REVOLUTIONÄRE NEUORDNUNG AUF ZEIT

February 4, 2017 | Author: Marcus Goldschmidt | Category: N/A
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REVOLUTIONÄRE NEUORDNUNG AUF ZEIT

LWL-INSTITUT FÜR WESTFÄLISCHE REGIONALGESCHICHTE LANDSCHAFTSVERBAND WESTFALEN-LIPPE MÜNSTER FORSCHUNGEN ZUR REGIONALGESCHICHTE Band 75 Herausgegeben von Bernd Walter

Bärbel Sunderbrink

Revolutionäre Neuordnung auf Zeit Gelebte Verfassungskultur im Königreich Westphalen: Das Beispiel Minden-Ravensberg 1807–1813

FERDINAND SCHÖNINGH Paderborn • München • Wien • Zürich

Redaktion: Marcus Weidner Thomas Küster

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Abbildung auf dem Umschlag: Zollschild des Königreichs Westphalen (Historisches Museum Hannover)

Umschlaggestaltung: INNOVA GmbH, 33178 Borchen

© 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany. Herstellung: DruckVerlag Kettler, Bönen ISBN 978-3-506-78150-5

Inhaltsverzeichnis

Dank.............................................................................................................................. 7 1. Einleitung 1.1 1.2

Gegenstand und Ziel der Untersuchung..................................................... 9 Vorgehensweise, Forschungsstand und Quellenlage................................ 20

2. Herrschaft im Übergang 2.1 Besatzungserfahrungen unter französischem Militärgouvernement........ 26 2.2 Vom preußischen Nebenland zum westphälischen Departement............. 45 2.3 Westphälischer Staatsgründungsakt in Paris: Dynastische Inszenierung und Verfassungsoktroi.................................... 58 3. Organisation des Staates in der Provinz 3.1 Einführung des französischen Verwaltungsmodells................................. 67 3.1.1 Loyalitätswechsel und das Ende des Besatzungsregimes........................ 67 3.1.2 Verwaltungsaufbau zwischen Reformanspruch und lokaler Rücksichtnahme ............................................................................ 70 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3

Die öffentlichen Bediensteten als Agenten des neuen Staates................. 77 Staatsdiener zwischen Existenzsicherung und Reformbereitschaft......... 78 Die regionale Verwaltungselite als Träger der modernen Staatsidee ...... 85 Karrieren, Aufgaben und Haltungen der Ortsbeamten........................... 101

4. Aspekte gelebter Verfassungskultur 4.1 Formen öffentlicher Herrschaftsvermittlung.......................................... 118 4.1.1 Materielle Symbolpolitik: Vom Kampf wider die Allgegenwärtigkeit preußischer Relikte........................................... 118 4.1.2 Loyalitätsstiftende Ereignisse: Huldigung, Herrschereinzug und Ehrenfest . ....................................................................................... 126 4.2 4.2.1 4.2.2

Politische Partizipation auf allen Ebenen............................................... 153 Die Rekrutierung des politischen Personals........................................... 153 Die Räte in Aktivität und Wahrnehmung............................................... 164

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4.3 Ambivalenzen eines ambitionierten Reformprogramms........................ 172 4.3.1 Beschränkte Befreiung: Agrarische Abhängigkeitsverhältnisse auf dem Prüfstand................................................................................... 172 4.3.2 Erfahrungen einer neuen Gewerbeordnung: Konjunktureller Aufschwung und das Ende altständischer Korporationen . ......................... 4.3.3 Judenemanzipation zwischen Verfassungsanspruch und gesellschaftlicher Realität....................................................................... 204 4.3.4 Gemeinwohlorientierung als Triebkraft der öffentlichen Sozialfürsorge......................................................................................... 236 4.4 Konfliktfelder unter dem Druck von außen............................................ 260 4.4.1 Presse zwischen Zensur und bürgerlichem Informationsbedürfnis........ 260 4.4.2 Militär und zivile Gesellschaft............................................................... 270 4.4.3 Subsistenzproteste und äußere Bedrohung: Das Jahr 1809 als Nagelprobe des jungen Staates................................. 298 5. Das Scheitern des Königreichs Westphalen 5.1 Die französisch-westphälische Grenzziehung von 1811 und das Ende einer fragilen Akzeptanz.................................................. 319 5.2 Der Verfall einer fremd gewordenen Herrschaft und die Rückkehr der Preußen............................................................... 332 6. Ergebnisse............................................................................................................. 347 7. Quellen und Literatur 7.1 Quellen................................................................................................... 355 7.2 Literatur.................................................................................................. 359 8. Anhang ................................................................................................................ 386 Register

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................................................................................................................ 399

Dank Historische Wissenschaft ist eine Leidenschaft. Damit sie zu erfolgreichen Ergebnissen führen kann, bedarf es gedanklicher Freiheit und ausreichender Zeit. Dass mir diese Ressourcen in den vergangenen Jahren zur Verfügung standen, habe ich vielen Förderern zu verdanken. Sie haben dazu beigetragen, dass mit dieser Veröffentlichung ein für mich wichtiger Lebensabschnitt ein überaus positives Ende gefunden hat. An erster Stelle möchte ich das Historische Institut der FernUniversität in Hagen nennen. Nach einem dort nebenberuflich erworbenen Magisterabschluss wurde mir die Möglichkeit eröffnet, als Mitglied des Promotionskollegs „Gesellschaftliche Interessen und politische Willensbildung. Verfassungskulturen im historischen Kontext“ eine mir bis dahin wenig vertraute, aber um so faszinierendere Zeitepoche zu untersuchen. Inhaltliche und konzeptionelle Diskussionen aller am Promotionskolleg beteiligten Lehrgebiete sowie eine gemeinsam mit anderen Kollegiaten organisierte Fachtagung haben einer zu engen Fokussierung auf die eigenen Fragestellungen entgegengewirkt und zu einer Erweiterung der Perspektive geführt, die auch die Vormoderne und die Außereuropäische Geschichte mit einschloss. Das als „virtuelles Promotionskolleg“ angelegte Pilotprojekt der FernUniversität hat zu einer besonderen Form des netzbasierten Dialogs geführt, der für den kollegialen Austausch besonders förderlich war. Die Hans-Böckler-Stiftung hat mich als Kooperationspartner des Hagener Graduiertenkollegs durch ein mehrjähriges Stipendium großzügig unterstützt. Dieses Begabtenfördungswerk nimmt sich berufserfahrener Menschen an, die nicht den direkten Weg von der Schule über das Studium zur Promotion gehen. Die Einbindung in diese Stiftung hat mir stets die Gewissheit gegeben, dass es ein richtiger Schritt war, das langjährige Arbeitsleben zu unterbrechen, um meine Foschungsinteressen konsequent verfolgen zu können. Dass dieser Schritt gelingen konnte, habe ich in besondere Weise meinem Betreuer an der FernUniversität in Hagen, Apl. Prof. Dr. Wolfgang Kruse zu verdanken, der mir – bei aller förderlichen Freiheit und allem Vertrauen in meine wissenschaftlichen Fähigkeiten – wichtige Impulse zur Anlage der Arbeit und mehr noch zur gedanklichen Durchdringung des Erforschten gegeben hat. Mein Dank gilt ebenso meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Peter Brandt, der mit großem Interesse das Entstehen der Arbeit begleitet hat. Ich freue mich, dass das Resultat meiner Forschungen sogleich eine positive öffentliche Wahrnehmung gefunden hat und sowohl mit dem Geschichtspreis des Mindener Geschichtsvereins als auch mit dem Ignaz-Theodor-Liborius-Meyer-Preis des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalen ausgezeichnet worden ist. Herzlich danke ich Prof. Dr. Helmut Berding für sein Gutachten und seine ausnehmend zustimmende Bewertung. Zu Dank bin ich auch dem LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte für die Aufnahme der Dissertation in seine Schriftenreihe verpflichtet. Für den Druck wurde die 2012 von der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschften der FernUniversität in Hagen angenommene Fassung insbesondere durch Verweise auf neueste Veröffentlichungen ergänzt.

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Meine Forschungen fußen in hohem Maß auf der Auswertung bislang kaum beachteter Quellenbestände. Ohne die Nutzung vieler Archiveinrichtungen, insbesondere dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, dem Niedersächsischen Landesarchiv in Osnabrück und dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, in Münster sowie weiteren überregionalen, lokalen und kirchlichen Archiven hätte diese Arbeit nicht entstehen können. Gute archivische Erschließungen haben mir den gezielten Zugriff auf die Quellen sehr erleichtert. Zahlreiche Weggefährten und Freunde haben mich in vielfältiger Weise unterstützt. Nicht nur der kollegiale Austausch, Hinweise auf entlegene Veröffentlichungen und Privatüberlieferungen, die Unterstützung bei der Übersetzung komplexer französischer Textpassagen, das kritische Lesen und Kommentieren waren dabei wichtig, sondern auch praktische Hilfestellungen etwa bei der Bewältigung computertechnischer Probleme oder der Gestaltung einer Posterpräsentation für den Deutschen Historikertag. Nennen möchte ich schließlich jene, die ganz wesentlich zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben, ohne dass sie inhaltlich damit befasst gewesen wären: meinen Mann Rüdiger Uffmann und meine Tochter Emma, die mit ihrer Lebendigkeit, aber auch mit ihrer Geduld und Zuversicht stets für ein positives Arbeitsumfeld gesorgt haben. Ihnen gilt mein ganz besonderer Dank! Bielefeld, Juni 2014

