Trauma und Flucht Flüchtlinge und ihre gesundheitliche Versorgung
June 13, 2017 | Author: Günther Meissner | Category: N/A
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„Trauma und Flucht – Flüchtlinge und ihre gesundheitliche Versorgung“ Rund 50 Teilnehmer*innen aus der professionellen und ehrenamtlichen Arbeit mit Geflüchteten und Asylsuchenden nahmen am 18. und 19. Januar 2016 an der Veranstaltung „Trauma und Flucht – Flüchtlinge und ihre gesundheitliche Versorgung“ der Akademie Frankenwarte teil. Es wurden die politischen Rahmenbedingungen für die gesundheitliche Versorgung von Geflüchteten und Asylsuchenden in den Kontext von Fluchterleben und gesellschaftlicher Integration gestellt. In ihren Vorträgen über die Gesundheitliche Versorgung von Geflüchteten und Asylsuchenden als Querschnittsaufgabe und Von Menschen, die nicht ankommen, stellt Melanie M. Klimmer, Ethnologin M.A. und Lehrbeauftragte für Klinische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, heraus, dass nach einer Studie nicht nur die gesundheitliche Situation von Menschen, z.B. mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung, sehr häufig behördlich nicht erkannt werde. Diverse strukturelle Bedingungen führten zudem zu einer Verstärkung psychopathologischer Prozesse, darunter die Unterbindung oder Erschwernis von identitätsstiftenden Faktoren wie sinngebenden Betätigungsfeldern (Arbeitsstelle), stärkenden Bezugssystemen (Familienmitglieder), bis hin zur Ablehnung gesundheitlicher Interventionen, die von den Betroffenen jedoch als sehr dringlich wahrgenommen werden. Klimmer erinnert an die wesentlichen Erkenntnisse des 1936 in die Niederlande emigrierten, jüdischen Psychoanalytikers Hans Keilson: Für die psychische Gesundheit und die Integration sei die emotionale Unterstützung und Fürsorge der Aufnahmegesellschaft ausschlaggebend. Weitere Studien belegten, dass das Ausmaß der psychischen Belastung in den ersten drei Jahren nach der Flucht wiederum für den Grad der kulturellen Anpassungsfähigkeit auch Jahrzehnte danach noch entscheidend sei (Norwegische Langzeitstudie, 2015). Eine US-Studie (2001) belege zudem, dass die private Unterbringung von Geflüchteten eine Posttraumatische Belastungsstörung und andere psychische Erkrankungen weniger befördere und einem Aufkeimen von Rassismus entgegenwirke. Daher sei es wesentlich, Flüchtlingspolitik auch als Querschnittspolitik zu begreifen, da sonst nicht mehr zu bewältigende Probleme aufziehen könnten. Mit Frauen auf der Flucht befasste sich ein weiterer Vortrag der Ethnologin. Frauen flüchteten meist vor sexualisierter häuslicher, struktureller und kultureller Gewalt, nicht vor Naturkatastrophen und Kriegen allein. Mit oft ungenügend sozialen und ökonomischen Ressourcen ausgestattet, seien alleinflüchtende Frauen und Frauen mit Kindern sehr oft Binnenflüchtlinge. Nur wenige schafften es bis nach Europa. Die Flucht selbst ist weiter geprägt von sexualisierter Gewalt, ungewollten Schwangerschaften, Fehlgeburten und sozialen Benachteiligungen. Nach der Flucht treffen diese Frauen auf weitere Hindernisse. Die mangelnde Zuordenbarkeit zu einer asylrechtlich anzuerkennenden, politischen Verfolgung stellt ein Anerkennungshindernis dar, wenngleich das Zuwanderungsgesetz von 2005 die Definition deutlich erweitert habe. Um aber z.B. den vermeintlichen Bruch mit weiblichen Rollenmustern und den daraufhin erfahrenen Sanktionen für einen politischen Asylgrund belegen zu können, so Klimmer, bedürfe es einer strukturierten, glaubhaften Darstellung, die oft, aufgrund von Traumatisierungen, nicht erfolgen könne.
