V. ÜBER RUINEN ZU NEUEM LEBEN / KONTINUITÄTEN FILMHIMMEL ÖSTERREICH ALFRED KUBIN ABENTEUER EINER ZEICHENFEDER A 1957 PRÄMIEN AUF DEN TOD A 1950

May 11, 2017 | Author: Evagret Adler | Category: N/A
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V. ÜBER RUINEN ZU NEUEM LEBEN / KONTINUITÄTEN

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ALFRED KUBIN – ABENTEUER EINER ZEICHENFEDER PRÄMIEN AUF DEN TOD

A 1957

A 1950

FILMHIMMEL ÖSTERREICH

Visionen

Prolog »Unterwegs zu anderen Seiten der Wirklichkeit« – könnte diesem Programm als Devise voran stehen. Es geht um halluzinatorische Projektionen, um das Brüchigwerden tragender Ordnungen und das Kräftespiel zwischen Wahrnehmung und Einbildung. Gleichzeitig wird von der Unmöglichkeit erzählt, außerfilmische Realität(en) abzuschütteln. Störende und gestörte Gesellschaftstendenzen treffen aufeinander; Deckerinnerungen legen sich wie konturierende Schleier über das Verdeckte und bilden symptomatische Sehreliefe. Zunächst: Die filmische Annäherung eines Künstlers an einen Künstler. Kurt Steinwendner, Mitinitiator des Art Clubs und zentrale Figur der österreichischen Kunstavantgarde nach 1945, porträtiert den Zeichner, Schriftsteller und lebenslangen Träumer Alfred Kubin. Steinwendners Kurzfilm ALFRED KUBIN – ABENTEUER EINER ZEICHENFEDER (1957) erkundet den Bilderkosmos dieser (un-)heimlichen Epochenfigur mit den Mitteln der Bewegungs-Schrift und spürt künstlerischen Anverwandlungsprozessen nach. Hinzu kommt Bruno Helbergers delirierende Heliophon-Musik, die Kubins Weg in das Unwirkliche begleitet. Nicht nur schlafende Vernünfte gebären Ungeheuer. Auch die überdrehte Rationalität lässt Irrationalitäten wuchern. Dieses Umkippen von Kalkül in Kontrollverlust verhandelt Curd Jürgens erste Regiearbeit PRÄMIEN AUF DEN TOD (1950), ein Film Noir, der mit Carol Reeds THE THIRD MAN (1949) verglichen wurde und vor allem wegen seiner ästhetischen Frische und atmosphärischen Dichte eine Ausnahmeerscheinung seiner Zeit darstellt. Schatten legen sich wie Gitter über Gesichter, Lichtspiele an den Wänden verwandeln Räume in Hirnmembrane, das Begehren geht mit dem Geld Unheil bringende Allianzen ein. Am Ende gesteht der Protagonist einen Mord, den er nicht begangen hat. »Kein wirklicher Mörder und doch hat er getötet!« – die Vergangenheit spricht mit, immerzu. Matthias Wittmann, Februar 2007

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1. Andreas Geyer, Träumer auf Lebenszeit. Alfred Kubin als Literat, Wien/ Köln/Weimar 1995, S. 15. 2. Ebd., S. 16. 3. Vgl. Peter Cersowsky, »›Ja, mein Lieber, wir sind konservativ‹«, in: Franz Rottensteiner (Hg.), Die dunkle Seite der Wirklichkeit. Aufsätze zur Phantastik, Frankfurt a. M. 1987, S. 33–59, hier S. 38 f. – »Das Kubinsche Werk gilt 1933 nicht als entartet […]. 1936 wird jedoch die 1924 schon veröffentlichte Publikation 20 Bilder zur Bibel als ›schädliches und unerwünschtes Schrifttum‹ verboten, 1939 dieses Verbot wieder aufgehoben.« (Claudia Gerhards, Apokalypse und Moderne. Alfred Kubins ›Die andere Seite‹ und Ernst Jüngers Frühwerk, Würzburg 1999, S. 130.) 4. Alfred Kubin, Die andere Seite. Ein phantastischer Roman, Reinbek b. Hamburg 1994, S. 129. 5. Hermann Bahr, »Die Décadence«, in: Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst

Psychografik »Arbeit wird Traum, Träume werden Zeichnungen«, heißt es in Kurt Steinwendners Porträt über den Zeichner und Schriftsteller Alfred Kubin (1877–1959), der trotz seines Außenseitertums als heimliche Epochenfigur betrachtet werden kann: »Kubin hat wie kein anderer die Zeitströmung registriert, künstlerisch wiedergegeben – und letztlich in nicht zu unterschätzender Weise beeinflußt.«1 Kubin stand nicht nur in Korrespondenz mit Zeitgenossen wie Franz Kafka, Wassily Kandinsky, Thomas Mann, Hermann Hesse oder Ernst Jünger. In seinen Bildern und Texten interferieren die Zeitströmungen wie in einer seismografischen Echokammer und gehen eigenwillige Verbindungen ein: surrealistische Traumtheorien, expressionistische und symbolistische Tendenzen, fernöstliche Mythologien, die Ernst Mach’sche Empfindungslehre, lebensphilosophische Strömungen etc. Vor allem blieb Kubin ein »lebenslanger Décadent«2 und Träumer, der sich nur selten zu politischen Strömungen äußerte. Die NS-Zeit verurteilte er zwar als »furchtbar« und »widerwärtig«, auch waren seine Publikationsmöglichkeiten teilweise eingeschränkt, gestört fühlte er sich allerdings in erster Linie durch Ereignisse, die seinen Gang ins Unwirkliche behinderten: Papierknappheiten oder Flugzeuggeräusche.3 Wenn der Ich-Erzähler aus Kubins einzigem Roman Die andere Seite (1909 erschienen) von einer »Psychographik« spricht, die »wie ein empfindliches meteorologisches Instrument die geringsten Schwankungen meiner Lebensstimmungen aus[drückt]«4, so legt dies Rückschlüsse nicht nur auf Kubins Zur-Welt-Sein nahe, sondern auch auf Einflüsse der Wiener Moderne: »[S]ie sind eine Romantik der Nerven. […] Nicht Gefühle, nur Stimmungen suchen sie auf«5, heißt es in Hermann Bahrs programmatischem Aufsatz über die Décadents. Umgekehrt hat auch Kubin zahlreiche Impulse ausgesandt. Sein phantastischer Entwurf des Traumreichs und der Stadt Perle in der Anderen Seite hat nicht nur Kafka, Thomas Mann und Herzmanovsky-Orlando inspiriert, sondern Spuren bis zu Uwe Dicks Sauwaldprosa hinterlassen: »[…] wo,

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und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1981, S. 225–232, S. 226.

sag an! erscheinen nachts die Bürger aus der Traumstadt Perle?«6, schreibt er gleich zu Beginn seines »Wortwurzelwerks«.

