SWR2 Aula Sieben auf einen Streich, Zaubertrank und alter Käse Krankheit, Gesundheit und Magie im Märchen Von Wolfgang U. Eckart

July 9, 2017 | Author: Mona Weiner | Category: N/A
Share Embed Donate


Short Description

1 SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Aula Sieben auf einen Streich, Zaubertrank und alter K&a...

Description

SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

SWR2 Aula Sieben auf einen Streich, Zaubertrank und alter Käse Krankheit, Gesundheit und Magie im Märchen Von Wolfgang U. Eckart Sendung: Sonntag, 15. März 2015, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2015

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Service: SWR2 Aula können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml Die Manuskripte von SWR2 Aula gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. Firefox gibt es auch sogenannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Aula sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030

Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

1

Ansage: Mit dem Thema: "Sieben auf einen Streich, Zaubertrank und alter Käse – Krankheit, Gesundheit und Magie im Märchen". Wir haben uns angewöhnt, Märchen nach psychoanalytischer Lesart zu interpretieren, der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim hat dabei Maßstäbe gesetzt. Ob Dornröschen, Hänsel und Gretel oder Aschenputtel - es geht um die Auseinandersetzung mit dem Bösen und um unterdrückte, oftmals tabuisierte Sexualität. Doch Märchen sind mehr als nur verschlüsselte Botschaften für die Psychoanalyse, sie enthalten vor allem auch wichtige Bezüge zu medizinischen und vor allem magischen Elementen. Der Medizinhistoriker Professor Wolfgang U. Eckart von der Universität Heidelberg arbeitet diese Aspekte heraus.

Wolfgang U. Eckart: Während die pädagogische und psychoanalytische Märchenliteratur, aber auch die feministische oder rechtshistorische Forschung hierzu ganze Bücherregale füllt, hat sich die Medizingeschichte in der Auswertung von Märchen bis heute erstaunlich zurückgehalten. Wenn man sich nach dem „Warum?“ fragt, scheint die Antwort auf der Hand zu liegen. Märchen und Medizin? Da muss man schon eine Weile überlegen, welches der vielen selbst gelesenen Märchen wirklich etwas damit zu tun hatte. Ärzte und Apotheker kommen so gut wie nicht vor, Krankheiten im engeren Sinne auch nur wenige, allenfalls einige psychische Aberrationen unterschiedlichster Ausprägung bis hin zur Menschenfresserei, der Anthropophagie, psychosoziale Auffälligkeiten, Charakterdefekte, kriminelles Fehlverhalten. Mit Emotionen sieht es da schon anders aus. Besonders Angst und Schrecken springen uns aus der Erinnerung an schaurige Märchenlektüren noch an, Liebe und Hass, Missgunst und Neid, Trauer und Freude, um hier nur einige der stärksten zu nennen. Vielleicht ist es gerade diese Dominanz des Emotionalen, die die Psychoanalyse früh reizte, sich mit der Analyse des Märchens zu beschäftigen. Zwar hat sich Sigmund Freud selbst nicht explizit mit den Märchen als Textgruppe auseinandergesetzt, sehr wohl aber in seinen Darstellungen über die Träume oder das Unheimliche auch Märchen immer wieder thematisiert und auch einzelne von ihnen analysiert. Dabei maß er auch im Märchen (etwa bei Rotkäppchen) dem Sexualtrieb eine große Bedeutung bei. Carl Gustav Jung hat Märchen insbesondere im Hinblick auf seine Archetypenlehre erforscht. Die Märchenbilder und Metaphern waren ihm dabei besonders wertvoll. Viele der Archetypen sollen nach Jung auf menschlichen Ur-Erfahrungen beruhen, wie etwa Geburt, Kindheit, Pubertät und werdende Adoleszenz, Elternschaft, das Altern, der Tod. Aber auch Assoziationen zu Grundgefühlen werden geweckt, unter ihnen ganz zentral die Angst. Kein Wunder, dass vielen Vertretern der Psychoanalyse das Märchen zu einem bedeutungsvollen literarischen Text wurde und dies nicht nur in analytisch-diagnostischer, sondern auch in therapeutischer Hinsicht. Zu den herausragenden Protagonisten dieser Forschungsrichtung gehörte zweifellos der österreichisch-amerikanische Psychoanalytiker und Kinderpsychologe Bruno Bettelheim. Bettelheim war 1938 nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie an der Wiener Universität mit einer Dissertation 2

