sinnvoll, gut und selbstverantwortet zu gestalten und dabei mit Fragen der Religion des Islams und des persönlichen Glaubens umzugehen. Das gilt natürlich auch für Erwachsene, aber das Thema der Erwachsenenbildung führt jetzt zu weit ab. Islamischer Religionsunterricht kann demgemäß verstanden werden als das geeignete Medium im Kontext der öffentlichen Schule, die religionspädagogisch begründeten Maßgaben an einen theologisch plausiblen islamischen Religionsunterricht im Sinne seiner Ziele und Inhalte zur Anwendung zu bringen. Dazu bedient sich die Lehrkraft einer geeigneten Didaktik als der dazu gehörigen Entscheidungswissenschaft. Die Didaktik leitet zur Professionalisierung an und hat als Gradmesser die pädagogische Letztverantwortung der Lehrkraft als „Befugte in Sachen des Urteils“ (almudschtahid bi-nafsih; Ðt·ËQ kÏX`ÇÂB). Die Lehrkraft bewegt sich dabei im Format einer curricularen Rahmung, was sie zuerst entlasten und nicht belasten soll, denn: Die normative Dimension des islamischen Religionsunterrichts als bildender oder erziehender Unterricht gründet auch in der differenzierenden WahrnehHarry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

mung der Schülerinnen und Schüler als Subjekte, und daran orientiert sich die thematische Progression. Sie merken, dass ich die Lehrplanfrage vergleichsweise niedrig hänge. Ich interessiere mich mehr dafür, ob die Lehrkraft begreift, wen sie als Schülerinnen und Schüler vor sich hat. Das wirkt sich auf die Prioritäten aus, die ich als Hochschullehrer in der Ausbildung muslimischer Lehrkräfte setze (siehe dazu auch [Behr 2009 c]: Ich möchte sie, abgesehen vom Unterrichten als handwerklicher Kunst, für die Dinge empfänglich machen, die in ihnen als Personen gründen und die ich ihnen nicht beibringen kann; die müssen sie sich selbst erarbeiten. Dabei kann ich sie nur anleiten und begleiten. Ich gestehe ein, dass das Bild von der muslimischen Lehrkraft, die Saphir in ihrem Unterricht zur Anwendung bringen soll, ambitioniert ist. Die andere Seite sind die Krankheiten des Systems Schule, mit denen sich der Islam ansteckt, sobald er in die Schule geht. Die wollen wir aber jetzt nicht diskutieren. Es geht, um die komplexe Formulierung zu verdichten, um einen Unterricht, der die Befähigung zum Glauben anstrebt. Das mag nun weniger für den religionskundlichen Unterricht nördlich des Mains gel-

Die Didaktik leitet zur Professionalisierung an und hat als Gradmesser die pädagogische Letztverantwortung der Lehrkraft als „Befugte in Sachen des Urteils“ (al-mudschtahid bi-nafsih; Ðt·ËQ kÏX`ÇÂB).

ten, weshalb ich mich hier auf das beziehe, was südlich des Mains, also in Deutschlands qur’anic belt als erstrebenswert gilt. Ich möchte Ihnen das an Hand des Themas „Hadith“ veranschaulichen und beziehe mich auf die Bayerischen Lehrpläne für den Islamischen Unterricht ([KMS 2004], [KMS 2006]), wo die Sache mit der Befähigung in der 9. Klasse deutlicher ihren Niederschlag findet: „Themenbereich 9.5, Koran und Hadīth; die Bedeutung des Korans und die Vorbildfunktion Mohammeds für die Muslime; (vgl. das Lehrplankapitel 7.5); 2:256, 4:79-80, 7:158 und Sure 109; die in verschiedenen klassischen Kompendien (sog. „Sunna“) gesammelten Prophetenworte helfen, die Lebensumstände zur Zeit Mohammeds zu begreifen, die Bedeutung von Aussagen des Korans im Rahmen der damaligen Lebensumstände zu verstehen und die Tragweite von Aussagen des Korans für die gegenwärtige Situation abzuwägen.“ Hier muss die Lehrkraft für die Unterrichtsvorbereitung nachschauen, was in 7.5, also etwa zwei Schuljahre davor durchgenommen wurde: „Themenbereich 7.5, Koran und Hadīth; der Hadīth (al-hadīth; YÖkdÂB), Prophetenworte als Grundlage der Sunna; (vgl. das Lehrplankapitel 9.5); Hadīthe können, nach

Seite 13 Themen geordnet, in bestimmten Sammlungen nachgelesen werden. Manches von dem, was Mohammed gewöhnlich tat, ist durch die Sammlung zum festen Bestandteil muslimischer Lebenskultur (sunna; UäËs) geworden; Recherche: Moderne Hadīth-Sammlungen in deutscher Sprache, in anderen Sprachen; große klassische Hadīth-Sammlungen; Elemente muslimischer Lebenskultur im persönlichen Umfeld erkennen: Ernährungs- oder Bekleidungsgewohnheiten, Rauschmittelverzicht, nicht mit Schuhen die Wohnung betreten; Unterschiedliche Lebensweisen und Gewohnheiten: Koran, Sunna und Sitte: Bekleidungsvorschriften, Bekleidungstraditionen; die Vielfalt muslimischer Lebenskulturen; die Gefahr von Vorurteilen und Typisierungen.“ Ihnen wird nicht entgangen sein, dass hier zwischen den Begriffen „Hadith“ (Textart) und „Sunna“ (theologische Kategorie) unterschieden wird. Der M-Zug, also diejenigen Lerngruppen, die auf die Mittlere Reife nach der 10. Hauptschulklasse zusteuern, nehmen zusätzlich durch: „Die Entstehung der Hadīth-Sammlungen; Recherchen (auch mit Hilfe des Internets) zu einem ausgewählten Hadīth-Sammler, z.B. Bukhārī, und zu den Sammlungsregeln; Dokumentation und Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

Präsentation der Ergebnisse.“ Auch in den 5., 6., 7. und 8. Klassen ist das Thema dran. In der Grundschule auch; dort geht es mehr um die Entfaltung biographischer Aspekte: die Berufung Muhammads, die Zeit in Mekka, die Zeit in Medina.

Die Bebilderung eines Schulbuchs stellt einen eigenen Typus des Impulses dar; „Bilder“ werden „gelesen“.

Wer diesen Unterricht halten will, lässt sich auf das vielfältige Wechselspiel zwischen Führen und Begleiten, Fördern und Fordern sowie Präsentieren und Arrangieren ein. Schon die Lehrpläne legen nahe, was Saphir aufgreift: Die selbstverantwortete Recherche und der hohe Grad an selbstgesteuertem Lernen (das finden Sie dort in den so genannten Impulsboxen). Dafür stehen im Schnitt zweimal, im Primarbereich dreimal 45 Minuten pro Woche Zeit zur Verfügung. Es will gut überlegt sein, was in so wenig Zeit geleistet werden kann. In dieser Frage ankert auch die Aushandlung der jeweiligen Kompetenzen zwischen Elternhaus, Moschee und Schule, wie sie das von Ihnen erwähnte Grundgesetz in den Artikeln 6 und 7 anzeichnet.

3 Ein erster Schwenk hin zu Saphir: Allgemeines Aus dem bisher Erörterten ergeben sich Konsequenzen in der Art bestimmter schulbuchdidaktischer Prinzipien, die nun näher an Saphir heranführen. Dazu ein paar erste Leitmotive:

3.1 Zur Frage der Bilder Ich fange damit an, weil Sie so viel über einzelne Bilder schreiben, ohne auf den Zusammenhang mit den dazugehörigen Texten, den Doppelseiten oder der Zielsetzung des gesamten Kapitels einzugehen, in die sie eingebettet sind. Der Blick auf Schulbücher für den Islam, die aus muslimischen Kulturräumen stammen und die Ihnen vielleicht vertrauter sind, macht bestimmte Sehgewohnheiten deutlich. So ging es einer Nürnberger Mutter, als sie kürzlich zu Bedenken gab, dass in Saphir die Dinge so „anders“ dargestellt seien als sie das vor 30 Jahren mal gelernt habe. Sie hat Recht, so soll es sein. Saphir bricht mit etlichen dieser Sehgewohnheiten: Abbildungen stellen im Regelfall weder Illustrationen dar noch bilden sie „Wirklichkeit“ ab; sie fungieren als Impulse. Die Bebilderung eines Schulbuchs stellt einen eigenen Typus des Impulses dar; „Bilder“ werden „gelesen“. Der Zugang zu den Di-

Seite 14 mensionen einer Thematik, die gleichsam unter der Oberfläche der Schulbuchseite ruht und von den Schülern entdeckt werden will, kann sich beispielsweise dadurch erschließen, dass ein Bild in Widerspruch zu etwas tritt, was im Text gesagt wird (Beispiel in Saphir Titel und Bild auf Seite 126/127). Das löst einen kognitiven oder auch emotionalen Konflikt aus und provoziert die Nachfragen und das Nachdenken – was das eigentliche Ziel jedes schulischen Unterrichts sein sollte, der auf Lernzuwachs aus ist. „Unsere Kinder sollen zuerst das Denken lernen“, meinte der Vater einer Schülerin in Erlangen, die dort den islamischen Religionsunterricht besucht. Es ist weniger das Affirmative, das lernwirksam ist, sondern seine vielfache Spiegelung im Unerwarteten, Gegenteiligen, und in der Reflexion im Unterrichtsgespräch. Ungeachtet möglicher einzelner Fehlgriffe in Saphir, die zu prüfen sind, liegen der Auswahl der Bilder also schulbuchdidaktische Prinzipien zu Grunde. 3.2 Zur Frage der Vermittlung Der Begriff der „Vermittlung“ ist ein ideologischer, kein wissenschaftlicher Begriff. Ihre Forderung nach „Vermittlung von Wahrheit“ oder „Vermittlung des Bekenntnisses“ ist mit Blick auf allgemeine Grundsätze der religiösen Erziehung und des Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

