Pessimisten küßt man nicht

July 29, 2016 | Author: Hansi Adolph Weiner | Category: N/A
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Martin E. P. Seligman

Pessimisten küßt man nicht Optimismus kann man lernen  Aus dem Amerikanischen von Christa Broermann. © der deutschen Ausgabe bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 1991 ISBN 3-426-26445-5 Titel der Originalausgabe: LEARND OPTIMISM bei Knopf, New York © 1990 bei Martin E. P. Seligman

 Ich widme dieses Buch meiner neugeborenen Tochter Lara Catrina Seligman voll Optimismus für unsere Zukunft.



Inhaltsverzeichnis Teil 1: Die Suche 1

2 3

Zwei Lebenseinstellungen ...................................................................................................... 5 1.1 Niemandsland .................................................................................................................. 7 1.2 Depression ...................................................................................................................... 10 1.3 Leistung .......................................................................................................................... 12 1.4 Gesundheit ..................................................................................................................... 13 Wie man Hilflosigkeit erlernt ............................................................................................. 16 2.1 Verletzlichkeit und Unverletzlichkeit .................................................................... 22 Erklärungen für Unglück .................................................................................................... 24 3.1 Testen Sie Ihren Optimismus ................................................................................... 25 3.2 Erklärungsmuster ......................................................................................................... 29 3.3 Wer gibt nie auf? .......................................................................................................... 32 3.3.1 Dauerhaftigkeit ..................................................................................................... 32 3.3.2 Geltungsbereich: spezifisch versus global ....................................................... 33

3.4

Der Stoff, aus dem die Hoffnung ist ....................................................................... 35 3.4.1 Personalisierung: internal versus external ........................................................ 36

3.5 3.6 4 5

Warnung ......................................................................................................................... 38 Was ist, wenn Sie ein Pessimist sind? ................................................................... 39

Der Pessimismus und seine Folgen ................................................................................... 4.1 Testen Sie Ihre Depression ........................................................................................ Wie Sie denken, wie Sie fühlen .......................................................................................... 5.1 Erlernte Hilflosigkeit und Erklärungsmuster ....................................................... 5.2 Verursacht Pessimismus Depression? .................................................................... 5.3 Erklärungsmuster und kognitive Therapie ............................................................ 5.4 Grübeln und Depression ............................................................................................ 5.5 Die andere Seite der Epidemie: Frauen versus Männer .................................... 5.6 Ist Depression heilbar? ............................................................................................... 5.7 Kognitive Therapie und Depression ....................................................................... 5.8 Warum wirkt kognitive Therapie? ..........................................................................

40 43 50 53 53 55 57 58 61 62 64

Teil 2: Lebensbereiche 6

7

Erfolg im Beruf ........................................................................................................................ 6.1 Die Erklärungsmuster des Erfolgs .......................................................................... 6.2 Begabungstests ............................................................................................................. 6.3 Die Erklärungsmuster bei der Metropolitan Life werden getestet ................. 6.4 Die Untersuchung der Sondergruppe ..................................................................... 6.5 Kann man Pessimisten in Optimisten verwandeln? ........................................... 6.6 Wozu kann Pessimismus gut sein? ......................................................................... 6.7 Die Bilanz: Optimismus versus Pessimismus ...................................................... Eltern und Kinder: Die Ursprünge des Optimismus ................................................ 7.1 Testen Sie den Optimismus Ihres Kindes ............................................................. 7.1.1 Fragebogen zum Attributionsstil von Kindern ................................................ 7.1.2 Testschlüssel .........................................................................................................

7.2

Warum Kinder nicht hoffnungslos sein können ................................................. 7.2.1 Erklärungsmuster der Mutter ............................................................................. 7.2.2 Die Kritik der Erwachsenen: Eltern und Lehrer .............................................. 7.2.3 Lebenskrisen bei Kindern ...................................................................................

2

65 66 68 69 71 72 73 77 80 80 81 84 86 87 89 90

8

Die Schule ................................................................................................................................... 8.1 Das Klassenzimmer ..................................................................................................... 8.2 Testen Sie, wie depressiv Ihr Kind ist ................................................................... 8.3 Die Princeton-Pennsylvania-Langzeitstudie ........................................................

94 94 95 97 8.3.1 Erklärungsmuster ................................................................................................. 98 8.3.2 Negative äußere Ereignisse ................................................................................ 99 Scheidung und elterlicher Streit ............................................................................. 100 Mädchen versus Jungen ........................................................................................... 103 College .......................................................................................................................... 103 Traditionelle Weisheit über den Schulerfolg ..................................................... 105

8.4 8.5 8.6 8.7 9 Sport .............. ............................................................................................................................. 9.1 Die National League ................................................................................................. 9.2 Die Mets im Jahre 1985 und die Cardinals im Jahre 1986 ............................ 9.3 Die Schwimmer der University von Berkeley ................................................... 9.4 Was jeder Trainer wissen sollte ............................................................................. 10 Gesundheit ............................................................................................................................... 10.1 Das Problem von Geist und Körper ...................................................................... 10.2 Optimismus und gute Gesundheit ......................................................................... 10.3 Pessimismus, labile Gesundheit und Krebs ........................................................ 10.3.1 Das Immunsystem ...........................................................................................

10.4 Optimismus und gesundes Leben .......................................................................... 10.5 Die Männer der Grant-Studie ................................................................................. 10.6 Erneute Betrachtung des Problems von Geist und Körper ............................ 10.7 Psychologische Prävention und Therapie ........................................................... 11 Politik, Religion und Kultur: Eine neue »Psychogeschichte« ............................. 11.1 Die amerikanischen Präsidentschaftswahlen: 1948 – 1984 ........................... 11.2 1900 – 1948 ................................................................................................................. 11.3 Die Wahl von 1988 .................................................................................................... 11.4 Die Präsidentschaftsvorwahlen im Jahre 1988 .................................................. 11.5 Die Präsidentschaftswahlen im Jahre 1988 ........................................................ 11.6 Die Senatswahlen im Jahre 1988 ........................................................................... 11.7 Erklärungsmuster über die Grenzen hinaus ........................................................ 11.8 Religion und Optimismus ........................................................................................ 11.9 Noch einmal »Psychogeschichte« .........................................................................

106 106 108 110 112 113 116 117 118 120 121 122 124 124 126 127 130 131 131 132 133 133 136 138

Teil 3: Veränderung: Vom Pessimismus zum Optimismus 12 Das optimistische Leben ..................................................................................................... 12.1 Richtlinien für den Gebrauch des Optimismus ................................................. 12.2 Das ABC der Reaktionen ........................................................................................ 12.3 Die Identifizierung von ABC-Ketten ................................................................... 12.4 Ihre ABC-Liste ........................................................................................................... 12.5 Disput und Ablenkung .............................................................................................. 12.5.1 Ablenkung ........................................................................................................ 12.5.2 Disput ................................................................................................................ 12.5.3 Distanzierung ...................................................................................................

12.6

Lernen, mit sich selbst zu disputieren .................................................................. 12.6.1 12.6.2 12.6.3 12.6.4 12.6.5

12.7 12.8

Beweise ............................................................................................................. Alternativen ...................................................................................................... Implikationen ................................................................................................... Nutzen ............................................................................................................... Ihre Disput-Liste ..............................................................................................

Die Externalisierung der Stimmen ........................................................................ Zusammenfassung .....................................................................................................

3

139 140 141 143 144 146 147 148 149 149 150 150 151 151 152 155 158

13 Wie Sie Ihrem Kind helfen können, dem Pessimismus zu entgehen ................ 13.1 ABC-Folgen für Ihr Kind ........................................................................................ 13.2 Die ABC-Liste Ihres Kindes ................................................................................... 13.3 ABCDE für Ihr Kind ................................................................................................. 13.4 Die ABCDE-Liste Ihres Kindes ............................................................................ 13.5 Die Externalisierung der Stimmen für Ihr Kind ................................................ 14 Das optimistische Unternehmen ...................................................................................... 14.1 Die drei Vorteile des Optimismus ......................................................................... 14.2 Optimismus lernen ..................................................................................................... 14.3 Ihr innerer Dialog bei der Arbeit: Das ABCDE-Modell ................................ 14.4 ABC ............................................................................................................................... 14.5 Die Identifizierung von ABC-Ketten ................................................................... 14.6 ABCDE ......................................................................................................................... 14.7 Wie Sie Ihre Überzeugungen disputieren können ............................................ 14.8 Stabhochsprung über die Mauer ............................................................................ 14.9 Disput ............................................................................................................................ 14.9.1 14.9.2 14.9.3 14.9.4

Telefonwerbung ............................................................................................... Unterricht .......................................................................................................... Krankenpflege .................................................................................................. Manager ............................................................................................................

14.10 Die Externalisierung der Stimmen ........................................................................ 14.10.1 14.10.2 14.10.3 14.10.4

Beweise ........................................................................................................... Alternativen .................................................................................................... Implikationen ................................................................................................. Nutzen .............................................................................................................

159 160 162 163 165 167 172 174 175 176 176 177 178 178 179 182 182 184 184 184 186 187 187 187 187 188 190

14.11 Wie Sie Ihre Sorgen aus Ihrem Kopf vertreiben können ............................... 14.12 Zusammenfassung ..................................................................................................... 15 Flexibler Optimismus .......................................................................................................... 191 15.1 Rückblick auf die Depression ................................................................................. 191 15.1.1 Der Bedeutungszuwachs des Selbst .............................................................. 191 15.1.2 Das Schwinden des Gemeinsinns .................................................................. 193

15.2

Neugewichtung der Werte ....................................................................................... 194 15.2.1 Die Grenzen des Individualismus .................................................................. 195

15.3

Die Stärken des maximalen Selbst ........................................................................ 195 15.3.1 Moralisches Jogging ........................................................................................ 195 15.3.2 Erlernter Optimismus ...................................................................................... 198 15.3.3 Flexibler Optimismus ...................................................................................... 198

Danksagung ........................................................................................................................................ 200 Anmerkungen .................................................................................................................................... 202

4

Teil Eins: Die Suche 1 Zwei Lebenseinstellungen Der Vater steht vor dem Kinderbettehen. Stolz und dankbar betrachtet er seine neugeborene Tochter, die gerade aus der Klinik nach Hause gekommen ist. Das Baby öffnet die Augen und schaut nach oben. Der Vater ruft den Namen seiner Tochter und erwartet, daß sie den Kopf drehen und ihn anblicken wird. Aber ihre Augen bewegen sich nicht. Nun schüttelt der Vater ein kleines Pelztier, das an dem Baldachin über dem Bettchen hängt. Das Glöckchen in dem Pelztier klingelt. Die Augen des Babys bewegen sich nicht. Er schnippt mit den Fingern. Noch immer keine Reaktion. Er klatscht in die Hände. Nichts. Sein Herz beginnt heftig zu klopfen. Er eilt ins Schlafzimmer und sagt zu seiner Frau: »Sie reagiert überhaupt nicht auf Geräusche. Vielleicht kann sie gar nichts hören.« »Es ist bestimmt alles in Ordnung«, sagt die Frau. Die Eltern kehren ins Kinderzimmer zurück. Die Mutter ruft den Namen des Kindes, bimmelt mit dem Glöckchen und klatscht in die Hände. Dann nimmt sie das Baby auf den Arm. Sofort wird es lebendig, strampelt und gibt glucksende Laute von sich. »Mein Gott«, sagt der Vater. »Sie ist taub.« »Nein«, widerspricht die Mutter. »Es ist viel zu früh, um so etwas festzustellen. Sie ist ja gerade erst auf die Welt gekommen. Sie kann noch nicht einmal richtig sehen.« »Aber sie rührt sich nicht, wenn man ganz laut in die Hände klatscht.« Die Mutter nimmt ein Buch vom Regal. »Mal sehen, was darüber in dem Babybuch steht«, sagt sie und schlägt den Begriff Hören auf: »Erschrecken Sie nicht, wenn Ihr Neugeborenes bei lauten Geräuschen nicht zusammenzuckt oder sich Geräuschquellen nicht zuwendet. Beide Reaktionen entwickeln sich oft erst später. Ihr Kinderarzt kann ein Audiogramm erstellen, um das Gehör Ihres Kindes zu prüfen.« »Na also«, sagt die Mutter. »Ist dir jetzt wohler?« »Eigentlich nicht«, sagt der Vater. »Die zweite Möglichkeit wird nicht einmal erwähnt: daß das Baby taub sein könnte. Ich weiß nur, daß unser Baby keinen Ton hört. Das macht mir schreckliche Angst. Vielleicht, weil mein Großvater taub war. Wenn dieses wunderbare Kind taub ist, bin ich schuld daran. Das würde ich mir nie verzeihen.« »Mach dir doch nicht gleich solche Sorgen«, sagt die Frau. »Montag früh rufen wir den Kinderarzt an. Hier, halte mal deine Tochter, damit ich die Decke feststecken kann.« Der Vater nimmt das Kind, gibt es aber so schnell wie möglich seiner Frau zurück. Das ganze Wochenende über bringt er es nicht fertig, seine Aktentasche aufzumachen und sich auf die wichtige Steuerprüfung vorzubereiten, die am Montag beginnt. Unablässig grübelt er über die Taubheit des Kindes und deren Folgen nach. Er stellt sich nur das Schlimmste vor: kein Gehör, keine Sprachentwicklung, sein prächtiges Kind aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, in tonloser Isolation eingesperrt. Am Sonntagabend ist er bereits völlig verzweifelt. Die Mutter ruft beim Kinderarzt an und spricht eine Nachricht auf den Anrufbeantworter. Sie bittet um einen Termin am Montagmorgen. Das Wochenende verbringt sie mit Gymnastik und Lesen und versucht, ihren Mann so gut wie möglich zu beruhigen. Der Kinderarzt kann nichts Ungewöhnliches finden, doch der Vater bleibt niedergeschlagen. Eine Woche später zuckt das Kind zum erstenmal zusammen, als ein Lastwa-

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gen vorbeidröhnt. Erst von diesem Zeitpunkt an erholt sich der Vater allmählich und beginnt, sich wieder über seine Tochter zu freuen.

 Diese Eltern betrachten die Welt auf unterschiedliche Weise. Wann immer der Vater mit unangenehmen Dingen zu tun hat – mit einer Steuerprüfung, einem Ehestreit oder auch nur einem Stirnrunzeln seines Chefs –, malt er sich die schrecklichsten Folgen aus: Bankrott und Gefängnis, Scheidung und Entlassung. Er ist anfällig für Depressionen, hat lange Phasen von Lustlosigkeit und ist gesundheitlich labil. Die Mutter dagegen läßt sich von unerfreulichen Dingen möglichst wenig bedrohen. Sie hält sie für vorübergehend und überwindbar, für Herausforderungen an die eigenen Kräfte. Hat sie eine Niederlage erlitten, erholt sie sich rasch und gewinnt ihre Energie bald zurück. Sie ist kerngesund.

 Seit fünfundzwanzig Jahren untersuche ich Optimisten und Pessimisten. Pessimisten sind überzeugt, daß alles Unerfreuliche lange anhält, ihnen die Lebensfreude raubt und ihr eigener Fehler ist. Den Optimisten setzt das Leben mit ebenso harten Schlägen zu; doch sie denken über ihre Mißgeschicke ganz anders. Sie halten Niederlagen für vorübergehend, betrachten sie lediglich als Rückschläge, die nur auf diesen einen Fall beschränkt bleiben. Sie schreiben sich ihr Unglück nicht selbst zu: die Umstände, eine Pechsträhne oder andere Leute haben es herbeigeführt. Solche Menschen lassen sich durch Niederlagen nicht unterkriegen. Eine schwierige Situation betrachten sie als Herausforderung und strengen sich besonders an. Diese unterschiedlichen Denkgewohnheiten haben Konsequenzen. In Hunderten von Untersuchungen wurde nachgewiesen, daß Pessimisten leichter aufgeben und häufiger depressiv werden. Durch Experimente ließ sich zeigen, daß Optimisten in der Schule und an der Universität, bei der Arbeit und auf dem Spielfeld besser abschneiden. Werden ihre Fähigkeiten getestet, übertreffen Optimisten gewöhnlich die Vorhersagen. Wenn sie sich um ein Amt bewerben, haben sie bessere Chancen, gewählt zu werden. Ihre Gesundheit ist ungewöhnlich gut. Sie altern auf gesunde Weise und leiden weniger an den üblichen körperlichen Beschwerden der späteren Jahre. Viele leben auch länger. Tests an Hunderttausenden von Menschen zeigten immer wieder, daß ein überraschend großer Anteil als eingefleischte Pessimisten bezeichnet werden muß. Ein weiterer großer Teil weist eine starke Neigung zum Pessimismus auf. Ich bin überzeugt, daß man selbst nicht immer erkennen kann, ob man ein Pessimist ist, und daß viele Menschen dem Pessimismus näherstehen, als ihnen bewußt ist. Durch Tests der Sprechweise können Spuren von Pessimismus bei Personen entdeckt werden, die sich selbst nie als Pessimisten bezeichnen würden. Diese Tests machen auch deutlich, daß andere diese Spuren bemerken und negativ auf die Sprecher reagieren. Eine pessimistische Haltung kann so tief verwurzelt sein, daß sie unauslöschlich erscheint. Ich habe jedoch festgestellt, daß man dem Pessimismus entrinnen kann. Pessimisten können lernen, Optimisten zu werden. Dies gelingt zwar nicht durch hirnlose Slogans wie »Pfeife ein fröhliches Lied« oder durch die Wiederholung von Platitüden wie »Es geht mir jeden Tag in jeder Hinsicht besser«. Vielmehr muß man eine Reihe von neuen kognitiven Fähigkeiten erlernen. Diese Fähigkeiten wurden nicht von Pseudowissenschaftlern oder von den Massenmedien erfunden, sondern wurden in den Labors und Kliniken führender Psychologen und Psychiater entwickelt und dann unter strengen Maßstäben auf ihre Gültigkeit überprüft. Dieses Buch wird Ihnen helfen, pessimistische Tendenzen, sofern sie vorhanden sind, bei Ihnen selbst und auch bei Ihnen nahestehenden Menschen zu erkennen. Das Buch 6

wird Sie auch mit den Techniken bekanntmachen, die schon Tausenden von Menschen geholfen haben, lebenslange pessimistische Gewohnheiten abzulegen und Depressionen zu überwinden. Es eröffnet Ihnen die Möglichkeit, Rückschläge in Ihrem Leben in einem neuen Licht zu betrachten.

1.1

Niemandsland

Den Kern des Pessimismus bildet das Phänomen der Hilflosigkeit. Von Hilflosigkeit spricht man, wenn sich die Handlungen eines Menschen in keiner Weise auf seine Lebensumstände auswirken. Wenn ich Ihnen beispielsweise tausend Dollar dafür verspreche, daß Sie jetzt sofort bis Seite 104 vorblättern, dann werden Sie dies wahrscheinlich tun, und zwar mit Erfolg. Wenn ich Ihnen jedoch tausend Dollar dafür verspreche, daß Sie Ihre Pupille verengen, werden Sie sich vielleicht dafür entscheiden, aber Ihre Entscheidung wird folgenlos bleiben. Sie können es nicht tun, weil es nicht in Ihrer Macht steht. Das Umblättern von Buchseiten unterliegt Ihrer willentlichen Kontrolle, aber die Muskeln, die die Größe Ihrer Pupillen verändern, unterliegen ihr nicht. Das Leben beginnt in völliger Hilflosigkeit. Das neugeborene Kind kann sich nicht selbst helfen, denn es wird fast vollständig von Reflexen gesteuert. Wenn es schreit, kommt seine Mutter. Das heißt aber nicht, daß das Baby das Verhalten seiner Mutter kontrolliert. Sein Schreien ist nur ein Reflex auf Schmerz und Unbehagen. Es kann nicht wählen, ob es schreien möchte oder nicht. Es gibt beim Neugeborenen nur eine einzige Muskelgruppe, die einigermaßen der Kontrolle des Willens gehorcht: die Saugmuskeln. In den letzten Lebensjahren sinken viele von uns in die Hilflosigkeit zurück. Möglicherweise können wir nicht mehr gehen, oder wir verlieren die Kontrolle über Darm- und Blasenfunktionen, die im zweiten Lebensjahr gewonnen wurde. Vielleicht müssen wir mühsam nach Wörtern suchen oder verlieren womöglich die Sprache und mitunter sogar die Fähigkeit, die eigenen Gedanken zu steuern. Zwischen dem Säuglingsalter und den letzten Lebensjahren findet ein langer Prozeß statt, in dessen Verlauf wir unsere Hilflosigkeit immer weiter ablegen und persönliche Kontrolle gewinnen. Unter persönlicher Kontrolle versteht man die Fähigkeit, Dinge durch willentliche Handlungen zu ändern. Sie ist also das Gegenteil von Hilflosigkeit. In den ersten drei oder vier Lebensmonaten gewinnt ein Neugeborenes willentliche Kontrolle über einige einfache Arm- und Beinbewegungen. Dann wird, zum Schrecken seiner Eltern, auch das Schreien durch den Willen steuerbar: Jetzt kann der Säugling brüllen, wann immer er seine Mutter herbeiholen will. Er nützt seine neue Macht so lange aus, bis sie keine Wirkung mehr zeigt. Das erste Lebensjahr endet mit einem doppelten Wunder: den ersten Worten und den ersten Schritten. Wenn alles gutgeht, wenn die zunehmenden geistigen und körperlichen Bedürfnisse wenigstens minimal befriedigt werden, nimmt in den kommenden Jahren die Hilflosigkeit weiter ab; die persönliche Kontrolle wächst. Viele Dinge im Leben entziehen sich unserer Kontrolle – unsere Augenfarbe, unsere Rasse, Trockenperioden oder Klimaveränderungen. Aber es gibt auch ein ausgedehntes Niemandsland, in dem wir durch unser Handeln Kontrolle ausüben können – oder sie anderen oder dem Schicksal überlassen. Dieses Handeln betrifft unsere Lebensweise, den Umgang mit anderen Menschen, unseren Beruf – also jene Aspekte unserer Existenz, in denen wir gewisse Wahlmöglichkeiten haben. Die Art, in der wir über diesen Bereich unseres Lebens denken, kann die Kontrolle, die wir über ihn haben, verringern oder steigern. Unsere Gedanken sind nicht einfach Reaktionen auf Ereignisse; sie beeinflussen auch das Geschehen. Wenn wir zum Beispiel denken, wir hätten keinen Einfluß darauf, was aus unseren Kindern wird, fühlen wir uns in diesem Bereich unseres Lebens gelähmt. Der bloße Gedanke: »Nichts, was ich tue, 7

ändert etwas« hindert uns am Handeln. Also überlassen wir die Kontrolle den Altersgenossen und den Lehrern unserer Kinder sowie den Umständen. Wenn wir uns auf diesem Feld für hilfloser halten, als wir tatsächlich sind, übernehmen andere Kräfte die Kontrolle und prägen die Zukunft unserer Kinder. Bei der Lektüre dieses Buches werden Sie sehen, daß in bestimmten Situationen auch ein gewisses Maß an Pessimismus durchaus sinnvoll sein kann. Aber nach fünfundzwanzigjähriger Forschungsarbeit auf diesem Gebiet bin ich überzeugt: Wenn wir wie die Pessimisten prinzipiell glauben, daß Unglück unsere eigene Schuld ist, daß es sich ständig wiederholen wird und all unsere Bemühungen zunichte macht, dann stößt uns auch wirklich mehr Unglück zu als bei einer positiveren Einstellung. Ich bin davon überzeugt, daß uns eine solche Weltsicht depressiv macht, daß wir hinter unseren eigenen Möglichkeiten zurückbleiben und daß wir sogar häufiger krank werden. Pessimistische Prophezeiungen erfüllen sich selbst. Ein anschauliches Beispiel dafür ist der Fall einer jungen Frau, die an einer Universität studierte, an der ich früher lehrte. Drei Jahre lang war sie von ihrem persönlichen Betreuer, einem Professor für englische Literatur, sehr gefördert worden. Ein Stipendium für ein Studienjahr in Oxford hatte sie nicht nur ihren guten Noten, sondern auch seiner Unterstützung zu verdanken. Während ihres Aufenthalts in England hatte sich jedoch ihr Interesse von Charles Dickens, dem Spezialgebiet ihres Betreuers, auf frühere englische Autoren verlagert, insbesondere auf Jane Austen. Diese Autorin des frühen 19. Jahrhunderts war jedoch das Spezialgebiet eines anderen Professors. Nach ihrer Rückkehr aus England empfahl ihr der Betreuer, ihre Prüfungsarbeit über Dickens zu schreiben, akzeptierte jedoch anscheinend ohne Groll ihren Entschluß, eine Arbeit über Jane Austen zu verfassen, und erklärte sich bereit, sie weiterhin zu beraten. Drei Tage vor ihrer mündlichen Prüfung beschuldigte der Professor in einem Brief an die Prüfungskommission die junge Frau eines Plagiats. In ihrer Prüfungsarbeit habe sie bei zwei Aussagen über Jane Austens Jugend nicht auf die wissenschaftlichen Quellen verwiesen und damit die Urheberschaft für sich selbst in Anspruch genommen. Diebstahl geistigen Eigentums ist die schwerste aller akademischen Sünden; die gesamte Zukunft der jungen Frau – ihre Zulassung zum Magisterstudiengang, selbst die anstehende Prüfung – war gefährdet. Als die Studentin die bemängelten Passagen überprüfte, mußte sie feststellen, daß sie beide Informationen von dem Professor selbst erhalten hatte. Er hatte sie ihr im Laufe einer zwanglosen Unterhaltung gegeben und als eigene Überlegungen zum Thema in das Gespräch einfließen lassen. Dabei hatte auch er die veröffentlichten Quellen nicht erwähnt, aus denen er seinerseits die Informationen gewonnen hatte. Die junge Frau hatte ihren Mentor durch ihren Themenwechsel gekränkt und war von ihm hereingelegt worden. Viele Menschen hätten den Professor direkt mit ihrer Wut konfrontiert. Elizabeth reagierte anders. Ihre pessimistischen Denkgewohnheiten traten in Aktion. Sie war sicher, daß die Prüfungskommission sie für schuldig halten würde. Und sie sah für sich keine Möglichkeit, das Gegenteil zu beweisen. Ihr Wort stünde gegen die Behauptung eines Professors. Statt sich zu verteidigen, brach sie innerlich zusammen und hielt ihre Sache für verloren. Es war alles ihr eigener Fehler. Welche Rolle spielte es jetzt noch, daß auch der Professor selbst die Ideen gestohlen hatte? Elizabeth glaubte, daß sie betrogen hatte und daß sie demzufolge eine Betrügerin war. Elizabeths Selbstvorwürfe mögen absurd erscheinen, da sie doch offensichtlich unschuldig war. Aber sorgfältige Untersuchungen zeigen, daß Menschen mit pessimistischen Denkgewohnheiten selbst einfache Mißgeschicke in Katastrophen verwandeln können. Auch wenn sie unschuldig sind, suchen sie nach Belegen für die eigene Schuld. Elizabeth grub Erinnerungen aus, die ihr hartes Selbsturteil zu rechtfertigen schienen. In 8

der siebten Klasse hatte sie einmal die Lösungen einer Klassenarbeit bei einem anderen Mädchen abgeschrieben. In England hatte sie den falschen Eindruck ihrer Freunde, sie käme aus einer reichen Familie, nicht korrigiert. Und jetzt hatte sie bei ihrer Prüfungsarbeit »betrogen«. In der mündlichen Prüfung stand sie schweigend vor der Prüfungskommission; der Hochschulabschluß wurde ihr verweigert. Diese Geschichte hat kein gutes Ende. Das Leben der jungen Frau war ruiniert, ihre Pläne waren gescheitert. Seit zehn Jahren sitzt sie an der Kasse eines Kaufhauses. Sie schreibt nicht mehr und hat das Interesse an der Literatur verloren. Sie bezahlt noch immer für ihr angebliches Vergehen, das sie als schwere eigene Schuld ansieht. Doch von einem Vergehen konnte keine Rede sein. Es handelte sich lediglich um eine verbreitete menschliche Schwäche: um pessimistische Denkgewohnheiten. Hätte sie sich gesagt: »Ich bin hereingelegt worden. Dieser eifersüchtige Mensch gönnt mir den Erfolg nicht«, so hätte sie den Mut aufbringen können, sich zu verteidigen und die Ereignisse wahrheitsgemäß zu schildern. Elizabeth hätte ein sehr gutes Examen machen können, wenn sie über die Mißgeschicke in ihrem Leben anders gedacht hätte. Denkgewohnheiten sind nicht unveränderbar. Eine der bedeutsamsten Entdeckungen der Psychologie in den letzten zwanzig Jahren ist, daß Individuen selbst darüber entscheiden können, wie sie denken. Individuelle Denkweisen, das Handeln des einzelnen Menschen oder das Individuum an sich gehören nicht zu den traditionellen Untersuchungsgegenständen der Psychologie. Ganz im Gegenteil. Als ich vor fünfundzwanzig Jahren Psychologie studierte, lautete die Erklärung für komplizierte Situationen wie die oben geschilderte ganz anders als heute. Damals glaubte man, die Menschen seien das Produkt ihrer Umwelt. Die vorherrschende Erklärung für menschliches Handeln war, daß die Menschen von ihren inneren Trieben »geschoben« oder von äußeren Ereignissen »gezogen« würden. Zwar hingen die Einzelheiten des Ziehens und Schiebens von der jeweiligen Theorie ab, deren Anhänger man geworden war, doch in ihren Grundaussagen stimmten alle damals aktuellen Theorien überein. Die Freudianer waren überzeugt, daß ungelöste Konflikte der Kindheit das Verhalten des Erwachsenen steuern. Die Anhänger B. F. Skinners meinten, daß sich Verhaltensweisen nur dann wiederholen, wenn sie von außen verstärkt werden. Die Ethologen glaubten, daß das Verhalten durch feste Handlungsmuster gesteuert wird, die von unseren Genen bestimmt werden. Die behavioristischen Anhänger von Clark Hull schließlich meinten, daß uns die Notwendigkeit, den Druck der Triebe zu vermindern und biologische Bedürfnisse zu befriedigen, zum Handeln treibt. Um die Mitte der sechziger Jahre begannen sich die vorherrschenden Theorien zur Erklärung menschlichen Handelns grundlegend zu verändern. Der Umwelt wurde immer weniger eine ursächliche Bedeutung beigemessen. Vier verschiedene Denkansätze führten zu der Auffassung, daß menschliches Handeln eher durch Selbststeuerung als durch äußere Kräfte erklärt werden könne. ¾

Im Jahre 1959 verfaßte Noam Chomsky seine vernichtende Kritik über B. F. Skinners einflußreiches Buch VERBAL BEHAVIOR.1 Chomsky behauptete, daß menschliches Handeln im allgemeinen und Sprechen im besonderen nicht das Ergebnis einer Verstärkung vergangener Sprachmuster sei. Das Wesen der Sprache sei vielmehr generativ: Sätze, die noch nie zuvor gesagt oder gehört worden seien (wie »Ein purpurrotes Gilamonster sitzt auf deinem Schoß«), könnten trotzdem sofort verstanden werden.

¾

Jean Piaget, der große Schweizer Erforscher kindlicher Entwicklung, überzeugte die Welt davon – die Amerikaner zuletzt –, daß man die geistige Entfaltung des Kindes wissenschaftlich untersuchen kann.

9

¾

Seit 1967 befruchtete die kognitive Psychologie, in der Ulric Neisser führend war, die Phantasie der jungen experimentellen Psychologen, die den Dogmen des Behaviorismus zu entrinnen suchten. Die kognitive Psychologie besagte, daß die Tätigkeit des menschlichen Geistes gemessen und das Ergebnis dieser Tätigkeit untersucht werden könne. Als Modell dafür ließen sich die Informationsverarbeitungsprozesse des Computers benützen.

¾

Die behavioristischen Psychologen stellten fest, daß Triebe und Bedürfnisse zur Erklärung menschlichen und tierischen Verhaltens nicht ausreichten. Sie begannen, nunmehr auch die kognitiven Funktionen – das Denken – des Individuums zur Erklärung komplexer Verhaltensweisen heranzuziehen.

In der Folge dieser Prozesse setzten sich Ende der sechziger Jahre in der Psychologie neue Theorien durch. Statt der Einflüsse der Umwelt wurden nun Faktoren wie individuelle Erwartungshaltung, Vorliebe, Wahl, Entscheidung, Kontrolle und Hilflosigkeit betont. Dieser tiefgreifende Wandel auf dem Gebiet der Psychologie ist eng verknüpft mit einer fundamentalen Veränderung unserer Psyche. Zum ersten Mal in der Geschichte haben zahlreiche Menschen ein erhebliches Maß an Wahlfreiheit und damit an persönlicher Kontrolle über ihr Leben gewonnen. Die Ursachen dafür sind im technischen Fortschritt, in der Massenproduktion und -verteilung von Gütern sowie in zahlreichen anderen Gründen zu sehen. Diese Wahlmöglichkeiten betreffen nicht zuletzt unsere Denkgewohnheiten. Im allgemeinen werden die neuen Kontrollmöglichkeiten gutgeheißen. Wir leben in einer modernen Gesellschaft, die jedem ihrer Mitglieder Rechte zugesteht, die das Individuum noch nie zuvor besaß. Diese Gesellschaft nimmt die Freuden und Leiden des Individuums sehr ernst. Sie räumt dem Selbst einen hohen Stellenwert ein und betrachtet die Selbstverwirklichung ihrer einzelnen Mitglieder als legitimes Ziel, als ein nahezu heiliges Recht.

1.2

Depression

Die neuen Freiheiten brachten Gefahren mit sich.2 Denn das Zeitalter des Selbst ist auch das Zeitalter jenes Phänomens, das sehr eng mit dem Pessimismus verbunden ist – der Depression. Sie ist die extremste Form des Pessimismus. Wir befinden uns mitten in einer Depressions-Epidemie. Da die Depression häufig zum Selbstmord führt, ist sie nicht weniger tödlich als AIDS – und sie ist weiter verbreitet. Schwere Depression tritt heute zehnmal häufiger auf als vor fünfzig Jahren. Frauen leiden daran doppelt so häufig wie Männer. Außerdem setzt diese Krankheit heute ein volles Jahrzehnt früher im Lebensverlauf ein als noch vor einer Generation. Bis vor kurzem gab es nur zwei anerkannte Erklärungsansätze für Depression: den psychoanalytischen und den biomedizinischen Ansatz. Der psychoanalytische Ansatz beruht auf Überlegungen, die Sigmund Freud vor achtzig Jahren formulierte3 und die weniger auf der Beobachtung als vielmehr auf einen sehr großzügigen Gebrauch der Phantasie zurückgingen. Freud behauptete, Depression sei gegen das eigene Selbst gerichtete Aggression. Der Depressive verachte sich, halte sich für wertlos und wolle sich töten. Er lerne schon auf dem Schoß seiner Mutter, sich zu hassen. Nach Freud wird das Kind irgendwann in seiner frühen Kindheit von seiner Mutter verlassen – zumindest empfindet das Kind es so –, wenn sie beispielsweise in die Ferien fährt, abends zu lange ausbleibt oder ein weiteres Kind bekommt. Bei manchen Kindern ruft das Zorn hervor. Da sie aber die Mutter zu sehr lieben, um sie zur Zielscheibe ihres Zorns zu machen, wenden sie ihn gegen ein besser angreifbares Ziel – gegen sich selbst. Genauer gesagt, richtet das Kind seinen Zorn gegen den Teil seiner Person, der sich mit der Mutter identifiziert. Schließlich entwickelt sich daraus eine destruktive Gewohnheit. Wann immer 10

das Kind jetzt einen weiteren Verlust erleidet, wütet es gegen sich selbst und nicht gegen den wirklichen Verursacher des Verlustes. Selbsthaß und Depression als Reaktionsformen auf einen Verlust, ja sogar Selbstmord sind nach dieser Annahme die möglichen Folgen. Nach Freud kann man Depressionen nicht einfach ablegen. Eine Depression ist das Ergebnis von ungelöst gebliebenen Kindheitskonflikten, vor denen sich eine Abwehrmauer befindet. Nur wenn es gelingt, diese Mauer zu durchbrechen, können die alten Konflikte gelöst und die depressive Neigung abgeschwächt werden. Freuds Rezept gegen Depressionen lautet, sich einer langwierigen Psychoanalyse zu unterziehen – also dem von einem Therapeuten geleiteten Ringen um Einsicht in die Kindheitskonflikte, die daran schuld sind, daß wir unseren Zorn gegen uns selbst richten. Diese Auffassung ist zwar weit verbreitet, aber ich halte sie dennoch für absurd. Das Opfer wird gezwungen, jahrelang über seine verschwommene, ferne Vergangenheit zu reden, um ein Problem zu lösen, das sich normalerweise innerhalb einiger Monate von selbst lösen würde. Depressionen verlaufen in über neunzig Prozent aller Fälle in Schüben – die Schübe kommen und gehen; sie dauern zwischen drei und zwölf Monaten. Obwohl Tausende von Patienten an Hunderttausenden von Sitzungen teilnahmen, konnte bislang nicht nachgewiesen werden, daß die psychoanalytische Therapie bei Depressionen hilft. Schlimmer noch: Diese Therapieform schiebt dem Depressiven die Schuld zu – er beschwöre aufgrund seiner charakterlichen Schwächen die Depression herauf. Er wolle deprimiert sein; sein Trieb zur Selbstbestrafung bringe ihn dazu, endlose Tage im Elend zu leben und sich womöglich selbst zu vernichten. Die Biomedizin bietet eine andere, akzeptablere Sicht der Depression.4 Nach Auffassung biomedizinischer Psychiater ist eine Depression eine Erkrankung des Körpers. Sie ist auf einen ererbten biochemischen Defekt zurückzuführen, der vielleicht irgendwo in Chromosom Nummer elf auftritt und das Gleichgewicht in der Gehirnchemie stört. Biomedizinische Psychiater behandeln Depressionen mit Drogen oder Elektroschocks. Das sind schnelle, billige und für eine gewisse Zeit wirksame Mittel. Im Gegensatz zur psychoanalytischen Sichtweise ist die biomedizinische Erklärung teilweise korrekt. Es gibt Depressionen, die sich offenbar auf schwache Gehirnfunktionen zurückführen lassen; in einem gewissen Maße sind sie vererbbar. Auf viele Depressionen wirken Antidepressiva schleppend und Elektroschocks schnell. Aber diese Siege sind nur Teilsiege und von zweifelhaftem Nutzen. Antidepressiva und starker Strom, der durch das Gehirn geleitet wird, können unerwünschte Nebenwirkungen haben, die viele depressive Menschen nicht vertragen. Außerdem verallgemeinert die biomedizinische Auffassung von der kleinen Anzahl hartnäckiger, ererbter Depressionen, die normalerweise auf Medikamente ansprechen, auf die viel weiter verbreiteten Alltagsdepressionen, die das Leben so vieler Menschen beeinträchtigen. Von diesen Menschen haben nur wenige ihre Depression von den Eltern geerbt. Und es gibt auch keine Belege dafür, daß eine gewöhnliche Depression durch die Einnahme von Medikamenten gelindert werden kann. Der schlimmste Vorwurf lautet jedoch, daß der biomedizinische Ansatz weitgehend normale Menschen in Patienten verwandelt und sie von äußeren Mitteln abhängig macht – von Medikamenten, die ein wohlmeinender Arzt verschreibt. Antidepressiva machen im allgemeinen zwar nicht abhängig; der Patient entwickelt kein zwanghaftes Verlangen nach ihnen, wenn sie abgesetzt. werden. Aber wenn der erfolgreich behandelte Patient das Medikament nicht mehr einnimmt, tritt die Depression häufig wieder auf. Der medikamentös wirksam behandelte Patient kann sich den Erfolg nicht selbst zuschreiben; er hat sein Glück und sein jetzt halbwegs normales Leben nicht selbst erarbeitet, sondern verdankt alles den Pillen. Antidepressiva sind ein Beispiel für den exzessiven Ge11

brauch von Medikamenten in unserer Gesellschaft – wie auch Tranquilizer, die uns zum inneren Frieden verhelfen sollen, oder Halluzinogene, die uns wunderbare Erlebnisse bescheren. In all diesen Fällen werden emotionale Probleme, die man mit Hilfe seiner eigenen Fähigkeiten und Handlungen lösen könnte, zur Lösung an eine äußere Instanz überwiesen. Was aber, wenn die meisten Depressionen viel einfacher angelegt wären, als die biologisch orientierten Psychiater und die Psychoanalytiker uns glauben machen wollen? ¾

Vielleicht zieht man sich eine Depression nicht aus eigenem Verschulden zu, sondern wird einfach von ihr überfallen?

¾

Vielleicht ist die Depression keine Krankheit, sondern nur eine starke Niedergeschlagenheit?

¾

Vielleicht sind wir in unseren Reaktionsweisen nicht das Opfer früherer Konflikte, sondern unsere Depression wird tatsächlich durch gegenwärtige Schwierigkeiten ausgelöst?

¾

Vielleicht sind wir weder das Opfer unserer Gene noch unserer Hirn-Physiologie?

¾

Vielleicht entsteht die Depression aus falschen Folgerungen, die wir aus den Tragödien und Rückschlägen im Verlauf unseres Lebens ziehen?

¾

Vielleicht treten Depressionen nur dann auf, wenn wir pessimistische Überzeugungen über die Ursachen unserer Rückschläge hegen?

¾

Vielleicht können wir den Pessimismus verlernen und die Fähigkeiten erwerben, unsere Rückschläge optimistisch zu betrachten?

1.3 Leistung Die traditionelle Auffassung von Leistung ist wie die traditionelle Auffassung von Depression überholungsbedürftig. Unsere Arbeitsstätten und unsere Schulen arbeiten mit der konventionellen Annahme, daß Erfolg das Ergebnis einer Mischung von Begabung und Motivation ist. Fehlschläge sind entweder auf einen Mangel an Begabung oder auf fehlende Motivation zurückzuführen. Aber zu Fehlschlägen kann es auch dann kommen, wenn Begabung und Motivation im Überfluß vorhanden sind, der Optimismus jedoch fehlt. Vom Kindergarten an werden unsere Begabungen immer wieder getestet. Viele Eltern messen diesen Tests für die Zukunft ihrer Kinder so große Bedeutung bei, daß sie sie auf eigene Kosten auf die Tests vorbereiten lassen. Auf jeder Stufe des Lebens trennen diese Tests angeblich die Tüchtigen von den weniger Tüchtigen. Begabung scheint zwar einigermaßen meßbar, läßt sich wohl aber leider nur sehr schwer verstärken. Bei der Motivation ist das ganz anders. Wünsche können nur zu leicht geweckt werden. Predigern gelingt es in ein bis zwei Stunden, einen unstillbaren Wunsch nach Seelenrettung hervorzurufen. Geschickte Werbung entfacht in Sekunden Wünsche, die zuvor gar nicht existierten. Seminare können die Motivation steigern und die Beschäftigten mit Eifer und Begeisterung erfüllen. Aber das alles sind nur Strohfeuer. Das brennende Verlangen nach Seelenrettung wird ohne ständiges Fächeln wieder erlöschen, der Wunsch nach einem Produkt wird innerhalb von Minuten wieder vergessen oder durch einen neuen Wunsch verdrängt. Motivations-Seminare geben für ein paar Tage oder Wochen Auftrieb, doch dann braucht man weitere Anregungen. Was aber, wenn die traditionelle Auffassung von den Komponenten des Erfolgs falsch wäre?

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¾

Wenn es einen dritten Faktor gäbe, Optimismus oder Pessimismus, der ebensoviel Einfluß hat wie Begabung und Motivation?

¾

Wenn man über die erforderliche Begabung und Motivation verfügte und dennoch scheiterte, weil man Pessimist ist?

¾

Wenn Optimismus eine erlernbare Fähigkeit wäre, die sich auf Dauer erwerben ließe?

¾

Wenn wir unseren Kindern diese Fähigkeit beibringen könnten?

1.4 Gesundheit Die traditionelle Auffassung von der Gesundheit stellt sich bei näherer Betrachtung als ebenso falsch heraus wie die traditionelle Auffassung von der Begabung. Optimismus und Pessimismus wirken sich direkt auf die Gesundheit aus, beinahe ebenso deutlich wie physische Faktoren. Die meisten Menschen glauben, daß körperliche Gesundheit eine rein körperliche Angelegenheit sei, die von der Konstitution, den Lebensgewohnheiten und der Vermeidung von Ansteckung abhängt. Sie glauben, daß die Konstitution eines Menschen hauptsächlich von genetischen Faktoren bestimmt wird. Fördern könne man die Gesundheit durch die richtigen Eßgewohnheiten, viel Bewegung, das Vermeiden schädlichen Cholesterins, regelmäßige Untersuchungen und das Tragen von Sicherheitsgurten. Gegen Bazillen könne man sich durch Impfung und strenge Hygiene schützen, ferner durch »safer Sex«, Abstand von Leuten mit Erkältungen, regelmäßiges Zähneputzen dreimal am Tag usw. Wenn jemand krank wird, muß er demnach eine schwache Konstitution besitzen, schlechte Lebensgewohnheiten pflegen oder zu viele Bazillen abbekommen haben. Diese konventionelle Ansicht läßt einen für die Gesundheit sehr wichtigen Faktor außer acht – unsere eigene Kognition. Wir können auf unsere körperliche Gesundheit mehr Einfluß nehmen, als die meisten Menschen vermuten. Denn: ¾

Wie wir über Dinge und Ereignisse denken, besonders über unsere Gesundheit, wirkt sich auf unsere Gesundheit aus.

¾

Optimisten werden seltener von ansteckenden Krankheiten befallen als Pessimisten.

¾

Optimisten haben nachweislich bessere Lebensgewohnheiten als Pessimisten.

¾

Unser Immunsystem arbeitet besser, wenn wir optimistisch sind.

¾

Optimisten leben möglicherweise länger als Pessimisten.

Depression, Leistung und körperliche Gesundheit sind drei Bereiche, in denen sich erlernter Optimismus besonders deutlich auswirkt. Darin liegt auch das Potential für ein ganz neues Selbstverständnis. Nach der Lektüre dieses Buches werden Sie erkennen, wie pessimistisch oder optimistisch Sie sind. Sie werden auch den Optimismus Ihres Ehepartners und Ihrer Kinder abschätzen können. Sie werden sogar messen können, wie optimistisch Sie früher waren. Sie werden viel mehr darüber wissen, warum Sie depressiv werden – vom einfachen Traurigsein bis hin zur abgrundtiefen Verzweiflung –, und Sie werden auch erkennen, was Ihre Depression am Leben erhält. Sie werden besser verstehen, warum Sie bei manchen Gelegenheiten versagt haben, obwohl Sie über genügend Begabung verfügen und Ihr Ziel unbedingt erreichen wollten. Sie werden sich Fähigkeiten angeeignet haben, mit denen Sie der Depression ein für allemal ein Ende setzen können. Es wird Ihnen möglich sein, diese Fähigkeiten im täglichen Leben anzuwenden, wenn Sie sie als nützlich befinden. Es gibt immer mehr Beweise dafür, daß diese Fähigkeiten auch Ihre 13

Gesundheit verbessern werden. Außerdem werden Sie sie mit Menschen teilen können, die Ihnen besonders nahestehen. Noch wichtiger aber ist, daß Sie auch Einsicht in die neue Wissenschaft von der persönlichen Kontrolle gewinnen werden. Erlernter Optimismus ist keine Wiederentdeckung der »Macht des positiven Denkens«. Die Fähigkeiten zum Optimismus beruhen nicht auf einer rosa gefärbten Weltsicht. Sie beschränken sich nicht darauf zu lernen, sich ständig positive Botschaften vorzusagen. Wir haben im Laufe der Jahre erkannt, daß die positiven Sätze, die man sich selbst vorsagt, wenig oder gar keine Wirkung haben. Entscheidend ist vielmehr, was man sich selbst sagt, wenn man scheitert. Dabei kommt es auf die Macht an, die das »Nicht-Negativ-Denken« hat: Die destruktiven Dinge, die man sich selbst angesichts von Fehlschlägen sagt, müssen verändert werden. Das ist die zentrale Fähigkeit, die zum Optimismus führt. Die meisten Psychologen arbeiten zeit ihres Lebens in traditionellen Bereichen wie Depression, Leistung, Gesundheit, politische Umstürze, Elternschaft, Geschäftsorganisation usf. Ich habe mich vor allem mit dem Versuch befaßt, eine neue Kategorie zu entwerfen, die sich von vielen der traditionellen Bereiche unterscheidet. Ich betrachte Ereignisse als Ausdrucksformen geglückter oder mißlungener persönlicher Kontrolle. So betrachtet, sieht die Welt anders aus. Nehmen wir eine Auswahl von Ereignissen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben: ¾

Depression und Selbstmord werden alltäglich;

¾

eine Gesellschaft erhebt das Bedürfnis nach persönlicher Erfüllung zu einem Recht;

¾

nicht die Schnellen gewinnen das Rennen, sondern Menschen mit Selbstvertrauen;

¾

Menschen leiden erschreckend früh im Leben an chronischen Krankheiten und sterben vorzeitig;

¾

intelligente, fürsorgliche Eltern ziehen labile, verwöhnte Kinder heran;

¾

eine Therapie heilt Depression allein dadurch, daß sie das bewußte Denken verändert.

Andere würden diese Mischung aus Erfolg und Mißerfolg, Leiden und Triumph als absurd und verwirrend ansehen; für mich jedoch bilden all diese Erscheinungen eine Einheit. Auch in dem vorliegenden Buch folge ich meiner Sichtweise. Wir beginnen mit der Theorie der persönlichen Kontrolle. Zunächst möchte ich Sie mit zwei Grundbegriffen bekanntmachen: Erlernte Hilflosigkeit und Erklärungsmuster. Sie hängen eng miteinander zusammen. Erlernte Hilflosigkeit ist die Reaktion des Aufgebens, des Resignierens. Sie wurzelt in dem Glauben, daß die Art Ihres Handelns keine Rolle spielt. Mit Erklärungsmuster bezeichne ich die Art und Weise, in der Sie sich selbst gewohnheitsmäßig erklären, warum solche Ereignisse eintreten. Diese Erklärungen sind das zentrale Steuerinstrument der erlernten Hilflosigkeit. Optimistische Erklärungsmuster heben die Hilflosigkeit auf, pessimistische Erklärungsmuster verstärken sie. Wie Sie sich selbst Ereignisse erklären, entscheidet darüber, wie hilflos Sie werden können und wieviel Energie Ihnen zur Verfügung steht, wenn Sie all die Mißhelligkeiten unseres Alltags oder schwerwiegende Niederlagen erleben. Nach meiner Auffassung sind unsere Erklärungsmuster Abbilder der Welt in unserem Innern.

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Jeder von uns trägt ein Wort in sich: ein Nein oder ein Ja.5 Sie werden wahrscheinlich nicht spontan angeben können, welches Wort Sie in sich tragen; es gibt jedoch Möglichkeiten, dies recht verläßlich herauszufinden. Bald werden Sie sich selbst testen und dabei Ihr eigenes Maß an Optimismus oder Pessimismus entdecken können. Optimismus hat in vielen Bereichen unseres Lebens einen hohen Stellenwert, doch keineswegs in allen. Er ist kein Allheilmittel. Aber er kann uns vor Depressionen schützen, unser Leistungsvermögen steigern, unser körperliches Wohlbefinden verbessern und ist überdies eine angenehmere seelische Grundhaltung. Aber auch der Pessimismus hat seinen angemessenen Platz; Sie werden später mehr über seine hilfreichen Aspekte erfahren. Wenn die Tests ergeben, daß Sie ein Pessimist sind, ist keineswegs alles verloren. Im Gegensatz zu vielen anderen Eigenschaften ist selbst tiefsitzender Pessimismus nicht unabänderlich. Durch das Erlernen bestimmter Fähigkeiten kann man sich von der Tyrannei des Pessimismus befreien. Diese Fähigkeiten ermöglichen uns die Entscheidung, Optimist zu werden. Die Fähigkeiten sind nicht leicht zu erlernen, aber man kann sie sich erarbeiten. Der erste Schritt besteht darin, daß man das Wort in seinem Innern entdeckt. Es ist kein Zufall, daß das auch der erste Schritt zu einem neuen Verständnis des menschlichen Bewußtseins ist, das sich im Laufe der letzten fünfundzwanzig Jahre entwickelt hat – das Verständnis dafür, wie das eigene Empfinden der persönlichen Kontrolle unser Schicksal bestimmt.