Frauen seien zudem durch weitere sexualisierte Übergriffe in nicht abschließbaren Sammelunterkünften, durch den Mangel an geeigneten, geschützten Unterkünften für Frauen, die Wohnsitzauflage (für Täter und Opfer), in einigen Fällen die Abhängigkeit des Bleiberechts vom Bestand einer Ehe oder durch eine zu langsame Interventionspraxis der Behörden auch nach der Flucht gefährdet. Auch die Verschärfungen in der Asylpolitik wirkten sich auf Frauen ungleich stärker aus. Eine Beschleunigung der Verfahren, zum Beispiel, stehe gerade traumatisierten Frauen entgegen.
Melanie M. Klimmer, berichtet über „Frauen auf der Flucht“, Foto: Edith Ziegler, © 2016
In einer Lesung mit Foto-Reportage gab die freie Fachjournalistin Melanie M. Klimmer Einblicke in ein seit 2008 bestehendes Pilotprojekt der gesundheitlichen Versorgung von Geflüchteten und Asylbewerber*innen in den sogenannten Außenstellen der Missionsärztlichen Klinik in Würzburg unter Federführung von Prof. Dr. August Stich. Im Berufsalltag, so Klimmer, würden die Mitarbeiter*innen des Medizinischen Dienstes vor Ort mit schwierigen Rahmenbedingungen konfrontiert: Ablehnungen notwendiger Gesundheitsmaßnahmen mit Verweis auf mangelnde Dringlichkeit – eine sogenannte Voraussetzung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz; Mehrbegutachtungen auch von traumatisierten Kindern, bevor es überhaupt zur Genehmigung einer, dann oft unzureichenden, Menge an Sitzungen ohne Dolmetscher kommt; sichtbare Erkenntnisse über Folterungen im Heimatland oder auf der Flucht, die bislang von den Betroffenen gegenüber Behörden, wie dem BAMF, verschwiegen wurden; Begegnungen mit Geflüchteten, die in permanenter Angst vor Abschiebung und Willkür oder aufgrund mangelnder Perspektiven, psychisch und physisch dekompensieren; die Begegnung mit Kindern, die durch ihre Mitbetroffenheit am Schicksal ihrer Eltern häufig an psychosomatischen Erkrankungen leiden. Die Würzburger Standort-Koordinatorin des bundesweiten Projekts von „Mit Migranten für Migranten – interkulturelle Gesundheit in Deutschland“, kurz MiMi, Inna Kopp, vermittelte einen Überblick darüber, wie seit 2008 mit diesem Projekt Menschen aus 100 Herkunftsländern erreicht werden konnten. MiMi wurde zur Verbesserung der gesundheitlichen Chancengleichheit und
besseren Integration ins deutsche Gesundheitssystem bereits 2003 vom Ethno-Medizinischen Zentrum e.V. mit Sitz in Hannover als Empowerment-Strategie für Migrant*innen entwickelt. Multiplikator*innen sind erfolgreich integrierte Migrant*innen, die zu Gesundheitsmediator*innen ausgebildet werden. Sie geben das erworbene, spezifische Wissen über Gesundheit und das deutsche Gesundheitssystem in muttersprachlichen Informationsveranstaltungen und Gesundheitsgruppen weiter.
Inna Kopp, Standort-Koordinatorin des Projekts „Mit Migranten für Migranten – interkulturelle Gesundheit in Deutschland“, Foto: Edith Ziegler, C 2016
In Bayern gibt es mittlerweile 287 solcher Aktiven an 10 Standorten. Neben Info-Veranstaltungen sind auch Informationsbroschüren und Wegweiser zu 20 gesundheitlichen Themen in 14 Sprachen, z.B. zu „Kindergesundheit und Unfallprävention“, „Diabetes“ oder „Psychotherapie“ im Einsatz. In manch anderen Regionen leistet MiMi Deutschland wichtige Beiträge zur Nivellierung gesundheitlicher Ungleichheit durch die Verbesserung der interkulturellen Kommunikation zwischen medizinischem Personal und Migrant*innen.