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Bärbel Sunderbrink

1. Einleitung 1.1 Gegenstand und Ziel der Untersuchung „Mit 1806 fängt eine Reihe von Jahren an, die durch ihre an Wunder gränzende[n] Begebenheiten Jahrhunderte aufwiegen, den Menschen vor jedem Mißbrauche seiner Kräfte und Anlagen warnen, uns Frevler und Bösewichter zeigen, welche ­Familien, ganzen Ländern und Reichen gefährlich werden.“1 Die so eingeleitete Rückschau eines Amtmanns aus Minden-Ravensberg ­informierte nicht nur über die bis in die Provinz hinein spürbaren politischen Umstürze des vergangenen Jahrzehnts. Sie offenbarte auch die mentale Lage der Zeitgenossen, die sich überaus bewusst darüber waren, einen epochalen Einschnitt der europäischen Geschichte erlebt zu haben. Doch als Aufbruch in eine moderne, zukunftsweisende Welt wollten sie die Jahre seit der französischen Okkupation 1806 und die damit verbundenen Herrschaftswechsel nicht deuten. Vielmehr legt die Bilanz des Amtmanns nahe, dass die Menschen eine Zeit gesteigerter Krisen- und Katastrophenerfahrung hinter sich ließen, in der Napoleon rücksichtslos die Herrschaft an sich gezogen hatte. Dabei hatte das Königreich Westphalen, das seine Existenz den napoleonischen Hegemonialbestrebungen überhaupt erst verdankte, vielversprechende Ziele verfolgt: Die Bewohner sollten nicht länger willfährige Untertanen eines absolut regierenden Königs sein, sondern den Status gleichberechtigter freier Staatsbürger genießen, denen eine Verfassung liberale Rechte garantierte. Erstmals erhielten die revolutionären Prinzipien von Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit des Einzelnen, Religionsfreiheit und Abbau ererbter ständischer Privilegien in Deutschland Verfassungsrang. Manche mochten in der Rückschau die Dynamik der Neuordnung als „Wunder“ gedeutet haben.2 Im Nachhinein aber blieben den Menschen nicht die positiven Effekte der tiefgreifenden Staats- und Gesellschaftsreform in Erinnerung, sondern vor allem die ungeheure destruktive Macht der napoleonischen Hegemonialpolitik. Diese Politik hatte die Menschen mit übersteigerten Zumutungen konfrontiert, und durch sie war dem Königreich Westphalen bereits nach wenigen Jahren ein Ende gesetzt. Die Menschen blieben – wie es der Amtmann andeutete – von den Zeitläuften erschüttert und auf der Suche nach neuen Sicherheiten irritiert zurück.3  

 tadtA Bi, Hgb 20, S. 9, Chronik des Amtes Schildesche, 1806. Der Bericht ist 1818 von Amtmann J.F.A. S Lampe aus der Rückschau verfasst worden. 2   Zur Erfahrung von Zeit in Bezug auf den napoleonischen Revolutionsexport vgl. Ernst Wolfgang Becker, Zeit der Revolution – Revolution der Zeit? Zeiterfahrungen in Deutschland in der Ära der Revolutionen 1789-1848/49, Göttingen 1999, S. 89-107, bes. S. 105. 3   Aus bayerischer Perspektive vgl. Werner K. Blessing, Umbruchkrise und „Verstörung“. Die „Napoleonische“ Erschütterung und ihre sozial-psychologische Bedeutung, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 42 (1979), H. 1, S. 75-106. 1

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Vor dem Hintergrund des unrühmlichen Endes mag verständlich sein, dass die Würdigung der revolutionären Neuordnung von Staat und Gesellschaft in der kollektiven Erinnerung vollständig hinter die negativen Erfahrungen der westphälisch-französischen Ära zurücktrat. Eine positive oder zumindest neutrale Betrachtung der Vergangenheit war auch deshalb ausgeschlossen, weil die mit den Befreiungskriegen einsetzende überhöhte nationalistische Wendung eine solche Beurteilung verbot. Mit der Französischen Revolution hatte eine Epoche begonnen, die Europa nachhaltig veränderte. In den Jahren zwischen 1789 und 1815 zerfielen alte Reiche und neue Staatsformen wurden erprobt. Die Revolution führte nicht nur in Frankreich zum Bruch mit der traditionellen politisch-sozialen Ordnung des Ancien Régime. Ihre besondere Bedeutung liegt darin, dass durch die militärische Machtexpansion revolutionäre Errungenschaften über die Grenzen Frankreichs hinaus Verbreitung fanden. Vom Expansionsdrang des revolutionären und später kaiserlichen Frankreich blieb Deutschland nicht unberührt. Diese „Revolution von außen“ fand ihre institutionellen Ausprägungen im Rheinbund und im Einzelnen in den Filialstaaten Großherzogtum Berg, Großherzogtum Frankfurt und Königreich Westphalen.4 Napoleon verband sein Ziel, leistungsfähige Staaten mittlerer Größe zu schaffen, die ein Gegengewicht zu Preußen und Österreich bildeten und damit das französische Empire nach Osten hin absichern sollten, mit einer bislang unbekannten Reformdynamik. Wie überall, wo Napoleon seine Macht entfalten konnte, stieß er politisch-soziale Reformen „von oben“ an, die weit über frühere Ansätze des aufgeklärten Absolutismus hinausgingen. Doch stets blieb die Reformpolitik dem Primat der Hegemonialpolitik untergeordnet. Unter den Filialstaaten nahm das Königreich Westphalen als ein mit einer Verfassung ausgestatteter Modellstaat eine Sonderstellung ein. Dem 1807 in Folge des Tilsiter Friedens geschaffenen Königreich Westphalen mit seiner auf Egalität ausgerichteten freiheitlichen Gesellschaftsordnung war die Rolle zugeschrieben, auf die übrigen Rheinbundstaaten auszustrahlen und die Überlegenheit der französischen Reform- und Verfassungspolitik zu demonstrieren.5 Dabei hatte das von Napoleons jüngstem Bruder Jérôme (1784-1860) von Kassel aus regierte Königreich schwierige Ausgangsbedingungen zu bewältigen: Das Königreich entbehrte nicht nur einer dynastischen, sondern auch jeglicher territorialer Tradition. Es war aus zahlreichen unterschiedlichen Territorien zusammengefügt, ohne dass einer der Vorgängerstaaten oder gar ein nach historischem Verständnis dem historischen Raum Westfalen zuzurechnendes Gebiet eine exponierte  

 eter Brandt, Einleitung, in: ders. (Hg.), An der Schwelle zur Moderne. Deutschland um 1800, Bonn P 1999, S. 5-22, hier S. 9-13. 5   Vgl. zusammenfassend: Helmut Berding, Das Königreich Westphalen als napoleonischer Modell- und Satellitenstaat (1807-1813), in: Gerd Dethlefs/Armin Owzar/Gisela Weiß (Hg.), Modell und Wirklichkeit. Politik, Kultur und Gesellschaft im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen 1806-1813, Paderborn u.a. 2008, S. 15-29; ders., Imperiale Herrschaft, politische Reform und gesellschaftlicher Wandel, in: Museumslandschaft Hessen Kassel (Hg.), König Lustik!? Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen, München 2008, S. 107-112; Bettina Severin-Barboutie, Gesellschaft im Umbruch. Wirtschafts- und Sozialreformen im Königreich Westphalen, in: Andreas Hedwig/Klaus Malettke/ Karl Murk (Hg.), Napoleon und das Königreich Westphalen. Herrschaftssystem und Modellstaatspolitik, Marburg 2008, S. 141-165. 4

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Stellung in dem neuen Königreich erhalten hätte. Im Wesentlichen gehörten zu dem neuen Staatsgebilde das Kurfürstentum Hessen, das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel, die linkselbischen Gebiete Preußens sowie der südliche Teil des Kurfürstentums Hannover.6 Eine Staatsidentität, die sich aus der Vergangenheit ableiten ließe, war bei einem solchen Zuschnitt nicht möglich. Es mussten also andere Strategien gefunden werden, um einerseits die Stabilität des neuen Staates zu gewährleisten und andererseits die ihm zugeschriebene Funktion eines Modellstaates zu erfüllen. Die Verfassung bildete die Grundlage für einen nach französischem Vorbild rational durchorganisierten und zentralistisch ausgerichteten Staatsaufbau sowie für eine umfassend angelegte Reformpolitik. Es war das ambitionierte Ziel, durch die verfassungsmäßig abgesicherte Modernisierungspolitik die Bevölkerung zu gewinnen, die Menschen nach der militärischen Eroberung nun auf „moralischem“ Weg zu erreichen.7 Damit verbunden war die Vision, nach französischem Vorbild einen Staat nach den Prinzipien von Vernunft und Effizienz aufzubauen und die Gesellschaft von einer ständisch-agrarischen in eine bürgerlich-egalitäre zu verwandeln.8 Reformpolitik, wie in der Verfassung angelegt, war einer der wichtigsten Grundpfeiler des neuen Staates und sollte für den übrigen Rheinbund ein Modell in Bezug auf die Formulierung liberaler Verwaltungsgrundsätze, politische Partizipation sowie die Umsetzung weitreichender Erneuerungen in Justiz und Gesellschaft sein. Ziel war es, durch eine „moderne“ Politik das verkrustete Herrschaftsgebaren der absolutistischen Vergangenheit aufzubrechen.9 Trotz der beispiellosen Reformanstrengungen fielen Anspruch und Wirklichkeit eklatant auseinander. Die kurze Zeit, die für eine tatsächliche Entfaltung der modernen Ansätze zur Verfügung stand, blieb über weite Phasen von der napoleonischen Machtpolitik dominiert, so dass das Königreich Westphalen seinen Status als französischer „Satellitenstaat“ trotz eines anderen Selbstverständnisses nur ansatzweise überwinden konnte. Mit dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft in Deutschland endete 1813 auch die Existenz des Königreichs Westphalen, das sogleich wieder in seine Einzelterritorien zerfiel.  

 um Gründungszeitpunkt umfasste das Königreich Westphalen das Herzogtum Braunschweig-WolfenZ büttel, das Fürstbistum Hildesheim, die Städte Halle und Goslar, die Grafschaft Mansfeld, das Eichsfeld mit Treffurt, Mühlhausen und Nordhausen, die Grafschaft Rietberg, die westlich gelegenen Teile Preußens, konkret Teile der Altmark, Magdeburg, die Grafschaften Halberstadt, Hohenstein, StolbergWernigerode, Minden-Ravensberg, die Landgrafschaft Hessen-Kassel mit Rinteln und Schaumburg, die Fürstabtei Corvey, Göttingen-Grubenhagen, die Fürstbistümer Osnabrück und Paderborn. 1810 kam der größere noch verbliebene Teil Kurhannovers hinzu, Anfang 1811 wurden die nördlichen Teile wieder abgetrennt und dem Kaiserreich Frankreich zugeschlagen. 7   Elisabeth Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongress, 5. Aufl., München 2008, S. 83. 8   Helmut Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 18071813, Göttingen 1973, S. 20. 9   Konstitution für das Königreich Westphalen, Fontainebleau, 15. November 1807, in: Bulletin des Lois et des Décrets du Royaume de Westphalie. Gesetz-Bulletin des Königreichs Westphalen, Kassel 1808, Teil 1, Nr. 1, S. 2-31; ediert in: Klaus Rob (Bearb.), Regierungsakten des Königreichs Westphalen 1807-1813, München 1992, S. 41-57; Peter Brandt/Martin Kirsch/Arthur Schlegelmilch (Hg.), Quellen zur europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Teil 1: Um 1800, Bonn 2004 (CD-ROM), Dok.-Nr. 9.2.1.2.1 (frz.)/9.2.1.2.2 (dt.). 6

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Fragestellung Die Diskrepanz des Staates zwischen Modernität und Fremdbestimmung hat das wissen­ schaftliche Interesse in besonderer Weise und in jeder Forschergeneration herausgefordert.10 Während die deutsche Historiographie des ausgehenden 19. Jahrhunderts den Wert der westphälischen Verfassung aufgrund ihrer liberalen Prinzipien noch hervorhob, rückten seit dem verlorenen Ersten Weltkrieg nicht nur nationalkonservative Historiker den Topos der „Fremdherrschaft“ in den Vordergrund.11 Diese Sichtweise wurde erst mit der Wende zur modernen Gesellschaftsgeschichte seit den 1970er Jahren abgelöst. Nun erfolgte ein Perspektivenwechsel, der der Fokussierung auf die negativen Seiten des Regimes den Blick auf Modernisierungsprozesse entgegenstellte. Dass der als Modell konzipierte Staat mit seiner wegweisenden Reformpolitik eine Wegmarke zur modernen Staatlichkeit darstellte, gilt seither als unbestritten. Besonders im Vergleich zur preußischen Verfassungswirklichkeit des 19. Jahrhunderts ragen die Modernität des westphälischen Konstitutionalismus,12 die mit dem Code Civil garantierte Rechtsstaatlichkeit, aber auch der Vorbildcharakter auf anderen Reformfeldern weit über die Existenz des Königreichs Westphalen heraus. Infolge des Aufschwungs der Politischen Kultur- bzw. Neuen ­Politikgeschichte hat sich das Interesse der Geschichtswissenschaft auf Dimensionen politischer Kultur verlagert, die im Kern Macht- und Herrschaftsbeziehungen auf ihre diskursiven und symbolisch-rituellen Gehalte hin untersucht.13 Mit dem kulturalistischen ­Paradigmenwechsel hat die Thematisierung des „Kulturellen“ auch die Wendezeit um 1800 erreicht.  