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2 Wie man Hilflosigkeit erlernt Im Alter von dreizehn Jahren erkannte ich: Wenn mich meine Eltern zu meinem besten Freund Jeffrey zum Übernachten schickten, bedeutete das, daß bei uns zu Hause etwas Schlimmes passierte. Beim letzten Mal hatte ich später herausgefunden, daß meiner Mutter in dieser Zeit die Gebärmutter entfernt worden war. Diesmal hatte ich das Gefühl, daß es um meinen Vater ging. Als er mich an jenem Abend durch die Straßen von Albany im Staate New York fuhr, sog er plötzlich scharf die Luft ein, fuhr an den Straßenrand und hielt an. Wir saßen eine Zeitlang schweigend da. Schließlich sagte er mir, er habe ein oder zwei Minuten lang keinerlei Gefühl mehr in seiner linken Körperhälfte gehabt. Ich hörte die Furcht in seiner Stimme und erschrak. Er war erst neunundvierzig Jahre alt und auf der Höhe seiner Kraft. Vor Jeffreys Haus verabschiedeten wir uns. Ich hatte Angst. In der Morgendämmerung wachte ich auf, von Panik erfüllt. Ich wußte, daß ich nach Hause zurückkehren mußte, daß dort etwas passierte. Ich stahl mich aus dem Haus und rannte die sechs Blocks bis nach Hause. Als ich ankam, wurde gerade eine Tragbahre die Treppe hinuntergetragen. Auf ihr lag mein Vater. Hinter einem Baum versteckt beobachtete ich, was geschah. Ich merkte, daß mein Vater versuchte, tapfer zu sein, hörte ihn aber klagen, daß er sich nicht bewegen könne. Er sah mich nicht und hat nie erfahren, daß ich seinen schlimmsten Augenblick miterlebt habe. Er erlitt drei Schlaganfälle hintereinander und blieb für immer gelähmt. Nach einiger Zeit durfte ich ihn im Krankenhaus besuchen. Als ich sein Zimmer betrat, spürte ich, daß seine Angst davor, daß ich ihn in diesem hilflosen Zustand sah, so groß war wie meine. Das war meine erste Begegnung mit dem Leiden, das die Hilflosigkeit verursacht. Bis mein Vater viele Jahre später starb, sah ich ihn immer nur in diesem Zustand. Das bestimmte die Richtung meiner eigenen Suche. Die Verzweiflung meines Vaters spornte mich an. Ein Jahr danach las ich zum ersten Mal ein Buch von Sigmund Freud. Ich war von der Lektüre so gefesselt, daß der Wunsch in mir erwachte, mich ähnlichen Fragen zu widmen wie Freud. Mehrere Jahre später ging ich nach Princeton. Ich war entschlossen, Psychologe oder Psychiater zu werden. Zunächst erwarb ich den Bachelor-Grad in Philosophie. Nach wie vor war ich davon überzeugt, daß Freud die richtigen Fragen gestellt hatte, aber seine Antworten leuchteten mir nicht mehr ein, und seine Methode, aus einigen wenigen Fällen weitreichende Verallgemeinerungen abzuleiten, erschien mir nicht vertretbar. Inzwischen glaubte ich, daß die Wissenschaft allein durch Experimente die Ursachen und Wirkungen aufdecken könne, die bei emotionalen Problemen wie Hilflosigkeit eine Rolle spielen. Erst dann könne sie lernen, Hilflosigkeit auch zu heilen. Ich schrieb mich für ein Graduiertenstudium in experimenteller Psychologie ein. Im Herbst 1964 betrat ich erstmals das Labor von Richard L. Solomon an der Universität von Pennsylvania. Bei ihm wollte ich unbedingt studieren, denn erstens war er ein großer, weltweit anerkannter Lerntheoretiker, und zweitens arbeitete er genau auf dem Gebiet, das mich interessierte: Er versuchte, durch Rückschlüsse aus streng kontrollierten Tierversuchen das Wesen seelischer Krankheiten zu ergründen. Solomons Labor war im ältesten und schmutzigsten Gebäude auf dem Campus der Universität untergebracht. Als ich die morsche Tür öffnete, entdeckte ich Solomon am anderen Ende des Raumes: groß und schlank, fast völlig kahl und von einer persönlichen 16

Aura intellektueller Intensität umgeben. Alle anderen im Labor waren furchtbar aufgeregt. Ein freundlicher, älterer Student namens Bruce Overmier erklärte mir, was los war. »Die Hunde rühren sich nicht mehr«, sagte er.6 »Irgend etwas stimmt nicht mit ihnen. Niemand kann mit seinen Versuchen weitermachen.« Er berichtete, daß die Hunde mehrere Wochen lang für sogenannte Transferexperimente Pawlowsche Konditionierung erhalten hätten. Jeden Tag hatte man sie zwei Reizen ausgesetzt: hohen Tönen und kurzen Elektroschocks. Die Töne und die Schocks waren den Hunden jeweils unmittelbar nacheinander verabreicht worden – erst kam ein Ton und dann ein Schock. Die Schocks waren nicht allzu schmerzhaft; sie entsprachen etwa dem elektrischen Schlag, den man spürt, wenn man an einem trockenen Wintertag einen Türknauf berührt. Ziel des Versuchs war, die Hunde dazu zu bringen, den neutralen Ton und den unangenehmen Schock miteinander zu assoziieren – die Reize zu einem Paar zu verbinden. Später sollten die Hunde dann auf den Ton allein wie auf einen Schock reagieren – mit Angst. Das war alles. Danach hatte der Hauptteil des Experiments begonnen. Die Hunde waren in einen Doppelkäfig gesetzt worden. Das ist ein großer Kasten mit zwei Kammern, die durch eine niedrige Barriere voneinander getrennt sind. Die Versuchsleiter wollten sehen, ob die Hunde in dem Doppelkäfig ebenso auf die Töne reagierten, wie sie gelernt hatten, auf Schocks zu reagieren – mit einem Sprung über die Trennwand, um dem Ton zu entfliehen. Wäre das der Fall gewesen, hätte es gezeigt, daß emotionales Lernen auf ganz verschiedene Situationen transferiert – also übertragen – werden konnte. Zuerst sollten die Hunde lernen, über die Trennwand zu springen, um dem Schock zu entgehen. Hatten sie das gelernt, konnte man testen, ob die Töne allein zur selben Reaktion führten. Für die Hunde hätte das eine einfache Aufgabe sein müssen. Den rettenden Sprung über die Trennwand lernen Hunde normalerweise leicht. Aber diese Hunde hatten sich einfach winselnd hingelegt, wie Overmier berichtete. Sie hatten nicht einmal versucht, den Schocks zu entkommen. Und das hieß natürlich, daß niemand mehr das testen konnte, was man eigentlich wissen wollte – wie die Hunde auf die Töne reagierten. Während ich Overmier zuhörte und dann die winselnden Hunde betrachtete, wurde mir klar, daß sich bereits etwas viel Bedeutsameres zugetragen hatte, als jedes Ergebnis, das der Transfertest hätte erbringen können: Die Hunde mußten während des ersten Teils des Experimentes gelernt haben, daß sie hilflos waren. Deshalb hatten sie aufgegeben. Ihr Verhalten hatte nichts mit den Tönen zu tun. Bei der Pawlowschen Konditionierung – als die Schocks unabhängig vom Verhalten der Hunde einsetzten und aufhörten – hatten sie gemerkt bzw. »gelernt«, daß nichts, was sie taten, etwas bewirkte. Es machte keinen Unterschied, ob sie sich wehrten oder in die Höhe sprangen, ob sie bellten oder gar nichts taten. Warum sollten sie es dann weiter versuchen? Verblüfft überlegte ich, was das bedeutete. Wenn Hunde etwas so Komplexes wie die Vergeblichkeit ihres Handelns lernen konnten, dann lag eine Analogie zur menschlichen Hilflosigkeit vor, die man im Labor untersuchen konnte. Hilflosigkeit ist überall anzutreffen – bei den Armen in den Städten, bei neugeborenen Kindern und bei verzweifelten Patienten, die nur noch die Wand anstarren. Hilflosigkeit hatte das Leben meines Vaters zerstört. Und doch hatte noch niemand die Hilflosigkeit wissenschaftlich untersucht. Meine Gedanken überschlugen sich: Hatten wir ein Labormodell für menschliche Hilflosigkeit gefunden, das uns zeigen konnte, wie Hilflosigkeit entsteht, wie man sie heilen oder verhindern kann, welche Medikamente eingesetzt werden können und welche Personen besonders gefährdet sind? Obwohl ich erlernte Hilflosigkeit noch nie zuvor im Labor beobachtet hatte, erkannte ich sie sofort. Andere hatten sie vor mir beobachtet, sie jedoch lediglich als eine Störung 17

angesehen, nicht als ein Phänomen, das einer besonderen Untersuchung wert war. Mein Leben und meine Erfahrungen hatten mich darauf vorbereitet – vielleicht ausgelöst durch die Lähmung meines Vaters –, erlernte Hilflosigkeit zu erkennen. Es dauerte zehn Jahre, bis ich der wissenschaftlichen Welt bewiesen hatte, daß diese Hunde an Hilflosigkeit litten und daß Hilflosigkeit erlernt und daher auch wieder verlernt werden kann. Die Möglichkeiten dieser Entdeckung erschienen mir aufregend und vielversprechend. Bedrückend fand ich jedoch, daß die Studenten unschuldige Hunde einer Schockbehandlung aussetzten, ihnen also Schmerzen zufügten. Konnte ich in diesem Labor arbeiten? Ich hatte Tiere, besonders Hunde, immer gern gehabt. Die Aussicht, ihnen Schmerzen zufügen zu müssen – wenn auch keine schlimmen –, war mir zuwider. Deshalb reiste ich nach Princeton und besprach meine Zweifel mit einem meiner Philosophieprofessoren, dessen Spezialgebiete Ethik und Wissenschaftsgeschichte waren. Ich schilderte ihm meine Beobachtungen im Labor, die möglichen Konsequenzen meiner Entdeckung und meine Bedenken. »Marty, kannst du dir einen anderen Weg vorstellen, das Problem der Hilflosigkeit zu lösen?« fragte er. »Vielleicht mit Fallgeschichten von hilflosen Menschen?« Es war uns beiden klar, daß Fallgeschichten von Patienten eine wissenschaftliche Sackgasse waren. Eine Fallstudie ist eine Anekdote über das Leben einer einzigen Person. Es gibt keinen Weg, eindeutige Zusammenhänge zwischen Ursachen und Folgen zu erkennen. Nur streng kontrollierte Versuche können Ursachen isolieren und Wege zur Heilung aufzeigen. Natürlich war es ethisch nicht zu vertreten, einem anderen Menschen ein Trauma zuzufügen. Also schienen nur Tierversuche übrigzubleiben. »Ist es überhaupt zu rechtfertigen«, fragte ich, »irgendeinem Lebewesen Schmerzen zuzufügen?« »Ich möchte dir zwei Fragen über dein Vorhaben stellen. Erstens: Besteht eine vernünftige Chance, daß du auf lange Sicht erheblich mehr Schmerz verhinderst, als du kurzfristig verursachst? Zweitens: Können Wissenschaftler jemals von Tieren auf Menschen schließen?« Meine Antwort auf beide Fragen lautete: »Ja.« Erstens glaubte ich ein Modell zu haben, das das Rätsel menschlicher Hilflosigkeit lösen konnte. Wenn das gelang, würden sich große Möglichkeiten ergeben, Schmerz zu verringern. Zweitens wußte ich, daß die Wissenschaft bereits eine Reihe von zuverlässigen Tests entwickelt hatte, die aufzeigten, wann man Schlüsse aus Tierversuchen verallgemeinern kann und wann nicht. Ich beschloß, diese Tests zu machen. Mein Professor wies mich warnend darauf hin, daß Wissenschaftler mit der Zeit oft ihrem Ehrgeiz zum Opfer fallen und dann alle Ideale vergessen, die sie anfangs hatten. Er riet mir zu einem festen Vorsatz: An dem Tag, an dem ich die wichtigsten Fragen gelöst haben würde, die ich nur mit Hilfe von Tierversuchen lösen konnte, sollte ich aufhören, mit Tieren zu arbeiten. Ich kehrte ins Labor zurück mit der großen Hoffnung, an Tieren ein Modell der Hilflosigkeit entwickeln zu können. Nur ein einziger anderer Student, Steven Maier, hielt das für ein sinnvolles Ziel. Gemeinsam dachten wir uns einen Versuch aus, mit dem wir beweisen wollten, daß Tiere Hilflosigkeit lernen können. Wir nannten den Versuch »triadisch«, weil er drei miteinander verknüpfte Gruppen erforderte. Für jeden Versuchsdurchgang benötigten wir drei Hunde.7 Den Hunden der ersten Gruppe gaben wir Schocks, denen sie ausweichen konnten. Wenn der jeweilige Hund mit der Nase gegen eine Platte stieß, wurde der Strom abgeschaltet. Der erste Hund hatte also Kontrolle, weil eine seiner Reaktionen bewirkte, daß die Schocks aufhörten. 18

Bei der zweiten Gruppe war der Apparat, der die Schocks austeilte, an die erste Gruppe »angekoppelt«: Die Hunde bekamen dieselben Schocks wie die der ersten Gruppe, aber keine ihrer Reaktionen wirkte sich auf die Elektroschocks aus. Erst wenn der Hund aus der ersten Gruppe mit der Nase gegen die Platte stieß, hörten die Schocks für den jeweiligen Hund der zweiten Gruppe auf. Eine dritte Gruppe bekam überhaupt keine Schocks. Nachdem alle drei Hunde genügend Erfahrungen der jeweiligen Art gemacht hatten, wurden sie in den Doppelkäfig gebracht. Dort würden sie schnell lernen, durch einen Sprung über die Trennwand den Schocks zu entgehen. Wir stellten eine Hypothese auf: Wenn die Hunde der zweiten Gruppe gelernt hatten, daß nichts, was sie taten, eine Wirkung zeigte, würden sie sich bei den Schocks einfach hinlegen und gar nichts tun. Professor Solomon war sehr skeptisch. Die damals gängigen Theorien der Psychologie ließen keinen Raum für die Vorstellung, daß Tiere – oder Menschen – lernen konnten, hilflos zu werden. Anfang Januar 1965 gaben wir dem ersten Hund Schocks, denen er entkommen konnte, und dem zweiten Hund Schocks, denen er nicht entkommen konnte. Der dritte Hund wurde in Ruhe gelassen. Am nächsten Tag brachten wir die Hunde in den Doppelkäfig. Dort bekamen alle drei Schocks, denen sie leicht entkommen konnten – wenn sie nämlich über die niedrige Trennwand zwischen den beiden Teilen des Käfigs sprangen. Innerhalb weniger Sekunden hatte der erste Hund – derjenige, der gelernt hatte, daß er die Schocks kontrollieren konnte – entdeckt, daß er über die Trennwand springen und so den Schocks gänzlich entgehen konnte. Der dritte Hund – der vorher keine Schocks erhalten hatte – machte diese Entdeckung ebenfalls innerhalb von Sekunden. Der zweite Hund jedoch – der zuvor hatte lernen müssen, daß nichts, was er tat, etwas bewirkte – bemühte sich erst gar nicht zu entkommen, obwohl er leicht über die niedrige Barriere in den schockfreien Teil des Käfigs hinüberschauen konnte. Er gab einfach auf und legte sich hin – obwohl er ständigen Schocks ausgesetzt war. Er fand nicht heraus, daß er den Schocks durch einen einfachen Sprung über die Barriere entgehen konnte. Wir wiederholten diesen Versuch mit acht Dreiergruppen. Sechs der acht Hunde in der zweiten – hilflosen – Gruppe saßen einfach da und gaben auf, während keiner der acht Hunde in der ersten Gruppe – die gelernt hatte, die Schocks zu kontrollieren – aufgab. Steve und ich waren jetzt überzeugt, daß nur solche Ereignisse zum Aufgeben führen konnten, bei denen es kein Entrinnen gab, denn das identische Schockmuster führte nicht zum Aufgeben, wenn das Tier Kontrolle hatte. Tiere können also eindeutig lernen, daß ihre Handlungen vergeblich sind, und wenn sie das gelernt haben, geben sie jeden Handlungsversuch auf – sie werden passiv. Wir hatten die zentrale Prämisse der Lerntheorie aufs Korn genommen, daß Lernen nur dann stattfindet, wenn eine Reaktion eine Belohnung oder eine Strafe auslöst – und bewiesen, daß sie falsch war. Steve und ich schrieben unsere Entdeckung in einem Artikel nieder und schickten ihn an das Journal of Experimental Psychology, einer im allgemeinen höchst konservativen Fachzeitschrift. Zu unserer Überraschung erschien der Aufsatz sogar als Leitartikel. Damit hatten wir den Lerntheoretikern der ganzen Welt den Fehdehandschuh hingeworfen. Zwei Studenten, die noch nicht einmal trocken hinter den Ohren waren, erklärten dem großen B. F. Skinner, dem Begründer des Behaviorismus, und all seinen Schülern, daß ihre Grundannahme falsch war. Es hat in der Geschichte der Psychologie nicht viele Versuche gegeben, die man als bahnbrechend bezeichnen kann. Jetzt jedoch entwarf Steve Maier, damals ganze vierundzwanzig Jahre alt, einen solchen Versuch. Das war sehr mutig, denn Steves Versuch 19

bedeutete einen Frontalangriff auf die mächtige und einflußreiche Orthodoxie des Behaviorismus. Sechzig Jahre lang hatte der Behaviorismus die amerikanische Psychologie beherrscht – obwohl er keineswegs plausibel ist. Ebenso wie der Ansatz Freuds widerspricht auch der Grundgedanke des Behaviorismus der Intuition. Die Freudianer glauben, daß das Verhalten eines Menschen von sexuellen und aggressiven Konflikten gesteuert wird, die in der Kindheit ungelöst blieben. Gegen diese These rebelliert der gesunde Menschenverstand. Ähnlich unplausibel ist die Vorstellung der Behavioristen, daß das gesamte Verhalten eines Menschen ausschließlich von seinen lebenslangen Erfahrungen mit Belohnung und Strafe bestimmt werde. Handlungen, die einmal belohnt wurden (z.B. ein Lächeln, das eine Liebkosung ausgelöst hatte), würden eher wiederholt. Handlungen, die einmal bestraft wurden, würden eher unterdrückt. Das war alles. Das Bewußtsein – Denken, Planen, Erwarten, Erinnern – hat in einem solchen Weltbild keinen Platz; es hat demnach auch keinen Einfluß auf das Handeln. Es ist kaum zu glauben, daß intelligente Menschen einer solchen Vorstellung lange Zeit anhängen können; dennoch war die amerikanische Psychologie seit 1920 vom Behaviorismus beherrscht worden. Die Attraktivität dieses Ansatzes beruht vor allem auf seiner ideologischen Natur. Denn der Behaviorismus hat eine außerordentlich optimistische Auffassung vom menschlichen Organismus, die den Fortschritt als sehr einfach hinstellt: Will man einen Menschen verändern, so muß man lediglich seine Umwelt verändern. Menschen begehen Verbrechen, weil sie arm sind; wird also die Armut ausgemerzt, verschwindet auch die Kriminalität. Einen Dieb kann man rehabilitieren, indem man das Bedingungsgefüge seines Lebens verändert: Man bestraft ihn für das Stehlen und belohnt ihn, wenn er sich konstruktiv verhält. Vorurteile entstehen aus Unkenntnis über die Menschen, denen sie gelten. Sie können dadurch abgebaut werden, daß man diese Menschen kennenlernt. Dummheit beruht auf einem Mangel an Lernmöglichkeiten und läßt sich durch verbesserte allgemeine Schulbildung beseitigen. Diese Art von Auffassungen war damals sehr verbreitet, als wir 1965 unseren Angriff auf den Behaviorismus planten. Wir hielten die Vorstellung der Behavioristen für unsinnig, daß sich alles auf Belohnungen und Strafen zurückführen lasse, die bestimmte Assoziationen verstärken. Zum Beispiel die Erklärung der Behavioristen für den Sachverhalt, daß eine Ratte einen Hebel drückt, um Futter zu erhalten: Wenn eine Ratte durch das Drücken eines Hebels Futter erhalten hat, dann wird sie deshalb erneut auf den Hebel drücken, weil die Assoziation zwischen Hebeldruck und Futter schon zuvor durch eine Belohnung verstärkt worden war. Oder die Erklärung für menschliche Arbeit: Ein Mensch geht nur deshalb zur Arbeit, weil dieses Verhalten bereits durch Belohnung verstärkt wurde, nicht aufgrund einer Erwartung von Belohnung. Das mentale Leben des Menschen oder der Ratte existiert entweder überhaupt nicht oder spielt im Weltbild der Behavioristen keine ursächliche Rolle. Wir dagegen glaubten, daß mentale Vorgänge Ursachen schaffen: Die Ratte erwartet, daß ihr das Drücken des Hebels Futter einbringt, und der Mensch erwartet, daß er ein Einkommen erhält, wenn er arbeitet. Wir waren der Auffassung, daß willentliches Handeln überwiegend von den Erwartungen motiviert wird, die man an dieses Handeln knüpft. In bezug auf die erlernte Hilflosigkeit führten Steve und ich das Verhalten der Hunde darauf zurück, daß sie gelernt hatten, wie nutzlos ihre Handlungen waren. Sie erwarteten einfach, daß auch in Zukunft keine ihrer Handlungen etwas bewirken würde. War diese Erwartungshaltung erst einmal vorhanden, handelten sie nicht mehr. »Passivität kann zwei Quellen haben«, erklärte Steve in seinem sanften Bronx-Akzent den immer kritischer werdenden Teilnehmern unseres wöchentlichen Forschungsseminars. »Man kann lernen, passiv zu sein, weil es sich lohnt. Die Insassen von Altersheimen zeigen dieses Verhalten sehr häufig. Zu fügsamen Personen ist das Personal viel 20

freundlicher als zu anspruchsvollen. Oder man kann passiv werden, wenn man gänzlich aufgibt, wenn man glaubt, daß kein Verhalten – ob fügsam oder anspruchsvoll – etwas bewirkt. Die Hunde sind nicht passiv, weil sie gelernt haben, daß Passivität die Schocks abschaltet; sie geben auf, weil sie erwarten, daß nichts, was sie tun, etwas bewirkt.« Behavioristen konnten nicht zu dem Schluß gelangen, daß die »hilflosen« Hunde die Erwartung gelernt hatten, ihr Verhalten werde wirkungslos bleiben. Denn der Behaviorismus behauptet, daß ein Tier – oder ein Mensch – immer nur Handlungen lernen könne (fachsprachlich ausgedrückt: motorische Reaktionen), jedoch niemals einen Gedanken oder eine Erwartung. Die etwas mühsame Erklärung der Behavioristen lautet deshalb, die Hunde müßten schon zuvor irgendwie für das Stillsitzen belohnt worden sein. Als wir diesen Diskussionsstand erreicht hatten, entwarf Steve Maier seinen brillanten Test. »Wir wollen die Hunde genau durch den Prozeß schleusen, von dem die Behavioristen behaupten, er mache sie völlig hilflos«, schlug Steve vor. »Sie sagen, die Hunde werden dafür belohnt, daß sie stillhalten? Gut, dann belohnen wir sie eben für das Stillhalten. Jedesmal, wenn sie fünf Sekunden lang stillhalten, schalten wir die Schocks ab.« Anders ausgedrückt: Der Test sollte genau das gezielt und offen tun, wovon die Behavioristen behaupteten, es geschehe rein zufällig. Nach der behavioristischen Theorie müßte eine Belohnung für das Stillhalten die Hunde dazu bringen, sich nicht zu bewegen. Steve war anderer Meinung. Er entwarf eine zweiteilige Versuchsanordnung. Zuerst sollten die Hunde der sogenannten »Stillhaltegruppe« Schocks erhalten, die nur aufhörten, wenn sie sich mindestens fünf Sekunden lang nicht bewegten. Die Hunde konnten also die Schocks durch Stillhalten kontrollieren. Die zweite Gruppe nannte Steve die »angekoppelte Gruppe«. Sie bekam ebenso häufige Schocks wie die Stillhaltegruppe, hatte jedoch keine Kontrolle über die Schocks. Ihre Schocks hörten nur dann auf, wenn die Hunde in der Stillhaltegruppe sich nicht bewegten. Die angekoppelte Gruppe konnte selbst keinerlei Einfluß auf die Schocks nehmen. Die dritte Gruppe hieß die »schockfreie Gruppe«. Der zweite Teil des Versuchs bestand darin, daß man alle Hunde in den Doppelkäfig brachte, wo sie lernen sollten, durch einen Sprung dem Schock zu entgehen. Nach behavioristischer Theorie wäre zu erwarten, daß beim Einschalten der Schocks die Hunde der Stillhaltegruppe sowie die der angekoppelten Gruppe reglos bleiben und somit hilflos erscheinen. Denn vorher waren beide Gruppen dadurch belohnt worden, daß bei ihrem Stillhalten die Schocks aufhörten. Von den beiden Gruppen würde die Stillhaltegruppe sich am wenigsten bewegen, denn sie war konsequent für das Stillhalten belohnt worden, während das bei den Hunden der angekoppelten Gruppe nur gelegentlich der Fall gewesen war. Die Behavioristen würden auch behaupten, daß die schockfreie Gruppe unbeeinflußt bliebe. Wir Kognitivisten waren anderer Ansicht. Wir sagten voraus, daß die Tiere der Stillhaltegruppe nicht hilflos werden würden; sie hatten ja gelernt, daß sie Kontrolle darüber hatten, wann die Schocks aufhörten. Wenn sie eine Chance bekämen, über die Trennwand des Doppelkäfigs zu springen, würden sie das auch tun. Wir sagten außerdem voraus, daß die meisten Tiere der angekoppelten Gruppe hilflos werden würden und daß natürlich die Hunde der schockfreien Gruppe unbeeinflußt bleiben und dem Schock in dem Doppelkäfig rasch entfliehen würden. Wir führten den ersten Teil des Versuchs durch. Es geschah folgendes: Die meisten Hunde der angekoppelten Gruppe lagen einfach still da, wie beide Parteien vorhergesagt hatten. Als die Hunde der Stillhaltegruppe in den Doppelkäfig kamen, standen sie eine Weile reglos da und warteten darauf, daß die Schocks aufhörten. Als sie nicht aufhörten, suchten sie zunächst nach einer anderen passiven Möglichkeit, den Schocks zu entgehen. Sie kamen bald zu dem Schluß, daß es keine gab, und sprangen über die Trennwand.

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Wenn Weltbilder aufeinanderprallen, wie es bei den unterschiedlichen Meinungen der Behavioristen und der Kognitivisten über die erlernte Hilflosigkeit der Fall war, ist es sehr schwierig, einen Versuch zu konstruieren, der die andere Seite schlüssig widerlegt.8 Genau das war dem vierundzwanzigjährigen Steve Maier gelungen. Unsere Forschungsergebnisse trugen ebenso wie die Aussagen der kognitiven Psychologen und von Denkern wie Noam Chomsky und Jean Piaget dazu bei, das Forschungsgebiet zu erweitern und die Behavioristen zum vollständigen Rückzug zu zwingen. Steve Maier und ich hatten nun herausgefunden, wie man erlernte Hilflosigkeit erzeugt. Aber konnten wir sie auch wieder beseitigen? Wir nahmen uns eine Gruppe von Hunden vor, die hilflos gemacht worden waren, und zerrten diese armen, widerstrebenden Tiere über die Trennwand des Doppelkäfigs, immer hin und her, bis sie sich von selbst zu bewegen begannen und merkten, daß ihr eigenes Verhalten etwas bewirkte. War dies einmal gelungen, so erwies sich die Heilung als hundertprozentig zuverlässig und dauerhaft. Wir forschten auch über das Thema Prävention und entdeckten ein Phänomen, das wir »Immunisierung« nannten. Wir stellten nämlich fest, daß erlernte Hilflosigkeit nicht eintritt, wenn vorher gelernt worden war, daß die eigenen Reaktionen etwas bewirken. Wir fanden sogar heraus, daß Hunde, die als Welpen diese Lernerfahrung gemacht hatten, ihr ganzes Leben lang gegen erlernte Hilflosigkeit immun waren. Wenn sich diese Entdeckung auf das menschliche Leben übertragen ließ, würde dies weitreichende Folgen haben. Damit hatten wir die Grundzüge unserer Theorie entwickelt. Und so, wie ich es damals in Princeton nach der Diskussion mit meinem Professor über die Ethik von Tierversuchen beschlossen hatte, stellten Steve Maier und ich nun unsere Versuche mit Hunden ein.

2.1 Verletzlichkeit und Unverletzlichkeit Unsere Aufsätze erschienen inzwischen regelmäßig. Die Lerntheoretiker reagierten wie erwartet: mit Ungläubigkeit, Zorn und erbitterter Kritik. Diese recht technische und ermüdende Auseinandersetzung dauert nun schon zwanzig Jahre, doch scheinen wir sie gewonnen zu haben. Selbst eingefleischte Behavioristen begannen im Laufe der Zeit, ihren Studenten das Konzept der erlernten Hilflosigkeit vorzustellen und zum Forschungsobjekt zu machen. Die konstruktivsten Reaktionen kamen von Wissenschaftlern, die daran interessiert waren, erlernte Hilflosigkeit auf Probleme menschlichen Leidens zu übertragen. Besonders faszinierend war die Reaktion von Donald Hiroto, einem dreißigjährigen, graduierten Studenten japanisch-amerikanischer Abstammung an der Oregon State University. Hiroto war auf der Suche nach einem Thema für seine Dissertation und bat uns um Einzelheiten unseres Vorgehens. »Ich möchte etwas Ähnliches mit Menschen anstatt mit Hunden oder Ratten versuchen«, schrieb er uns. »Ich will herausfinden, ob die Ergebnisse tatsächlich auf menschliche Verhältnisse übertragbar sind. Meine Professoren sind allerdings sehr skeptisch.« Hiroto führte mit Menschen ähnliche Versuche durch, wie wir sie mit Hunden gemacht hatten. Er brachte eine erste Gruppe von Versuchspersonen in einen Raum, schaltete lauten Lärm ein und gab ihnen die Aufgabe, den Lärm abzustellen. Die Leute drückten jede mögliche Kombination von Knöpfen auf einem Schaltbrett, aber der Lärm ließ sich nicht abstellen. Eine zweite Gruppe wurde mit Lärm traktiert, den sie durch Drücken der richtigen Kombination von Knöpfen auf dem Schaltbrett abstellen konnte. Eine dritte, die sogenannte Kontrollgruppe, wurde nicht mit Lärm konfrontiert. In einem zweiten Schritt brachte Hiroto die Versuchspersonen in einen Raum, in dem ein merkwürdiger Apparat stand, der von der Funktion her einem Doppelkäfig ent22

spricht. Legt man die Hand auf die eine Seite, gibt es ein unangenehmes, zischendes Geräusch, bewegt man die Hand auf die andere Seite, hört der Lärm auf. 1971 rief mich Hiroto eines Nachmittags an. »Marty«, sagte er, »ich glaube, wir haben Ergebnisse erhalten, die etwas bedeuten ... vielleicht eine ganze Menge. Als die Leute, die wir am Anfang mit nicht abstellbarem Lärm traktiert hatten, die Hand in den Doppelkäfig legten, saßen die meisten einfach still da, ob du es glaubst oder nicht!« Ich hörte, daß Hiroto aufgeregt war, obwohl er sich bemühte, professionell-gleichmütig zu klingen. »Es war, als hätten sie gelernt, daß sie unfähig sind, den Lärm abzustellen, also haben sie es erst gar nicht versucht, obwohl alles andere – Zeit und Ort – sich geändert hatte. Sie übertrugen diese Hilflosigkeit gegenüber dem Lärm direkt auf den neuen Versuch. Und alle anderen Personen – die, die zuerst den Lärm abstellen konnten, und die, die gar keinen hörten – lernten ganz leicht, den Lärm abzustellen!« Ich hatte das Gefühl, daß dies die Krönung jahrelanger Forschungsarbeit bedeuten konnte. Wenn man Leuten beibringen konnte, angesichts einer trivialen Irritation wie Lärm hilflos zu werden, dann lernten vielleicht auch die Menschen draußen in der Welt aus Erlebnissen, bei denen ihr Handeln vergeblich ist, und aus schweren Schocks, daß sie hilflos sind. Vielleicht konnte man die menschliche Reaktion auf Verlust ganz allgemein – Zurückweisung durch Menschen, die wir lieben, Mißerfolg bei der Arbeit, Tod eines Ehepartners – mit dem Modell der erlernten Hilflosigkeit besser erklären.* * Der Autor betont, daß die Leute bei diesen Versuchen sowie bei allen anderen Versuchen zur erlernten Hilflosigkeit, die mit Menschen durchgeführt wurden, das Labor nicht im Zustand der Depression verließen. Am Ende der Sitzung zeigte man den Versuchspersonen, daß der Lärm manipuliert oder das Problem unlösbar war. Danach verschwanden ihre Symptome.

Hiroto stellte auch fest, daß ein Drittel der Versuchspersonen, die er hilflos zu machen versucht hatte, nicht aufgab.9 Das war höchst bedeutsam. Auch bei den Tierversuchen war jeweils eines von drei Tieren bei unvermeidbaren Schocks nicht hilflos geworden. Weitere Tests mit Bill-Cosby-Schallplatten, die sich unkontrollierbar ein- und ausschalteten, und mit Fünf-Cent-Stücken, die willkürlich aus Spielautomaten herausfielen, bestätigten Hirotos Ergebnisse. Seine Tests erbrachten noch ein weiteres, faszinierendes Ergebnis: In der Kontrollgruppe, die in der ersten Testphase nicht mit Lärm konfrontiert worden war, saß in der zweiten Phase ungefähr eine von zehn Personen von Anfang an still vor dem Apparat und unternahm nichts gegen den unangenehmen Lärm. Auch das war eine auffällige Parallele zu unseren Tierversuchen, bei denen ebenfalls eines von zehn Tieren von Anfang an hilflos war. Zuerst freuten wir uns einfach über Hirotos Ergebnisse, aber bald wurden wir sehr neugierig. Wer gibt leicht auf und wer gibt nie auf? Wer überlebt, wenn seine Arbeit fruchtlos bleibt oder wenn er von jemandem zurückgewiesen wird, den er lange und tief geliebt hat? Und warum? Manche Menschen schaffen es nicht, sondern geben auf wie die hilflosen Hunde. Andere rappeln sich wie der unbeirrbare Dritte wieder auf, nehmen die Verluste hin und machen weiter. Romantiker nennen das den »Triumph des menschlichen Willens« oder den »Mut zum Leben« – als könne man mit solchen Sprüchen etwas erklären. Nachdem wir sieben Jahre lang Versuche durchgeführt hatten, war uns klar, daß die seltene Gabe, Niederlagen mit Standfestigkeit zu begegnen, kein Rätsel bleiben mußte. Sie war keine angeborene Eigenschaft, sondern konnte erworben werden. Während der letzten fünfzehn Jahre richtete ich meine Arbeit darauf, die ungeheuer weitreichenden Implikationen dieser Entdeckung zu erforschen.

23

3

Erklärungen für Unglück

An der Universität von Oxford einen Vortrag zu halten ist keine Kleinigkeit. Die gotischen Spitztürme und Wasserspeier oder die altehrwürdige Rolle dieses Ortes in der Geisteswelt wirken dabei weniger furchteinflößend als die dort residierenden Gelehrten. Sie kamen in Scharen, als ich im April 1975 in Oxford über meine Forschungsarbeit berichtete. Im Vortragsraum legte ich mein Manuskript auf dem Rednerpult zurecht und blickte dann nervös in den Saal hinunter. Ich erkannte Niko Tinbergen, der gerade den Nobelpreis in Ethologie verliehen bekommen hatte. Ich entdeckte den berühmten Jerome Bruner, der kürzlich von Harvard nach Oxford berufen worden war, um eine Professur für kindliche Entwicklung zu übernehmen. Auch Donald Broadbent, Mitbegründer der modernen kognitiven Psychologie, war anwesend, und noch eine ganze Reihe weiterer Größen meines Fachgebietes. Ich fühlte mich wie ein Schauspieler, der auf die Bühne gestoßen wird und vor Guinness, Gielgud und Olivier einen Monolog vortragen muß. Ich begann meinen Vortrag über erlernte Hilflosigkeit. Erleichtert stellte ich fest, daß die meisten Anwesenden recht aufgeschlossen schienen. Manche nickten zustimmend bei meinen Folgerungen, und die meisten schmunzelten über meine scherzhaften Bemerkungen. Aber in der Mitte der ersten Reihe saß ein finster blickender Mann, der mir unbekannt war. Er lachte nicht über meine Witze und schüttelte an mehreren entscheidenden Stellen deutlich mißbilligend den Kopf. Er schien im stillen sämtliche Fehler aufzulisten, die mir unwissentlich unterlaufen waren. Schließlich beendete ich meinen Vortrag. Der Beifall drückte Anerkennung aus; ich war erleichtert, daß die Sache nun im wesentlichen vorbei war. Denn traditionellerweise äußerten die Professoren, denen die »Diskussionsleitung« übertragen wurde, meist nur höfliche Platitüden. Es stellte sich jedoch heraus, daß just der Unbekannte in der ersten Reihe der Diskussionsleiter war. Er stellte sich als John Teasdale vor. Ich hatte den Namen schon einmal gehört, wußte aber fast nichts über ihn. Später erfuhr ich, daß er gerade erst Dozent im Fach Psychiatrie geworden war und vom Maudsley Hospital in London kam, wo ich damals ein Forschungsjahr verbrachte. »Sie sollten sich nicht von dieser hinreißenden Geschichte überrumpeln lassen«, erklärte er den Zuhörern. »Die Theorie ist völlig unzulänglich. Seligman ist kommentarlos über die Tatsache hinweggegangen, daß ein Drittel seiner Versuchspersonen niemals hilflos wurde. Warum nicht? Von den Personen, die hilflos wurden, erholten sich einige sofort wieder, andere überhaupt nie. Manche waren nur in bezug auf die Situation hilflos, in der man ihnen die Hilflosigkeit beigebracht hatte; sie versuchten nicht mehr, dem Lärm zu entrinnen. Andere jedoch gaben in völlig neuen Situationen auf. Fragen wir doch einmal nach dem Grund. Manche verloren ihr Selbstwertgefühl und machten sich dafür Vorwürfe, daß es ihnen nicht gelungen war, den Lärm abzustellen. Andere warfen dem Versuchsleiter vor, er habe ihnen unlösbare Aufgaben gestellt. Warum?« Verblüffte Gesichter ringsum. Teasdales scharfsinnige Kritik hatte alles in Frage gestellt. Die Forschungsergebnisse aus zehn Jahren Arbeit, die ich zu Beginn meines Vortrags als gut gesichert empfunden hatte, schienen nun zahlreiche Schwachstellen aufzuweisen. Ich brachte kaum noch ein Wort heraus. Ich dachte, Teasdale habe recht, und schämte mich, weil ich nicht selbst auf diese Einwände gekommen war. Ich murmelte etwas über den Fortschritt der Wissenschaft, der auf diese Weise gefördert würde, und fragte im Gegenzug, ob Teasdale das Rätsel lösen könne, das er mir aufgegeben hatte. »Ja, ich glaube schon«, antwortete er. »Aber das wollen wir nicht hier und jetzt besprechen.« Ich werde Ihnen Teasdales Lösung noch nicht verraten, denn ich möchte Sie zuerst bitten, einen kurzen Test zu machen. Er wird Ihnen helfen herauszufinden, ob Sie ein Optimist oder ein Pessimist sind. Wenn Sie Teasdales Antwort auf die Frage kennen, warum manche Leute niemals hilflos werden, könnte das Ihre Testergebnisse verzerren. 24

3.1

Testen Sie Ihren Optimismus

Lassen Sie sich genügend Zeit, um jede einzelne Frage in Ruhe zu beantworten. Im Durchschnitt dauert der Test fünfzehn Minuten. Es gibt weder richtige noch falsche Antworten. Lesen Sie die Schilderung jeder Situation durch und stellen Sie sich lebhaft vor, Sie befänden sich in dieser Situation. Wahrscheinlich kennen Sie nicht alle Situationen aus eigener Erfahrung, aber das ist nicht wichtig. Auch wenn Ihnen keine der Antworten zutreffend erscheint, kreisen Sie dennoch entweder A oder B ein. Wählen Sie die Anwort, die Ihnen besser gefällt. Manche der Antworten mögen Ihnen unbefriedigend formuliert erscheinen; wählen Sie bitte nicht die Antworten aus, die Sie glauben sagen zu müssen oder die anderen richtig erscheinen würde, sondern nehmen Sie die Antwort, die Ihnen persönlich eher entspricht. Kreisen Sie nur eine Antwort auf jede Frage ein. Bitte ignorieren Sie im Augenblick die Buchstaben- und Zahlen-codes »(Pg)«, »(Dg)« usw.; sie werden erst später benötigt. 1.

Das Projekt, das Sie leiten, ist ein großer Erfolg. (Pg) A Ich habe die Arbeit aller Mitarbeiter streng überwacht. B Alle Mitarbeiter haben viel Zeit und Kraft hineingesteckt.

1 0

2.

Sie und Ihr Mann/Ihre Frau (Freund/Freundin) versöhnen sich wieder nach einem Streit. (Dg) A Ich habe ihm/ihr verziehen. 0 B Ich verzeihe im allgemeinen leicht. 1

3

Sie verfahren sich auf dem Weg zu Ihren Freunden. (Ps) A Ich habe eine Abzweigung verpaßt. B Meine Freunde haben mir den Weg schlecht erklärt.

1 0

4.

Ihr Mann/Ihre Frau (Freund/Freundin) überrascht Sie mit einem Geschenk. (Pg) A Er/Sie hat gerade eine Gehaltserhöhung bekommen. 0 B Ich habe ihn/sie am Abend vorher in ein feines Restaurant ausgeführt. 1

5.

Sie vergessen den Geburtstag Ihres Mannes/Ihrer Frau (Freundes/Freundin). (Ds) A Ich vergesse Geburtstage häufig. 1 B Ich war mit anderen Dingen beschäftigt. 0

6.

Sie bekommen von einem stillen Verehrer/einer stillenVerehrerin eine Blume geschenkt. (Gg) A Er/Sie findet mich attraktiv. 0 B Ich bin eine beliebte Person. 1

7.

Sie bewerben sich um ein kommunales Amt und werden gewäht. (Gg) A Ich habe viel Zeit und Kraft in den Wahlkampf gesteckt. B Ich setze mich bei allem, was ich in Angriff nehme, sehr ein.

0 1

Sie vergessen einen wichtigen Termin. (GS) A Manchmal läßt mich mein Gedächtnis im Stich. B Manchmal vergesse ich, in meinen Terminkalender zu schauen.

1 0

Sie bewerben sich um ein kommunales Amt und werden nicht gewählt. (Ps) A Ich habe mich im Wahlkampf nicht genügend eingesetzt. B Der/Die Gewählte kennt mehr Leute

1 0

8.

9.

25

10.

Sie geben eine Einladung zum Abendessen, und es wird ein gelungener Abend. (Dg) A Ich war an jenem Abend besonders charmand. 0 B Ich bin ein guter Gastgeber/eine gute Gastgeberin. 1

11.

Sie verhindern ein Verbrechen, indem Sie die Polizei rufen. (Pg) A Ein merkwürdiges Geräusch hat mich aufmerksam gemacht. B Ich war an jenem Tag besonders wachsam.

0 1

12.

Sie waren das ganze Jahr hindurch kerngesund. (Pg) A Nur wenige Leute in meiner Umgebung waren krank, deshalb bestand wenig Ansteckungsgefahr. 0 B Ich habe dafür gesorgt, daß ich gut esse und genug schlafe. 1

13.

Sie müssen in der Leihbücherei zehn Mark bezahlen, weil Sie ein Buch nicht rechtzeitig zurückgegeben haben. (Ds) A Wenn mich ein Buch wirklich fesselt, vergesse ich oft, wann ich es wieder abgeben muß. 1 B Ich war so damit beschäftigt, meinen Aufsatz zu schreiben, daß ich vergessen habe, das Buch zurückzugeben. 0

14.

Die Kurse Ihrer Aktien steigen steil an. (Dg) A Mein Finanzberater hat beschlossen, etwas Neues auszuprobieren. B Mein Finanzberater ist ein erstklassiger Fachmann für Kapitalanlagen.

0 1

Sie gewinnen bei einem sportlichen Wettkampf. (Dg) A Ich fühlte mich unschlagbar. B Ich trainiere hart.

0 1

Sie fallen bei einer wichtigen Prüfung durch. (Gs) A Ich war nicht so gescheit wie die anderen Prüflinge. B Ich war nicht gut vorbereitet.

1 0

15.

16.

17.

Sie kochen etwas besonders Gutes für einen Freund/eine Freundin und er/sie rührt das Essen kaum an. (Gs) A Ich koche schlecht. 1 B Ich habe das Essen in Eile zubereitet. 0

18.

Sie verlieren bei einem sportlichenWettkampf, für den Sie lange trainiert haben. (Gs) A Ich bin nicht sehr sportlich. 1 B Ich bin in dieser Sportart nicht sehr gut. 0

19.

Ihr Auto bleibt spätnachts mit leerem Tank auf einer dunklen Straße stehen. (Ps) A Ich habe nicht nachgesehen, wieviel Benzin noch im Tank war. 1 B Der Tankanzeiger war kaputt. 0

20.

Sie bekommen bei einem Freund/einer Freundin einen Wunanfall. (Ds) A Er/sie nörgelt immer an mir herum. B Er/sie war in feindseliger Stimmung.

21.

1 0

Sie müssen eine Strafe bezahlen, weil Sie Ihre Steuererklärung nicht rechtzeitig eingereicht haben. (Ds) A Ich schiebe meine Steuererklärung immer auf. 1 B Ich war dieses Jahr zu faul, die Steuererklärung rechtzeitig abzugeben. 0

26

22.

Sie möchten sich mit jemandem verabreden und bekommen eine Absage. (Gs) A Ich war an dem Tag schlecht drauf. B Ich habe angefangen zu stottern, als ich ihn/sie um das Rendezvous bat.

1 0

23.

Ein Showmaster wählt Sie aus dem Publikum aus und bittet Sie, aktiv bei der Show mitzuwirken. (Pg) A Ich saß eben am richtigen Platz. 0 B Ich habe die größte Begeisterung gezeigt. 1

24.

Bei einer Party werden Sie häufig zum Tanzen aufgefordert. (Dg) A Ich bin bei Parties immer sehr fröhlich. B Ich war an jenem Abend in Hochform.

1 0

25.

Sie kaufen Ihrem Mann/Ihrer Frau (Freund/Freundin) ein Geschenk. Das Geschenk gefällt ihm/ihr nicht. (Ps) A Ich denke über solche Dinge nicht sorgfältig genug nach. 1 B Er/sie hat einen sehr ausgefallenen Geschmack. 0

26.

Sie schneiden bei einem Bewerbungsgespräch außerordentlich gut ab. (Dg) A Ich war bei dem Gespräch sehr zuversichtlich. B Ich bin gut bei Bewerbungsgesprächen.

0 1

Sie erzählen einen Witz, und alle lachen. (Pg) A Der Witz war gut. B Ich habe den Witz genau im richtigen Moment erzählt.

0 1

27.

28.

Ihr Chef gibt Ihnen für die Durchführung eines Projektes zu wenig Zeit, aber Sie werden trotzdem rechtzeitig fertig. (Gg) A Ich bin gut in meinem Job. 0 B Ich bin ein tüchtiger Mann/eine tüchtige Frau. 1

29.

Sie haben sich in letzter Zeit müde gefühlt. (Ds) A Ich finde nie Zeit, mich zu entspannen. B Ich hatte diese Woche ungewöhnlich viel zu tun.

1 0

Sie fordern jemanden zum Tanzen auf, und er/sie sagt nein. (Ps) A Ich tanze eben nicht gut genug. B Er/sie tanzt nicht gern.

1 0

30.

31.

Sie retten einen Menschen vor dem Ertrinken. (Gg) A Ich kenne eine Technik, mit der man jemanden vor dem Ertrinken retten kann.0 B Ich weiß, was man in Krisensituationen tun muß. 1

32.

Ihr Geliebter/Ihre Geliebte möchte eine Weile auf Abstand gehen. (Gs) A Ich bin zu egoistisch. B Ich verbringe nicht genug Zeit mit ihm/ihr.

1 0

Ein Freund/eine Freundin sagt etwas, das Ihre Gefühle verletzt. (Ds) A Er/sie platzt immer mit allem heraus, ohne an andere zu denken. B Er/sie hatte schlechte Laune und hat sie an mir ausgelassen.

1 0

Ihr Chef/Ihre Chefin fragt Sie um Rat. (Gg) A Ich bin Experte auf dem Gebiet, über ds ich befragt wurde. B Ich gebe oft nützliche Ratschläge.

0 1

33.

34.

27

35.

Ein Freund/eine Freundin dankt Ihnen für Ihren Beistand in einer schweren Zeit. (Gg) A Ich stehe ihm/ihr in schweren Zeiten gern bei. 0 B Ich kümmere mich gern um Leute. 1

36.

Sie sind auf einer Party und fühlen sich nicht wohl. (Pg) A Alle waren freundlich. B Ich war freundlich.

0 1

Ihr Arzt sagt Ihnen, daß sie in guter körperlicher Verfassung sind. (Gg) A Ich sorge dafür, daß ich viel Bewegung habe. B Ich lebe sehr gesundheitsbewußt.

0 1

37.

38.

Ihr Mann/Ihre Frau (Freund/Freundin) will ein schönes Wochenende mit Ihnen verbringen. Sie fahren zusammen weg. (Dg) A Er/sie brauchte einen Tapetenwechsel. 0 B Er/sie lernt gern neue Gegenden kennen. 1

39.

Ihr Arzt sagt Ihnen, daß Sie zuviel Zucker essen. (Ps) A Ich schenke meiner Ernährung wenig Beachtung. B Man kann Zucker nicht umgehen, er ist fast in allen Nahrungsmitteln.

1 0

Sie werden gebeten, ein wichtiges Projekt zu leiten. (Dg) A Ich habe gerade erfolgreich ein ähnliches Projekt durchgeführt. B Ich kann Projekte gut leiten.

0 1

40.

41.

Sie und Ihr Mann/Ihre Frau (Freund/Freundin) haben sich in letzter Zeit häufig gestritten. (Ps) A Ich habe mich in letzter Zeit reizbar und bedrückt gefühlt. 1 B Er/sie war in letzter Zeit feindselig. 0

42.

Sie fallen beim Skifahren häufig hin. (Ds) A Skifahren ist schwierig. B Die Pisten waren vereist.

1 0

Ihnen wird ein angesehener Preis verliehen. (Gg) A Ich habe ein wichtiges Problem gelöst. B Ich war der/die beste Mitarbeiter/in.

0 1

Die Kurse Ihrer Aktien erreichen einen Tiefstand. (Gs) A Ich wußte nicht viel über die Wirtschaftslage, als ich sie kaufte. B Ich habe meine Aktien schlecht ausgesucht.

1 0

Sie gewinnen im Lotto. (Pg) A Das war reines Glück. B Ich habe die richtigen Zahlen ausgewählt.

0 1

Sie nehmen in den Ferien zu und werden Ihr Übergewicht nicht mehr los. (Ds) A Diät hilft auf lange Sicht nichts. B Die Diät, die ich ausprobiert habe, hat nichts geholfen.

1 0

Sie sind im Krankenhaus und bekommen nur wenig Besuch. (Ps) A Wenn ich krank bin, bin ich so empfindlich. B Meine Freunde sind in solchen Dingen nachlässig.

1 0

In einem Geschäft akzeptiert man Ihre Kreditkarte nicht. (Gs) A Manchmal überschätze ich mein Bankguthaben. B Manchmal vergesse ich, meine Kreditkartenrechnung zu bezahlen.

1 0

43.

44.

45.

46.

47.

48.

28

Testschlüssel Ds_____

Dg_____

Gs_____

Gg_____

H_____

Pg_____

Ps_____

Summe g_____

Summe s_____

g – s_____

Legen Sie den Test jetzt bitte beiseite. Die Auswertung werden Sie selbst während der Lektüre dieses Kapitels vornehmen.