über Das Problem des Naturschönen und die moderne Ästhetik promoviert und noch im gleichen Jahr ins KZ Dachau, später nach Buchenwald verschleppt worden. Befreundet mit dem Mithäftling, Psychoanalytiker und Trotzkisten Ernst Federn, entwickelte Bettelheim eine Überlebensstrategie, die ihren literarischen Ausdruck 1943 in dem Aufsatz Individual and Mass Behavior in Extreme Situations fand, in deutscher Sprache 1980 als Aufstand gegen die Masse publiziert. Bedeutsam in unserem Zusammenhang ist neben einer Reihe von Aufsätzen vor allem sein bahnbrechendes Buch Kinder brauchen Märchen, in dem er 1976 die traditionellen Märchen der Brüder Grimm psychoanalytisch interpretierte und dabei bereits publizierte Deutungen C.G. Jungs und anderer Analytiker zusammentrug, neu bewertete und systematisch ergänzte. Nach seiner Auffassung verdeutlichen Märchen den Unterschied zwischen Lustprinzip und Verantwortungsprinzip. Trotz aller Grausamkeiten hielt Bettelheim die Grimm‘schen Märchen für wertvoll, weil sie stets gut ausgehen. Den traurigen Märchen von Hans Christian Andersen fehle oftmals diese positive Perspektive. Bemerkenswert ist noch heute, wie sich Bettelheim den Stürmen der pädagogischen und frühen feministischen Kritik an der brutalen Grausamkeit mancher Märchen entgegengestellt hat. Seine Position wendet sich dabei klar gegen eine verharmlosende Kinderbuchliteratur, die den Anschein erweckt, dass es eine quasi gewaltfreie Welt gebe, in der die Angst vor dem Bösen, vor dem Verlassen-Werden, dem Ausgestoßen-Sein, den sexuellen Übergriffen Erwachsener oder der Sexualität schlechthin vollkommen fehl am Platze sei. Das Gegenteil treffe zu und spiegle sich, so Bettelheim, in wunderbarer Weise gerade im Volksmärchen, wie er in brillanten Analysen von Hänsel und Gretel, Rotkäppchen, Schneewittchen, Dornröschen, Aschenputtel oder vom Froschkönig belegt. Die Auseinandersetzung des Kindes einerseits mit dem Bösen im Märchen und seinen Personifikationen, andererseits aber auch mit seinen auflösenden, erlösenden, zum Guten führenden Elementen helfe dem Kind bei der Bewältigung seelischer Entwicklungsprobleme, verleihe ihm Zuversicht, sich auch gegen eine Welt der älteren Geschwister oder der Erwachsenen behaupten, einer Hexe sich befreiend entwinden zu können, ohne geschlachtet und verspeist zu werden, oder auch trotz erlebter Kleinheit und kindlicher Schwäche hoffen zu dürfen, sich als Held in einer fremden und gefahrvollen Welt zu bewähren und siegreich auch die schwierigsten Abenteuer zu durchstehen. Durch das Miterleben von Leiden und Gefahren, durch die Identifikation mit den kleinen und großen Helden im Märchen gewinne das Kind so „Zuversicht und den Mut, Schritt für Schritt die Schwierigkeiten seiner eigenen seelischen Entwicklung zu überwinden“. Letztlich folgte Bettelheim mit solchen Beistands- und Therapiezielen Vorstellungen von der Ich-Stärkung, die er bereits in den 1940er Jahren im Anschluss an seine KZ-Verschleppungen entwickelt hatte. So schließt sich mit der späten Märchenpublikation im Grunde ein Kreis. „Die Erlebnisse im KZ“, so Bettelheim 1943, „verwüsten das Ich, denn das Ich kann einen nicht länger beschützen.“ Man geht wohl nicht falsch in der Annahme, dass die „Milieutherapie“ für psychisch schwer gestörte Kinder, die Bettelheim von Mitte der vierziger Jahre an entwickelt hatte, seinen Gegenentwurf zum terroristischen und mörderischen Regime der Konzentrationslager darstellte, und dass seine Märchentherapie ganz ähnlich, in der positiven Auflösung des Märchens, den Gegenpol von brutaler, menschenvernichtender, ja oft genug anthropophagischer Gewalt im Märchen unterstreichen und damit ebenso der Ich-Findung und IchStützung des Kindes dienen sollte. Bezüge zur Sexualität im Märchen und sexuellen Bezügen in der Lebenswelt sind aber keineswegs erst von den psychoanalytischen Märchendeutern hergestellt 3