I n den älteren Darstellungen werden die Reformprojekte nur aus Regierungsperspektive behandelt. Während für den zweiten Modellstaat, das Großherzogtum Berg, jüngst eine umfassende Studie unter kulturalistischer Perspektive vorgelegt wurde (Bettina Severin-Barboutie, Französische Herrschaftspolitik und Modernisierung, Verwaltungs- und Verfassungsreformen im Großherzogtum Berg (1806-1813), München 2008), entstammen die Gesamtdarstellungen zum Königreich Westphalen allesamt dem 19. Jahrhundert: Rudolf Goecke, Das Königreich Westphalen. Sieben Jahre französischer Fremdherrschaft im Herzen Deutschlands. 1807-1813, nach den Quellen dargestellt, vollendet und herausgegeben von Theodor Ilgen, Düsseldorf 1888; Arthur Kleinschmidt, Geschichte des Königreichs Westfalen, Gotha 1893 (Neudruck: Kassel 1970); Friedrich Thimme, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover unter französisch-westfälischer Herrschaft, 2 Bde., Hannover-Leipzig 1893-1895; Heinrich Kochendörffer, Territorialentwicklung und Behördenverfassung von Westfalen 1802-1813, in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 86 (1929), S. 97-218. 11   Dazu im Überblick Armin Owzar, Das Königreich Westphalen und das Großherzogtum Berg. Quellen – Forschungen – Deutungen, in: Westfälische Forschungen 54 (2004), S. 404-414; ders., Vom Topos der Fremdherrschaft zum Modernisierungsparadigma – Zur Einführung, in: Dethlefs/Owzar/Weiß, Modell und Wirklichkeit, S. 1-13. 12   So etwa Ewald Grothe, Die Verfassung des Königreichs Westphalen von 1807, in: ders./Hartwig Brandt (Hg.), Rheinbündischer Konstitutionalismus, Frankfurt a.M. u.a. 2007, S. 31-51. 13   Vgl. etwa Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), H. 4, S. 574-606; Achim Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 71-117; Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005; Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt a.M. u.a. 2005; Luise Schorn-Schütte, Historische Politikforschung. Eine Einführung, M ­ ünchen 2006. 10

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Eine jüngere Forschungsrichtung hat sich gesellschaftlichen Basisprozessen zugewendet und damit die Bevölkerung stärker in den Blick genommen. Ihre Erfahrungswelt und ihre Bewusstseinslagen, denen zuvor kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden war, finden damit eine stärkere Berücksichtigung. Für das Königreich Westphalen liegen solche vertieften Untersuchungen aus mikrohistorischer Perspektive, die der Durchsetzung und Wahrnehmung der „Herrschaft vor Ort“ gewidmet sind, bislang nicht vor.14 Die Frage, ob und auf welche Weise sich der Staat in der Bevölkerung Anerkennung verschaffte, wurde lange vernachlässigt. Dabei bieten die Ausbildung und der Wandel von Loyalitäten einen zentralen Schlüssel für die Stabilität des neuen Staates. Die Chance, durch die Einbeziehung lebensweltlicher Perspektiven die Bewusstseinslagen15 der Bevölkerung in Bezug auf die herrschenden politischen Verhältnisse zu entschlüsseln und subjektive Faktoren wie Interessen, Erfahrungen und Einstellungen zu deuten, ist bislang nicht genutzt.16 Dabei erlaubt gerade die Einbeziehung des Erfahrungsparadigmas, Erkenntnisse über das Ringen zwischen Modernität und Beharrung, um die Akzeptanz einer von oben und außen oktroyierten Neuordnung zu gewinnen.17 So kann es gelingen, politischen Loyalitäten und Identitäten ein 

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 ieser Befund gilt sowohl für die französischen Filialstaaten insgesamt als auch speziell für das KönigD reich Westphalen (Jörg Echternkamp, „Wo jeder Franzmann heißet Feind …“? Nationale Propaganda und sozialer Protest im napoleonischen Deutschland, in: Veit Veltzke (Hg.), Napoleon. Trikolore und Kaiseradler über Rhein und Weser, Köln u.a. 2007, S. 411-428, hier S. 418f.); auf den Forschungsbedarf zur politischen Identität und einen Forschungszugriff auf lokaler Mikroebene verweist Owzar, Vom Topos der Fremdherrschaft, S. 6; ders., Eine Nation auf Widerruf – Zum politischen Bewusstseinswandel im Königreich Westphalen, in: Helga Schnabel-Schüle/Andreas Gestrich (Hg.), Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt a.M. u.a. 2006, S. 43-72. Eine Perspektive auf die Herrschaftsunterworfenen fordert für die napoleonische Zeit insgesamt Ute Planert, Einleitung: Krieg und Umbruch um 1800, in: dies. (Hg.), Krieg und Umbruch in Mitteleuropa um 1800. Erfahrungsgeschichte(n) auf dem Weg in eine neue Zeit, Paderborn u.a. 2009, S. 11-23, hier S. 15f. Eine „Aufwertung des Lokalen“ in Bezug auf die Wissens- und Erinnungsgeschichte des Königreichs Westphalen regt schließlich Bettina Severin-Barboutie, Rezension zu: Anika Bethan, Napoleons Königreich Westphalen. Lokale, deutsche und europäische Erinnerungen, Paderborn 2012, in: H-Soz-Kult, 5.4.2013 (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-2-017; Aufruf 10.4.2014). Zum Begriff der Bewusstseinslage: Bernd von Münchow-Pohl, Zwischen Reform und Krieg. Untersuchung zur Bewußtseinslage in Preußen, Göttingen 1987, S. 21; in Erweiterung auf langwierige Prozesse der Veränderung von Mentalitäten: Heide Wunder, Kulturgeschichte, Mentalitätsgeschichte, Historische Anthropologie, in: Richard van Dülmen (Hg.), Das Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt a.M. 1990, S. 65-86, hier S. 72-80. Zum Konzept der „Alltagsgeschichte“: Peter Borscheid, Alltagsgeschichte – Modetorheit oder neues Tor zur Vergangenheit?, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd. III: Soziales Verhalten und soziale Aktionsformen in der Geschichte, Göttingen 1987, S. 78-100; Hans-Ulrich Wehler, Alltagsgeschichte: Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen?, in: ders., Aus der Geschichte lernen? Essays, München 1988, S. 218-240; Hans Medick, Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 94-109. Zum Konzept der „Erfahrungsgeschichte“ und ihrer Nutzbarmachung in der Forschung zur „Übergangsgesellschaft“ vgl. Ute Planert, Einleitung, Krieg und Umbruch um 1800, in: dies., Krieg und Umbruch,

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zelner Herrschaftsunterworfener nachzuspüren und auf diese Weise die Entwicklung von „Untertanen“ zu „Staatsbürgern“ aufzuzeigen. Eine „Alltagsgeschichte“18 ist aufgrund ihrer Subjektbezogenheit jedoch als einziger forschungsstrategischer Zugriff nicht ausreichend, um eine „kollektive Wirklichkeitsdeutung“ zu erfassen.19 Um überindividuelle Strukturen der von außen an die historischen Subjekte herangetragenen Staatsbürgergesellschaft zu erfassen, also die individuellen und die gesellschaftlichen Determinanten miteinander zu verbinden, ist eine mentalitätsgeschichtliche Erweiterung geboten. Diese ermöglicht es, Handlungsperspektiven der Akteure in strukturgeschichtliche Betrachtungsweisen einfließen zu lassen und dadurch Bestimmungsfaktoren, die über die erfassten Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen der einzelnen Subjekte hinausweisen, in einen größeren Rahmen einzuordnen. In Deutschland ließ der französische Revolutionsexport erstmals die „Grundprinzipien der modernen Welt“20 erfahrbar werden. Doch die durch die Ideen der Französischen Revolution geprägte und durch die Machtexpansion Napoleons stimulierte Dynamik zur Veränderung einer unzeitgemäß gewordenen altständischen Ordnung konnte nur greifen, wenn sie von potenziellen Trägern des Staates unterstützt wurde und eine weitgehende Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung oder doch zumindest in den wichtigen gesellschaftlichen Gruppierungen fand. Anders ausgedrückt, nur die Ausbildung einer westphälischen Staatsbürgeridentität konnte eine stabile Ordnung garantieren. Der konkrete Vollzug des Herrschaftswechsels und die gesellschaftlichen Auswirkungen auf der Ebene der Herrschaftsunterworfenen sind bislang wenig erforscht. Über die eng damit verknüpften Bedingungen für die Ausbildung eines Legitimitätsglaubens in der ökonomisch, politisch und konfessionell heterogenen und sich auf unterschiedliche regionale Traditionen beziehenden Bevölkerung des Königreichs Westphalen ist kaum etwas bekannt.21 Das gilt gleichermaßen für die Funktions­eliten des Staates unterhalb der schmalen Führungsschicht in Kassel wie für die von den Privilegienverlusten