3.2 Erklärungsmuster Als John Teasdale nach meinem Vortrag in Oxford seine Einwände vorbrachte, überkam mich einen Augenblick lang das Gefühl, daß ich jahrelang umsonst gearbeitet hatte. Ich wußte damals noch nicht, daß Teasdales Herausforderung letztlich genau zu dem Ergebnis führen sollte, das mir am meisten am Herzen lag: mit unseren Entdeckungen bedürftigen und leidenden Menschen helfen zu können. Teasdale hatte bei seinem Einspruch zugeben müssen, daß zwei von drei Versuchspersonen hilflos geworden waren. Er hatte jedoch betont, daß auch je eine von dreien standgehalten hatte: Was immer man mit diesen Menschen tat, um sie hilflos zu machen, sie hatten nicht aufgegeben. Das war ein Rätsel, und bis es gelöst war, konnte man meine Theorie nicht ernst nehmen. Als ich nach dem Vortrag zusammen mit Teasdale den Saal verließ, fragte ich ihn, ob er bereit sei, gemeinsam mit mir nach einer zufriedenstellenden Theorie zu suchen. Er stimmte zu, und von diesem Zeitpunkt an trafen wir uns regelmäßig. Auf langen Spaziergängen fragte ich ihn, wer für Hilflosigkeit anfällig ist und wer nicht. Teasdale erläuterte mir, daß es seiner Meinung nach letztlich nur auf eines ankam: wie sich Menschen die negativen Dinge erklären, die ihnen zustoßen. Er glaubte, Menschen mit einer bestimmten Art von Erklärung würden leicht Opfer der Hilflosigkeit. Wenn man ihnen beibringen könnte, diese Erklärungen zu ändern, wäre dies möglicherweise eine wirksame Methode, ihre Depressionen zu behandeln. Während meines damaligen Aufenthalts in England flog ich etwa alle zwei Monate für eine Woche nach Hause in die Vereinigten Staaten. Gleich bei der ersten Rückkehr an die Universität von Pennsylvania fand ich eine veränderte Lage vor. In meiner eigenen Forschungsgruppe wurden nun Einwände gegen meine Theorie erhoben, die denen Teasdales sehr ähnlich waren. Die Angriffe kamen von zwei furchtlosen Studentinnen namens Lyn Abramson und Judy Garber. Lyn und Judy waren beide von einer Welle erfaßt worden, die sich damals ausbreitete – sie begeisterten sich für die Arbeit Bernard Weiners. Ende der sechziger Jahre stellte sich Weiner, damals ein junger Sozialpsychologe an der Universität von Los Angeles, die Frage, warum manche Leute so gute Leistungen erbringen und andere so schlechte. Er war zu dem Schluß gekommen, daß es darauf ankam, was die Leute über die Ursachen von Erfolgen und Mißerfolgen denken. Dieser Ansatz Weiners wird als Attributionstheorie bezeichnet. (D.h., er fragt nach den Faktoren, denen die Menschen ihre Erfolge und Mißerfolge zuschreiben.) Diese Ansicht widersprach der damals gängigen Vorstellung über Leistung, deren klassischer Beweis der sogenannte PREE – Partial Reinforcement Extinction Effect (Wir29

kung der Löschung partieller Verstärkung) ist.10 Diese Wirkung ist in der Lerntheorie seit langem bekannt. Gibt man beispielsweise einer Ratte immer dann Futter, wenn sie auf einen Hebel drückt, so nennt man das »kontinuierliche Verstärkung«. Das Verhältnis ist eins zu eins: bei jedem Hebeldruck gibt es Futter. Hört man auf, der Ratte Futter zu geben, wenn sie den Hebel drückt (»Extinction«, Löschung), so drückt sie noch dreioder viermal den Hebel und gibt dann auf. Sie merkt, daß sie kein Futter mehr bekommt, denn der Unterschied ist sehr groß. Behandelt man die Ratte statt dessen nach dem Prinzip der »partiellen Verstärkung«, so bekommt sie nur etwa bei jedem fünften oder zehnten Hebeldruck Futter. Beginnt man dann mit der Löschung, drückt die Ratte noch hundertmal auf den Hebel, ehe sie aufhört. Die Wirkung der Löschung bei partieller Verstärkung war schon in den dreißiger Jahren demonstriert worden. B. F. Skinners Ruf gründete nicht zuletzt auf den entsprechenden Versuchen, so daß er zu einem führenden Vertreter des Behaviorismus wurde. Dieses Löschungsprinzip funktionierte zwar bei Ratten und Tauben recht gut, bei Menschen jedoch nicht so gut. Manche Menschen gaben sofort auf, wenn die Löschung den Anreiz verringerte, andere machten weiter. Weiner nun glaubte den Grund dafür gefunden zu haben, warum das Prinzip bei Menschen nicht funktionierte. Er stellte folgende These auf: Versuchspersonen, die die Löschung für dauerhaft hielten (z.B.: »Der Versuchsleiter hat beschlossen, mich nicht mehr zu belohnen«), gaben sofort auf. Diejenigen, die die Ursache der Löschung für temporär hielten (z.B.: »In dem verdammten Ding ist ein Kurzschluß«), machten weiter, denn sie dachten, die Lage würde sich vielleicht wieder ändern und sie würden wieder belohnt. Als Weiner diesen Versuch durchführte, erhielt er genau die Ergebnisse, die er vorhergesagt hatte. Die Wirkung der Löschung wurde von den Erklärungen der Menschen bestimmt, nicht von der Art der Verstärkung (also kontinuierlich oder partiell), die sie erhalten hatten. Die Attributionstheorie besagt daher, daß menschliches Verhalten nicht allein vom »Verstärkungsmuster« der Umwelt abhängt, sondern auch von einem inneren, mentalen Prozeß. Wichtig ist, wie man sich erklärt, warum die Umwelt die Verstärkung so und nicht anders strukturiert hat. Weiners Arbeit beeinflußte vor allem jüngere Wissenschaftler stark. Sie hatte auch die Sichtweise von Lyn Abramson und Judy Garber geprägt, die nun die Theorie der erlernten Hilflosigkeit im Lichte von Weiners Ergebnissen betrachteten. Als ich daher bei meiner ersten Rückkehr aus England meinen Kollegen berichtete, was John Teasdale gesagt hatte, erklärten Lyn und Judy, er hätte recht und ich unrecht. Die Theorie müsse umformuliert werden. Ich hatte meinen Studenten gegenüber immer betont, wie wichtig mir Kritik war. Nun erhielt ich sie reichlich von Abramson, Garber und Teasdale; doch ich gewann alle drei als Verbündete. Gemeinsam wollten wir die Theorie verbessern. Manchmal diskutierte ich mit meinen beiden hervorragenden Studentinnen bis zu zwölf Stunden, um ihre Einwände sinnvoll in meine Theorie einzugliedern. Jetzt arbeitete ich an zwei Fronten. Teasdale und ich erstellten gemeinsam ein Manuskript über die These, daß eine Therapie gegen Hilflosigkeit und Depression das Ziel haben sollte, die Erklärungen der Menschen für ihr Unglück zu ändern. Gleichzeitig schrieb ich gemeinsam mit Abramson einen Aufsatz über die Frage, auf welche Weise die Erklärungsmuster der Menschen zu Hilflosigkeit und Depression führen können. Etwa zu diesem Zeitpunkt setzte sich der Herausgeber der Zeitschrift Journal of Abnormal Psychology mit mir in Verbindung. Er schrieb mir, die Kontroverse um die erlernte Hilflosigkeit habe zahlreiche Zuschriften gebracht. Viele Stellungnahmen wiesen auf eben jene Mängel hin, die auch John, Lyn und Judy aufgefallen waren. Der Herausgeber wollte die Debatte zum Schwerpunkt einer Ausgabe seiner Zeitschrift machen; er bat mich um einen Beitrag. Ich stimmte zu und überzeugte John und Lyn davon, daß wir 30

die beiden bisher getrennten Aufsatzentwürfe zusammenfügen sollten. Wenn die neue Theorie an so prominenter Stelle veröffentlicht wurde, müsse der Aufsatz unsere Antworten auf die Einwände bereits enthalten. Unsere Grundthese lehnte sich an Bernard Weiners Attributionstheorie an, unterschied sich aber von Weiner in drei Punkten: Erstens waren wir an Erklärungsgewohnheiten interessiert, nicht einfach an der einzelnen Erklärung, die eine Person für einen einzelnen Mißerfolg gibt. Wir behaupteten, es gebe eine Art Erklärungsmuster: Wir alle hätten eine bestimmte Art und Weise, Ursachen wahrzunehmen, und wenn wir eine Möglichkeit dafür sähen, würden wir unsere Erklärungsmuster auch unserer Umwelt aufdrängen. Zweitens: Weiner hatte von zwei Erklärungsdimensionen gesprochen, nämlich von Dauerhaftigkeit und Personalisierung. Wir führten nun eine dritte Dimension ein – den Geltungsbereich. (Ich werde diese Begriffe weiter unten erklären.) Drittens war Weiner vor allem an dem Aspekt »Leistung« interessiert, während unser Schwerpunkt auf seelischer Krankheit und Therapie lag. Die Sondernummer des Journal of Abnormal Psychology11 wurde im Februar 1978 veröffentlicht. Sie enthielt unseren gemeinsamen Artikel, der die Haupteinwände gegen die ursprüngliche Theorie der erlernten Hilflosigkeit bereits vorwegnahm. Der Artikel wurde gut aufgenommen; er regte noch mehr Forschungsarbeit an als die ursprüngliche Theorie. Bald darauf entwickelten wir den Fragebogen, den Sie weiter oben in diesem Kapitel ausgefüllt haben. Mit diesem Fragebogen ließen sich die Erklärungsmuster eines Menschen leicht bestimmen. Außerdem bezog sich dieses Verfahren auf echte menschliche Probleme draußen in der Welt, also außerhalb der Wände des Versuchslabors. Wie denken Sie über die Ursachen der kleinen und großen Tragödien, die Sie erleben? Manche Menschen, vor allem jene, die leicht aufgeben, reden sich bei jedem Unglück ein: »Es ist meine Schuld, es wird immer so bleiben und es wird alles verderben, was ich anpacke.« Andere, die sich von Tragödien nicht kleinkriegen lassen, sagen: »Es waren einfach die Umstände, es wird bald vorbei sein, und außerdem gibt es noch wichtigere Dinge im Leben.« Die Art, in der Sie negative Dinge zu erklären suchen, beschränkt sich nicht allein auf die Worte, die Sie äußern, wenn etwas schiefgeht. Vielmehr handelt es sich um tiefsitzende Muster, die Sie in der Kindheit und Jugend erlernt haben. Ihre Erklärungsmuster hängen direkt mit Ihrer Ansicht darüber zusammen, welchen Platz Sie auf dieser Welt haben – ob Sie denken, Sie seien wertvoll und verdienen etwas Gutes, oder Sie seien wertlos und hätten keine Hoffnung. An Ihren Erklärungen kann man erkennen, ob Sie ein Optimist oder ein Pessimist sind. Die Testfragen, die Sie vorhin beantwortet haben, sollen Ihre persönlichen Erklärungsmuster aufdecken helfen.

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3.3 Wer gibt nie auf? Ihre Erklärungsmuster haben drei entscheidende Dimensionen: Dauerhaftigkeit, Geltungsbereich und Personalisierung.

3.3.1 Dauerhaftigkeit Menschen, die leicht aufgeben, halten die Ursachen der unangenehmen Ereignisse, die ihnen zustoßen, für dauerhaft – das Schlechte wird anhalten und ihr Leben bleibend beeinträchtigen. Menschen, die der Hilflosigkeit widerstehen, halten die Ursachen negativer Ereignisse für zeitweilig, also für vorübergehend. Dauerhaft (pessimistisch)

Zeitweilig (optimistisch)

Ich bin total am Ende. Diät hilft nie. Du nörgelst immer an mir herum. Der Chef ist ein Rindvieh. Du redest nie mit mir.

Ich bin gerade erschöpft. Diät kann man nicht einhalten, wenn man auswärts ißt. Du nörgelst, wenn ich mein Zimmer nicht aufräume. Der Chef hat schlechte Laune. Du redest in letzter Zeit nicht mit mir.

Wenn Sie über negative Dinge in Begriffen wie »immer« und »nie« denken und sie stabilen Ursachen zuschreiben, dann haben Sie dauerhafte, pessimistische Erklärungsmuster. Denken Sie eher in Abstufungen und benutzen Sie Wörter wie »manchmal« und »in letzter Zeit«, schreiben Sie also das Schlechte zeitweiligen, vorübergehenden Ursachen zu, so haben Sie optimistische Erklärungsmuster. Kehren Sie nun zu dem Test zurück. Schauen Sie die acht Fragen an, die mit Ds (für: Dauerhaft schlecht) gekennzeichnet sind. Es sind die Nummern: 5, 13, 20, 21, 29, 33, 42 und 46. Mit diesen Fragen soll getestet werden, für wie dauerhaft Sie die Ursachen von negativen Ereignissen halten. Jede Erklärung, hinter der »0« steht, ist optimistisch. Jede Erklärung, hinter der eine »1« steht, ist pessimistisch. Wenn Sie beispielsweise ausgewählt haben: »Ich vergesse Geburtstage häufig« (Frage 5) und nicht: »Ich war mit anderen Dingen beschäftigt«, um zu erklären, warum Sie den Geburtstag Ihres Partners vergessen haben, dann haben Sie einen eher dauerhaften und daher pessimistischen Grund gewählt. Zählen Sie die Zahlen am rechten Rand zusammen. Schreiben Sie die Summe auf die Linie in der Testauswertung, die mit Ds beschriftet ist. Wenn Sie eine Summe von 0 oder 1 haben, sind Sie in bezug auf diese Dimension sehr optimistisch. Bei 2 oder 3 sind Sie mäßig optimistisch. Bei 4 sind Sie durchschnittlich optimistisch. Bei 5 oder 6 sind Sie ziemlich pessimistisch. Wenn Sie eine Summe von 7 oder 8 haben, werden Sie den dritten Teil dieses Buches, in dem es um die Veränderung von pessimistischen zu optimistischen Erklärungsmustern geht, sehr hilfreich finden. Nun erfahren Sie den Grund dafür, warum die Dimension der Dauerhaftigkeit so wichtig ist – und Sie erfahren gleichzeitig unsere Antwort auf die herausfordernde Frage von John Teasdale, warum manche Menschen für immer hilflos bleiben, während andere sofort wieder auf die Beine kommen. Wenn wir einen Fehlschlag erleiden, werden wir alle mindestens für einen Augenblick hilflos – wie bei einem Tiefschlag in den Magen. Ein Fehlschlag tut weh, aber der Schmerz verschwindet wieder; bei manchen Menschen sogar sehr schnell. Das sind die Menschen mit einer Summe von 0 oder 1 in unserem Test. Bei anderen hält der 32

Schmerz an; er bohrt, er frißt sich fest, er verhärtet sich zu Wut. Diese Menschen erreichen eine Summe von 7 oder 8. Sie bleiben tagelang oder sogar monatelang hilflos, selbst wenn sie nur kleine Mißerfolge erlitten haben. Von größeren Niederlagen erholen sie sich möglicherweise nie mehr. Optimistische Muster für erfreuliche Ereignisse sind genau das Gegenteil von optimistischen Mustern für negative Ereignisse. Menschen, die glauben, daß gute Ereignisse dauerhafte Gründe haben, sind optimistischer als Menschen, die glauben, daß sie zeitweilige Gründe haben. Zeitweilig (pessimistisch)

Dauerhaft (optimistisch)

Ich hatte einen guten Tag. Ich strenge mich sehr an. Mein Rivale ist müde geworden.

Ich habe immer Glück. Ich bin begabt. Mein Rivale kann nichts.

Optimistische Menschen erklären sich gute Ereignisse mit Hilfe von dauerhaften Ursachen wie Eigenschaften und Fähigkeiten und benutzen dabei häufig das Wort »immer«. Pessimisten nennen zeitweilige Ursachen wie Stimmungen und Anstrengung und sagen »manchmal«. Es ist Ihnen wahrscheinlich aufgefallen, daß in einigen Fragen des Testes (um genau zu sein: in der Hälfte der Fragen) erfreuliche Ereignisse angesprochen wurden, beispielsweise: »Ihre Aktien steigen steil.« Werten Sie nun die Fragen mit der Kennzeichnung Dg (für: Dauerhaft gut) aus. Es sind die Nummern: 2, 10, 14, 15, 24, 26, 38 und 40. Die Sätze, hinter denen »1« steht, sind dauerhaft optimistische Antworten. Zählen Sie die Zahlen auf der rechten Seite zusammen. Schreiben Sie die Summe auf die Linie in der Testauswertung, die mit Dg beschriftet ist. Wenn Ihre Summe 7 oder 8 beträgt, erwarten Sie sehr optimistisch, daß die erfreulichen Ereignisse anhalten. Bei 6 sind Sie mäßig optimistisch. Bei 4 oder 5 durchschnittlich optimistisch. Bei 3 mäßig pessimistisch. Bei 0, 1 oder 2 sehr pessimistisch. Wenn Menschen erfolgreich sind, weil sie bei erfreulichen Ereignissen dauerhafte Ursachen annehmen, dann strengen sie sich beim nächsten Mal sogar noch mehr an. Und Menschen, die die Gründe für gute Ereignisse als zeitweilig ansehen, geben manchmal sogar dann auf, wenn sie Erfolg haben. Sie glauben dann nämlich, sie hätten nur Glück gehabt.

3.3.2 Geltungsbereich: spezifisch versus global Die Dauerhaftigkeit bezieht sich auf die Zeit. Der Geltungsbereich bezieht sich auf den Raum. Ein Beispiel: In einer großen Einzelhandelsfirma wurden mehrere Mitarbeiter der Buchhaltungsabteilung entlassen. Zwei der Gekündigten, Nora und Kevin, wurden depressiv. Beide brachten es monatelang nicht über sich, nach einer neuen Stelle zu suchen, und beide ließen ihre Steuererklärung liegen sowie alles andere, was auch nur entfernt mit Buchhaltung zu tun hatte. Nora blieb jedoch eine liebevolle und aktive Ehefrau. Ihr gesellschaftliches Leben ging normal weiter, sie blieb gesund und sie arbeitete weiterhin dreimal in der Woche außer Haus. Kevin dagegen fiel in sich zusammen. Er zog sich von seiner Frau und seinem kleinen Sohn zurück und grübelte jeden Abend schweigend über sein Unglück. Er weigerte sich, auf Parties zu gehen, und sagte, er wolle niemanden sehen. Er lachte nicht mehr über Witze. Er bekam eine Erkältung, die er den ganzen Winter lang nicht los wurde, und hörte auf zu joggen. 33

Manche Menschen können ihre Sorgen säuberlich in eine Schublade packen und selbst dann einigermaßen befriedigend weiterleben, wenn ein wichtiger Bereich – etwa das Arbeitsverhältnis oder das Liebesleben – in die Brüche geht. Andere werden von ihrem Kummer vollständig überwältigt; sie machen aus dem Unglück eine Katastrophe. Wenn in ihrem Leben ein Faden reißt, löst sich das ganze Gewebe auf. Kurz gesagt: Menschen, die globale Erklärungen für ihre Fehlschläge geben, resignieren in allen Bereichen, wenn sie auf einem einzigen Gebiet einen Mißerfolg hinnehmen müssen. Menschen, die spezifische Erklärungen geben, werden möglicherweise in diesem einen Bereich ihres Lebens hilflos, machen aber in den übrigen Bereichen unerschrocken weiter. Die folgenden Feststellungen sind Beispiele globaler und spezifischer Erklärungen für negative Ereignisse: Global (pessimistisch)

Spezifisch (optimistisch)

Alle Lehrer sind ungerecht. Ich bin widerwärtig. Bücher sind nutzlos.

Professor Seligman ist ungerecht. Ich bin ihm widerwärtig. Dieses Buch ist nutzlos.

Bei unserem Test erzielten Nora und Kevin in der Dimension der Dauerhaftigkeit den gleichen hohen Wert. In dieser Hinsicht waren beide Pessimisten. Nach ihrer Entlassung blieben beide lange Zeit depressiv. Doch in der Dimension des Geltungsbereichs hatten sie sehr unterschiedliche Werte. Als Kevin vom Unglück getroffen wurde, glaubte er, er werde alles verderben, was er anpackte. Als er entlassen wurde, dachte er, er sei in keiner Hinsicht gut. Nora glaubte, daß negative Ereignisse sehr spezifische Gründe haben. Als sie entlassen wurde, dachte sie, sie sei nicht gut in Buchhaltung. Auf den langen Spaziergängen in Oxford sprach ich mit John Teasdale über das große Rätsel, das er gestellt hatte – wer aufgibt und wer nicht. Bei der Antwort unterschieden wir drei Aspekte und trafen drei Vorhersagen: Die erste Vorhersage lautete, daß durch die Dimension der Dauerhaftigkeit bestimmt wird, für wie lange ein Mensch aufgibt. Beruhen die Erklärungen auf dauerhaften Gründen, führen sie zu langanhaltender Depression; beruhen die Erklärungen jedoch auf zeitweiligen Ursachen, so werden die Menschen widerstandsfähig. Die zweite Vorhersage betraf den Geltungsbereich. Globale Erklärungen führen zu Hilflosigkeit auf vielen Gebieten, spezifische Erklärungen führen nur zu Hilflosigkeit im ursprünglich betroffenen Bereich. Kevin war ein Opfer dieser Dimension. Bei seiner Entlassung glaubte er, die Ursache sei allumfassend; er kapitulierte in allen Aspekten seines Lebens. Kevins Testwert für den Geltungsbereich brachte ans Licht, daß er schnell aus allem eine Katastrophe machte. Neigen Sie dazu, überall Katastrophen zu entdecken? Haben Sie in diesem Test Katastrophenaussagen gemacht? Haben Sie zum Beispiel bei der Antwort auf Frage 18 als Ursache für das Verlieren angegeben, Sie seien nicht sehr sportlich (global) oder Sie seien nicht gut in dieser Sportart (spezifisch)? Suchen Sie alle Fragen, die mit Gs (Global schlecht) gekennzeichnet sind: 8, 16, 17, 18, 22, 32, 44 und 48. Zählen Sie die Werte am rechten Rand zusammen. Schreiben Sie die Summe auf die Linie, auf der Gs steht. Bei 0 und 1 sind Sie sehr optimistisch. Bei 2 und 3 sind Sie mäßig optimistisch. Bei 4 sind Sie durchschnittlich optimistisch. Bei 5 und 6 sind Sie mäßig pessimistisch. Bei 7 oder 8 sind Sie sehr pessimistisch. 34

Zur Erläuterung: Optimistische Erklärungsmuster für erfreuliche Ereignisse sind genau das Gegenteil der Muster für negative Ereignisse. Der Optimist glaubt, erfreuliche Ereignisse beförderten sein gesamtes Handeln, während der Pessimist glaubt, erfreuliche Ereignisse würden durch spezifische Faktoren verursacht. Als man Nora wieder eine zeitlich begrenzte Arbeit in ihrer alten Firma anbot, dachte sie: »Endlich haben sie gemerkt, daß sie ohne mich nicht zurechtkommen.« Als Kevin dasselbe Angebot erhielt, dachte er: »Sie müssen wirklich Personalknappheit haben.« Spezifisch (pessimistisch)

Global (optimistisch)

Ich bin gut in Mathe. Mein Finanzberater kennt sich bei Ölaktien aus. Ich war charmant zu ihr.

Ich bin gut. Mein Finanzberater kennt sich in der Wall Street gut aus. Ich war charmant.

Werten Sie Ihren Optimismus für den Geltungsbereich erfreulicher Ereignisse aus. Nehmen Sie alle Fragen, die mit Gg (Global gut) gekennzeichnet sind: 6, 7, 28, 31, 34, 35, 37, 43. Jede Erklärung, hinter der eine »0« steht, ist pessimistisch (spezifisch). Wie lautete Ihre Antwort auf Frage 35, als Sie nach Ihrer Reaktion auf den Dank eines Freundes gefragt wurden, dem Sie geholfen haben? »Ich stehe ihm in schweren Zeiten gern bei« (spezifisch und pessimistisch) oder: »Ich kümmere mich gern um Leute« (global und optimistisch)? Zählen Sie die Zahlen am rechten Rand zusammen und schreiben Sie sie auf die mit Gg gekennzeichnete Linie. Bei 7 oder 8 sind Sie sehr optimistisch. Bei 6 sind Sie mäßig optimistisch. Bei 4 oder 5 sind Sie durchschnittlich optimistisch. Bei 3 sind Sie mäßig pessimistisch. Bei 0, 1 oder 2 sind Sie sehr pessimistisch.

3.4

Der Stoff, aus dem die Hoffnung ist

Für Hoffnung waren bisher immer nur Fernsehprediger, Politiker und Werbefachleute zuständig. Der Begriff des Erklärungsmusters holt die Hoffnung ins Labor. Hier können Wissenschaftler die Hoffnung analysieren, um verstehen zu lernen, wie sie wirkt.12 Ob wir Hoffnung haben oder nicht, hängt von zwei Dimensionen unserer Erklärungsmuster ab: dem Geltungsbereich und der Dauerhaftigkeit. Die »Kunst des Hoffens« besteht darin, zeitweilige und spezifische Ursachen für unser Unglück zu finden. Hilflosigkeit wird durch die zeitweiligen Ursachen zeitlich begrenzt, und die spezifischen Ursachen begrenzen die Hilflosigkeit auf die spezifische Situation. Demgegenüber führen dauerhafte Gründe zu langanhaltender Hilflosigkeit, und globale Gründe dehnen die Hilflosigkeit auf alle Unternehmungen aus. Die »Praxis der Verzweiflung« besteht darin, dauerhafte und globale Gründe für unser Unglück zu finden. Hoffnungslos

Hoffnungsvoll

Ich bin dumm. Männer sind Tyrannen. Wahrscheinlich bedeutet dieser Knoten Krebs.

Ich habe eine schlechte Phase. Mein Mann war schlecht gelaunt. Wahrscheinlich bedeutet dieser Knoten nichts.

Möglicherweise ist Ihr Wert für Hoffnung (H) der wichtigste Einzelwert in Ihrem Test. Nehmen Sie Ihre Gs-Summe und addieren Sie sie zu Ihrer Summe für Ds. Das ist Ihr Wert für Hoffnung. Wenn dieser Wert bei 0, 1 oder 2 liegt, haben Sie außergewöhnlich viel Hoffnung. 35

Von 3 bis 6 sind Sie mäßig hoffnungsvoll. Von 7 bis 8 sind Sie durchschnittlich hoffnungsvoll. Von 9 bis 11 hegen Sie relativ wenig Hoffnung. Von 12 bis 16 hegen Sie außerordentlich geringe Hoffnung. Menschen, die dauerhafte und globale Erklärungen für ihre Kümmernisse abgeben, brechen unter Druck leicht zusammen, und zwar für lange Zeit und in den verschiedensten Situationen. Keine andere Dimension ist so wichtig wie Ihr Wert für Hoffnung.

3.4.1 Personalisierung: internal versus external Die dritte Dimension des Erklärungsmusters ist die Personalisierung. Ich lebte einmal mit einer Frau zusammen, die mir die Schuld an allem zuschob. Ich war schuld, wenn das Essen im Restaurant nicht schmeckte, wenn ein Flug verspätet war oder die Bügelfalten in ihren frisch gereinigten Hosen schief waren. »Liebling«, sagte ich eines Tages verzweifelt, nachdem sie mich angefaucht hatte, weil ihr Fön nicht funktionierte, »ich kenne niemanden, der schlechte Erfahrungen so radikal externalisiert wie du.« »Jawohl«, schrie sie, »und das ist deine Schuld!« Wenn unerquickliche Dinge geschehen, können wir uns selbst die Schuld daran geben (internal) oder anderen Menschen oder den Umständen (external). Menschen, die sich bei Mißerfolgen selbst Vorwürfe machen, haben als Folge davon ein schwaches Selbstwertgefühl. Sie glauben, sie seien wertlos, unbegabt und nicht liebenswert. Menschen, die äußere Umstände verantwortlich machen, verlieren ihr Selbstwertgefühl nicht, wenn Unerfreuliches passiert. Ein schwaches Selbstwertgefühl geht gewöhnlich auf internale Erklärungsmuster für negative Ereignisse zurück. Internal (schwaches Selbstwertgefühl)

External (starkes Selbstwertgefühl)

Ich bin dumm. Ich habe kein Talent zum Pokerspielen. Ich bin unsicher.

Du bist dumm. Ich habe kein Glück beim Pokerspielen. Ich bin in Armut aufgewachsen.

Schauen Sie sich nun Ihre Werte für Ps (Personalisierung schlecht) an. Die entsprechenden Fragen haben die Nummern: 3, 9, 19, 25, 30, 39, 41 und 47. Die Erklärungen, hinter denen eine »1« steht, sind pessimistisch (persönlich, internal). Zählen Sie die Zahlen zusammen und schreiben Sie die Summe auf die Linie, auf der Ps steht. Für das Ergebnis gilt dasselbe wie für Ds und Gs: 0 oder 1, sehr starkes Selbstwertgefühl. 2 oder 3, mäßiges Selbstwertgefühl. 4, durchschnittliches Selbstwertgefühl. 5 oder 6, mäßig schwaches Selbstwertgefühl. 7 oder 8, sehr schwaches Selbstwertgefühl. Von den drei Dimensionen der Erklärungsmuster ist die Personalisierung am leichtesten zu verstehen. (Zu den ersten Dingen, die ein Kind sagen lernt, gehört: »Das hat er gemacht, nicht ich!«) Aber diese Dimension wird auch am leichtesten überschätzt. Sie entscheidet darüber, was Sie in bezug auf sich selbst fühlen, aber der Geltungsbereich und die Dauerhaftigkeit – die wichtigeren Dimensionen – entscheiden darüber, was Sie tun: Wie lange Sie hilflos sind und in wie vielen Situationen. Die Personalisierung ist die einzige Dimension, in der man leicht mogeln kann. Wenn ich Sie auffordere, jetzt über Ihre Sorgen in externalisierender Weise zu sprechen, also 36

alle Schuld nach außen abzuschieben, wird Ihnen das nicht schwerfallen – selbst wenn Sie sonst die Schuld immer nur bei sich selbst suchen. Sie können locker plaudern und so tun, als machten Sie andere für Ihre Mißerfolge verantwortlich. Wenn Sie jedoch ein Pessimist sind, und ich fordere Sie auf, über Ihre Sorgen so zu sprechen, als seien sie zeitweilig und spezifisch, dann wird Ihnen das nicht gelingen. (Es sei denn, Sie beherrschen bereits die Techniken der Veränderung von pessimistischen zu optimistischen Erklärungsmustern, die im dritten Teil dieses Buches beschrieben werden.) Bevor Sie nun Ihre Gesamtsumme errechnen, eine letzte Information: Optimistische Muster für erfreuliche Ereignisse sind das Gegenteil der Muster für unerfreuliche Ereignisse: internal und nicht external. Menschen, die glauben, daß sie selbst Gutes herbeiführen können, mögen sich meistens lieber als Menschen, die glauben, daß Gutes von anderen Menschen kommt oder den Umständen zu verdanken ist. External (pessimistisch)

Internal (optimistisch)

Ein Glückstreffer ... Die Fähigkeiten meiner Mitstreiter ...

Ich kann günstige Umstände gut nutzen. Meine Fähigkeiten ...

Ihr letzter Wert ist der Wert für Pg (Personalisierung gut): 1, 4, 11, 12, 23, 27, 36 und 45. Die Erklärungen, hinter denen eine »0« steht, sind external und pessimistisch. Diejenigen, denen eine »1« folgt, sind internal und optimistisch. Zählen Sie die Zahlen am rechten Rand der Seite zusammen. Schreiben Sie die Summe auf die Linie für Pg. Die Auswertung ist dieselbe wie bei Dg und Gg. Jetzt können Sie Ihren Gesamtwert ermitteln. Zählen Sie zuerst die s-Werte zusammen (Ds + Gs + Ps). Das ist Ihr Wert für schlechte Ereignisse (s). Dann zählen Sie Ihre drei g-Werte zusammen (Dg + Gg + Pg). Das ist Ihr Wert für gute Ereignisse (G). Ziehen Sie s von g ab. Das ist Ihr Gesamtwert (g minus s). Jetzt kommen wir zur Einstufung Ihres Gesamtwertes: Wenn Ihre s-Summe zwischen 3 und 6 liegt, sind Sie ungeheuer optimistisch und werden die Kapitel über Veränderung gar nicht benötigen. Wenn sie zwischen 6 und 9 liegt, sind Sie mäßig optimistisch. 10 bis 11 entspricht ungefähr dem Durchschnitt. 12 bis 14 ist mäßig pessimistisch. Wertungen, die über 14 liegen, machen dringend eine Veränderung erforderlich. Wenn Ihre g-Summe bei 19 oder darüber liegt, denken Sie sehr optimistisch über erfreuliche Ereignisse. Bei 17 bis 19 denken Sie mäßig optimistisch. 14 bis 16 entspricht dem Durchschnitt. Bei 11 bis 13 denken Sie ziemlich pessimistisch. Bei 10 oder darunter denken Sie sehr pessimistisch. Wenn Ihr Wert für g minus s über 8 liegt, sind Sie insgesamt sehr optimistisch. Bei 6 bis 8 sind Sie mäßig optimistisch. Bei 3 bis 5 sind Sie durchschnittlich optimistisch. Bei 1 und 2 sind Sie mäßig pessimistisch. Bei 0 oder Minuswerten sind Sie sehr pessimistisch.

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3.5 Warnung Es ist eindeutig ein großer Vorteil, Optimismus zu erlernen, also Mißerfolge nicht mehr gewohnheitsmäßig durch dauerhafte, globale und persönliche Ursachen zu erklären, sondern sie als zeitweilig, spezifisch und äußerlich zu begründen. Dennoch liegen darin auch Gefahren. Es mag angenehm sein, alles als vorübergehend und spezifisch zu erklären. Schließlich möchte man, daß Depressionen kurz sind und nur begrenzte Bereiche betreffen. Man möchte so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommen. Aber kann man Mißerfolge beliebig externalisieren? Ist es fair, andere für meine Mißerfolge verantwortlich zu machen? Selbstverständlich sollen Menschen, die Unheil anrichten, sich auch dazu bekennen. Sie sollen die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Bestimmte Richtungen der Psychologie haben dazu beigetragen, das Gefühl persönlicher Verantwortung zu schwächen. Für unsere Gesellschaft ist das schädlich: Böses wird als seelische Krankheit ausgegeben, schlechte Manieren werden zu Neurosen erklärt und entschuldigt, »erfolgreich behandelte« Patienten drücken sich um familiäre Verpflichtungen herum, weil sie ihnen keine persönliche Befriedigung verschaffen. Die Frage ist, ob eine Verlagerung der Erklärung für Fehlschläge von innen nach außen (»Es ist nicht meine Schuld ... es war Pech«) das Verantwortungsbewußtsein untergräbt. Ich werde nicht für eine Strategie eintreten, die das Gefühl der Verantwortung weiter schwächt. Ich bin nicht der Meinung, daß die Menschen massenweise ihre Erklärungsmuster von internen zu externen Begründungen verändern sollten. Und doch gibt es einen Zustand, in dem genau dies getan werden sollte: die Depression. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, übernehmen depressive Menschen oft sehr viel mehr Verantwortung für negative Ereignisse, als gerechtfertigt erscheint. Es geht hier zunächst um eine grundlegende Frage: Warum sollen sich Menschen überhaupt zu ihrem Versagen bekennen?13 Meines Erachtens lautet die Antwort: Wir wollen, daß die Menschen sich ändern, aber wir wissen, daß sie sich nicht ändern werden, wenn sie keine Verantwortung übernehmen müssen. Internalisierung ist nicht entscheidend dafür, daß Menschen sich ändern, sondern die Dimension der Dauerhaftigkeit. Wenn Sie glauben, die Gründe für Ihr Unglück seien dauerhaft – Dummheit, Mangel an Talent, Häßlichkeit –, werden Sie auch nichts unternehmen, um dies zu ändern. Sie werden nicht an sich arbeiten, um glücklicher zu werden. Wenn Sie jedoch glauben, die Gründe seien zeitweilig – schlechte Laune, keine Lust, Übergewicht –, können Sie etwas unternehmen, um die Lage zu ändern. Wenn wir wollen, daß Menschen Verantwortung für ihr Tun übernehmen, dann müssen wir wollen, daß internale Erklärungsmuster vorherrschen. Wichtiger ist jedoch, daß die Menschen zeitweilige Muster für negative Ereignisse haben – daß sie überzeugt sind, das Schlechte ändern zu können, ganz gleich, welche Ursache es hat.

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3.6 Was ist, wenn Sie ein Pessimist sind? Es spielt eine große Rolle, ob Ihre Erklärungsmuster pessimistisch sind oder nicht. Wenn Sie in unserem Test eine ungünstige Punktzahl hatten, werden Sie in vier Bereichen Probleme bekommen (und vermutlich haben Sie diese Probleme bereits gehabt). Erstens werden Sie wahrscheinlich leicht depressiv; darauf werden wir im nächsten Kapitel eingehen. Zweitens erreichen Sie wahrscheinlich bei Ihrer Arbeit weniger, als Ihren Talenten entspricht. Drittens ist vermutlich Ihr körperlicher Gesundheitszustand – und die Funktion Ihres Immunsystems – weniger gut, als er sein könnte, und das kann sich im Laufe der Jahre noch verschlechtern. Auch erscheint Ihnen das Leben weniger erfreulich, als es sollte. Pessimistische Erklärungsmuster sind ein einziges Elend. Wenn Ihr Pessimismuswert im Durchschnittsbereich liegt, werden Sie in normalen Zeiten keine Probleme haben. Aber gerade in Krisen, in den harten Zeiten, die wir alle im Leben durchmachen müssen, leiden Sie wahrscheinlich unnötig schwer. Wenn negative Ereignisse eintreten, stellen Sie fest, daß Sie depressiver werden, als die Umstände erwarten ließen. Wie reagieren Sie wohl, wenn Ihre Aktien fallen? Wenn Sie von jemandem zurückgewiesen werden, den Sie lieben? Wenn Sie die Stelle nicht bekommen, die Sie unbedingt haben möchten? Sie werden sehr traurig. Sie werden die Lust am Leben verlieren. Es wird Ihnen sehr schwerfallen, etwas Anspruchsvolles in Angriff zu nehmen. Die Zukunft wird Ihnen trist und öde erscheinen. Und vermutlich wird diese Stimmung wochen- oder sogar monatelang anhalten. Wahrscheinlich kennen Sie diese Verfassung sogar schon; die meisten Menschen kennen sie. Sie ist so verbreitet, daß Lehrbücher sie als »normale« Reaktion bezeichnen. Aber auch wenn es sehr häufig vorkommt, daß wir durch Probleme völlig aus der Bahn geworfen werden, bedeutet das nicht, daß dieser Zustand annehmbar ist. Das Leben muß nicht so sein. Wenn Sie zu anderen Erklärungsmustern finden, werden Sie besser gerüstet sein, mit schweren Rückschlägen fertig zu werden, und Sie werden sich besser davor schützen können, in eine Depression abzugleiten. Das sind aber noch nicht alle Vorteile, die Sie von neuen Erklärungsmustern erwarten können. Wenn Sie durchschnittlich pessimistisch sind, bedeutet das, daß Sie auf einem niedrigeren Niveau durchs Leben gehen, als Ihnen Ihre Talente eigentlich erlauben. Wie Sie im sechsten, achten und neunten Kapitel sehen werden, genügt durchschnittlicher Pessimismus, um Ihre Leistung in der Schule, bei der Arbeit und im Sport zu senken. Gleiches gilt für Ihre körperliche Gesundheit. Kapitel zehn erläutert, daß Sie möglicherweise gesundheitlich selbst dann nicht auf der Höhe sind, wenn Sie nur durchschnittlich pessimistisch sind. Sie werden wahrscheinlich schneller und mit mehr Beschwerden altern als nötig. Ihr Immunsystem arbeitet nicht so gut, wie es sollte, Sie müssen öfters mit Infektionskrankheiten rechnen und werden nur langsam wieder gesund. Die in Kapitel zwölf beschriebenen Techniken ermöglichen Ihnen die Entscheidung, Ihr Optimismusniveau im Alltag zu erhöhen. Sie werden feststellen, daß Sie auf die normalen Mißerfolge im Leben viel flexibler reagieren können. Aber auch nach schweren Niederlagen werden Sie viel schneller wieder auf die Beine kommen als zuvor. Es ist zu erwarten, daß Sie bei der Arbeit, in der Schule und auf dem Sportplatz mehr erreichen. Und auf lange Sicht dürften Sie sogar körperlich gesünder werden.

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4 Der Pessimismus und seine Folgen Befinden wir uns in einem pessimistischen, melancholischen Zustand, so erleben wir eine milde Form einer schweren seelischen Krankheit. Wie ich in diesem Kapitel noch darlegen werde, handelt es sich bei dieser Krankheit um Depression. Depression ist auf die Spitze getriebener Pessimismus. Um das subtile Phänomen des Pessimismus besser verstehen zu können, erscheint es hilfreich, ihn in seiner vergrößerten, übersteigerten Form zu betrachten. Viele Menschen kennen Depression aus eigener Erfahrung und wissen, wie sehr diese Krankheit das tägliche Leben vergiftet. Manche erleben sie selten und nur dann, wenn mehrere ihrer liebsten Wunschträume gleichzeitig platzen. Manchen von uns mag die Depression deshalb vertraut sein, weil sie nach jeder Niederlage eintritt. Wieder anderen ist sie eine ständige Begleiterin, die ihnen selbst in den besten Zeiten die Freude verdirbt und auch graue Zeiten tiefschwarz erscheinen läßt. Bis vor kurzem war die Depression ein Rätsel. Niemand wußte, welche Menschen am stärksten von ihr bedroht sind, woher sie kommt und wie man sie heilen kann. Heute sind wir der Antwort auf diese Fragen dank der intensiven wissenschaftlichen Forschungsarbeit in den letzten fünfundzwanzig Jahren ein gutes Stück nähergekommen.14 Es gibt drei Arten von Depression. Die erste Art ist die normale Depression; sie ist uns allen bekannt. Ihre Ursachen sind die Schmerzen und Verluste, die wir als bewußte Lebewesen, die über die Zukunft nachdenken, unvermeidlich erleben. Wir bekommen nicht die Stelle, die wir haben möchten. Die Kurse unserer Aktien fallen. Menschen, die wir lieben, lehnen uns ab, und unsere Partner sterben. Wir halten schlechte Vorträge und schreiben schlechte Bücher. Wir altern. Auf einen solchen Verlust oder Schmerz hin tritt regelmäßig und vorhersehbar eine bestimmte Reaktion ein: Wir fühlen uns traurig und hilflos. Wir werden passiv und lethargisch. Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß unsere Zukunft düster ist und daß wir nichts tun können, um diese Aussichten zu verbessern. Wir arbeiten nicht mehr gut und fehlen häufig am Arbeitsplatz. Tätigkeiten, die uns immer Freude gemacht haben, verlieren ihren Reiz; wir haben kein Interesse mehr an gutem Essen, an der Geselligkeit und am Sex. Wir können nicht mehr schlafen. Doch nach einer Weile geht es uns, dank der wohltätigen und geheimnisvollen Wirkung der Natur, langsam besser. Normale Depression ist außerordentlich verbreitet – sie ist eine Art seelischer Schnupfen. Ich habe wiederholt festgestellt, daß ständig etwa fünfundzwanzig Prozent meiner Mitmenschen in einer Phase leichter, normaler Depression stecken. Die beiden anderen Arten von Depression werden als depressive »Störungen« bezeichnet: unipolare und bipolare Depression. Ihre Behandlung gehört zur Alltagsarbeit von klinischen Psychologen und Psychiatern. Die beiden Depressionsarten unterscheiden sich dadurch, daß zu der einen Art auch eine manische Phase gehört, zu der anderen jedoch nicht. Manie ist ein psychischer Zustand, der sich in einer Reihe von Symptomen ausdrückt, die wie das Gegenteil von Depression wirken: unbegründete Euphorie, Größenwahn, hektisches Sprechen und Handeln und überhöhtes Selbstwertgefühl. Zur bipolaren Depression gehören immer manische Phasen; sie heißt auch manische Depression (wobei Manie der eine Pol ist und Depression der andere).15 Unipolar Depressive haben nie manische Schübe. Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Arten besteht darin, daß bipolare Depression weitaus häufiger vererbt wird. Wenn von eineiigen Zwillingen einer an bipolarer Depression leidet, dann besteht eine Wahrscheinlichkeit von 72 Prozent, daß auch der andere daran erkrankt ist. (Das trifft nur für 14 Prozent der zweieiigen Zwillinge zu. Zweieiige Zwillinge sind nicht enger verwandt als andere Geschwister. Sie werden aber zur selben Zeit geboren und gleichzeitig von 40

denselben Eltern aufgezogen, daher ist ein Vergleich zwischen den beiden Arten von Zwillingen sehr aufschlußreich. Er hilft uns, Gelerntes von genetisch Ererbtem zu unterscheiden.) Bipolare Depression läßt sich mit einem »Wundermittel« hervorragend behandeln: Lithium-Carbonat. In über 80 Prozent aller Fälle von bipolarer Depression bessert Lithium die Manie in beträchtlichem Maße und in geringerem Maße auch die Depression. Im Gegensatz zu normaler und unipolarer Depression ist manische Depression eine Krankheit, die zu Recht als Störung des Körpers angesehen und medikamentös behandelt werden kann. Sie gleicht der normalen und der unipolaren Depression nur im äußeren Erscheinungsbild. Hier ist zu fragen, ob unipolare Depression, die ebenfalls eine klar definierte Krankheit ist, und normale Depression miteinander verwandt sind. Ich glaube, daß sie ein und dasselbe sind und daß die Unterschiede lediglich in der Anzahl und der Stärke der Symptome bestehen. Wenn Menschen Hilfe suchen, lautet die Diagnose bei dem einen, er habe eine »unipolare Depression«; dann wird er als Patient eingestuft. Einem anderen sagt man, er leide an akuten Symptomen einer »normalen Depression« und sei nicht krank. Der Unterschied zwischen den beiden Formen von Depression ist gering. Meine Ansicht unterscheidet sich radikal von der vorherrschenden medizinischen Meinung, die unipolare Depression als Krankheit und normale Depression nur als vorübergehende, klinisch uninteressante Demoralisierung ansieht. Diese Auffassung hält sich hartnäckig, obwohl es keinerlei Beweise dafür gibt, daß unipolare Depression etwas anderes als einfach eine stärkere normale Depression ist. Niemand konnte einen qualitativen Unterschied der Art nachweisen, wie man ihn zum Beispiel zwischen Zwergen und normalen kleinen Menschen festgestellt hat. Der springende Punkt ist meines Erachtens, daß normale und unipolare Depression genau an denselben Anzeichen zu erkennen sind. Beide ziehen dieselben vier negativen Veränderungen nach sich: im Denken, in der Stimmung, im Verhalten und in der körperlichen Reaktion. Ich erinnere mich an eine meiner Studentinnen, die ich hier Sophie nennen möchte. Sie kam mit einem glänzenden Zeugnis von der High-School an die Universität von Pennsylvania. Sie war Klassensprecherin gewesen und hatte bei vielen Veranstaltungen der Schule mitgewirkt; sie war hübsch und beliebt. Alles, was sie sich wünschte, fiel ihr in den Schoß. Gute Noten bekam sie, ohne sich anzustrengen, und die Jungen rivalisierten um ihre Gunst. Sie war das einzige Kind liebevoller und fürsorglicher Eltern, die beide angesehene Berufe hatten. Sie waren sehr stolz auf ihre Tochter, freuten sich an ihren Erfolgen und litten mit, wenn sie Schwierigkeiten hatte. Ihre Freunde nannten sie »Sonntagskind«. Als ich Sophie kennenlernte, war sie im dritten Studienjahr. Sie kam zur Therapie. Jetzt war sie kein Sonntagskind mehr. Ihr Liebesleben und ihr Studium waren in völliger Unordnung; sie war tief deprimiert. Wie die meisten Depressiven hatte sie sich nicht nach einem einmaligen, traumatischen Ereignis um Therapie bemüht, sondern nach einer Reihe von entmutigenden Erlebnissen, die sich im Laufe einiger Monate aufgestaut hatten. Sie sagte, sie fühle sich »leer«. Sie habe keine Hoffnung mehr, weil sie sich als »nicht liebenswert«, »unbegabt« und als »Niete« empfinde. Die Lehrveranstaltungen fand sie langweilig, das ganze akademische System kam ihr wie eine Verschwörung gegen ihre Kreativität vor, und ihre feministischen Aktivitäten waren ein »sinnloser Schwindel«. Im letzten Semester hatte sie zweimal ungenügende Noten bekommen. Sie klagte, daß sie bei keiner ihrer Arbeiten den richtigen Anfang finden könne. Wenn sie sich an den Schreibtisch setzte, um ihren Lernstoff durchzuarbeiten, konnte sie sich nicht entscheiden, mit welchem der wachsenden Stapel sie beginnen sollte. Dann starrte sie die Stapel etwa eine Viertelstunde lang an, gab dann verzweifelt auf und schaltete den Fernsehapparat ein. Damals lebte sie mit einem Aussteiger zusammen. Wenn sie mit ihm schlief, 41

fühlte sie sich ausgenützt und wertlos; sexuelle Aktivität, die sie früher sehr genossen hatte, fand sie nun nahezu abstoßend. Ihr Hauptfach war Philosophie; sie fühlte sich besonders zum Existentialismus hingezogen. Sie akzeptierte die Doktrin, daß das Leben absurd sei; auch dies erfüllte sie mit Verzweiflung. Ich erinnerte sie daran, daß sie eine begabte Studentin und eine attraktive Frau war, worauf sie in Tränen ausbrach und rief: »Dann sind Sie auch auf mich hereingefallen!« Vor kurzem habe ich erwähnt, daß eines der vier Kriterien der Depression eine negative Veränderung des Denkens ist. Wenn Sie deprimiert sind, denken Sie anders als in einem nicht depressiven Zustand. Wenn Sie deprimiert sind, haben Sie ein düsteres Bild von sich selbst, der Welt und der Zukunft. Für Sophie war die Zukunft ohne Hoffnung; sie schrieb dies ihrem Mangel an Begabung zu. In deprimiertem Zustand nehmen Sie kleine Hindernisse wie unüberwindliche Mauern wahr. Sie glauben, daß all Ihr Handeln zum Scheitern verurteilt sei. Sie finden zahllose Gründe dafür, daß Ihre Erfolge in Wahrheit Fehlschläge sind. Der Stapel Papier auf Sophies Schreibtisch wirkte in ihren Augen wie ein Berg. Pessimistische Erklärungsmuster sind der Kern depressiven Denkens. Eine negative Auffassung von der Zukunft, von sich selbst und von der Welt rührt daher, daß man die Ursachen für negative Ereignisse als dauerhaft, global und persönlich ansieht, die Ursachen für positive Ereignisse dagegen als zeitweilig, spezifisch und äußerlich. Meine depressive Studentin Sophie beispielsweise machte für ihre Probleme einen Mangel an Begabung und Attraktivität sowie die Sinnlosigkeit des Daseins verantwortlich. Das zweite Erkennungszeichen sowohl für unipolare als auch für bipolare Depression ist eine negative Stimmungsveränderung. Wenn Sie deprimiert sind, fühlen Sie sich miserabel – traurig, mutlos, verzweifelt. Vielleicht weinen Sie viel, aber möglicherweise sind Sie auch dazu gar nicht mehr fähig. Sophie blieb an ihren schlimmsten Tagen bis zum Mittag im Bett und weinte. Das Leben wird schal. Früher erfreuliche Aktivitäten werden zum faden Abklatsch ihrer selbst. Witze sind nicht mehr lustig, sondern unerträglich ironisch. Meist bleibt eine depressive Stimmung nicht durchgängig gleich. Sie ändert sich mit der Tageszeit. Gewöhnlich ist sie beim Aufwachen am schlimmsten. Vielleicht werden Sie schon im Bett von Gedanken an frühere Mißerfolge und an die Verluste überfallen, die der neue Tag Ihnen bestimmt wieder bringen wird. Wenn Sie dann im Bett bleiben, wird sich diese Stimmung über Sie breiten wie ein nasses Leintuch. Wenn Sie aufstehen und den Tag beginnen, hebt sich die Stimmung. Im Laufe des Tages bessert sich Ihre Stimmung im allgemeinen weiter – allerdings wird sie sich während der Ruhezeiten Ihres circadianen Ruhe- und Aktivitätszyklus etwas verschlechtern, normalerweise zwischen drei und sechs Uhr nachmittags. Der Abend dürfte die am wenigsten von der Depression beeinträchtigte Tageszeit sein. Trauer ist bei Depressionen nicht die einzige Stimmung; auch Angst und Reizbarkeit treten häufig auf. Wenn die Depression sehr stark wird, fallen Angst und Feindseligkeit ab, und der Leidende fühlt sich stumpf und leer. Das dritte Symptom der Depression betrifft das Verhalten. Depressive zeigen drei Verhaltensmerkmale: Passivität, Unentschlossenheit und selbstmörderische Tendenzen. Deprimierte Menschen können oft nur die einfachsten Routineaufgaben erledigen und geben leicht auf, wenn sie auf ein Hindernis stoßen. Ein Romanautor beispielsweise sucht endlos nach dem ersten Wort. Ist er endlich in Fahrt gekommen, gibt er auf, sobald der Bildschirm seines Personal Computers flackert, und rührt dann wochenlang keinen Finger mehr.

42

Deprimierte Menschen können sich auch nicht zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden. Ein depressiver Student bestellte einmal telefonisch eine Pizza, und als er gefragt wurde, welche Art er haben wolle, starrte er wie gelähmt auf den Hörer. Nachdem er eine Viertelminute lang geschwiegen hatte, legte er auf. Viele deprimierte Menschen denken an Selbstmord und unternehmen auch Selbstmordversuche. Die Gründe sind in den meisten Fällen ähnlich. Ein Grund ist der Wunsch nach einem Ende: Die Aussicht, so wie bisher weiterzuleben, wird unerträglich, deshalb soll nun Schluß gemacht werden. Der andere Grund ist Manipulation: Man will Liebe zurückerobern, sich rächen oder bei einem Streit das letzte Wort behalten. Das letzte Symptom der Depression hat physische Ursachen. Depression wird oft von unerwünschten körperlichen Symptomen begleitet – je schwerer die Depression, desto zahlreicher sind die Symptome. Die Depressiven werden lustlos. Sie haben keinen Appetit. Sie sind nicht zum Geschlechtsverkehr fähig. Selbst der Schlaf ist gestört: Sie wachen viel zu früh auf, drehen sich von einer Seite auf die andere und versuchen vergeblich, wieder einzuschlafen. Schließlich klingelt der Wecker, und sie beginnen den neuen Tag nicht nur deprimiert, sondern auch erschöpft. Diese vier Symptome – negative Veränderung des Denkens, der Stimmung, des Verhaltens und der körperlichen Verfassung – sind Anzeichen einer Depression, ob unipolar oder bipolar. Um als depressiv eingestuft zu werden, müssen nicht alle vier Symptome auftreten; es ist auch nicht erforderlich, daß ein bestimmtes Symptom vorhanden sein muß. Doch je mehr Symptome auftreten, und je stärker die einzelnen Symptome ausgeprägt sind, desto sicherer kann die Depression diagnostiziert werden.