worden. Sie sind viel älter, wenn auch mit stark moralischen Konnotationen, wie man sehr schön an dem in Europa am meisten verbreiteten Märchen, an Rotkäppchen und der Wolf, zeigen kann. Eine der ältesten bekannten Fassungen stammt von dem französischen Dichter und Hofbeamten Charles Perrault (1628-1703) und wurde 1697 unter dem Titel Le petit chaperon rouge veröffentlicht. Die Geschichte nimmt bei Perrault allerdings kein gutes Ende, denn Großmutter und Rotkäppchen werden vom Wolf gefressen, ohne gerettet zu werden. Schreibt doch Perrault weniger ein Märchen als vielmehr eine moralische Abschreckungsparabel. In seiner Version sind zahlreiche Anspielungen auf Sexualität zu finden (so legt sich Rotkäppchen auf dessen Aufforderung hin nackt zum Wolf ins Bett). Ans Ende ist zudem ein Text angehängt, der junge Mädchen vor Sittenstrolchen warnt. Perrault hatte die Absicht, mit der Erzählung explizit Verhaltensmaßregeln festzusetzen, und griff dabei zum Mittel der Abschreckung. Bei ihm heißt es: „Kinder, insbesondere attraktive, wohlerzogene junge Damen, sollten niemals mit Fremden reden, da sie in diesem Fall sehr wohl die Mahlzeit für einen Wolf abgeben könnten. Ich sage „Wolf“, aber es gibt da verschiedene Arten von Wölfen. Da gibt es solche, die auf charmante, ruhige, höfliche, bescheidene, gefällige und herzliche Art jungen Frauen zu Hause und auf der Straße hinterherlaufen. Und unglückseligerweise sind es gerade diese Wölfe, welche die gefährlichsten von allen sind.“ Anders geht bei Grimms die Geschichte gut aus: Der Jäger sieht in der Großmutter Haus nach dem Rechten, erkennt im Bett aber nicht die alte Dame, sondern den gefräßigen und nun sattmüde schnarchenden Wolf: „Finde ich dich hier, du alter Sünder“ sagte er, „ich habe dich lange gesucht.“ Nun wollte er seine Büchse anlegen, da fiel ihm ein, der Wolf könnte die Großmutter gefressen haben und sie wäre noch zu retten, schoss nicht, sondern nahm eine Schere und fing an, dem schlafenden Wolf den Bauch aufzuschneiden. Wie er ein paar Schnitte getan hatte, da sah er das rote Käppchen leuchten, und noch ein paar Schnitte, da sprang das Mädchen heraus und rief: „Ach, wie war ich erschrocken, wie war's so dunkel in dem Wolf seinem Leib!“ Und dann kam die alte Großmutter auch noch lebendig heraus und konnte kaum atmen.“ Sexuelle Motive, etwa der Pubertät, der beginnenden Adoleszenz und der Begegnung mit dem anderen, oft übermächtig dominant erscheinenden Geschlecht, aber auch Fragen der ödipalen Problematik, Menstruation, Eifersucht oder Penisneid spielen auch in anderen Märchen eine Rolle. Auf sie kann hier im Einzelnen nicht eingegangen werden, doch sollen sie exemplarisch zumindest genannt werden: Man denke etwa an Aschenputtel, Dornröschen, Die Gänsemagd oder Hans und die Bohnenranke. Die anthropophagische Inkorporation, ob nun tatsächlich am Menschenbeispiel exerziert oder in der Transformation zur Tierfabel, ist dabei sicher ebenso bedeutsam. Der phagische Akt des Verschlucktwerdens, wobei es nicht so sehr um das unmittelbare Gefressenwerden geht wie in vielen Märchen von schrecklichen Riesen („Ich rieche Menschenfleisch!“), ist zunächst der Moment der scheinbar absoluten Machtausübung durch das Böse. Inkorporiert und damit von der hellen Weltbühne entfernt wird das Prinzip des Unschuldigen, des Unbefleckten, so harmlos verschmitzt es sich auch vor dem Akt der Vernichtung geriert haben mag. Aber die Vernichtung ist nur eine scheinbare, denn letztlich siegt das Prinzip des Guten in der Gestalt des Erlösers oder der Erlöserin. Erlöst wird das Inkorporierte 4