6. Uwe Dick, Sauwaldprosa, Salzburg/Wien/ Frankfurt 2001, S. 5.

Kubins Zeichenfeder und Steinwendners Bewegungs-Schrift

7. Lukas Maurer, »Kurt Steinwendner: Der andere Filmemacher«, in: 24filmarchiv, 05–06, 2005, S. 12–18, hier S. 13 f.

8. Große Österreich Illustrierte (Wien), 17.12.1955.

ALFRED KUBIN – ABENTEUER EINER ZEICHENFEDER ist das Produkt des Zusammenwirkens zweier Künstler und Einzelgänger. Kubins Psychografik trifft auf Steinwendners Bewegungs-Schrift. Lukas Maurer stellt den Maler, Bildhauer und »anderen« Filmemacher Kurt Steinwendner (1920–1992), der sich später Curt Stenvert nannte, in eine Reihe mit Regisseuren wie Harald Röbbeling (ASPHALT) und Georg Tressler (UNTER ACHTZEHN; DER WEIBSTEUFEL): »Seine Filme DER RABE; WIENERINNEN und FLUCHT INS SCHILF, in ihren Entstehungsjahren symptomatisch als ›Außenseiter-Produktionen‹ bezeichnet, zeigen sich in besonderem Maße darum bemüht, die atmosphärischen und physischen Qualitäten des Kinos facettenreich auszuloten. Vor allem in den beiden letztgenannten Spielfilmen verschließt Steinwendner nicht die Augen vor der sozialen Wirklichkeit und nimmt sich in seinem Bedürfnis nach Authentizität ein Beispiel an den Methoden des italienischen Neorealismus. […] Kurt Steinwendners progressives formalästhetisches Empfinden spiegelt sich auch in seinem Werdegang wider: Er kam nicht vom Theater, lernte das Film-Handwerk nicht von der Pieke an. Steinwendners Weg zum Kino führte über die bildende Kunst. Nach dem Krieg war er Mitinitiator des Art Clubs, jenem legendären Künstlertreff in Wien, wo namhafte Bildhauer wie Fritz Wotruba oder spätere Stars des Phantastischen Realismus (allen voran Ernst Fuchs und Wolfgang Hutter) verkehrten.«7 Ähnlich wie Kubin bewegte sich auch Steinwendner im Kreuzungsfeld unterschiedlicher Stilrichtungen: Futurismus, Dadaismus, Konstruktivismus etc. Seine intensive Beschäftigung mit Bewegungsabläufen und ihren Darstellungsmöglichkeiten ließ ihn Schritt für Schritt dem Film näher kommen, dessen Potenzial er neunzehn Jahre lang – von 1951 bis 1970 – erkundete. Während sein Spielfilmdebüt WIENERINNEN (1952) neoveristisch-sachliche Tendenzen aufweist, schuf er mit seinem ersten Experimentalfilm DER RABE (1951) einen frei assoziativen, surrealen Bilderrausch, der sich an Béla Balázs Begriff des »absoluten Films« orientierte und als Dekonstruktion des gleichnamigen Gedichts von Edgar Allan Poe angelegt war. Fünf Jahre nach DER RABE, der als Initialzündung des österreichischen Avantgardekinos nach 1945 gilt, drehte Steinwendner ABENTEUER EINER ZEICHENFEDER. Der Kubin-Kurzfilm wurde von der zeitgenössischen Kritik als »erste Film-Monographie eines österreichischen Künstlers von Weltruf« gefeiert und mit »Förderung des Bundesministeriums für Unterricht und der Kulturämter der oberösterreichischen Landesregierung«8 realisiert. Auf Grundlage eines

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Zwickledt, in seinem Arbeitszimmer, bei seinen Wanderungen durch »das Grenzland zwischen Donau und Inn, am Rande des Böhmerwalds«, begleitet von Bruno Helbergers delirierender Heliophon-Musik. Der mehrstimmige Off-Kommentar sucht das Stimmungsgewirr in Kubins Kopf einzufangen und mit seinen Empfindungen in Dialog zu treten: »Schärfer als alles andere sieht der Künstler die Welt, in der er lebt.« 9. Aus: Alfred Kubin, Die andere Seite. Ein phantastischer Roman, Reinbek b. Hamburg 1994, S. 138 ff.

ALFRED KUBIN – ABENTEUER EINER ZEICHENFEDER, A 1957

umfangreichen Rohmaterials entstand ein zwölfminütiges Porträt, das sich – wie Kubin selbst – in erster Linie für Stimmungen interessiert und weniger für biografisches Wissen. Die Kamera bewegt sich durch ein Dickicht an schwarzen Strichen und Motiven der Décadence: Todesverfallenheit, die Dämonie der Frau, die Magie des Tieres. Überblendungen lassen wirkliche in gezeichnete Welten übergehen und machen künstlerische Anverwandlungs- und Transformationsprozesse deutlich. Steinwendners Vorliebe für die Dynamik der Bewegung ist auch diesem Film anzumerken. Die Zeichnungen werden von der Kamera umkreist, fragmentiert, verlebendigt. Monströs vergrößerte Details verselbstständigen sich und schwirren wie Insekten durch das Bild. Der Visionär selbst ist auch zu sehen: im Zwielicht seines »Schlosses«

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Alfred Kubin: Die Verwirrung des Traumes 9 »In dieser Nacht schlief ich mit großen Gedanken ein. Weniger großartig war mein Traum, den ich seiner Sonderbarkeit wegen doch hierher setzen möchte. Ich sah mich selbst am großen Flusse stehen und sehnsüchtig nach der Vorstadt blicken, die ausgedehnter und pittoresker erschien, als sie wirklich war. So weit man sehen konnte, ein Gewirr von Brücken, Türmen, Windmühlen, Bergzacken, alles ineinander eingeschaltet und miteinander verbunden wie eine Luftspiegelung. Große und kleine, dicke und dünne Gestalten bewegten sich in diesem Gewirr. Wie ich so hinübersah, fühlte ich, daß hinter meinem Rücken der Müller stand: ›Ich habe ihn umgebracht‹, raunte er und wollte mich ins Wasser stoßen. Da zog sich mein linkes Bein zu meiner großen Überraschung in die Länge, so daß ich ohne Anstrengung in das Gewimmel auf dem andern Ufer treten konnte. Und nun hörte ich um mich herum ein vielfaches Ticken, und gewahrte eine Menge flacher Uhren der verschiedensten Größen, von der Turmuhr bis zur Küchenuhr und kleinsten Taschenuhr hinab. Sie hatten kurze Stummelbeine und krochen wie Schildkröten unter aufgeregtem Ticken durcheinander auf der Wiese umher. Ein in grünes weiches Leder gekleideter Mann, mit einer Mütze, welche wie eine weiße Wurst aussah, saß auf einem entlaubten Baume und fing aus der Luft Fische. Er hing sie dann an den Zweigen auf und im Nu waren sie gedörrt. – Ein alter Kerl mit abnorm großem Oberkörper und kurzen Beinen näherte sich; bis auf ein Paar beschmierte Arbeiterzwilchhosen war er nackt. Er hatte zwei lange senkrechte Reihen von Brustwarzen – ich zählte achtzehn –. Nun zog er seine Lungen schnaufend voll Luft, bald schwoll die rechte und bald die linke Brust mehr an, dann spielte er mit den Fingern auf diesen achtzehn Warzen die schönsten Harmonikastücke. Dabei bewegte er sich taktmäßig nach der Melodie wie ein Tanzbär, während er die Luft wieder ausstieß. Schließlich hörte er auf, schnäuzte sich in die Hände und schleuderte sie von sich. Dann wuchs ihm ein ungeheurer Bart, in dessen Gestrüpp er verschwand. Nebenan in einem Dickicht stöberte ich eine Anzahl fetter Schweine auf; im Gänsemarsch liefen sie vor mir davon und wurden immer kleiner und winziger, bis sie laut quiekend in einem Mausloche am Weg verschwanden.