4.1

Testen Sie Ihre Depression

Wie deprimiert sind Sie jetzt im Augenblick? Ich schlage Ihnen jetzt einen häufig angewandten Test für Depression vor. Der Test wurde von Lenore Radloff am Center for Epidemiological Studies of the National Institute of Mental Health erstellt.16 Dieser Test, der CES-D (Center for Epidemiological Studies – Depression) heißt, umfaßt alle Symptome der Depression. Kreisen Sie die Antwort ein, die am besten beschreibt, wie Sie sich in der letzten Woche gefühlt haben. In der letzten Woche 1

machten mir Dinge zu schaffen, die mir normalerweise nicht schwerfallen. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

2.

hatte ich keine Lust zu essen, ich hatte wenig Appetit. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

3.

konnte ich meine Traurigkeit nicht einmal mit Hilfe meiner Familie und Freunde abschütteln. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen). 43

4.

hatte ich das Gefühl, ich sei nicht so gut wie andere 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

5.

fiel es mir schwer, mich auf das zu konzentrieren, was ich gerade tat. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen) 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

6.

fühlte ich mich deprimiert. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

7.

hatte ich das Gefühl, alle Aktivitäten seien eine Anstrengung. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

8.

hatte ich keine Hoffnung für die Zukunft. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

9.

dachte ich, mein Leben sei gescheitert. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

10.

hatte ich Angst. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

11.

schlief ich unruhig. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

12.

war ich unglücklich. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

44

13.

sprach ich weniger als sonst. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

14.

fühlte ich mich einsam. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

15.

waren die Leute unfreundlich. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

16.

hatte ich keine Freude am Leben. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

17.

hatte ich Tränenausbrüche. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

18.

war ich traurig. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

19.

hatte ich das Gefühl, daß die Menschen mich nicht mögen. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

20.

konnte ich nicht »in Schwung« kommen. 0 Selten oder nie (an weniger als einem Tag). 1 Manchmal oder wenige Male (an ein oder zwei Tagen). 2 Gelegentlich oder mäßig häufig (an drei bis vier Tagen). 3 Meistens oder die ganze Zeit (an fünf bis sieben Tagen).

Dieser Test ist leicht auszuwerten. Addieren Sie die Zahlen, die Sie bei den einzelnen Fragen eingekreist haben. Wenn Sie sich nicht entscheiden konnten und zwei Zahlen für dieselbe Frage eingekreist haben, zählen Sie nur die höhere von beiden. Ihr Wert wird zwischen null und sechzig liegen. Ehe wir uns nun der Interpretation Ihres Wertes zuwenden, sollten Sie wissen, daß durch eine hohe Punktzahl noch keine Depression diagnostiziert wird. Eine solche Diagnose hängt noch von anderen Faktoren ab, zum Beispiel von der Dauer Ihrer Symptome, und kann nur nach einer ausführlichen Befragung 45

durch einen qualifizierten Psychologen oder Psychiater erstellt werden. Der Test gibt vielmehr einen verläßlichen Hinweis darauf, wie depressiv Sie im Augenblick gerade sind. Wenn Ihre Punktzahl zwischen null und neun liegt, sind Sie im Bereich der Nichtdepression. Sie liegen damit unterhalb des Durchschnitts amerikanischer Erwachsener. Mit zehn bis fünfzehn Punkten liegen Sie im Bereich einer leichten Depression. Mit sechzehn bis vierundzwanzig im Bereich einer mäßig schweren Depression. Wenn Sie eine Zahl von mehr als vierundzwanzig erreicht haben, sind Sie möglicherweise schwer depressiv. Wenn Ihre Punktzahl im Bereich der schweren Depression oder in einem beliebigen anderen Bereich liegt, und wenn Sie sich ferner mit dem Gedanken an Selbstmord tragen, wenn Sie eine Möglichkeit dazu hätten, dann rate ich Ihnen dringend, sofort einen Fachmann für psychische Störungen aufzusuchen. Wenn Ihr Wert im Bereich mäßiger Depression liegt und Sie empfinden außerdem den Wunsch, sich umzubringen, sollten Sie ebenfalls unverzüglich professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Bei einer Punktzahl in diesem Bereich sollten Sie auch den Test in zwei Wochen wiederholen. Liegt das Ergebnis dann noch immer im selben Bereich, vereinbaren Sie einen Termin mit einem Fachmann. Als Sie den Test durchführten, haben Sie wahrscheinlich festgestellt, daß Sie selbst oder Ihnen nahestehende Menschen an dieser verbreiteten Krankheit leiden. Es überrascht nicht, daß beinahe alle Amerikaner entweder selbst depressiv sind oder depressive Bekannte haben, denn in den Vereinigten Staaten herrscht eine beispiellose Epidemie von Depression. Dr. Gerald Klerman, der frühere Direktor der U. S. Government’s Alcohol, Drug Abuse and Mental Health Agency (Regierungsbehörde für Alkohol, Drogenmißbrauch und geistige Gesundheit), charakterisierte unsere Zeit einmal mit der treffenden Bezeichnung »Zeitalter der Melancholie«.17 Ich habe die letzten zwanzig Jahre damit zugebracht, die Ursachen der Depression zu erforschen. Dabei bin ich zu folgenden Schlüssen gelangt: Bipolare Depressionen (manische Depressionen) sind eine körperliche Krankheit biologischen Ursprungs und sind durch Medikamente in den Griff zu bekommen. Auch unipolare Depressionen sind teilweise biologisch verursacht, vor allem die sehr schweren. Manche unipolaren Depressionen sind ererbt. Ist einer von eineiigen Zwillingen depressiv, so ist auch der andere mit größerer Wahrscheinlichkeit depressiv als bei zweieiigen Zwillingen. Diese Form unipolarer Depression kann oft durch Medikamente behandelt werden, allerdings nicht annähernd so erfolgreich wie bipolare Depressionen. Ihre Symptome können oft mit Elektroschocks gemildert werden. Ererbte unipolare Depressionen sind jedoch in der Minderheit. Deshalb erhebt sich die Frage, woher eine so große Zahl von Depressionen kommt, daß man in den Vereinigten Staaten von einer Epidemie sprechen kann. Ich frage mich, ob die Menschen im Laufe dieses Jahrhunderts körperliche Veränderungen durchgemacht haben, die sie für Depression anfälliger werden ließen. Wahrscheinlich nicht. Es ist sehr zu bezweifeln, daß sich unsere Gehirnchemie oder unsere Gene in den letzten beiden Generationen radikal verändert haben. Der zahlenmäßige Anstieg der Depressionen auf das Zehnfache läßt sich also kaum durch biologische Argumente erklären. Ich vermute, daß die Epidemie der Depression, die uns allen vertraut ist, überwiegend psychische Ursachen hat. Ich glaube, daß die meisten Depressionen mit Problemen der Lebensführung beginnen und durch eine bestimmte Art von Gedanken über diese Pro46

bleme gefördert werden. Das waren meine Annahmen, als ich vor zwanzig Jahren mit meinen Forschungen über die Depression begann. Wie aber konnte man beweisen, daß die Ursachen der meisten Depressionen psychischer Natur sind? Durch welchen inneren Prozeß werden Menschen depressiv? Es gibt ein altbekanntes Verfahren, wissenschaftliche Streitigkeiten zu lösen: die »Modellbildung«. Modellbildung bedeutet, daß man ein »logisches Modell« konstruiert, das die Eigenschaften des zu untersuchenden Phänomens besitzt – in unserem Fall Depression. Wenn das logische Modell alle Eigenschaften des echten Phänomens aufweist, dann studiert man den Prozeß, durch den das Modell funktioniert. Dadurch erfährt man, wie das echte Phänomen funktioniert. Ich stand vor der Herausforderung, ein logisches Modell zu entwickeln, das alle Eigenschaften der Depression aufwies. Diese Aufgabe hatte zwei Teile: Erstens mußte ich das Modell konstruieren, und zweitens mußte ich zeigen, daß es auf Depressionen anwendbar war. Einige Ähnlichkeiten konnte ich sofort erkennen. Ungleich schwieriger war jedoch zu beweisen, daß es sich um dasselbe Phänomen handelte, daß also erlernte Hilflosigkeit ein Labormodell des in der wirklichen Welt existierenden Phänomens Depression war. In den zwanzig Jahren seit dem Beginn meiner Forschungsarbeit wurden über dreihundert Untersuchungen an Universitäten in aller Welt durchgeführt, in denen das Modell der erlernten Hilflosigkeit erstellt wurde. Die ersten Untersuchungen wurden mit Hunden gemacht, dann experimentierte man mit Ratten und schließlich mit Menschen. Alle diese Untersuchungen hatten dieselbe Form: Es waren Versuche mit drei Gruppen von Versuchspersonen oder -tieren. Eine Gruppe konnte irgendeinen Reiz – Lärm, Elektroschocks, Geld, Futter – unter willentliche Kontrolle bringen. Eine zweite Gruppe – die hilflose Gruppe – war an die erste gekoppelt und bekam genau dieselben Reize, konnte sie aber durch eigene Aktivität nicht abstellen. Eine dritte Gruppe wurde nicht stimuliert, sondern blieb vollkommen unbeeinflußt. Die Ergebnisse waren konsistent. Die hilflose Gruppe gab auf. Ihre Mitglieder wurden so passiv, daß sie selbst in neuen Situationen keine Handlungsversuche mehr unternahmen. Ratten blieben passiv sitzen und versuchten nicht einmal zu entkommen. Menschen starrten auf leichte Anagramme und machten keinen Versuch, sie zu lösen. (Auch eine stattliche Anzahl weiterer Symptome trat auf; wir werden sie später diskutieren.) Die Gruppe, die die Ereignisse kontrollieren konnte, blieb aktiv und munter, wie auch die unbeeinflußte Gruppe. Die Ratten rannten eilig vor dem Schock davon, und die Menschen lösten Anagramme in wenigen Sekunden. Diese klaren Ergebnisse identifizierten direkt die Quelle der erlernten Hilflosigkeit: Ihre Ursache war die Erfahrung von Versuchspersonen bzw. -tieren, daß keine ihrer Handlungen etwas bewirkte und daß ihre Reaktionen nicht den gewünschten Effekt brachten. Diese Erfahrung führte sie zu der Erwartung, daß ihre Handlungen auch in Zukunft und in neuen Situationen stets vergeblich sein würden. Die Symptome der erlernten Hilflosigkeit können auf verschiedene Arten erzeugt werden. Niederlagen und Mißerfolge führten zu denselben Symptomen wie unkontrollierbare Ereignisse. Wenn eine Ratte bei einem Kampf von einer anderen Ratte besiegt wurde, traten dieselben Symptome auf wie bei unvermeidlichen Reizen. Wenn eine Versuchsperson die Aufgabe erhielt, den Lärm abzustellen, und es gelang ihr nicht, erzeugte das dieselben Symptome wie unlösbare Probleme. Also schien der Kern von Niederlagen und Mißerfolgen erlernte Hilflosigkeit zu sein. Erlernte Hilflosigkeit konnte geheilt werden, indem man den Versuchspersonen oder -tieren zeigte, daß ihre Handlungen nun etwas bewirkten. Sie konnte auch dadurch geheilt werden, daß man den Versuchspersonen beibrachte, anders über die Ursache ihrer 47

Mißerfolge zu denken. Hilflosigkeit ließ sich verhindern, wenn die Versuchsperson vor der Erfahrung der Hilflosigkeit im Experiment lernte, daß ihre Handlungen etwas bewirkten. Je früher im Leben die Möglichkeit der Einflußnahme erlernt wurde, desto effektiver war die Immunisierung gegen die Hilflosigkeit. Damit hatten wir also eine Theorie der erlernten Hilflosigkeit entwickelt, getestet und perfektioniert. Aber konnte sie auch als Modell für Depression dienen? Paßte das Labormodell auf das Phänomen in der wirklichen Welt? Die Entsprechung mußte überzeugend sein; das ist der entscheidende Punkt bei allen Labormodellen von psychischen Krankheiten. Wir mußten wissen, ob die Symptome der erlernten Hilflosigkeit, die in all diesen Labors erzeugt wurden, dieselben Symptome waren, die auch depressive Menschen aufwiesen. Je enger die Parallele, desto besser das Modell.18 Beginnen wir mit dem schwierigsten Fall: einer schweren unipolaren Depression der Art, die die junge Patientin Sophie hatte, von der ich weiter oben in diesem Kapitel bereits berichtet habe. Wenn Sie die Hilfe eines Psychiaters oder eines Psychologen in Anspruch nehmen, wird dieser versuchen, so rasch wie möglich eine Diagnose zu erstellen. Dabei hilft ihm unter anderem ein Werk namens DSM-3-R (Diagnostic and Statistical Manual of the American Psychiatric Association, 3rd edition, Revised; dt. Diagnostisches und statistisches Handbuch der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft, 3., verbesserte Auflage). Das ist die offizielle Bibel dieser Berufsgruppe. In diesem Handbuch ist das gesamte Wissen aufgelistet, das die Diagnose einer psychischen Krankheit ermöglicht. Beim ersten Gespräch mit Ihnen wird der Therapeut prüfen, ob er Sie aufgrund Ihrer Symptome in eine bestimmte Kategorie psychischer Störungen einordnen kann. Will man eine Diagnose mit Hilfe des DSM-3-R erstellen, muß man die wichtigsten Kriterien einzeln zusammenstellen. Für die Diagnostizierung einer »schweren depressiven Störung« muß der Patient folgende neun Symptome aufweisen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Depressive Stimmung. Verlust des Interesses an den üblichen Aktivitäten. Appetitlosigkeit. Schlaflosigkeit. Psychomotorische Verzögerungen: verlangsamtes Denken oder verlangsamte Bewegung. Energieverlust. Gefühle von Wertlosigkeit und Schuld. Verringerte Denkfähigkeit und Konzentrationsschwäche. Suizidale Gedanken oder Handlungen.

Sophie war ein gutes Beispiel für einen Menschen mit einer »schweren depressiven Störung«. Sie wies sechs der neun Symptome auf; es fehlten nur Selbstmordgedanken, psychomotorische Verzögerungen und Schlaflosigkeit. Wir verglichen die Symptomenliste des diagnostischen Handbuches mit den Reaktionen, die in den Versuchen zur erlernten Hilflosigkeit bei Menschen und Tieren aufgetreten waren. Dabei stellten wir fest, daß die Gruppen, denen man die Möglichkeit zur Kontrolle der Reize gegeben hatte, keines der neun kritischen Symptome aufwiesen. Aber die Gruppen, denen man nicht ermöglicht hatte, diese Reize zu kontrollieren, wiesen nicht weniger als acht der neun Symptome auf – zwei mehr als die schwer depressive Sophie. 1.

Menschen, die man unkontrollierbarem Lärm ausgesetzt oder vor unlösbare Aufgaben gestellt hatte, berichteten, daß sie in depressive Stimmung geraten waren.

48

2.

Tiere, die unvermeidliche Schocks erhalten hatten, verloren das Interesse an ihren üblichen Aktivitäten. Sie rivalisierten nicht mehr miteinander, wehrten sich nicht mehr, wenn sie angegriffen wurden, und sorgten nicht mehr für ihre Jungen.

3.

Tiere, die unvermeidliche Schocks erhalten hatten, verloren den Appetit. Sie fraßen weniger, tranken weniger Wasser (und mehr Alkohol, wenn er ihnen angeboten wurde) und nahmen ab. Sie verloren auch das Interesse an der Paarung.

4.

Hilflose Tiere litten an Schlaflosigkeit und erwachten sehr früh, wie das auch bei deprimierten Menschen der Fall ist.

5.+6. Hilflose Menschen und Tiere hatten verlangsamte psychomotorische Reaktionen und verloren ihre Energie. Sie versuchten nicht, dem Schock zu entgehen, Futter zu bekommen oder Probleme zu lösen. Sie wehrten sich nicht, wenn sie angegriffen oder beleidigt wurden. Sie gaben bei neuen Aufgaben schnell auf. Sie erkundeten neue Umgebungen nicht. 7.

Hilflose Menschen begründeten ihre Mißerfolge beim Problemlösen mit einem Mangel an Begabung und mit Wertlosigkeit. Je depressiver sie wurden, desto negativer wurde dieser Aspekt ihrer Erklärungsmuster.

8.

Hilflose Menschen und Tiere dachten nicht sehr klar und waren unaufmerksam. Sie hatten außerordentliche Schwierigkeiten, irgend etwas Neues zu lernen. Es fiel ihnen schwer, den wichtigen Hinweisen Aufmerksamkeit zu schenken, die Belohnungen oder Sicherheit signalisierten.

Das einzige Symptom, das wir nicht feststellen konnten, waren suizidale Gedanken oder Handlungen. Das war wahrscheinlich nur deshalb so, weil die während der Labortests konstruierten Mißerfolge so unbedeutend waren. Die Entsprechung des Modells mit dem Phänomen im wirklichen Leben war also außerordentlich genau. Unvermeidlicher Lärm, unlösbare Probleme und unausweichlicher Schock erzeugten acht der neun Syptome, die für die Diagnose einer schweren Depression kennzeichnend sind. Das Ausmaß der Übereinstimmung bewog die Forscher, die Theorie auch noch auf andere Weise zu prüfen. Es gibt eine Reihe von Medikamenten, die bei Menschen Depressionen bessern. Die Forscher gaben all diese Medikamente den hilflosen Tieren. Auch hier waren die Ergebnisse wieder erstaunlich: Alle Antidepressiva (und auch Elektroschocks) heilten erlernte Hilflosigkeit bei Tieren. Wahrscheinlich erfolgte die Heilung dadurch, daß die Medikamente die Anzahl der wichtigen Neurotransmitter im Gehirn erhöhten. Die Forscher fanden zudem heraus, daß Medikamente, die Depressionen bei Menschen nicht bessern, wie Valium und Amphetamine, auch erlernte Hilflosigkeit nicht beseitigen. Die Entsprechung war also beinahe vollkommen. Den Symptomen nach schien die erlernte Hilflosigkeit, die im Labor erzeugt wurde, mit Depression beinahe identisch zu sein. Jetzt konnten wir die Zunahme der Depression als eine Epidemie erlernter Hilflosigkeit ansehen. Wir kannten die Ursache für Hilflosigkeit und somit auch Depression: Die Überzeugung, daß die eigenen Handlungen nichts bewirken werden. Ich glaube, diese Überzeugung ist der Kern unserer nationalen Depressions-Epidemie. Das moderne Selbst ist offenbar sehr anfällig für erlernte Hilflosigkeit und für die stetig wachsende Überzeugung, daß eigenes Handeln nichts bewirkt. Ich glaube den Grund dafür zu kennen und werde ihn im Schlußkapitel erläutern. Das alles mag recht düster klingen. Und doch enthält dieser Sachverhalt auch einen Aspekt, der Anlaß zur Hoffnung gibt. Dabei sind die Erklärungsmuster besonders wichtig.

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5 Wie Sie denken, wie Sie fühlen Hätte Sophie ihre Depression zwanzig Jahre früher bekommen, wäre es ihr schlecht ergangen. Die Depression hätte einfach ihren Verlauf genommen, und Sophie hätte nichts dagegen tun können. Da sie aber erst in den letzten zehn Jahren depressiv wurde, hatte sie erheblich bessere Chancen, geheilt zu werden. Denn in dieser Zeit wurde eine schnell und gut wirkende Behandlungsmethode gefunden. Die Methode wurde von dem Psychologen Albert Ellis und dem Psychiater Aaron T. Beck entwickelt. Wenn einmal die Geschichte der modernen Psychotherapie geschrieben wird, werden die Namen dieser beiden Männer wohl neben Freud und Jung stehen. Ihnen ist es zu verdanken, daß Depression nicht mehr rätselhaft ist. Sie haben gezeigt, daß Depression viel einfacher und viel leichter heilbar ist, als bisher angenommen worden war. Ehe Ellis und Beck ihre Theorien entwickelten, galt das Dogma, daß alle Depressionen manisch-depressiver Natur seien. Es gab zwei einander widersprechende Theorien über die manisch-depressive Störung: Die biomedizinische, deren Anhänger überzeugt waren, es handle sich dabei um eine Krankheit des Körpers, und die psychoanalytische, deren Verfechter nach Freud die Ansicht vertraten, Depression sei gegen das eigene Ich gerichtete Aggression. Ellis wählte einen anderen Ansatz. Nach seiner Promotion an der Columbia University im Jahre 1947 eröffnete er eine Privatpraxis für Psychotherapie. Seine Spezialgebiete waren Ehe- und Familientherapie. Schon bald begann er – vielleicht aufgrund der Eröffnungen seiner Patienten – einen Feldzug gegen sexuelle Unterdrückung, den er sein ganzes Leben lang weiterführte. Ellis wurde von vielen seiner Fachkollegen kritisiert; manche jedoch erkannten, daß er über eine ungewöhnliche klinische Begabung verfügte. Wenn seine Patienten sprachen, hörte er mit größter Aufmerksamkeit zu und konzentrierte seine Gedanken voll auf das Gesagte. In den siebziger Jahren wandte er sich zielstrebig dem Forschungsgebiet der Depression zu. Diese Krankheit wurde mit beinahe ebenso vielen Vorurteilen und Mißverständnissen betrachtet wie die Sexualität. Ellis gelang es, dieses Verständnis der Depression grundlegend zu verändern. Diese neue Aufgabe ging er nicht weniger provokativ an als seine vorherigen Aufgaben. Er war nämlich davon überzeugt, daß das, was andere für einen tiefen neurotischen Konflikt hielten, einfach auf falsches Denken zurückzuführen sei – »dummes Verhalten gar nicht dummer Leute« nannte er es. In propagandistischer Manier (er bezeichnete sich selbst einen Gegenpropagandisten) forderte er, daß die Patienten ihr falsches Denken ablegten und sich richtiges Denken angewöhnten. Erstaunlicherweise ging es den meisten seiner Patienten bald besser. Ellis hatte erfolgreich den althergebrachten Glauben angegriffen. Dieser Glaube besagte, daß seelische Krankheiten höchst komplexe, rätselhafte Phänomene seien, deren Heilbarkeit davon abhänge, daß die tiefen, unbewußten Konflikte ans Licht gefördert würden oder die körperliche Krankheit von Grund auf kuriert würde. In der hochkomplexen Welt der Psychologie wirkte dieser schlichte Ansatz ausgesprochen revolutionär. Um dieselbe Zeit begann sich auch Beck, ein freudianischer Psychiater mit großer klinischer Begabung, von dem orthodoxen Ansatz zu entfernen. Beck war wie Ellis in den sechziger Jahren zu der Überzeugung gelangt, daß die biomedizinische Theorie und die Theorie der nach innen gerichteten Aggression die Behandlungsmöglichkeiten bei Depressionen einschränkten. Nach seinem Medizinstudium in Yale hatte er jahrelang als traditioneller Analytiker praktiziert und darauf gewartet, daß der einsame Patient auf der Couch irgendeine Einsicht über seine Depression vorbrachte: wie er seine Wut gegen sich selbst gerichtet habe, anstatt sie nach außen zu tragen, 50

und wie er dadurch depressiv geworden sei. Das Warten wurde selten belohnt. Beck hatte depressive Patienten auch in Gruppen behandelt und sie ermutigt, ihre Wut und ihre Trauer auszudrücken, statt sie in sich verschlossen zu halten. Dies hatte sich nicht nur als unfruchtbar, sondern als verheerend erwiesen. Die Patienten verloren jeden Halt; Beck hatte große Mühe, ihnen wieder auf die Beine zu helfen. Als ich Beck im Jahre 1966 kennenlernte, schrieb er gerade sein erstes Buch über Depression. Sein gesunder Menschenverstand hatte sich durchgesetzt. Beck wollte jetzt nur noch darstellen, was ein deprimierter Mensch bewußt denkt. Das tiefgründige Theoretisieren darüber, woher diese Gedanken kommen, wollte er anderen überlassen. Er wußte, daß Depressive die schlimmsten Gedanken über sich selbst und ihre Zukunft haben können. War vielleicht das, was wie ein Symptom von Depression aussieht – negatives Denken –, schon die ganze Krankheit? Depression, so behauptete er mutig, läßt sich weder mit unzureichender Gehirnchemie noch mit nach innen gekehrter Wut begründen. Sie ist vielmehr eine Störung des bewußten Denkens. Mit diesem Credo griff Beck die Freudianer an. Er schrieb: Der leidende Mensch wird zu dem Glauben verleitet, er könne sich selbst nicht helfen und müsse einen professionellen Heiler aufsuchen, wenn er mit seinem Alltagsleben nicht mehr zurechtkommt. Sein Vertrauen in die »naheliegenden« Techniken, die er gewöhnlich bei der Lösung seiner Probleme anwandte, schwindet, weil er die Ansicht akzeptiert, daß emotionale Störungen von Kräften ausgehen, die sich seiner Kontrolle entziehen. Er kann nicht hoffen, sich durch eigene Bemühungen verstehen zu lernen, denn seine eigenen Vorstellungen werden als oberflächlich und belanglos abgetan. Diese subtile Indoktrination setzt den Wert des gesunden Menschenverstandes herab und hindert so den Leidenden daran, sein eigenes Urteilsvermögen zur Analyse und zur Lösung seiner Probleme einzusetzen.19 Joseph Wolpe ist ein weiterer Vorläufer dieser Revolution. Er war Psychiater in Südafrika und ein eingefleischter Dissident. Auch er entschloß sich, das psychoanalytische Establishment anzugreifen.20 Dieser Berufsstand war so konservativ, daß Wolpes Entschluß beinahe einem Angriff auf die Apartheid gleichkam. In den fünfziger Jahren verblüffte und verärgerte Wolpe die therapeutische Welt damit, daß er eine einfache Heilmethode für Phobien erfand. Die etablierten Psychiater waren der Überzeugung, Phobien – irrationale und starke Angst vor gewissen Objekten, z.B. Katzen – seien nur eine Oberflächenmanifestation einer tieferliegenden, verborgenen Störung. Sie behaupteten, wenn man lediglich die Katzenangst eines Patienten behandelte, sei das nicht besser, als würde man Masern mit Rouge zudecken. Wolpe jedoch behauptete, daß die irrationale Angst vor etwas nicht einfach Symptom einer Phobie ist, sondern die ganze Phobie. Wenn die Angst beseitigt werden könnte (und das gelang durch verschiedene Pawlowsche Löschungsverfahren, die Strafe und Belohnung beinhalteten), würde auch die Phobie verschwinden. Wenn man keine Angst vor Katzen mehr hätte, sei das Problem gelöst. Die Phobie würde nicht, wie die Psychoanalytiker und die Biomediziner behaupteten, in einer anderen Form wieder auftauchen. Wolpe und seine Anhänger nannten sich Verhaltenstherapeuten. Sie konnten solche Ängste gewöhnlich in ein bis zwei Monaten heilen, und die Phobien tauchten auch in anderer Form nicht wieder auf. Diese Unverfrorenheit erschwerte ihm das Leben in Südafrika beträchtlich; er ging ins Exil und arbeitete später an der Temple University in Philadelphia, wo er weiterhin seelische Krankheiten mit Verhaltenstherapie behandelte. Ende der sechziger Jahre wurde Philadelphia das Athen der neuen Psychologie. Der temperamentvolle Joseph Wolpe 51

lehrte an der Temple University, und Aaron Beck war jetzt an der University of Pennsylvania und gewann eine wachsende Schar von Anhängern. Er zog dieselben Schlüsse für die Depression, die Wolpe für Phobien gezogen hatte. Depression ist nicht mehr als ihre Symptome. Sie wird durch bewußte, negative Gedanken verursacht. Es gibt keine tiefsitzende Störung, die ausgemerzt werden müßte: keine ungelösten Kindheitskonflikte, keine unbewußte Wut und auch keine chemische Störung im Gehirn. Emotionen entspringen direkt unseren Gedanken. Wenn Sie denken: »Ich bin in Gefahr«, werden Sie Angst bekommen. Denken Sie: »Ich werde schlecht behandelt«, so werden Sie ärgerlich. Denken Sie »Verlust«, so werden Sie traurig. Ich wurde schon früh ein Anhänger Becks, denn ich glaubte, derselbe Prozeß – Entgleisungen des bewußten Denkens – finde sowohl bei der erlernten Hilflosigkeit als auch bei der Depression statt. Ich war 1967, gleich nach meiner Promotion an der University of Pennsylvania, nach Cornell gegangen, um dort zu lehren. 1969 bat mich Beck, für ein oder zwei Jahre an die Penn zurückzukehren und mit ihm an seinem neuen Ansatz zur Depression zu arbeiten. Ich folgte dieser Aufforderung gerne und wurde in eine Gruppe aufgenommen, die mit großem Eifer eine neue Therapieform für Depressionen entwikkelte. Unsere Überlegungen waren sehr geradlinig.21 Depression wurzelt in lebenslangen Gewohnheiten bewußten Denkens. Wenn wir diese Denkgewohnheiten ändern können, läßt sich Depression heilen. Wir nahmen uns vor, das bewußte Denken direkt anzugehen und unser gesamtes Wissen dafür zu mobilisieren, wie wir das Denken unserer Patienten über negative Ereignisse ändern konnten. Daraus entstand der neue Ansatz, den Beck »Kognitive Therapie« nannte. Das National Institute of Mental Health gab Millionenbeträge dafür aus, um die Wirksamkeit der Therapie zu testen. Sie wirkt.

 Die Art, wie Sie über Ihre Probleme denken, auch über die Depression selbst, wird die Depression entweder bessern oder verschlimmern. Ein Mißerfolg oder eine Niederlage kann Sie lehren, daß Sie im Augenblick hilflos sind, aber diese erlernte Hilflosigkeit wird sich auf kurzfristige Symptome der Depression beschränken – wenn Sie keine pessimistischen Erklärungsmuster haben. Haben Sie solche Muster, dann kann ein Mißerfolg oder eine Niederlage Sie in eine richtige Depression stürzen. Bei optimistischen Erklärungsmustern wird Ihre Depression bald aufhören. Bei Frauen ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie an Depressionen leiden, doppelt so hoch wie bei Männern. Sie neigen bei Problemen zu einer Denkweise, die Depression begünstigt. Männer neigen eher zum Handeln als zum Nachdenken; Frauen jedoch haben die Tendenz, über ihre Depression nachzudenken, sie von allen Seiten zu betrachten, möglichst zu analysieren und ihre Quelle zu entdecken. Diesen Prozeß der zwanghaften Selbstanalyse kann man als »Grübeln« bezeichnen. Kombiniert man pessimistische Erklärungsmuster mit Grübeln, so hat man das perfekte Rezept für schwere Depressionen gefunden. Das war die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht lautet, daß sowohl pessimistische Erklärungsmuster als auch das Grübeln verändert werden können, und zwar dauerhaft. Die kognitive Therapie kann optimistische Erklärungsmuster schaffen und dem Grübeln ein Ende bereiten. Sie lehrt die Fähigkeiten, die man braucht, um nach Niederlagen wieder auf die Beine zu kommen, und verhindert dadurch neue Depressionen. Sie werden sehen, wie das bei anderen funktioniert, und Sie werden lernen, wie Sie diese Techniken bei sich selbst anwenden können.

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5.1 Erlernte Hilflosigkeit und Erklärungsmuster Wenn wir eine Niederlage einstecken müssen, werden wir alle momentan hilflos. Unser innerer Schwung ist dahin. Wir sind traurig, die Zukunft sieht düster aus, und jedes Vorhaben erscheint ungeheuer anstrengend und schwierig. Manche Menschen erholen sich fast sofort, und alle Symptome der erlernten Hilflosigkeit lösen sich innerhalb von Stunden wieder auf. Andere bleiben wochenlang hilflos, und wenn die Niederlage gravierend genug ist, sogar für Monate oder länger. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen einer kurzfristigen Entmutigung und einer depressiven Phase. Sie werden sich erinnern, daß acht der neun im diagnostischen Handbuch aufgeführten Symptome für Depression (die im letzten Kapitel besprochen wurden) durch erlernte Hilflosigkeit hervorgerufen werden. Damit die Diagnose »schwere depressive Störung« zutrifft, müssen fünf der neun Symptome auftreten. Es ist jedoch noch ein weiterer Faktor erforderlich: Die Symptome dürfen nicht kurzfristig, sondern müssen anhaltend sein – mindestens zwei Wochen. Zwischen Menschen, deren erlernte Hilflosigkeit schnell wieder verschwindet, und Menschen, die zwei Wochen lang oder noch länger an ihren Symptomen leiden, gibt es einen einfachen Unterschied: optimistische oder pessimistische Erklärungsmuster. Bei pessimistischen Erklärungen ist die erlernte Hilflosigkeit langfristig und global. Bei optimistischen Erklärungen führt der Mißerfolg nur zu einer kurzen Entmutigung. Eine Schlüsselfunktion kommt der Frage zu, wieviel Hoffnung ein Mensch hat. Pessimistische Erklärungsmuster für negative Ereignisse weisen, wie Sie sich vielleicht erinnern, bestimmte Merkmale auf: Sie sind persönlich (»Es ist meine Schuld«), dauerhaft (»Es wird immer so bleiben«) und global (»Es wird alle Aspekte meines Lebens beeinträchtigen«). Wenn Sie scheitern und Ihr Scheitern mit dauerhaften und globalen Gründen erklären, projizieren Sie Ihren gegenwärtigen Mißerfolg auf die Zukunft und auf alle neuen Situationen. Daraus ergibt sich die zentrale Vorhersage meiner Theorie: Menschen, die pessimistische Erklärungsmuster haben und negative Erfahrungen machen, werden wahrscheinlich depressiv; Menschen, die optimistische Erklärungsmuster haben, werden bei der Auseinandersetzung mit negativen Erfahrungen wahrscheinlich der Depression widerstehen können.22 Wenn das zutrifft, dann ist Pessimismus ebenso ein Risikofaktor für Depression, wie Rauchen ein Risikofaktor für Lungenkrebs ist oder ein hektischer Lebensstil ein Risikofaktor für einen Herzinfarkt.

5.2 Verursacht Pessimismus Depression? Ich habe den größten Teil der letzten zehn Jahre damit verbracht, diese Vorhersage zu testen. Wir begannen mit ganz einfachen Versuchen. Zunächst legten wir den Fragebogen zu den Erklärungsmustern Tausenden von depressiven Menschen mit allen Arten und Graden von Depression vor. Dabei stellten wir durchgängig fest, daß Menschen dann, wenn sie depressiv sind, auch pessimistisch sind. Dieser Befund war so konsistent und wiederholte sich so oft, daß schätzungsweise über zehntausend Untersuchungen mit anderen Ergebnissen erforderlich wären, um ihn zu entkräften. Damit ist nicht erwiesen, daß Pessimismus Depression verursacht, sondern nur, daß depressive Menschen auch gleichzeitig pessimistisch sind, wenn sie deprimiert sind. Pessimismus und Depression würden auch dann zusammen auftreten, wenn umgekehrt Depression Pessimismus verursachen oder wenn ein dritter Faktor (wie chemische Vorgänge im Gehirn) beides hervorrufen würde. Schließlich trägt zu unserer Diagnose der Depression auch bei, daß wir auf das hören, was pessimistische Menschen sagen. Wenn 53

uns ein Patient sagt, er sei wertlos, dann gehört diese pessimistische Erklärung zu den Gründen, aus denen wir ihn als deprimiert einstufen. Also könnte die Beziehung zwischen pessimistischen Erklärungsmustern und Depression einfach zirkulär sein. Um zu beweisen, daß Pessimismus Depression verursacht, hätten wir im Idealfall eine Gruppe von nicht depressiven Menschen auswählen und zeigen müssen, daß nach einer Katastrophe die Pessimisten leichter depressiv werden als die Optimisten. Da so etwas nicht möglich ist, mußten wir einen anderen Weg finden. Eine meiner besten Studentinnen, Amy Semmel, die damals im zweiten Studienjahr war, löste das Problem. Sie wies darauf hin, daß es katastrophenähnliche Ereignisse gab, die in meinen eigenen Seminaren zweimal im Semester eintraten: Prüfungen. Als meine Seminare im September begannen, testeten wir alle Studenten sowohl auf Depression als auch auf ihre Erklärungsmuster. Im Oktober, etwa in der Mitte des Semesters, fragten wir sie, welches Ereignis sie für einen Mißerfolg halten würden. Im Durchschnitt sagten sie, wenn sie eine Zwei bekämen, wäre das ein Mißerfolg. (Das beweist, wie ehrgeizig sie waren.) Für unseren Versuch war das günstig, denn der Durchschnitt der von mir vergebenen Prüfungsnoten liegt bei einer Drei. Das bedeutete, daß die meisten meiner Studenten geeignete Versuchspersonen waren. Eine Woche später folgte die Prüfung, die in der Mitte des Semsters stattfindet, und in der Woche darauf bekamen die Studenten ihre Arbeiten benotet zurück – zusammen mit einer Kopie des BECK DEPRESSION INVENTORY. Dreißig Prozent der Studenten, die (nach ihrer eigenen Definition von Mißerfolg) versagt hatten, wurden sehr depressiv. Und dreißig Prozent der Studenten, die schon im September Pessimisten gewesen waren, ebenfalls. Aber von denen, die schon im September Pessimisten waren und zusätzlich bei der Prüfung versagten, wurden siebzig Prozent depressiv. Also ist mit schwerer Depression dann zu rechnen, wenn bereits vorhandener Pessimismus und Mißerfolg zusammentreffen. Tatsächlich waren die Studenten dieser Gruppe, die die dauerhaftesten und globalsten Gründe für ihren Mißerfolg anführten, auch im Dezember noch depressiv, als wir sie erneut testeten. Auch in einem viel ernsteren Rahmen führten wir eine Untersuchung durch: im Gefängnis. Wir prüften den Depressionsgrad und die Erklärungsmuster männlicher Gefangener vor und nach der Inhaftierung. Da im Gefängnis Selbstmord ein gravierendes Problem darstellt, wollten wir vorherzusagen versuchen, wer am meisten depressionsgefährdet war. Zu unserer Überraschung war bei Aufnahme in das Gefängnis niemand schwer depressiv. Zu unserer Bestürzung waren jedoch fast alle Gefangenen depressiv, als sie entlassen wurden. Manch einer mag darin ein Zeichen dafür sehen, daß die Gefängnisse ihre Aufgabe erfüllen; ich habe jedoch eher den Eindruck, daß während der Haftzeit etwas zutiefst Entmutigendes geschieht. Jedenfalls konnten wir auch hier wieder richtig vorhersagen, wer die schwersten Depressionen bekommen würde: diejenigen, die schon bei der Ankunft Pessimisten waren. Das bedeutet, daß Pessimismus ein fruchtbarer Boden ist, auf dem Depression gut gedeiht, besonders in einer feindseligen Umgebung. Alle diese Ergebnisse deuteten darauf hin, daß Pessimismus eine Ursache von Depression ist. Wir wußten nun, daß wir eine Gruppe von normalen Menschen begutachten und auf lange Sicht vorhersagen konnten, welche von ihnen am wahrscheinlichsten depressiv würden, wenn negative Ereignisse eintreten. Wir benützten noch eine weitere Methode, um herauszufinden, ob Pessimismus Depression verursacht: Die Beobachtung einer Gruppe von Menschen über eine längere Zeit im Alltag. Damit sollte eine sogenannte Langzeitstudie erstellt werden. Wir beobachteten eine Gruppe von 400 Drittkläßlern bis zur sechsten Klasse (und beobachten sie auch heute noch). Zweimal im Jahr testen wir ihre Erklärungsmuster, ihren Depressionsgrad, ihre schulische Leistung und ihre Beliebtheit. Wir fanden heraus, daß bei Kindern, die schon anfangs Pessimisten waren, die größte Wahrscheinlichkeit bestand, in den fol54

genden vier Jahren depressiv zu werden und zu bleiben. Die Kinder, die zu Beginn Optimisten waren, wurden nicht depressiv oder erholten sich rasch wieder, wenn sie einmal depressiv wurden. Wenn schwerwiegende negative Ereignisse eintraten, wie die Trennung oder Scheidung der Eltern, gingen die Pessimisten am leichtesten unter. Wir untersuchten auch Erwachsene und stellten dasselbe Muster fest. Beweisen diese Untersuchungen wirklich, daß Pessimismus Depression verursacht, oder belegen sie nur eine der Tatsachen, die zur Debatte stehen – daß Pessimismus der Depression zeitlich vorangeht und sie ankündigt? Nehmen wir einmal an, die Menschen hätten ein hohes Maß an Einsicht in ihre Reaktionen auf negative Ereignisse. Manche Menschen haben wiederholt erlebt, wie niedergeschlagen sie werden, wenn schmerzhafte Dinge geschehen. Dieses Wissen macht sie zu Pessimisten. Andere haben erlebt, wie schnell sie wieder auf die Beine kommen; sie werden Optimisten. Die Menschen werden also Pessimisten oder Optimisten, weil sie ihre Reaktionen auf negative Ereignisse selbst beobachtet haben. So gesehen wäre Pessimismus ebenso wenig die Ursache von Depression, wie ein Tachometer, der sechzig Stundenkilometer anzeigt, die Ursache für die Fortbewegung des Autos ist: Der Pessimismus würde dann wie der Tachometer lediglich tieferliegende Vorgänge anzeigen. Ich kenne nur einen Weg, diesen Streit zu entscheiden: nämlich zu prüfen, wie die Therapie funktioniert.

5.3

Erklärungsmuster und kognitive Therapie

Tanya kam zur Therapie, weil ihre Ehe täglich schlechter wurde, weil sie ihre drei Kinder als wild und ungezogen erlebte und weil sie schwer depressiv war. Sie war bereit, an einer Untersuchung über verschiedene Therapien gegen Depression teilzunehmen, und erhielt kognitive Therapie und Antidepressiva. Sie war damit einverstanden, daß ihre Therapiestunden auf Band aufgenommen wurden. In den folgenden Zitaten aus ihren ersten Sitzungen habe ich die Erklärungen kursiv gesetzt, die sie anfangs für ihre Probleme gab. Ich werde jedem Zitat eine Zahl zuordnen. Diese Zahlen sind die Werte für Tanyas Pessimismus (vgl. Kapitel 3). Sie reichen von 3 (vollkommen zeitweilig, spezifisch und external) bis 21 (vollkommen dauerhaft, global und personalisiert). Jede einzelne Dimension ist von 1 bis 7 gestaffelt, so daß die Werte für alle drei Dimensionen zusammen zwischen 3 und 21 liegen. Werte von 3 bis 8 sind sehr optimistisch. Werte über 13 sind sehr pessimistisch. Sie mochte sich selbst nicht, »denn ich schreie meine Kinder immer an und entschuldige mich nie dafür.« (Dauerhaft, ziemlich global und persönlich: 17). Sie hatte keine Hobbys, »denn ich tauge zu gar nichts.« (Dauerhaft, global und persönlich: 21). Sie nahm ihre Medikamente gegen die Depression nicht, »denn ich kann nicht damit umgehen, ich bin nicht stark genug.« (Dauerhaft, global und persönlich: 15). Tanyas Erklärungen waren durchgehend pessimistisch. Jegliches Übel dauerte ewig, zerstörte alles und war ihre Schuld. Wie alle Mitglieder ihrer Gruppe wurde sie zwölf Wochen lang behandelt. Sie entwikkelte sich sehr gut. Ihre Depression besserte sich schon nach einem Monat merklich, und am Ende der Behandlung war sie frei von Depression. Äußerlich hatte sich in ihrem Leben nicht viel zum Guten gewendet. Ihre Ehe brach Stück für Stück auseinander. Ihre Kinder waren nach wie vor ungezogen, in der Schule ebenso wie zu Hause. Aber Tanya sah die Ursachen ihrer Probleme wesentlich optimistischer, wie die folgenden Zitate späterer Erklärungen zeigen:

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»Ich mußte allein in die Kirche gehen, weil mein Mann gemein war und nicht gehen wollte.« (Zeitweilig, spezifisch und external: 8). »Ich laufe in alten Kleidern herum, »weil die Kinder Schulkleidung brauchen.« (Eher zeitweilig, spezifisch und external: 8). »Er nahm mein ganzes Geld vom Sparkonto und gab es für sich selbst aus. Wenn ich einen Revolver gehabt hätte, hätte ich ihn erschossen.« (Zeitweilig, spezifisch und external: 9). Sie hatte Probleme beim Autofahren, »weil meine Brille nicht dunkel genug ist.« (Zeitweilig, spezifisch, external: 6). Wenn sich unerfreuliche Dinge ereigneten, und das geschah beinahe jeden Tag, sah Tanya sie nicht mehr als unveränderlich, allumfassend und selbstverschuldet an. Sie begann jetzt zu handeln, um die Dinge zu ändern. Welche Ursache hatte Tanyas beachtliche Veränderung ihrer Erklärungsmuster von pessimistisch zu optimistisch? Waren es die Medikamente oder war es die kognitive Therapie? War die Veränderung lediglich ein Anzeichen dafür, daß sie jetzt weniger depressiv war, oder war sie die Ursache dafür, daß sie weniger depressiv war? Weil Tanya zu den vielen Patienten gehörte, die mit mehreren Methoden gleichzeitig behandelt wurden, konnten diese Fragen nicht beantwortet werden. Erstens schlugen allgemein beide Behandlungen sehr gut an. Sowohl Antidepressiva als auch kognitive Therapie wirkten auch allein sehr gut gegen Depression. Kombiniert halfen sie sogar noch besser, aber der Unterschied war gering. Zweitens war der wirksame Faktor in der kognitiven Therapie eine Verwandlung von Tanyas pessimistischen Erklärungsmustern in optimistische. Je länger die kognitive Therapie dauerte und je größer die Fähigkeiten des Therapeuten waren, desto umfassender war die Veränderung in Richtung Optimismus. Je umfassender der Optimismus, desto stärker ging die Depression zurück. Medikamente hingegen, die die Depression auch recht wirksam linderten, machten die Patientin nicht optimistischer. Also konnte man guten Gewissens zu dem Schluß kommen, daß zwar sowohl Medikamente als auch kognitive Therapie Depression lindern, daß sie aber wahrscheinlich auf sehr unterschiedliche Weise wirken. Medikamente haben eine aktivierende Wirkung, sie geben dem Patienten Kraft und machen ihn beweglicher, aber sie sorgen nicht dafür, daß die Welt einladender aussieht. Die kognitive Therapie jedoch verändert ihre Sichtweise der Dinge, und ihr neugewonnener, optimistischer Stil macht die Patienten munter und aktiv. Die dritte und wichtigste Reihe von Erkenntnissen betraf die Rückfallquote. Wie stabil war die Linderung der Depression? Tanya wurde nicht wieder depressiv, aber viele der anderen Patienten, die bei dieser Untersuchung mitmachten, erlitten Rückfälle. Die Ergebnisse zeigten, daß der Schlüssel zur dauerhaften Befreiung von Depression eine Veränderung der Erklärungsmuster war. Viele Patienten der Gruppe, die Medikamente bekam, wurden rückfälhg, aber die Patienten, deren Erklärungsmuster sich durch die kognitive Therapie von pessimistischen in optimistische verwandelt hatten, waren viel seltener von einem Rückfall bedroht.23 Kognitive Therapie wirkt also spezifisch dadurch, daß sie die Patienten optimistischer macht. Rückfälle treten selten auf, weil die Patienten Fähigkeiten erlernen, die sie immer wieder einsetzen können, ohne von Medikamenten oder Ärzten abhängig zu sein. Auch Medikamente helfen gegen Depression, aber nur vorübergehend; denn im Gegensatz zur kognitiven Therapie beeinflussen sie nicht den Pessimismus, der die Wurzel des Problems ist. Ich schloß aus diesen Untersuchungen, daß pessimistische Erklärungsmuster Vorhersagen darüber ermöglichen, welche gegenwärtig nicht depressiven Menschen zukünftig depressiv werden könnten. Sie geben auch Auskunft darüber, wer depressiv bleiben und 56

wer nach der Therapie einen Rückfall erleiden wird. Wenn man die Erklärungsmuster von pessimistischen in optimistische verwandelt, lindert das die Depression beträchtlich. Unser Anliegen war die Frage, ob Pessimismus lediglich wie ein Tachometer wirkt, ob er also lediglich anzeigt, daß Sie bei negativen Ereignissen leicht depressiv werden, jedoch nicht selbst die Ursache der Depression ist. Das kann man prüfen, indem man Pessimismus in Optimismus verwandelt. Ist Pessimismus die Ursache für den Hang zur Depression, sollte diese Verwandlung die Depression bessern. Das war auch tatsächlich der Fall, was beweist, daß Pessimismus bei Depression eine kausale Rolle spielt.

5.4 Grübeln und Depression Wenn Sie bei jedem Fehlschlag meinen: »Es liegt an mir, es wird ewig dauern und alles verderben, was ich anpacke«, werden Sie leicht Opfer einer Depression. Aber auch wenn Sie dazu neigen, so zu denken, heißt das nicht unbedingt, daß Sie sich diese Gedanken häufig selbst vorsagen. Manche tun das, andere nicht. Menschen, die häufig mit sich selbst sprechen, »kauen« alles, was sie erlebt haben, mehrfach wieder durch. Solche »Wiederkäuer« können Optimisten oder Pessimisten sein. Sind sie Pessimisten, so sind sie in einer mißlichen Lage. Ihre »Glaubensstruktur« ist pessimistisch; sie erinnern sich selbst immer wieder, wie schlecht alles ist. Andere Pessimisten sind handlungsorientiert und grübeln nicht. Ihre Erklärungsmuster sind zwar pessimistisch, aber sie reden kaum mit sich selbst. Tun sie es dennoch, dann reden sie gewöhnlich darüber, was sie zu tun beabsichtigen, und nicht darüber, wie schlecht alles ist. Als Tanya zur Therapie kam, war sie nicht nur eine Pessimistin, sondern eine zwanghafte Grüblerin. Sie dachte endlos über ihre Ehe, ihre Kinder und – was das Unfruchtbarste ist – über die Depression selbst nach. »Aber jetzt will ich überhaupt nichts mehr tun ... »Es ist wirklich schlimm. Ich bin ständig im Keller. Ich bin keine Heulsuse – ich weine nur, wenn ich einen guten Grund habe –, aber jetzt, mein Gott, jetzt braucht nur jemand etwas zu sagen, was mir nicht gefällt, und ich heule los ...« »Ich kann das nicht mehr ertragen ...« »Ich bin kein besonders liebevoller Mensch ...« »Mein Mann läßt mich nicht in Ruhe. Er quält mich ständig. Wenn er sich das bloß abgewöhnen könnte.« Tanya sann ohne Unterlaß über ihr Unglück nach und überließ sich einer Flut von quälenden Gedanken. Keine ihrer Aussagen war auf eigenes Handeln gerichtet. Ihre Depression wurde nicht nur durch ihren Pessimismus gefördert, sondern auch durch das Grübeln.24 Die Verknüpfung von Pessimismus und Grübeln führt auf folgendem Wege zur Depression: Zuerst bedroht Sie etwas, von dem Sie glauben, daß Sie nichts dagegen unternehmen können. Dann analysieren Sie, warum das so ist, und wenn Sie ein Pessimist sind, gelangen Sie zu Erklärungen, die dauerhaft, global und persönlich sind. Diese wecken in Ihnen die Erwartung, daß Sie auch zukünftig und in vielen Situationen hilflos sein werden. Diese bewußte Erwartung ist das letzte Glied in der Gedankenkette, die die Depression auslöst. Vielleicht taucht diese Erwartung nur selten auf, vielleicht auch andauernd. Je mehr Sie zum Grübeln neigen, desto häufiger taucht sie auf. Je häufiger sie auftaucht, desto depressiver werden Sie. Das Grübeln, das Nachdenken darüber, wie schlimm die Dinge sind, eröffnet die Sequenz. Bei chronischen Grüblern wiederholt sich das ganze Programm ständig, wann immer ihnen die ursprüngliche Bedrohung wieder einfällt. 57

Menschen, die nicht grübeln, entgehen auch dann meist der Depression, wenn sie Pessimisten sind. Bei ihnen läuft die Sequenz selten ab. Menschen, die zwar zum Grübeln neigen, aber Optimisten sind, werden ebenfalls nicht depressiv. Wenn man entweder das Grübeln oder den Pessimismus beseitigt, lindert das die Depressionen. Am meisten hilft es, wenn man beides aufgibt. Wir stellen also fest, daß pessimistische Grübler das höchste Depressionsrisiko aufweisen. Die kognitive Therapie grenzt das Grübeln ebenso ein, wie sie optimistische Erklärungsmuster schafft. Tanyas Aussagen am Ende ihrer Therapie klangen wie folgt: »Ich will keine Ganztagsstelle mehr, ich will nur eine Teilzeitarbeit, vier Stunden am Tag, damit ich nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen muß ... « (Handeln) »Ich werde das Gefühl haben, etwas zum Einkommen beizutragen. Wenn wir dann mal ausgehen wollen, können wir uns das auch leisten.« (Handeln) »Ab und zu mache ich gern etwas ganz Spontanes.« (Handeln) Sie grübelte nicht mehr fortwährend über negative Ereignisse nach; ihre Rede strotzte vor Handlungsaussagen.