durch den Kaiserschnitt, der im Falle Rotkäppchens vom Jäger, im Falle der Sieben Geißlein aber von deren Mutter ausgeführt wird. Beiden Erlösern ist eigen, dass sie im Moment der größten Gefahr für die Inkorporierten nicht behütend oder helfend zur Stelle waren, die ihnen zugewiesene Schutzfunktion also nicht ausgeübt haben, in der nahezu infausten Not aber dann doch wie Deus ex Machina auf der Bühne zurück-erscheinen. Man erinnere sich hier etwa an die Sieben-Geißlein-Episode: „Als [die Geißenmutter] auf die Wiese kam, so lag da der Wolf an dem Baume und schnarchte, dass die Äste zitterten. Sie betrachtete ihn von allen Seiten und sah, dass sich in seinem angefüllten Bauch etwas regte und zappelte. „Ach Gott“, dachte sie, „sollten meine armen Kinder, die er zum Abendbrot hinuntergewürgt hat, noch am Leben sein?“ Da musste das Geißlein nach Hause laufen und Schere, Nadel und Zwirn holen. Dann schnitt sie dem Ungetüm den Wanst auf, und kaum hatte sie einen Schnitt getan, so streckte schon ein Geißlein den Kopf heraus, und als sie weiter schnitt, sprangen alle sechse heraus und waren noch alle am Leben und hatten nicht einmal Schaden gelitten, denn das Ungetüm hatte sie in der Gier ganz hinuntergeschluckt. Das war eine Freude! Da herzten sie ihre liebe Mutter und hüpften wie ein Schneider, der Hochzeit hält.“ Auf die Erlösung der Unschuldigen aber folgt stehenden Fußes die Bestrafung des Bösen entweder durch die erlösende Instanz oder sogar durch eines der temporären Opfer wie im Falle Rotkäppchens. Im Märchen heißt es hierzu: „Rotkäppchen aber holte geschwind große Steine, damit füllten sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen, aber die Steine waren so schwer, dass er gleich niedersank und sich totfiel.“ Bei den sieben Geißlein ist es deren Mutter, die als Rächerin auftritt und die Vernichtung des Bösen, die Deletio morbi, einleitet, indem sie den Bauch des bösen Wolfs ebenfalls mit Wackersteinen füllt. Es ist bekannt wie die Geschichte ausgeht: Der durstige Wolf fällt in den Brunnen fällt und versäuft elendiglich. Welche Erleichterung mich selbst befiel, als ich als kleiner Bub von der Märchenschallplatte endlich den Freudengesang der sieben Zicklein hören durfte: „Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!“ – „Mähe Meck Meck Meck, der böse Wolf ist tot“, daran erinnere ich mich noch heute nur zu lebhaft. Danach musste ich meist ins Bett, schlief fest, und meine Eltern hatten ihre Ruhe. Es könnte nach diesem Ausflug in die psychoanalytische Deutung mancher Märchen zumindest exemplarisch klar geworden sein, worum es sich dabei handelt. Man tut übrigens wohl daran, wie ich finde, in manchen Fällen recht skeptisch gegenüber solchen Interpretationssansätzen zu sein, weil sie doch oft mächtig überziehen oder die spannende Textgruppe Märchen in ein monochromatisches Licht von Sexualität und frühkindlicher Entwicklungsstörung hüllen. Und ob der positive Ausgang eines Märchens sich so ohne weiteres zur positiven Umdeutung einer Lebenswelt eignet, in der eben das Böse auch seinen Raum behauptet, ist sicher auch höchst fraglich. Eine besonders eindrückliche Wirkung wird vielen Märchen durch ihre besondere Nähe zwischen Alltagswelt und Magie zuteil. Es lohnt daher der nähere Blick auf einige Beispiele dieses Texttypus. Exemplarisch stehen hierfür überraschenderweise die Problembereiche des unerfüllten Kinderwunschs, der Siebenmonatskinder und des kindlichen Kleinwuchses. Exakt diese 5