Religionsunterrichts sogar besonders prekär. Bleiben wir beim „Wissen“: Wissen wird nicht vermittelt, sondern auf der Grundlage vielfacher Erfahrungen (die sensorische Wahrnehmung, die Informationsverarbeitung, das Vorwissen, Nachspüren, Einfühlen, Nachdenken…) hergestellt. Von wem? Nicht vom Schulbuch, und nicht vom Lehrer an der Tafel, sondern in den Köpfen der Lernenden, und zwar jeweils so unterschiedlich wie die Anzahl der Köpfe im Klassenraum. Die Organisation der Lernwege ist sehr individuell, und ein guter Unterricht muss die notwendige Beweglichkeit mitbringen, damit die Schülerinnen und Schüler in Ruhe ihre Lernwege entdecken und begehen können. Das muss auch die Religion in Kauf nehmen, wenn sie denn unbedingt in die Schule will. Einer meiner Studenten schrieb mir, nachdem er Ihre Stellungnahme gelesen hatte, in einer spontanen Reaktion: „Vielen Dank für den Artikel von Milli Görüş zum Religionsunterricht und zu Ihrem Lehrbuch. Ich war selbst überrascht, wie deutlich dort gesagt wird, was ich selbst eher provokativ geäußert hatte, nämlich dass nur ein Indoktrinationsunterricht dem Islam wirklich gerecht werden würde: ‚Von zentraler Bedeutung ist es, dass die grundlegenden Überzeugungen des Islams als Glaubenswahrheit, also

die Inhalte des Bekenntnisses, als bestehende Wahrheiten vermittelt werden. Religionsunterricht wird vom Lehrer aus dem Glauben heraus, nicht aus der Distanz heraus gestaltet, der Lehrer vermittelt, was geglaubt werden soll.’ Ich wünsche Ihnen und Ihrem Konzept dennoch weiterhin viel Erfolg (nicht weil ich es „korangemäß“ finden würde, sondern weil ein islamischer Indoktrinationsunterricht eine Katastrophe für Deutschland wäre).“ Ich würde das anders formulieren, was mit dem Unwort „korangemäß“ zu tun hat. Aber er hat Recht: Ein Buch für den schulischen islamischen Religionsunterricht kann nicht wie ein İlmihal, also wie ein Leitfaden für Abfragbares im Rahmen katechetischer Unterweisung funktionieren. Als ganz besonders hinderlich für das Lernen haben sich bei Schulbüchern nämlich zwei Dinge erwiesen, die zu den Kardinalfehlern der Schulbuchkonzeption zählen. Erstens: Wenn Erkenntnisse vorweggenommen werden, zu denen die Schülerinnen und Schüler von selbst gelangen sollen, indem sie im Buch vorformuliert oder anderweitig angesteuert werden. Zweitens: Wenn die Schülerinnen und Schüler nicht ernst genommen werden; schlagen sie ein Buch auf und erkennen sich nicht wieder oder ärgern sich, weil man sie unterschätzt, klappen sie es wieder zu.

Die Organisation der Lernwege ist sehr individuell, und ein guter Unterricht muss die notwendige Beweglichkeit mitbringen, damit die Schülerinnen und Schüler in Ruhe ihre Lernwege entdecken und begehen können.

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Nicht vergessen werden darf dabei, dass das Schulbuch nicht herrenlos im Klassenzimmer liegt, sondern eingebettet ist die Stoffverteilung und die didaktische Sequenzierung durch die Lehrenden.

Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

Das sind übrigens zwei Fehler, die auch den Unterricht zerstören. Die bereits weit reichenden Erfahrungen mit dem Einsatz von Saphir im Unterricht zeigen, dass die muslimischen Schülerinnen und Schüler das Buch nicht nur aufgeschlagen lassen – sie wollen es gleich mit nach Hause nehmen und am liebsten behalten. Ich habe in meiner fünfzehnjährigen Erfahrung als Grund- und Hauptschullehrer aller Fächer noch kein Schulbuch gesehen, das Vergleichbares ausgelöst hat. 3.3 Zur Frage der thematischen Vollständigkeit In Saphir scheint manche Thematik nur angerissen und quasi „unvollständig“ dargestellt zu sein. Das Buch folgt den thematischen Vorgaben der Lehrpläne, die gegenwärtig in Kraft sind. Daraufhin ist es in den Gutachterverfahren geprüft und für gut befunden worden. Saphir 5/6 steht also in einer Sequenz von Unterricht, der davor und danach kommt: Vor ihm liegt der islamische Religionsunterricht der Primarstufe, für den es inzwischen mit „Mein Islambuch 1/2“ einen ersten Wurf gibt. Nach ihm kommt der islamische Religionsunterricht in 7/8 und 9/10, zu dem es jeweils einen Band der Reihe Saphir geben wird. Bliebe noch die Kollegstufe, weil in Bayern der Islamische Unterricht jetzt auch

am Gymnasium angeboten wird. Vieles von dem, was Sie vermissen, wird also entweder vor oder nach der 5. und 6. Jahrgangsstufe behandelt. Ich denke, dass der obige Exkurs zum Themenbereich „Hadith“ das ausreichend veranschaulicht. Nicht vergessen werden darf dabei, dass das Schulbuch nicht herrenlos im Klassenzimmer liegt, sondern eingebettet ist in die Stoffverteilung und die didaktische Sequenzierung durch die Lehrenden. Wenn es also weiter unten um spezielle Stellen in Saphir 5/6 geht, muss auch in den Blick genommen werden, in welchen thematischen und didaktischen Kontext diese Stelle eingebettet ist – ungefähr so wie das die Koranhermeneuten mit einem Koranvers machen.

4. Ein zweiter Schwenk zu Saphir: Konkretes

Ihre Stellungnahme hat mich nicht direkt erreicht, sondern sie wurde mir von einem Studenten zugeschickt. Ich weiß nicht, ob das symptomatisch ist für Ihre Art der Kommunikation. Ich weiß ja nicht einmal, ob Sie sich für das interessieren was ich hier schreibe. Ich rechne da eher mit der Drittwirkung. Bei Ihrer Stellungnahme handelt es sich um eine elektronische Datei (pdf ), die man auf Ihrer Webseite nur findet wenn man danach sucht. Sie umfasst ca. 8 Seiten ohne Seitenzählung und ist überschrieben mit „Stellungnahme der IGMG zum Religionsbuch „Saphir 5/6““. Das Dokument erwähnt interessanterweise niemanden namentlich als Autorin oder Autor. Hier frage ich mich, ob alle in der IGMG diese publizierte Stellungnahme teilen oder ob Sie damit intern auf Schwierigkeiten stoßen. Ihr Text ist untergliedert in die drei Kapitel „I) Diskussion zum Islamischen Religionsunterricht (IRU)“ (1 Seite), „II) Saphir 5/6, Analyse und Stellungnahme“ (6 Seiten) und „III) Resümee“ (eine halbe Seite); das Kapitel II ist untergliedert in die vier Abschnitte „1. Bekenntnisorientiert und kundlich distanziert?“, „2. Interreligiosität“, „3. Bilder und Zeichnungen“ und

Seite 16 „4. Sprache und Begriffsverwendung“. Ich möchte nun kurz auf die folgenden Propositionen eingehen, die Ihr Text beinhaltet, wobei ich bestimmte Dinge zusammenfasse, sonst wird es zu lang (die Großbuchstaben helfen mir bei der Strukturierung; in den Klammern dahinter Ihre Seitenhinweise): Zu I A: Die Modellversuche zu Islamischem Unterricht finden ohne die islamischen Religionsgemeinschaften statt. B: Das Interesse der Länder an einem kundlichen Unterricht steht gegen das Interesse der islamischen Gemeinschaften an einem bekenntnisorientierten Unterricht. Zu II.1 C: Die fehlende Vermittlung der Praxis des Islams ist ein Kennzeichen der islamkundlichen Ausrichtung von Saphir 5/6 (49). D: Saphir 5/6 bringt den muslimischen Schülerinnen und Schülern nicht das Gebet näher, sondern die Probleme mit dem Gebet (50). E: Saphir 5/6 stellt das Gebet als die geistige Zuwendung zu Gott in den Vordergrund und vernachlässigt Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

die Bedeutung der rituellen Form und der Gebetspflicht (42 ff.).

nung wieder, verstärkt durch die Vokabel „Pax“ (S. 167).

F: Saphir 5/6 marginalisiert den Freitag der Muslime gegenüber dem Samstag der Juden und dem Sonntag der Christen (52).

L: Die Darstellung von Texten aus jüdischen, christlichen und islamischen Quellen suggeriert eine Nähe zwischen den Religionen, die nicht gegeben ist, und unterläuft die Botschaft von Vers 4:171 (119).

G: Saphir 5/6 verzichtet auf die Verwendung der 1. Person Plural des kollektiven „Wir“ im Sinne von „unser Glaube“, „unser Prophet“ oder „unsere Schwestern und Brüder“. Zu II.2 H: Saphir 5/6 hat eine interreligiöse Konzeption, derzufolge die Grenzen zwischen den Religionen verwischt werden. I: Saphir 5/6 folgt darin dem von H. Behr formulierten Leitmotiv der „kritischen Distanz zum Islam“ (Apostrophe kennzeichnen Zitierung), was der Vermittlung des Bekenntnisses zum Islam zuwiderläuft. J: Die Darstellung des islamischen Glaubenszeugnisses ist an einer Stelle unvollständig, während diejenigen anderer Religionen vollständig sind, an der besonders auf die Vollständigkeit hätte geachtet werden sollen; der Islam wird relativiert (17). K: Eine weitere Relativierung des Islams findet sich in einer Zeich-

M: Es ist zutreffender, das jeweilige Selbstverständnis von Judentum und Christentum darzustellen (allgemein). Zu II.3 N: Die Auswahl der Bilder belegt eine negative Einstufung des Islams, evoziert Antipathie und ordnet den Islam anderen Religionen unter (56, 113, 114, 169). O: Beim Thema der Auswanderung wird der Aspekt religiöser und politischer Unterdrückung ausgelassen (78 ff.). P: Die Bilder zum Thema Engel sind christlicher Prägung und entsprechen nicht der Vorstellung im Islam (keine Erwähnung der abgebildeten Merkmale in den islamischen Quellen) (56, 58, 59). Q: Die Bilder stellen nicht nur nicht die Lebenswirklichkeit von Muslimen dar, sondern transpor-

tieren negative Assoziationen, auch durch die Verwendung islamischer Namen in negativen Kontexten (Gewalt, Unzuverlässigkeit…) (116, 129, 132, 162). R: Die unästhetische Darstellung des klassisch Islamischen bzw. seine Ausblendung stellt eine unterschwellige Beeinflussung dar (159 ff.). S: Die Abbildung der christlichen Nachrichtensprecherin Dunja Hayali auf der Seite, wo es um muslimisches Leben in Deutschland geht, ist ein grober Fehler (160). Zu II.4 T: Saphir 5/6 verwendet eine akademische Umschrift für Wörter aus dem Arabischen anstatt der im Türkischen üblichen Schreibweise (allgemein). U: Die Bedeutung der Sunna wird relativiert (50, 188). Zu III V: Saphir 5/6 ist für den bekenntnisorientierten Unterricht gar nicht und für den islamkundlichen Unterricht nur unter Vorbehalt geeignet. Ich gehe nun auf einzelne Punkte ein.