5.5 Die andere Seite der Epidemie: Frauen versus Männer Die entscheidende Rolle des Grübelns bei der Depression könnte für die auffallende Tatsache verantwortlich sein, daß von Depression vorwiegend Frauen betroffen sind. Zahlreiche Untersuchungen belegen, daß im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts Frauen viel häufiger depressiv wurden als Männer. Das Verhältnis ist zwei zu eins.25 Warum sollten Frauen viel mehr leiden müssen? Liegt der Grund vielleicht darin, daß Frauen bereitwilliger zur Therapie gehen als Männer und daher häufiger in den Statistiken erscheinen? Nein. Dasselbe Verhältnis zum Nachteil der Frauen zeigte sich bei Befragungen, die direkt an der Haustür durchgeführt wurden. Liegt der Grund vielleicht darin, daß Frauen eher bereit sind, offen über ihre Probleme zu reden? Wahrscheinlich nicht. Das Verhältnis zwei zu eins ergibt sich sowohl bei öffentlichen als auch bei anonymen Umfragen. Liegt der Grund vielleicht darin, daß Frauen oft schlechtere Stellen und weniger Geld haben als Männer? Nein. Das Verhältnis bleibt auch dann zwei zu eins, wenn man Gruppen von Frauen und Männern mit der gleichen Arbeit und dem gleichen Einkommen vergleicht: Reiche Frauen sind doppelt so häufig depressiv wie reiche Männer, und arbeitslose Frauen doppelt so häufig wie arbeitslose Männer. Gibt es irgendeinen biologischen Unterschied, der mehr Depression verursacht? Gewiß nicht. Untersuchungen von prämenstrueller und postpartaler Emotionalität zeigen, daß Schwankungen im Hormonspiegel Depression zwar durchaus beeinflussen können, daß aber die Auswirkungen nicht annähernd stark genug sind, um einen Unterschied von zwei zu eins auszumachen. Liegt die Ursache in einem genetischen Unterschied? Sorgfältige Untersuchungen über die Häufigkeit von Depressionen bei Söhnen und Töchtern von männlichen und weiblichen Depressiven zeigen, daß es auch bei den Söhnen depressiver Väter viel Depression gibt – überdurchschnittlich viel. Bedenkt man, auf welchem Wege Chromosomen vom Vater an den Sohn und von der Mutter an die Tochter weitergegeben werden, dann kann es nicht sein, daß die Genetik für das ungleiche Verhältnis verantwortlich ist. Es gibt Anzeichen für einen genetischen Anteil an der Depression, aber es gibt keine genetischen Gründe dafür, daß sie bei Frauen häufiger als bei Männern auftritt. Drei interessante mögliche Gründe müssen noch genannt werden. 58

Die erste Möglichkeit betrifft die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern – es läßt sich fragen, ob die Rolle einer Frau in unserer Gesellschaft so beschaffen ist, daß Frauen für Depressionen anfälliger sind. Ein beliebtes Argument in diesem Zusammenhang ist, daß Frauen dazu erzogen werden, größeres Gewicht auf Liebe und soziale Beziehungen zu legen, während Männer dazu erzogen werden, auf Leistung zu setzen. Das Selbstwertgefühl einer Frau sei also davon abhängig, wie Liebe und Freundschaft gedeihen. Umbrüche im Privatleben – von einer Ehescheidung oder Trennung bis hin zum Erwachsenwerden der Kinder – treffen Frauen härter als Männer. All das mag stimmen, aber es erklärt nicht, warum Frauen mit doppelter Wahrscheinlichkeit depressiv werden. Denn dieses Argument kann man auch umdrehen: Nach dieser Hypothese müßten ja auch Männer einen Mißerfolg bei der Arbeit viel schwerer verkraften können; schlechte Beurteilung, keine Beförderung, die Fußballmannschaft verliert – all das nagt am Selbstwertgefühl eines Mannes. Und Mißerfolge scheinen bei der Arbeit genauso häufig zu sein wie in der Liebe, also müßte es bei Männern genausoviel Depression geben wie bei Frauen. Ein weiteres modernes Argument zu den Geschlechtsrollen gilt dem Rollenkonflikt: Im modernen Leben werden an Frauen mehr miteinander unverträgliche Anforderungen gestellt als an Männer. Eine Frau nimmt nicht nur die traditionelle Rolle von Hausfrau und Mutter wahr, sondern muß jetzt obendrein auch noch einen Beruf ergreifen. Diese zusätzliche Anforderung führt zu mehr Belastungen, als eine Frau je zuvor aushalten mußte, und dadurch auch zu mehr Depressionen. Das klingt plausibel, aber wie so viele plausible und ideologisch willkommene Theorien zerbricht auch diese an den harten Fakten. Berufstätige Frauen sind im Durchschnitt seltener, nicht häufiger, depressiv als Frauen, die nicht außerhalb des Hauses arbeiten. Also kann auch die Verteilung der Geschlechtsrollen die doppelt so hohe Depressionsrate bei Frauen nicht erklären. Der zweite Erklärungsansatz betrifft die erlernte Hilflosigkeit und die Erklärungsmuster. In unserer Gesellschaft, so wird behauptet, sammeln Frauen im Laufe ihres Lebens überreichliche Erfahrungen mit Hilflosigkeit. Das Verhalten von Knaben wird von Eltern und Lehrern gelobt oder kritisiert, während das von Mädchen häufig ignoriert wird. Knaben werden zu Selbstvertrauen und Aktivität erzogen, Mädchen zu Passivität und Abhängigkeit. Wenn sie erwachsen sind, finden sich Frauen in einer Kultur vor, die die Rolle der Hausfrau und Mutter verachtet. Wendet sich eine Frau der Arbeitswelt zu, stellt sie fest, daß ihre Leistungen weniger Anerkennung finden als die von Männern. Wenn sie bei einer Konferenz das Wort ergreift, schauen mehr Leute gelangweilt drein als bei einem Mann. Schneidet sie trotz alledem gut ab und wird in eine einflußreiche Position befördert, heißt es, sie sei am falschen Platz. Erlernte Hilflosigkeit also auf Schritt und Tritt. Wenn Frauen pessimistischere Erklärungsmuster haben als Männer, wird jede neue Erfahrung von Hilflosigkeit dazu führen, daß Frauen eher depressiv werden als Männer. Tatsächlich gibt es Belege dafür, daß jegliche Belastung bei Frauen mehr Depression auslöst als bei Männern. Auch diese Theorie ist zwar plausibel, aber lückenhaft. Eine Lücke besteht darin, daß bislang nicht nachgewiesen wurde, daß Frauen pessimistischer sind als Männer. Die einzige relevante Untersuchung zu diesem Thema wurde an Grundschulkindern vorgenommen, und ihre Ergebnisse fielen unerwartet aus. Bei den Dritt-, Viert- und Fünftkläßlern sind die Knaben pessimistischer als die Mädchen und werden häufiger depressiv. Wenn Eltern sich scheiden lassen, werden die Knaben depressiver als die Mädchen. Das mag sich in der Pubertät ändern, und es sieht auch tatsächlich so aus, als würde das Verhältnis zwei zu eins im Jugendalter entstehen. In der Pubertät könnte also etwas geschehen, das junge Mädchen in die Depression hinein- und junge Männer aus ihr herauskatapultiert. Mehr davon in den Kapiteln sieben und acht, in denen von Elternschaft und Schule die Rede ist. Eine weitere Lücke: Niemand hat bislang nachgewiesen, daß Frauen ihr Leben für weniger kontrollierbar halten als Männer das ihre. 59

Die letzte der drei Theorien betrifft das Grübeln. Sie lautet: Wenn es Probleme gibt, denken Frauen, während Männer handeln. Wenn eine Frau ihre Arbeitsstelle verliert, sucht sie nach dem Grund ihrer Entlassung. Sie grübelt und durchlebt das Ereignis immer wieder. Wenn ein Mann gefeuert wird, geht er aus und betrinkt sich, schlägt jemanden zusammen oder lenkt sich auf andere Weise davon ab, über das Ereignis nachdenken zu müssen. Unter Umständen macht er sich sofort auf den Weg und sucht sich eine neue Arbeit, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was zuvor schiefgegangen war. Wenn Depression eine Störung des Denkens ist, wird sie durch Pessimismus und Grübeln begünstigt. Die Neigung zum Analysieren nährt sie, die Neigung zum Handeln durchbricht sie. Möglicherweise ist es die Depression selbst, die bei Frauen die Neigung zum Grübeln mehr befördert als bei Männern. Was tun wir, wenn wir deprimiert sind? Frauen versuchen herauszufinden, woher die Depression kommt. Männer gehen Basketball spielen oder lenken sich durch Arbeit ab. Interessanterweise haben Männer mit Alkoholismus häufiger Probleme als Frauen – vielleicht sogar so viel häufiger, daß wir sagen können: Männer trinken, Frauen werden depressiv. Es könnte sein, daß Männer trinken, um ihre Sorgen zu vergessen, während Frauen zu grübeln beginnen. Die Frau, die über die Quelle ihrer Depression nachdenkt, wird nur noch depressiver werden, während der Mann, der mit Handeln reagiert, eine Depression vielleicht aufhalten kann. Die Theorie, die das Grübeln in den Mittelpunkt stellt, könnte vielleicht die Depressionsepidemie erklären, ebenso wie das ungleiche Verhältnis in der Verteilung. Wir leben heute in einem Zeitalter der Selbsterkenntnis, in dem wir ermutigt werden, unsere Probleme ernst zu nehmen und sie endlos zu analysieren, anstatt zu handeln. Es ist möglich, daß dieser Sachverhalt mehr Depression auslöst. Im Schlußkapitel werde ich näher auf diese Überlegung eingehen. Vor kurzem kam neues Belegmaterial hinzu, das die Rolle des Grübelns als Ursache des Geschlechtsunterschiedes bei der Depression unterstreicht. Susan Nolen-Hoeksema von der Stanford University, die die »Grübeltheorie« entworfen hat, hat sie auch als erste überprüft. Wenn Frauen beschreiben, was sie tatsächlich tun, wenn sie depressiv sind (und nicht das, was sie eigentlich tun sollten), dann sagen die meisten: »Ich habe versucht, meine Stimmung zu analysieren« oder »Ich habe versucht herauszufinden, warum ich mich so fühle.« Die meisten Männer erklären hingegen, daß sie etwas taten, was sie gern tun, wie Sport oder Musik. Oder sie sagen: »Ich beschloß, mich nicht um meine Stimmung zu kümmern.« Dasselbe Muster ergab sich bei einer Untersuchung von Tagebüchern. Männer und Frauen sollten dabei aufschreiben, was sie taten, wenn sie niedergeschlagen waren – Frauen denken nach und analysieren ihre Stimmung, Männer suchen nach Zerstreuung. Bei einer Untersuchung über Paare, die sich häufig stritten, sprachen beide Partner auf einen Kassettenrecorder, was sie taten, wenn Ehestreit aufkam. Frauen konzentrierten sich weitgehend auf ihre Gefühle und drückten sie aus, die Männer zerstreuten sich oder beschlossen, sich nicht um ihre Stimmung zu kümmern. Schließlich wurde niedergeschlagenen, traurigen Männern und Frauen in einer Laboruntersuchung die Wahl zwischen zwei Aufgaben angeboten: Sie konnten sich dafür entscheiden, Wörter aufzulisten, die ihre Stimmung am besten beschrieben (eine Aufgabe, die die Depression in den Mittelpunkt stellte), oder sie konnten eine Liste von Ländern nach ihrem Reichtum einstufen (zerstreuende Aufgabe). Siebzig Prozent der Frauen wählten die Aufgabe, die sich auf die Gefühle bezog, und listeten die Wörter auf, die ihre Stimmung beschrieben. Nur dreißig Prozent wählten die ablenkende Aufgabe, die Länder einzustufen. Bei den Männern waren die Prozentzahlen jedoch umgekehrt. Man kann also das häufigere Auftreten von Depressionen bei Frauen wohl damit plausibel erklären, daß sie bei Kummer ihre Gefühle analysieren und ihnen viel Raum geben. 60

Das bedeutet, daß leichte Depressionen bei Männern und Frauen mit gleicher Häufigkeit auftreten. Bei Frauen wird aber oft eine schwerere Depression daraus, wenn sie sich mit ihrem Zustand zu beschäftigen beginnen. Männer hingegen befreien sich aus diesem Zustand, indem sie sich zerstreuen, den Kummer abreagieren oder ihn in Alkohol ertränken. Wenden wir uns nun zwei weiteren plausiblen Ansichten zu, für die es gewisse Belege gibt. Die eine Ansicht lautet, daß Frauen mehr Hilflosigkeit und Pessimismus lernen; die zweite Ansicht besagt, daß die häufigere anfängliche Reaktion von Frauen auf Kummer – Grübeln – direkt in die Depression führt.

5.6 Ist Depression heilbar? Der Charakter war vor hundert Jahren die gängigste Erklärung für menschliches Handeln, vor allem für schlechte Taten. Mit Wörtern wie »gemein«, »dumm«, »kriminell« und »böse« glaubte man tadelnswertes Verhalten hinreichend erklären zu können. »Verrückt« war als Erklärung für Geisteskrankheit akzeptiert. Diese Begriffe bezeichnen Eigenschaften, die nicht leicht zu ändern sind, wenn man sie überhaupt ändern kann. Außerdem sind sie als Konzepte selbsterfüllend. Menschen, die sich für dumm halten, anstatt für unzureichend gebildet, unternehmen nichts, um ihren Horizont zu erweitern. Eine Gesellschaft, die ihre Kriminellen als böse und ihre Geisteskranken als verrückt betrachtet, unterstützt keine Institutionen, die auf echte Rehabilitierung hinarbeiten. Vielmehr unterstützt sie Einrichtungen, die der Strafe dienen oder bloße Aufbewahrungsanstalten sind, um unliebsame Menschen von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts begannen sich die Begriffe und Vorstellungen zu ändern. Wahrscheinlich setzte der wachsende politische Einfluß der Arbeiterschaft diese Veränderung in Gang. In den Vereinigten Staaten traf eine Welle von europäischen und asiatischen Einwanderern nach der anderen ein, deren Lebenslage, sich in weniger als einer Generation sichtlich besserte. Man erklärte menschliches Versagen nicht länger durch einen dauerhaft schlechten Charakter, sondern sprach von schlechter Erziehung oder ungünstigen Verhältnissen. Unwissenheit wurde immer mehr als Mangel an Schulbildung angesehen, nicht mehr als Dummheit, Verbrechen wurden als Folge von Armut, nicht mehr von Bosheit eingestuft. Die Armut selbst galt jetzt als Mangel an Möglichkeiten und nicht mehr als Faulheit. Geisteskrankheit hielt man nun für »unangepaßte« Gewohnheiten, die man ändern könne. Diese neue Ideologie, die die Umwelt des Menschen betont, wurde zur Grundlage des Behaviorismus, der die amerikanische (und die russische) Psychologie von 1920 bis 1965, von Lenin bis Lynden B. Johnson, beherrschte. Die kognitive Psychologie, die auf den Behaviorismus folgte, behielt den optimistischen Glauben an die Veränderung bei und verband ihn mit einer erweiterten Auffassung vom Selbst. Sie ging von der These aus, daß sich das Selbst verbessern kann. Menschen, die die Häufigkeit menschlichen Versagens in dieser Welt reduzieren wollten, konnten neue Hoffnung schöpfen: Sie konnten ihren Blick über die Schwierigkeit hinausrichten, daß sie die Bedingungen ihrer Erziehung gar nicht mehr und ihre Umwelt nur schwer ändern konnten. Sie durften sich nunmehr davon überzeugen, daß das Individuum sich frei dafür entscheiden kann, an sich zu arbeiten. Beispielsweise lag die Heilung seelischer Krankheiten nicht mehr allein in den Händen von Therapeuten, Sozialarbeitern und psychiatrischen Anstalten. Sie ging nun in die Hände der Betroffenen selbst über. Diese Überzeugung ist die intellektuelle Grundlage einer Bewegung, die auf die Selbstentwicklung gerichtet ist. Sie findet in einer Flut von Büchern und Ratgebern über Diät, Gymnastik und Persönlichkeitsveränderung, Streßabbau, Flugangst und Depression ihren Ausdruck. Bemerkenswerterweise ist diese Ideologie der Selbsthilfe keineswegs nur Phrasendrescherei. Unsere Gesellschaft stellt das Selbst sehr stark in den Vordergrund 61

und schafft damit eine Entität, die kein bloßes Hirngespinst ist. Das sich selbst verbessernde Selbst verbessert sich tatsächlich selbst. Sie können dabei wirklich abnehmen und Ihren Cholesterinspiegel senken, Sie können körperlich kräftiger und attraktiver werden, weniger gestreßt und reflexhaft feindselig – und weniger pessimistisch. Die Prophezeiung der Selbstverbesserung ist ebenso selbsterfüllend wie der alte Glaube, daß sich der Charakter nicht ändern lasse. Menschen, die glauben, daß sie keine Stubenhocker oder Streithammel sein müssen, geben sich Mühe, in Bewegung zu kommen oder erst einmal durchzuatmen und zu überlegen, ehe sie zu streiten anfangen, wenn jemand sie ärgert. Menschen, die nicht glauben, daß dies möglich ist, werden in der Tat unfähig sein und bleiben, sich zu ändern. Eine Kultur, die an Selbsthilfe glaubt, wird Gesundheitsvereine, die Anonymen Alkoholiker und Psychotherapien fördern. Eine Kultur, die glaubt, daß Übeltaten das Ergebnis eines nicht zu verändernden schlechten Charakters sind, wird dergleichen nicht einmal versuchen. Depressionen gibt es seit Menschengedenken – solange es eben menschliches Scheitern gibt. Und schon immer lautete der Rat weiser Menschen, sich nicht übermäßig mit den Mißerfolgen zu beschäftigen. Meist hatten sie wenig Erfolg. Seit den achtziger Jahren gibt es die kognitive Therapie. Sie zielt darauf, daß die Menschen anders über ihre Mißerfolge denken als bisher. Und die kognitive Therapie wirkt. Was geschieht in dieser Therapie, und warum wirkt sie?

5.7 Kognitive Therapie und Depression Aaron Beck und Albert Ellis predigten in den siebziger Jahren einer ständig wachsenden Zuhörerschaft, daß vor allem unser bewußtes Denken darüber entscheidet, wie wir uns fühlen. Aus dieser These heraus entwickelte sich eine Therapie, die erreichen will, daß die Patienten ihr bewußtes Denken über Mißerfolge, Niederlagen, Verluste und Hilflosigkeit ändern. In der kognitiven Therapie gibt es fünf taktische Schritte: Erstens lernen Sie die automatischen Gedanken erkennen, die Ihnen in den Augenblikken durch den Kopf schießen, in denen Sie sich am schlechtesten fühlen. Automatische Gedanken sind blitzschnell auftauchende Redensarten oder Sätze, die so eingefahren sind, daß man sie fast nicht bemerkt und ihnen daher auch nichts entgegenhalten kann. (Beispiel: Eine Mutter schreit ihre drei Kinder manchmal morgens an, wenn sie sie in die Schule schickt. Als Folge davon fühlt sie sich sehr deprimiert. In der kognitiven Therapie lernt sie erkennen, daß sie sich dann jedesmal direkt danach sagt: »Ich bin eine furchtbare Mutter – sogar noch schlimmer als meine eigene Mutter.« Sie lernt, sich diese automatischen Gedanken bewußt zu machen, lernt, daß sie zu ihren Erklärungsmustern gehören und daß diese Erklärungen dauerhaft, global und persönlich sind.) Zweitens lernen Sie, diesen automatischen Gedanken dadurch entgegenzuwirken, daß Sie Gegenbeweise mobilisieren. (Der Mutter wird geholfen, sich an positive Dinge zu erinnern und sie auch anzuerkennen, so zum Beispiel, daß sie nachmittags mit den Kindern Fußball spielt, ihnen bei den Hausaufgaben hilft und verständnisvoll mit ihnen über ihre Sorgen spricht. Sie konzentriert sich auf diese Beweise und sieht, daß sie ihrem automatischen Gedanken widersprechen, sie sei eine schlechte Mutter.) Drittens lernen Sie, andere Erklärungen zu geben, sogenannte »Neuzuschreibungen« vorzunehmen, und mit ihrer Hilfe gegen Ihre automatischen Gedanken anzukämpfen. (Die Mutter könnte etwa lernen zu sagen: »Nachmittags kann ich gut mit den Kindern umgehen, nur morgens bin ich gräßlich zu ihnen. Vielleicht bin ich ein Morgenmuffel.« Das ist eine viel weniger dauerhafte und globale Erklärung dafür, daß sie morgens die Kinder anschreit. Sie lernt die Kette von negativen Erklärungen, die ungefähr so lautet: »Ich bin eine schreckliche Mutter. Ich verdiene nicht, Kinder zu haben, deshalb verdie62

ne ich zu sterben«, dadurch zu unterbrechen, daß sie die gegenteilige, neue Erklärung dazwischenschiebt.) Viertens lernen Sie, wie Sie sich von deprimierenden Gedanken ablenken können. (Die Mutter lernt, daß es nicht unabwendbar ist, daß sie jetzt diese negativen Gedanken hat.) Grübeln verschlimmert die Lage noch, und zwar ganz besonders dann, wenn man unter Druck steht, gut abschneiden zu müssen. Oft ist es besser, das Denken aufzuschieben, damit Sie Ihr Bestes geben können. Sie lernen nicht nur zu kontrollieren, was Sie denken, sondern auch, wann Sie es denken. Fünftens lernen Sie die depressionsträchtigen Annahmen zu erkennen und in Frage zu stellen, die einen so großen Teil Ihres Handelns beherrschen.26 »Ich kann nicht ohne Liebe leben.« »Wenn nicht alles, was ich tue, perfekt ist, bin ich ein Versager. »Wenn mich nicht alle gern haben, bin ich ein Versager.« »Es gibt eine perfekte Lösung für jedes Problem. Ich muß sie finden.« Diese Art von Prämissen machen Sie für Depressionen anfällig. Wenn Sie sich dafür entscheiden, nach ihnen zu leben – wie es so viele von uns tun –, wird Ihr Leben voll trauriger Tage und Wochen sein. Ebenso wie ein Mensch seine pessimistischen Erklärungsmuster in optimistische zu verwandeln vermag, kann er auch eine neue Reihe von menschenfreundlicheren Pramissen wählen, nach denen er lebt: »Liebe ist kostbar, aber selten.« »Erfolg heißt, daß ich mein Bestes tue.« »Auf jeden Menschen, der mich mag, kommt einer, der mich nicht mag.« »Man muß sich im Leben oft mit Notbehelfen zufriedengeben.« Die Depression, an der Sophie litt – das frühere »Sonntagskind«, das dahin gekommen war, sich selbst als nicht liebenswert, als unbegabt und als eine »Niete« zu betrachten –, ist typisch für die Depression, an der junge Leute mit bisher beispielloser Häufigkeit leiden. Sophies Depression lagen pessimistische Erklärungsmuster zugrunde. Nachdem sie eine kognitive Therapie begonnen hatte, nahm ihr Leben bald eine Wende zum Besseren. Ihre Behandlung dauerte insgesamt drei Monate, eine Stunde pro Woche. Ihre Umwelt änderte sich nicht, jedenfalls zunächst nicht, aber Sophies Denken über diese Umwelt änderte sich beträchtlich. Zuerst lernte sie erkennen, daß sie einen durchgängig negativen Dialog mit sich selbst geführt hatte. So fiel ihr wieder ein, daß sie. z.B. einmal einen Beitrag zum Unterricht geliefert hatte, für den sie von ihrer Professorin gelobt worden war, und sofort gedacht hatte: »Sie will einfach zu allen Studenten nett sein.« Als ihr Freund eines späten Abends impotent gewesen war, hatte sie gedacht: »Ich widere ihn an.« Sophie lernte bald, ihren automatischen Gedanken mit positiven Beispielen entgegenzutreten und sie dadurch zu entkräften. Sie erinnerte sich daran, daß die Professorin, von der sie gelobt worden war, ihren Studenten keineswegs schmeichelte, sondern auf jede Störung im Unterricht recht bissig reagiert hatte. Ihr fiel ein, daß ihr impotenter Liebhaber an jenem Abend in kurzer Zeit sechs Dosen Bier getrunken hatte. Sie lernte eine entscheidende Fertigkeit: wie man einen optimistischen Dialog mit sich selbst führt. Sie lernte, daß Mißerfolge wahrscheinlicher wurden, wenn sie Mißerfolge erwartete. Ihre Erklärungsmuster verwandelten sich dauerhaft von pessimistischen in optimistische. Sophie gewann wieder Interesse an ihrem Studium und schloß es mit sehr guten Noten ab. Sie begann eine Liebesbeziehung, die heute eine harmonische Ehe ist. Sophie lernte – im Gegensatz zu den meisten Menschen, die für Depressionen anfällig sind –, die Wiederkehr der Depression zu verhindern. Der Unterschied zwischen Sophie und jemandem, der mit Medikamenten gegen seine Depression behandelt wird, besteht 63

darin, daß Sophie eine Reihe von Fähigkeiten erlernte, die sie einsetzen kann, wann immer sie einen Mißerfolg oder eine Niederlage zu verkraften hat – Fähigkeiten, die ihr immer zur Verfügung stehen. Ihren Sieg über die Depression hat sie selbst errungen, sie hat ihn nicht Ärzten und Medikamenten zu verdanken.

5.8

Warum wirkt kognitive Therapie?

Es gibt zwei mögliche Antworten auf diese Frage. Auf der technischen Ebene wirkt kognitive Therapie, weil Sie mit ihrer Hilfe pessimistische Erklärungsmuster in optimistische verwandeln können und weil die Verwandlung dauerhaft ist. Sie vermittelt Ihnen eine Reihe von kognitiven Fähigkeiten für Ihre Selbstgespräche nach einem Scheitern. Diese Fähigkeiten können Sie einsetzen, um einer Depression vorzubeugen, wenn Sie einen Mißerfolg erleben. Auf der philosophischen Ebene wirkt die kognitive Therapie, weil sie die neu legitimierten Kräfte des Selbst nutzt. Wir glauben heute daran, daß das Selbst sich ändern kann. Deshalb sind wir bereit, den Versuch zu wagen, Denkgewohnheiten zu ändern, die früher so selbstverständlich schienen wie der Sonnenaufgang. Die kognitive Therapie wirkt in unserer Zeit, weil sie dem Selbst eine Reihe von Techniken an die Hand gibt, mit denen es sich selbst ändern kann. Das Selbst entscheidet sich aus eigenem Interesse dafür, diese Arbeit zu tun, damit es sich besser fühlt.

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Teil 2: Lebensbereiche 6 Erfolg im Beruf Auf einem Flug von San Francisco nach Philadelphia im März 1982 kam mir ein Gespräch mit John Creedon wieder in den Sinn, dem Generaldirektor der Lebensversicherung Metropolitan Life. Creedon hatte mich nach einem Vortrag, den ich vor einer Gruppe von Versicherungsdirektoren gehalten hatte, gefragt, ob die Psychologie Managern von Großunternehmen etwas zu bieten habe. Konnten wir dem Manager beispielsweise bei der Auswahl erfolgversprechender Versicherungsvertreter helfen? Und wußten wir einen Weg, bemitleidenswerte Pessimisten in strahlende Optimisten zu verwandeln? Ich hatte mir Bedenkzeit erbeten. Schon seit längerer Zeit hatte ich es als unbefriedigend empfunden, daß sich Psychologen fast ausschließlich mit Krankheit befassen. Menschen in Not zu helfen, ist ein ehrenwertes Ziel. Aber mir war auch stets das komplementäre Ziel wichtig erschienen: das Leben gesunder Menschen zu bereichern. Daher hatte sich meine Aufmerksamkeit immer stärker vom Pessimismus zum Optimismus, vom Versagen zum Erfolg verlagert. Als Therapeut und Ausbilder von Therapeuten stellte ich bald fest, daß man nicht nur bei Depressiven, sondern auch bei gesunden Menschen Pessimismus in Optimismus verwandeln kann. Vielleicht konnte ich Creedons Fragen beantworten. Ich schrieb ihm einen Brief. Drei Wochen nach diesem Flug bat mich Creedon um ein Gespräch. Sein Arbeitszimmer lag hoch oben in einem der beiden Bürotürme der Metropolitan Life. Der Raum war holzgetäfelt, und meine Füße versanken tief im weichsten Wollteppich, den ich je betreten hatte. Creedon war ein jovialer und unauffälliger Mann Mitte fünfzig, der die Bedeutung des Optimismus für seine Branche lange vor mir erkannt hatte. Er erklärte mir die Probleme der Metropolitan mit ihren Vertretern. »Es ist nicht leicht, eine Versicherung zu verkaufen«, begann er. »Es verlangt große Ausdauer. Nur ein ungewöhnlicher Mensch kann das längere Zeit durchhalten. Jedes Jahr stellen wir fünftausend neue Vertreter ein. Wir suchen sie sehr sorgfältig aus den sechzigtausend Bewerbern aus, die sich bei uns melden. Wir testen sie, wir prüfen sie, wir interviewen sie, wir geben ihnen eine umfassende Ausbildung. Und trotzdem hört die Hälfte von ihnen schon im ersten Jahr wieder auf. Und bei den übrigen beginnt die Erfolgsquote bald zu sinken. Am Ende des vierten Jahres sind achtzig Prozent eines Jahrgangs wieder ausgeschieden. Es kostet uns über dreißigtausend Dollar, einen einzigen Vertreter auszubilden. Wir verlieren also über fünfundsiebzig Millionen Dollar pro Jahr allein an Ausbildungskosten. Und unsere Zahlen sind typisch für das ganze Versicherungsgewerbe. Dabei geht es aber nicht nur um finanzielle Verluste. Wenn ein Angestellter seine Stelle aufgibt, ist immer auch menschliches Leid damit verbunden. Und dieses Leid fällt in Ihr Gebiet – Depression. Wenn in einer Branche Jahr für Jahr fünfzig Prozent der Angestellten kündigen, dann stellt sich hier eine wichtige menschliche Aufgabe – man muß dafür sorgen, daß die Menschen und ihre Arbeit besser zusammenpassen. Ich stelle Ihnen deshalb die Frage, ob man mit Ihrem Test schon im voraus die Leute herausfinden kann, die die besten Vertreter abgeben, damit wir dieser Verschwendung menschlicher Arbeitskraft ein Ende setzen können?« 65

»Aus welchen Gründen gehen die Leute weg?« fragte ich. Creedon beschrieb, was die meisten zum Aufgeben veranlasse: »Auch der beste Vertreter muß jeden Tag eine Reihe von Ablehnungen einstecken, häufig sogar mehrere direkt hintereinander. Dadurch verliert der durchschnittliche Vertreter leicht den Mut. Wenn er erst einmal entmutigt ist, erträgt er jedes ›Nein‹ noch schwerer als das vorhergehende. Es kostet ihn immer mehr Überwindung, den nächsten Kunden anzurufen. Er schiebt diesen Anruf auf. Er vertrödelt täglich mehr Zeit und beschäftigt sich mit Dingen, die ihn vom Telefonieren und von Kundenbesuchen abhalten. Dadurch wird es noch schwerer, sich zum nächsten Anruf durchzuringen. Die Erfolgsquoten sinken; der Mann überlegt, ob er den Job nicht ganz aufgeben solle. Wenn die Dinge sich so weit entwickelt haben, schaffen es nur ganz wenige Vertreter, sich noch einmal aufzuraffen. Sie müssen bedenken, daß diese Leute sehr selbständig arbeiten und viel Freiheit haben, was für viele einer der Pluspunkte dieses Berufes ist. Also schauen wir ihnen auch nicht ständig auf die Finger und treiben sie nicht an, wenn sie langsamer werden. Aber es gilt die einfache Regel: Ein Vertreter hat nur dann Erfolg, wenn er jeden Tag zehn Anrufe tätigt und sich durch Ablehnungen nicht entmutigen läßt.«

6.1 Die Erklärungsmuster des Erfolgs Ich erklärte Creedon die Theorie der erlernten Hilflosigkeit und der Erklärungsmuster. Dann schilderte ich ihm den Fragebogen zu Optimismus und Pessimismus (vgl. Kapitel drei). Ich sagte, es sei unzählige Male nachgewiesen worden, daß Menschen, die bei dem Fragebogen viele pessimistische Antworten geben, leicht aufgeben und depressiv werden. Andererseits könne man mit dem Fragebogen nicht nur die Pessimisten identifizieren. Die Werte reichten stufenlos von tief pessimistisch bis zu außerordentlich optimistisch. Die Menschen am optimistischen Ende der Skala müßten also die größte Ausdauer besitzen. Sie seien immun gegen Hilflosigkeit. Sie seien wohl diejenigen, die nie aufgeben, wieviel Ablehnung und Mißerfolg sie auch erleben mochten. »Diese unerschütterlichen Optimisten hat man noch nie genau untersucht«, fuhr ich fort. »Vielleicht sind genau diese Menschen einer so anspruchsvollen Arbeit wie dem Verkauf von Versicherungen am besten gewachsen.« »Erklären Sie mir bitte genau, in welcher Weise Optimismus helfen würde«, antwortete Creedon. »Nehmen wir zum Beispiel Telefonwerbung. Das ist eine zentrale Aufgabe, wenn man Versicherungen verkaufen will. Bei der Telefonwerbung haben Sie eine Liste möglicher Kunden vor sich liegen, zum Beispiel die Namen der Eltern aller neugeborenen Kinder in einer Stadt. Sie rufen die Leute der Reihe nach an und versuchen, ein Beratungsgespräch zu vereinbaren. Die meisten Leute sagen ›Vielen Dank, ich bin nicht interessiert‹ oder legen einfach auf.« Ich erklärte ihm, daß optimistische Erklärungsmuster nicht das beeinflußten, was der Versicherungsvertreter zu seinem prospektiven Kunden sagt, sondern vielmehr das, was er zu sich selbst sagt, wenn der Kunde ablehnt. Pessimistische Vertreter geben sich selbst dauerhafte, globale und persönliche Erklärungen, wie etwa »Ich tauge nichts« oder »Niemand wird bei mir eine Versicherung abschließen« oder »Mir gelingt nicht einmal der erste Kontakt«. Solche Einstellungen werden ohne Zweifel dazu führen, daß der Vertreter schneller aufgibt oder das nächste Telefongespräch hinausschiebt. Nach einigen Erfahrungen dieser Art wird der pessimistische Vertreter für diesen Abend aufgeben und nach einer Weile ganz aufhören. Der optimistische Vertreter hingegen wird konstruktivere Selbstgespräche führen, wie »Er hatte gerade zu viel zu tun« oder »Er hat schon eine Versicherung, aber acht von zehn Leuten sind unterversichert« oder »Ich habe ihn gerade beim Abendessen gestört«. 66

Oder er sagt sich gar nichts. Auch dann wird ihm der nächste Anruf nicht schwerfallen. Innerhalb weniger Minuten wird der Vertreter den einen von zehn möglichen Kunden erreicht haben, der einen Termin vereinbart. Das gibt dem Vertreter Schwung, so daß er auch gleich die nächsten zehn Anrufe absolviert und eine weitere Verabredung trifft. Auf diese Weise kann er sein Verkaufstalent voll zur Geltung bringen. Creedon hatte natürlich schon vor dem Gespräch mit mir gewußt, daß im Versicherungswesen Optimismus der Schlüssel zum Erfolg ist. Die meisten Versicherungsdirektoren wußten das. Aber Creedon hatte auf jemanden gewartet, der den Optimismus messen konnte. Wir beschlossen, mit einer einfachen Korrelationsuntersuchung zu beginnen. Sie sollte zeigen, ob erfolgreiche Vertreter zugleich sehr optimistisch waren. Träfe dies zu, würden wir Schritt für Schritt vorgehen. Unser Fernziel war, ein ganz neues Auswahlverfahren für die Angestellten zu erarbeiten. Das war der Anfang unserer Untersuchungen für Metropolitan Life. Wir benützten zwar den Fragebogen, den Sie in Kapitel drei ausgefüllt haben, gaben jedoch keine Antworten vor. In dieser Version des ASQ (Attributional Style Questionnaire, Fragebogen zum Attributionsstil) werden zwölf Szenen vorgestellt. Die eine Hälfte beinhaltet negative Ereignisse (z.B. »Sie haben schon eine Zeitlang erfolglos nach einer Arbeit gesucht ...«), die andere Hälfte nennt positive Ereignisse (z.B. »Sie werden plötzlich reich ...«). Die Aufgabe besteht darin, sich das Ereignis so lebhaft wie möglich vorzustellen und dann die wahrscheinlichste Ursache dafür anzugeben. Die Erklärung der ersten Situation könnte beispielsweise lauten: »Es gibt auf Long Island keine Jobs für Buchhalter«; für die zweite Situation: »Ich verstehe es sehr gut, mein Geld anzulegen.« Dann werden die Teilnehmer gebeten, die von ihnen angegebenen Gründe auf einer Skala von eins bis sieben einzustufen. Zuerst nach der Personalisierung (»Hat diese Ursache mit anderen Menschen oder den Umständen zu tun [external], oder hat sie etwas mit Ihnen zu tun [internal]?«). Dann sollen die Gründe nach ihrer Dauerhaftigkeit bewertet werden. (»Wird diese Ursache nie wieder auftreten, wenn Sie eine Stelle suchen [zeitweilig], oder wird sie immer gelten [dauerhaft]?«) Und schließlich werden die Gründe nach dem Geltungsbereich beurteilt. (»Betrifft diese Ursache nur die Stellensuche [spezifisch] oder auch alle anderen Bereiche Ihres Lebens [global]?«) Bei unserem ersten Versuch gaben wir den Fragebogen 200 erfahrenen Vertretern, von denen die eine Hälfte Asse, die andere Hälfte jedoch Nieten waren. Die Asse erwiesen sich als erheblich optimistischer als die Nieten. Wir verglichen die Testwerte mit den tatsächlichen Verkaufserfolgen und stellten fest, daß Vertreter, deren Werte in der oberen Hälfte des ASQ lagen, in ihren ersten beiden Arbeitsjahren durchschnittlich 37 Prozent mehr Versicherungen abgeschlossen hatten als die Vertreter, deren Werte in der pessimistischen unteren Hälfte lagen. Die Vertreter, deren Werte im Bereich der obersten zehn Prozent lagen, schlossen 88 Prozent mehr Versicherungen ab als diejenigen, deren Werte im Bereich der untersten zehn Prozent lagen. Das war eine erste, ermutigende Antwort auf unsere Frage, wie nützlich unser Test für die Geschäftswelt war.

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6.2 Begabungstests Im Laufe der Jahre hat die Versicherungsbranche einen Test entwickelt, mit dessen Hilfe sie die Eignung eines Menschen für den Vertreterberuf prüfen möchte. Er heißt Career Profile Test. Alle, die sich bei der Met Life bewerben, müssen einen Career Profile Test durchlaufen. Akzeptable Bewerber müssen zwölf oder mehr Punkte erreichen. Das gelingt nur 30 Prozent der Bewerber. Diejenigen, die zwölf oder mehr Punkte bekommen, werden zu einem Gespräch eingeladen. Wenn der Personalchef einen guten Eindruck von ihnen gewinnt, bietet er ihnen eine Stelle an. Ganz allgemein und für jeden Arbeitsbereich gibt es zwei Arten von Tests, mit deren Hilfe man Erfolg im Beruf vorhersagen kann: empirische Tests sowie Tests, die auf Theorien beruhen. Ein empirischer Test geht einerseits von Menschen aus, die bei einer bestimmten Arbeit tatsächlich Erfolg hatten, und andererseits von solchen, die eindeutig versagt haben. Er enthält eine große Zahl bunt zusammengewürfelter Fragen zu allen möglichen Lebensbereichen: »Lieben Sie klassische Musik?« – »Möchten Sie viel Geld verdienen?« – »Halten Sie ein Haustier?« – »Wie alt sind Sie?« – »Gehen Sie gern auf Partys?« Die meisten dieser Fragen trennen die Erfolgreichen nicht von den Erfolglosen, aber einige hundert Fragen zielen doch auf diese Unterscheidung. (Man stellt einfach fest, welche Fragen zufällig zu brauchbaren Ergebnissen führen, und benützt sie dann ohne weitere theoretische Begründung.) Die Antworten eines Bewerbers auf diese Fragen müssen mit den Antworten übereinstimmen, die von früheren Absolventen des Tests gegeben wurden, die sich als erfolgreich erwiesen hatten. Auf diese Weise erhält man Testfragen, die man benutzen kann, um den zukünftigen Erfolg in einem gegebenen Beruf vorherzusagen. Der geeignete Bewerber muß ein »Profil« aufweisen – Alter, Hintergrund und Einstellungen –, das dem typischen Profil gleicht, das ein bereits erfolgreich auf diesem Gebiet Arbeitender aufweist. Bei empirischen Tests wird also sozusagen von Anfang an zugegeben, daß es ein absolutes Rätsel ist, warum jemand Erfolg hat. Es werden einfach die Fragen verwendet, die die Erfolgreichen von den Erfolglosen trennen. Tests, die auf Theorien beruhen, wie Intelligenztests oder der SAT (Standard Achievement Test; Standard-LeistungsTest), enthalten nur Fragen, die aus einer Theorie abgeleitet werden, in diesem Fall aus einer Theorie der Begabung. Die dem SAT zugrundeliegende Theorie lautet etwa, daß »Intelligenz« aus sprachlichen Fähigkeiten (Leseverständnis, Analogien usw.) und aus mathematisch-analytischen Fähigkeiten (Algebra, Geometrie, Reihen usw.) besteht. Da diese Fähigkeiten für die schulischen Leistungen eine entscheidende Rolle spielen, hofft man, aus einem guten Ergebnis bei diesen Tests auf den künftigen Erfolg in der Schule schließen zu können. Und das klappt auch ganz gut. Aber sowohl die empirischen als auch die auf Theorien beruhenden Tests weisen eine hohe Fehlerquote auf, obwohl sie insgesamt statistisch korrekte Vorhersagen erlauben. Viele schneiden bei den Leistungstests schlecht ab, haben jedoch auf dem College gute Erfolge, während andere in den Leistungstests gut sind, aber auf dem College versagen. Noch deutlicher wurde das Problem bei der Met Life: Viele, die beim Career Profile Test gut abschneiden, schließen wenige Versicherungen ab. Könnten dann nicht auch viele, die beim Career Profile Test schlecht abschneiden, gute Versicherungsvertreter werden? Das wußte man bei Met Life nicht, denn solche Leute wurden so gut wie nie eingestellt. Die Versicherungsgesellschaft hatte deshalb offene Stellen, weil nicht genug Bewerber den Career Profile Test bestanden. Der ASQ-Test beruht zwar auf einer Theorie, aber diese Theorie unterscheidet sich wesentlich von der traditionellen Auffassung vom Erfolg. Üblicherweise wird angenommen, daß zwei Faktoren den Erfolg bestimmen: Erstens die Eignung oder Begabung; sie soll beispielsweise durch Intelligenz- oder Leistungstests erfaßt werden. Zweitens die Intensität des Wünschens oder der Motivation. Selbst bei guter Begabung wird ein Mensch nach der traditionellen Auffassung scheitern, wenn er nicht genügend motiviert

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ist. Umgekehrt kann ein starker Wunsch, etwas zu erreichen, auch eine schwache Begabung aufwiegen. Ich glaube, daß diese Auffassung etwas Wichtiges außer acht läßt: Ein Komponist kann die geniale Begabung Mozarts haben und außerdem ein leidenschaftliches Verlangen nach Erfolg; wenn er jedoch glaubt, er könne nicht gut komponieren, wird er es zu nichts bringen. Er wird sich nicht genug Mühe geben. Er wird zu früh aufgeben, wenn eine erahnte Melodie zu langsam Gestalt annimmt. Erfolg verlangt Ausdauer. Er erfordert die Fähigkeit, auch dann nicht gleich die Flinte ins Korn zu werfen, wenn einmal etwas schiefgeht. Ich glaube, daß optimistische Erklärungsmuster der Schlüssel zur Ausdauer sind. Nach der Erfolgstheorie, die den Erklärungsmustern zentralen Stellenwert einräumt, muß man bei der Auswahl von Menschen für eine anspruchsvolle Aufgabe drei Eigenschaften berücksichtigen: 1. 2. 3.

Begabung Motivation Optimismus

Alle drei Eigenschaften sind für den Erfolg notwendig.

6.3 Die Erklärungsmuster bei der Metropolitan Life werden getestet Es gibt zwei mögliche Erklärungen dafür, daß in unserer ersten Untersuchung die guten Vertreter optimistischere ASQ-Werte hatten als die schlechten Vertreter. Die erste Erklärung stützt die Theorie, daß Optimismus eine Ursache für Erfolg ist. Danach führt Optimismus dazu, daß ein Vertreter viele Versicherungen abschließt, während Pessimismus dazu führt, daß er wenige Abschlüsse tätigt. Die zweite Erklärung lautet, daß ein Vertreter durch den Abschluß vieler Versicherungen optimistisch wird, bei wenigen Abschlüsse jedoch pessimistisch.27 Als nächstes versuchten wir festzustellen, welche der beiden Erklärungen zutrifft, was also Ursache und was Wirkung ist. Wir maßen den Optimismus zum Zeitpunkt der Einstellung und beobachteten dann, wer im darauffolgenden Jahr am besten abschnitt. Zur Überprüfung unserer Theorie wählten wir eine Gruppe von 104 Vertretern, die im Januar 1983 in Western Pennsylvania eingestellt wurden. Sie hatten bereits den Career Profile Test bestanden und eine erste Ausbildung erhalten. Dann durchliefen sie den ASQ. Wir nahmen zunächst an, daß wir auf aussagekräftige Erfolgsdaten ein Jahr lang warten müßten. Zu unserer Überraschung mußten wir jedoch auf diese Daten nicht warten. Erstaunt registrierten wir das hohe Optimismusniveau neuer Versicherungsvertreter. Ihr Gesamtdurchschnitt für den g-s-Wert (Differenz zwischen den Erklärungsmustern für gute und schlechte Ereignisse) war höher als sieben. Dieser Wert lag also weit höher als der nationale Durchschnitt. Er schien darauf hinzudeuten, daß sich wirklich nur Superoptimisten um eine solche Stelle bewerben. Vertreter von Lebensversicherungen sind optimistischer als jede andere Berufsgruppe, die wir je getestet haben – optimistischer als Autoverkäufer, Börsenmakler, Studenten der Militärakademie West Point, Manager von Arby’s Restaurants, die Kandidaten für das Präsidentenamt in den Vereinigten Staaten in diesem Jahrhundert, führende Baseballstars oder Weltklasse-Schwimmer. Wir hatten genau den richtigen Beruf für den Anfang gewählt: einen Beruf, der schon bei der Einstellung sehr viel Optimismus verlangt und außerdem extrem viel Optimismus für eine erfolgreiche Tätigkeit.

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Ein Jahr später überprüften wir die Vertreter erneut. Wie uns John Creedon prophezeit hatte, war die Hälfte, nämlich 59 der 104 Vertreter, bereits im ersten Jahr ausgeschieden. Welcher Art waren diese Ausgeschiedenen? Bei Vertretern, deren Werte in der pessimistischen Hälfte des ASQ lagen, war die Wahrscheinlichkeit, daß sie aufgaben, doppelt so hoch wie bei Vertretern, deren Werte in der oberen Hälfte lagen. Vertreter, deren Werte im untersten Viertel des Tests lagen, gaben mit dreimal höherer Wahrscheinlichkeit auf als Vertreter, deren Werte im obersten Viertel lagen. Im Gegensatz dazu gaben die Leute mit den niedrigsten Werten im Career Profile Test nicht mit größerer Wahrscheinlichkeit auf als die mit den höchsten Werten. Welche Erfolge – also welche Abschlußsummen – erzielten die Vertreter? Die Vertreter aus der oberen Hälfte des ASQ hatten 20 Prozent mehr Versicherungen abgeschlossen als die Vertreter aus der unteren Hälfte. Die Vertreter aus dem oberen Viertel schlossen 50 Prozent mehr ab als die Vertreter aus dem unteren Viertel. In diesem Bereich machte auch der Career Profile Test gültige Vorhersagen. Vertreter, deren Werte in der oberen Hälfte lagen, schlossen 37 Prozent mehr Versicherungen ab als diejenigen, deren Werte in der unteren Hälfte lagen. Als wir beide Tests zusammen betrachteten (was nicht einfach eine Verdoppelung ist, denn jeder Test hat seine eigene Perspektive), stellten wir fest, daß die Vertreter, die bei beiden Tests in der oberen Hälfte lagen, 56 Prozent mehr Versicherungen abschlossen als diejenigen, die bei beiden Tests in der unteren Hälfte lagen. Also gab der Optimismus-Test Aufschluß darüber, wer blieb, und ermöglichte zugleich Voraussagen darüber, wer die meisten Versicherungen abschließen würde – und zwar wesentlich genauer als der branchenübliche Test. Stützte nun diese Untersuchung unsere Theorie? Ermöglichte sie Voraussagen über die Auswirkung des Optimismus auf den Berufserfolg? Nein. Für einen völlig überzeugenden Nachweis, daß der ASQ den Verkaufserfolg vorhersagt, fehlten noch einige Faktoren. Erstens war die Zahl der Untersuchten klein (104 Personen) und die Auswahl möglicherweise nicht hinreichend repräsentativ, denn alle Personen kamen aus Western Pennsylvania. Zweitens fehlte bei dem Test jeglicher Druck, denn die Vertreter waren bereits eingestellt worden. Wenn zukünftige Bewerber den Test mit dem Wissen durchlaufen, daß ihr Testergebnis über ihre Einstellung entscheidet, könnten sie bei den Antworten zu mogeln versuchen. Gelänge ihnen dies, wäre der Test nicht mehr zuverlässig. Es war relativ leicht, unsere Bedenken wegen möglicher Täuschungsversuche auszuräumen. Wir machten dafür eigens eine Untersuchung, bei der man bestimmten Testabsolventen erklärt, wie man mogelt (»Versuchen Sie so optimistisch wie möglich zu wirken«), und ihnen noch einen zusätzlichen Anreiz bietet – eine Belohnung von 100 Dollar für den besten Wert. Aber selbst mit diesem Wissen und der versprochenen Belohnung schnitten sie nicht besser ab als die übrigen Testabsolventen. Es ist also schwierig, bei diesem Test zu mogeln, und zwar selbst dann, wenn man aufgefordert wird, so optimistisch wie möglich zu erscheinen. Auch wenn Sie dieses Buch gründlich durcharbeiten, werden Sie es schwierig finden, bei der Prüfung Ihres Optimismus effektiv zu mogeln, denn die richtigen Antworten sind bei jedem Test verschieden; außerdem haben wir auch Fangfragen eingefügt.

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6.4 Die Untersuchung der Sondergruppe Wir waren nun auf eine umfassende Untersuchung vorbereitet, bei der die Bewerber den Test als Voraussetzung zur Einstellung machten. Anfang 1985 durchliefen 15.000 Bewerber bei der Met Life überall in den USA sowohl den ASQ als auch den Career Profile Test. Wir wollten zwei Ziele erreichen. Das erste Ziel war, 1000 Vertreter unter den üblichen Bedingungen einzustellen, also nach dem Bestehen des Career Profile Tests. Bei diesen Vertretern spielte der ASQ-Wert keine Rolle für die Einstellung. Wir wollten lediglich feststellen, ob die Optimisten bei dieser regulären Gruppe auch weiterhin bessere Ergebnisse erzielten als die Pessimisten. Das zweite Ziel stellte für die Met Life ein höheres Risiko dar. Wir beschlossen, eine »Sondergruppe« optimistischer Vertreter zu bilden – aus Bewerbern, die beim Career Profile Test knapp das Ziel verfehlt hatten (mit Werten von 9 bis 11), aber beim ASQ in der oberen Hälfte lagen. Über 100 Vertreter, die niemand anders einstellen würde, weil sie den in dieser Branche üblichen Test nicht bestanden, würden trotzdem eingestellt werden. Sie durften nicht erfahren, daß sie eine Sondergruppe bildeten. Wenn diese Gruppe völlig versagte, hätte die Met Life etwa drei Millionen Dollar Ausbildungskosten umsonst ausgegeben. Es wurden also 1000 von den 15.000 Bewerbern in die reguläre Gruppe aufgenommen, die Hälfte davon Optimisten, die Hälfte Pessimisten. (Wie bereits erwähnt, sind die Bewerber in der Regel sehr optimistisch. Ihr Durchschnittswert liegt bei sieben, was sehr hoch ist, aber natürlich liegt die Hälfte der Bewerber unter dem Durchschnitt, teilweise weit darunter. Diese mußten also als Pessimisten gelten.) Außerdem wurden 129 weitere Bewerber angenommen, die beim ASQ in der oberen Hälfte lagen und echte Optimisten waren, jedoch beim Career Profile Test versagt hatten. Sie waren die optimistische Sondergruppe. Die neuen Vertreter wurden zwei Jahre lang beobachtet. Sie schnitten folgendermaßen ab: Im ersten Jahr schlossen die Optimisten der regulären Gruppe mehr Versicherungen ab als die Pessimisten, aber nur acht Prozent mehr. Im zweiten Jahr hatten die Optimisten 31 Prozent Vorsprung. Die Sondergruppe entwickelte sich hervorragend. Im ersten Jahr schlossen diese Vertreter 21 Prozent mehr Versicherungen ab als die der regulären Gruppe, und im zweiten Jahr 57 Prozent. Sie schlossen sogar im Laufe der ersten beiden Jahre 27 Prozent mehr Versicherungen ab als der Durchschnitt der normalen Gruppe. Insgesamt erzielten sie mindestens ebenso viele Erfolge wie die Optimisten in der regulären Gruppe. Wir stellten weiterhin fest, daß die Optimisten einen immer größeren Vorsprung vor den Pessimisten gewannen. Warum? Unsere Theorie war gewesen, daß Optimismus für die Ausdauer wichtig ist. Wir rechneten damit, daß Verkaufstalent und Motivation am Anfang mindestens ebenso wichtig waren wie Ausdauer. Aber wir glaubten auch, daß die Ausdauer mit der steigenden Anzahl der Ablehnungen im Laufe der Zeit entscheidend werden würde. Und genau dieses Muster zeichnete sich ab. Der Optimismustest sagte die Erfolgsquote verläßlicher voraus als der Career Profile Test. Damit hatten wir in großem Rahmen nachgewiesen, daß Optimismus zuverlässigere Vorhersagen für den Erfolg ermöglicht als die traditionellen Kriterien für die Einstellung. Met Life beschloß, in Zukunft allen Bewerbern den ASQ vorzulegen. Man wollte von jetzt an die Leute nach ihrem Optimismuswert einstellen.