Motivgemengelage findet sich im Grimm‘schen Märchen vom Daumesdick, einem extrem kleinwüchsigen Knaben von nur Daumenlänge, der dem alten, bis dahin kinderlos gebliebenen Bauernpaar als Siebenmonatskind geboren wird. Bereits diese Disposition ist zum Bersten gefüllt mit medizinischen und natürlich auch volkskundlichen Problemstellungen. Da haben wir zum einen den Problembereich des unerfüllten Kinderwunsches beim Bauernehepaar. Sollten die beiden tatsächlich selbst im Besitz von Haus und Hof gewesen sein, würden sich aus der Kinderlosigkeit erhebliche erbrechtliche Konsequenzen ergeben. Aber es wird ja dann doch der Winzling „Daumesdick“ – eben als Siebenmonatskind – geboren. Mit einer unnötigen Rationalisierung – wie Walter Scherf 1987 noch vermutete – hat natürlich die Erwähnung der nur siebenmonatigen Schwangerschaft wenig zu tun. Zahlenmagie ist hier an erster Stelle nennen. Die Bedeutsamkeit der Zahl sieben ist bereits in der Antike bekannt, im Judentum, im christlichen Kontext, aber auch in der islamischen Überlieferung spielt diese magische Zahl eine bedeutsame Rolle. Nicht zuletzt auch in Märchen und Sage; man denke etwa an die Siebene auf einen Streich im Tapferen Schneiderlein, an die Sieben Geißlein, oder an die sonderlichen Abenteuer der Sieben Schwaben. Das Siebenmonatskind, also das Kind, das nach nur siebenmonatiger Schwangerschaft zur Welt kommt, ist bereits ein Problem in der griechischen Mythologie, genauer gesagt ein Problem des Herakles, der im Dienste des schwächlichen Siebenmonatskindes Eurystheus zwölf Zwangsarbeiten verrichten muss. Hier bereits wird die häufig anzutreffende Paradoxie der Siebenmonatskinder fassbar: einerseits gelten sie als schwächlich, andererseits aber können sie im Überlebensfalle ganz ungewöhnliche Fähigkeiten entwickeln, wie eben Eurystheus, der Herakles, dessen Geburt verzögert worden war, überlebt und sich für die erlittenen Drangsalen an dessen Kindern rächt. Medizinisch treten die Siebenmonatskinder zuerst durch die pseudohippokratische Schrift über die Achtund Siebenmonatskinder in Erscheinung. Die in dieser Schrift begründete Deutung, dass die Siebenmonatskinder kräftiger als die Achtmonatskinder seien, ist derart kryptisch begründet, dass eine solche Auffassung in der Frühen Neuzeit in Zweifel gezogen wird: So heißt es etwa in einen Universallexikon des frühen 18. Jahrhunderts: „Hingegen findet man in der That Geburten im siebenden Monate; aber die sind so schwach und undauerhafft, als die im achten Monate. Beyde aber sind würcklich nichts anders, als unzeitige und widernatürliche Geburten, die eine gewisse widernatürliche Ursache zum Grunde haben. Und wann eine solche Frucht beym Leben soll erhalten werden, so muß viel Mühe, viel Erwärmens und Zärtlichkeit angewendet werden.“ Siebenmonatskinder sind oft recht klein und zart, sie schreien schrill und durchdringend, ihr Überleben ist zumindest den Beobachtern seit der Frühen Neuzeit eher ungewiss als sicher. Wenn sie aber überleben, tendieren sie zu Bösartigkeit oder Schabernack. Nicht ganz zu Unrecht denkt man hier an Oskar Matzerath, den klein gebliebenen Protagonisten der Blechtrommel. Die Ursachen für solchen Kleinwuchs sind vielfältig, aber fast immer sexuell bedingt: Erschrecken der Mutter bei der Empfängnis, Schwäche oder Alter des Vaters, mindere Qualität des Samens, ominöse Wünsche oder Verwünschungen. Elterliche Makel solcher Art sind bis in die neuzeitliche Literatur als bedauerliche oder bejammernswerte Umstände oder gar als Ursachen kindlicher Klage lebendig geblieben. 6