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Hinten am Flusse saß der Müller – mir wurde unbehaglich –, er studierte ein gewaltiges Zeitungsblatt. Nachdem er es gelesen und gefressen hatte, dampfte Rauch aus seinen Ohren, er wurde kupfrig, stand auf und hielt sich seinen Hängebauch mit beiden Händen, während er das Ufer auf- und niederstürmte. Dabei blickte er wild um sich und stieß schrille Pfiffe aus. Endlich fiel er wie vom Schlage getroffen zu Boden, erblaßte, sein Leib wurde licht und durchsichtig, und man sah deutlich in seinen Eingeweiden zwei kleine Eisenbahnzüge herumsausen; sie schienen sich fangen zu wollen, blitzschnell wurde eine Darmschlinge nach der andern durchfahren. Kopfschüttelnd und etwas verblüfft wollte ich dem Müller meine Hilfe antragen, die Worte wurden mir aber von einem Schimpansen abgeschnitten, der um mich mit größter Geschwindigkeit eine ringförmige Gartenanlage pflanzte, wobei dicke apfelgrüne Strünke wie Riesenspargel dichtgedrängt aus dem feuchten Boden sprossen. Ich fürchtete in diesem lebenden Zaun wie in einem Käfig gefangen zu werden, wurde jedoch, ehe ich mir recht überlegte was zu tun sei, befreit. Der tote Müller, nun nicht mehr durchsichtig, hatte in Krämpfen einen Kranz von vielen Hunderttausenden milchiger weißer Eierchen gelegt, aus denen sich Legionen von Schnecken entwickelten, die ihren Erzeuger sogleich begierig auffrassen. Ein durchdringender Geruch von Selchfleisch verbreitete sich und brachte die fleischigen Stengel zum Faulen, so daß sie in sich zusammenfielen. In der Ferne verschwand die Vorstadt in einem Gespinst violett schimmernder Fäden. Ich bemerkte eine kolossale Muschel, die wie ein Felsenriff am Flußufer lag; ich sprang auf ihre harte Schale. Da, ein neues Unheil! Die Muschel öffnete sich schwerfällig, mein Standort wurde abschüssig, in ihrem Innern zitterten gelatineartige Massen – – – – – – – ich erwachte. –«

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Versicherte Seelen, entsicherte Ordnungen

Freilich manche List ist so fein, daß sie sich selbst umbringt … Franz Kafka, Der Bau Im Dickicht der Erinnerungsbilder Rückblenden – insbesondere im Kontext des Film Noir – erzeugen eine Logik des Fatalismus und der Unentrinnbarkeit.10 Indem Ergebnisse vor Ursachen präsentiert werden, bewegen sich die nacherzählten Geschichten einem vorgezeichneten Telos – einem Kap – entgegen: »Das Wort ›cap‹ (caput, capitis) meint […] den Kopf, das Haupt, das äußerste Ende eines Außenglieds, einer Verlängerung oder eines Extrems […]; im Bereich der Schiffahrt weist es (dem Fahrenden) den Pol, das Ende, das Telos einer gerichteten, berechneten, ge11. Jacques Derrida, Das wollten, beschlossenen, ausgemachten, angeordneten Bewegung zu.«11 Erandere Kap / Die vertagte innert sei an Robert Siodmaks THE KILLERS (1946), Jacques Tourneurs OUT OF Demokratie. Zwei Essays THE PAST (1947) oder Rudolph Matés D.O.A. (1950). Allesamt Filme, die ihren zu Europa, Frankfurt a. M. Figuren von Anfang an einen düsteren Bestimmungsort zuweisen, ein Kap 1992, S. 15. ohne Hoffnung. Auch Curd Jürgens Regiedebüt PRÄMIEN AUF DEN TOD, das in der zeitgenössischen Kritik mit Carol Reeds THE THIRD MAN verglichen wurde, entrollt die (Vor-)Geschichte von ihrem fatalen Ende her. Zu sehen ist eine 12. Dementsprechend lichtdurchflutete, namenlose Hafenstadt irgendwo im Süden.12 Die Sonne breit variieren die Verbrennt auf die Dächer, der Schirokko drückt auf die Seelen. Vielleicht geht es ortungsversuche in der darum, Erinnerungen an jene Zeit zu wecken, als Österreich noch Berührungszeitgenössischen Kritik: Von einer »dalmatinischen punkte mit dem Meer hatte; vielleicht aber auch soll ein exotischer Schauplatz Stadt« ist in der Wiener à la Casablanca, Kairo oder Rio etabliert werden. Kein Zweifel wird darüber Zeitung (15.1.1950) die belassen, dass diese Stadt am Meer ein Schwellenort ist. Eine ermattete, somRede, in der Welt am nambule Männerstimme aus dem Off weist auf die Sirenen der Schiffe hin, die Montag (16.1.1950) wird zum träumen verführen und sich gemeinsam mit dem Meeresrauschen in den der Film sogar in einem »Mittelmeerhafen an der Verkehrslärm mischen. Es kündigen sich Diffusionen und Ent-Wirklichungen Mur« (sic!) angesiedelt. an. Küstenorte lassen verschiedene Dimensionen ineinanderfließen. Der Körper 10. Vgl. Maureen Turim, Flashbacks in Film. Memory & History, New York/London 1989, S. 17.

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13. Zu dem Themenkomplex Stimme – Körper – Blicke vgl. Gabriele Jutz, »Ein Spielfilm zwischen Tradition und Innovation. WIENERINNEN – SCHREI NACH LIEBE (Kurt Steinwendner, 1951)«, in: Reinhard Sieder / Heinz Steinert / Emmerich Tálos (Hg.), Österreich 1945– 1995. Gesellschaft Politik Kultur, Wien 1995, S. 133–151, hier S. 144 f. 14. Anton Kaes, »War – Film – Trauma«, in: Inka Mülder-Bach (Hg.), Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, Wien 2000, S. 121–130, S. 127.