Seite 17 4.1 Zu A und B: Die Sache mit der Religionsgemeinschaft Inwieweit die Modellversuche zu islamischem Religionsunterricht ohne die islamischen Religionsgemeinschaften stattfinden, könnte differenzierter gesehen werden; hier gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. Der Schulversuch zum Islamischen Religionsunterricht in Bayern, der als so genanntes „Erlanger Modell“ bekannt geworden ist, beruht auf der Kooperation des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus und der Islamischen Religionsgemeinschaft in Erlangen e.V. (IRE). Ihre Vertreter waren auch, gemeinsam mit mir, an den Kommissionen beteiligt, die die beiden zugelassenen Lehrpläne für den Islamischen Unterricht entworfen haben (siehe dazu [KMS 2004] und [KMS 2006]). Die IRE war mit ihrem Votum an meiner Berufung auf die Professur für Islamische Religionslehre beteiligt. Das inzwischen erweiterte Modell „Islamischer Unterricht“ wird von einem muslimischen Beirat im Kulturministerium begleitet. In ihm sind nicht etwa „keine“, sondern wohl eher zu viele islamische Gemeinden vertreten. Ob das Interesse der Länder oder „des Staates“ an einem kundlichen Unterricht wirklich gegen das Interesse der islamischen Gemeinschaften Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

an einem bekenntnisorientierten Unterricht steht, wäre zu diskutieren. Der Bayerische Staatsminister für Unterricht und Kultus im Jahr 2007, Siegfried Schneider, hat zu diesem Punkt gesagt: „Der Modellversuch in Erlangen … weist damit bereits wesentliche Kennzeichen eines zukünftigen Religionsunterrichts auf … Schrittweise können wir uns aber einem Islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach nähern“ (Schneider 2008, 174). Die Zielsetzungen in Baden-Württemberg sind ähnlich. Andere Bundesländer gehen hier andere Wege, die entweder näher an den Vorbildern der südlichen Bundesländer orientiert sind oder aber mehr in Richtung alternativer Modelle tendieren. Die Gründe dafür liegen in den Unterschieden rechtlicher Art, aber auch in unterschiedlich gewachsenen pädagogischen und sozialen Traditionen sowie in regionalen Mentalitäten, mit Religion zu verfahren – Hamburg wäre da ein Beispiel für einen „hanseatischen Zugang“. Man muss lange in Deutschland gelebt haben und tief in den hiesigen Kulturen verwurzelt sein, um das zu sehen. Man kann zum Beispiel das Hamburger Modell erst dann richtig verstehen, wenn man sich einmal vertieft mit der Rolle des Nordens in der deutschen Reformbewegung vor

Man kann zum Beispiel das Hamburger Modell erst dann richtig verstehen, wenn man sich einmal vertieft mit der Rolle des Nordens in der deutschen Reformbewegung vor etwa 100 Jahren auseinandergesetzt hat.

etwa 100 Jahren auseinandergesetzt hat. Es wäre der Nachfrage wert, einmal die muslimischen Religionsgemeinschaften in den Regionen zu fragen, ob sie sich gut genug in die Prozesse um den islamischen Religionsunterricht integriert oder ob sie sich übergangen fühlen.Sie haben sich in Ihrer Stellungnahme dezidiert zu religionsverfassungsrechtlichen Fragen geäußert, die aber nicht Gegenstand meiner Tätigkeit sind. Ich gehöre auch keiner Organisation an, die derlei betreibt. Die Güte Ihrer rechtswissenschaftlichen Argumentation müssen deshalb andere prüfen. Ich selbst frage mich allerdings, ob Sie als IGMG nicht zukünftig mehr Auskunft erteilen sollten darüber, wie Sie die gegenwärtige Situation von Musliminnen und Muslimen wahrnehmen und wie Sie die gemeinsamen Ziele für die Zukunft beschreiben würden, anstatt sich hinter dem Grundgesetz zu verschanzen. Was wollen Sie eigentlich in Deutschland erreichen, was sind Ihre Ziele, und worin unterscheiden Sie sich von anderen Organisationen Ihrer Art? Ich rede hier nicht von der üblichen Präsentationslyrik, sondern von echten Anknüpfungspunkten für den Sachdiskurs, der ja auch eine theologische Dimension hat (vgl. hierzu [Behr 2007 b, 2 ff.]). Sie sind noch nicht als Religionsgemeinschaft zu erken-

Seite 18 nen, die diese Bezeichnung verdient. 4.2 Zu G und H: Die Sache mit der Identifizierung und der Identität Die Reihe Saphir verzichtet bewusst auf die Verwendung der 1. Person Plural des kollektiven „Wir“ im Sinne von „unser Glaube“, „unser Prophet“ oder „unsere Schwestern und Brüder“, es sei denn es kommen Personen vor, die erkennbar eine Selbstauskunft erteilen (in Textarten wie Brief, Interview, Chat, Dialog…). Das hat nichts damit zu tun, dass in einem islamkundlichen Modell bevorzugt im Modus der Beschreibung gesprochen und geschrieben wird. Auch für den bekenntnisorientierten Religionsunterricht gilt, dass in der Sprache des Unterrichts und der Materialien der informative Aspekt Vorrang haben muss vor dem performativen. Das „Wir“ kann nicht Standardmodus des Lehrenden sein; dafür gibt es pädagogische Gründe. Formulierungen wie in einem früheren Lehrplanentwurf des Zentralrats der Muslime, der von „Wir und die anderen“ sprach, müssen leider entfallen. Das „Wir“ wird heute auch für unverfänglichere Unterrichtssituationen („Wir legen den Stift hin und schauen zur Tafel!“) in ernsthafter Didaktik abgelehnt. Die Reihe Saphir führt lieber über den deskriptiven Redemodus zur persönlichen Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

Die Wendung im Modus erfolgt in der Regel nicht, indem die Lehrkraft zum virtuellen „Wir“ der Muslime umschwenkt, sondern zum realen „Ich“ der Schülerin und des Schülers.

Auseinandersetzung mit der Sache, wie zum Beispiel im Lexikon: „Im Qur’ān steht: ‚Gott bezeugt (schahida • Schahāda) von sich selbst, dass Er der einzige Gott ist’ (Saphir 5/6, 186 unter dem Stichwort „Islām“). Und dazu: „Im Mittelpunkt des Islāms steht der Glaube an den einen Gott“ (Saphir 5/6, 13). Wie hätten Sie’s denn gerne? „Im Mittelpunkt unseres Islāms steht der Glaube an den einen Gott“, oder: „Im Mittelpunkt des Islāms steht unser Glaube an den einen Gott“, oder so: „Im Mittelpunkt des Islāms steht der Glaube an unseren Gott“? Merken Sie was? Die Wendung im Modus erfolgt in der Regel nicht, indem die Lehrkraft zum virtuellen „Wir“ der Muslime umschwenkt, sondern zum realen „Ich“ der Schülerin und des Schülers. Das geschieht meistens in den Impulskästen, die sich zu jeder Doppelseite finden, zum Beispiel: „… Was bedeutet es für dich selbst, Gott mit deinen fünf Sinnen nicht begreifen zu können? Denk darüber nach, tausche dich mit anderen aus...“ (a.a.O.). Anrede in der 2. Person Plural findet sich in Anweisungen, die sich auf das Arbeiten in Gruppen beziehen. Damit ist auch nicht in Abrede gestellt, dass der Islamische Religionsunterricht als „islamisch“ erkennbar und

„unsere Kinder als Muslime erkennbar sein“ sollen, wie das im Rahmen der o.g. Hohenheimer Tagungen von muslimischen Eltern formuliert wurde. Aber es gibt identitätstheoretische Begründungen für die erwähnte Zurückhaltung im Redemodus, zu denen demnächst noch publiziert werden wird ([Behr 2010]). 4.3 Zu I: Die Sache mit der Distanz Auf die Problematik der Vokabel „Vermittlung“ im Rahmen von Schule und Unterricht bin ich oben bereits eingegangen (Sie können da auch noch [Behr 2005 b], 107, 108, 114, 152, 185, 207, besonders aber 271 ff. hinzuziehen). Wie Sie darauf kommen, Distanz zum Islam sei ein von mir formuliertes Leitmotiv für den Islamischen Religionsunterricht, können Sie mir mal bei Gelegenheit erklären. Ich glaube Sie haben da ein bisschen selektiv hingehört: Im Rahmen der beiden Pressekonferenzen zum Erscheinen von Saphir 5/6 im September 2008 in Köln und in München habe ich über das Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz zwischen Kind und Sache gesprochen. Bei beiden Veranstaltungen waren Funktionäre Ihrer Organisation zugegen, die das ohne Widerspruch aufgenommen haben. Besonders in München gab es Beiträge, die die Diskussion beflügelten, aber nicht von Ihnen. Sollte ich dort

Seite 19 in dem von Ihnen angesprochenen Maß den Aspekt der Distanz hervorgekehrt haben, ohne auch über die Nähe zu sprechen, dann hätte ich erwartet, dass Sie sich gleich vor Ort in die Diskussion einschalten (und mich nötigenfalls auch korrigieren, wenn mir in der Hitze des Gefechts ein solcher Fehler unterläuft). Das haben Sie nicht getan, und ich bin danach zu keiner Zeit und von niemandem Ihrer Organisation darauf angesprochen worden. Inzwischen habe ich dazu aber auch etwas geschrieben, was die Sache hinreichend klärt ([Behr 2008 c], 7-8). 4.4 Zu C, D und E: Die Sache mit der Praxis Ihrer Ansicht nach ist die fehlende Vermittlung der Praxis des Islams ein Kennzeichen von Saphir 5/6, das nicht das Gebet näher bringe, sondern die Probleme mit dem Gebet. Zudem meinen Sie, der Aspekt der geistigen Zuwendung zu Gott sei zu sehr in den Vordergrund gerückt. Sie haben Recht, aber Sie haben es nicht verstanden, obwohl Ihnen die Kapitelüberschriften der Seiten 43 bis 54 präzise verraten, worum es geht. Die Praxis des Gebets ist in dem Maß, wie das überhaupt Gegenstand des schulischen Unterrichts sein kann, Thema in den Jahrgangsstufen 1 bis 4. Saphir 5/6 setzt also Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