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Met Life stellt jetzt auch Bewerber ein, die in die obere Hälfte des ASQ fallen, aber beim Career Profile Test knapp das Ziel verfehlen. Bewerber, deren Mißerfolg vorhersehbar ist und die dem Unternehmen in der Vergangenheit so große Verluste bescherten, werden jetzt gar nicht mehr eingestellt. Von den im Career Profile Test erfolgreichen Bewerbern werden die pessimistischsten 25 Prozent nicht angenommen. Die übrigen jedoch stellt Met Life ein. Seither konnte die Versicherungsgesellschaft die Anzahl ihrer Vertreter um 20 Prozent erhöhen. Das Unternehmen erlangt dabei einen zweifachen Vorteil: Erstens erhält es mehr Mitarbeiter und kann so den Personalmangel beseitigen, und zweitens ist der durchschnittliche Vertreter erfolgreicher als früher. Das bedeutet erheblich höhere Einnahmen.

6.5 Kann man Pessimisten in Optimisten verwandeln? Sieben Jahre später saß ich erneut in John Creedons Arbeitszimmer. Wir unterhielten uns über die Ergebnisse unserer Arbeit. Wir hatten herausgefunden, daß Optimismus meßbar ist und daß er – so hofften wir jedenfalls – den Erfolg eines Menschen als Lebensversicherungs-Vertreter vorhersagbar macht. Wir hatten nicht nur die Einstellungspolitik dieses riesigen Unternehmens geändert, sondern in der Folge auch die Einstellungspolitik der gesamten Branche in Bewegung gebracht. »Etwas macht mir noch immer zu schaffen«, sagte Creedon. »In jedem Unternehmen gibt es ein paar Pessimisten, die man nicht los wird. Manche ihres Alters wegen, manche, weil sie ihre Arbeit ausgezeichnet machen. Doch je älter ich werde, desto stärker belasten mich diese Pessimisten. Sie halten mir ständig vor, was ich nicht machen soll. Sie sagen mir nur, was nicht in Ordnung ist. Ich weiß, daß es nicht ihre Absicht ist, aber sie lähmen mein Handeln, meine Phantasie und jede Initiative. Ich glaube, daß es den meisten von ihnen – und ganz gewiß dem Unternehmen – besser ginge, wenn sie optimistischer wären. Darauf zielt jetzt meine Frage ab. Können Sie jemanden, der dreißig oder sogar fünfzig Jahre lang pessimistische Denkgewohnheiten hatte, in einen Optimisten verwandeln?« Die Antwort auf diese Frage lautet: Ja. Creedon hatte allerdings nicht über seine Vertreter gesprochen, sondern über seine leitenden Angestellten, vor allem über die konservative Verwaltung, die in jeder Institution ein hohes Maß an praktischer Kontrolle ausübt, ganz gleich, wer gerade an der Spitze des Unternehmens steht. Ich wußte nicht, ob ich eine ganze Bürokratie umkrempeln konnte. Man kann Führungskräften nicht befehlen, Tests zu durchlaufen und Seminare zu besuchen, wie man das bei Vertretern tun kann. Nicht einmal Creedon konnte von ihnen verlangen, daß sie sich einer kognitiven Therapie unterzogen, ob einzeln oder in Gruppen. Aber selbst wenn er es gekonnt hätte, ist es fraglich, ob es klug gewesen wäre, ihnen Optimismus beizubringen. An diesem Abend und an vielen folgenden Abenden dachte ich über Creedons Frage nach. Gibt es in einem gut geführten Unternehmen einen angemessenen Platz für Pessimismus? Gibt es in einem in geordneten Bahnen verlaufenden Leben einen angemessenen Platz für Pessimismus?

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6.6 Wozu kann Pessimismus gut sein? Pessimismus umgibt uns überall. Manche Menschen leiden ständig an ihm. Mit Ausnahme der wirklich unverwüstlichen Optimisten erleiden wir alle Anfälle von Pessimismus. Ist Pessimismus einer der großen Irrtümer der Natur, oder hat er einen wertvollen Platz im Gefüge des Lebens? Pessimismus stützt möglicherweise den Realismus, den wir so oft benötigen. Es gibt viele Bereiche im Leben, in denen Optimismus nicht angebracht ist. Es gibt Gelegenheiten, bei denen wir unersetzliche Verluste erleiden und eine rosarote Brille zwar tröstlich ist, aber nichts ändert. Es gibt Situationen, in denen nicht eine optimistische, sondern eine glasklar realistische Haltung erforderlich ist – etwa in der Pilotenkabine eines Flugzeuges. Manchmal müssen wir ein Unterfangen aufgeben und irgendwo anders neu beginnen, statt weiter daran festzuhalten. Als Creedon mich fragte, ob ich den Pessimismus bei den leitenden Angestellten der Metropolitan Life ändern könne, machte ich mir weniger Sorgen über die Frage, ob ich die Pessimisten in Optimisten verwandeln könne, als darüber, welchen Schaden ich damit anrichten könnte. Vielleicht spielte ein Teil des Pessimismus, den seine Leute in ihre Arbeit einbrachten, eine wichtige Rolle. Jemand muß allzu überschwengliche Pläne bremsen. Diese Pessimisten waren zu Spitzenpositionen in der amerikanischen Wirtschaft aufgestiegen – also mußten sie zumindest teilweise richtig denken. Als ich an jenem Abend über Creedons Anregung nachdachte, stieß ich wieder auf eine Frage, die mich schon lange beschäftigt hatte: Warum hat die Evolution zugelassen, daß es Depression und Pessimismus überhaupt gibt? Denn dem Optimismus kommt ganz offensichtlich eine wichtige Rolle zu. In seinem scharfsinnigen Buch OPTIMISM28 schreibt Lionel Tiger, daß die menschliche Gattung aufgrund ihrer optimistischen Illusionen über die Wirklichkeit von der Evolution begünstigt worden sei. Wie hätte sich sonst eine Gattung entwickeln können, deren Mitglieder im April Samen aussäen und durch Trockenzeiten und Hunger bis zum Oktober durchhalten; die sich furchtlos vor angriffslustige Mastodonten stellen und mit kleinen Stöcken herumfuchteln; die mit dem Bau von Kathedralen beginnen, die nur von mehreren Generationen fertiggestellt werden können? Hinter so mutigem oder tollkühnem Verhalten steht die Fähigkeit, sich im Handeln von der Hoffnung leiten zu lassen, daß die Wirklichkeit sich freundlicher als gewöhnlich zeigen wird. Viele Menschen glauben nicht an Gott. Für sie zählt nur, welchen Sinn sie selbst ihrem Leben zu geben vermögen. Sie sind überzeugt, daß sie nach ihrem Tod einfach verwesen. Warum jedoch sind so viele der Menschen mit solchen Überzeugungen guter Dinge? Die Fähigkeit, uns selbst gegen unsere tiefverwurzelten negativen Überzeugungen blind zu machen, ist vielleicht die erstaunlichste Waffe, mit der wir uns dagegen wehren, auf Dauer Opfer der Depression zu werden. Aber welche Rolle kommt dann dem Pessimismus zu? Vielleicht soll er das ausgleichen, was uns nur unzureichend gelingt, wenn wir optimistisch und nicht depressiv sind – die Wirklichkeit richtig einzuschätzen. Der Gedanke ist unangenehm, daß depressive Menschen die Wirklichkeit richtig wahrnehmen, während nichtdepressive Menschen sie zu ihren eigenen Gunsten entstellen. In der therapeutischen Ausbildung lernte ich, daß es im Umgang mit einem depressiven Patienten meine Aufgabe sei, ihm einerseits zu mehr Wohlgefühl zu verhelfen und andererseits zu einer klareren Weltsicht. Ich sollte Glück und Wahrheit vermitteln. Aber vielleicht stehen Glück und Wahrheit in einem Spannungsverhältnis? Was wir als gute Therapie für einen depressiven Patienten ansahen, nährt möglicherweise nur Illusionen und bringt den Patienten dazu, seine Welt besser zu sehen, als sie tatsächlich ist.

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Es gibt zahlreiche Belege dafür, daß depressive Menschen zwar trauriger, aber realistischer sind.29 Vor zehn Jahren führten Lauren Alloy und Lyn Abramson, die damals an der University of Pennsylvania studierten, ein Experiment durch. Versuchspersonen erhielten ein unterschiedliches Maß an Kontrolle über das Einschalten eines Lichtes. Ein Teil der Versuchspersonen konnte das Licht vollständig durch eigenes Handeln kontrollieren: Das Licht ging an, wenn sie auf einen bestimmten Knopf drückten, und blieb aus, wenn sie nicht drückten. Die übrigen Versuchspersonen jedoch hatten keinerlei Kontrolle: Das Licht ging an und aus, ob sie nun den Knopf drückten oder nicht; sie waren hilflos. Die Versuchspersonen beider Gruppen wurden gebeten, so genau wie möglich einzuschätzen, wieviel Kontrolle sie ihrer Meinung nach hatten. Die Depressiven unter ihnen schätzten sehr genau. Sie beurteilten realistisch, wann sie Kontrolle hatten und wann nicht, und sprachen es offen aus. Die Nichtdepressiven jedoch schockierten uns. Sie schätzten richtig, wenn sie Kontrolle hatten; wenn sie aber hilflos waren, ließen sie sich davon nicht beeindrucken. Sie schätzten auch dann noch immer, sie hätten viel Kontrolle. Alloy und Abramson zweifelten zunächst, ob die Versuchspersonen die Lichter und Knöpfe ernst genug nahmen. Sie gaben ihnen deshalb auch noch einen zusätzlichen finanziellen Anreiz: Wenn das Licht anging, bekamen sie Geld, wenn es nicht anging, verloren sie Geld. Doch auch jetzt änderte sich die zu den eigenen Gunsten verzerrte Sicht der Nichtdepressiven nicht; die Verzerrung wurde sogar noch größer. Bei einem Versuchsdurchgang erhielten alle Versuchspersonen eine gewisse Kontrolle. Dabei wurden jedoch die Geräte so manipuliert, daß alle Geld verloren. Daraufhin erklärten die Nichtdepressiven, daß sie weniger Kontrolle hätten, als sie tatsächlich hatten. Als die Geräte so manipuliert wurden, daß alle Geld gewannen, sagten die Nichtdepressiven, sie hätten mehr Kontrolle, als sie tatsächlich hatten. Die Depressiven hingegen waren in beiden Versuchen unbestechlich; sie schätzten richtig, ob sie gewannen oder verloren. Diese Ergebnisse wurden im Laufe der letzten Jahre durchgängig bestätigt. Depressive Menschen – von denen die meisten auch Pessimisten sind – beurteilen korrekt, wieviel Kontrolle sie haben. Nichtdepressive Menschen – überwiegend Optimisten – glauben, sie hätten sehr viel mehr Kontrolle, als sie tatsächlich haben. Dies gilt besonders dann, wenn sie absolut hilflos sind und überhaupt keine Kontrolle haben. Weitere Belege für die These, daß Depressive zwar trauriger, aber realistischer sind, betreffen die Beurteilung von Fähigkeiten. Vor einigen Jahren berichtete Newsweek, 80 Prozent der amerikanischen Männer ordneten ihre sozialen Fähigkeiten in der oberen Hälfte ein. Wenn die Ergebnisse von Peter Lewinsohn und seinen Kollegen korrekt sind, müssen die Befragten durchweg nichtdepressive Amerikaner gewesen sein.30 Die Forscher hatten depressive und nichtdepressive Patienten in eine Diskussionssituation gebracht. Später hatten die Patienten selbst beurteilen müssen, wie gut sie dabei abgeschnitten hatten. Wie überzeugend waren sie? Wie sympathisch wirkten sie? Nach dem Urteil einer Beobachtergruppe wirkten die depressiven Patienten wenig überzeugend und wenig sympathisch; ein Mangel an sozialen Fähigkeiten gehört zu den Symptomen der Depression. Auch die depressiven Patienten selbst beurteilten ihren Mangel an Fähigkeiten korrekt. Die Nichtdepressiven jedoch lieferten ein überraschendes Ergebnis: Sie überschätzten ihre Fähigkeiten beträchtlich und beurteilten sich als wesentlich überzeugender und sympathischer, als sie von der Beobachtergruppe eingestuft worden waren. Weitere Belege für diese These betreffen das Gedächtnis.31 Im allgemeinen erinnern sich depressive Versuchspersonen eher an negative und weniger an positive Ereignisse; bei nichtdepressiven Versuchspersonen verhält es sich umgekehrt. Aber wer hat recht? Wenn man die korrekte Anzahl von positiven und negativen Ereignissen in der Welt 74

feststellen könnte, wer würde dann die Vergangenheit richtig sehen und wer würde sie verzerren? In meiner Therapeuten-Ausbildung brachte man mir bei, daß es nutzlos sei, depressive Patienten über ihre Vergangenheit zu befragen, wenn man ein zutreffendes Bild von ihrem Leben gewinnen wolle. Man bekäme immer nur zu hören, daß ihre Eltern sie nicht geliebt hätten, daß ihre beruflichen Bemühungen stets gescheitert seien und daß ihre Heimatstadt schrecklich sei. Aber hatten sie vielleicht recht? Das konnte man im Labor testen. Es ist leicht, einen Test so zu manipulieren, daß zwanzig Fragen richtig und zwanzig Fragen falsch beantwortet werden. Nach dem Test fragt man die Versuchspersonen, wie sie ihr eigenes Abschneiden beurteilen. Viele Daten sprechen dafür, daß Depressive korrekt urteilen, daß sie also beispielsweise einundzwanzig Fragen richtig und neunzehn falsch beantwortet haben. Die Nichtdepressiven jedoch neigen dazu, ihre Erinnerung an vergangene Ereignisse zu verzerren: Sie werden behaupten, daß sie zwölf Fragen falsch und achtundzwanzig richtig beantworteten. Eine letzte Kategorie von Belegen zu der Frage, ob Depressive trauriger, aber realistischer sind, betrifft die Erklärungsmuster. Wenn man die Erklärungen der Nichtdepressiven betrachtet, ist der Mißerfolg sozusagen ein Waisenkind, während der Erfolg tausend Väter hat. Depressive jedoch bekennen sich zu Erfolg und Mißerfolg gleichermaßen. Diese Ergebnisse ergaben sich bei allen Untersuchungen zu den Erklärungsmustern: Eine verzerrte Sichtweise bei den Nichtdepressiven und eine korrekte Sichtweise bei denDepressiven.32 Der Fragebogen, den Sie in Kapitel drei ausfüllten, enthielt je zur Hälfte negative und positive Ereignisse, denen Sie Ursachen zuordneten. Sie errechneten einen Gesamtwert g-s, der sich aus Ihrem Durchschnittswert für gute Ereignisse minus Ihrem Durchschnittswert für schlechte Ereignisse ergab. Wie sah Ihr Gesamtwert im Vergleich zu dem von Depressiven aus? Die Erklärungsmuster eines Depressiven für gute und für schlechte Ereignisse sind ungefähr gleich. Das heißt, in dem Maße, in dem ein depressiver Mensch bei den Faktoren persönlich, dauerhaft und global für schlechte Ereignisse etwas über dem Durchschnitt liegt, liegt er auch bei den guten Ereignissen etwas über dem Durchschnitt. Der Gesamtwert g-s eines depressiven Menschen liegt etwa bei null, sein Urteil ist ausgeglichen. Der Gesamtwert eines nichtdepressiven Menschen liegt beträchtlich über null. Dieser Wert reflektiert seine verzerrte Sichtweise: Wenn etwas schlecht ist, hast du es mir angetan, es wird bald vorbei sein, und es betrifft nur diese besondere Situation. Aber wenn es gut ist, dann habe ich es gemacht, es dauert ewig, und es wird mir in vielen Situationen nützen. Für Nichtdepressive sind negative Ereignisse meist external, zeitweilig und spezifisch, während positive Ereignisse internal, dauerhaft und global sind. Je optimistischer ihre Urteile sind, desto stärker ist die Sichtweise verzerrt. Ein depressiver Mensch hingegen macht für seine Erfolge dieselbe Art von Faktoren verantwortlich wie für seine Mißerfolge. Es gibt also insgesamt deutliche Hinweise darauf, daß nichtdepressive Menschen die Wirklichkeit zu ihren Gunsten entstellen und depressive Menschen die Wirklichkeit korrekt wahrnehmen. Wie verhalten sich diese Daten über Depression zu Optimismus und Pessimismus? Statistisch gesehen liegen die Werte der meisten Depressiven im pessimistischen Bereich der Erklärungsmuster und die der meisten Nichtdepressiven im optimistischen Bereich. Das bedeutet, daß im allgemeinen optimistische Menschen die Wirklichkeit entstellen und Pessimisten nach der Definition von Ambrose Bierce »die Welt richtig sehen«.33 Der Pessimist scheint der Realität ausgeliefert zu sein, während der Optimist über eine starke Abwehr gegen die Realität verfügt, die ihm auch angesichts eines gnadenlos gleichgültigen Universums Zuversicht und Frohsinn ermöglicht. Man muß dabei aber stets berücksichtigen, daß diese Beziehung eine statistische ist und daß nicht nur die Pessimisten über den Schlüssel zur Realität verfügen. Manche Reali75

sten, wenn auch eine Minderheit, sind Optimisten, und einige von denen, die die Welt verzerrt wahrnehmen, sind Pessimisten. Ist der Realismus der Depressiven nur eine Kuriosität, die das Labor hervorbringt? Ich glaube nicht. Vielmehr glaube ich, daß er genau zu der Kernfrage führt, welche Funktion der Pessimismus hat. Pessimismus ist unser erster greifbarer Hinweis darauf, warum es überhaupt Depression gibt; zugleich ist er die erste Annäherung an eine Antwort auf die Frage, die wir weiter oben gestellt haben: Warum hat die Evolution überhaupt zugelassen, daß Pessimismus und Depression überleben und gedeihen? Wenn Pessimismus die Wurzel von Depression und Selbstmord ist, wenn er zu schlechten Leistungen und, wie wir noch sehen werden, zu einer schwachen Funktion des Immunsystems sowie zu labiler Gesundheit führt, warum ist er dann nicht schon vor Jahrtausenden verschwunden? Was gibt er dem Menschen zum Ausgleich? Die Vorteile des Pessimismus sind möglicherweise während unserer jüngsten Evolutionsgeschichte entstanden. Wir sind Geschöpfe des Pleistozäns, der Eiszeit. Unser emotionaler Habitus wurde vor erdgeschichtlich sehr kurzer Zeit in einer hunderttausend Jahre dauernden Abfolge klimatischer Katastrophen geprägt: Kälte- und Hitzewellen, Trockenzeiten und Überschwemmungen, Überfluß und Hunger wechselten sich ab. Wer die Eiszeit überlebte, besaß die Fähigkeit, sich unermüdlich um die Zukunft zu sorgen, sonnige Tage nur als Vorspiel zu einem harten Winter zu sehen und zu grübeln. Wir haben unser Gehirn von diesen Vorfahren geerbt und somit auch deren Eigenschaft, eher die schwarze Wolke als den Silberstreif am Horizont wahrzunehmen. Manchmal und in manchen Nischen des modernen Lebens funktioniert dieser tiefverwurzelte Pessimismus. Denken Sie an ein erfolgreiches Großunternehmen. Dort arbeiten verschiedene Arten von Persönlichkeiten, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Zum einen gibt es Optimisten. Die Mitarbeiter in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung, die Planer, die Verkaufsspezialisten – sie alle müssen Visionäre sein. Sie müssen von Dingen träumen, die es noch nicht gibt, Gebiete jenseits der aktuellen Grenzen des Unternehmens erforschen. Wird dies unterlassen, so tut es die Konkurrenz. Aber stellen Sie sich ein Unternehmen vor, das ausschließlich aus Optimisten besteht, die allesamt mit aufregenden Möglichkeiten in der Zukunft beschäftigt sind. Das wäre eine Katastrophe. Das Unternehmen braucht auch Pessimisten – Menschen, die die aktuellen Gegebenheiten genau kennen. Sie müssen dafür sorgen, daß den Optimisten ständig die harte Realität bewußt bleibt. Das sind die Mitarbeiter in der Finanzabteilung, die Buchhalter, der Finanzdirektor, die Verwaltungsleute, die Sicherheitsingenieure – sie alle brauchen einen ausgeprägten Sinn für die Chancen und Gefahren. Ihre Aufgabe ist es, zur Vorsicht zu mahnen. Hier ist zu erwähnen, daß diese Menschen nicht unbedingt hundertprozentige Pessimisten sind. Ihre Erklärungsmuster werden nicht ständig ihre Leistungen und ihre Gesundheit beeinträchtigen. Manche mögen depressiv sein, aber die anderen, vielleicht sogar die meisten von ihnen, können trotz aller beruflichen Vorsicht ansonsten heiter und fröhlich sein. Manche sind einfach vernünftige und besonnene Menschen, die ihre pessimistische Seite zugunsten ihrer Karriere bewußt pflegen. John Creedon hatte nicht behauptet, daß es in seinem Führungsstab zu viele hoffnungslose Pessimisten gebe, die aufgrund ihrer Hilflosigkeit handlungsunfähig waren. Aber statistisch gesehen ist der Unterschied sehr gering. Als Gruppe würden diese Führungskräfte bei einem Test unter die Pessimisten fallen; ihre Ansichten wären tendenziell, wenn auch nicht sehr stark, pessimistisch. Diese gemäßigten Pessimisten – wir wollen sie als professionelle Pessimisten bezeichnen – scheinen das scharfe Urteilsvermögen der Pessimisten gut nutzen zu können (es ist ihr Kapital), ohne allzu sehr unter den Nachteilen des Pessimismus zu leiden: an den 76

depressiven Anfällen und dem Mangel an Initiative, von denen bisher in diesem Buch die Rede war, und an der schlechten Gesundheit und dem Unvermögen, eine hohe Position zu erreichen, die in den späteren Kapiteln besprochen werden. Zu einem erfolgreichen Unternehmen gehören also die Optimisten, die Träumer, die Verkäufer und die Kreativen. Aber das Unternehmen ist eine Form modernen Lebens, die auch Pessimisten braucht, deren Aufgabe es ist, zur Vorsicht zu mahnen. An der Spitze des Unternehmens muß ein Direktor stehen, der weise und flexibel genug ist, die optimistischen Visionen der Planer und die Klagelieder der Buchhalter zu einem Ausgleich zu bringen. Creedon war ein solcher Mann; seine Klage über die Pessimisten des Unternehmens entstand aus seiner täglichen Mühe, die Gegensätze in Einklang zu bringen.

6.7 Die Bilanz: Optimismus versus Pessimismus Ein erfolgreiches Leben braucht wie ein erfolgreiches Unternehmen möglicherweise sowohl Optimismus als auch gelegentliche Prisen von Pessimismus. Vielleicht wird auch in einem erfolgreichen Leben ein Direktor benötigt, der über flexiblen Optimismus verfügt. Soeben habe ich für den Pessimismus gesprochen. Er stärkt unseren Realitätssinn und schenkt uns korrektes Urteilsvermögen. Das ist besonders dann von Nutzen, wenn unser Leben von unerwarteten und häufigen Katastrophen heimgesucht wird. Jetzt möchte ich gegen den Pessimismus sprechen, damit wir seine Nachteile gegen seine Vorteile abwägen können: ¾

Pessimismus fördert Depression.

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Pessimismus führt bei Niederlagen zu Untätigkeit statt zu Aktivität.

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Pessimismus bringt subjektiv unangenehme Gefühle mit sich – Trauer, Niedergeschlagenheit, Sorgen und Angst.

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Pessimismus sorgt für die Erfüllung negativer Erwartungen. Pessimisten haben kein Durchhaltevermögen und scheitern dadurch häufiger – selbst wenn der Erfolg erreichbar ist.

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Pessimismus ist mit schlechter körperlicher Gesundheit verbunden (vgl. Kapitel zehn).

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Pessimisten erleiden Niederlagen, wenn sie sich um ein hohes Amt bewerben (vgl. Kapitel elf).

¾

Selbst wenn die Pessimisten recht behalten und Mißerfolge eintreten, fühlen sie sich schlechter. Ihre Erklärungsmuster verwandeln jetzt die vorhergesagte Niederlage in eine Katastrophe. Von einem Pessimisten kann man bestenfalls sagen, daß seine Befürchtungen begründet waren.

Diese Bilanz scheint deutlich für den Optimismus zu sprechen. Es gibt jedoch Gelegenheiten, bei denen wir unseren Pessimismus gut brauchen können. Kapitel zwölf enthält Richtlinien für den Einsatz von Optimismus und von Pessimismus. Wir alle – extreme Pessimisten ebenso wie extreme Optimisten – kennen beide Zustände. Die Erklärungsmuster sind wahrscheinlich ständig im Fluß. Schwankungen im Laufe des Tages sorgen gelegentlich für leichte Depressionen. Die Depression hat ihre typischen Muster im Tagesverlauf und, zumindest bei manchen Frauen, im Monatsverlauf. Normalerweise sind wir depressiver, wenn wir aufwachen, und werden im Laufe des Tages optimistischer. Aber diesem Rhythmus ist der BRAC (Basic Rest and Activity Cycle; grundlegender Ruhe- und Aktivitätszyklus, dt. meist als »circadianer Rhythmus« 77

bezeichnet, A.d.Ü.) übergeordnet. Wie bereits erwähnt, erreicht er seinen Tiefpunkt etwa um 16 Uhr und dann erneut um vier Uhr. Seine Höhepunkte erreicht er am späten Vormittag und am frühen Abend, aber die genauen Zeitpunkte sind bei jedem Menschen verschieden. Während der BRAC-Höhepunkte sind wir optimistischer als gewöhnlich. Wir schmieden abenteuerliche Pläne und träumen von unserer nächsten Eroberung und dem neuen Sportwagen. Während der Tiefpunkte neigen wir stärker zu Depressionen als gewöhnlich. Wir sehen die nackten Tatsachen, die unseren Plänen entgegenstehen: Diese Frau wird sich nie für jemanden interessieren, der geschieden ist und drei Kinder hat. Ein neuer Jaguar kostet mehr, als ich im ganzen Jahr verdiene. Wenn Sie ein Optimist sind, versuchen Sie einmal, sich daran zu erinnern, wie Sie um vier Uhr morgens erwachten und nicht mehr einschlafen konnten. Jetzt werden Sie von Sorgen überwältigt, die Sie während des Tages leichten Herzens beiseite schieben: Der Streit mit Ihrem Ehepartner führt zur Scheidung, das Stirnrunzeln Ihres Chefs bedeutet Ihre Entlassung. Während dieser täglichen Anfälle von Pessimismus können wir erkennen, welch konstruktive Rolle er in unserem Leben spielt. In dieser milden Form verschafft er uns den erforderlichen Abstand von den riskanten Einflüsterungen unseres Optimismus. Er sorgt dafür, daß wir vor Entscheidungen zweimal über die Sache nachdenken, und er bewahrt uns vor unbesonnenen, waghalsigen Schritten. Die optimistischen Augenblicke unseres Lebens sind die Zeiten der großen Pläne, der Träume und Hoffnungen. Die Wirklichkeit wird zu unseren Gunsten verzerrt, damit die Träume Raum gewinnen können. Ohne diese Augenblicke würden wir nie etwas Schwieriges in Angriff nehmen; wir würden nicht einmal das gerade noch Mögliche versuchen. Der Mount Everest bliebe unbestiegen, niemand würde eine Meile in vier Minuten laufen, das Düsenflugzeug und der Computer würden im Planungsstadium im Papierkorb irgendeines Finanzdirektors landen. Die geniale Leistung der Evolution liegt in der dynamischen Spannung zwischen Optimismus und Pessimismus, die einander fortwährend korrigieren. Da wir im Verlauf des circadianen Rhythmus täglich Höhen und Tiefen erleben, erlaubt uns diese Spannung, einmal etwas zu wagen und uns ein andermal zurückzuhalten – ohne Gefahr, denn während wir uns auf ein Extrem zubewegen, zieht uns die Spannung auch wieder zurück. In gewisser Weise erlaubt gerade diese ewige Fluktuation den Menschen, so viel zu erreichen. Die Evolution hat uns jedoch auch das Eiszeit-Gehirn unserer Vorfahren gegeben. Es bringt die Bedenken des Pessimismus mit sich: Erfolg ist flüchtig, Gefahr lauert schon gleich an der nächsten Ecke, Tragödien erwarten uns, Optimismus ist Hybris. Aber das Gehirn, das die grimmigen Realitäten der Eiszeit korrekt widerspiegelte, blieb hinter den weniger grimmigen Realitäten des modernen Lebens zurück. Die Landwirtschaft und die rasante Entwicklung der industriellen Technik haben dafür gesorgt, daß die Menschen in hochentwickelten Ländern den Härten des nächsten strengen Winters viel weniger als früher ausgeliefert sind. Heute sterben nicht mehr zwei von drei Kindern, ehe sie fünf Jahre alt geworden sind. Eine Frau muß heute nicht mehr damit rechnen, im Kindbett zu sterben. Nach langen Kälte- oder Trockenperioden gibt es keine langen Hungersnöte mehr. Gewiß hat das moderne Leben auch seine Bedrohungen und Tragödien im Überfluß: AIDS, Kriminalität, Ehescheidung, die Möglichkeit eines Atomkrieges und die Schädigung der Umwelt. Aber man müßte die Statistiken sehr willkürlich negativ manipulieren, um zu dem Schluß zu kommen, daß das moderne westliche Leben auch nur entfernt jenes Ausmaß an Katastrophen enthält, das das Gehirn der Eiszeitmenschen prägte. Wir wären also gut beraten, die hartnäckige Stimme des Pessimismus als das eiszeitliche Überbleibsel zu erkennen, das sie nun einmal ist. Daraus folgt nicht, daß wir uns alle dem süßen Nichtstun hingeben dürften. Ich meine aber, daß wir ein Recht auf mehr Optimismus haben, als wir vielleicht von Natur aus 78

besitzen. Haben wir die Wahl, ob wir Optimismus einsetzen wollen? Können wir die Fähigkeit erlernen, optimistisch zu denken? Läßt sich diese Fähigkeit unserem Eiszeithirn einprägen, so daß wir die Vorteile des Optimismus genießen, aber den Pessimismus für die Fälle behalten können, in denen er wirklich brauchbar erscheint? Ich glaube, ja, denn die Evolution hat uns noch etwas anderes mitgegeben. Wie das erfolgreiche Unternehmen hat jeder von uns einen inneren Direktor, der die Ratschläge der Waghalsigkeit gegen die Ratschläge der Todesangst abwägt. Wenn der Optimismus uns rät, etwas zu wagen, und der Pessimismus uns gebietet stillzuhalten, dann hören wir gleichzeitig auf beide Stimmen. Dieser innere Direktor ist die Weisheit. An diese Instanz richtet sich auch das zentrale Anliegen dieses Buches: Wenn wir den einzigen Vorteil des Pessimismus ebenso wie dessen alles durchdringende, verkrüppelnde Folgen verstehen, können wir lernen, dem ständigen Bohren des Pessimismus zu widerstehen, so tief er auch immer in unserem Gehirn oder in unseren Gewohnheiten verwurzelt sein mag. Wir können lernen, uns in den meisten Fällen für den Optimismus zu entscheiden, aber auch auf den Pessimismus zu hören, wenn es gerechtfertigt erscheint. Gegenstand des dritten Teils dieses Buches ist die Frage, wie man Optimismus entwikkelt und nach welchen Richtlinien man einen solchen flexiblen Optimismus anwenden kann.

79

7 Eltern und Kinder: Die Ursprünge des Optimismus Erklärungsmuster haben einen großen Einfluß auf das Leben von Erwachsenen. Sie können als Reaktion auf Mißerfolge im Alltag Depression hervorrufen oder eine Standfestigkeit verleihen, die selbst bei Tragödien anhält. Sie können einem Menschen die Lebenslust rauben oder ihm ein erfülltes Leben gewähren. Sie können ihn daran hindern, seine Ziele zu erreichen, oder ihm helfen, seine eigenen Erwartungen zu übertreffen. Wie wir noch sehen werden, haben die Erklärungsmuster eines Menschen Einfluß darauf, wie er von anderen wahrgenommen wird, und auch darauf, ob andere ihm eher helfen oder ihm eher Steine in den Weg legen. Außerdem beeinflussen sie die Gesundheit. Erklärungsmuster entstehen in der Kindheit. Es ist von entscheidender Bedeutung, ob in dieser Zeit Optimismus oder Pessimismus entwickelt wird, denn spätere Siege und Niederlagen werden im Lichte der schon erworbenen Haltung betrachtet. Diese Haltung wird mit der Zeit zur festen Denkgewohnheit. In diesem Kapitel gehen wir der Frage nach, welche Quellen Optimismus und Pessimismus haben, welehe Folgen sie für die Kinder zeitigen und wie Änderungen erzielt werden können.

7.1 Testen Sie den Optimismus Ihres Kindes Ist Ihr Kind schon älter als sieben Jahre, so hat es wahrscheinlich schon Erklärungsmuster entwickelt, die im Begriff sind, sich zu verfestigen. Sie können die Erklärungsmuster Ihres Kindes mit einem Test prüfen, der Children’s Attributional Style Questionnaire (Fragebogen zum Attributionsstil von Kindern) oder CASQ heißt. Tausende von Kindern haben diesen Test durchlaufen.34 Er ist dem Test sehr ähnlich, den Sie selbst in Kapitel drei durchführten. Ein Kind von acht bis 13 Jahren braucht etwa 20 Minuten, um die Fragen zu beantworten. Ist Ihr Kind älter, geben Sie ihm den Test aus Kapitel drei. Für Kinder unter acht Jahren gibt es keinen wirklich zuverlässigen schriftlichen Test. Es gibt jedoch einen anderen Weg, die Erklärungsmuster dieser Kinder zu testen, den ich Ihnen später erklären werde. Wenn Ihr Kind den Test machen soll, müssen Sie etwa 20 Minuten dafür einplanen. Setzen Sie sich zu Ihrem Kind an den Tisch und sagen Sie zu ihm: Kinder denken anders. Ich habe ein Buch darüber gelesen und habe mir überlegt, wie du wohl über manche Dinge denkst, die dir passieren könnten. Schau dir das hier mal an. Es ist sehr interessant. Es werden ganz viele Fragen darüber gestellt, was du denkst. Jede Frage ist wie eine kleine Geschichte, und für jede Geschichte gibt es zwei Möglichkeiten, wie du reagieren könntest. Du sollst nun die Möglichkeit aussuchen, die am besten ausdrückt, wie du dich in der geschilderten Lage wahrscheinlich fühlen würdest. Hier hast du einen Stift. Versuch es doch bitte einmal. Stell dir vor, daß jede der kleinen Geschichten dir passiert, auch wenn du so etwas noch nie erlebt hast. Und dann streiche entweder die A-Anwort oder die B-Antwort an – die, die am besten ausdrückt, wie du dich fühlen würdest. Das Tolle an dem Test ist, daß es keine falschen Antworten gibt. Ist das nicht prima? Also, schauen wir uns mal Nummer eins an.

Wenn das Kind erst einmal angefangen hat, wird es wahrscheinlich ohne Hilfe weitermachen. Nur bei kleineren Kindern, die noch nicht so gut lesen können, sollten Sie jede Frage laut vorlesen, während das Kind sie still mitliest.

80

7.1.1

Fragebogen zum Attributionsstil von Kindern

(Childen’s Attributional Style Questionnaire = CASQ) 1.

2.

Du bekommst bei einer Klassenarbeit eine Eins. (Gg) A Ich kann etwas. B Ich bin gut in dem Fach, in dem wir die Arbeit geschrieben haben.

1 0

Du machst mit ein paar Freunden ein Spiel und gewinnst. (Pg) A Die anderen Kinder können das Spiel nicht gut. B Ich kann das Spiel gut.

0 1

3.

Du übernachtest bei einer Freundin/einem Freund, und es macht euch viel Spaß. (Gg) A Meine Freundin/mein Freund war an dem Abend gut aufgelegt. 0 B Die ganze Familie meiner Freundin/meines Freundes war an dem Abend gut aufgelegt. 1

4.

Du fährst mit einer Gruppe von Leuten in die Ferien, und es gefällt dir gut. (Pg) A Ich war immer gut gelaunt. 1 B Die Leute, mit denen ich unterwegs war, waren immer gut gelaunt. 0

5.

Alle deine Freunde erkälten sich, nur du nicht. (Dg) A Ich war in letzter Zeit kerngesund. B Ich bin immer kerngesund.

0 1

Dein Haustier wird von einem Auto überfahren. (Ps) A Ich passe nicht gut genug auf meine Tiere auf. B Die Autofahrer fahren nicht vorsichtig genug.

1 0

Manche Kinder, die du kennst, sagen, daß sie dich nicht leiden können. (Ps) A Manchmal sind die anderen gemein zu mir. B Manchmal bin ich gemein zu den anderen.

0 1

Du bekommst sehr gute Noten. (Pg) A Die Schule ist leicht. B Ich lerne sehr viel.

0 1

6.

7.

8.

9.

Du triffst eine Freundin/einen Freund und sie/er sagt dir, daß du hübsch aussiehst. (Dg) A Meine Freundin/mein Freund hatte an dem Tag Lust, etwas Nettes über das Aussehen der Leute zu sagen. 0 B Meine Freundin/mein Freund sagt meistens etwas Nettes über das Aussehen der Leute. 1

10.

Ein guter Freund sagt dir, daß er dich haßt. (Ps) A Mein Freund war an dem Tag schlecht gelaunt. B Ich war an dem Tag nicht nett zu meinem Freund.

0 1

Du erzählst einen Witz, und niemand lacht. (Ps) A Ich kann nicht gut Witze erzählen. B Der Witz ist so bekannt, daß er nicht mehr lustig ist.

1 0

Dein Lehrer hält eine Unterrichtsstunde, und du verstehst nichts. (Gs) A Ich habe an dem Tag überhaupt nicht aufgepaßt. B Ich habe nicht aufgepaßt, während mein Lehrer redete.

1 0

Dir geht eine Klassenarbeit daneben. (Ds) A Mein Lehrer macht die Arbeiten schwer. B In den letzten paar Wochen hat mein Lehrer die Arbeiten schwer gemacht.

1 0

11.

12.

13.

81

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

Du nimmst sehr stark zu und wirst dick. (Ps) A Das Essen, das ich bekomme, macht dick. B Ich esse gern Sachen, die dick machen.

0 1

Jemand stiehlt dir Geld. (Gs) A Dieser Mensch ist unehrlich. B Die Menschen sind unehrlich.

0 1

Deine Eltern loben etwas, das du gemacht hast. (Pg) A Ich kann manche Sachen gut machen. B Meine Eltern mögen manche der Sachen, die ich mache.

1 0

Du spielst und gewinnst dabei Geld.(Gg) A Ich habe immer Glück. B Ich habe Glück im Spiel.

1 0

Du schwimmst in einem Fluß und ertrinkst beinahe. (Ds) A Ich bin nicht vorsichtig genug. B An manchen Tagen bin ich nicht vorsichtig genug.

1 0

Du wirst zu vielen Partys eingeladen. (Pg) A In letzter Zeit waren viele Leute nett zu mir. B In letzter Zeit war ich zu vielen Leuten nett.

0 1

Ein Erwachsener schreit dich an. (Gs) A Er hat den Erstbesten angeschrien, der ihm in den Weg kam. B Er hat an dem Tag viele Leute angeschrien, die ihm in den Weg kamen.

0 1

21.

Du führst mit einer Gruppe von Kindern ein Projekt durch, und es geht schief. (Gs) A Ich kann mit den anderen in der Gruppe nicht gut zusammenarbeiten. 0 B Ich arbeite nie gut in einer Gruppe. 1

22.

Du freundest dich mit jemandem an. (Pg) A Ich bin nett. B Die Leute, die ich kennenlerne, sind nett.

1 0

Du kommst gut mit deiner Familie aus. (Dg) A Ich komme mit meiner Familie immer gut aus. B Manchmal komme ich gut mit meiner Familie aus.

1 0

23.

24.

Du versuchst, Süßigkeiten zu verkaufen, aber niemand will sie haben. (Ds) A In letzter Zeit verkaufen viele Kinder etwas, deshalb wollen die Leute Kindern nichts mehr abkaufen. 0 B Die Leute kaufen Kindern nicht gern etwas ab. 1

25.

Du spielst und gewinnst. (Gg) A Manchmal strenge ich mich bei Spielen unheimlich an. B Manchmal strenge ich mich unheimlich an.

0 1

Du bekommst in der Schule eine schlechte Note. (Ps) A Ich bin dumm. B Die Lehrer geben ungerechte Noten.

1 0

Du rennst gegen eine Tür und schlägst dir die Nase blutig. (Gs) A Ich habe nicht auf meinen Weg aufgepaßt. B Ich war in letzter Zeit unaufmerksam.

0 1

26.

27.

82

28.

Du verpaßt einen Ball, und deine Mannschaft verliert das Spiel. (Ds) A Ich habe mich an dem Tag beim Ballspiel nicht angestrengt. B Ich strenge mich meistens nicht an, wenn ich Ball spiele.

0 1

29.

Du verstauchst dir in der Turnstunde den Knöchel. (PS) A In den letzten paar Wochen haben wir in der Turnstunde gefährliche Sportarten geübt. 0 B In den letzten paar Wochen war ich nicht gut im Turnen. 1

30.

Deine Eltern fahren mit dir an den Strand, und es gefällt dir dort gut. (Gg) A An dem Tag war alles am Strand schön. B An dem Tag war das Wetter am Strand sehr schon.

1 0

31.

Du fährst mit dem Zug irgendwohin und er hat so viel Verspätung, daß du einen Film verpaßt, den du anschauen wolltest. (Ds) A In den letzten Tagen gab es im Zugverkehr viele Verspätungen. 0 B Die Züge sind fast nie pünktlich. 1

32.

Deine Mutter kocht deine Leibspeise. (Gg) A Meine Mutter tut manchmal etwas, um mir eine Freude zu machen. B Meine Mutter macht mir gern eine Freude.

0 1

Eine Mannschaft, in der du mitspielst, verliert ein Spiel. (Ds) A Die Mannschaft spielt nicht gut zusammen. B An dem Tag hat die Mannschaft nicht gut zusammengespielt.

1 0

Du bist schnell mit deinen Hausaufgaben fertig. (Gg) A In letzter Zeit bin ich mit allem schnell fertig. B In letzter Zeit bin ich mit meinen Hausaufgaben immer schnell fertig.

1 0

Deine Lehrerin fragt dich etwas, und du gibst die falsche Antwort. (Ds) A Ich werde aufgeregt, wenn ich Fragen beantworten muß. B An dem Tag war ich aufgeregt, wenn ich Fragen beantworten sollte.

1 0

33.

34.

35.

36.

Du steigst in den falschen Bus ein und kommst nicht ans gewünschte Ziel. (Ds) A An dem Tag habe ich nicht aufgepaßt. 0 B Ich passe meistens nicht auf. 1

37.

Du gehst auf einen Rummelplatz und hast dort viel Spaß. (Gg) A Ich habe auf Rummelplätzen meistens Spaß. B Ich habe meistens Spaß.

0 1

Ein älteres Kind gibt dir eine Ohrfeige. (Ps) A Ich habe seinen kleinen Bruder geärgert. B Sein kleiner Bruder hat ihm erzählt, ich hätte ihn geärgert.

1 0

38.

39.

Du bekommst zum Geburtstag alle Spielsachen, die du dir insgeheim gewünscht hast. (Dg) A Die Leute erraten immer, welche Spielsachen sie mir zum Geburtstag kaufen sollen. 1 B An diesem Geburtstag haben die Leute erraten, welche Spielsachen ich haben wollte. 0

40.

Du machst Ferien auf dem Land, und es gefällt dir dort sehr gut. (Dg) A Auf dem Land ist es wunderbar. B Es war die richtige Jahreszeit.

83

1 0

41.

42.

43.

44.

Eure Nachbarn laden dich zum Abendessen ein. (Dg) A Manchmal sind die Leute sehr freundlich. B Menschen sind freundlich.

0 1

Deine Klasse bekommt eine Aushilfslehrerin, und sie mag dich gern. (Dg) A Ich habe mich an dem Tag im Unterricht gut benommen. B Ich benehme mich im Unterricht fast immer gut.

0 1

Deine Freunde sind gern mit dir zusammen. (Dg) A Es macht Spaß, mit mir zusammenzusein. B Manchmal macht es Spaß, mit mir zusammenzusein.

1 0

Du bekommst ein Eis geschenkt. (Pg) A Ich war an dem Tag nett zu dem Eisverkäufer. B Der Eisverkäufer war an dem Tag nett.

1 0

45.

Auf einer Party bittet dich der Zauberer, ihm zu helfen. (Pg) A Ich habe einfach Glück gehabt, daß er mich ausgesucht hat. 0 B Er hat mir angesehen, daß ich sehr interessiert war an dem, was er machte. 1

46.

Du versuchst ein anderes Kind zu überreden, mit dir ins Kino zu gehen, aber es will nicht. (Gs) A An dem Tag hatte er/sie zu nichts Lust. 1 B An dem Tag hatte er/sie keine Lust, ins Kino zu gehen. 0

47.

Deine Eltern lassen sich scheiden. (Gs) A Es ist schwer für Ehepaare, sich gut zu verstehen. 1 B Es ist schwer für meine Eltern, sich gut zu verstehen, solange sie ein Ehepaar sind. 0

48.

Du bemühst dich, Mitglied in einem Club zu werden, aber sie nehmen dich nicht auf. (Gs) A Ich vertrage mich nicht gut mit anderen. 1 B Ich vertrage mich nicht gut mit den Leuten in dem Club. 0

7.1.2

Testschlüssel

Ds_____

Dg_____

Gs_____

Gg_____

H_____

Pg_____

Ps_____

Summe g_____

Summe s_____

g – s_____

Jetzt können Sie den Test auswerten. Wenn Sie auch die Übungen in Kapitel dreizehn mit Ihrem Kind machen möchten, können Sie jetzt Ihrem Kind mitteilen, welche Werte es in dem Test erreicht hat und was sie bedeuten. Beginnen Sie bei den Ds-Werten (Dauerhaft schlechte Ereignisse). Zählen Sie die Zahlen hinter den eingekreisten Antworten (0 oder 1) zusammen, die Ihr Kind bei den folgenden Fragen gegeben hat: 13, 18, 24, 28, 31, 33, 35, 36 Schreiben Sie die Summe im Testschlüssel neben Ds. Nun zählen Sie die Dg-Werte (Dauerhaft gut) zusammen: 5, 9, 23, 39, 40, 41, 42, 43 84

Schreiben Sie nun die Summe in den Testschlüssel. Jetzt zählen Sie die Werte für den Geltungsbereich zusammen. Zuerst Gs (Global schlecht): 12, 15, 20, 21, 27, 46, 47, 48 Dann Gg (Global gut): 1, 3, 17, 25, 30, 32, 34, 37 Zählen Sie die Ds- und die Gs-Werte zusammen zum Wert der Hoffnung (H). Notieren Sie diesen Wert. Jetzt kommen die Werte für die Personalisierung, zuerst Ps (Personalisierung schlecht): 6, 7, 10, 11, 14, 26, 29, 38 Dann Pg (Personalisierung gut): 2, 4, 8, 16, 19, 22, 44, 45 Addieren Sie die Summen für schlechte Ereignisse (Ds + Gs + Ps) und notieren Sie die Gesamtsumme für s; dann addieren Sie die Werte für gute Ereignisse (Dg + Gg + Pg) und notieren die Gesamtsumme für g. Am Schluß errechnen Sie den Gesamtwert g-s des Tests (ziehen Sie die Summe von s von der Summe von g ab). Schreiben Sie diese Zahl auf die unterste Zeile des Testschlüssels. Nun erfahren Sie, welche Bedeutung die Werte Ihres Kindes haben und wie sie sich zu den Ergebnissen von Tausenden von Kindern verhalten, die bislang diesen Test gemacht haben: Zuerst gilt es zu beachten, daß die Werte von Jungen und Mädchen verschieden ausfallen. Mädchen sind, zumindest bis zur Pubertät, deutlich optimistischer als Jungen. Ein Mädchen zwischen neun und zwölf Jahren hat einen durchschnittlichen g-s-Wert von 7. Ein Junge zwischen neun und zwölf Jahren hat einen durchschnittlichen g-s-Wert von 5. Wenn Ihre Tochter einen Wert unter 4,5 hat, ist sie leicht pessimistisch. Wenn sie einen Wert unter 2 hat, ist sie sehr pessimistisch und anfällig für Depression. Wenn Ihr Sohn einen Wert unter 2,5 hat, ist er leicht pessimistisch, bei weniger als 1 ist er sehr pessimistisch und anfällig für Depression. Der gesamte s-Wert beträgt bei neun- bis zwölfjährigen Mädchen durchschnittlich 7, bei Jungen 8,5. Werte, die drei Punkte über dem Durchschnitt liegen, zeigen ausgeprägten Pessimismus an. Der gesamte g-Wert beträgt bei neun- bis zwölfjährigen Mädchen und Jungen durchschnittlich 13,5. Werte, die drei Punkte tiefer liegen, zeigen starken Pessimismus an. Die einzelnen g-Werte (Dg, Gg und Pg) liegen durchschnittlich bei 4,5. Werte von 3 oder darunter zeigen starken Pessimismus an. Die einzelnen s-Werte (Ds, Gs und Ps) liegen durchschnittlich bei 2,5 für Mädchen und 2,8 für Jungen. Werte von 4 oder darüber liegen im Risikobereich für Depression.

85

7.2

Warum Kinder nicht hoffnungslos sein können

Vielleicht sind Sie überrascht über die Normen und über die Bedeutung der Werte, vor allem, wenn Sie sie mit Ihren eigenen Werten vergleichen. Im allgemeinen sind Kinder ungeheuer optimistisch. Nach Beginn der Pubertät verlieren sie jedoch viel von ihrem Optimismus. Vor der Pubertät haben sie eine Fähigkeit zur Hoffnung und eine Resistenz gegen Hoffnungslosigkeit, die sie später nie mehr erreichen werden. Als mein Sohn David fünf Jahre alt war, ließen meine Frau und ich uns scheiden. Es half nichts, ihm dieses Ereignis in beschönigenden Worten zu erklären. Er fragte mich beharrlich jedes Wochenende, ob seine Mutter und ich wieder heiraten würden. Ich mußte ihm klipp und klar sagen, daß die Liebe zwischen Menschen aufhören kann und dann oft nicht mehr wiederkommt. Um ihm das verständlich zu machen, fragte ich ihn: »Hast du je einen Freund gehabt, den du sehr gern hattest und dann irgendwann nicht mehr so sehr mochtest?« »Ja«, gab er widerstrebend zu. »Nun, so ist es mit deiner Mutter und mit mir auch. Wir lieben uns nicht mehr, und wir werden uns auch nie mehr lieben. Wir werden nie mehr heiraten.« David sah zu mir auf, nickte verständnisvoll und beendete dann unser Gespräch mit dem Satz: »Aber vielleicht doch!« Kinder urteilen beim CASQ enorm einseitig. Gute Ereignisse dauern ewig, helfen bei allem und sind das Werk des Kindes. Schlechte Ereignisse kommen nur gelegentlich vor, verschwinden schnell wieder und werden von anderen verursacht. Die meisten Kinder sehen die Welt so verzerrt, daß ihre Werte im Durchschnitt wie die eines erfolgreichen Versicherungsvertreters bei der Metropolitan Life ausfallen. Die Werte eines depressiven Kindes sind ähnlich wie die eines nichtdepressiven, durchschnittlichen Erwachsenen. Niemand scheint eine solche Begabung für Hoffnung zu haben wie ein kleines Kind, und gerade dadurch wirkt eine schwere Depression bei einem kleinen Kind so tragisch. Kinder können durchaus depressiv werden; sie werden ebenso oft und ebenso tief depressiv wie Erwachsene, aber ihre Depression unterscheidet sich in einem Punkt auffallend von der Depression Erwachsener.35 Kinder werden nicht absolut hoffnungslos, und sie begehen nicht Selbstmord. In Amerika begehen jedes Jahr zwischen 20.000 und 50.000 Erwachsene Selbstmord, die meisten im Zusammenhang mit einer Depression. Eine ganz bestimmte Komponente der Depression, die Hoffnungslosigkeit, erlaubt die genauesten Prognosen für einen Selbstmord. Potentielle Selbstmörder glauben, daß ihr gegenwärtiges Elend ewig dauern wird, jegliches Tun vergiftet und daß nur der Tod ihrem Leiden ein Ende setzen kann. Selbstmord in der Kindheit ist tragisch und nimmt derzeit zu. Aber bei etwa 2000 Fällen im Jahr kann man kaum von einem Problem epidemischen Ausmaßes sprechen. Kinder unter sieben Jahren begehen niemals Selbstmord, obwohl es gut belegte Fälle von Totschlag gibt, bei denen Kinder unter fünf Jahren die Täter waren. Kinder dieses Alters verstehen schon, was Tod ist, sie begreifen seine Endgültigkeit, sie können sogar wünschen, jemanden umzubringen, aber sie bringen es nicht fertig, den Zustand der Hoffnungslosigkeit sehr lange aufrechtzuerhalten. Ich bin überzeugt, daß die Evolution für dieses Verhalten gesorgt hat. Das Kind trägt den Keim der Zukunft in sich, und die Natur hat das größte Interesse daran, daß Kinder ungefährdet die Pubertät erreichen und die nächste Generation von Kindern produzieren. Die Natur hat die Kinder nicht nur körperlich geschützt – vor der Pubertät haben Kinder bei allen Krankheitsarten die niedrigste Sterblichkeitsrate – sondern auch seelisch, indem sie ihnen ein verschwenderisches und irrationales Maß an Hoffnung mitgegeben hat. Trotz all dieser Schutzmaßnahmen gegen die Hoffnungslosigkeit sind manche Kinder weit anfälliger für Pessimismus und Depression als andere. Der CASQ ist ein guter Indikator dafür, wer gefährdet und wer geschützt ist. Kinder, deren Werte in 86

der optimistischen Hälfte liegen – Jungen über 5,5 und Mädchen über 7,5 –, werden wahrscheinlich optimistische Jugendliche und Erwachsene. Sie haben im allgemeinen im Laufe ihres Lebens weniger Depression, leisten mehr und sind gesünder als Kinder, deren Werte unter diesen Durchschnittswerten liegen. Erklärungsmuster bilden sich früh heraus. Schon bei achtjährigen Kindern sind sie recht deutlich ausgeprägt. Wenn Ihr Kind bereits in der dritten Klasse eine pessimistische Haltung zur Welt einnimmt, so sollten Sie der Frage nachgehen, woher diese Haltung kommt, und was Sie unternehmen können, um sie zu ändern. Denn diese Haltung ist für seine Zukunft, seine Gesundheit und seinen Erfolg von größter Bedeutung. Es gibt drei wichtige Hypothesen über den Ursprung von Erklärungsmustern. Die erste Erklärung betrifft die Mutter des Kindes.