15. PRÄMIEN AUF DEN TOD ist seine erste Filmrolle im Nachkriegsfilm.

befindet sich im Trockenen, während der Blick in See stechen, in ein anderes Milieu aufbrechen kann. Nach der Etablierung des Schauplatzes gibt die vorläufig noch körperlose Off-Stimme zu verstehen, dass sie keine machtvolle, außerdiegetische Überblicksposition13 hat, sondern die innere Stimme des Protagonisten ist: »Die Stadt hat auch ein Gefängnis, und hier, wo die Tage zu Nächten verschwimmen, sitze ich.« Während uns die Kamera über die Dächer der Stadt blicken lässt, wird ein ganz und gar lichtloser Ort, eine Gefängniszelle thematisch. Die Kontrastierung von Lichtblicken und schwarzen Löchern lässt schon hier Einflüsse des Expressionismus erahnen. Wenn die Gegenwart keine Perspektiven mehr bietet, liegt es nahe, die virtuellen Räume der Vergangenheit zu betreten und Selbstversicherung zu suchen: »Es quälen mich die Gedanken, wie es dazu kam und wie es gewesen ist.« Der Halt, den sich der Protagonist Lissen von der Erinnerungsarbeit verspricht, bleibt jedoch aus. Das folgende Gewebe aus Erinnerungsbildern erweist sich als höchst poröses Stützwerk, durchfurcht von Rissen und Bruchlinien. In seinem Text War – Film – Trauma interpretiert Anton Kaes die filmischen Rückblendentechniken als »ideale narrative Tropen«, um traumatische Ereignisse in verstellter Weise wiederkehren zu lassen.14 Was bei Kaes auf den Ersten Weltkrieg und das Weimarer Kino bezogen ist, kann auch Gültigkeit für die Erinnerungsbilder in PRÄMIEN AUF DEN TOD beanspruchen. Sie eröffnen einen symbolischen Raum, in dem Vergangenheitspartikel durchgearbeitet werden und deckende auf verdeckte Erinnerungen treffen. »Die [Schiffs-]Linie hat versprochen, mich wieder einzustellen. Ich bin vollkommen rehabilitiert«, sagt Werner Krauß in einer überpräsenten Nebenrolle als entlassener Schiffsarzt und spielt damit verdeckt auf das Filmverbot an, das er von den Alliierten wegen seiner Darstellung des Jud Süss (1940) erhielt.15 Wie Paula Wessely in DER ENGEL MIT DER POSAUNE (1948) sucht sich auch Krauß umzuarbeiten, auf »Linie« zu bringen. Urbane Wanderungen, verräumlichte Mentalitäten Peter Lissen (Siegfried Breuer), die rückblickende Hauptfigur, ist ein heruntergekommener Versicherungsagent und fristet ein Dasein zwischen Hafenkneipe, Whiskeyflasche und erfolglosen Kundenanwerbungen. Agenten der Ver(un)sicherung sind beliebte Figuren im Genre des Film Noir, was uns jüngst Christopher Nolans Neo-Noir MEMENTO (2000) wieder vor Augen führte. Wir erleben Lissen in erster Linie als Getriebenen. Während die Menschen vor der Mittagshitze in die Schatten ihrer Häuser flüchten, hetzt er mit einer Namensliste von Haus zu Haus, von Klient zu Klient, auf der Jagd nach dem großen Coup: »Es trieb mich durch die Stadt … in mir brannte es!« Die Koexistenz Plakat PRÄMIEN AUF DEN TOD, Piller Druck Wien VIII., 1950

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16. Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a. M. 1997, S. 278; sowie ders., Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M. 1997, S. 265.

17. Elisabeth Büttner / Christian Dewald, Anschluß an Morgen. Eine Geschichte des österreichischen Films von 1945 bis zur Gegenwart, Salzburg/ Wien 1997, S. 414.

von italienischen und österreichischen Aufschriften, die Lissens Geschäftswege säumen, erlauben Rückschlüsse auf die Drehorte: der Film wurde teilweise im Hafen von Genua, teilweise im Thalerhof bei Graz (Atelier der AFAAlpenfilm) gedreht. Institutsstraße und Piazza del Populo, Mario Rossi und Mario Simmel gehen nachbarschaftliche Verhältnisse ein. Treppen, Türklingeln und Namensschilder verschmelzen zu einem stream of memories. Die fiebrigen Bildfolgen geben Lissens Erinnerungs-Anläufen visuelle Gestalt. »Ich muss mich erinnern, von Anfang an«, bekräftigt er erneut aus dem Off. In dieser Sequenz wird deutlich, dass die Rückblenden nicht nur nacherzählende Funktion haben, sondern passagenweise auch tatsächlich durch das Bewusstsein des erinnernden Subjekts gefiltert werden. Lissens gehetzte Schritte durch das Labyrinth der Gassen werden zu einem Hin und Her der Gedanken. Wenn Gilles Deleuze in seinem Zeit-Bild ein »Kino des Körpers« und ein »Kino des Gehirns« unterscheidet, so ist Curd Jürgens Film dem zweiten Typus zurechenbar. Darüber hinaus kann das urbane Nomadisieren Lissens als offenkundiges Merkmal einer Krise des Aktions-Bildes gelesen werden: »[A]n die Stelle der Aktion oder der sensomotorischen Situation [tritt] die Fahrt, das Herumstreifen (balade) und das ständige Hin und Her […], die Gestalten verhalten sich wie Scheibenwischer (DOG DAY AFTERNOON, SERPICO).«16 Im Unterschied zu den Bewegungen, die von Deleuze beschrieben werden, erhält Lissens Raumdurchmessung allerdings eine klare Richtung, eine sensomotorische Struktur. Er klingelt bei einer herrschaftlichen Villa und stößt wegen seines schäbigen Äußeren auf Misstrauen. Bevor er von der Haushälterin abgewiesen wird, nimmt er durch einen Spalt im Vorhang eine Frau in den Fokus, die alles andere out of focus rücken lässt: Evelyn Biaggi, gespielt von Curd Jürgens zweiter Ehefrau Judith Holzmeister. Um Evelyns sozialer Stellung entsprechen zu können, muss Lissen vom »Mann zum Herrn« werden. In seinem kargen Wohnloch sucht er sein Äußeres aufzubessern, ermutigt von einer Flasche Whiskey und einer erfolgreichen Kundenanwerbung. Rasur, Hut und Handschuhe machen ihn gesellschaftsfähig. Ein vergitterter Lastenaufzug mit Schaufensterpuppen, der vor dem Fenster auf und ab fährt, lässt sein Zimmer schon jetzt wie eine Gefängniszelle wirken und scheint jenen Fahrstuhl vorwegzunehmen, der in Alan Parkers Mystery-Thriller ANGEL HEART (1986) die Höllenfahrt von Privatdetektiv Angel ankündigt. PRÄMIEN AUF DEN TOD ist durchwegs subjektiv durchwirkt: ChiaroscuroEffekte, extreme Perspektiven und Wasserspiegelungen an den Wänden verwandeln Räume, Personen und Dinge in Figurationen innerpsychischer Stimmungen. Elisabeth Büttner und Christian Dewald sehen in dem Film einen »Ausläufer des expressionistischen Kinos«.17 Hinzu kommt, dass Regisseur Jürgens – der sich häufig am internationalen Kino orientierte – mit zahlreichen PRÄMIEN AUF DEN TOD, A 1950