Solche Vorhaltungen vernehmen wir bei Daumesdick aber nicht. Er bleibt klaglos wie ihn sich die Eltern bei seiner Empfängnis gewünscht haben: kleiner noch als daumenwinzig, setzt sich gern in die Ohrmuschel des väterlichen Pferdes, versteckt sich in Mauselöchern, Schneckenhäusern und Salzfässchen. Meisterstücke postembryonaler Regression sind seine Ausflüge in die Eingeweide von Tieren. So fühlt sich Daumesdick im Magen (in welchem auch immer) einer Kuh behaglich wie im Mutterleib, verschmäht aber auch das Gedärm von Wolf oder Fuchs nicht. Er foppt seine Beherberger, lässt sich gelegentlich auf den Misthaufen ausscheiden oder gar beim Metzger – selbst unverletzt, versteht sich – verwursten, oder er orakelt aus dem Magen einer Kuh heraus so laut, dass der Magd der Milcheimer umkippt und dem herbeigerufenen Pfarrer die exorzistischen Gebete gegen böse Geister im Halse stecken bleiben. Eines der wenigen Grimm‘schen Märchen, bei denen es im Kern der Handlung um Krankheit und Heilung geht, ist die wundersame Erzählung vom Herrn Gevatter (Der Herr Gevatter). Zur Erinnerung hier die Kurzfassung: Einem armen Mann, dem für seine zahlreichen Kinder niemand mehr als Pate zur Verfügung stehen will, träumt es in seiner Not, dass er den ersten Menschen, der ihm vor dem Tor begegnet, um Hilfe bitten soll. Tatsächlich überreicht ihm ein auf diese Weise ausgewählter und angesprochener Fremder ein Fläschchen mit Lebenswasser. Angeblich soll der arme Mann damit jeden gesund machen können, bei dem er den Tod am Kopfende des Bettes stehen sieht. Erblickt er allerdings den Tod am Fußende, wird der Kranke sterben. Der Mann wird berühmt und reich, auch des Königs Kind kann er zweimal retten, aber ein drittes Mal nicht. Als er daraufhin den Paten besuchen will, sieht er auf vier Treppen, die er empor steigt, zunächst eine mit dem Besen zankende Schippe, dann abgehackte Finger, tote Köpfe und schließlich Fische, die sich in der Pfanne selbst backen. Alle schicken ihn jeweils eine Treppe höher. Nachdem er die fünfte erklommen hat, sieht er durchs Schlüsselloch den fremden Paten - mit Hörnern - und geht hinein. Der legt sich ins Bett, deckt seinen gehörnten Kopf zu, erklärt schließlich die wundersamen Beobachtungen des Mannes sehr fragwürdig und streitet seine verdeckten Teufelshörner rundweg ab. Dem Mann wird die Sache endlich unheimlich, er flieht und rettet damit sein Leben. Kern dieses Märchens von der Begegnung des armen Mannes mit dem Gevatter Teufel ist das Lebenswasser, mit dem der Mann erfolgreiche Heilungen durchführt und so zu Ansehen und Geld kommt. Aber nicht nur der Besitz des Heilwassers begünstigt den Armen, sondern auch die ihm vom Teufel verliehene Gabe, den Tod leibhaftig zu erkennen. Die letzte Entscheidung über Leben und Tod bleibt damit in Abhängigkeit von der Positionierung des Todes am Kopf- oder Fußende des Kranken in Gottes Hand. Übrigens spielt das Wasser des Lebens auch in anderen Märchen der Grimm‘schen Sammlung eine bedeutende Rolle. Worum aber handelt es sich bei solchem Lebenswasser? Hier bieten sich verschiedene Möglichkeiten an. Zunächst könnte man darunter ein Kräuterdestillat verstehen, also ein „von guten Kräutern und Gewürtzen abgezogener Brantwein“. Seine lateinische Bezeichnung Aqua vitae findet sich noch heute namensbildend bei einer bekannten Spirituose. Solche Destillate mit zum Teil hoch komplexen Rezepturen spielten im Märchen aber wohl keine Rolle. Das Lebenswasser kommt dort nie vom Apotheker, sondern meist aus ganz dubiosen Quellen oder Brunnen. Vermutlich steht das märchenhafte Lebenswasser eher ganz allgemein für das aus der Alchemie bekannte Elixier. Genaue Kenntnis seiner Beschaffenheit war 7