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S. 11-23, hier S. 16f.; Christof Dipper, Kommentar zur Sektion II, in: Planert, Krieg und Umbruch, S. 155-164, hier S. 161-164. Planert hat auf die Problematik der Verwendung des Begriffs „Alltagsgeschichte“ für Kriegs- und Krisenzeiten hingewiesen, da sich solche Perioden gerade durch das Nichtalltägliche auszeichnen. Es soll aber an dem Begriff festgehalten werden, weil gerade die Krisenerfahrungen für die historischen Subjekte zum temporären Alltag wurden; vgl. Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden: Alltag – Wahrnehmung – Deutung 1792-1841, Paderborn u.a. 2007, S. 64. Volker Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, in: Historische Zeitschrift 241 (1985), S. 555-598, hier S. 589. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 11. Die Feststellung von Fehrenbach aus dem Jahr 1976, dass „die beginnende Kommerzialisierung des Grundbesitzes, die Gewerbepolitik, die sozialökonomische Lage der verschiedenen Bevölkerungsschichten unter den veränderten Bedingungen der napoleonischen Herrschaft, die Funktion des Adels in der lokalen und zentralen Verwaltung, die Wirksamkeit der an Stelle der Stände geschaffenen Notabelnversammlungen, die wirtschaftlichen Folgen der Kontinentalsperre […] im Detail erst wenig untersucht“ sind, besitzt für das Königreich Westphalen noch immer Gültigkeit; Elisabeth Fehrenbach, Deutschland und die Französische Revolution, in: dies., Politischer Umbruch und gesellschaftliche Bewegung. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Frankreichs und Deutschlands im 19. Jahrhundert, hg. von HansWerner Hahn und Jürgen Müller, München 1997, S. 29-48, hier S. 47.

betroffenen altständischen Eliten Kirche und Adel. Es trifft außerdem ebenso für die Nutznießer der Reformpolitik zu wie für die Menschen, die aufgrund der neuen Zumutungen des Staates eine Verweigerungshaltung einnahmen. Um dem spezifischen Charakter des Reform- und Filialstaates22 näher zu kommen, soll am konkreten Beispiel einer ehemals preußischen Provinz der Zeitraum zwischen der französischen Okkupation 1806 und dem Zusammenbruch des Königreichs Westphalen 1813 untersucht werden. Dabei wird der kulturalistische Ansatz mit dem Blick auf moderne Verfassungsstaatlichkeit vertieft.23 Ein solcher theoretischer Zugriff knüpft an die Forschungstendenzen an, die über die allgemeine kulturalistische Wende Einzug in die Politische Geschichte und Verfassungsgeschichte gehalten haben.24 Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht daher die Frage nach der gelebten Ordnung, also den praktischen Ausprägungen und den Wahrnehmungen25 des ersten deutschen Verfassungsstaates im modernen Sinne, dem kurzlebigen französischen Filialstaat Königreich Westphalen. Die durch Mentalitäten, Einstellungen und Praktiken zwischen Herrschenden und Beherrschten vermittelte politische Ordnung soll als „gelebte Verfassungskultur“ entschlüsselt werden.26 Das Konzept der „Verfassungskultur“, als System der kulturellen Prägung politischer Gemeinwesen auf den Ebenen seiner Institutionen sowie politischen Öffentlichkeiten, impliziert dabei einen steten Wandel der politischen Ordnung, die anders als ein normatives Regelwerk angesichts sich verändernder Machtverhältnisse seitens der Gesellschaft immer wieder neu gedeutet, vermittelt und angeeignet werden muss. Gerade in Bezug auf die von außen angestoßene Neuordnung erweist sich die Frage nach dem Kulturellen als besonders erkenntnisfördernd, da hier die Integrationskraft des politischen Gemeinwesens und ihrer Institutionen bzw. die mit der Implementierung verbundenen Krisenmomente untersucht werden.27  

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 er hier verwendete Begriff des „Filialstaates“ soll gegenüber den gängigen, aber negativ konnotierten D Bezeichnungen „Satelliten-“ oder „Vasallenstaat“ eine unvoreingenommene, offene Interpretation des Verhältnisses von Empire und Königreich Westphalen ermöglichen. Grundlegend zur kulturellen Dimension von Verfassungsstaatlichkeit aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive Wolfgang Reinhard, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte. Historische Grundlagen europäischer politischer Kulturen, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 1 (2000), S. 114-131. Sie folgt damit der zuerst von Häberle in die Diskussion gebrachten Forderung, Verfassungswissenschaft nicht allein mit Fragen nach der normativen Ordnung, sondern auch mit kulturwissenschaftlichem Erkenntnisinteresse anzugehen; vgl. Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Berlin 1982 (2., erw. Aufl. 1998). Zum Konzept der Verfassungskultur auf der Grundlage eines erweiterten Verfassungsbegriffs vgl. Arthur Schlegelmilch, „Verfassungskultur“ als Gegenstand der Geschichtswissenschaft, in: ders./Peter Brandt/ Reinhard Wendt (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. „Verfassungskultur“ als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005, S. 9-14, der besonders auf das zwischen Herrschenden und Beherrschten stattfindende mentale, symbolische und diskursive Aushandeln von Herrschaftslegitimität, Gewaltenteilung und Repräsentation verweist. Arthur Schlegelmilch, Verfassungskultur, in: Peter Brandt/Martin Kirsch/Arthur Schlegelmilch unter redaktioneller Mitwirkung von Werner Daum (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006, S. 88-94, hier S. 88. Werner Daum/Kathrin S. Hartmann/Simon Palaoro/Bärbel Sunderbrink, Verfassungskulturen in der Geschichte. Perspektiven und Ergebnisse der Forschung, in: dies. (Hg.), Kommunikation und Konflikt­

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Mit diesem Ansatz kann das Königreich Westphalen unter neuartigen Perspektiven betrachtet werden. Es geht nicht – wie vielfach geschehen – darum, das Königreich Westphalen von seinen Intentionen her zu untersuchen und seine Funktion als Modell für den Rheinbund insgesamt darzustellen,28 sondern vielmehr darum, die Realitäten und Entwicklungsmöglichkeiten des Reformstaates mit Perspektive auf die Herrschaftsunterworfenen auszuloten. Aus einem kulturalistischen Blickwinkel – angereichert um die konzeptionellen Grundlagen der Verfassungskultur – kann es gelingen, den Strategien zur Durchsetzung der staatlichen Macht „von oben“ die soziale und kulturelle Praxis ihrer Rezeption und Wahrnehmung „von unten“ entgegenzusetzen. Dabei werden unter der Perspektive einer „Revolution von außen“ die seitens des Empire stimulierten Neuordnungen dahingehend entschlüsselt, inwieweit sie von der einheimischen Bevölkerung begrüßt, getragen und mitgestaltet bzw. abgelehnt und untergraben wurden. Eine Perspektive, die das revolutionäre Element der französisch-westphälischen Zeit in besonderer Weise berücksichtigt, lässt es damit zu, in Ergänzung zur Modellstaatspolitik „von oben“ das in der einheimischen Gesellschaft selbst liegende Potenzial einer Beteiligung an Reformen und das Ringen um akzeptable Lösungen „von unten“ aufzudecken. Der Blickwinkel bietet die Möglichkeit, die überkommenen sozialen Strukturen und Strömungen, die im neuen Staat wirkungsmächtig blieben, dahingehend zu befragen, ob sie zur Beförderung der „Revolution von außen“ beitrugen oder diese zu verhindern suchten. Den vielfach untersuchten Regierungsaktivitäten im Königreich Westphalen aus der Perspektive „von oben“ wird in dieser Arbeit am Beispiel einer ausgewählten Region aus mikroanalytischer Perspektive eine Sicht „von unten“ entgegengestellt und nach der Ausprägung der „Herrschaft vor Ort“ gefragt. Die kurze, aber veränderungsreiche westphälische Zeit wird dabei aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus betrachtet. Das staatliche Handeln einschließlich der Störungen des Modernisierungsprozesses durch die Hegemonialpolitik Napoleons bildet dabei die Folie, auf der nach Chancen und Beteiligung der Bevölkerung sowie ihrer Identifikation als westphälische Staatsbürger – letztlich nach ihrer Identität gefragt wird. Eine an der Lebenswirklichkeit der Menschen orientierte Perspektive soll kollektive Vorstellungen und Einstellungen sichtbar machen und die Frage beantworten, welche Haltung unterschiedliche ­soziale Gruppen in Bezug auf den Staat, den Herrscher, die Verfassung und die Reform­ anstrengungen einnahmen. Wie sich die „gelebte Verfassungskultur“ darstellte, ob oder wie weit die „moralische Eroberung“ die Menschen tatsächlich erreicht hat und ob sich der Staat eine Legitimationsbasis verschaffen konnte, sind mithin die übergreifenden Leitfragen, die anhand des regionalen Beispiels geprüft werden.

austragung. Verfassungskultur als Faktor politischer und gesellschaftlicher Machtverhältnisse, Berlin 2010, S. 9-21, hier S. 9. 28   Genannt sei besonders Bettina Severin, Modellstaatspolitik im rheinbündischen Deutschland. Berg, Westfalen und Frankfurt im Vergleich, in: Francia 24 (1997), S. 181-203.

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Da das Königreich Westphalen ganz von der französischen Politik und daher von den Erfolgen der napoleonischen Machtexpansion abhängig war, führte der militärische Umschwung 1813 konsequenterweise zur Auflösung des „Verfassungsstaats auf Zeit“. Dennoch scheint es gerechtfertigt, unabhängig davon, ob die Reformen über den Zusammenbruch des Staates wirkungsmächtig blieben, nach der Qualität der gesellschaftlichen und staatlichen Neuordnung zu fragen. Damit soll der Überlegung Rechnung getragen werden, dass nicht nur die erfolgreichen, sich schließlich durchsetzenden Entwicklungen eine Würdigung verdienen, sondern dass gerade auch abgebrochene Modernisierungen als Innovationserfahrungen einer Gesellschaft auf dem Weg in die Moderne einen Eigenwert besitzen.29 Untersuchungsraum Bei dem Untersuchungsraum, der ehemals preußischen Provinz Minden-Ravensberg, die im Königreich Westphalen in die Distrikte Minden und Bielefeld aufgelöst wurde, handelte es sich um eines der wenigen tatsächlich altwestfälischen Gebiete, die in das Königreich Westphalen integriert wurden.30 Die Region zwischen Weser und Teutoburger Wald nahm innerhalb des Königreichs Westphalen als eines der wenigen ehemals preußischen Territorien des Staates eine Sonderstellung ein. Sie verlor ihren Provinzcharakter und wurde mit anderen Gebieten zum Weserdepartement zusammengeschlossen. Die preußische Vergangenheit beschwor einerseits Ressentiments der neuen Herrscher herauf, andererseits blieb die Tradition eines aufgeklärten Absolutismus, die sich besonders in einer ausgeprägten Reformbürokratie gezeigt hatte, wirkungsmächtig, was die Region von anderen des Landes unterschied. Das Weserdepartement mit den Distrikten Minden und Bielefeld lag an der Peripherie des neuen Staates, was die Region zu einem besonderen Testfall für die Herrschaftsdurchsetzung machte. Als weltweit agierendes Zentrum des Leinengewerbes besaß sie eine herausgehobene wirtschaftliche Position innerhalb des neuen Staates. Wenn auch hier eine agrarische Wirtschaftsweise vorherrschend war, bildete das Untersuchungsgebiet einen der wenigen Kristallisationspunkte eines gewerblichen Besitzbürgertums in dem zum größten Teil ländlich strukturierten Königreich.