Kenntnisse voraus und richtet sich an eine Altersgruppe, in der die Schülerinnen und Schüler nachfragen, ob das denn alles so genau genommen werden muss mit dem Gebet. Das liegt daran, dass sie mehr und mehr Planungskompetenz über ihren Tag erhalten und sich natürlich fragen, wie sie ihre Zeit sinnvoll nutzen können; manchmal steckt dahinter auf einfach nur ihre Unlust. Das ist überhaupt der Anlass, warum Saphir 5/6 intensiver auf eben jene geistige Dimension des Gebets eingeht, die Sie monieren: Es geht darum, die Sache schmackhaft zu machen, nicht darum, sie durchzusetzen. Ich möchte das am vierten Kapitel deutlich machen, wo es um das Gebet geht. Saphir 5/6 entfaltet über die 12 Seiten dieses Kapitel folgendes Profil, wie Sie das auch im demnächst erscheinenden Lehrerband zu Saphir 5/6 ausführlicher nachlesen können:

auf jene Gruppe von Versen, die das rituelle Pflichtgebet in einen rhythmisierten Ablauf bestimmter Tagesund Nachtzeiten stellen. Das bietet Anlass darüber nachzudenken, worin der Sinn einer solchen formalen Festlegung liegen könnte (hier der Zusammenhang zwischen dem Beten und den alltäglichen Handlungen in ihrer Dimension des Guten und Schlechten). Die Seiten 44/45 verbinden Bildimpulse vielfältiger beobachtbarer Ausdrucksformen betender Menschen mit unsichtbaren spirituellen Innenwelten und religiösen Haltungen. Dieser Zusammenhang ist transkulturell und gestattet interreligiöse Zugänge. Die Seiten 46/47 rücken schülergemäße Lebenssituationen in die Mitte, die Anlass zur betenden Ansprache des Menschen an Gott bieten. Sowohl die Basmala als auch der islamische Gebetsruf (adhān) verweisen auf den Situationsbezug bestimmter Formeln und Im vierten Kapitel geht es um die Texte der islamischen Tradition. Die Anbetung Gottes – zunächst als Seiten 48/49 stellen einen Bezug her die zentrale Form des islamischen zwischen den Formen und Rhythmen Pflichtgebets (salā), dann als freie der islamischen Anbetung und ihrer Ansprache des Menschen an Gott Verortung in Zeit und Raum: Wer (ducā’). Dabei stehen nicht, wie sonst als Muslim die regelmäßigen Gebete üblich, die formalen Aspekte des einhält, sieht sich in größere, kosrituellen Vollzugs, sondern das Nach- mische Zusammenhänge eingeorddenken über die religiöse Erfahrung net. Die Seiten 50/51 beleuchten mit und die Bedeutung für den betenden besonderem Blick auf die neugierige Menschen im Vordergrund. Seite 43 und kritische Nachfrage heranwachverweist mit dem Koranvers 11:114 sender Musliminnen und Muslime

Die Schülerinnen und Schüler lernen im Unterricht, dass alles, was von Gott erschaffen wurde, ihn auch anbetet – „freiwillig oder widerwillig“, wie es der Koran ausdrückt (13:15).

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Beide Dimensionen, die anthropologische und die theologische, unterstützen die Schülerinnen und Schüler dabei, sich eine selbst verantwortete Vorstellung von Gott zu erarbeiten.

Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

ausgewählte formale Aspekte der muslimischen Gebetspraxis. Die Seiten 52/53 verweisen auf das Gebet in seiner besonderen Form als gesprochener oder gelesener, frei formulierter oder tradierter Text und führen sowohl zur spezifisch islamischen Gepflogenheit (Korantexte wie die Sure al-fātiha als Gebet) als auch zu Parallelen in nicht-islamischen Traditionen. Die abschließende Seite 54 gibt mit einem Gedicht von Rumi ein Beispiel für das Genre klassischer islamischer Dichtkunst, welche die Idee des Menschen thematisiert, der nach Gott sucht und dabei zur Zwiesprache mit Ihm findet.

oben schon beschriebenen anthropologischen Eröffnung den Blick auf die „Erkrankung des Herzens“.

Die Seite 51 zeigt deutlich, dass es nicht nur um die geistige Zuwendung geht, sondern eben darum, den Menschen in seiner Ganzheit in den Blick zu nehmen. Das Lexikon ergänzt unter dem Stichwort „Gebet“ das nötige Detailwissen. Seite 52 enthält einen Fehler im Bild des Betenden, der korrigiert werden muss (Handhaltung; es gibt ein paar mehr solcher Fehler in dieser ersten Auflage). Aber auf dieser Seite finden Sie zwei Dinge, die Ihnen an anderer Stelle zu fehlen scheinen: Von besonderer Impulskraft ist die der Freitag, der Samstag und der Doppelseite 48/49. Die Schülerinnen Sonntag sind gleichberechtigt aufund Schüler lernen im Unterricht, geführt, und die betenden Kinder dass alles, was von Gott erschaffen sind oben auf der Seite und nicht wurde, ihn auch anbetet – „freiwillig unten. Zudem scheinen Sie die oder widerwillig“, wie es der KoDinge bevorzugt in einem negativen ran ausdrückt (13:15). Was, so lässt Licht wahrzunehmen: Sie sehen auf sich mit den Schülern erörtern, ist Seite 50 unbotmäßige Problematidie Lage eines Menschen, der Kraft sierungen des Gebets, ich sehe dort seiner wesenhaften Geschöpflichzwei junge Menschen, die neugiekeit bereits betet, sich Kraft seines rig auf das Gebet sind und wissen Willens aber dagegenstemmt? Die wollen wie sie das richtig machen. Schüler kommen schnell auf diese Idee: Die Spannungen, die sich 4.5 Zu J, K, L und M: Die Sache dadurch aufbauen zwischen ihm mit der Interreligiosität und sich selbst, seinen Mitmenschen Die Darstellung des islamischen und seiner Umwelt können dazu Glaubenszeugnisses auf der Seite führen, dass er erkrankt. Nicht von 17 ist unvollständig und könnte ungefähr lenkt der Koran mit seiner in der Tat vervollständigt werden,

auch wenn diejenigen der anderen Religionen, anders als Sie das darstellen, auch unvollständig sind. Das hat damit zu tun, dass sich das erste Kapitel im Buch ganz allgemein der Gottesfrage widmet, nicht derjenigen der Zugehörigkeit zu einem bestimmten religiösen Bekenntnis. Es wirft die Frage nach Gott auf, die sich zunächst einmal jedem Menschen unabhängig von seinem religiösen Bekenntnis stellen kann, dann aber den zentralen Bezugspunkt der spezifischen Glaubenssaussagen des Islams bildet. Beide Dimensionen, die anthropologische und die theologische, unterstützen die Schülerinnen und Schüler dabei, sich eine selbst verantwortete Vorstellung von Gott zu erarbeiten. Die Geschichte von Abu Hanifa (ich hoffe Sie haben nichts dagegen, dass wir uns für ihn entschieden haben) veranschaulicht das als eine Herausforderung an den nachdenkenden Menschen, den ja im Übrigen auch der Koran immer wieder anspricht. Die Doppelseite wirft diese Frage wieder auf die universelle, anthropologische Dimension zurück: Die Frage nach Gott bewegt jeden Menschen, sofern er bereit ist sich ihr zu stellen. Damit rücken Elemente der Gemeinsamkeit in allgemein mitmenschlicher, aber auch spezifisch interreligiöser Hinsicht ins Zentrum.

Seite 21 Das Thema der Seite 17 ist nicht die Bekenntnisformulierung; die kommt in Saphir 7/8, weil sie dann auch Thema der Lehrpläne ist. Dann kommen im Übrigen auch die von Ihnen angemahnten christlichen und jüdischen Binnenperspektiven noch deutlicher zum Zug, und zwar jeweils in einem ihnen eigens gewidmeten Kapitel. Hier jedoch geht es um die Gemeinsamkeit der Frage und der Antwortstrategie, was durch die Verkürzung deutlicher erkennbar wird. Die Leserinnen und Leser wissen, dass die Schahada weitergeht, und Sie können sicher sein, dass sie das im Unterricht sofort ergänzen. Ein Lernziel erreicht.

Kapitel 10 greift den in Kapitel 9 grundgelegten Gedanken des pluralen Religionsverständnisses auf und bezieht ihn auf die interreligiöse Dimension – konkret auf andere „Heilige Schriften“ neben dem Koran. Dabei wird das theologische Verstehen vertieft und um die Dimension des ästhetischen Gestaltens von Schrift bereichert. Die Seiten 112/113 führen weitere Bezeichnungen für den Koran als Buch sowie Schriftbeispiele an und erklären, was es mit dem arabischen Wort al-qur’ān auf sich hat. Die korrespondierenden Bildimpulse lenken dabei den Blick weg vom exklusivistisch religiösen Anspruch hin auf die grundlegende Gemeinsamkeit des Lesens als Kulturtechnik (vgl. im Koran 96:1-5) mit Judentum, Christentum und nicht-religiösen Systemen des Nachdenkens über die Welt.

die Sakralsprache einer hermetischen Schrift, zu der sie keinen verstehenden Bezug haben, sondern bei der sie auf den Bericht Dritter angewiesen sind – eine verhängnisvolle Situation. Dass die Vokabel pax, noch eine Fremdsprache, „Friede“ bedeutet, finden die Schülerinnen und Schüler indes leicht raus. In der Frage des Friedens verbindet die Religionen mehr als sie voneinander trennt.

In Kapitel 14 geht es also nicht um andere Religionen. Der Islam als Teil der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler wie auch der Gesellschaft insgesamt unterliegt indes Veränderungen über die Zeit und die Generationen hinweg. Die Mit Suggestion arbeitet Saphir nicht. Themen dieses Kapitel laden ein, Sie in ihren Moscheen etwa? Lateidie damit verbundenen Fragen nach nisch suggestio, auch „Einflüsterung“; religiöser und kultureller Identität für die ist ein anderer zuständig. zu diskutieren – nicht zuletzt mit Wir verzichten auf manipulative Die Bibelzitate sind übrigens der ara- Blick auf die nicht verhandelbare Beeinflussungen von Gedanken bischen Übersetzung des AT und NT Anerkennung religiöser Pluralität. oder Gefühlen unter Umgehung der entnommen, wie sie von arabischDie Seiten 166/167 vertiefen die Bewusstheit. Die „suggerierte Nähe“ sprachigen Christinnen und Christen Dimension des Zusammenlebens zwischen den Religionen, die Ihrer verwendet wird. Von denen, die sie unter Einbezug der Perspektive von Ansicht nach „nicht gegeben“ ist, ist in Ihrer Stellungnahme vor dem inGlauben und religiösem Bekenntnis; also keineswegs suggeriert, sondern klusivistischen Übergriff in Schutz zu den Schwerpunkt bilden hier die intendiert. Warum? Weil sie eine nehmen meinen müssen, ernten wir zahlreichen differenzierten ArbeitsRealität ist. Das „unterläuft“ ebenso- seltsamerweise gerade für die Seite impulse, mit denen die Schüler an wenig die Botschaft von Vers 4:171, 119 besonders viel Lob. Es stimmt eine aktivere Auseinandersetzung mit wie es die Botschaft von Vers 2:4 aber, dass darin für viele muslimische dieser Schlüsselfrage des gesellschaftunterläuft. Hier geht es um etwas an- Schüler, deren Muttersprache nicht lichen Friedens herangeführt werden. deres, das Ihnen verborgen geblieben Arabisch ist, ein komplexer Lernist. Ich will es für Sie anleuchten: schritt liegt: Für sie ist das Arabische Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