unerlässlich für die Herstellung des Steins der Weisen. In der Volksdichtung ermöglichte das Wasser des Lebens die Erweckung von Toten, die Heilung von schwerer Krankheit, ewige Gesundheit gar, oder es verlieh dem Geblendeten neues Augenlicht. Im übertragenen Sinne gehört vielleicht auch das Brunnenwasser dazu, in dem der Wolf umkommt, nachdem ihn die schweren Wackersteine im Bauche beim Saufen um sein Gleichgewicht gebracht haben. Auch hier erlöst das Wasser vom Bösen. Trennendes und zugleich geheimnisvoll bindendes Element ist das Wasser auch im Grimm‘schen Märchen vom Froschkönig und dem Eisernen Heinrich. Es ist das Wasser des Brunnens, aus dem der Frosch von der Prinzessin zunächst befreit wird, nachdem er ihre goldene Kugel, ein seit Platons Timaios hoch aufgeladenes Symbol, wieder ans Tageslicht befördert. Erlöst werden soll das aus seinem Element befreite Wassertier aber durch die erotische Nähe zur Königstochter, der die körperliche und seelische Selbstaufgabe aus Dankbarkeit vom Vater befohlen worden war. Das höchste Nähe-Opfer vermag die Königstochter dem Frosch nicht zu bringen. Stattdessen schmettert sie den Quaker, die Fretsche, mit Wucht an die Wand und erlöst sie auf diese Weise durch Gewalt, um sich darauf sogleich wieder der Gewalt des Vaters zu unterwerfen, der nun die Vermählung mit dem erlösten Prinzen anordnet. Was dann folgt, hat Generationen von Kardiologen als märchenhafte Angina pectoris -Metapher erregt: „Heinrich, der Wagen bricht!“ „Nein, Herr, der Wagen nicht, Es ist ein Band von meinem Herzen, Das da lag in grossen Schmerzen, Als Ihr in dem Brunnen sasst, Als Ihr eine Fretsche (Frosch) wast (wart).“ Aber so einfach liegen die Dinge nicht mit der märchenhaften Metaphorik der kardialen Durchblutungsstörungen. Mit den bereits im Titel angedeuteten markanten Zitaten Siebene auf einen Streich oder dem Duft von altem Käse befinden wir uns schließlich im Narrativ des medizinhistorisch vordergründig unverdächtigen Märchens Das tapfere Schneiderlein. Zur Erinnerung auch hierzu die Kurzversion: Schneiderlein freit Königstochter und muss daher zum Beweis seiner Tapferkeit einige gefährliche Abenteuer durchstehen. Psychologisch verkörpert der Schneider mit seiner Schere oft – nicht immer, wenn man sich an Wilhelm Buschs Max und Moritz erinnert – das Bild des scharfen Verstandes; er kämpft mit List und Anpassungsfähigkeit, macht mit Kleidern Leute. Wie auch der Däumling oder Daumesdick personifiziert er in gewisser Weise den schlitzohrigen Trickser. Der Märchenanalytiker Wilhelm Salber betont in seiner Deutung des Märchens zunächst die Vernichtungsangst des Kleinen, wobei aus der Furcht die Notwendigkeit erwächst, die Defizite des Kleinseins durch listenreiches Handeln zu kompensieren und so letztlich auch die Angst zu überwinden. Bettelheim sieht hier ein starkes Hilfselement zur Ich-Findung des Kindes. Listenreich zu agieren, Schwäche zu vertuschen, Angst zu überwinden, sich Zufälle zueigen machen und dadurch geschickt auch einer feindlichen Umwelt zu begegnen, das ist exakt die Rolle des erfolgreichen Schneiderleins. Es wird so zur Imitationsfigur für die Kinder, denen das Märchen vorgetragen wird, und hilft, seelische Ordnung in das Chaos der Angst vor dem Übermächtigen zu bringen. 8

Magie und medizinischer Zauber gehören in den Bereich der Listanwendungen des Schneiderleins, ohne dass diese ihrem Gehalt nach im Märchen reflektiert werden. Dies soll an zwei Beispielen erläutert werden: Eine eher randständige Episode des tapferen Schneiderleins ist der Einsatz von altem Käse beim Kräftemessen mit dem Riesen. Zur Erinnerung: Beim Aufbruch in die Welt, um dort gefährliche Abenteuer zu bestehen, hatte das von Statur kleine und an Kräften arme Schneiderlein aus seinem Haus etwas zur Wegzehr mitnehmen wollen: „Er fand aber nichts als einen alten Käs, den steckte er ein“, heißt es dazu im Märchen bei Grimm. Indessen sollte sich genau dieser Käse beim Kräftemessen mit dem Riesen als äußerst nützlich erweisen. Als nämlich der Riese zum Zeichen seiner Stärke mit der bloßen Hand einen Stein gequetscht hatte, bis Wasser heraustropfte, hielt das tapfere Schneiderlein mit seinem alten Käse dagegen: „Ist's weiter nichts?“ sagte das Schneiderlein. „Das ist bei unsereinem Spielwerk“, griff in die Tasche, holte den weichen Käs und drückte ihn, daß der Saft herauslief. „Gelt“ sprach er, „das war ein wenig besser?“ Nun hätte anstelle des Käses sicher jedes andere weiche Material stehen können. Der kurzsichtige Riese hätte es kaum bemerkt. Das Märchen aber sieht für diese ungleiche Kraftprobe Käse vor, und damit ein Nahrungsmittel, das seit der Antike immer wieder in Zusammenhang mit körperlichen Kräften und deren Wiederherstellung gebracht wird. Dass im Märchen also dem schwächlichen, aber ebenso schlauen Schneiderlein gerade mit dem Käse riesenhafte Scheinkraft in die Hände gelegt wird, ist vor diesem Hintergrund leichter zu verstehen. Von ganz ähnlicher Bedeutung ist die Einhorn-Episode im gleichen Märchen. Wir erinnern uns: Bevor das Schneiderlein des Königs Tochter ehelichen darf, muss zunächst das im Königsforst herumstreunende gefährliche Einhorn unschädlich gemacht werden. Doch solche Schadensabwendung ist ein riskantes Unterfangen, denn manch einer wurde schon aufgespießt von diesem Wundertier. In dieser Gefahr schwebte auch das Schneiderlein, als sich ihm das pferdeähnliche Monstrum gesenkten Hauptes im Galopp näherte: „Das Einhorn [aber] rannte mit aller Kraft gegen den Baum und spießte sein Horn so fest in den Stamm, daß es nicht Kraft genug hatte, es wieder herauszuziehen, und so war es gefangen. „Jetzt hab ich das Vöglein“ sagte der Schneider, kam hinter dem Baum hervor, legte dem Einhorn den Strick erst um den Hals, dann hieb er mit der Axt das Horn aus dem Baum, und als alles in Ordnung war, führte er das Tier zum König.“ Solche Art der Unschädlichmachung war natürlich nicht exklusiv. In vielen Sagen rammt das gehörnte Pferd seine Kopfwaffe in einen Baum. Das Horn selbst, im Mittelalter und noch in der Frühen Neuzeit in Ermangelung echter Einhörner meist der bis zu fünf Meter lange Stoßzahn des Narwals, galt als überaus wertvoll und war mit Gold kaum aufzuwiegen, und dies vor allem wegen der ihm unterstellten Heilwirkung. Das Schneiderlein bringt also dem König hier in der Tat ein königliches Brautgeschenk. Der Glaube an die Wirkung des „Einhorns“ als Antidot, als magisches Allheilmittel auch gegen die Pest, von antiken Autoren aus asiatischen Quellen der Legende übernommen, blieb im Islam immer präsent und erhielt in Europa ein noch stärkeres Gewicht. 9