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Bauteilen und Topoi des Film Noir arbeitet. Jalousien, Wendeltreppen und kalte Büroräume erzeugen eine Atmosphäre der Paranoia und Klaustrophobie. Schatten legen sich wie Gitter über Gesichter. Das Begehren geht mit dem Geld Unheil bringende Allianzen ein. Es geht um Verlierertum, Einsamkeit (inmitten von Menschen), Identitätsdiffusionen und zwielichtige Milieus. Kalkül und Kontrollverlust Lissen führt Evelyn aus, zunächst in die Oper (»Soll und Haben«), dann in noble Restaurants und Tanzlokale. Die Nacht entfaltet ihre heimlichen, magi18. Vgl. Stanley Cavell, schen Kräfte18 und verwirrt das Zeitempfinden: »Wie spät ist es?« – »Früher »DIE NACHT VOR DER HOCH- … noch früher!« Einziger Indikator für das Verstreichen der Zeit ist Lissens ZEIT oder: Die Wichtigkeit dahinschwindendes Geld. Als er Evelyn sein Stammlokal in der Hafengegend der Wichtigkeit«, in: ders., zeigt – u. a. verkehren dort der Schiffsarzt Dr. Schmidt und ein blinder Pianist Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen und andere (Felix Steinböck) –, findet die nächtliche Odyssee ein jähes Ende. Vom Milieu Essays, hg. von Davide angewidert, ergreift Evelyn die Flucht. Lissen bleibt zurück, gibt sich der WirSparti und Espen Hammer, kung des Schnaps und dem Spiel der Einbildungskraft hin. Das Auftauchen Frankfurt a. M. 2002, eines unbekannten Matrosen (Josef Meinrad) – eines no-body – bringt ihn auf S. 115–146, hier S. 124. eine Idee. Er beschließt, das Leben von erfundenen Personen zu versichern und nach deren »Ableben« die Prämien zu kassieren. Auf diese Weise will er seinen Lebensstandard heben und Evelyn imponieren. In einer halluzinatorischen Sequenz gibt er seiner ersten Phantasiegestalt Konturen und einen Namen: Oskar Zehner. Diese Kopfgeburt wird ihn wie ein Phantom begleiten. Allmählich führt uns der Film in den Innenraum einer »Denkmaschinerie«, die 19. Vgl. Max Horkheimer / sich das »Seiende […] unterwirft«19 und (fiktive) Menschen zu Funktionen verTheodor W. Adorno, rechnet. Es geht um Ausschweifungen der instrumentellen Vernunft und irraDialektik der Aufklärung. tionale Effekte des Rationalen. Derartige Zwangsmechanismen bringen die Philosophische Fragmente, Geschichte in ein Naheverhältnis zu Kafka’schen Wucherungen und VerselbstFrankfurt a. M. 1988, S. 33 f. ständigungen. In Zusammenarbeit mit besagtem Schiffsarzt schließt der Versicherungsakquisiteur Geschäfte mit imaginären Partnern ab und schwingt sich zum Herrn über Leben und Tod auf. Das Planspiel gerät jedoch außer Kontrolle: Lissen erblickt Evelyn mit einem anderen Mann. Der vermeintliche, von Curd Jürgens gespielte Rivale heißt Gunarson und ist Evelyns Gesangslehrer. Als sich herausstellt, dass dieser mit bürgerlichem Namen Oskar Zehner heißt, findet Lissen keinen psychischen Halt mehr. Das Kalkül dreht durch und wütet aus Leidenschaft. Was ursprünglich als Versicherung gegen die »blinden Gewalten des Fatum« (Lissen) gedacht war, wird selbst zu einem. Getrieben von Eifersucht, erschlägt Lissen sein Hirngespinst und gesteht einen Mord, den er nicht begangen hat. Ganz in der Tradition des Phantastischen arbeitet PRÄMIEN AUF DEN TOD, A 1950

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20. In seiner vielzitierten Einführung in die fantastische Literatur (1970) betrachtet Tzvetan Todorov die Unschlüssigkeit angesichts der Frage, »ob die evozierten Ereignisse einer natürlichen oder einer übernatürlichen Erklärung bedürfen«, als wesentliches Kennzeichen des Fantastischen. – Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, München 1972, S. 33. 21. Elisabeth Büttner / Christian Dewald, Anschluß an Morgen. Eine Geschichte des österreichischen Films von 1945 bis zur Gegenwart, Salzburg/Wien 1997, S. 414. 22. Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M. 1997, S. 163.

der Film mit Momenten der hésitation 20: Parallel zu dem imaginären Mord erleidet der reale Gesangslehrer einen tödlichen Herzinfarkt. Das Doppelgängermotiv klingt an. Hinzu kommt ein blinder Seher mit instinktsicherem Hund, der die Ereignisse aufklärt: Kako, der Klavierspieler aus der Hafenkneipe »Klimperkasten«, enthüllt Lissens tatsächliches Vergehen und hält eine Erklärung für das Unerklärliche bereit: Der Versicherungsbetrüger hat mit der Kraft seiner Gedanken und seines Hasses getötet. Es ist bemerkenswert, dass auch das Schlussbild von einer »fundamentalen Unsicherheit angesteckt«21 bleibt. Lissen betritt das städtische Gefängnis, das als Schaltstelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart fungiert. Die Tore schließen sich und verabschieden den Zuseher aus der Erzählung. Eine Rückkehr zum »Zentrum der Vergegenwärtigung«22, d. h. in die diegetische Jetztzeit, findet nicht statt. Somit wird dem Zuseher die Möglichkeit verweigert, eine ordnende Zentralperspektive zum Geschehen einzunehmen und die Erzählklammer zu schließen. Hinzu kommt die elaborierte Kamera von Hannes Staudinger und Günther Anders, der u. a. mit Gustav Ucicky und G. W. Pabst zusammenarbeitete: Lissens Gang in den düsteren Gefängnisbau wird aus einer extremen low-angle-Perspektive aufgenommen, die den Raum entsichert und Assoziationen zu den Blickpunkten in Piranesis phantastischen Kerkerentwürfen (Carceri d’Invenzione) nahelegt. Die Atmosphäre bleibt psychologisch durchwirkt. Lissen scheint aus dem Labyrinth seiner Erinnerungsbilder nicht mehr zurückzufinden, sondern diesen buchstäblich ver-haftet zu bleiben. Lektürefragmente aus zeitgenössischen Kritiken »Während dieser Film gut gespielt ist, steht thematisch der realen, aber für Durchschnittszuschauer zu trocken (versicherungsun-)fachlichen Handlungskomponente eine unwirkliche gegenüber, die nur bei Anspruchsvolleren Resonanz finden wird. Der Dialog ist wohldurchdacht, Außenaufnahmen schaffen Atmosphäre, aber auch Passagen.« (Paimann’s Film-Liste. Wochenschrift für Lichtbild-Kritik, Nr. 1769, Jg. 35, 19.1.1950, S. 5.) »[…] diese Geschichte ist eine reizvolle Phantasterei mit starken Anklängen an die seltsamen Erzählungen eines E. T. A. Hoffmann und Hanns Heinz Ewers. Das geschickt gewählte Milieu einer südlichen Hafenstadt verstärkt noch die etwas gewollte Originalität des Films. Von starker unheimlicher Wirkung ist Siegfried Breuer in der schwierigen Hauptrolle des betrügerischen und doch im Grunde anständigen kleinen Agenten.« (Arbeiterzeitung, 15.1. 1950) Giovanni Battista Piranesi, [Carcere VII], „Die Zugbrücke“, Rom 1750