  Ä  hnliche Überlegungen bei Armin Owzar, Nur ein Satellitenstaat? Das Königreich Westphalen in der zeitgenössischen Selbstdarstellung, in: Rüdiger Schmidt/Hans-Ulrich Thamer (Hg.), Die Konstruktion von Tradition. Inszenierung und Propaganda napoleonischer Herrschaft (1799-1815), Münster 2010, S. 291-310, hier S. 293f. 30   Monika Lahrkamp, Die französische Zeit, in: Wilhelm Kohl (Hg.), Westfälische Geschichte, Bd. 2: Das 19. und 20. Jahrhundert. Politik und Kultur, Düsseldorf 1983, S. 1-43, hier S. 23. Hier auch der beste Überblick zum politischen Geschehen im historischen Raum Westfalen der Jahre 1800 bis 1813. 29

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Abb. 1: Das Königreich Westphalen hat während seiner kurzen Existenz mehrfach seinen Zuschnitt verändert. Seine größte Ausdehnung hatte es 1810, als es im Norden bis nach Hamburg reichte. Anfang 1811 annektierte Napoleon Norddeutschland, ohne die Interessen seines Bruders zu beachten. Das Königreich Westphalen verlor etwa ein Drittel seines Umfangs. Mit der Völkerschlacht bei Leipzig fand der französische Filialstaat 1813 sein Ende (aus: Museumslandschaft Hessen, Kassel (Hg.), König Lustik!?, S. 533).

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1.2 Vorgehensweise, Forschungsstand und Quellenlage Um die Deutung der kurzen Phase des Bestehens des Königreichs Westphalen zu erleichtern, wird eine zeitliche Einordnung vorgenommen, die die Vorgeschichte und die Nachwirkungen einbezieht. Zunächst wird der Wechsel von der preußischen Provinz über das französische Besatzungsgouvernement bis zur Schaffung des westphälischen Weserdepartements beschrieben. Die Darstellung der vorwestphälischen Ausgangslage in Verwaltung und Gesellschaft macht die besonderen Grundbedingungen für den Herrschaftswechsel im bisherigen preußischen Nebenland Minden-Ravensberg deutlich. Der westphälischen Regierung musste daran gelegen sein, die Bevölkerung insgesamt, besonders aber gesellschaftlich relevante Gruppen für den neuen Staat zu gewinnen, die als Vermittler der revolutionären Staatsidee auftreten sollten. Der erste Versuch dazu erfolgte durch die Beteiligung ausgewählter Deputierter am Staatsgründungsakt in Paris. Anhand des Neubaus des Staates in einer vom Herrschaftszentrum entfernt liegenden Provinz wird dargestellt, welche Möglichkeiten und Grenzen der administrativen Durchdringung gegeben waren. In diesem Zusammenhang verdienen die öffentlichen Bediensteten als die potenziellen Vermittler der neuen Ordnung eine besondere Aufmerksamkeit. Hier wird nach Rekrutierungsmustern, Vernetzungen, Einstellungen und Selbstverständnis der Verwaltungsbeamten auf der regionalen Ebene der Präfekten und Unterpräfekten sowie der lokalen Ebene der Maires und Adjunkten gefragt.31 Nicht nur eine funktionierende Verwaltung, sondern auch eine weitgehende Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber dem Staat war Grundbedingung, um eine reibungslose Herrschaft zu ermöglichen. Die westphälische Obrigkeit setzte daher verschiedene, zum Teil widersprüchliche Strategien ein, die der Stabilisierung der Macht dienen sollten. Die Ausgestaltung und Wirkung dieser symbolischen, reformgeleiteten wie repressiven Praktiken in der Region werden daher im Folgenden in den Blick genommen: Es wird nach der Legitimation durch Repräsentation, und dabei besonders nach der in Zeiten von Herrschaftswechseln augenfälligen symbolischen Vermittlung der neuen Ordnung gefragt. Ein wichtiges Instrument der Durchsetzung der neuen Ordnung in der Region bildete die Presse, deren Abhängigkeiten aufgezeigt werden sollen. Revolutionär neu war die politische Partizipation auf allen staatlichen Ebenen, die einer schmalen Schicht von Notabeln ein Mitspracherecht ermöglichte. Dabei ist zunächst zu klären, welche Faktoren zur politischen Teilhabe führten, wie die Akteure dieser Gremien sozial differenziert waren und welches politische Gewicht sie entfalten konnten. Anschließend werden exemplarisch Aspekte des ambitionierten Reformprogramms, das zur Egalisierung der Gesellschaft beitragen sollte, untersucht. Konkret   A  uf das Forschungsdesiderat in Bezug auf die untere Verwaltungsebene verweist etwa Peter Burg, „Geflissentlich beim Feinde Dienst gesucht“ – Die Karrieren großherzoglich-bergischer und königlich-westphälischer Beamter deutscher Herkunft, in: Dethlefs/Owzar/Weiß, Modell und Wirklichkeit, S. 143-163, hier S. 144.

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geht es dabei um die Liberalisierung agrarischer Abhängigkeitsverhältnisse, die Einführung einer neuen Wirtschaftsordnung, die Umsetzung der Gleichstellung der Juden und das über die Verfassung hinausweisende zivilisatorische Fortschrittsprojekt der Modernisierung des Armen- und Medizinalwesens. Diese Reformfelder wurden als gesellschaftlich besonders relevant ausgewählt, da sie einerseits tief in die Existenzgrundlage der Menschen eingriffen, andererseits zentrale Problemfelder der modernen Gesellschaft darstellten. Dabei ist jeweils zu untersuchen, ob die von außen und oben an die Gesellschaft herangetragenen revolutionären Ideen durch ein vorhandenes Reformpotenzial an Dynamik gewinnen konnten oder durch die Mobilisierung von Beharrungskräften gehemmt wurden. Stärker institutionenabhängige Reformfelder wie die Etablierung einer neuen Justizstruktur aufgrund der Einführung des Code Civil sowie die Säkularisierungsmaßnahmen, die in dem durchweg protestantischen Minden-Ravensberg weitaus geringere Reaktionen hervorriefen als in den katholischen Landesteilen, bleiben weitgehend unberücksichtigt. Sich auf den neuen Staat einzulassen, bedeutete für die Staatsbürger, garantierte Rechte zu erhalten. Es bedeutete aber auch, Pflichten wie die Ableistung des Militärdienstes, die Beteiligung an öffentlichen Diensten sowie die Zahlung von Steuern wahrzunehmen. Diese Verpflichtungen entpuppten sich aufgrund ihrer breiten gesellschaftlichen Relevanz als ausgesprochene Konfliktfelder, die sogar blutige Auseinandersetzungen heraufbeschworen. Eine besondere Situation ergab sich, als im Jahr 1809 äußere Bedrohungen und innere Spannungen aufeinandertrafen und es somit zur Nagelprobe für das junge Königreich kam. Zu fragen ist auch hier, wer mit welchen Argumenten Verweigerungshaltungen einnahm und ob sie einer generellen Ablehnungen der westphälischen Herrschaft oder der Abwehr existenzgefährdender Anforderungen geschuldet waren. Die Diskrepanz zwischen den Anforderungen des Reform- und des französischen Filialstaates durchzieht die gesamte Existenz des Königreichs Westphalen. Da beides gleichermaßen die politische Identität der Bevölkerung bestimmte, sollen die Wendepunkte in der Zustimmung zum Staat ausgelotet werden, wobei für die untersuchte Region die Grenzziehung zwischen dem Königreich Westphalen und dem Kaiserreich Frankreich zu Beginn des Jahres 1811 einschließlich deren wirtschaftlichen Folgen maßgeblich ist. Wie sich der zunehmend restriktive Herrschaftscharakter auf die Bewusstseinslage der Bevölkerung auswirkte, wurde spätestens beim Einzug der russischen und preußischen Truppen im Herbst 1813 deutlich. Die Rückführung der von Napoleon erbeuteten Quadriga 1814 aus Paris, deren Zug nach Berlin in der untersuchten Region die Möglichkeit der Artikulation gewandelter Loyalitäten gab, bildet das bemerkenswerte symbolische Finale der napoleonischen Herrschaft in MindenRavensberg.

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Forschungsstand Das Diktum der „Fremdherrschaft“, das die Illegitimität des als „undeutsch“ geltenden Staates verbal fasste, blieb in der geschichtswissenschaftlichen Forschung bis zur Wende zu einer modernen Sozialgeschichte bestimmend.32 Diese Perspektive gab vor allem der Frage nach der Souveränität des Königreichs ein übermäßiges Gewicht. Mit der Revision der Rheinbundforschung rückte verstärkt die Reformpolitik in den Blick. Während die ältere, borussophil-national orientierte Geschichtsschreibung die Überlegenheit der preußischen Reformpolitik in den Vordergrund gestellt hatte, schrieben die insbesondere von Helmut Berding und Elisabeth Fehrenbach durchgeführten und angestoßenen Untersuchungen den Modernisierungsanstrengungen der Rheinbundstaaten einen ebenbürtigen Wert zu.33 Weitere Forschungen haben auf diesen Arbeiten aufgebaut und sie für die Rheinbundforschung insgesamt sowie die Erforschung der „Modellstaaten“ Berg, Westphalen und Frankfurt nutzbar gemacht.34 In Bezug auf das Königreich Westphalen wurden Studien zu einzelnen Themen vor allem der Rechts-, Verwaltungs-35 und Verfassungsgeschichte36, sowie der Kommunikations- und der Erinnerungskultur37 veröffentlicht. In wegweisenden, zeitlich weiter gefassten Forschungen nimmt die Zeit des Königreichs Westphalen wiederholt einen wichtigen Platz ein.38 Schließlich beleuchten ­deskriptive Beiträge vor allem die Person und das Umfeld des westphälischen Regenten.39  