Märchen und Medizin! So lautete unsere Eingangsfrage, und ich denke, die erläuterten Beispiele belegen sehr anschaulich, wie intensiv medizinische, volksmedizinische oder medizinisch-magische Aspekte mit unserer reichen Märchentradition verwoben sind. Diesem Schatz gilt es in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zu zollen. Er erzählt uns vieles von Körper und Seele in Krankheit und Gesundheit, so wie es in den Vorstellungen der einfachen Menschen präsent war, lange bevor dieses Wissen seinen Weg in die volkskundlichen, medizinischen oder psychologischen Handbücher gefunden hat. Literaturnachweis: Bettelheim, Bruno, The Uses of Enchantment: The Meaning and Importance of Fairy Tales. Knopf, New York 1976. Bettelheim, Bruno, Kinder brauchen Märchen, Stuttgart 1977. Eckart, Wolfgang, Illustrierte Geschichte der Medizin, 2. Aufl., Heidelberg 2011, Scherf, Walter, Die Herausforderung des Dämons – Form und Funktion grausiger Kindermärchen: Eine volkskundliche und tiefenpsychologische Darstellung der Struktur, Motivik und Rezeption von 27 untereinander verwandten Erzähltypen, München [u. a.] 1987. Schneider, Peter, Die zwei Gesichter des Bruno Bettelheim, in: NZZ, 16.11.2003 Wülfing, Isabella, Alter und Tod in den Grimmschen Märchen und im Kinder- und Jugendbuch (= Studien zur Medizin-, Kunst- und Literaturgeschichte, Bd. 11), Aachen 1986.

*****

Wolfgang U. Eckart, geboren 1952, Studium der Medizin, Geschichte und Philosophie in Münster; 1977 Approbation als Arzt, 1978 Promotion zum Dr. med.; 1986 Habilitation für Geschichte der Medizin; 1988-92 Professor für die Geschichte der Medizin und Direktor der Abteilung Geschichte der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, seit 1992 Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Heidelberg. Eckarts Forschungsschwerpunkte sind: Das Entstehen der neuzeitlichen Medizin im 16. und 17. Jahrhundert, Medizin in der Literatur, Medizin und Krieg, Ärztliche Mission. Bücher von Wolfgang U. Eckart (Auswahl): - Medizin und Krieg - Deutschland 1914-1924. Schöningh-Verlag. 2014. Medizingeschichte. Eine Einführung. (Zusammen mit Robert Jütte.) UTB-Verlag. 2., überarb. u. erg. Auflage. 2014. - Die Wunden heilen sehr schön: Feldpostkarten aus dem Lazarett 1914-1918. Franz Steiner Verlag. 2013.

10

View more...

Comments

Copyright � 2017 SILO Inc.