4.6 Zu F, N, Q und R: Die Sache mit der Marginalisierung des Islams Was stellen Sie sich unter „klassisch islamisch“ eigentlich vor? Besuchen Sie einmal Kairo und lassen Sie auf sich wirken, wie die osmanische Moschee oben auf der Festung über den fatimidischen und mamelukischen Moscheen unten in der Altstadt thront. Was ist in Ihren Augen nun klassisch – der osmanische Triumphalismus oder die kulturelle Vielfalt? Moscheen in Indonesien sehen manchmal aus wie eine arabische Puppenstube, dann aber auch wieder wie die Empfangshalle des javanischen Kraton. Es gibt Moscheen ohne Wände, mit fünfeckigem Grundriss, aus Teakholz, nach allen Seiten hin offen – wunderschön und klimatisch bedingt. Andere Moscheen sehen aus wie Abschussrampen für Atomraketen. Die Kulturen des Islams sind vielfältig, die Debatten um Klassik versus Moderne auch. Wenn ich Ihren Monita seitenweise nachgehe, komme ich in der Summe zu folgendem Schluss: Ihre Einlassungen sagen mehr über Ihre Vorurteile aus als über Saphir. Jasmin ist kein „islamischer Name“ (57); was oben auf der Seite steht ist nicht wichtiger oder besser als was unten auf der Seite steht (113, 114, 169) – aus welcher skurrilen Ikonographie schöpfen Sie eigentlich

Seite 22 so einen Standard?; Tarik könnte auch ein irakischer Christ sein (132); und haben Sie mal darüber nachgedacht, dass dieser Tarik vielleicht auch Recht haben könnte? Und: Sie haben den Rollentausch im Impulskasten übersehen… Sie pflegen einen stereotypen Gewaltbegriff: Auf Seite 129 spricht Musa über physische Gewalt, Steffies Oma hingegen übt strukturelle Gewalt, indem sie die Ausländerin abweist; auch die Szenen auf Seite 162 haben Sie einseitig wahrgenommen. 4.7 Zu P: Die Sache mit den Engeln Ich kann Sie zunächst beruhigen: Die Darstellungen auf den Seiten 56 und folgende sind nicht christlicher Prägung; dagegen haben sich die Christinnen und Christen in der o.g. Frankfurter Vorlesung verwahrt. Gleich der erste Impuls auf Seite 57 klärt, welcher Prägung das ist. Der Einsatz von Bildern in Saphir wurde weiter oben bereits erläutert. Hier sei noch einmal drauf hingewiesen, dass Saphir auf jene Bildwelten eingehen möchte, die in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler herumgeistern. Wenn Sie meinen, dass das alles ein „christliches“ Problem sei, dann hier ein kleiner, keineswegs singulärer Impuls zum Nachdenken, kürzlich einer bayerischen Tageszeitung entnommen: Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

Die Vorstellungen von Ich will Sie wirklich nicht beunruhigen. Aber es gibt gute Gründe dafür, sich unbefangener mit den numinosen Welten junger Muslime auseinanderzusetzen. Deshalb greift das fünfte Kapitel mit dem Thema „Engel“ ein Element religiöser Tradierung auf, das auf vielfältige Weise in Alltagskulturen, Kunst und Kommerz Eingang gefunden hat. Die Vorstellungen von Engeln in den Köpfen von Kindern und Jugendlichen bedürfen, da sie in der Regel nicht auf geschultem religiösem Sachverstand beruhen, einer kritischen Diskussion. Dieses Kapitel greift daher solche Vorstellungen auch in ihrer schablonenhaften Darstellung auf und stellt ihnen die nachprüfbaren Information aus den Schriftquellen des Islams gegenüber. Nachprüfbar ist: Koran 2:97-98, 2:285, 4:97, 4:136, 7:206, 11:69-70, 16:49-50, 19:17, 21:26-29, 32:11, 35:1, 37:164-166, 43:19, 43:77, 43:80, 51:1-5, 53:1925, 66:6, 69:17, 74:30-31, 79:1-5…

Engeln in den Köpfen von Kindern und Jugendlichen bedürfen, da sie in der Regel nicht auf geschultem religiösem Sachverstand beruhen, einer kritischen Diskussion.

4.8 Zu T: Die Sache mit der Umschrift Damit sprechen Sie einen Punkt an, an dem ich selbst verunsichert bin. Saphir 5/6 verwendet, anders als Sie das behaupten, keine akademische Umschrift für Wörter aus dem Arabischen, aber auch keine der im Türkischen üblichen Schreibweisen. Darüber wurde auch in o.g. Frankfurter Vorlesung diskutiert. Wie bei jeder Umschrift steht man generell vor der Entscheidung, das graphemisch oder phonetisch zu lösen. Phonetisch hätte bedeutet, sich des Internationalen Phonetischen Alphabets zu bedienen – zu komplex. Graphemisch hätte bedeutet, der Konvention der Morgenländischen Gesellschaft zu folgen – zu akademisch. Das Einfachste ist in der Tat, das arabische Alphabet zu lernen und auf die Umschrift zu verzichten – geht von der Lehrplänen her nicht, wird aber im Lehrerband klipp und klar gesagt. In Saphir wird eine vereinfachte Umschrift verwendet, die sich an der Lautung und nicht an den arabischen Schriftzeichen orientiert. Das kann aber nur einen ungefähren Eindruck vom Klang eines arabischen Worts vermitteln. Ein arabischer Laut, der keine Entsprechung in der deutschen Sprache hat, wird durch ein Schriftzeichen wiedergegeben, das ihm am nächsten kommt. Deutsch-

Seite 23 sprachige Testleser kommen darüber dem arabischen Phonem am nächsten. Türkischsprachige Testleser identifizieren die Umschrift als „deutsch“ anstelle von „türkisch“ und schalten um, vorausgesetzt sie können gut genug Deutsch. Dazu konnte aber nicht ganz auf Zusatzzeichen verzichtet werden. Wer bereits die arabischen Buchstaben kennt, soll sich durch diese Umschriften nicht irritieren lassen. Sie stellen nur ein Hilfsmittel dar. Hier ein Beispiel: Ob der Laut „s“ stimmhaft oder stimmlos ausgesprochen wird, ist im Deutschen eine Frage des Dialekts. Im Arabischen hingegen gibt es für das stimmhafte „s“ den Buchstaben p . Der wird im Türkischen durch das Zeichen „z“ wiedergegeben. Das arabische Wort ÌÆp für „Zeitalter“ gibt es im Türkischen auch; dort wird es zaman geschrieben. Wer Türkisch kann weiß, dass hier ein stimmhaftes „s“ so wie in dem Wort „sammeln“ gemeint ist. Wer kein Türkisch kann, würde hingegen zaman so lesen wie das Wort „Zange“. Das ist aber zu weit vom arabischen Wortklang entfernt; deshalb steht für den arabischen Buchstaben p hier besser ein „s“. Wirklich zufriedenstellend ist das noch nicht. Entgegen Ihrer zum Ausdruck gebrachten Abneigung Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

Die damit verbundene Frage der subjektiven Entscheidungskompetenz, wieviel „Sunna“ man für sich und seine Lebensgestaltung zulassen möchte, ist eines der zentralen Bildungsziele des islamischen Religionsunterrichts.

gegen Wissenschaftlichkeit denke ich darüber nach, ob nicht doch die stringente Durchbuchstabierung nach einem anerkannten Lautschriftsystem besser wäre, das sich mit dem internationalen UnicodeStandard vor allem auch elektronisch darstellen lässt. Das Für und Wider würde bleiben. Nur eins ist wohl verständlich: Saphir als Schulbuch für einen deutschsprachigen Unterricht kann sich nicht nach der türkischen Phonetik richten. 4.9 Zu U: Die Sache mit der Sunna Die Bedeutung der Sunna wird nicht, wie Sie annehmen, relativiert (50, 188), sondern gestärkt, indem sie in Bezug zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler gerückt wird. Die damit verbundene Frage der subjektiven Entscheidungskompetenz, wieviel „Sunna“ man für sich und seine Lebensgestaltung zulassen möchte, ist eines der zentralen Bildungsziele des islamischen Religionsunterrichts. Dazu wurde oben in den Abschnitten 2.1 und 2.6 das Wesentliche gesagt.

gefasst als das historische Exempel, dem er entstammt. Sie sind aber, wenn ich die Szene recht im Blick habe, eine politisch engagierte Organisation. Das ist gut so; wir brauchen mehr politisches Engagement. Was die in Rede stehende Altersgruppe angeht, ist es für politischen Sachverstand aber noch ein bisschen früh; die Gefahr von Indoktrinierung ist sehr hoch, und Zurückhaltung ist geboten. Solche Themen nehmen erst in Saphir 7/8 richtig Fahrt auf und werden in Saphir 9/10 vertieft.

Sorge bereitet mir indes, dass Sie die politische Botschaft auf den Folgeseiten 80 und 82 komplett übersehen haben, auch diejenige auf den Seiten 99, 126-127, 133, 134, 146 und 154. Wie konnte Ihnen das passieren? Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass Sie bei Begriffen wie „religiös“ und „politisch“ einer bestimmten Doktrin folgen, einer Ideologie, durch die Sie religiöse und politische Vielfalt nur sehr eingeschränkt wahrnehmen. Von daher an dieser Stelle noch einmal der Verweis auf mein 4.10 Zu O: Die Sache mit der Hidschra obiges Plädoyer an Sie, deutlicher Sie melden an, dass beim Thema der offenzulegen wer Sie sind und was Auswanderung der Aspekt religiSie für die Zukunft anstreben. öser und politischer Unterdrückung ausgelassen worden sei (78 ff.). In Um es also noch einmal klarzustelheutiger islamischer Theologie wird len: Was die von Ihnen angesproder Begriff der Hidschra weiter chene politische Sphäre angeht,

Seite 24 thematisiert das 7. Kapitel die Zeit Muhammads in Yathrib, dem späteren Medina, wohin er und die frühen Muslime unter persönlichen Verlusten auswandern mussten. Dabei geht es um dieses historisch abgeschlossene Ereignis der so genannten „Hidschra“ im engeren Sinne, aber auch um die zeitlose Erfahrung von Menschen, die sich aus unterschiedlichen, auch religiösen Gründen gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen. Flucht und Vertreibung einerseits, Ankommen und Beheimatung andererseits lassen sich aus der konkreten Lebensgeschichte Muhammads heraus also religiöse Bezüge beimessen, die hier und heute einen positiven Beitrag zu gelungener Integration leisten können. Die Seite 77 stellt den Koranvers 4:100 in seiner aktualisierten Bedeutung zur Diskussion: Wer aus Gründen des religiösen Bekenntnisses und unter Verlust oder Verzicht und in guter Absicht neue Pfade beschreitet, darf auf Sicherheit und Versorgung hoffen. Dabei geht es aber nicht nur um das bekannte Motiv der Verfolgung und Vertreibung, sondern auch um die freie Entscheidung, dem Dienst an Gott gegenüber anderen Wegen der Lebensgestaltung den Vorzug zu geben. Bei dieser Thematik sollen also nicht die von Ihnen vermissten Bezüge unterschlagen werden, die Sie ja nur übersehen haben, sondern Harry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

es soll die Maßgabe von Koranvers 4:100 nicht unterschritten werden. 4.11 Zu S: Die Sache mit Frau Hayali Sie bezeichnen die Abbildung der christlichen Nachrichtensprecherin Dunja Hayali auf der Seite, wo es um muslimisches Leben in Deutschland geht, als einen „groben Fehler“ (160), wir als einen technischen. Frau Hayali übrigens auch – eine nette Frau mit Humor. Der Fehler wird behoben.