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 ur Rezeption in Forschung und Wahrnehmung vgl. Armin Owzar, Fremde Herrschaft – fremdes Recht? Z Deutungen der napoleonischen Verfassungspolitik in Westfalen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen 51 (2001), S. 75-105. Wegweisend: Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik; Elisabeth Fehrenbach, Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoleon in den Rheinbundstaaten, Göttingen 1974. Zur Forschungsdiskussion noch immer Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongress, S. 213234; Rüdiger Ham/Mario Kandil, Die napoleonischen Modellstaaten, in: Brandt/Kirsch/Schlegelmilch, Handbuch, S. 684-713. Einen regionalgeschichtlichen Ansatz verfolgt die unveröffentlichte Dissertation von Nicola-Peter Todorov, Le département de l’Elbe du royaume de Westphalie de 1807 à 1813/14, Paris 2003. Aus juristischer Perspektive Christian zur Nedden, Die Strafrechtspflege im Königreich Westphalen (1807-1813), dargestellt anhand der Praxis westphälischer Gerichte, Frankfurt a.M. u.a. 2003; Katrin Wrobel, Von Tribunalen, Friedensrichtern und Maires. Gerichtsverfassung, Rechtsprechung und Verwaltungsorganisation des Königreichs Westphalen unter besonderer Berücksichtigung Osnabrücks, Göttingen 2004. Herbert Obenaus, Die Reichsstände des Königreichs Westfalen, in: Francia 9 (1981), S. 299-329; Jochen Lengemann, Parlamente in Hessen 1808-1813. Biographisches Handbuch der Reichsstände des Königreichs Westphalen und der Ständeversammlung des Großherzogtums Frankfurt, Frankfurt a.M. 1991; Stefan Brakensiek, Die Reichsstände im Königreich Westphalen, in: Westfälische Forschungen 53 (2003), S. 215-240. Claudie Paye, „Der französischen Sprache mächtig“. Kommunikation im Spannungsfeld von Sprachen und Kulturen im Königreich Westphalen 1807-1813, München 2013; Anika Bethan, Napoleons Königreich Westphalen. Lokale, deutsche und europäische Erinnerungen, Paderborn u.a. 2012. Z.B. Stefan Brakensiek, Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750-1830), Göttingen 1999; Susanne Grindel, Armenpolitik und Staatlichkeit. Das öffentliche Armenwesen im Kurfürstentum Hessen (1803-1866), Darmstadt/Marburg 2000. Helmut Burmeister (Hg.), König Jérôme und der Reformstaat Westphalen. Ein junger Monarch und seine Zeit im Spannungsfeld von Begeisterung und Ablehnung, Hofgeismar 2006.

Den aktuellen Forschungsstand fassen umfangreiche Begleitbände zu ambitionierten Ausstellungen40 sowie neuere Sammelbände zusammen.41 Darin sind neben zahlreichen Erträgen der Rheinbundforschung speziell zum Großherzogtum Berg und – in geringerem Maße – zum Königreich Westphalen Desiderate der Forschung benannt, die vor allem die Frage nach der Bewusstseinslage der Bevölkerung berühren. Wenn darin auch einerseits das Fehlen von Grundlagenforschungen auf der Ebene der „Herrschaft vor Ort“ bemängelt wird, fällt gleichzeitig auf, dass die wenigen älteren empirischen Forschungserträge immer wieder verarbeitet werden.42 Studien zum Herrschaftscharakter des Königreichs Westphalen, die die konkreten Auswirkungen der Reformen auf die Bevölkerung ausleuchten, sind bislang Ausnahmen.43 In einen weiteren Zusammenhang der „Franzosenzeit“ eingefügt, stellen sie eher die Frage der Integrationsanstrengungen ins Kaiserreich Frankreich in den Mittelpunkt als die spezifische Herrschaftsausprägung innerhalb des Königreichs.44 Dass die Untersuchungsregion bislang in der Forschung trotz ihrer besonderen Situation als altpreußische Provinz keinen Niederschlag gefunden hat, mag der Randlage des Gebietes geschuldet sein. Während die jüngsten Studien ihren Fokus vor allem auf das hessische Territorium gelegt haben, blendet eine preußisch zentrierte Forschung die Zeit weitgehend aus. Während Preußens „Weg in den Westen“ als Impulsgeber der Modernisierung gefeiert wird,45 erfährt die Zeit des Königreichs Westphalen weiterhin die Deutung eines Besatzungsregimes, das einen vermeintlich organisch verlaufenden Reformweg unterbrach.46 Solche Interpretationen zeigen, dass die borussophilen Sichtweisen noch immer nicht überwunden sind.  

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 useumslandschaft Hessen Kassel, König Lustik; Veltzke, Napoleon; mit Blick auf den EpochenwechM sel zur Moderne auch Weiß, Gisela/Gerd Dethlefs (Hg.), Zerbrochen sind die Fesseln des Schlendrians. Westfalens Aufbruch in die Moderne, Münster/Bönen 2002. Den aktuellen Forschungsstand am besten widerspiegelnd Dethlefs/Owzar/Weiß, Modell und Wirklichkeit; außerdem mit wichtigen Beiträgen, vielfach aus hessischer Perspektive: Hedwig/Malettke/Murk, Napoleon und das Königreich Westphalen; ebenso: Jens Flemming/Dietfrid Krause-Vilmar unter Mit­ arbeit von Monika Schwalenstöcker (Hg.), Fremdherrschaft und Freiheit. Das Königreich Westphalen als napoleonischer Modellstaat, korr. Aufl., Kassel 2009. Dass dies zu Fehlschlüssen führen kann, trifft etwa auf die Interpretationen von Widerstandsaktionen in Zusammenhang mit Major Schill zu; vgl. Kap. 4.2.3. Aufgrund ihres empirischen Gehalts wird daher immer wieder zurückgegriffen auf Dorothea Puhle, Das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel im Königreich Westphalen und die Restitution 1806-1815, Braunschweig 1989. Helmut Stubbe da Luz, „Franzosenzeit“ in Norddeutschland (1803-1814). Napoleons Hanseatische Departements, Bremen 2003; Klaus Isensee, Die Region Stade in westfälisch-französischer Zeit 1810-1813. Studien zum napoleonischen Herrschaftssystem unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Stade und des Fleckens Haresfeld, Stade 2003; Stephan Freiherr von Welck, Franzosenzeit im Hannoverschen Wendland (1803-1813). Eine mikro-historische Studie zum Alltagsleben auf dem Lande zwischen Besatzungslasten und Sozialreformen, Hannover 2008. Nur beiläufige Erwähnung als französischer Satellitenstaat ohne Verweise auf Modernisierungsimpulse findet das Königreich Westphalen in der umfangreichen Arbeit von Wilhelm Ribhegge, Preußen im Westen. Kampf um den Parlamentarismus in Rheinland und Westfalen 1789-1947, Münster 2008, S. 32-36. So etwa bei Gerhard Renda, Preußische Spuren in Minden-Ravensberg, in: Stephan Sensen u.a. (Hg.), Wir sind Preußen. Die preußischen Kerngebiete in Nordrhein-Westfalen 1609-2009, Essen 2009, S. 195215, hier S. 209-211.

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Für die Untersuchungsregion liegen somit nur eine im nationalkonservativen Duktus der späten Weimarer Republik verfasste Dissertation und einige Aufsätze mit revanchistischem Grundton vor.47 Mit ihrem gedanklichen Bogen von Tilsit zum Versailler Frieden zeigen die Arbeiten die Prägekraft der politischen Zeitumstände für die Historiographie deutlich auf. Regionalgeschichtliche Arbeiten jüngeren Datums sind überschaubar. Außer wenigen Aufsätzen zu kirchengeschichtlichen Problemen, zur Judenemanzipation, zur Armenpflege und zur Festkultur48 räumt nur eine auf das Untersuchungsgebiet bezogene instruktive Beamtenbiographie der französisch-westphälischen Ära einen breiten Raum ein.49 Quellenlage Die vorliegende Studie fußt auf einer breiten, zum großen Teil bislang nicht ausgewerteten Quellenbasis. Dazu musste eine komplexe Überlieferungsgeschichte entschlüsselt werden. Die Vielschichtigkeit der Quellenlage ist der Tatsache geschuldet, dass durch die mehrfachen Herrschaftswechsel und territorialen Verschiebungen innerhalb der Jahre 1806 bis 1815 die Bestände der französisch-westphälischen Zeit auf mehrere Länder aufgeteilt wurden.50 Für das französische Militärgouvernement 1806/07 zeigen besonders Quellen der Landstände im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung  

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 ans Schmidt, Minden-Ravensberg unter französisch-westfälischer Herrschaft, Frankfurt a.M. 1933; H Katharina Krickau, Minden-Ravensberg unter französischer Fremdherrschaft, in: Eduard Schoneweg (Hg.), Minden-Ravensberg. Ein Heimatbuch, 2. Aufl., Bielefeld/Leipzig 1929, S. 98-106; ausführlich, aber deshalb nicht erträglicher sind die Artikelserien von Käthe Krickau, Minden unter Franzosenherrschaft, in: Mindener Heimatblätter 1 (1923), Nr. 2-3; dies., Schicksale unserer Heimat in der Franzosenzeit des vorigen Jahrhunderts, in: ebd., Nr. 6-9; 2, 1924, Nr. 1, sowie von Wolfgang Lindemann, 1806-1813. Die Franzosenzeit und das Mindener Land, in: Mindener Heimatblätter 15 (1937), Nr. 1-12; 16 (1938), Nr. 1-4, 6-8 u. 10. Einen hohen Quellenwert besitzen die Erinnerungen des Stadtkommandanten und Stadtmajors Daniel Koch, Authentische Sammlung merkwürdiger Begebenheiten während der französischen Fremdherrschaft angehend 1806, in: Mindener Heimatblätter 2 (1924), Nr. 10; 3 (1925), Nr. 1-4, 6-21 u. 23-24. Sie wurden allerdings erst 1841 niedergeschrieben, was Ungenauigkeiten in der zeitlichen Abfolge der Darstellung erklärt. Jörg van Norden, Zwischen legaler und traditionaler Herrschaft. Die evangelische Kirche im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen 1806-1813, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 99 (2004), S. 329-364; Monika Minninger, Gleichberechtigte Bürger? Zur behördlichen Umsetzung der neuen Judengesetzgebung in den westlichen Distrikten des Königreichs Westphalen, in: Dethlefs/ Owzar/Weiß, Modell und Wirklichkeit, S. 337-358; Bärbel Sunderbrink, „Ruhe – Ordnung und frohe Stimmung“. Feste in Minden während der westphälisch-französischen Zeit (1806-1813), in: Mitteilungen des Mindener Geschichtsvereins 78 (2006), S. 7-41; dies., Neue Wege gegen die Armut. Verordnete Modernität und kirchliche Beharrungskraft im Königreich Westphalen, in: Claudia Brack/Johannes Burkhardt/Wolfgang Günther/Jens Murken (Hg.), Kirchenarchiv mit Zukunft. Festschrift für Bernd Hey, Bielefeld 2007, S. 69-80. Uli Kahmann, Die Geschichte des J.F.A. Lampe. Ein Beamtenleben im Dorf Schildesche um 1800, Bielefeld 1995. Zur archivischen Überlieferungslage siehe Andreas Hedwig, Vorwort. Das Königreich Westphalen unter Jérôme Bonaparte (1807-1813) – Ein Modellstaat in der Außen- und Innenwirkung, in: Hedwig/­ Malettke/Murk, Napoleon und das Königreich Westphalen, S. 9-17, hier S. 13-16.