Dipl.-Psychologin Anne Schirmer vom Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge (PSZ) in Nürnberg; Foto: Melanie M. Klimmer, © 2016
Die Psychologische Psychotherapeutin Anne Schirmer vom Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge (PSZ) in Nürnberg, einer überregionalen Beratungsstelle der Rummelsberger Diakonie, berichtete über ihre direkte Erfahrung mit traumatisierten Geflüchteten und gab zu bedenken, dass eine vereinfachte Kategorisierung von Menschen auf der Flucht in „berechtigt“ und „unberechtigt“ Geflüchtete, wie z.B. diejenigen der „sogenannten“ Wirtschaftsflüchtlinge, einer kritischen Überprüfung nicht standhalten kann. Viele Geflüchtete befänden sich in einer Situation, die vergleichbar sei mit dem steten „Stein-nach-oben-Rollen“: in permanenter Gefahr, von diesem überrollt zu werden. Oft bleibe ein „Warum“ aufgrund intransparenter Rahmenbedingungen und Ohnmachtspositionen in der „Aufnahmegesellschaft“. Für das Asylverfahren tun sich, nach Einschätzungen von Schirmer, sehr viele Problemstellungen für Traumatisierte auf. Amnesien und nicht-chronologisch dargebotene Informationen, harmlos erscheinende Umschreibungen schlimmster Ereignisse oder schlicht die Beweispflicht bis ins Detail führe dazu, dass Ablehnungen von Asylanträgen zur fatalen Konsequenz würden. Als sehr bedenklich stuft Schirmer zudem die derzeitigen Abschiebebedingungen ein. Immer wieder gebe es Berichte von Geflüchteten, wonach Zwangsmedikationen (mitunter zur Verhinderung von Suiziden auf deutschem Boden eingesetzt) angewandt würden. Diese Praxis habe ein hohes Retraumatisierungspotenzial, so Schirmer, und zerstöre den letzten Glauben an irgendeine Sicherheit, gerade weil sie durch Ärzte ausgeführt werde. Dr. med. Martin Flesch, Arzt für Psychiatrie, Psychotherapie sowie Forensische Psychiatrie und seit einigen Jahren eingebunden in die sozialpsychiatrische Akutversorgung von Migrant*innen, auch ehrenamtlicher Gutachter für den Medizinischen Dienst der Missionsärztlichen Klinik, Außenstelle der „Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge und Asylbewerber“ in Würzburg, spricht in seinem Vortrag zur Transkulturellen Psychiatrie für eine kultursensible Herangehensweise und Auffassung von psychopathologischen Phänomenen im Umgang mit verschiedenen Interpretationssystemen von (psychischen) Erkrankungen und deren Akzeptanz aus. Die Medizin, insbesondere die Psychiatrie, spiele eine Rolle im Hinblick auf das Asylwesen an der Schnittstelle von Recht, Politik und Gesellschaft.