5 Und nun?

Sie kommen zu dem Urteil, dass Saphir 5/6 für den bekenntnisorientierten Unterricht gar nicht und für den islamkundlichen Unterricht nur unter Vorbehalt geeignet sei. Das bleibt Ihnen belassen. Ihre Kritikpunkte zeigen im Einzelfall auf, wo Saphir 5/6 für die nächste Ausgabe noch verbessert werden kann. Eine Vielzahl anderer Fehler haben Sie nicht erkannt, aber wir, die Autorinnen und Autoren, die Herausgeberinnen und ich, der Verlag sowie zahlreiche wohlwollende Kritikerinnen und Kritiker. Denen gebührt unser Dank. Wie Sie zu dem pauschal ablehnenden Urteil gelangen, erschließt sich beim Nachvollzug Ihrer Monita jedenfalls nicht. Ich möchte es jetzt einmal hart formulieren und bitte Sie dafür um Verzeihung – ich tue das auch nur einmal: Ich habe den Eindruck, dass Sie das Buch zuerst abgelehnt und dann begutachtet haben. Nur so ist zu erklären, warum Sie bei den meisten Ihrer Kritikpunkte die Wahrnehmung des Ganzen ausblenden. Ihre Art der Argumentation verrät wenig theologischen und pädagogischen Sachverstand, was Sie durch ideologische Verengung, Vorurteile und stereotype Wahrnehmung auszugleichen versuchen. Sie haben, so tritt es aus Ihrem Text heraus, nicht die

muslimischen Schülerinnen und Schüler im Blick, sondern sich selbst. Ich hege allerdings die Hoffnung, dass mich der Eindruck trügt. Das ließe sich aber nur im Gespräch herausfinden. Ich verbleibe mit islamischem Gruß. Wa bil-lāhit-taufīq wal-hidāya – In Gottes Hand liegen die Versöhnung und die Leitung.

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6 Zum Nachlesen Behr, Harry Harun: Islamische Bildungslehre. Garching 1998. [Behr 2005 a] = Behr, Harry Harun: Erziehung und Bildung im Islam. In: Klöcker, Michael und Udo Tworuschka (Hg.): Handbuch Ethik der Weltreligionen. Darmstadt 2005. Seiten 76 ff. [Behr 2005 b] = Behr, Harry Harun: Curriculum Islamunterricht. Bayreuth 2005. [Behr 2007 a] = Behr, Harry Harun: Die Menschenwürde im islamischen Diskurs. Zeitschrift für die Religionslehre des Islam (ZRLI), Heft 2 2007, Jg.1. Nürnberg 2007. Seiten 2 ff. [Behr 2007 b] = Behr, Harry Harun: Grundriss islamisch theologischen Denkens im Kontext der Bundesrepublik Deutschland. In: Zeitschrift für die Religionslehre des Islam (ZRLI), Heft 1 2007, Jg.1, Seiten 2 ff. Nürnberg 2007 [Behr 2008 a] = Behr, Harry Harun, Mathias Rohe und Hansjörg Schmid (Hg.): „Den Koran zu lesen genügt nicht!“ Fachliches Profil und realer Kontext für ein neues Berufsfeld. Auf dem Weg zum Islamischen Religionsunterricht. Reihe Islam und Bildung. Band 1. Münster 2008. [Behr 2008 b] = Behr, Harry Harun: Wer sind denn die Ungläubigen? Eine Antwort aus muslimischer Perspektive. In: Zeitschrift für die Religionslehre des Islam (ZRLI), Heft 3 2008, Jg. 2. Nürnberg 2008. Seiten 26 ff. [Behr 2008 c] = Behr, Harry Harun: Die anderen fünf Säulen des Islams. Zu normativen Dimensionen des Islamischen ReligionsHarry Harun Behr: Ein Saphir mit Schliff

unterrichts. In: Zeitschrift für die Religionslehre des Islam (ZRLI), Heft 4 2008, Jg. 2. Nürnberg 2008. Seiten 7 ff. [Behr 2009 a] verweist auf das Diksussionforum zum Islamischen Religionsunterricht unter www.deutsche-islam-konferenz. de, dort der Beitrag H. Behr zur Verhältnisbestimmug von Islamischer Theologie und Religionsunterricht. [Behr 2009 b] = Behr, Harry Harun: Der Satan und der Koran. Zur theologischen Konstruktion des Bösen im Islam und dem therapeutischen Ansatz im Islamischen Religionsunterricht. In: Klaus Berger, Harald Herholz und Ulrich Niemann (Hg.): Das Böse in der Sicht des Islam. Verlag Friedrich Pustet. Regensburg 2009. Seiten 33-52. [Behr 2009 c] = Behr, Harry Harun: Ursprung und Wandel des Lehrerbildes im Islam mit besonderem Blick auf die deutsche Situation. In: Behr, Harry Harun, Daniel Krochmalnik und Bernd Schröder (Hg.): Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen, Frank und Timme, Berlin 2009; Erscheinungstermin voraussichtlich August 2009 [Behr 2010] = Behr, Harry Harun: „Was soll ich hier?“ Lebensweltorientierung muslimischer Schülerinnen und Schüler als Herausforderung für den Islamischen Religionsunterricht. In: Behr, Harry Harun, Christoph Bochinger, Mathias Rohe und Hansjörg Schmid (Hg.): Auf dem Weg zum Islamischen Religionsunterricht III. Persönliche Lebenswelt der Schüler, religiöse Identität und Gesellschaft, LIT, Münster; Erscheinungstermin voraussichtlich Januar

2010 Bochinger, Christoph, Martin Engelbrecht und Winfried Gebhardt: Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion. Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur. Band 3 der Reihe Religionswissenschaft heute, hg. von Christoph Bochinger und Jörg Rüpke. Kohlhammer. Stuttgart 2009 [Dokument a 2008] = SAPHIR 5/6 - İslam Din Dersleri olarak okutulmak istenilen, Kitap ile ilgili; der Verteiler verweist auf Mehmet Gedik als den stellvertretenden Vorsitzenden der IGMG und Vorsitzenden der IGMG-Bildungsabteilung; das damalige Papier sei von einer zuständigen Kommission der IGMG erarbeitet worden; unveröffentlichtes Dokument. [Hohenheim 2009] = Tagung „Auf dem Weg zum Islamischen Religionsunterricht III“, 16.-18. März 2009 in der Hohenheimer Akademie der Diözese RottenburgStuttgart, veranstaltet von H. Behr, Chr. Bochinger, H. Schmid und M. Rohe, gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung; siehe auch Behr [2008 a]. [IGMG 2009] = http://www.igmg.de  verband  presseerklärungen, Stand 1.8.09 [KMS 2004] = Fachlehrplan für den Schulversuch Islamunterricht an der bayerischen Grundschule, genehmigt mit KMS vom 12. Juli 2004 Nr. III.7 – 5 O 4244 – 6. 23 573 [KMS 2006] = Fachlehrplan für den Schulversuch Islamunterricht an der bayerischen Hauptschule, genehmigt mit KMS vom 7.

November 2006 Nr. III.6 – 5 O 4344 – 6. 89 430 Lehmann, Karsten: Individuelle Spiritualität und politische Positionierung. Religionswissenschaftliche Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Integration. In: Bayreuther Beiträge zur Erforschung der Religiösen Gegenwartskultur. Heft 1. 1. Jahrgang. Bayreuth. September 2008. Leimgruber, Stephan: Rezension zu Saphir 5/6 in Katechetische Blätter 3/2008 Maulana: Von allem und vom Einen, München 1988, S. 97. [Saphir 2009] = Kaddor, Lamya, Rabeya Müller und Harry Harun Behr: Saphir 5/6. Religionsbuch für junge Musliminnen und Muslime. München 2008. Schneider, Siegfried: „Wir stehen zur Religionsfeiheit.“ Schritte zur Integration – Perspektiven der Bundesländer für die Einführung von Islamischem Religionsunterricht. In: Behr, Harry Harun, Mathias Rohe und Hansjörg Schmid (Hg.): „Den Koran zu lesen genügt nicht!“ Fachliches Profil und realer Kontext für ein neues Berufsfeld. Auf dem Weg zum Islamischen Religionsunterricht. Reihe Islam und Bildung. Band 1. Münster 2008. 173-175. Ünal, Halit: Kitap tanıtımı. Saphir 5/6. Genç Müsülmanlara Din Kitabı. İslam Araştırmaları (Ð×ÇÚsßB ZÒdRÂB). Avrupa İslam Üniversitesi. Yıl 2 Sayı 3 Mayıs 2009. Rotterdam 2009. 179-181

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Amin Rochdi

„Two Jews, Three Options!“ Was kann man von einer jüdischen High School in Kalifornien für den Islamunterricht in Deutschland lernen? Wie weit darf gegangen werden, das Gesicherte in der eigenen Religion zu hinterfragen, zu reflektieren und dies den unterschiedlichen Lernertypen, die es vermutlich auch mit Blick auf das religiöse Lernen gibt, für die konkrete Situation aufzubereiten und anzubieten.