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»Mit großer Spannung sah man dem Regiedebüt von Curd Jürgens’ PRÄMIEN AUF DEN TOD entgegen, der ersten Premiere eines österreichischen Films in diesem Jahre. Denn sie sollte nach der Enttäuschung der HEXEN den Beweis für die Leistungsfähigkeit der neuentstandenen Grazer Filmproduktion liefern. […] Ein paar Flüchtigkeiten der Regie – so der Sprung in den Außenaufnahmen aus der italienischen Stadt nach Graz – und die Überlastung des Schlusses, in dem man dem blinden Musiker eine überflüssige Erklärung der Motive des Helden in den Mund legt, sind verzeihliche Mängel. Das erlesene Publikum der Festaufführung, der auch Bundeskanzler Ing. Dr. Figl beiwohnte, nahm den Film mit Beifall auf.« (Wiener Tageszeitung, 15.1.1950) »[…] Siegfried Breuer, der endlich die Fesseln eines schon verhängnisvoll verspielten Bösewichttypus gesprengt hat […].« (Montag Morgen, 23.1.1950) »Die Regie Curd Jürgen’s ist fesselnd, wenn auch vom Stil des französischen Films beeinflußt. […] Schade, daß all die trefflichen Schauspieler, die interessante Regie sich für ein solch banales Buch verausgaben.« (Wiener Kurier, 16.1.1950) »Endlich ein Bildstreifen, der das schale Einerlei der heimischen Produktion durchbricht, ein Versuch, einmal etwas anderes zu zeigen. […] Man sieht schöne und interessante Aufnahmen, gute, teilweise sogar hervorragende Darstellung, es erfreuen einen neue Blickpunkte der Regie und vor allem der Einfall einer guten Story. Vielleicht war man noch etwas zu sehr auf Äußerlichkeiten, auf »reißerische« Wirkungen bedacht, Spannung kann auch bei größter Zurückhaltung erreicht werden, wie die Bildstreifen von Carol Reed zeigen. Immerhin welch ein Fortschritt, wenn solche Namen überhaupt in Zusammenhang mit einem österreichischen Erzeugnis genannt werden können!« (Die Presse, 25.1.1950) »Zuwenig spannend für einen Reißer, zu reißerisch, kitschig und fragmentarisch, um ernst genommen zu werden, läßt der Film viel optische Fantasie, schauspielerische Kultur und Freude am Detail sehen.« (Welt am Montag, 16.1.1950) »Der österreichische Film PRÄMIEN AUF DEN TOD wurde nach Westdeutschland, Kanada und Amerika verkauft. Er wird […] im Frühjahr zunächst in den deutschsprachigen Kinos New Yorks gezeigt.« (Weltpresse, 21.2.1950)

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23. Nikolaj Gogol, Die toten Seelen, München 2005, S. 41 ff.

Nikolaj Gogol: Die toten Seelen23 kann auch als Paraphrase bzw. Inversion von Nikolaj Gogols (1809–1852) Torso gebliebenem Roman Die toten Seelen betrachtet werden, der in zwei Teilen erschien (1842/55) und von Gogol als »Poem« angelegt war. Während Curd Jürgens Hauptfigur nicht existierende Menschen versichert und diese einen fiktiven Tod sterben lässt, kauft Gogols Held Tschitschikow Gutsbesitzern »tote Seelen«, d. h. verstorbene Leibeigene ab, die »formell« noch als lebende Bauern geführt werden, um diese bei Kreditinstituten verpfänden zu können. PRÄMIEN AUF DEN TOD

»›Ich will keine richtigen, sondern tote Bauern …‹ ›Wie denn das? Entschuldigen Sie … ich bin ein wenig taub, mir war doch, als hörte ich da ein ganz merkwürdiges Wort …‹ ›Ich beabsichtige tote Bauern zu erwerben, die aber in der Revisionsliste noch als lebende Bauern geführt werden‹, sagte Tschitschikow. Manilow riß vor Staunen den Mund weit auf, so daß ihm die Pfeife entglitt und auf den Fußboden fiel. Einige Minuten saß er mit offenem Munde da. […] ›Ich möchte also wissen‹, sagte Tschitschikow, ›ob Sie bereit sind, mir diese in Wirklichkeit toten, aber formell und nach dem Gesetz noch lebendigen Seelen zu übergeben oder abzutreten, oder wie Sie es nennen wollen.‹ Manilow geriet völlig außer Fassung und war so verwirrt, daß er ihn nur sprachlos anblickte. […] Er fühlte, daß er irgend etwas tun, irgendeine Frage stellen mußte, aber der Teufel mochte wissen, worin diese Frage bestehen sollte. Schließlich wußte er sich nicht anders zu helfen, als abermals eine Wolke Tabakrauch in die Luft zu blasen, aber diesmal nicht durch den Mund, sondern durch die Nasenlöcher. ›Wenn also keine Bedenken bestehen, so können wir uns mit Gottes Hilfe unverzüglich an die Abfassung des Kaufvertrages machen‹, sagte Tschitschikow. ›Wie, ein Kaufvertrag über tote Seelen?‹ ›Bewahre!‹ rief Tschitschikow aus. ›Wo denken Sie hin, wir schreiben natürlich, daß sie lebendig sind, wie das ja auch aus den Revisionslisten hervorgeht. Ich pflege unverbrüchlich am Bürgerlichen Gesetzbuch festzuhalten, obgleich ich wegen dieser Gewohnheit bereits viel im Dienste zu leiden hatte. Sie müssen schon entschuldigen: die Pflicht ist für mich etwas Heiliges, und das Gesetz – ich verstumme vor dem Gesetz.‹ Diese letzten Worte fanden Manilows volle Zustimmung, aber trotzdem vermochte er nicht in den eigentlichen Sinn der ganzen Sache einzudringen, und statt zu antworten, sog er so heftig an seiner Pfeife, daß sie Töne wie ein Fagott von sich gab. […] ›Aber gestatten Sie mir die Frage, könnte nicht dieses Vorhaben oder – um sozusagen noch deutlicher