Westfalen (ehem. Staatsarchiv Münster), die Konfliktlagen der Übergangszeit auf. Für das Königreich Westphalen liegt der Kernbestand der Regierungsüberlieferung im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Berlin-Dahlem).51 Diese Überlieferung bildet die Kommunikation zwischen den Ministerien und den Präfekten als überörtliche Verwaltungsbehörden ab. Von zentraler Bedeutung für das Untersuchungsgebiet sind die Behördenakten der Präfekten des Weserdepartements im Niedersächsischen Landesarchiv/Staatsarchiv Osnabrück und die der Unterpräfekten im Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen (Münster). Die dortigen Bestände bieten einen umfassenden Einblick in die Kommunikation zwischen den Maires auf der Ebene der einzelnen Ortschaften, den Unterpräfekten als unterste regionale Verwaltungsebene und den Präfekten als regionale Mittel- und Entscheidungsinstanzen. Auf diesen Beständen beruht der wesentliche Teil der Untersuchung. Den Schwerpunkt bildet dabei die Zeit des Aufbaus und der Konsolidierung des Staates von 1807 bis 1811, da hier das Reformwerk implementiert wurde und die wesentlichen Prozesse der Herrschaftsstabilisierung und -destabilisierung stattfanden. Während ein Großteil der Regierungsüberlieferung und des amtlichen Schriftwechsels bis auf die Ebene der Präfekten in französischer Sprache verfasst wurde, schrieben die mittleren und unteren Verwaltungsebenen in deutscher Sprache, solange es sich nicht um juristische Belange handelte.52 Da das Untersuchungsgebiet 1811 geteilt wurde und der nördliche Teil an Frankreich fiel, wechselte der Sitz des zuständigen Präfekten von Osnabrück nach Kassel. Daher sind im Staatsarchiv Marburg weitere, wenn auch nur höchst lückenhafte Überlieferungen zu finden. Ergänzend wurden Quellen aus Kommunalarchiven und aus dem Landeskirchlichen Archiv der evangelischen Kirche von Westfalen (Bielefeld) ausgewertet sowie auf einzelne Akten des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Abteilung Ostwestfalen-Lippe (Detmold), für die Zeit nach 1813 zurückgegriffen. Bei der Mehrheit der ausgewerteten Quellen handelt es sich um Behördenschriftgut, wobei versucht wurde, durch eine Schwerpunktsetzung auf die mittlere Verwaltungsebene der Unterpräfekten und des Präfekten einen möglichst breiten Fokus auf die Lebenswirklichkeit der Zeitgenossen zu werfen. Angesichts der Überlieferungslage konnte Schriftgut von Privatpersonen und aus Wirtschaftsunternehmen kaum berücksichtigt werden.



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 u Überlieferung und Bestandsaufbau vgl. Ingeborg Schnelling-Reinicke, Westfälischer Adel im KöZ nigreich Westphalen. Quellen zur Erforschung des westfälischen Adels im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Die westphälische Titelkommission und der Orden der westphälischen Krone, in: zeitenblicke 9, Nr. 1 [10.06.2010], http://www.zeitenblicke.de/2010/1/schnelling-reinicke/index_html, Abschnitt 7f. (Aufruf: 10.4.2014). Mit königlichem Beschluss vom 21.3.1808 war den Präfekten als Schnittstelle zwischen den lokalen Behörden und den Ministerien die Verwendung der französischen Sprache verbindlich vorgeschrieben worden, vgl. Paye, Kommunikation, S. 62, 66.

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2. Herrschaft im Übergang 2.1 Besatzungserfahrungen unter französischem Militärgouvernement „Ein panische[r] Schrecken ergrif[f] Deutschland und ganz Europa“,1 schrieb der Gemeindepfarrer Gieseler im Jahr 1806 in die Kirchenchronik des kleinen Ortes Werther am Fuß des Teutoburger Waldes und erfasste damit von seiner Warte als Geistlicher einer Provinzgemeinde treffend die Stimmungslage eines ganzen Kontinents. Das Jahr 1806 stellt in der historischen Rückschau eine tiefe Zäsur in der deutschen Geschichte dar.2 Die Vertreter von sechzehn süd- und südwestdeutschen Staaten unterzeichneten am 12. Juli 1806 die Rheinbundakte und erklärten zugleich ihren Austritt aus dem Reichsverband. Kaiser Franz II. sah sich gezwungen, die Kaiserkrone niederzulegen. Damit hatte am 6. August 1806 das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nach fast tausendjähriger Geschichte aufgehört zu ­existieren. Während Frankreich seine Machtstellung in Deutschland durch den von ihm abhängigen Rheinbund zu sichern suchte, hatte Preußen unter französischem Schutz das mit dem britischen Königshaus verbundene Kurfürstentum Hannover besetzt und arbeitete an Plänen einer norddeutschen Konföderation. Gegenüber Frankreich achtete es streng auf seine seit dem Frieden von Basel (1795) geltende Neutralität, bis Gerüchte laut wurden, nach denen Napoleon mit London Bündnisverhandlungen führe und dafür die Rückgabe des preußischen Pfandes Hannover angeboten habe. Diese Provokation verleitete den zwischen Ängstlichkeit, Diplomatie und Selbstüberschätzung schwankenden Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) zum Feldzug gegen Frankreich, ohne sich zuvor die militärische Unterstützung Russlands zu sichern. Die Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 endete folglich mit einer katastrophalen Niederlage Preußens, die nicht nur die traditionelle monarchische Ordnung in Frage stellte,3 sondern auch viele Menschen in ihren Lebensgewissheiten tief erschütterte. Wenige Tage nach der Schlacht wurden die preußischen Westprovinzen von der ­französisch-holländischen Nordarmee eingenommen, die unter dem Befehl des soeben in den Niederlanden eingesetzten Königs Louis Bonaparte (1778-1846), eines jüngeren Bruders Napoleons, standen. Am 19. Oktober begannen die Truppen von Wesel aus ihren Einmarsch in Nordwestdeutschland. Ohne auf Widerstand zu stoßen, wurde binnen weniger Wochen das gesamte Gebiet bis zur Elbe in Besitz genommen: zunächst das preußische Ostfriesland, dann nacheinander Hessen-Kassel, das preußische Westfalen, das Kurfürstentum Hannover, Oldenburg und schließlich die Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck. Das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel war in Folge von Jena und Auerstedt von Osten   LkA EKvW, 4,81, Nr. 498, Kirchenchronik Werther, S. 35.   H  ans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, 2. Aufl., München 1989, S. 368. 3   Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600-1947, München 2008, S. 333. 1 2

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aus erobert worden. Am 21. November 1806 verkündete Napoleon als Finale seiner gegen England gerichteten Maßnahmen die Kontinentalsperre. Die Verwaltung der in acht Generalgouvernements und Gouvernements unterteilten besetzten Gebiete ging an französische Gouverneure über.4 Eine fast gewaltfreie Machtübernahme Am 9. November 1806 erreichten die ersten holländischen Truppen in einer Stärke von 400 Soldaten die Stadt Minden, am 11. November Bielefeld und Herford. Am 14. November war ganz Minden-Ravensberg okkupiert. Kampfhandlungen hatte es während der Machtübernahme in der Region nicht gegeben: Der Großteil der preußischen Truppenverbände war aufgrund des drohenden Kriegsausbruchs bereits Mitte August in Marsch gesetzt worden und daher nicht mehr in der Gegend.5 Die verbliebenen Mindener und Ravensberger Verbände wurden in den Festungen Nienburg und Hameln konzentriert, wo sie am 20. und 26. November kampflos kapitulierten.6 Die holländischen Truppen, die die Region einnahmen, gingen mit der Zivilbevölkerung erstaunlich umsichtig um. Wurden sie in den katholischen und bis vor wenigen Jahren souveränen geistlichen Territorien Münster und Paderborn sogar als Befreier vom „preußischen Joch“ bejubelt, so war das in dem seit Generationen zu Preußen gehörenden Minden-Ravensberg nicht der Fall. Dennoch kam es auch hier von Seiten der Besatzungstruppen zu keinen antipreußisch motivierten Übergriffen. Dem holländischen König Louis eilte der Ruf voraus, dem Land nicht feindselig gegenüberzustehen und es mit Schonung zu behandeln. Krieg sollte nicht gegen die Bevölkerung, sondern gegen den „Tyrannen“ geführt werden.7 Beim Einzug der Holländer waren beide Seiten darauf bedacht, Provokationen zu vermeiden. In Minden wurden die Truppen mit einem öffentlichen Gelage empfangen. Bielefeld und Herford, an der Militärstraße zwischen Wesel und dem noch belagerten Hameln liegend, mussten in den folgenden Tagen die Durchzüge der Verbände des Belagerungscorps meistern. In rascher Folge wechselten bei den Bürgern die einquartierten Menschen und Pferde. Massive Übergriffe seitens der französischen Soldaten  

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 tubbe da Luz, Franzosenzeit, S. 87-92. Es wurden die (General-)Gouvernements Hannover, OstfriesS land, Oldenburg, Münster, Minden, Braunschweig, Kassel und die Hansestädte eingerichtet. Das Herforder Grenadierbataillon war nach Münster ausmarschiert. Das 10. Infanterie-Regiment aus ­Bielefeld war nach Thüringen abkommandiert, wo es entscheidend zu dem für Preußen negativen Ausgang der Schlacht bei Jena beigetragen hat; W. Nobbe, Standortchronik Bielefeld, Bd. 1 (bis 1933), (unveröff. Manuskript), o.O, o.J. [Bielefeld nach 1939], S. 134. Schmidt, Minden-Ravensberg, S. 3, bemängelt in seiner nationalistisch gefärbten Darstellung, dass die Festungen Nienburg und Hameln „unrühmlich und ohne zwingenden Grund“ preisgegeben worden seien. Diese Bewertung entspricht der nach der Kapitulation auf Generalmajor Karl Ludwig von LeCoq hereinbrechenden Kritik von Seiten der preußischen „Falken“, die die isolierte Lage der Festungen nicht als hinreichenden Grund für die Aufgabe akzeptieren wollten. Monika Lahrkamp, Münster in napoleonischer Zeit 1800-1815. Administration, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeichen von Säkularisation und französischer Herrschaft, Münster 1976, S. 62.