7.2.1 Erklärungsmuster der Mutter In der folgenden Szene reagiert Sylvia in Gegenwart ihrer achtjährigen Tochter Marjorie auf ein Mißgeschick. Die beiden wollen gerade auf dem Parkplatz eines Supermarktes in das Auto steigen. Versuchen Sie, beim Lesen Sylvias Erklärungsmuster zu erkennen. Marjorie: »Mami, auf meiner Seite hat das Auto eine Delle.« Sylvia: »Verdammt, Bob wird mich umbringen!« Marjone: »Mami, Papa hat gesagt, du sollst sein neues Auto immer weit weg von den anderen Autos parken.« Sylvia: »Verdammt, mir passieren immer solche Sachen. Ich bin so faul, ich will den Einkauf immer nur ein paar Meter weit schleppen, aber nicht hundert Meter. Ich bin so dumm!«

Sylvia sagt eine Reihe von recht entmutigenden Dingen über sich selbst, und Marjorie hört aufmerksam zu. Nicht nur der Inhalt ist entmutigend, sondern auch die Form. Inhaltlich hört Marjorie, daß Sylvia in ziemlicher Bedrängnis ist und daß sie dumm, faul und ein chronischer Pechvogel ist. Das ist schon schlimm genug. Aber die Form von Sylvias Aussagen ist noch schlimmer. Marjorie hört, daß hier ein negatives Ereignis erklärt wird. Sylvia gibt Marjorie (ohne es zu merken) vier Erklärungen: 1.

Solche Dinge passieren mir immer. Diese Erklärung ist dauerhaft: Sylvia sagt »immer«. Sie benennt das Mißgeschick nicht genau und setzt den Pannen, die ihr immer passieren, keine Grenzen. Außerdem ist die Erklärung persönlich: Die Dinge »passieren mir«, nicht jedermann. Sylvia stellt sich als Opfer dar.

2.

Ich bin so faul. Sie bezeichnet Faulheit als einen dauerhaften Charakterzug. (Vergleichen Sie Sylvias Erklärung mit dem Satz: »Ich war gerade faul.«) Faulheit stört bei vielen Gelegenheiten und ist hier global ausgedrückt. Und Sylvia hat sie obendrein personalisiert.

3.

Ich will den Einkauf nur ein paar Meter weit schleppen – persönlich, dauerhaft (nicht: »ich wollte«), aber nicht ausgesprochen global, weil es nur um eine körperliche Anstrengung geht.

4.

Ich bin so dumm – dauerhaft, global und persönlich. Auch Marjorie nimmt eine solche Analyse von Sylvias Worten vor. Marjorie hört, wie ihre Mutter eine kritische Situation mit vier höchst pessimistischen Gründen erklärt. Sie erfährt die Ansicht ihrer Mutter, daß negative Ereignisse dauerhaft, global und selbstverschuldet sind. Marjorie lernt, daß die Welt so ist.

Und Marjorie hört ihre Mutter jeden Tag dauerhafte, globale und persönliche Erklärungen für die kleinen Unglücksfälle geben, die im häuslichen Leben vorkommen. Marjorie 87

lernt dabei vom einflußreichsten Menschen in ihrem Leben, daß negative Ereignisse dauerhaft und allumfassend sind und getrost der Person zur Last gelegt werden können, der sie zustoßen. Marjorie entwickelt eine Theorie über die Welt, in der negative Ereignisse dauerhafte, globale und persönliche Gründe haben. Kinder achten stets sehr genau darauf, wie ihre Eltern, besonders ihre Mütter, über die Ursachen von gefühlsgeladenen Ereignissen sprechen. Es ist kein Zufall, daß »Warum?« eine der ersten und am häufigsten wiederholten Fragen ist, die kleine Kinder stellen. Erklärungen über die Umwelt zu bekommen, besonders über die soziale Welt, ist die vorrangige intellektuelle Aufgabe heranwachsender Kinder. Wenn die Eltern ungeduldig werden und die endlosen Warum-Fragen nicht mehr beantworten wollen, suchen die Kinder auf anderen Wegen nach den Antworten. Meist hören sie aufmerksam zu, wenn Erwachsene spontan erklären, warum etwas geschieht – und das geschieht, nach unserer Zählung, etwa einmal in der Minute. Ihre Kinder nehmen jedes Wort einer Erklärung auf, die Sie ihnen geben, besonders dann, wenn etwas schiefgeht. Und sie horchen nicht nur auf die Einzelheiten Ihrer Aussage, sondern sie achten auch scharf auf die formalen Eigenschaften – ob die Gründe dauerhaft oder zeitweilig, spezifisch oder global, von Ihnen oder von jemand anderem verschuldet sind. Was Ihre Mutter Ihnen über die Welt mitteilte, als Sie noch ein Kind waren, hatte großen Einfluß auf Ihre Erklärungsmuster. Das haben wir festgestellt, als wir 100 Elternpaaren und Kindern den Fragebogen zu den Erklärungsmustern vorlegten. Der Optimismusgrad von Müttern und Kindern war sehr ähnlich. Und zwar sowohl bei Söhnen als auch bei Töchtern. Zu unserer Überraschung stellten wir fest, daß weder die Muster der Kinder noch die der Mutter irgendeine Ähnlichkeit mit denen des Vaters aufwiesen. Das zeigt, daß kleine Kinder auf das hören, was ihre primäre Bezugsperson (meist ihre Mutter) über die Ursachen von Ereignissen zu sagen hat, und daß sie dazu neigen, sich dieselben Muster anzueignen. Wenn das Kind eine optimistische Mutter hat, ist das wunderbar, aber wenn es eine pessimistische Mutter hat, kann das für das Kind eine Tragödie sein. Diese Ergebnisse werfen die Frage auf, ob Erklärungsmuster genetisch bedingt sind. Können wir sie von unseren Eltern erben, wie wir ein hohes Maß an Intelligenz, politischer und religiöser Einstellung zu erben scheinen? (Bei Untersuchungen von eineiigen Zwillingen, die getrennt aufwuchsen, zeigten sich unglaubliche Ähnlichkeiten in bezug auf politische Einstellung, Glaube an Gott oder Nichtgläubigkeit und Intelligenzquotient.) Im Gegensatz zu diesen Faktoren scheinen die Erklärungsmuster, die wir in Familien feststellen, nicht erblich zu sein: Die Muster der Mutter gleichen den Mustern der Töchter ebenso wie denen der Söhne, die Muster des Vaters gleichen keinem anderen Familienmitglied. Die Struktur dieses Ergebnisses paßt nicht zu gewöhnlichen genetischen Modellen. Dieser genetischen Frage gehen wir gegenwärtig nach. Wir wollen dabei den Optimismus der leiblichen Eltern und der Adoptiveltern von Kindern messen, die sehr früh adoptiert wurden. Wenn der Optimismusgrad der Kinder dem der Adoptiveltern ähnlich ist und nicht dem der leiblichen Eltern, würde das unsere Auffassung bestätigen, daß die Ursprünge des Optimismus erlernt sind. Wenn der Optimismusgrad der Kinder dem der leiblichen Eltern entspräche, die die Kinder nie kennengelernt haben, dann wäre das ein Beleg dafür, daß Optimismus mindestens teilweise ererbt sein kann.

88

7.2.2 Die Kritik der Erwachsenen: Eltern und Lehrer Wie reagieren Sie, wenn Ihre Kinder etwas falsch gemacht haben? Wie reagieren ihre Lehrer? Wie bereits erwähnt, hören Kinder sehr sorgfältig nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Form einer Aussage. Sie achten nicht nur darauf, was Erwachsene zu ihnen sagen, sondern auch wie sie es sagen. Das gilt ganz besonders für Kritik. Kinder glauben jedes Wort der Kritik, die geäußert wird, und verwenden sie bei der Bildung ihrer Erklärungsmuster. Schauen wir einen Augenblick in ein typisches Klassenzimmer der dritten Klasse, wie Carol Dweck es getan hat. Sie gehört zu den führenden Entwicklungsforscherinnen der Welt.36 Ihre Arbeit hat anschaulich gezeigt, wie Optimismus sich entwickelt. Sie kann uns auch Hinweise darauf geben, was in der Kindheit von Frauen geschieht und wodurch sie so viel anfälliger für Depression werden als Männer. Hat sich die Klasse an die Anwesenheit des Beobachters gewöhnt, so fällt diesem als erstes ein deutlicher Unterschied zwischen dem Benehmen von Mädchen und Jungen auf. Die Mädchen stellen überwiegend eine Freude für den Lehrer oder die Lehrerin dar: Sie sitzen still, falten sogar die Hände und scheinen aufmerksam zuzuhören. Wenn sie stören, dann flüstern und kichern sie, aber im großen und ganzen halten sie sich an die Regeln. Die Jungen sind eine Plage: Sie rutschen selbst dann unruhig herum, wenn sie ernsthaft versuchen stillzusitzen – und das tun sie nicht oft. Sie scheinen nicht zuzuhören und sie halten sich weniger an die Regeln als die Mädchen. Wenn sie stören – und das tun sie oft –, schreien sie und rennen herum. Die Kinder lernen eifrig und schreiben dann eine Klassenarbeit über Bruchrechnen. Was sagt der Lehrer zu den Kindern, die dabei schlecht abschneiden? Welche Art von Kritik hören Jungen und Mädchen in der dritten Klasse von ihren Lehrern, wenn sie eine schlechte Note bekommen? Die Jungen bekommen typischerweise zu hören: »Du hast nicht aufgepaßt« oder »Du hast dich nicht genug angestrengt« oder »Du hast Unfug getrieben, als ich euch Bruchrechnen beigebracht habe«. Was sind das für Erklärungen, wenn man nicht aufpaßt, sich anstrengt und Unfug treibt? Sie sind zeitweilig und spezifisch, nicht global. Zeitweilig deshalb, weil man aufpassen oder mit dem Unfug aufhören kann, sobald man will. Die Mädchen hören gewöhnlich eine ganz andere Art von Tadel, wie unsere Untersuchungen ans Licht gebracht haben. Da sie keinen Unfug treiben und immer aufmerksam erscheinen, können sie in dieser Hinsicht nicht kritisiert werden. Die Lehrkraft, die sie korrigieren will, sucht nach anderen Begründungen: »Du bist nicht sehr gut im Rechnen« oder »Du gibst immer schlampige Arbeiten ab« oder »Du vergißt immer, deine Arbeit noch einmal durchzulesen«. Die meisten zeitweiligen Gründe wie Unaufmerksamkeit und störendes Betragen entfallen; die Mädchen werden deshalb für ihr Versagen mit dauerhafter und globaler Kritik getadelt. Was behalten sie von ihrer Erfahrung in der dritten Klasse übrig? Carol Dweck fand das heraus, indem sie Mädchen in der vierten Klasse unlösbare Anagramme gab. Dann untersuchte sie, wie sie ihr Versagen erklärten. »Warum habt ihr die Lösung nicht gefunden?« fragte die Versuchsleiterin. Die Mädchen gaben Auskünfte wie »Ich bin in Wortspielen nicht besonders gut« und »Ich glaube, ich bin nicht besonders gescheit«. Als man den Jungen denselben Test gab, meinten sie dazu: »Ich habe nicht richtig aufgepaßt.« – »Ich habe mich nicht besonders angestrengt.« – »Wen interessieren diese doofen Rätsel schon?«

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Bei diesem Test gaben die Mädchen dauerhafte und globale Erklärungen für ihr Versagen, während die Jungen Erklärungen gaben, die viel mehr Hoffnung ausdrückten – zeitweilige, spezifische und veränderliche Erklärungen. Hier wird die Wirkung des zweiten Einflußfaktors auf die Erklärungsmuster Ihres Kindes sichtbar: die Kritik, die Erwachsene äußern, wenn das Kind versagt. Auch in diesem Fall hört das Kind wieder aufmerksam zu, und wenn es dauerhafte und globale Urteile hört – »du bist dumm, du kannst nichts« –, gehen diese in seine Theorie über sich selbst ein. Hört es hingegen zeitweilige und spezifische Urteile – »du hast dich nicht genug angestrengt, diese Rätsel sind eigentlich für Sechstkläßler« –, hält es die Probleme für lösbar und begrenzt.

7.2.3

Lebenskrisen bei Kindern

Im Jahre 1981 hörte ich in Heidelberg einen Vortrag von Glen Elder, einem weltweit führenden Familiensoziologen. Er sprach zu einer Gruppe von Wissenschaftlern, die sich mit der Entwicklung von Kindern unter extrem ungünstigen Bedingungen beschäftigten. Er erzählte uns von einer faszinierenden Untersuchung, an der er während seines gesamten Berufslebens gearbeitet hatte. Vor zwei Generationen, schon vor der Weltwirtschaftskrise von 1929, begann eine Gruppe von weitblickenden Wissenschaftlern eine Untersuchung über menschliche Entwicklung, die seit nahezu sechzig Jahren weitergeführt wird. Kinder aus den beiden kalifornischen Städten Berkeley und Oakland wurden interviewt und gründlich auf ihre psychischen Stärken und Schwächen geprüft. Diese Versuchspersonen sind heute siebzig bis achtzig Jahre alt. Sie haben fortlaufend an dieser bahnbrechenden Untersuchung über Entwicklung im Laufe des gesamten Lebens teilgenommen.37 Und nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder und Enkel haben mitgemacht. Dann sprach Glen darüber, wer von diesen Versuchspersonen die Weltwirtschaftskrise unbeschadet überstand und wer sich nie mehr von ihr erholte. Die Töchter der Mittelschicht, deren Familien fast ihr gesamtes Vermögen verloren, hatten sich seelisch bis zum Anfang der mittleren Lebensjahre wieder erholt und alterten dann körperlich und seelisch gesund. Töchter aus der Unterschicht, die während der Wirtschaftskrise ebenso litten, erholten sich nie mehr. Sie brachen am Ende der mittleren Lebensjahre zusammen, und ihre Altersjahre waren körperlich und seelisch eine Tragödie. Glen spekulierte über die Gründe für diesen Unterschied. »Ich glaube, die Frauen, die gesund alterten, haben während ihrer Kindheit zur Zeit der Wirtschaftskrise gelernt, daß Widrigkeiten überwunden werden können. Schließlich hatten sich ihre Familien bis Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre überwiegend wieder erholt. Das lehrte sie Optimismus. Die Krise und ihre Lösung prägten die Erklärungsmuster der Kinder für negative Ereignisse. Die Gründe für Unglück waren zeitweilig, spezifisch und äußerlich. Anders war es bei den Mädchen aus den Unterschichtfamilien. Ihre Familien erholten sich im großen und ganzen nach der Weltwirtschaftskrise nicht mehr. Sie waren vor, während und nach der Krise arm. Diese Mädchen lernten Pessimismus. Sie lernten, daß dann, wenn ein Unglück hereinbricht, die Zeiten für immer schlecht bleiben. Ihre Erklärungsmuster waren von Hoffnungslosigkeit geprägt. Leider sind das nur wilde Spekulationen«, schloß Glen. »Niemand wußte damals etwas von Erklärungsmustern; deshalb konnte man sie auch nicht analysieren. Schade, daß wir keine Zeitmaschine haben, sonst könnten wir ins Jahr 1930 reisen und sehen, ob meine Vermutungen richtig sind.« Nach diesem Vortrag verbrachte ich eine schlaflose Nacht. Der Satz: »Schade, daß wir keine Zeitmaschine haben« ging mir unablässig im Kopf herum. Um fünf Uhr morgens hämmerte ich an Glens Tür. »Wach auf, Glen, ich muß mit dir reden. Wir haben doch eine Zeitmaschine!« 90

Glen rappelte sich auf; wir machten einen Spaziergang. Ich erzählte ihm, daß seit einem Jahr ein kreativer junger Sozialpsychologe namens Chris Peterson bei uns arbeitete. Seine bislang beste Leistung war die Lösung des Problems gewesen, wie man die Erklärungsmuster von Leuten feststellen konnte, die keine Fragebogen ausfüllen würden – große Sportler, Präsidenten und Filmstars. Chris studierte unermüdlich Sportberichte. Jedesmal, wenn beispielsweise ein Fußballspieler eine Begründung für sein Spiel gab, behandelte Chris diese Erklärungen wie eine Antwort im Fragebogen für Erklärungsmuster. Sagte ein Kicker, er habe am Tor vorbeigeschossen, weil er Gegenwind hatte, dann bewertete Chris diese Aussage auf einer Skala von eins bis sieben nach ihren dauerhaften, globalen und persönlichen Merkmalen. Der Satz »Ich hatte Gegenwind« bekam den Wert 1 für Dauerhaftigkeit, denn nichts ist veränderlicher als der Wind. Er bekam 1 für den Geltungsbereich, denn der Gegenwind beeinträchtigt nur das Fußballspiel, nicht aber das Liebesleben. Und er bekam 1 für Personalisierung, denn am Wind ist nicht der Fußballspieler schuld. »Ich hatte Gegenwind« ist also eine sehr optimistische Erklärung für ein negatives Ereignis. Chris errechnete dann den Durchschnittswert aller Aussagen, die der Fußballspieler zufällig machte, und fand so seine Erklärungsmuster heraus, ohne einen Fragebogen einsetzen zu müssen. Als nächstes zeigten wir, daß ein so gewonnenes Profil ähnliche Ergebnisse erbringt, als hätte der Fußballspieler den Fragebogen ausgefüllt. Wir nannten dieses Vorgehen CAVE-Technik – Content Analysis of Verbatim Explanations (Inhaltsanalyse verbaler Erklärungen).38 »Glen«, sagte ich, »die CAVE-Technik ist die Zeitmaschine. Wir können sie nicht nur auf Zeitgenossen anwenden, die keine Fragebogen ausfüllen wollen, sondern auch auf Menschen, die keine ausfüllen können, weil sie schon tot sind.« Ich fuhr fort: »Jetzt will ich dir sagen, warum ich dich geweckt habe. Haben deine Vorgänger die Originalinterviews mit den Kindern aus Berkeley und Oakland aus den dreißiger Jahren aufbewahrt?« Glen dachte nach. »Damals wurden noch keine Tonbandgeräte eingesetzt, aber ich glaube, die Interviewer haben stenografiert. Das werde ich zu Hause im Archiv überprüfen.« »Wenn die authentischen Aussagen noch vorhanden sind«, sagte ich, »können wir sie mit der CAVE-Technik analysieren. Wir können dann eine Art Zeitreise in die Vergangenheit machen und deine Spekulationen überprüfen.« Nach seiner Rückkehr fand Glen im Archiv in Berkeley tatsächlich wortgetreue Notizen der frühen Interviews und komplette Mitschriften von Interviews in verschiedenen späteren Lebensphasen, als die jungen Mädchen Mütter und Großmütter geworden waren. Mit Hilfe dieser Unterlagen erarbeiteten wir die Erklärungsmuster dieser Frauen. Wir zogen jede zufällig geäußerte Begründung aus den Interviews heraus und ließen sie von Menschen beurteilen, die nicht wußten, woher die Aussagen stammten. Sie stuften sie auf einer Skala von eins bis sieben nach Geltungsbereich, Dauerhaftigkeit und Personalisierung ein. Glens Spekulationen erwiesen sich als weitgehend richtig. Die Frauen aus der Mittelschicht, denen es im Alter gutging, waren eher optimistisch. Die Frauen aus der Unterschicht, denen es später schlechtging, waren eher pessimistisch. Diese erste Verwendung der »Zeitmaschine« erbrachte drei wichtige Ergebnisse. Erstens war die Zeitmaschine ein äußerst nützliches Werkzeug. Wir konnten damit den Optimismus von Personen ergründen, die keine Fragebogen ausfüllten, sofern wir wörtliche Zitate von ihnen hatten. Wir konnten eine Fülle von Material mit der CAVETechnik untersuchen, um Erklärungsmuster zu finden: Aufzeichnungen von Pressekonferenzen und Therapiestunden, Tagebücher, Briefe von der Front, Testamente. Wir konnten die Erklärungsmuster von Kindern feststellen, die zu klein für den Kinder-Fra91

gebogen sind, wenn wir ihnen beim Reden zuhörten, ihre Begründungen exzerpierten [herausschrieben] und sie wie Antworten in Fragebögen einstuften. Wir konnten auch

herausfinden, wie optimistisch frühere Präsidenten der Vereinigten Staaten waren, ob der Optimismus im Laufe der amerikanischen Geschichte zu- oder abnahm und welche Kulturen und Religionen mehr oder weniger optimistisch sind. Zweitens verschaffte uns die Zeitmaschine zusätzliche Belege für die These, daß wir unsere Erklärungsmuster von unseren Müttern erlernen. Im Jahre 1970 wurden die ehemaligen Kinder aus Berkeley und Oakland interviewt, die inzwischen Großmütter waren. Auch ihre Kinder, inzwischen selbst schon Mütter, wurden interviewt. Bei der Analyse dieser Interviews bekamen wir dieselben Ergebnisse wie bei unseren Untersuchungen mit Fragebögen. Es bestand eine auffallende Ähnlichkeit zwischen dem Grad des Pessimismus bei Müttern und Töchtern. Drittens lieferte uns die Zeitmaschine erstmals Beweise dafür, daß die Realität der Krisen, die wir als Kinder erleben, unseren Optimismus beeinflußt: Mädchen, die wirtschaftliche Krisen als überwindbar erfuhren, betrachteten negative Ereignisse als vorübergehend und veränderbar. Kinder, die die Entbehrungen der Weltwirtschaftskrise erlebten und auch anschließend arm blieben, betrachteten negative Ereignisse als dauerhaft und unabänderlich. Außer diesen Ergebnissen der Zusammenarbeit mit Glen Elder gibt es noch andere Hinweise darauf, daß Kinder ihre Erklärungsmuster aus den großen Krisen ihres Lebens ableiten. Der britische Professor George Brown verfügt über eine entsprechende Datensammlung. Er hatte zehn Jahre lang Hausfrauen in den ärmsten Bezirken von SüdLondon ausführlich interviewt und dabei über 400 Frauen befragt, um herauszufinden, welche Faktoren Depression verhindern. Die Anzahl an schweren Depressionen, die er dabei aufdeckte, war erschütternd – über 20 Prozent dieser Frauen waren depressiv, davon die Hälfte psychotisch. Brown wollte untersuchen, was die Frauen, die in dieser bedrückenden Umgebung schwer depressiv wurden, von denen unterschied, die nicht depressiv wurden. Brown hatte drei Schutzfaktoren gefunden. Wenn auch nur einer von den drei Faktoren vorhanden war, kam es nicht zur Depression, auch nicht nach schweren Verlusten und großen Entbehrungen. Der erste Schutzfaktor war eine intime Beziehung zu einem Ehemann oder Geliebten. Frauen mit einer solchen Beziehung konnten der Depression gut widerstehen. Der zweite Schutz war eine Arbeit außerhalb des Hauses. Der dritte Faktor war, nicht mehr als drei Kinder unter 14 Jahren versorgen zu müssen. Außer diesen Schutzfaktoren gegen Depression hatte er noch zwei wichtige Risikofaktoren für Depression herausgearbeitet: Anfällig waren vor allem Frauen, die kürzlich einen Verlust erlitten hatten (Tod des Ehemannes, Emigration des Sohnes), und vor allem solche, deren eigene Mutter gestorben war, ehe die Frauen das Jugendalter erreicht hatten.39 »Wenn die Mutter stirbt, solange man noch klein ist«, erklärte George Brown, »lösen alle späteren Verluste ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit aus. Wenn dann ein Sohn nach Neuseeland emigriert, sagt man sich nicht, er geht fort, um sein Glück zu machen, und kommt irgendwann wieder. Vielmehr hat man das Gefühl, er sei gestorben. Alle Verluste im Erwachsenenalter wirken dann wie Todesfälle.« Der Tod der Mutter ist für ein kleines Mädchen ein dauerhafter und allumfassender Verlust. Das gilt ganz besonders vor der Pubertät – ehe Jungen oder die TeenagerClique teilweise Ersatz bieten können. Unsere ersten großen Verluste prägen also unser Denken über die Gründe späterer Verluste; darin liegt der Sinn der Ergebnisse, die George Brown erzielte. Diese unglücklichen Kinder lernen – ebenso wie die Unterschicht-

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kinder während der Weltwirtschaftskrise –, daß solche Verluste dauerhaft und allumfassend sind. Diese Arbeiten zeigen uns, daß wir von drei Einflußarten auf die Erklärungsmuster eines Kindes ausgehen müssen: Erstens die Art der alltäglichen Begründungen, die das Kind von den Erwachsenen hört – besonders von der Mutter. Wenn die Mutter optimistische Muster hat, wird das Kind diese ebenfalls erwerben. Zweitens die Art der Kritik, die es zu hören bekommt, wenn es versagt: Wenn die kritischen Punkte dauerhaft und allumfassend sind, wird das Kind ein pessimistisches Selbstbild entwickeln. Drittens die Realität seiner frühen Verluste und Traumata: Wenn die Dinge wieder gut werden, wird das Kind zu der Überzeugung gelangen, daß negative Ereignisse verändert und überwunden werden können. Sind sie jedoch dauerhaft und allumfassend, wird der Keim der Hoffnungslosigkeit tief eingepflanzt.

93

8 Die Schule Wie wirken sich die Erklärungsmuster eines Kindes auf seine Leistungen in der Schule aus? Kehren wir zunächst noch einmal zu den Grundlagen unserer Theorie zurück. Wenn wir eine Niederlage erleiden, werden wir älle wenigstens für den Augenblick hilflos und depressiv. Wir raffen uns nicht mehr so leicht zu freiwilligen Handlungen auf wie gewöhnlich oder unternehmen möglicherweise überhaupt nichts mehr. Wenn wir etwas anpacken, fehlt es uns an Ausdauer. Wie Sie bereits wissen, sind die Erklärungsmuster die zentralen Steuerungsinstrumente der erlernten Hilflosigkeit. Optimisten erholen sich sehr rasch von ihrer Hilflosigkeit. Sie raffen bald wieder ihre Kräfte zusammen und versuchen erneut, ihre Ziele zu erreichen. Für sie ist eine Niederlage eine Herausforderung, ein kurzfristiger Rückschlag auf dem Weg zum Sieg. Pessimisten geben sich ihrer Niederlage völlig hin. Sie halten sie für dauerhaft und allumfassend. Sie werden depressiv und bleiben für lange Zeit hilflos. Sie machen wochen- oder monatelang keinen Versuch, ihre Lage zu bessern, und wenn sie es versuchen, wirft sie der kleinste Fehlschlag in den Zustand der Hilflosigkeit zurück. Wenn diese Theorie auf das Klassenzimmer und (wie im nächsten Kapitel) auf den Sportplatz übertragen wird, lassen sich klare Prognosen formulieren: Erfolge werden nicht unbedingt den Begabtesten zufallen. Sieger werden vielmehr die ausreichend Begabten sein, die zusätzlich Optimisten sind. Ist diese Prognose richtig?

8.1

Das Klassenzimmer

Kürzlich stieß ich auf den Fall eines Jungen, den ich Alan nennen will. Er war neun Jahre alt, schüchtern, mit schlecht koordinierten Bewegungen; wenn im Sport Teams gebildet werden mußten, wurde er immer als letzter gewählt. Er war jedoch außerordentlich intelligent und künstlerisch hoch begabt. Seine Zeichnungen waren die besten, die sein Kunsterzieher je bei einem Grundschulkind gesehen hatte. Als Alan zehn Jahre alt war, trennten sich seine Eltern, und er wurde depressiv. Er bekam überall schlechte Noten, sprach sehr wenig und verlor jegliches Interesse am Zeichnen. Doch sein Kunsterzieher gab nicht auf. Er unterhielt sich mit dem Jungen und erfuhr, daß Alan sich für dumm, für eine Niete und einen Waschlappen hielt. Außerdem fühlte er sich irgendwie für die Trennung seiner Eltern verantwortlich. Geduldig führte der Lehrer Alan vor Augen, wie falsch diese Selbsteinschätzung war, und brachte ihn zu anderen, realistischeren Urteilen über sich selbst. Alan akzeptierte mit der Zeit, daß er keineswegs dumm, sondern sehr gescheit war. Er lernte, daß die körperliche Koordination bei manchen Jungen später erfolgt und daß sein Bemühen um sportliche Leistung schon deshalb bewundernswert war, weil es ihm so schwerfiel. Der Lehrer kannte Alans Eltern und konnte ihm klarmachen, daß er an ihrer Trennung keinerlei Schuld trug. Er half Alan, seine Erklärungsmuster zu ändern. Einige Monate später bekam Alan in der Schule Preise verliehen und machte sogar gewisse Fortschritte im Sport. Mut und Begeisterung ersetzten das mangelnde Talent. Alan war auf dem Weg zu einer glücklichen Jugend. Wenn Ihr Kind in der Schule schlecht abschneidet, folgern seine Lehrer und vielleicht sogar Sie selbst nur allzu schnell, es sei unbegabt oder sogar dumm. Möglicherweise ist Ihr Kind depressiv; seine Depression verhindert, daß es sich anstrengt, beharrlich zu sein und Risiken zu akzeptieren, um sein Potential entfalten zu können. Wenn Sie glauben, daß Dummheit oder Mangel an Begabung die Ursache ist, verschlechtern Sie die Lage. Denn Ihr Kind wird das merken und es in seine Theorie über sich selbst aufneh-

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men. Seine Erklärungsmuster werden noch pessimistischer, und der schulische Mißerfolg wird sich festsetzen.

8.2

Testen Sie, wie depressiv Ihr Kind ist

Wie können Sie herausfinden, ob Ihr Kind depressiv ist? Um dies festzustellen, gibt es außer einem diagnostischen Gespräch mit einem Psychologen oder Psychiater keine zuverlässige Methode. Sie können jedoch eine wenigstens annähernd zutreffende Antwort bekommen, wenn Sie Ihr Kind bitten, den folgenden Test zu machen. Dieser Test ist eine modifizierte Form des Tests in Kapitel vier. Er wurde von Myrna Weissman, Helen Orvaschell und N. Padian entwickelt, die am Center for Epidemiological Studies beim National Institute of Mental Health arbeiten. Er heißt CES-DC-Test (Center for Epidemiological Studies Depression Child Test; Kinder-Depressions-Test des Zentrums für epidemiologische Untersuchungen). Sie können ihn Ihrem Kind folgendermaßen nahebringen: Ich habe ein Buch darüber gelesen, wie Kinder sich fühlen, und ich habe darüber nachgedacht, wie du dich in der letzten Zeit gefühlt hast. Manchmal finden Kinder nur schwer Worte, um auszudrücken, wie sie sich fühlen. Hier bekommst du eine andere Möglichkeit zu sagen, wie du dich fühlst. Du wirst bei jedem Satz vier Wahlmöglichkeiten haben. Ich möchte gern, daß du jeden Satz liest und dann ankreuzt, welche Aussage am besten beschreibt, wie du dich letzte Woche gefühlt hast oder was du letzte Woche gemacht hast. Sobald du dich für eine Antwort entschieden hast, kommt der nächste Satz dran. Es gibt keine richtigen oder falschen Antworten.

In der letzten Woche 1.

machten mir Dinge zu schaffen, die mir normalerweise nicht schwerfallen. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

2.

hatte ich keine Lust zu essen, ich war nicht besonders hungrig. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

3.

war ich nicht richtig fröhlich, nicht einmal, wenn meine Eltern oder meine Freunde versuchten, mich aufzumuntern. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

4.

hatte ich das Gefühl, ich sei nicht so gut wie andere Kinder. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

5.

konnte ich mich nicht richtig auf das konzentrieren, was ich gerade tat. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

6.

fühlte ich mich niedergeschlagen. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

7.

hatte ich das Gefühl, ich sei zu müde, um irgendwelche Sachen zu machen. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

8.

hatte ich das Gefühl, es würde etwas Schlimmes passieren. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

9.

glaubte ich, daß alles, was ich früher gemacht hatte, nicht gut gewesen sei. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

10.

hatte ich Angst. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

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11.

habe ich nicht so gut geschlafen wie sonst. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

12.

war ich unglücklich. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

13.

war ich stiller als sonst. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

14.

fühlte ich mich einsam, als hätte ich keine Freunde. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

15.

hatte ich das Gefühl, Kinder, die ich kenne, seien nicht nett zu mir oder wollten nicht mit mir zusammensein. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

16.

hat mir das Leben keinen Spaß gemacht. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

17.

wollte ich weinen. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

18.

war ich traurig. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

19.

hatte ich das Gefühl, die Leute mögen mich nicht. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

20.

fiel es mir schwer, einen Anfang zu finden, wenn ich etwas tun wollte. Gar nicht_______ manchmal_______ öfters_______ oft_______

Dieser Test ist leicht auszuwerten. Jedes »Gar nicht« wird mit einer 0 bewertet, jedes »manchmal« zählt als 1, jedes »öfters« als 2, jedes »oft« zählt als 3. Die Summe dieser Zahlen stellt das Testergebnis dar. Wenn Ihr Kind zwei Antworten angestrichen hat, nehmen Sie die mit der höheren Punktzahl. Die Werte haben folgende Bedeutung: Wenn die Punktzahl Ihres Kindes zwischen 0 und 9 liegt, ist es wahrscheinlich nicht depressiv. Wenn sie zwischen 10 und 15 liegt, ist es wahrscheinlich leicht depressiv. Wenn sie mehr als 15 beträgt, ist es wahrscheinlich mäßig depressiv. Mit 16 bis 24 Punkten ist es ziemlich depressiv. Mit mehr als 24 Punkten ist es wahrscheinlich schwer depressiv.40 Ich möchte jedoch eine wichtige Warnung aussprechen: Kein schriftlicher Test ersetzt eine Fach-Diagnose. Bei einem Test wie diesem gibt es zwei Fehlerquellen, auf die Sie achten sollten: Erstens verbergen viele Kinder diese Symptome, besonders vor ihren Eltern. Manche Kinder, die Werte unter zehn haben, sind vielleicht trotzdem depressiv. Zweitens kann es sein, daß hohe Punktzahlen andere Probleme als Depression zur Ursache haben. Wenn Ihr Kind über zwei Wochen hinweg Werte über 15 hat, sollten Sie fachliche Hilfe in Anspruch nehmen. Wenn Ihr Kind Werte über neun hat und über Selbstmord spricht, sollten Sie ebenfalls einen Fachmann aufsuchen. Ein Kindertherapeut oder eine Kindertherapeutin mit »kognitiv-verhaltenstherapeutischem« Ansatz wäre ideal. Suchen Sie im Branchenverzeichnis in den Rubriken »Psychologen«, »Psychiater« und »Psychotherapeuten«.

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Wenn Ihr Kind Werte über 10 hat und in der Schule schlecht abschneidet, führt möglicherweise die Depression zu schlechten Leistungen und nicht die schlechte Leistung zur Depression. Bei Kindern der vierten Grundschulklasse haben wir folgendes festgestellt: Je höher die Depressionswerte, desto schlechter schneidet das Kind beim Lösen von Anagrammen und bei Intelligenztests ab und desto schlechter sind seine Noten. Das gilt sogar für sehr begabte und intelligente Kinder.

8.3

Die Princeton-Pennsylvania-Langzeitstudie

Könnten auch bei Kindern pessimistische Erklärungsmuster ein zentraler Grund für Depression und schlechte Leistungen sein, wie das bei Erwachsenen der Fall ist? Als diese Frage 1981 bei meiner Forschungsarbeit auftauchte, erinnerte ich mich an eine Spielgefährtin meiner Kindheit, die ebenfalls Psychologin geworden war. Joan Girgus war inzwischen Dekanin in Princeton. Wir waren in Kontakt geblieben und hatten uns gegenseitig über unsere Arbeit auf dem laufenden gehalten. Sie beschäftigte sich vorwiegend mit der Frage, wie sich die Wahrnehmung von Kindern im Laufe ihres Heranwachsens entwickelt. Joan Girgus war die ideale Partnerin für mein Vorhaben. Wir verabredeten uns, und ich erläuterte ihr meinen Standpunkt: »Ich glaube nicht, daß Versagen in der Schule überwiegend eine Frage mangelnder Begabung ist. Unsere neuen Daten zeigen, daß die schulischen Leistungen eines Kindes dann abfallen, wenn es depressiv ist.« Ich berichtete Joan Girgus von Carol Dwecks neuesten Ergebnissen, die darauf hinwiesen, daß pessimistische Erklärungsmuster die Wurzel des Übels waren. »Ich habe gerade von Carols neuester Arbeit erfahren«, erzählte ich. Sie hat Grundschulkinder in »hilflose« und »erfolgsorientierte« Kinder eingeteilt, je nachdem, was für Erklärungsmuster sie hatten. Dann ließ sie sie eine Reihe von Mißerfolgen erleben [unlösbare Aufgaben] und anschließend Erfolge [lösbare Aufgaben]. Vor den Mißerfolgen zeigten sich zwischen diesen beiden Gruppen keine Unterschiede. Aber nachdem die Mißerfolge eingetreten waren, trat ein erstaunlicher Unterschied zutage. Die Strategien, die die hilflosen Kinder zur Lösung der Probleme einsetzten, verschlechterten sich, bis sie auf das Niveau der ersten Klasse abgesunken waren. Die Kinder begannen die Aufgabe zu hassen und sprachen darüber, wie gut sie im Baseball oder beim Theaterspielen sind. Als die erfolgsorientierten Kinder versagten, blieben ihre Strategien auf dem Niveau der vierten Klasse. Sie mußten eingestehen, daß sie irgend etwas falsch machten, aber sie blieben bei der Sache. Ein erfolgsorientiertes Mädchen krempelte sogar die Armel hoch und sagte: »Ich finde Herausforderungen toll.« Alle zeigten sich zuversichtlich, daß sie mit dem Problem bald klarkommen würden, und konzentrierten sich auf die Aufgaben. Als dann am Ende alle Kinder Erfolgserlebnisse hatten, spielten die hilflosen Kinder ihre Erfolge herunter. Sie waren der Meinung, sie würden auch in Zukunft nur 50 Prozent der Art von Problemen lösen können, die sie soeben vollkommen richtig gelöst hatten. Die erfolgsorientierten Kinder rechneten damit, 90 Prozent richtig lösen zu können. Ich halte deshalb den Pessimismus für das Grundproblem, das für viele Depressionen bei Kindern und für viele schwache Leistungen in

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der Schule verantwortlich ist. Wenn ein Kind glaubt, es könne nichts ändern, hört es auf, sich anzustrengen, und bekommt immer schlechtere Noten. Ich würde mich freuen, wenn du mit mir zusammen an diesem Thema arbeiten würdest. Joan erbat sich Bedenkzeit und erklärte sich dann zu einem gemeinsamen Projekt bereit. Durch einen glücklichen Zufall hatte Susan Nolen-Hoeksema gerade ihr Postgraduiertenstudium an der University of Pennsylvania begonnen. Ich berichtete ihr von meinem Gespräch mit Joan; Susan reagierte begeistert: »Genau so etwas wollte ich schon immer machen!« Und sie übernahm das Projekt. In den folgenden beiden Jahren wandten wir uns zuerst an die Schulräte der gesamten Region um Princeton in New Jersey, dann auch an die Schulleiter, Lehrer, Eltern und Kinder, und baten sie um Mitarbeit bei einer großangelegten Untersuchung. Wir wollten der Frage nachgehen, ob sich vorhersagen läßt, welche Kinder in der Grundschule depressiv werden und schlechte Leistungen erbringen. Schließlich baten wir das National Institute of Mental Health um finanzielle Unterstützung. Im Herbst 1985 begann die Princeton-Penn-Langzeitstudie.41 400 Kinder der dritten Klasse, ihre Lehrer und Eltern beteiligten sich an dieser Untersuchung, die fortgeführt werden sollte, bis die Kinder fünf Jahre später die siebte Klasse abschlossen. Wir stellten die Hypothese auf, daß es zwei vorrangige Risikofaktoren für Depression und schwache Leistungen bei Kindern gibt: ¾

Pessimistische Erklarungsmuster. Kinder, die negative Ereignisse als dauerhaft, global und persönlich ansehen, werden mit der Zeit depressiv und erbringen in der Schule schwache Leistungen.

¾

Negative äußere Ereignisse. Kindern, die am meisten unter negativen Ereignissen zu leiden haben, wie Trennung der Eltern, Todesfälle in der Familie, Arbeitslosigkeit der Eltern, wird es am schlechtesten ergehen.

Die ersten drei Jahre dieser auf fünf Jahre angelegten Untersuchung sind jetzt vorbei; viele Daten sind bereits verfügbar. Wie nicht anders zu erwarten, ist der größte Risikofaktor für Depression eine bereits vorangegangene Depression. Kinder, die einmal depressiv wurden, neigen dazu, wiederholt depressiv zu werden. Kinder, die in der dritten Klasse frei von Depression sind, sind auch in der vierten und fünften Klasse eher depressionsfrei. Für diese Feststellung bedurfte es keiner Untersuchung, die eine halbe Million Dollar kostet. Aber wir konnten zusätzlich nachweisen, daß sowohl Erklärungsmuster als auch negative äußere Ereignisse bedeutende Risikofaktoren für Depression sind.

8.3.1

Erklärungsmuster

Kinder mit pessimistischen Erklärungsmustern sind erheblich benachteiligt. Wenn ein Kind zu Beginn der dritten Klasse beim Test zu den Erklärungsmustern im pessimistischen Bereich liegt, besteht ein Risiko, daß es depressiv wird. Wir unterschieden zwei Gruppen von Kindern: solche, deren Depressionswerte sich im Laufe der Zeit verschlechterten, und solche, denen es mit der Zeit besserging. Die Erklärungsmuster lassen eine weitere Aufteilung der Gruppen nach folgenden Tendenzen zu: ¾

Wenn Kinder die dritte Klasse mit pessimistischen Mustern beginnen und nicht depressiv sind, werden sie im Laufe der Zeit depressiv.

¾

Wenn Kinder anfangs pessimistisch und zusätzlich depressiv sind, bleiben sie depressiv.

¾

Wenn Kinder optimistisch beginnen und gleichzeitig depressiv sind, geht es ihnen bald besser. 98

¾

Wenn Kinder optimistisch beginnen und nicht depressiv sind, bleiben sie frei von Depression.

Was kommt zuerst – Pessimismus oder Depression? Es könnte sein, daß Pessimismus ein Kind depressiv macht, aber es könnte auch sein, daß Depression zu einer pessimistischen Weltsicht führt. Beides ist richtig. Depression in der dritten Klasse macht die Kinder in der vierten Klasse pessimistischer, und Pessimismus in der dritten Klasse macht die Kinder in der vierten Klasse depressiver. Die beiden Faktoren bilden einen Teufelskreis. Cindy* steckte in einem solchen Teufelskreis. * Ich möchte den Leser daran erinnern, daß ich zur Wahrung der Anonymität unserer Testteilnehmer sowie der Patienten in Therapie häufig Beispiele aus Versatzstücken mehrerer Fälle konstruiert habe.

Im Winter des dritten Schuljahres erklärten ihr die Eltern, daß sie sich trennen wollten. Bald darauf zog der Vater aus. Cindys Erklärungsmuster waren schon vorher ein wenig pessimistischer als die ihrer meisten Mitschüler, aber jetzt wurde sie völlig teilnahmslos und weinte beim geringsten Anlaß. Ihre Depressionswerte stiegen sprunghaft an. Ihre schulische Leistung wurde schlechter; wie viele depressive Kinder zog sie sich von ihren Freundinnen und Freunden zurück. Sie hielt sich für unbeliebt und dumm, und dadurch wurden ihre Erklärungsmuster pessimistischer. Diese Muster erschwerten ihr wiederum, mit Enttäuschungen fertig zu werden. Selbst bei kleinen Rückschlägen dachte sie: »Niemand mag mich« oder »Ich kann nichts«; dann wurde sie noch depressiver. Die Eltern haben die entscheidende Aufgabe zu erkennen, wann ein solcher Teufelskreis begonnen hat, und zu lernen, wie man ihn durchbrechen kann. Informationen darüber finden Sie im dritten Teil des Buches.

8.3.2 Negative äußere Ereignisse Je mehr Unglück ein Kind erfährt, desto schlimmer wird seine Depression. Optimistische Kinder können den Auswirkungen negativer Ereignisse besser widerstehen als pessimistische Kinder, und beliebte Kinder halten besser stand als unbeliebte. Aber das verhindert nicht, daß negative Ereignisse eine deprimierende Wirkung auf alle Kinder haben. Ich will einige der Ereignisse nennen, auf die man achten muß. Wenn eines von ihnen eintritt, braucht Ihr Kind sehr viel Zeit und alle Hilfe und Unterstützung, die Sie ihm geben können. Solche Zeiten sind auch besonders geeignet, die Übungen, die Sie in Kapitel dreizehn kennenlernen, in der Praxis anzuwenden. ¾

Bruder oder Schwester verlassen das Elternhaus, um auf das College zu gehen oder zu arbeiten.

¾

Ein geliebtes Haustier stirbt – das mag Ihnen geringfügig erscheinen, ist aber für ein Kind niederschmetternd.

¾

Ein Großvater oder eine Großmutter, die das Kind gut kennt, stirbt.

¾

Sie und Ihr Mann/Ihre Frau streiten.

¾

Die Eltern trennen sich – das ist neben dem Streit der Eltern das größte Problem.

99

8.4

Scheidung und elterlicher Streit

Scheidung der Eltern und erbitterte Auseinandersetzungen zwischen Eltern nehmen ständig zu, so daß sie zu den häufigsten negativen Ereignissen zählen, die Kinder erleben. Deshalb haben wir in der Princeton-Penn-Langzeitstudie unser Augenmerk besonders auf Kinder gerichtet, die diese Erfahrungen gemacht haben. Bei Beginn der Untersuchung erzählten uns 60 Kinder – ungefähr 15 Prozent –, ihre Eltern lebten getrennt oder seien geschieden. Wir haben diese Kinder in den letzten drei Jahren sorgfältig beobachtet und sie mit den übrigen Kindern verglichen. Was wir von diesen Kindern erfahren, hat große Bedeutung für die Gesellschaft im ganzen und dafür, wie Sie mit Ihren Kindern umgehen sollten, wenn Sie sich scheiden lassen. Erstens und vorrangig ist zu sagen, daß es den Kindern geschiedener Eltern im großen und ganzen schlechtgeht. Bei den Tests, die zweimal im Jahr durchgeführt werden, haben sich diese Kinder als viel depressiver erwiesen als Kinder aus intakten Familien. Wir hatten gehofft, der Unterschied würde im Laufe der Zeit kleiner werden, doch dies trat nicht ein. Noch drei Jahre später sind die Kinder geschiedener Eltern viel depressiver als die übrigen Kinder – vielleicht sogar noch ein wenig depressiver als zum Zeitpunkt der Scheidung. Das gilt für alle Symptome der Depression – Traurigkeit, störendes Verhalten in der Schule, weniger Lebenslust, niedrigeres Selbstwertgefühl, mehr körperliche Beschwerden und mehr Sorgen. Dabei muß man aber beachten, daß das Durchschnittsergebnisse sind. Einige dieser Kinder wurden nicht depressiv, und manche der depressiven Kinder erholten sich im Laufe der Zeit. Scheidung bedeutet nicht zwangsläufig, daß ein Kind jahrelang depressiv bleibt, erhöht aber die Wahrscheinlichkeit beträchtlich. Zweitens erleben die Kinder geschiedener Eltern weitere negative äußere Ereignisse. Diese anhaltenden Belastungen könnten dafür verantwortlich sein, daß die Depression dieser Kinder so stark bleibt. Diese negativen Ereignisse lassen sich in drei Gruppen einteilen. Erstens die Ereignisse, die die Scheidung selbst mit sich bringt oder die durch die Depression verursacht werden, die die Scheidung nach sich zieht. Kinder geschiedener Eltern erleben häufiger, daß ¾ ¾ ¾ ¾ ¾ ¾

die Mutter eine Arbeit außer Haus annimmt, die Klassenkameraden weniger nett sind, ein Elternteil sich wieder verheiratet, ein Elternteil einer neuen Religionsgemeinschaft beitritt, ein Elternteil ins Krankenhaus kommt, das Kind selbst in einem Schulfach versagt.

Kinder geschiedener Eltern erleben auch häufiger Ereignisse, die die Scheidung mit verursacht haben können: ¾ ¾ ¾

Die Eltern streiten mehr. Der Vater ist häufiger auf Geschäftsreisen. Ein Elternteil verliert seine Stelle.

Diese Ergebnisse stellten für uns keine Überraschung dar. Aber wir waren erstaunt über die letzte Kategorie von negativen Ereignissen, an denen Kinder geschiedener Eltern häufiger leiden. Wir wissen noch nicht, was wir von diesen bemerkenswerten Fakten halten sollen, wollen sie Ihnen jedoch nicht vorenthalten: ¾ ¾

Eine Schwester oder ein Bruder kommt ins Krankenhaus. (Bei Scheidungskindern dreieinhalbmal häufiger als sonst.) Das Kind selbst kommt ins Krankenhaus. (Dreieinhalbmal häufiger als sonst.) 100

¾ ¾

Ein Freund/eine Freundin stirbt. (Doppelt so häufig wie sonst.) Großvater oder Großmutter stirbt. (Doppelt so häufig wie sonst.)