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zu werden – dieser Handel am Ende doch mit den bürgerlichen Gesetzen oder den weiteren Absichten Rußlands in Widerspruch geraten?‹ […] ›Ich bin der Ansicht, daß es sich machen läßt.‹ ›Nun, wenn es sich machen läßt, ist’s allerdings eine andere Sache. Dann habe ich nichts dagegen einzuwenden‹, sagte Manilow und beruhigte sich. ›Jetzt müssen wir uns nur noch über den Preis einigen …‹ ›Wieso über den Preis?‹ fragte Manilow und fiel abermals aus den Wolken. ›Sie werden doch nicht ernstlich glauben, daß ich für Seelen Geld fordern werde, die in gewissem Sinne schon aufgehört haben zu existieren? Wenn Sie schon einmal auf solchen phantastischen Wünschen bestehen, so müssen Sie mir erlauben, Ihnen meinerseits die toten Seelen umsonst zu überlassen, und der Kaufbrief bleibt meine Sorge!‹ Der Chronist, der über die hier mitgeteilten Begebenheiten unterrichtet, würde sich ohne Zweifel den schärfsten Tadel zuziehen, wenn er an dieser Stelle zu bemerken unterließe, daß diese Worte Manilows den Gast in helles Entzücken versetzten. Maria Fritsche: »Kein wirklicher Mörder und doch hat er getötet!« – Traumatisches Erinnern in PRÄMIEN AUF DEN TOD Eine Hafenstadt in der Sommerhitze. Gleißendes Sonnenlicht. Düstere Treppenhäuser. Wellen werfen unruhige Schatten auf die Wände der Hafenkneipe »Klimperkasten«. Ein Mann in abgetragenem Anzug eilt durch Gassen, steigt Treppen empor. Türen werden vor seiner Nase geschlossen, Namen von einer Liste gestrichen. Sprossenfenster, schmiedeeiserne Tore und Jalousien werfen ihre langen, trägen Schatten. PRÄMIEN AUF DEN TOD ist ein klassischer Film Noir – und schon als solcher eine überraschende Ausnahmeerscheinung im österreichischen Kino. In einer langen Rückblende erzählt die Hauptfigur Peter Lissen, wie alles seinen Anfang nahm. Wie es dazu kam, dass er jetzt im Gefängnis einer italienischen Hafenstadt sitzt. »Ich muss mich erinnern, von Anfang an.« Die Erzählstimme nimmt uns mit auf die (Gedanken-)Gänge Peter Lissens, eines Versicherungsvertreters von zweifelhaftem Ruf, der ungewollt zum Verbrecher werden wird. Lissen ist auf der Suche. Er sucht nach Kunden, um ihnen Lebensversicherungen aufzuschwatzen, mit deren kümmerlicher Prämie er sein Lotterleben finanzieren muss. Aber er sucht noch etwas anderes. »In mir brannte es«, erklärt Lissen im Voice Over gleich am Anfang des Films. Doch was genau brennt in ihm: die Sehnsucht, die Vergangenheit? Oder der Hass, mit dem er später seine Phantasiekreation Oskar Zehner zerstört und damit gleichzeitig seinen Rivalen Gunarson? Programmheft PRÄMIEN AUF DEN TOD, Illustrierter Film-Kurier, Nr. 759, Wien, Jänner-Folge 1950

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Lissen hastet, läuft, immer treppauf, immer höher. Ein Mann will nach oben, mit aller Kraft. Er will die Klassenschranken durchbrechen und seine kümmerliche Gegenwart und die Vergangenheit abstreifen. Er will hinauf ans Licht. Lissen ist ein Mann auf der Suche nach Anerkennung. Anerkennung, die ihm verwehrt wird, von der Bourgeoise ebenso wie von seinen Gefährten in der Hafenkneipe und vor allem von der angebeteten Femme fatale Biaggi, die ihn süffisant auf Distanz hält. Lissen ist ein Niemand. Ein Außenseiter, der stets am Rande lebt, finanziell wie sozial. An den Wänden und Möbeln der dunklen Hafenkneipe spiegeln sich die Wellen, werfen ihre ruhelosen Muster auf Lissens Gesicht, unterstreichen seine Rastlosigkeit und Unzufriedenheit. Lissen ist ein Suchender und ein Getriebener zugleich. Auf der Suche nach Identität – auch dies ein klassisches Film-Noir-Motiv. Die Begierde nach einer Frau und nach höherem sozialem Status macht ihn zum Verbrecher, zumindest in den Augen der Gesellschaft. Vielleicht ist dieser Versuch, die Klassenschranken zu durchbrechen das eigentliche Vergehen, wofür Lissen zur Verantwortung gezogen wird. Möglicherweise ist es aber auch ein ganz anderes Verbrechen, für das er büßen muss, ja, so scheint es fast, büßen will. Liegt dieses Verbrechen in seiner dunklen Vergangenheit, von der wir so wenig wissen? Nur einmal erhaschen wir einen Blick auf ein Bild, das ihn als Offizier in Husarenuniform zeigt. Lissen war Soldat: »Kein wirklicher Mörder und doch hat er getötet!« Dieses Diktum kann ebenso der Zerstörung der Phantasiegeburt Oskar Zehner wie den Kriegstraumata jener vielen Männer gelten, die im Zweiten Weltkrieg als Soldaten kämpften. Und töteten, ohne Mörder zu sein. Ist es diese verschwiegene Vergangenheit als Soldat, die Lissen seine Stabilität und Identität raubte und ihn, wie viele andere nach dem Krieg, zum Ruhelosen machte? Als sich die Tore des Gefängnisses endlich hinter Lissen schließen, vermittelt er den Anschein von Erleichterung. Er hat seine Erinnerungsarbeit abgeschlossen, eine (seine?) Identität wieder gefunden, auch wenn es die eines Mörder ist. Im Gefängnis kommt Lissen endlich zur Ruhe: Er ist kein Heimatloser und Suchender mehr, denn er hat seinen Platz gefunden. Das Kinopublikum der frühen Nachkriegsjahre, eben aus Diktatur und Krieg in die Freiheit entlassen, mochte dieser willige Gang eines letztlich Unschuldigen ins Gefängnis vielleicht bestürzen. Doch Lissen weiß um seine Schuld. Er hat sich erinnert.