Dr. med. Martin Flesch, Arzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Forensische Psychiatrie, berichtet über die Herausforderungen einer „Transkulturellen Psychiatrie“, Foto: Melanie M. Klimmer, © 2016
Mit Verweis auf die Sonnenberger Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) von 2006, spielten Kultursensibilität und Kulturkompetenz eine wesentliche Rolle für einen erleichterten Zugang zur psychosozialen und therapeutischen Regelversorgung unterschiedlicher Migrant*innengruppen. Flesch macht deutlich, dass nach A. Kleinmann (1978) es eine ethnozentrische Fehlannahme sei, dass westliche Klassifikationssysteme für, u.a. psychische, Krankheiten unabhängig vom eigenen Kulturraum und ihren diagnostischen Kriterien zu sehen seien. Deshalb bestehe die Herausforderung explizit darin, ein sich in der Begutachtungssituation ausdrückendes, kulturelles Verständnis – auch im Kontext von Trauma und Flucht – in seinem sozialen Kontext ernst zu nehmen und „kulturgebundene Syndrome“ (z.B. das aus Mexiko stammende Syndrom „Susto“, das den Verlust der Seele nach heftigem Erschrecken beschreibt) in die, für Deutschland üblichen, Klassifikationssysteme (ICD, DSM) und deren Codierung adäquat zu übersetzen, um den Menschen hier überhaupt helfen zu können. Zu beachten sei außerdem, dass es in vielen Kulturen nicht statthaft sei, intime Details außerhalb der Familie zu erzählen. Dies könne sich, gerade im Rahmen asylrechtlicher Verfahren, zum Nachteil für die Betroffenen erweisen. Über Trauma-Folgen und kultursensible Kommunikation unter Beachtung der Eigensprache referiert Dr. med. Tilman Rentel, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie sowie psychosomatische Medizin und Ausbilder für Idiolektik. Mit seiner Eigensprache als persönlichem „Fingerabdruck“ benutze jeder Mensch Worte und nonverbale Signale auf eine einzigartige Weise. Diese Eigensprache könne im Kontext von Trauma-Erleben bei Migration und Flucht als hilfreiche Ressource dienen, wenn man ihr mit einer würdigenden und nachfragenden Haltung begegne.
Dr. med. Tilman Rentel, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Ausbilder in Idiolektik, Foto: Melanie M. Klimmer, © 2016
Das Eingehen auf Hypothesen und Sprachbilder des Gegenübers ermögliche einen trauma- und kultursensiblen Umgang. Die bei traumatisierten Menschen als Überlebensstrategie ausgelöste Fragmentierung der Realitätswahrnehmung in ihre sogenannte "Roh-Version", zeige sich in der Aufsplitterungen des Widerfahrenen in körperbezogene Bruchstücke, Gefühlssplitter, Bilderfetzen oder Fragmente aus dem spezifischen Umgebungskontext. Dabei sei zu unterscheiden zwischen Ereignis und Verletzung. Eine rationale, logisch-chronologische Abfolge der Beschreibungen von Erlebtem sei daher für die Betroffenen oft nicht möglich. Getriggert können sich solche Flashbacks unvermittelt mitten im Alltag äußern und an die Oberfläche transportiert werden und das Leben traumatisierter Menschen stark beeinträchtigen. In einer Therapie, welche die persönliche und kulturelle Eigensprache der Menschen (Sprachmuster, Sprachbilder, u.a.) zur kommunikativen Grundlage mache, könnten die einzelnen Fragmente in langsamen Schritten wieder zusammengefügt werden, so der Experte. Dadurch, dass Geflüchtete hier kaum Sicherheit, Transparenz, Partizipation oder Freude erlebten und sehr häufig über Monate und Jahre in einem Gefahrenmodus verharrten, könnten gerade Traumatisierte keine korrigierenden Beziehungserfahrungen machen und ein, für Bindungen notwendiges, Sicherheitsgefühl aufbauen, so der Experte. Abschließend kam der Ulmer Oberbürgermeister Ivo Gönner (SPD) über eine Interview-Collage zu Wort – zu diesem Zeitpunkt war er noch die letzten Tage vor seinem offiziellen Ausscheiden im Amt. Bekannt für seinen Pragmatismus und seine Menschennähe, wollte die freie Fachjournalistin Melanie M. Klimmer im November im Interview im Ulmer Rathaus mehr von ihm über notwendige, politische Konzepte zur Integration von Geflüchteten und Asylbewerber*innen wissen. In Ulm bestehen seit Langem intensive Erfahrungen im Umgang mit Trauma-Opfern, nicht zuletzt durch das dortige Bundeswehrkrankenhaus sowie durch das Behandlungszentrum für Folteropfer, dessen Schirmherr Ivo Gönner ist. Auch deshalb will sich die Stadt u.a. um die Aufnahme und Integration von 100 schwer traumatisierten Yesidinnen bemühen.
Ivo Gönner im Gespräch mit der freien Fachjournalistin Melanie M. Klimmer, 11/2015,
Text: Melanie M. Klimmer, © 2016
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