Im März dieses Jahres hatte der Verfasser dieses Artikels die Möglichkeit, im Rahmen einer auf junge europäische Muslime ausgerichteten Studienreise verschiedene Forschungseinrichtungen und Organisationen in den USA zu besuchen, die entweder von Musliminnen und Muslimen getragen werden oder die sich mit der Migration und Integration von Minderheiten befassen. Er wurde von zwölf weiteren Glaubensgeschwistern begleitet, die in unterschiedlichen europäischen Staaten leben und dort in ihren Gemeinden eine tragende Rolle spielen, oder die auf den Gebieten Erziehung, Politik oder Journalismus herausragende Leistungen erzielt haben. Die Reise erstreckte sich über drei Wochen und hatte die sechs Städte Washington D.C., New York, Columbus OH, Jacksonville, Sacramento und San Francisco zum Ziel. Organisiert und finanziert wurde sie von der US-amerikanischen Regierung, die im Rahmen ihres „International Visitor Leadership Program“ (IVLP) jährlich bis zu 5.000 Fachleute aus unterschiedlichen Feldern des öffentlichen Lebens in die

Amin Rochdi: Was kann man von einer jüdischen Highschool in Kalifornien für den Islamunterricht in Deutschland lernen?

Vereinigten Staaten einlädt, um dort Kollegen aus ihren eigenen Fachgebieten und interessante weitere Spezialisten kennenzulernen. Eine gute Gelegenheit auch, dieses große Land einmal von einer seiner wenig publizierten Seiten kennenzulernen. Bei dieser Reise ging es darum, private und öffentliche Schulen zu besuchen und dabei unterschiedliche Kulturen des Umgangs mit Religion im Bildungssektor in Augenschein zu nehmen. Darunter befanden sich sowohl verschiedene Bekenntnisschulen als auch öffentliche Schulen, zum Beispiel die Jewish Community High School of the Bay (JCHS) in San Francisco. Sie stellte ihr Modell einer modernen jüdischen Bekenntnisschule vor, das bei näherer Betrachtung einige Impulse für die Entwicklung einer zeitgemäßen Islamischen Religionspädagogik bereithält. Im Folgenden wird kurz die Zusammensetzung der Schülerschaft und des Lehrerkollegiums vorgestellt, bevor das religionspädagogische Konzept, das dieser Schule zu Grunde liegt, beschrieben wird.

Der Verfasser möchte dies durchaus als Anregung verstanden wissen, sich Gedanken über eine Nutzung dieser Ideen für die Konzeption des Islamischen Religionsunterrichts im deutschen Schulkontext zu machen. Der Vergleich mit denjenigen Bekenntnisschulen von Minderheiten die es in Europa gibt, fördert einige gravierende Unterschiede zu Tage. Für die deutsche Situation ist dies insofern interessant, als verschiedene Akteure immer wieder ihre Idealtypen eines Islamischen Religionsunterrichts an der öffentlichen Schule in Deutschland formulieren. Dabei geht es nur vordergründig um die Frage, ob man einen kundlich angelegten Unterricht anbietet oder einen bekenntnisorientierten. Der eigentliche Fragehorizont ist ein anderer: Wie weit darf gegangen werden, das Gesicherte in der eigenen Religion zu hinterfragen, zu reflektieren und dies den unterschiedlichen Lernertypen, die es vermutlich auch mit Blick auf das religiöse Lernen gibt, für die konkrete Situation aufzubereiten und anzubieten.

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Die Lehrkräfte

gischen und der fachlichen Eignung Die JCHS hat sich, wie andere für die islamische Variante des nihil Bekenntnisschulen auch, den Unobstat angeht, sehen sich die junterricht in der Religion im Sinne gen muslimischen Lehramtsanwärder spiritual education auf die Fahne terinnen und -anwärter sowie die geschrieben. Dies soll durch Lehrper- Lehrkräfte in den laufenden Schulsonal gewährleistet werden, welches versuchen zunehmendem Druck überwiegend in der jüdischen Reliausgesetzt. Gefragt wird weniger, wer gion beheimatet ist und im Regelman ist und was man kann, sondern ob man richtig angezogen ist und fall selbst eine Rabbinerausbildung genossen hat. Bereits hier zeigen in der Moschee gesehen wurde. sich jedoch enorme Unterschiede zu den klassischen Schulen dieser In einigen Bundesländern behelfen sich die Kultusbehörden gegenArt. Während man in der jüdischen Schule das Lehrpersonal aus alwärtig mit einer Mischform, in der len Gruppierungen des Judentums sie ihre nominelle Hoheit über die rekrutiert, wird an vielen westeuOrganisation eines Schulversuchs ropäischen und amerikanischen mit der virtuellen Hoheit handverlebekenntnisorientierten Bildungssener muslimischer Ansprechpartner einrichtungen versucht, eine als über die religiöse Lehre so zusam„die eigene Richtung“ identifizierte menzuführen versuchen, dass der Ausprägung der Religion zu vertreten Unterricht nicht havariert. Was die und weiterzugeben. Diese Identifachliche Eignung angeht, werden fizierung geschieht unter anderem bestimmte Studienabschlüsse als notüber die Bestimmung des Grades an wendige Bedingung für die Erlaubsichtbarer Frömmigkeit. Eine ähnnis zum Islamunterricht festgelegt. liche Problematik zeigt sich derzeit Spätestens mit einer Einführung von Islamischem Religionsunterricht in Deutschland, die zunehmend die Debatten um die Verstetigung des als ordentliches Fach nach Artikel Islamischen Religionsunterrichts mit- 7 Absatz 3 des Deutschen Grundgesetzes aber wird über die Frage bestimmt: Auf Seiten muslimischer Interessengruppen scheint ein Bild nach der hinreichenden Bedingung der Islamlehrkraft vorzuherrschen, die Sache mit der Lehrerlaubnis neu bei dem es weniger um die fachliche bewertet werden. Die Frage wird Kompetenz als um den Lebensstil sein: Will eine zukünftige Islamische der Person geht. Was also das Arran- Religionsgemeinschaft, dem Vorbild gement der persönlichen, pädagoder jüdischen High School folgend, Amin Rochdi: Was kann man von einer jüdischen Highschool in Kalifornien für den Islamunterricht in Deutschland lernen?

der ethnischen, sprachlichen, kulturellen und vor allem religiösen Heterogenität der Zielgruppe des von ihr verantworteten Unterrichts Rechnung tragen? Oder gilt dann die lex austria, nach der Vertreter einer akkreditierten Glaubensgemeinschaft in einer nicht nachprüfbaren Prozedur die Lehrberechtigung vergeben? Bei alledem darf schließlich nicht vergessen werden, dass an solchen Entscheidung die Weichen gestellt werden, in welche Richtung sich ein Islamischer Religionsunterricht in Deutschland in seiner inhaltlichen Dimension bewegt und was das über die theologische Gestaltung des Islams in Deutschland aussagt (vgl. Rochdi 2008). Hinlänglich empirisch nachgezeichnet ist, dass es nicht den „muslimischen Schüler“, sondern, um mit Schleyer-Lindemann zu sprechen (1997), zunächst den „in Deutschland lebenden“ muslimischen Schüler“ gibt. Wie kann es dann den „Islamlehrer“ im Sinne des Prototyps geben? Das wäre ja zuerst eine Frage der fachwissenschaftlichen Expertise, denn von allen Lehrenden darf eine fundierte theologische und pädagogische Ausbildung an einer Hochschule verlangt werden. Die Verantwortlichen der kalifornischen JCHS legen daneben aber besonderen Wert auf Lehrerinnen und Lehrer, die das jüdische Leben

in der säkularen Gesellschaft aus eigenem Erleben kennen. Das soll gewährleisten, dass im Unterricht die Fragen, Wünsche und Gedanken der Heranwachsenden, ja sogar ihre Probleme zum Tragen kommen, um sie in der Lerngruppe gemeinsam verstehen, diskutieren, bewerten und einordnen zu können. Dem Selbstverständnis der jüdischen Schule entsprechend, spiegelt das religiös plurale Profil der Schülerschaft einerseits die Vielfalt der unterschiedlichen Richtungen innerhalb des Judentums wider; andererseits wirkt sich das auch positiv auf die Integration der jüdischen Gemeinschaft aus, indem sie sich weniger über Zuschreibungen wie orthodox, liberal-progressiv oder reformiert separiert, sondern mehr über das Gemeinsame definiert. Dieser Pluralität folgend betitelt eine Lehrkraft der JCHS ihre Unterrichtsaufzeichnung mit „Two Jews, Three Options!“. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Rückbesinnung auf das verbindende Element innerhalb des Islams als ideenleitendes Prinzip. Dieser Ansatz ist weder neu noch exotisch. Einige etablierte Theologien des Islams haben die Lehre von den „Zwecken der koranischen Weisungen“ (maqāsid al-scharīca) wieder aufgegriffen, mit der schon die Differenzen zwischen den verschiedenen

Seite 28 Rechtsschulen des sunnitischen und schiitischen Islams überwunden wurden. Dabei wurde die Verrechtlichung des Islams aufgebrochen und nach der gemeinsamen Intention der religiösen Weisungen gefragt. Damit ist die Grundlage einer Ethik geschaffen, über welche sich die Muslime mit den Nicht-Muslimen verbunden sehen. Das gibt ihnen in ihren jeweiligen verschiedenen sozialen und politischen Situationen eine Handhabe, sich nicht an den Rand der Gesellschaft drängen zu lassen, sondern im Gegenteil zu einer ihrer Stützen zu werden. Analog hierzu hätte der Islamische Religionsunterricht die pädagogische Aufgabe, jede muslimische Schülerin und jeden muslimischen Schüler unabhängig von Biographie und bestimmter Gruppenzugehörigkeit als den Menschen anzunehmen, der schon da und in gewisser Weise vollständig ist, und als denjenigen zu führen, der er noch wird. Das gelingt dann, wenn nicht nur die Lehrpläne, sondern auch die Lehrerinnen und Lehrer keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie sich einem gemeinsamen gesellschaftlichen Ethos verpflichtet sehen.

Die Schülerschaft

Ein gelungenes Konzept der Implementierung einer für die religiöse Praxis wichtigen Sprache findet sich in den Lehrplänen für den Israelitischen Religionsunterricht in Bayern. Hier soll bereits in der fünften Jahrgangsstufe das hebräische Alphabet und das flüssige Lesen der einschlägigen Gebete beherrscht werden.

Amin Rochdi: Was kann man von einer jüdischen Highschool in Kalifornien für den Islamunterricht in Deutschland lernen?

Die Heterogenität der Lehre zeigt sich auch bei den Schülerinnen und Schüler der JCHS, denn selbst für Mitglieder orthodoxer Gemeinden ergibt sich aus der günstigen Konstellation der Schule die Möglichkeit, gemeinsam mit anderen jüdischen Richtungen an den gemeinsamen Wurzeln zu arbeiten und die tradierten Texte in einem sanktionsfreien Raum zu analysieren und zu überdenken. Die Schüler schätzen die Möglichkeiten, die ihnen die Schule bietet. So können sie das Hebräische in verschiedenen Leistungsgruppen erlernen, welches wiederum in Talmud- oder TorahStunden angewandt werden kann. Dies befähigt sie nach Abschluss der High School, die jüdischen Studien zu intensivieren, um so den Beruf eines Rabbis oder eines jüdischen Religionspädagogen anzusteuern. So kann nach und nach eine neue, von Jüdinnen und Juden gemeinsam vertretene Denkkultur in die Gemeinden getragen werden, wie sie von allen jüdischen Gruppierungen an der Schule erarbeitet wird.