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Günther Anders – Kameramann1 (8. November 1908, Berlin – 16. September 1977, München)

1. Hans-Michael Bock, »Günther Anders – Kameramann«, in: ders. (Hg.), CineGraph – Lexikon zum deutschsprachigen Film, München 1984.

Günther Anders, geboren am 8. November 1908 in Berlin. Sein Vater ist Betriebsleiter der Filmproduktion Eiko, später kaufmännischer Direktor der Ufa. Um 1918 Kinderrollen in Filmen mit Reinhold Schünzel (Details ungeklärt). Nach Abschluss der Schule 1922 Lehrvertrag in der fotografischen Abteilung der Ufa; er lernt Entwickeln, Kopieren, Aufnehmen, Vorführen, arbeitet als Beleuchter. Ausbildung an der Staatlichen Hochschule für Fototechnik in München. Sein Lehrmeister an der Kamera wird Carl Hoffmann, dem er ab Fritz Langs DIE NIBELUNGEN (1923/24) oft assistiert; außerdem Assistenzen bei Karl Freund (VARIETÉ, 1925, E. A. Dupont; METROPOLIS, 1925/26, Lang), Rudolf Maté (LA PASSION DE JEANNE D’ARC, 1928, Carl Theodor Dreyer), Eugen Schüfftan (GASSENHAUER, 1931, Lupu Pick) und Franz Planer. Als Carl Hoffmann sich 1934 als Regisseur versucht (ICH BIN DU, Kurzspielfilm; DAS EINMALEINS DER LIEBE, 1935; u. a.) rückt Anders in die Position des Kameramanns auf. Unabhängig von Hoffmann fotografiert er dann eine Serie Kurzspielfilme und zählt schon bald zur ersten Garnitur der deutschen Kameramänner. Für Veit Harlans DER HERRSCHER (Anders’ Lieblingsfilm) entwirft er das optische Drehbuch; er gehört zur Kompanie Karl Ritters (9 Filme bis 1940); anschließend Zusammenarbeit mit Gustav Ucicky (vier Filme vor, drei nach 1945; u. a. HEIMKEHR, 1941). Ab 1941 lebt und arbeitet er fast ausschließlich in Wien, wo er bis 1951 bleibt. Schon 1947 steht er (in München) wieder hinter der Kamera (ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN). In den 1950er-Jahren fotografiert er u. a. zwei Filme von G. W. Pabst sowie einige unter der Regie Kurt Hoffmanns (DAS SPUKSCHLOSS IN SPESSART), dem Sohn Carl Hoffmanns. Ihm wird die Kameraführung einer Reihe großer Prestige-Produktionen anvertraut (MEINES VATERS PFERDE; DIE BARRINGS; DAS GLAS WASSER; GUSTAV ADOLFS PAGE), so auch 1960 die Filmaufzeichnung von Gustaf Gründgens berühmter Faust-Inszenierung. Daneben führt Anders bei einigen Dokumentar- und Ballettfilmen auch Regie. Mitte der 1960er-Jahre zieht sich Anders weitgehend zurück. Er lebt mit seiner zweiten Frau, der Kostüm-Bildnerin Charlotte Flemming, in Grünwald, Albenga (Ligurien) und München. Dort stirbt Günther Anders am 16. September 1977.

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ALFRED KUBIN – ABENTEUER EINER ZEICHENFEDER

A 1957 REGIE: Kurt Steinwendner BUCH: Kurt Steinwendner, Walter Kasten MUSIK: Helmut Eder SCHNITT: Josef Juvancic DARSTELLER: Alfred Kubin, Pfarrer Samhaber SPRECHER: Antonia Mittrowsky, Helmuth Janatsch PRODUKTION: Hoela-Film, Wien PRODUKTIONSLEITUNG: Walter Robert Lach, Walter Hoessig FORMAT: 16 mm, Ton, s/w LAUFZEIT: 15 Minuten

PRÄMIEN AUF DEN TOD

A 1950 REGIE: Curd Jürgens BUCH: Kurt Heuser, Curd Jürgens KAMERA: Günther Anders, Hannes Staudinger MUSIK: Willy Schmidt-Gentner TON: Martin Krämer SCHNITT: Herma Sandtner BAUTEN: Werner Schlichting, Isabella Ploberger DARSTELLER: Werner Krauß (Dr. Schmidt), Judith Holzmeister (Evelyn Biaggi), Curd Jürgens (Gunarson, Operntenor), Siegfried Breuer (Peter Lissen, Versicherungsagent), Felix Steinböck (Kako, Klavierspieler), Edith Mill (Kellnerin), Josef Meinrad (Matrose), Gisela Wilke (Cleo, Hafenwirtin), Melanie Horeschovsky (Tilla, Lissens Quartiersfrau), Hermann Thimig (Muschel, Hafeninspektor), Karl Günther, Liselotte Gerhard, Ilse Trenker, Gusti Wolf, Hermann Erhardt, Ivan Petrovitch, Martha Hartmann, Eugen Eisenlohr, Hans Graff, Friedrich Kutschera, Ernst Therwall, Mimi Stelzer, Herta Baumann, Beppo Seidler, K. Szauer PRODUKTION: Alpenfilm Austria, Graz PRODUKTIONSLEITUNG: Herbert Sennewald AUFNAHMELEITER: Willy Egger ATELIERS: Atelier Thalerhof, Graz AUSSENAUFNAHMEN: Hafen von Genua URAUFFÜHRUNG: 13. Jänner 1950, Wien FORMAT: 35 mm, s/w, Ton LAUFZEIT: 83 Minuten

059: 7. März 2007

Impressum: MEDIENINHABER: Verlag Filmarchiv Austria, 1020 Wien, Obere Augartenstraße 1 HERAUSGEBER: Christian Dewald REDAKTION HEFT 059: Matthias Wittmann TEXTE: Hans-Michael Bock, Maria Fritsche, Nikolaj Gogol, Alfred Kubin, Matthias Wittmann LEKTORAT: Georg Tscholl SATZ: Peter Chalupnik GRAFIK: Perndl+Co DRUCK: Digitale Druckwerkstatt ADRESSE: Filmhimmel Österreich, 1020 Wien, Obere Augartenstraße 1, [email protected], www.filmarchiv.at COVERFOTO: PRÄMIEN AUF DEN TOD, A 1950 DANK AN: Maria Fritsche, Portsmouth; Matthias Mahr (Filmarchiv Austria); Matthias Wittmann, Wien FOTONACHWEIS: Filmarchiv Austria (Wien); Kooperative »das kino co-op« (Wien) Die Begleithefte werden zum jeweiligen Vorführtermin im Kino gratis ausgegeben. Ein nachträglicher Bezug ist über den Shop im Audiovisuellen Zentrum Augarten ([email protected]) oder an der Kinokasse zum Preis von € 2,– pro Nummer möglich.

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