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blieben eine Ausnahme.8 Die preußischen Behörden hatten die Zivilbevölkerung bereits im Vorfeld für den Fall des Einmarsches „fremder Kriegsvölker“ zur Bewahrung der Ruhe ermahnt. Ihre Überlegungen betrafen nicht etwa eine mögliche Abwehr der gegnerischen Truppen – diese wäre Aufgabe des Militärs gewesen –, sondern ihre Sorge bezog sich auf Begleitumstände wie Exzesse und Plünderungen, die es abzuwenden galt, um den Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten.9 Gewalttätigkeiten gingen nicht zwangsläufig von den regulären Verbänden aus, sondern auch von deren ungebetenen Begleitern.10 Die Vorkommnisse scheinen auf die Einstellung der Bevölkerung jedoch einen geringeren Einfluss gehabt zu haben als der offensichtlich nahezu friedlich verlaufende Machtwechsel. Hinweise, dass die Bevölkerung darauf drängte, das Gebiet entschlossener militärisch gegen die französisch-niederländischen Truppen zu verteidigen, finden sich jedenfalls nicht. Aufbau des französischen Militärgouvernements Ein Paderborn, den hessischen Teil der Grafschaft Schaumburg, Ravensberg und Minden umfassendes Gebiet wurde nach der Okkupation in einem Gouvernement zusammengefasst.11 Die Leitung dieses „Zweiten Gouvernements der eroberten Länder“ übernahm Jacques-Nicolas Gobert, ein erfahrener General kolonialfranzösischer Herkunft, der in der Revolutionsarmee Karriere gemacht hatte.12 Er bezog seinen Dienstsitz in der Domdechanei in dem zum Hauptort des Zweiten Militärgouvernements bestimmten Minden. Abgesehen von dem Gouverneur Gobert, dessen deutschen Adjutanten Major Thomas, dem Intendanten Sicard13 und dem Kommandanten Nicolas Fournier, musste die französische Besatzungsmacht ohne eigenes Personal auskommen. Nur einige Gendarmen und gut hundert Mann französische Grenadiere standen  

 isshandlungen erlitten in Bielefeld nachweislich die Witwe Tiemann und ihre Tochter, für die die Stadt M die Heilungskosten in Höhe von 20 Rtl. übernahm; Volker Parr, Chronik der Garnison Bielefeld (unveröff. Manuskript), Bielefeld 1981, S. 116. 9   Grabe/Moors, Neue Herren, Nr. 142, Rundschreiben der Kriegs- und Domänenkammer Münster an alle nachgeordneten Behörden, 19.10.1806, S. 254. 10  Wie in der Ortschaft Brackwede, wo marodierende Truppen das Dorf „in einen nicht geringen Schrecken“ versetzten; Gemeindechronik Brackwede, zit. nach: Karl Beckmann/Rolf Künnemeyer, 1151-2001. Brackwede. Stationen einer 850-jährigen Geschichte, Bielefeld 2001, S. 119. 11  Schmidt, Minden-Ravensberg, S. 3. Das „Erste Gouvernement der eroberten Länder“ wurde aus den „altpreußischen“ Gebieten Tecklenburg, Lingen und Mark sowie den „neupreußischen“ Gebieten Münster und Osnabrück gebildet. 12  Zum wechselvollen Karriereweg Goberts (geb. 1760 auf der Insel Guadeloupe, gest. 1808 bei Baylen in Spanien) siehe Helmut Stubbe da Luz, General Gobert, Napoleons „Zweites Gouvernement der eroberten Länder“ und die Anfänge des Königreichs Westphalen, in: Westfälische Forschungen 56 (2006), S. 379-402; dort auch weitere biographische Nachweise. Nach seiner Tätigkeit in Minden ist Gobert in Spanien eingesetzt gewesen und während eines Scharmützels umgekommen. Sein Name findet sich in der „Spanienabteilung“ des Pariser Arc de Triomphe. Auf dem Friedhof Père Lachaise ist ihm ein auffälliges Denkmal gesetzt, das ihn tödlich getroffen vom Pferd stürzend darstellt. 13  Zur Biographie Sicards (1773-1813) vgl. ebd., S. 389. 8

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ihnen zur Seite.14 In Verwaltungsangelegenheiten stützte sich das Militärregime ganz auf das vorhandene Personal. Die Verwaltungsgeschäfte für das gesamte Gouvernement wurden in oberster Instanz der Mindener Kriegs- und Domänenkammer übertragen, auch in den untergeordneten Behörden blieben die preußischen Beamten auf ihren Posten und führten ihre Aufgaben ohne erkennbare Anzeichen von Widersetzlichkeit weiter aus. Die Okkupation wurde von unterschiedlichen herrschaftssichernden Maßnahmen begleitet. Zunächst verkündete Gouverneur Gobert am 14. November 1806 mittels einer zweisprachig gedruckten Bekanntmachung die Machtübernahme und erklärte selbstbewusst, dass die eroberten „Länder nie in den Besitz der preußischen Fürsten zurücktreten werden. […] Ihr Schicksal wird künftig nur von dem besten, dem gerechtesten und mächtigsten Souverain der Erde abhangen“.15 Mit dieser Bekanntmachung verfügte Gobert einerseits die Beschlagnahmung der öffentlichen Kassenbestände und Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, andererseits sollte aber auch das Vertrauen der Bevölkerung gewonnen werden. Auf das Charisma Napoleons und die moralische Rechtmäßigkeit des Revolutionsexportes zielend, hieß es in der Publikation: „Völker, vertraut der Güte und der Grosmuth des unüberwindlichen Napoleons! Mir hat er befohlen, Euer Glück zu machen, und ich werde seinen Willen erfüllen. Eure Unterwerfung und Euer Zutrauen müssen den Hindernissen zuvorkommen, die sich Eurem Wohlseyn entgegensetzen. Ihr müßt stolz darauf sein, das Schicksal der Franzosen zu theilen […].“16 General Gobert stellte Napoleon ausdrücklich als dem Volk zugeneigten Glücksbringer dar und wollte damit der Vorstellung eines machtstrebenden Usurpators entgegenwirken. Die in hoher Auflage gedruckte Bekanntmachung fand eine Verbreitung bis auf die Ebene der einzelnen Dörfer, wo es den Pfarrern oblag, sie einer Bevölkerung zu verkünden, die in der Mehrzahl noch niemals den Wechsel ihrer Herrschaft erlebt hatte.17 Einen weiteren Akt der symbolischen Machtübernahme stellten die Reisen Goberts innerhalb des Sprengels seines Gouvernements dar. Gemeinsam mit dem übrigen französischen Führungspersonal sowie den Vertretern der preußischen Verwaltung, dem Präsidenten der Kriegs- und Domänenkammer von Hövel und dem Kriegsrat Wendel, fuhr der nur rudimentär die deutsche Sprache beherrschende Gouverneur das ihm unterstehende Gebiet ab, um einerseits die Besitzergreifung persönlich bekannt zu machen und sich andererseits einen Überblick über die gewonnenen Provinzen zu verschaffen. Die Begleitung durch die Kammerbeamten bekräftigte für alle sichtbar einen Machtwechsel, in der die bestehende Verwaltungsordnung als stabilisierendes Element zunächst erhalten bleiben sollte.    

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 och, Sammlung 3, 1925, Nr. 1. K Grabe/Moors, Neue Herren, Quelle Nr. 144, Öffentliche Bekanntmachung des Gouvernements Minden, 14.11.1806, zweisprachiger Druck, S. 257f. Ebd. Die Bekanntmachung findet sich etwa in der Schildescher Amtschronik; StadtA Bi, Hgb 20, S. 11.

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Die Ankunft des Gouverneurs in den einzelnen Ortschaften enthielt Attribute eines Herrschereinzugs: Am 18. November wurden Gobert und seine Begleiter in Herford und Bielefeld mit Glockengeläut empfangen und von der Stadtelite, bestehend aus Magistrat, Bürgerschaftskollegium und Geistlichkeit, begrüßt und anschließend zu einem gemeinsamen Mahl geladen.18 Da jedoch der Kriegszustand mit Preußen anhielt und eine Klärung, in welcher Weise die eroberten Gebiete in der Folgezeit zu regieren seien, noch nicht erfolgt war, fehlten Merkmale einer besonderen Unterwerfung und Treuebezeugung, wie sie später beim Einzug des westphälischen Königs sichtbar werden sollten. Die sogleich getroffene Anordnung zur Abnahme der an öffentlichen Gebäuden angebrachten preußischen Adler untermauerte die militärische Machtübernahme auf dem Feld der visuellen Kommunikation. Die Staatssymbolik des besiegten Gegners sollte umgehend aus dem Blickfeld der Bevölkerung getilgt werden – ein Vorhaben, das am Beharrungsvermögen der Eingesessenen zunächst zum Scheitern verurteilt war. Die bald in rascher Folge anberaumten öffentlichen Festveranstaltungen vermittelten die Machtübernahme auf symbolische Weise und sollten die Bevölkerung gezielt in positive Emotionen versetzen. Zwei Tage nach der Einnahme der Region durch die feindlichen Truppen fand am 16. November 1806 im Dom zu Minden zur religiösen Fundierung der Besetzung ein zentraler Dankgottesdienst statt, an dem neben dem Gouverneur auch Behördenvertreter, Vertreter des Adels, der Geistlichkeit und der Bürgerschaft teilnehmen mussten.19 An den feierlichen Einzug in die Kirche schloss sich der Lobgesang Te Deum an. Das seit dem Mittelalter bekannte öffentliche Gebet wurde nun im Namen des französischen Kaisers abgestattet und diente dabei vor allem seiner Repräsentation.20 Der Dankgottesdienst stellte den Auftakt zu einer Reihe von Festen dar, die anlässlich militärischer Ereignisse und zu Ehren der Familie Bonaparte gefeiert wurden und insbesondere die zur Teilnahme verpflichtete Verwaltungs- und Honoratiorenschicht auf die neue Situation einschwören sollten. Bereits am 7. Dezember 1806 wurde in Erinnerung an den Krönungstag Napoleons 1804 und an die Dreikaiserschlacht bei Austerlitz ein Jahr zuvor ein Fest anberaumt, das mit Glockengeläut, Kanonenschüssen, feierlichem Einzug in die Kirche, Te Deum und Illuminationen am Abend21 erstmals den gesamten Rahmen solcher Anlässe absteckte. Der Enthusiasmus, mit dem solche Festgelegenheiten innerhalb der Bevölkerung erwartet und mitgestaltet wurden, zeigt sich in der Planung einer „Fête“ zu Ehren des Gouverneurs Gobert, die von den Honoratioren der Region Anfang 1807 in Minden  

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J ulius Normann, Herforder Chronik. Sagen und Geschichtsbilder aus der Vergangenheit von Stift und Stadt, Herford 1910, S. 487-521, hier S. 489f.; Schmidt, Minden-Ravensberg, S. 4. Koch, Sammlung 3, 1925, Nr. 1. Napoleon ließ das Te Deum, das in der Revolution seine Bedeutung verloren hatte, als Staatsmusik wieder aufleben und gab zu seiner Krönung eine neue Komposition in Auftrag. Abgeleitet von der napoleonischen Verfahrensweise setzte auch sein Bruder Jérôme die Verwendung des Hymnus bei allen festlichen Gelegenheiten ein. Zur Entwicklung des Gesangs siehe Sabine Zǎk, Das Te Deum als Huldigungsgesang, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 102 (1982), S. 1-32. Koch, Sammlung 3, 1925, Nr. 1.

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