Dabei werden, wie bereits erwähnt, unterschiedliche Lerngruppen für das Fach Hebräisch gebildet, die dem Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler in dieser Sprache entsprechen. Dieses Einteilen in Leistungsstufen ist in den USA auch an staatlichen Schulen üblich. Nun klingt die Forderung nach einem arabischen Alphabetisierungskurs innerhalb der für den Islamischen Religionsunterricht zur Verfügung stehenden zwei Wochenstunden Religionsunterricht überzogen. Dennoch sollte, um dem Leitziel der Begriffsbildung gerecht zu werden, zumindest ein Grundverständnis für die im Koran als „klares Arabisch“ (vgl. 16:103) beschriebene Sprache vermittelt werden. Ein gelungenes Konzept der Implementierung einer für die religiöse Praxis wichtigen Sprache findet sich in den Lehrplänen für den Israelitischen Religionsunterricht in Bayern. Hier sollen bereits in der fünften Jahrgangsstufe die Schülerinnen und Schüler nicht nur das hebräische Alphabet, sondern das flüssige Lesen der einschlägigen Gebete beherrschen.

Während an vielen amerikanischen An der JCHS werden Schüler mit Bekenntnisschulen eine Schulkleifundierten Kenntnissen der jüdischen dung vorgeschrieben ist, verzichwissenschaftlichen Disziplinen tet man an der JCHS auf jegliche gemeinsam mit Schülerinnen und Vorgaben in diese Richtung. Es soll Schülern unterrichtet, die keinerlei vermieden werden, dass sich im formale jüdische Vorbildung haben. Schulleben aufgrund der Kleidung

Seite 29 Zuordnungen zu bestimmten Gruppierung innerhalb des Judentums ergeben. Ebenso darf es nicht zum Kennzeichen werden, dass diejenigen Schülerinnen an einer deutschen Schule, die Kopftuch tragen, mit denjenigen gleichgesetzt werden, die das Angebot eines religiösen Unterrichts nutzen. Der Diskussion um Schuluniform oder „Jugendzivil“, die generell für die öffentlichen Schulen immer wieder aufkeimt, soll damit nicht vorgegriffen werden. Auch die Schülerschaft im Islamischen Religionsunterricht ist vielschichtig zusammengesetzt. Von Seiten der meisten muslimischen Eltern und ihrer Kinder wird es als ein Positivum gesehen, dass die zunehmende religiöse Trennung in Sunniten, Schiiten, Aleviten und andere (und ihr machtpolitischer Missbrauch) wenigstens in der Schule keine Fortsetzung findet. Was die Liga der Lobbyisten für ihre jeweils eigene Anerkennung als Träger des Islamischen Religionsunterrichts angeht, wird zu fragen sein, inwieweit sie hier dem Ethos des Gemeinsamen folgen können oder inwieweit sie vorrangig daran interessiert sind, etwas für die eigene Gruppe der Gleichgesinnten herauszuschlagen.

Religionsunterricht als Fach in der Schule und als Kampfbegriff von Glaubensgemeinschaften angeht. Dazu exemplarisch das Thema „Gebet“: Im Islamischen Religionsunterricht wird nicht nur gelernt, dass das Gebet zu den Pflichten des Muslimseins gehört, sondern auch betrachtet, warum Menschen generell das Bedürfnis entwickeln zu beten. In der Moschee können sie dann in Augenschein nehmen, was ihnen auch beim Besuch anderer Gotteshäuser entgegentritt: die Vielfalt an Ideen und Praxen; und sie können erleben, wie sich das Gebet gemäß einer bestimmten Rechtsschule darstellt, und: Sie können, wenn sie das wollen, das Gebet nach einer ihrem persönlichen sozialen und kulturellen Kontext nahe stehenden Tradition erlernen.

Aber es gibt da durchaus Anknüpfungspunkte, was den Islamischen Amin Rochdi: Was kann man von einer jüdischen Highschool in Kalifornien für den Islamunterricht in Deutschland lernen?

Das theologische und pädagogische Profil

Im Islamischen Religionsunterricht wird nicht nur gelernt, dass das Gebet zu den Pflichten des Muslimseins gehört, sondern auch betrachtet, warum Menschen generell das Bedürfnis entwickeln zu beten.

Wie wird an einer jüdischen Bekenntnisschule im Westen der USA mit theologischen Themen umgegangen, woraus schöpft sich das religionspädagogische Profil, wie ist die Didaktik begründet und wie wird religiöses Lernen verstanden? Das Lernen an der JCHS wird als ein Prozess arrangiert, indem altersgerecht verschiedene exemplarische theologische Themen besprochen werden. Hierbei spielt in erster Linie der Kompetenzerwerb eine große Rolle. So sollen die Jugendlichen befähigt werden, das in der Schule erworbene Werkzeug in ihrem Alltag anwenden zu können. Einer Lehrkraft der Schule zu Folge, mit der sich der Verfasser länger unterhalten konnte, sieht sich die heutige Generation junger Jüdinnen und Juden mit der Frage konfrontiert, ob sie sich für das Judentum entscheiden sollen, während sich frühere Generationen vergleichsweise öfter die Frage nach einem möglichen Austritt, durch Konversion zum Christentum zum Beispiel, gestellt haben. Um die bereits genannten verschiedenen Denominationen innerhalb der Schülerschaft zu berücksichtigen, werden zu Beginn einer Unterrichtssequenz zwei sich gegensätzlich

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Das ist das zentrale Gegenmotiv prophetischer Rede im Koran: Was – wir sollen so glauben wie die Dummköpfe? Das sind doch nur die Geschichten von früher. Es gibt nur dieses Leben.

Meinungen verschiedener Gelehrter zu einem bestimmten Thema vorgestellt. Ausgehend davon können die Schüler die Kausalzusammenhänge, die den Aussagen der Rabbiner zu Grunde liegen, durch Bearbeitung von Kommentaren eigenständig nachzeichnen. Indem sie ihre Fragen an die Texte, an die Meinungen der Rabbiner und an die dahinter stehenden Werte richten, entsteht ein „laboratory for intellectual experimentation“, wie es dort genannt wird, also ein Versuchsraum dafür, auch das Undenkbare und Ungedachte zu denken. Bei diesem eher philologischen Zugang ist es von besonderer Bedeutung, den Bezug zur Gegenwart der Jugendlichen herzustellen, die sich oft ihre eigenen Gedanken über Sinn und Unsinn religiöser Gebote machen Das stellt die Lehrkräfte vor größere Herausforderungen als der bloße Unterricht nach dem religiösen Pflichtenheft. Im Zuge dieser auf individuelle Erarbeitung angelegten Methodik wird die Lehrkraft immer mehr zu einem Moderator und Begleiter auf dem Weg der Schülerinnen und Schüler zu einer individuellen und freien Entscheidung zu einem Leben Jüdin oder als Jude. Sie bietet ihren Schülern Hilfestellungen in Form von weiterführenden Erklärungen und semantischen Nuancen

Amin Rochdi: Was kann man von einer jüdischen Highschool in Kalifornien für den Islamunterricht in Deutschland lernen?

hebräischer Begriffe, hält sich aber mit ihrer eigenen Meinung zurück. Meist wird dennoch gegen Ende einer solchen Sequenz der Unterrichtende von den Jugendlichen nach der persönlichen Sicht auf die besprochene Problematik befragt. Ein Religionsunterricht, der auf diese Art und Weise die Kultur des Fragens pflegt und sie als persönliche Lebenshaltung einübt, kann die Persönlichkeitsentwicklung und die damit verbundene religiöse Identität unterstützen – vorausgesetzt, die Passung zwischen Thema und Interesse gelingt. Die anhaltende Reflexion des Tradierten und Vertrauten trägt darüber hinaus zu einer Festigung des Glaubens und der Selbstverortung innerhalb der unterschiedlichen theologischen Denkweisen bei. Diese Tatsache muss von künftigen Lehrkräften und verantwortlich zeichnenden Glaubensgemeinschaften beherzigt und verstanden werden, um Fehlwahrnehmungen vorzubeugen, wie sie sich derzeit am Schulbuch „Saphir 5/6“ für den Islamischen Unterricht abzeichnen. Führen heißt auch loslassen können; Religionsunterricht muss bei aller wohlmeinenden Beheimatung im Eigenen in letzter Konsequenz zurücktreten, wo es um die persönliche Glaubensentscheidung des Subjekts geht.

Hier ist die Konzeption der JCHS konsequent. Was ihre Schülerschaft, ihrer Lehrerschaft und ihr theologisches und pädagogisches Fachprofil angeht, zeigt sie eine gelungene Verbindung von Bindung an die Tradition und Aufbruch zu neuen Ufern. Der Besuch lohnt sich.

Literatur: Rochdi, Amin: Islamischer Religionsunterricht als Motor für die Entwicklung Islamischer Theologie in Deutschland, in: ZRLI Heft 3, Juli 2008, Seiten 27ff. Schleyer-Lindemann, Alexandra: Influence du contexte culturel et familial sur les tâches de développement et l‘investissement de l‘espace urbain à l‘adolescence. Étude sur des jeunes d‘origine nationale ou étrangère à Marseille et à Francfort-sur-le-Main. Dissertation, Université de Provence, Aix-Marseille 1997.

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Zu den Autoren Harry Harun Behr, geboren 1962, ist Inhaber der Professur für Islamische Religionslehre an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er konvertierte 1980 zum Islam. Von 1993 bis 2005 war er in München im Schuldienst tätig. 2005 promovierte Behr zum Thema „Curriculum Islamunterricht“ an der Universität Bayreuth. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich von Islam und Unterricht.

Amin Rochdi, geboren 1983, hat Lehramt Realschule in Erlangen-Nürnberg und Islamische Religionslehre am Interdisziplinären Zentrum für Islamische Religionslehre studiert. Er unterrichtet die Fächer Deutsch, Geschichte und Islam an der Realschule. Rochdi forscht zu Fragen der religiösen Sozialisation junger Musliminnen und Muslime in Deutschland und zur Didaktik der Textarbeit mit dem Koran im Unterricht.

Herausgegeben von Harry Harun Behr (v.i.S.d.P.) Emel und Amin Rochdi

Interdisziplinäres Zentrum für Islamische Religionslehre an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg Regensburger Straße 160 90478 Nürnberg Telefon 0911 5302-607 www.izir.de Satz und Layout: Yasmine Behr

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ISSN: 1864-6670 Zu den Autoren • Impressum

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