In auseinanderbrechenden Familien scheinen mehrere Arten von Unglück aufzutreten, die allem Anschein nach nichts mit der Scheidung zu tun haben; sie sind weder als Ursache noch als Folge anzusehen. Wir können uns nicht vorstellen, daß der Tod eines engen Freundes/einer engen Freundin des Kindes oder der Tod von Großvater oder Großmutter die Folge der Scheidung oder eine ihrer Ursachen sein könnten. Und doch lassen sich diese Fakten nicht leugnen.42 Für die Kinder geschiedener Eltern fügen sich diese Ergebnisse zu einem recht düsteren Bild zusammen. Generell glaubt man, es sei besser für die Kinder, wenn ihre unglücklichen Eltern sich trennen, so daß sie nicht weiter mit Eltern zusammenleben müssen, die sich hassen. Unsere Ergebnisse stellen diesen Kindern Schlimmes in Aussicht: lange, schwere Depression, eine erheblich höhere Anzahl belastender Ereignisse und seltsamerweise viel mehr Unglück, das dem Augenschein nach mit der Scheidung nichts zu tun hat. Es wäre unverantwortlich, Ihnen nicht zu empfehlen, diese bestürzenden Fakten ernst zu nehmen, wenn Sie über eine Scheidung nachdenken. Aber vielleicht ist das Problem gar nicht die Scheidung selbst. Möglicherweise liegt die Wurzel des Übels in der Tatsache, daß die Eltern sich streiten. Wir haben in der Princeton-Penn-Langzeitstudie auch drei Jahre lang 75 Kinder beobachtet, deren Eltern sich nicht scheiden ließen, die jedoch aussagten, daß ihre Eltern sich häufig streiten. Den Kindern aus diesen Familien geht es ebenso schlecht wie den Kindern aus Scheidungsfamilien – sie sind schwer depressiv, bleiben noch lange depressiv, nachdem die Eltern sich angeblich nicht mehr streiten, und erleben häufiger schmerzhafte Ereignisse als Kinder aus intakten Familien, deren Eltern nicht streiten. Streitigkeiten zwischen den Eltern könnten die Kinder auf zweifache Weise dauerhaft verletzen. Einmal könnten sich unglücklich verheiratete Eltern streiten und dann trennen. Der Streit und die Trennung könnten das Kind unmittelbar verstören und eine lange Depression nach sich ziehen. Zum anderen könnte auch eine eher traditionelle Weisheit zutreffen: Eltern, die sich streiten und trennen, sind sehr unglücklich miteinander. Der Streit und die Trennung selbst haben kaum eine direkte Auswirkung auf das Kind; das Kind spürt jedoch, daß seine Eltern sehr unglücklich sind. Das Bewußtsein, daß die Eltern unglücklich sind, verursacht Not. Es verstört das Kind so sehr, daß daraus eine lang anhaltende Depression folgt. Unsere Daten geben uns keinen Hinweis darauf, welche der beiden Möglichkeiten zutrifft. Was bedeutet das für Sie? Viele Menschen führen eine schwierige Ehe, in der es viel Streit gibt. Weniger dramatisch, aber noch häufiger ist die folgende Situation: Nach mehreren Jahren Ehe mögen viele Menschen ihre Partner nicht mehr besonders; Spannungen sind die Folge. Gleichzeitig sind beide Elternteile aber oft sehr besorgt um das Wohl ihrer Kinder. Zumindest statistisch betrachtet scheint es eine Tatsache zu sein, daß eine Trennung oder ein Streit infolge ehelichen Unglücks bei den Kindern bleibenden Schaden verursacht. Sollte es sich herausstellen, daß das Unglück der Eltern und nicht der offene Streit die Kinder belastet, dann würde ich für eine Eheberatung plädieren, die darauf abzielt, sich mit den Nachteilen der Ehe abzufinden. Sind jedoch der Streit selbst und die Entscheidung, sich zu trennen, für die Depression der Kinder verantwortlich, dann folgt daraus ein ganz anderer Rat, wenn Ihnen das Wohl Ihrer Kinder – und nicht Ihre eigene Zufriedenheit – vorrangig am Herzen liegt. Sind Sie bereit, auf die Trennung zu verzichten? Und sind Sie darüber hinaus bereit, auf Streit zu verzichten?

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Ich will Ihnen hier nicht den naiven Rat erteilen, niemals mehr zu streiten. Streiten hilft manchmal, denn wenn dadurch das strittige Problem gelöst wird, bessert sich die Lage. Aber oft genug verstrickt man sich in unproduktive Auseinandersetzungen mit dem Partner. Ich kann Ihnen keine Ratschläge darüber erteilen, wie Sie sich produktiv streiten können, da ich auf diesem Gebiet kein Spezialist bin. Das einzige Forschungsergebnis über die Frage, wie man streiten soll, betrifft die Lösung des Streits.43 Kinder, die Filme anschauen, in denen Erwachsene streiten, sind erheblich weniger verstört, wenn der Streit mit einem klaren Beschluß endet. Sie sollten sich also dann, wenn Sie streiten, große Mühe geben, den Streit vor Ihrem Kind zu einer klaren Lösung zu führen. Darüber hinaus ist es wichtig, daß Sie sich bei jedem Streit darüber im klaren sind, daß Sie damit Ihren Kindern schaden können.44 Es ist gut möglich, daß Sie den Streit als ihr heiliges Recht ansehen. Schließlich leben wir in einer Zeit, in der es für gesund und legitim gehalten wird, jede Emotion offen auszuleben. Es gilt als völlig akzeptabel, eine Wut durch Streit abzureagieren. Diese Haltung ist der freudianischen Ansicht zu verdanken, daß es negative Folgen habe, wenn man Wut in sich aufstaut. Aber was geschieht, wenn Sie auch die andere Wange hinhalten? Auf der einen Seite läßt unterdrückte Wut zumindest kurzfristig den Blutdruck in die Höhe schnellen und kann möglicherweise langfristig zu psychosomatischen Krankheiten beitragen. Andererseits führt der offene Ausdruck von Wut häufig dazu, daß unsichere und mühsam im Gleichgewicht gehaltene Beziehungen in die Brüche gehen. Die Wut eskaliert und entwickelt eine eigene Dynamik, während die eigentlichen Probleme ungelöst bleiben. Schließlich besteht das gemeinsame Leben des Paares nur noch aus gegenseitigen Beschuldigungen. Wenn Sie nicht streiten, wirken sich die Folgen auf Sie und Ihren Partner bzw. Ihre Partnerin aus. Im Hinblick auf Ihre Kinder läßt sich sehr wenig zugunsten elterlichen Streitens sagen. Wenn Ihnen in erster Linie das Wohl Ihrer Kinder am Herzen liegt, empfehle ich Ihnen daher – entgegen der heute vorherrschenden Ethik –, erst einmal Abstand zu nehmen und es sich gut zu überlegen, ehe Sie einen Streit anfangen. Wut zeigen und streiten sind keine Menschenrechte. Überwinden Sie sich dazu, Ärger hinunterzuschlucken, Stolz zu opfern und sich mit weniger zufriedenzugeben, als Sie von Ihrem Partner erwarten könnten. Es ist Ihre freie Entscheidung, ob Sie sich streiten oder nicht. Denn möglicherweise steht dabei weniger Ihr eigenes Wohl als vielmehr das Ihres Kindes auf dem Spiel. Unsere Ergebnisse zeigen, daß häufig die folgende Verkettung von Ereignissen eintritt: Wenn sich die Eltern streiten oder trennen, führt das zu einem erheblichen Anstieg von Depression beim Kind. Diese Depression bewirkt dann, daß vermehrt Schwierigkeiten in der Schule auftreten und daß die Erklärungsmuster viel pessimistischer werden. Die schulischen Schwierigkeiten erhalten zusammen mit den neuerworbenen pessimistischen Erklärungsmustern die Depression aufrecht. Ein Teufelskreis ist entstanden. Nun wird die Depression zu einer dauerhaften Lebenshaltung Ihres Kindes. Wenn Streitigkeiten zwischen den Eltern zunehmen oder die Eltern beschließen, sich zu trennen, braucht Ihr Kind zusätzliche Hilfe, um Depression und Pessimismus zu verhindern und um Schulproblemen vorzubeugen. Zu einem solchen Zeitpunkt braucht das Kind besondere Zuwendung von seinen Lehrern und von Ihnen. Geben Sie sich große Mühe, Ihrem Kind besonders nah zu sein. Wenn eine wichtige, liebevolle Beziehung ungestört bleibt, kann das die Auswirkungen des Streits der Eltern erheblich mildern. Zu diesem Zeitpunkt sollten Sie sich auch Gedanken über professionelle Hilfe machen. Sie selbst und Ihr Partner könnten in einer Therapie lernen, weniger und produktiver zu streiten. Bei Ihrem Kind könnte eine solche Ehetherapie eine lebenslange Depression verhindern.

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8.5 Mädchen versus Jungen Die katastrophalen Langzeitfolgen von Streit und Scheidung waren nicht die einzigen Ergebnisse, die uns überraschten. Wir hatten auch ein großes Interesse an den Unterschieden zwischen den Geschlechtern. Wir hegten bei der Frage, welches Geschlecht häufiger depressiv wird und pessimistischer ist, ganz bestimmte Erwartungen. Als wir jedoch unsere Daten auswerteten, wurden unsere Erwartungen vielfach widerlegt. Wie Sie aus den Kapiteln vier und fünf wissen, sind erwachsene Frauen im Durchschnitt viel häufiger depressiv als erwachsene Männer. Doppelt so viele Frauen wie Männer leiden an Depressionen – und diese Aussage wird durch Behandlungsstatistiken, Umfragen oder auch durch die Anzahl der Symptome gestützt. Wir nahmen an, daß sich dies in der Kindheit herauskristallisiert, und rechneten damit, bei Mädchen mehr Depression und pessimistischere Erklärungsmuster zu finden als bei Jungen. Doch dies traf nicht zu. Bei jedem Testdurchgang sind die Jungen depressiver als die Mädchen. Ein durchschnittlicher Junge weist viel mehr Depressionssymptome auf und leidet an schwereren Depressionen als ein durchschnittliches Mädchen. Von den Jungen in der dritten und vierten Klasse sind 35 Prozent mindestens einmal in der dritten oder vierten Klasse schwer depressiv. Von den Mädchen waren nur 21 Prozent schwer depressiv. Der Unterschied beschränkt sich auf zwei Arten von Symptomen: Die Jungen zeigen mehr störendes Verhalten (»Ich komme die ganze Zeit in Schwierigkeiten«) und mehr Lustlosigkeit (nicht genug Freunde, sozialer Rückzug). In bezug auf Traurigkeit, Selbstwertgefühl und körperliche Symptome haben die Jungen keinen Vorsprung vor den Mädchen. Die Unterschiede bei den Erklärungsmustern fallen entsprechend aus. Zu unserer Überraschung sind die Mädchen bei allen Testdurchgängen optimistischer als die Jungen. Sie sind im Hinblick auf positive Ereignisse optimistischer als die Jungen und weniger pessimistisch bei den negativen Ereignissen. Damit hatte uns die Princeton-Penn-Langzeitstudie eine weitere Überraschung beschert: Jungen sind pessimistischer und depressiver als Mädchen und reagieren sensibler auf negative Ereignisse, beispielsweise auch auf die Scheidung der Eltern. Was immer also den enormen Unterschied in der Depressionsrate Erwachsener verursachen mag, in der Kindheit kann seine Wurzel nicht liegen. In der Pubertät oder kurz danach muß sich etwas ereignen, das eine Umkehrung bewirkt – und die Mädchen sehr hart trifft. Über diese Ereignisse können wir nur Vermutungen anstellen. Aber die Kinder, die wir in der Langzeitstudie beobachten, nähern sich nun gerade der Pubertät. Es ist daher denkbar, daß wir in den letzten beiden Jahren der Princeton-Penn-Langzeitstudie erfahren, welches Geschehen in der Pubertät die Hauptlast der Depression von Jungen auf Mädchen verschiebt.45

8.6 College An einem Frühlingstag des Jahres 1983 ließ ich mir von Dekan Willis Stetson, der für die Zulassung zur Penn verantwortlich war, die Probleme der Zulassungsabteilung schildern – genaugenommen die Probleme mit den Fehlentscheidungen. Ich war für ein College der Penn zuständig und hatte aus der Nähe beobachten können, wie unzulänglich die Ergebnisse des Auswahlverfahrens sein konnten. Ich bot den Leuten in der Zulassungsabteilung an, meinen Test einzusetzen, um festzustellen, ob er akademische Erfolge leichter vorhersagbar macht. Ich fragte Dekan Stetson, nach welchen Gesichtspunkten die Penn Anfänger aufnimmt. Er erklärte mir:

103

Wir berücksichtigen drei wichtige akademische Faktoren, die Noten der High-School, die Bewertungen des College Board und die Ergebnisse von Leistungstests. Diese Faktoren setzen wir in eine Gleichung ein und erhalten so eine Zahl, wie etwa 3,1. Das ist dann der prognostizierte Durchschnitt des Studenten für das erste Studienjahr. Wir nennen den Wert PI oder Prognostischen Index. Wenn er hoch genug ist, wird der Bewerber zugelassen. Mit diesem Verfahren können wir die Mehrzahl der Anfänger richtig auswählen, aber es treten auch viele Fehler auf. Und das bedeutet Enttäuschung, Vorwürfe der Eltern, überarbeitete Dozenten sowie Studenten, die den akademischen Anforderungen nicht gewachsen sind. Wir machen zwei Arten von falschen Prognosen. Erstens schneiden manche Studenten – und zum Glück nur wenige – im ersten Jahr viel schlechter ab als erwartet. Zweitens schneidet eine erhebliche Anzahl viel besser ab, als nach ihrem PI zu erwarten wäre. Trotzdem würden wir unsere Fehlerquote gern senken. Erzählen Sie mir mehr über Ihren Test. Ich erklärte ihm ausführlich den Fragebogen zu den Erklärungsmustern und die dabei zugrundegelegte Theorie. Dann berichtete ich von unserer Arbeit mit der Metropolitan Life Insurance Company. Schließlich meinte Dekan Stetson: »Versuchen wir es einfach einmal. Wir probieren den Test am Studienjahrgang 1987 aus.« Mehr als 300 der neuen Studenten füllten den Fragebogen zu den Erklärungsmustern aus. Und dann warteten wir. Wir warteten, bis sie die ersten Tests in der Mitte des Semesters und die schrecklichen beiden Examenswochen am Semesterende hinter sich hatten. Wir warteten darauf, daß die Studenten – von denen sehr viele auf der HighSchool in allen Fächern hervorragende Ergebnisse erzielt hatten – feststellten, wie die Konkurrenz an einer bedeutenden Universität aussah. Am Ende des ersten Semesters wurden die Fehler sichtbar, die dem Dekan Sorgen machten. Ein volles Drittel der Studenten hatte entweder viel besser oder viel schlechter abgeschnitten, als ihre Noten von der High-School und ihre Leistungstests erwarten ließen. Von diesen 100 Anfängern waren etwa 20 viel schlechter und 80 viel besser, als vorher angenommen worden war.46 Doch diese Ergebnisse stellten für uns keine Überraschung mehr dar. Sie entsprachen nämlich den Ergebnissen bei den Versicherungsvertretern und den Viertkläßlern. Die Studienanfänger, die mit der Herausforderung fertig wurden und viel besser abschnitten, als ihre »Begabung« verhieß, waren im allgemeinen Optimisten, als sie auf die Hochschule kamen. Diejenigen, die viel schlechter als erwartet abschnitten, waren Pessimisten.

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8.7

Traditionelle Weisheit über den Schulerfolg

Ein Jahrhundert lang waren »Eignung« und »Begabung« die Schlüsselwörter für akademischen Erfolg. Ich glaube, daß die »Begabung« enorm überbewertet wird. Sie wird nicht nur unzulänglich gemessen und erlaubt keine verläßlichen Erfolgsprognosen, sondern die althergebrachten Erklärungen selbst erwiesen sich als nicht zutreffend. Sie lassen einen Faktor außer acht, der niedrige Werte wettmachen oder die Leistungen »hochbegabter« Menschen stark beeinträchtigen kann: die Erklärungsmuster. Was kommt in der Schule zuerst – Optimismus oder Leistung? Der gesunde Menschenverstand sagt uns, daß Menschen optimistisch werden, weil sie begabt sind oder weil sie gute Erfolge erzielen. Aber unsere Untersuchungen in Schulen bezeugen eindeutig die umgekehrte Richtung für die Kausalverknüpfung: Bei unseren Untersuchungen halten wir die Begabung zunächst konstant – durch Leistungstests, IQ-Tests, Eignungstests für Versicherungsvertreter – und warten dann ab, wie es den Optimisten und den Pessimisten unter den Hochbegabten ergeht. Wir haben wiederholt festgestellt, daß unabhängig von ihren Werten bei Begabungstests Pessimisten unter ihr »Potential« absinken und Optimisten es überschreiten. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß der Begriff der Begabung ohne den Begriff des Optimismus sehr wenig Bedeutung hat.

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9

Sport

Amerikaner lesen begeistert Sportstatistiken. Wir schwelgen geradezu in Wahrscheinlichkeitsberechnungen über die Gewinnchancen unserer Sportstars. Sie sind die Grundlage für die Sportwetten, und der Bruttoumsatz in dieser Branche nähert sich dem der amerikanischen Industrie. Bill Jaynes und das Elias Sports Bureau veröffentlichen raffinierte Zusammenstellungen von Baseball-Statistiken, von denen jedes Jahr Zehntausende von Exemplaren verkauft werden. Und nicht nur die breite Öffentlichkeit liebt diese Broschüren. Sie eignen sich auch für eine ernsthafte wissenschaftliche Auswertung, denn der Profisport gehört inzwischen zu den quantitativ bestdokumentierten Aktivitäten der Welt. Diese Fundgruben der Sportinformation eignen sich auch zur Überprüfung von Theorien über die Prognose menschlichen Leistungsvermögens. Ähnliches gilt für die Erklärungsmuster. Meine Studenten und ich haben Tausende von Stunden damit zugebracht, Sportberichte zu lesen und meine Theorie anhand von Sportstatistiken zu überprüfen. Welche Bedeutung hat der Optimismus auf dem Sportplatz? Für den Bereich des Sports lassen sich drei Prognosen formulieren. Erstens: Von mehreren Sportlern wird – wenn alle anderen Faktoren gleich sind – derjenige mit den optimistischsten Erklärungsmustern gewinnen. Er wird gewinnen, weil er sich mehr anstrengt, und zwar vor allem nach einer Niederlage oder bei einer großen Herausforderung. Zweitens: Dasselbe sollte auch für Mannschaften zutreffen. Wenn der Optimismusgrad ganzer Mannschaften bestimmt werden kann, müßte die optimistischere Mannschaft gewinnen – bei sonst gleichem Können. Das sollte ganz besonders unter Druck deutlich werden. Drittens: Sportler, deren pessimistische Erklärungsmuster in optimistische verwandelt werden, müßten häufiger gewinnen, besonders unter Druck. Diese Annahme vor allem eröffnet aufregende Möglichkeiten.

9.1 Die National League Nehmen wir einen beliebten amerikanischen Zeitvertreib – Baseball. Eine nähere Beschäftigung mit ihm zeigt uns den innersten Kern menschlichen Erfolgs und Versagens, die Bitterkeit der Niederlage und den Siegestaumel. Es ist recht einfach, eine Prognose auf der Grundlage der Theorie aufzustellen, aber es ist sehr schwierig, sie zu überprüfen. Dabei stellen sich drei Probleme. Erstens: Kann man von einer Mannschaft, also einer Gruppe von Individuen, sinnvollerweise behaupten, sie hätten gemeinsame Erklärungsmuster? Durch unsere bisherige Arbeit war uns klargeworden, daß pessimistische Einzelpersonen schlechter abschneiden. Gibt es aber auch so etwas wie eine pessimistische Mannschaft? Und schneidet eine pessimistische Mannschaft schlechter ab? Um diese Fragen beantworten zu können, benützen wir die CAVE-Technik (Inhaltsanalyse verbaler Erklärungen) und verwenden eine ganze Spielsaison lang alle Zitate auf den Sportseiten, die eine Ursachenerklärung einzelner Mitglieder von Mannschaften enthalten. Weil Sportreporter vor allem negative Ereignisse kommentieren, gibt es im Sportteil jeder Tageszeitung entsprechende Beispiele in Hülle und Fülle. Wir setzen für die Auswertung Leute ein, die nicht wissen, wer die Aussagen gemacht hat und auf welche Mannschaft sie sich beziehen, und erstellen für jeden Spieler ein Profil. Wir werten auch die Aussagen des Trainers oder Managers aus. Am Ende errechnen wir den Durchschnitt aller Einzelspieler und erhalten

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so die Erklärungsmuster der Gesamtmannschaft. Dann vergleichen wir alle Mannschaften der Liga. Das zweite Problem betrifft die Zitate in der Sportberichterstattung selbst. Wir haben weder die Macht noch die Mittel, alle führenden Baseballspieler zu interviewen. Daher müssen wir uns auf das verlassen, was in den Sportberichten von Lokalzeitungen und in der äußerst ergiebigen Zeitschrift Sporting News zu finden ist. Was ein Spieler einem Reporter antwortet, ist jedoch als wissenschaftliches Material wenig zuverlässig. Das Zitat selbst kann falsch oder vom Reporter erfunden sein, damit sein Text wirkungsvoller wird. Vielleicht sagt der Spieler auch nicht, was er wirklich denkt. Er kann versuchen, Verantwortung abzuwälzen oder sie freiwillig zu übernehmen. Vielleicht ist er auf sein öffentliches Image bedacht und gibt sich übermäßig bescheiden oder übertrieben selbstherrlich. Daher wissen wir nicht, ob die Erklärungsmuster in den Zitaten korrekt wiedergegeben werden. Das können wir nur nachträglich herausfinden: Wenn die Prognose einer Untersuchung richtig vorhersagt, wie eine Mannschaft abschneidet, müssen die Zitate gestimmt haben. Wenn die Prognose nicht stimmt, ist entweder die Theorie falsch, oder die Zitate sind keine verläßlichen Indikatoren für den Grad des Optimismus. Das ist aber nicht die einzige Schwierigkeit mit Zitaten aus Sportberichten. Es müssen gewaltige Materialmassen durchgearbeitet werden, um die Erklärungsmuster einer ganzen Mannschaft erkennen zu können. Bei unserer Untersuchung der National League lasen wir den gesamten Sportteil der Zeitungen aller Heimatstädte der zwölf Mannschaften der National League während der gesamten Baseballsaison 1985 (von April bis Oktober). Weil die Ergebnisse so faszinierend waren, wiederholten wir die ganze Prozedur 1986 noch einmal. Alles in allem haben wir etwa 15.000 Seiten Sportberichterstattung mit der CAVE-Technik ausgewertet. Das dritte Problem: Was soll vorhergesagt werden, um zu zeigen, daß der Optimismus zum Sieg führt und nicht der Sieg zum Optimismus? Die New York Mets waren 1985 eine sehr optimistische Mannschaft. Sie waren 1985 auch eine sehr gute Mannschaft, die aber in den letzten Wochen gegenüber den St. Louis Cardinals in einem atemberaubenden Wettstreit verlor. Schnitt die Mannschaft gut ab, weil sie optimistisch war, oder entsprang ihr Optimismus der Tatsache, daß sie so gut abschnitt? Das kann man herausfinden, wenn man vom Optimismus in einer Saison auf die Siege in der nächsten Saison schließt, wobei man natürlich den Wechsel der Spieler berücksichtigen muß. Spieler, die die Mannschaft verlassen, werden beim Profil der Erklärungsmuster nicht berücksichtigt. Aber selbst das genügt noch nicht. Wir müssen auch einbeziehen, wie gut die Mannschaft in der ersten Saison spielte. Nehmen wir die Mets. Sie waren 1985 die optimistischste Mannschaft in der National League, und sie hatten die zweitbesten Ergebnisse (98mal Sieg und 64mal Niederlage). Wie wir erwartet hatten, schnitten sie 1986 sogar noch besser ab. War das auf ihren Optimismus zurückzuführen (den wir durch die Auswertung der Zitate von 1985 gemessen hatten) oder nur darauf, daß sie so gut waren (wie das Verhältnis von Sieg und Niederlage im Jahre 1985 zeigte)? Um das festzustellen, müssen wir frühere Relationen von Sieg und Niederlage einbeziehen – um das Ergebnis »statistisch konstant« zu halten – und prüfen, ob der Optimismus Erfolge ankündigt, die frühere Erfolge übertreffen. Das entspricht genau dem, was wir auch bei unserer Untersuchung über akademischen Erfolg gemacht haben, als wir fragten, ob Optimismus Prognosen für Collegenoten erlaubt, die die Noten der High-School und die Werte der Leistungstests übertreffen. Außerdem wollten wir wissen, ob unsere Theorie stimmt, daß der Optimismus seine magische Wirkung gerade dann entfaltet, wenn die Mannschaft unter Druck gerät. Wir stellten fest, daß das Elias Sports Bureau, das eines der statistischen Bücher über Baseball herausgibt, eine ausgezeichnete Statistik über »Druck bei Durchgängen gegen 107

Spielende« enthält.47 Elias führt auf, wie die Schläger einer Mannschaft bei den letzten drei Durchgängen eines kritischen Spiels abschneiden. Wir sagten also voraus, daß die optimistischen Mannschaften des Jahres 1985, verglichen mit den pessimistischen Mannschaften des Jahres 1985, im Jahre 1986 bei Durchgängen gegen Spielende bessere Durchschnittsleistungen beim Schlagen erzielen würden. Wieder mußten wir zeigen, daß die Ergebnisse höher lagen als ihre bisherigen Durchschnittsleistungen beim Schlagen, indem wir statistische Korrekturen für Schläge ohne Druck durchführten.

9.2 Die Mets im Jahre 1985 und die Cardinals im Jahre 1986 Zwei große Mannschaften kämpften Kopf an Kopf um den Siegeswimpel der Eastern Division. Während der ganzen Saison stürzten wir uns auf jede beiläufige Aussage in der Zeitung, die einzelne Mitglieder der Mets oder der Cardinals machten, und werteten sie aus. Am Ende der Saison zogen wir Bilanz. Es folgt zunächst, was die Mets im Laufe der Saison sagten. Ich werde jedem Zitat einen CAVE-Wert zuordnen. Die Zahlen reichen von 3 (sehr zeitweilig, spezifisch und external) bis 21 (sehr dauerhaft, global und personalisiert). Werte von 3 bis 8 sind sehr optimistisch. Werte über 13 sind sehr pessimistisch. Wir beginnen mit dem Manager Davey Johnson. Er erklärte auf die Frage, warum seine Mannschaft verloren habe: »Wir haben verloren, weil sie [die Gegenspieler] heute abend gut drauf waren« (external – sie; zeitweilig – heute abend; spezifisch – die Gegner von heute abend). (7) Ihr harter erster Linksfelder George Foster sagte: »Ich habe einen Wurf vermasselt. Ich muß einen schlechten Tag gehabt haben.« (7) Rechtsfelder Darryl Strawberry, als er gefragt wurde, warum er einen Flugball verfehlte: »Der Ball hatte gewaltigen Auftrieb. Fast hätte ich ihn mit dem Handschuh erwischt.« (6) Strawberrys Begründung für eine Niederlage der Mets: »Manchmal hat man schlechte Tage.« (8) Der erste Baseman Keith Hernandez begründete, warum die Mets nur zwei Auswärtsspiele gewannen: »Die vielen Auswärtsspiele strapazieren uns allmählich.« (8) Noch einmal Hernandez zu der Frage, warum der Vorsprung der Mets auf ein halbes Spiel geschrumpft sei: »Sie [die Gegner] spielten schlecht und standen nachher trotzdem gut da.« (3) Der Star-Werfer Dwight Gooden erklärte, warum ein Schläger ihm einen Homerun abjagte: »Er hat heute abend gut geschlagen.« (7) Und warum haben die Mets verloren? »Es war halt ein schlechter Tag.« (7) »Ich hatte heute keinen guten Tag.« (8) »Es war zu heiß.« (8) Gooden warf einen Ball schlecht, denn »der Ball muß feucht geworden sein«. (3) Sie haben sicherlich bemerkt, worauf alle diese Aussagen hinauslaufen. Wenn die Mets schlecht abschneiden, dann nur heute, nur bei diesen Gegnern und ohne eigenes Verschulden. Damit sind sie ein Bilderbuchbeispiel für optimistische Erklärungsmuster im Sport. In der gesamten Saison 1985 hatten sie die optimistischsten Erklärungsmuster aller Mannschaften der National League. Ihr Durchschnittswert für negative Ereignisse war 9,39. Das heißt, sie waren so optimistisch, daß sie auch als Versicherungsvertreter erfolgreich gewesen wären.

108

Hören wir nun, was die St. Louis Cardinals zu sagen haben, die Mannschaft, die die Mets mühevoll schlug und anschließend die Entscheidungsspiele gewann. Dann unterlagen sie in einem bewegenden Kampf in den US-Meisterschaftsspielen gegen Kansas City, weil ein Schiedsrichter unfair urteilte. Als Mannschaft hatten sie sogar noch mehr Naturtalente als die Mets. Ihr Manager, Whitey Herzog (derzeit wohl der brillanteste Manager im Baseball), sagte dazu: Die Mannschaft verlor, »weil wir nicht schlagen können. Das muß endlich mal klar gesagt werden« (dauerhaft, global und personalisiert). (20) Herzogs Begründung dafür, daß die Reporter mehr mit Pete Rose (damals Manager der Cincinatti Reds) als mit Herzog sprachen: »Was kann man denn anderes erwarten? Er hat 3800 Hits mehr als ich« (dauerhaft, global und personalisiert). (14) Herzog zu der Frage, warum die Mannschaft das ganze Jahr über bei Spielen nach freien Tagen Probleme hatte: »Das hat mit der inneren Haltung zu tun. Wir waren zu entspannt.« (14) Der Champion im Schlagen, Willie McGee, meinte, daß er nicht genug Male »gestohlen« habe, denn »ich habe nicht die nötige Erfahrung«. (16) Im Jahre 1984 spielte er schlecht, denn »ich war innerlich ausgepowert. Ich konnte keine Kämpfe ausfechten.« (15) Schläger Jack Clark: Er ließ einen Flugball fallen, obwohl es »wirklich ein Ball war, den man kriegen konnte. Ich habe ihn einfach nicht gekriegt.« (12) Der zweite Baseman, Tom Herr: Sein Durchschnitt sank um 21 Punkte, weil »ich große Mühe habe, mich zu konzentrieren«. (17) Wir haben hier das Porträt einer hervorragend trainierten Mannschaft mit pessimistischen Erklärungsmustern. Das meinen die Trainer, wenn sie sagen, ein Sportler habe »nicht die richtige Einstellung«, und vielleicht ist das sogar der einzige Faktor. Statistisch gesehen hatten die Cardinals für negative Ereignisse Erklärungsmuster, deren Werte unter dem Durchschnitt lagen. Mit 11,09 lagen sie bei den zwölf Mannschaften an neunter Stelle. Wenn eine Mannschaft in einer bestimmten Saison trotz pessimistischer Erklärungsmuster sehr gut abschneidet, dann muß sie nach meiner Theorie außerordentlich gut sein, um dieses Handikap auszugleichen. Die Theorie ermöglicht auch die Vorhersage, was in der folgenden Saison zu erwarten sein wird: Von diesen beiden Mannschaften hätten die Mets gute Erfolge erzielen, und die Cardinals hätten im Verhältnis zu 1985 zurückfallen müssen. Und genau das trat auch ein. 1986 waren die Mets eine Wundermannschaft. Sie gewannen ein Spiel nach dem anderen und siegten bei den US-Meisterschaften über die berühmten Boston Red Sox. Ihre Durchschnittswerte beim Schlagen stiegen drastisch an, besonders bei Durchgängen gegen Ende des Spiels. Die Cardinals ließen 1986 stark nach. Sie gewannen nur 49 Prozent ihrer Spiele und fielen immer weiter zurück. Obwohl sie glänzende Leute hatten, erzielten sie beim Schlagen schwache Werte, die unter Druck noch weiter sanken. Wir berechneten die Erklärungsmuster aller zwölf Mannschaften der National League nach Zitaten aus dem Jahre 1985. Optimistische Mannschaften verbesserten das Verhältnis von Sieg und Niederlage gegenüber 1985, pessimistische Mannschaften schnitten schlechter ab. Im allgemeinen bin ich von der Schlüssigkeit meiner eigenen Arbeit erst dann überzeugt, wenn ich eine Untersuchung wiederholt habe. Deshalb wiederholten wir die ganze Untersuchung im folgenden Jahr. Wir wollten herausfinden, ob wir anhand der Erklärungsmuster wieder vorhersagen konnten, wie die Mannschaften der National League 109

abschneiden. Wir werteten alle Zitate von 1986 aus, um die Leistung für 1987 zu prognostizieren. Die Ergebnisse waren im wesentlichen dieselben. Die optimistischen Mannschaften schneiden im folgenden Jahr relativ besser ab, die pessimistischen schlechter. Die optimistischen Mannschaften schlagen auch unter Druck gut, die pessimistischen nicht. Zusammenfassend läßt sich sagen: ¾

Auch bei Mannschaften, nicht nur bei Individuen, lassen sich bedeutsame und meßbare Erklärungsmuster feststellen.

¾

Erklärungsmuster erlauben Prognosen darüber, wie Mannschaften unabhängig davon abschneiden, wie »gut« sie sind.

¾

Erfolg auf dem Sportplatz läßt sich durch das Messen von Optimismus vorhersagen.

¾

Mißerfolg auf dem Sportplatz läßt sich durch das Messen von Pessimismus vorhersagen.

¾

Erklärungsmuster wirken sich auf das Abschneiden der Mannschaften unter Druck aus – also nach einer Niederlage oder bei kritischen Durchgängen gegen Ende des Spiels.

9.3

Die Schwimmer der Universität von Berkeley

In der Presse gab es eine Menge Wirbel um die Chancen des Starschwimmers Matt Biondi aus Berkeley bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul. Er sollte an sieben Wettkämpfen teilnehmen; in der amerikanischen Presse klang es so, als würde er wahrscheinlich sieben Goldmedaillen gewinnen, womit er den einzigartigen Rekord von Mark Spitz bei der Olympiade von 1972 wiederholt hätte. Insider hätten schon sieben Medaillen hintereinander – ganz gleich, ob Gold, Silber oder Bronze – bei solcher Konkurrenz als hervorragende Leistung angesehen. Der erste olympische Wettkampf, an dem Biondi teilnahm, war 200 Meter Freistil. Er wurde nur Dritter. Der zweite Wettkampf, 100 Meter Schmetterlingsstil, gehörte nicht zu seinen Stärken. Biondi ging in Führung und behielt sie über die gesamte Strecke. Aber auf den letzten beiden Metern zog er nicht noch einmal kräftig durch und stieß dann schwungvoll gegen die Zielwand, sondern er schien sich zu entspannen und ließ sich den letzten Meter gleiten. Man konnte das Stöhnen in Seoul hören und sich vorstellen, daß ganz Amerika mitstöhnte, als er um Zentimeter (Millimeter?) von Anthony Nesty aus Surinam geschlagen wurde. Nesty gewann mit einem kräftigen Extrazug die erste Medaille, die Surinam je gewonnen hat. Die Reporter, die Biondi in der »Stunde der Niederlage« interviewten, bombardierten ihn wegen seiner enttäuschenden Leistung – er hatte eine Bronze- und eine Silbermedaille gewonnen – mit Fragen. Würde er sich noch einmal von seinen Mißerfolgen erholen? Konnte Biondi, nach diesem beschämenden Anfang, bei den verbleibenden fünf Wettkämpfen noch Gold nach Hause bringen? Ich war zuversichtlich, daß er es schaffen würde. Dafür hatte ich gute Gründe, denn wir hatten Matt Biondi vier Monate zuvor in Berkeley getestet. Wir hatten seine Fähigkeit erkunden wollen, nach einer Niederlage wieder hochzukommen. Und genau darum ging es jetzt. Zusammen mit seinen Kameraden hatte er den Fragebogen zu den Erklärungsmustern ausgefüllt; sein Ergebnis lag im obersten Viertel einer optimistischen Gruppe. Als nächsten Schritt hatten wir unter kontrollierten Bedingungen einen Mißerfolg beim Schwimmen simuliert. Trainer Nort Thornton ließ Biondi 100 Meter im Schmetterlingsstil schwimmen. Er legte sie in der sehr guten Zeit von 50,2 Sekunden zurück. Aber 110

Thornton sagte ihm, er habe 51,7 Sekunden gebraucht, was für Biondi sehr langsam war. Er sah überrascht und enttäuscht aus. Thornton empfahl ihm, ein paar Minuten auszuruhen und dann noch einmal zu schwimmen, so schnell er könne. Biondi tat das und schwamm sogar in noch kürzerer Zeit – 50,0 Sekunden. Weil seine Erklärungsmuster außerordentlich optimistisch waren und weil er uns gezeigt hatte, daß er nach einem Mißerfolg schneller und nicht langsamer geworden war, war ich überzeugt, daß er doch noch Gold aus Seoul nach Hause bringen würde. Bei den übrigen fünf Wettkämpfen in Seoul gewann Biondi fünf Goldmedaillen. Unsere Untersuchungen über Baseball hatten uns gezeigt, daß Mannschaften gemeinsame Erklärungsmuster haben, die Prognosen der sportlichen Erfolge erlauben. Aber kann man auch anhand der Erklärungsmuster einzelner Sportler deren Abschneiden vorhersagen, besonders unter Druck? Bei der Beantwortung dieser Fragen halfen uns Biondi und seine Kameraden. Ich habe Nort Thornton bislang nicht persönlich kennengelernt, sondern ihn nur im Fernsehen gesehen. Aber er und seine Frau, Karen Moe Thornton, gehören zu meinen besten Mitarbeitern. Die beiden trainieren die Schwimmer der University of California in Berkeley, er die Männer, sie die Frauen. Nort Thornton rief mich erstmals im März 1987 an. »Ich habe etwas über Ihre Untersuchungen von Versicherungsvertretern gelesen«, erklärte er mir, »und habe mir überlegt, ob so etwas nicht auch für Schwimmer nützlich wäre. Ich habe den Eindruck, daß Sie etwas messen – tief verwurzelte positive Überzeugungen. Das ist etwas, das wir Trainer nicht richtig in den Griff bekommen. Wir wissen, daß es wichtig ist, aber die Leute können etwas vortäuschen und dann doch versagen, wenn es darauf ankommt. Wir wissen auch nicht recht, wie wir eine mangelhafte Einstellung ändern können.« Im Oktober 1988 füllten alle 50 männlichen und weiblichen Schwimmer der Universität den Fragebogen zu den Erklärungsmustern aus. Außerdem beurteilten die Thorntons jeden Schwimmer und jede Schwimmerin. Dabei hielten sie auch ihre eigenen Erwartungen in bezug auf das Abschneiden der einzelnen Schwimmer in dieser Saison fest, besonders unter Druck. Damit wollten wir feststellen, ob der ASQ den Thorntons Informationen verschaffen konnte, über die sie noch nicht verfügten, denn als Trainer kannten sie ihre Sportler sehr genau. Ich erkannte sofort, daß ich etwas wußte, was die Trainer nicht wußten. Die Optimismuswerte, die sich aus dem ASQ ergaben, waren völlig unabhängig von der Einschätzung der Trainer, wie die Schwimmer unter Druck abschneiden würden. Aber konnten diese Werte auch tatsächlich Erfolge beim Schwimmen vorhersagen? Die Thorntons hatten die Aufgabe, jeden Wettkampf eines jeden Schwimmers und einer jeden Schwimmerin während der ganzen Saison daraufhin zu beurteilen, ob das Ergebnis »schlechter als erwartet« oder »besser als erwartet« ausfiel. Auch die Schwimmer selbst beurteilten sich nach denselben Kriterien. Es war klar, daß die Sportler und die Trainer auf derselben Wellenlänge lagen, denn ihre Beurteilungen stimmten völlig überein. Diejenigen, die nach dem ASQ Pessimisten waren, schnitten doppelt so häufig unerwartet schlecht ab wie die Optimisten. Die Optimisten schöpften ihr Potential ganz aus, während die Pessimisten hinter ihrem Potential zurückblieben. Würden sich auch hier wieder die individuellen Erklärungsmuster der Schwimmer für einen Mißerfolg auswirken, wie sie sich beim Baseball und bei den Versicherungsvertretern ausgewirkt hatten? Wir simulierten Mißerfolge unter kontrollierten Bedingungen. Am Ende der Saison ließen wir alle Schwimmer den Stil, den sie am besten beherrschten, mit voller Kraft 111

schwimmen. Die Thorntons sagten jedem von ihnen eine Zeit, die zwischen 1,5 und 5 Sekunden (je nach Streckenlänge) schlechter war als die tatsächlich erreichte Zeit. So erklärte man Biondi, er habe 51,7 Sekunden gebraucht, während er in Wirklichkeit 50,2 Sekunden gebraucht hatte. Wir wählten Ergebnisse, die große Enttäuschung auslösen würden (ein Schwimmer saß anschließend 20 Minuten lang völlig verzweifelt in einer Ecke), die sich aber nicht als falsch nachweisen ließen. Dann ruhten sich alle Schwimmer aus und schwammen die Strecke anschließend noch einmal, so schnell sie konnten. Wie erwartet, wurden die Pessimisten schlechter. Zwei der Stars, die Pessimisten waren, fielen auf einer Strecke von 100 Metern volle zwei Sekunden zurück. Diese Zeitdifferenz entspricht dem Unterschied zwischen einem Sieg und einer schmählichen Niederlage. Die Optimisten blieben entweder gleich oder wurden, wie Biondi, sogar noch schneller. Mehrere Optimisten wurden zwischen zwei und fünf Sekunden schneller, was wiederum die Differenz zwischen einem verlorenen Wettkampf und dem Sieg ausmacht.48 An dem Beispiel der Schwimmer und Schwimmerinnen der Universität Berkeley läßt sich zeigen, daß Erklärungsmuster auch auf der individuellen Ebene Erfolg oder Mißerfolg bewirken können, wie auch die Untersuchung der Statistiken für Mannschaftssport ergeben hatte. Die Erklärungsmuster arbeiten bei Individuen und bei Mannschaften nach demselben Prinzip. Sie bewirken, daß Sportler unter Druck besser abschneiden. Wenn sie Optimisten sind, strengen sie sich noch mehr an und machen Niederlagen wieder wett.

9.4 Was jeder Trainer wissen sollte Wenn Sie Trainer oder ein ernsthafter Sportler sind, sollten Sie diese Ergebnisse unbedingt ernst nehmen. Sie enthalten mehrere unmittelbare, praktische Konsequenzen. ¾

Optimismus ist kein Faktor, über den Sie intuitiv Bescheid wissen. Der ASQ mißt etwas, das Sie selbst nicht messen können. Er erlaubt Erfolgsprognosen, die zuverlässiger sind, als selbst erfahrene Trainer schätzen.

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Anhand des Optimismus können Sie entscheiden, wann sie welche Spieler einsetzen sollten. Beispiel: ein entscheidender Staffelwettbewerb. Sie haben einen schnellen Schwimmer, aber er ist ein Pessimist und hat seinen letzten Einzelwettkampf verloren. Ersetzen Sie ihn durch einen anderen. Setzen Sie Pessimisten erst wieder ein, wenn sie gut abgeschnitten haben.

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Anhand des Optimismus können Sie entscheiden, wen Sie für eine Mannschaft aussuchen. Wenn zwei Leute etwa die gleiche Begabung mitbringen, nehmen Sie den Optimisten. Er wird auf lange Sicht besser abschneiden.

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Sie können Ihren Pessimisten beibringen, Optimisten zu werden.

Die Thorntons äußerten noch einen weiteren Wunsch. Sie fragten mich, ob ich ihre pessimistischen Schwimmer in optimistische verwandeln könne. Ich erklärte ihnen, das wisse ich noch nicht genau, aber wir wären gerade dabei, Programme zur Veränderung zu entwickeln, und die Arbeit verlaufe vielversprechend. Ich sagte ihnen zu, daß sie als Dank für ihre Mithilfe als erste Sportler unser Trainingsprogramm erhalten sollten. Während ich dieses Kapitel schreibe, reisen unsere Trainer gerade nach Berkeley, um der ganzen Universitätsmannschaft Optimismus beizubringen. Die Techniken, die dazu nötig sind, finden Sie im letzten Teil dieses Buches.

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10 Gesundheit Daniel war erst neun Jahre alt, als man feststellte, daß er einen Burkitt-Tumor hatte, eine ungewöhnliche Form von Leberkrebs. Mit zehn Jahren hatte er schon ein Jahr qualvoller Bestrahlungen und Chemotherapie hinter sich, aber der Krebs breitete sich weiter aus. Seine Ärzte und fast alle Menschen um ihn herum hatten die Hoffnung aufgegeben. Aber Daniel nicht. Daniel hatte große Pläne. Er erzählte überall, wenn er groß sei, wolle er Wissenschaftler werden und herausbekommen, wie man solche Krankheiten heilen kann, damit andere Kinder es besser hätten als er. Sein Optimismus war ungebrochen. Daniel wohnte in Salt Lake City. Er setzte große Hoffnungen auf einen Arzt, den er »den berühmten Spezialisten von der Ostküste« nannte. Dieser Arzt war eine Autorität auf dem Gebiet der Burkitt-Tumoren. Er hatte von Daniels Krankheit erfahren, Interesse an diesem Fall gewonnen und mit Daniels Ärzten korrespondiert. Nun plante er, auf dem Weg zu einem Kongreß von Kinderärzten im Westen in Salt Lake City Zwischenstation zu machen, um Daniel kennenzulernen und mit seinen Ärzten zu sprechen. Daniel war schon wochenlang vorher ganz aufgeregt. Es gab tausend Dinge, die er dem Spezialisten sagen wollte. Er führte ein Tagebuch und hoffte, daß es dem Arzt Hinweise dafür geben könnte, wie sein Heilplan aussehen sollte. Er beteiligte sich jetzt selbst an seiner Behandlung. An dem Tag, an dem der Spezialist kommen sollte, lag dichter Nebel über Salt Lake City, und der Flughafen wurde geschlossen. Die Fluglotsen leiteten die Maschine des Spezialisten nach Denver um; daraufhin beschloß der Arzt, direkt nach San Francisco weiterzufliegen. Als Daniel das erfuhr, weinte er still vor sich hin. Seine Eltern und Pflegerinnen versuchten ihn zu trösten und versprachen, den Arzt in San Francisco anzurufen, damit Daniel mit ihm reden könne. Aber am nächsten Morgen war Daniel zum ersten Mal völlig teilnahmslos. Er hatte hohes Fieber und bekam eine Lungenentzündung. Am Abend lag er im Koma. Am folgenden Nachmittag starb er.49

 Wie wirkt eine solche Geschichte auf Sie? Sicherlich hören Sie nicht zum ersten Mal eine solche erschütternde Erzählung über eine enttäuschte Hoffnung, die zum Tod führte. Ebenso kann neu gewonnene Hoffnung eine Krankheit aufhalten. Erzählungen dieser Art gibt es auf der ganzen Welt so viele, daß man vermuten könnte, schon bloße Hoffnung sei lebenserhaltend und Hoffnungslosigkeit lebenszerstörend. Aber es gibt noch andere plausible Interpretationen. Vielleicht sind Sie überzeugt, daß irgendein dritter Faktor sowohl Leben rettet als auch Hoffnung erzeugt – zum Beispiel ein gut arbeitendes Immunsystem. Vielleicht glauben Sie auch, daß intensives Hoffen Wunder wirken könne und daß die wenigen Fälle, die das zu beweisen scheinen – die in Wirklichkeit aber nur Zufälle sind –, nur immer wieder neue Versionen desselben Ereignisses sind. Die viel häufigeren Fälle, in denen es andersherum ist, in denen also auf Hoffnung Krankheit folgt oder in denen nach der Verzweiflung eine Besserung eintritt, werden hingegen verschwiegen.

 Im Frühjahr 1976 kam eine höchst ungewöhnliche Bewerbung für das Graduiertenstudium auf meinen Schreibtisch. Sie stammte von einer Frau namens Madelon Visintainer, einer Krankenschwester in Salt Lake City. In ihrer Bewerbung erzählte sie Daniels Geschichte. Sie schrieb, sie habe mehrere solche Fälle betreut, sowohl krebskranke Kinder als auch »während ihrer Zeit in Vietnam«. Auf das Thema Vietnam ging sie nicht weiter ein. Sie erklärte, solche Geschichten stellten keine Beweise dar. Sie wolle her113

ausfinden, ob es wirklich wahr sei, daß Hilflosigkeit zum Tod führen könne. Sie wolle wissen, wie so etwas möglich sei. Deshalb bewerbe sie sich, um mit mir zusammenzuarbeiten und diesen Fragen zuerst mit Tierversuchen nachgehen zu können. Später dann könnten die Früchte dieser Arbeit auch den Menschen zugute kommen. Nach einiger Überlegung ließen wir sie zu, obwohl ihr Lebenslauf einige Lücken aufwies. Aus persönlichen Gründen kam sie erst ein Jahr später, im September 1977. Sie war ebenso einfach und geradlinig, wie sie ihre Bewerbung formuliert hatte – und recht geheimnisvoll. Gesprächen über ihre Vergangenheit ging sie aus dem Weg und sprach auch nicht über ihre Zukunftsplanung. Aber sie leistete hervorragende Arbeit. Sie war ein wissenschaftliches As. Für ihr erstes Jahr stellte sie sich die gewaltige Aufgabe zu beweisen, daß Hilflosigkeit wirklich zum Tod führen kann. Madelon war fasziniert von den neuen Ergebnissen, die Ellen Langer und Judy Rodin erzielt hatten. Diese beiden jungen Wissenschaftlerinnen in Yale hatten mit den Bewohnern eines Altersheims gearbeitet und dabei das Maß an Kontrolle variiert, das die alten Leute über Alltagsereignisse hatten. Zu diesem Zweck hatten sie das Heim nach Stockwerken unterteilt. Die Bewohner des ersten Stockwerks bekamen zusätzliche Kontroll- und Wahlmöglichkeiten. Eines Tages hielt der Heimleiter vor den Insassen eine Ansprache: Ich möchte Ihnen sagen, welche Dinge Sie hier in Shady Grove selbst erledigen können. Zum Frühstück gibt es Omelett oder Rührei, aber Sie müssen am Abend vorher sagen, was Sie haben möchten. Am Mittwoch- und Donnerstagabend werden Filme gezeigt, Sie müssen aber vorher eintragen, wann Sie hingehen wollen. Ich habe Ihnen ein paar Topfpflanzen mitgebracht – Sie dürfen sich eine aussuchen und auf Ihr Zimmer mitnehmen, Sie müssen sie aber selbst gießen.

Im zweiten Stock sagte der Heimleiter: Ich möchte Ihnen sagen, was wir hier in Shady Grove für Sie tun. Zum Frühstück gibt es Omelett oder Rührei. Montags, mittwochs und freitags gibt es Omelett, an den übrigen Tagen Rührei. Am Mittwoch- und Donnerstagabend werden Filme gezeigt – für die Bewohner des linken Flügels mittwochs, für die des rechten Flügels donnerstags. Ich habe Ihnen ein paar Topfpflanzen mitgebracht. Ihre Pflegerin wird eine für Sie aussuchen und wird sie auch gießen.

Die Bewohner des ersten Stockwerks erhielten also zusätzliche Annehmlichkeiten, die sie selbst kontrollieren konnten. Die Bewohner des zweiten Stockwerks erhielten dieselben Annehmlichkeiten, konnten sie aber nicht beeinflussen. Sie waren hilflos, und nichts, was sie taten, bewirkte etwas. Achtzehn Monate später kehrten Langer und Rodin in das Altersheim zurück. Sie stellten fest, daß die Gruppe, die Wahlmöglichkeiten und Kontrolle hatte, aktiver und glücklicher war. Dieses Ergebnis wurde mit verschiedenartigen Methoden überprüft und bestätigt. Außerdem waren in dieser Gruppe weniger Leute verstorben. Dieses erstaunliche Ergebnis deutete darauf hin, daß Wahlmöglichkeiten und Kontrolle Leben retten können und daß Hilflosigkeit möglicherweise töten kann.50 Madelon Visintainer wollte dieses Phänomen im Labor untersuchen, wo die Bedingungen genau reguliert werden können. Außerdem wollte sie untersuchen, wie Kontrolle und Hilflosigkeit die Gesundheit beeinflussen können. Sie nahm drei Gruppen von Ratten und gab der ersten Gruppe leichte Schocks, denen die Tiere ausweichen konnten, der zweiten Gruppe leichte Schocks, denen sie nicht ausweichen konnten; die dritte Gruppe erhielt keine Schocks. Am Tag vorher pflanzte sie jeder Ratte ein paar Sarkomzellen in die Flanke ein. Diese Krebsart ist absolut tödlich, wenn die Zellen sich ausbreiten und nicht vom Immunsystem des Tieres abgestoßen werden. Visintainer hatte

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den Ratten genau so viele Zellen eingepflanzt, daß unter normalen Bedingungen 50 Prozent der Tiere die Infusion der Krebszellen überleben würden. Der Versuch war hervorragend angelegt. Alle körperlichen Faktoren wurden genau kontrolliert: die Stärke und die Dauer der Schocks, das Futter, die Unterbringung, die Anzahl der Krebszellen. Der einzige Unterschied zwischen diesen drei Gruppen war die psychische Verfassung. Die eine Gruppe litt an erlernter Hilflosigkeit, die zweite hatte Kontrolle gelernt, und die dritte war psychisch nicht beeinflußt worden. Wenn diese drei Gruppen Unterschiede in der Abwehr des Tumors aufwiesen, dann konnte nur der psychische Zustand die Unterschiede verursacht haben. Innerhalb eines Monats starben 50 Prozent der Ratten, die keine Schocks erhalten hatten, die anderen 50 Prozent stießen den Tumor ab, was der normalen Rate entsprach. Von den Ratten, die den Schock dadurch abstellen konnten, daß sie auf einen Hebel drückten, stießen 70 Prozent die Krebszellen ab. Aber nur 27 Prozent der hilflosen Ratten, die unkontrollierbare Schocks erhalten hatten, stießen die Krebszellen ab. Madelon Visintainer hatte damit bewiesen, daß ein psychischer Zustand – erlernte Hilflosigkeit – Krebs verursachen kann.51 Leider war sie nicht die erste, der dieser Nachweis gelang. Denn während sie ihre Ergebnisse zu einem Artikel für Science zusammenfaßte, also für die bedeutendste Zeitschrift für wichtige wissenschaftliche Entdeckungen, blätterte ich die zuletzt erschienene Nummer von Science durch. Zwei kanadische Wissenschaftler, Larry Sklar und Hymie Anisman aus Ottawa, berichteten darin von einem ähnlichen Experiment – sie arbeiteten mit Mäusen und Ratten und beobachteten das Wachstum von Tumoren, nicht deren Abwehr – mit ähnlichen Ergebnissen: Hilflosigkeit führte zu einem beschleunigten Wachstum von Tumoren.52 Ich weiß nicht, ob Madelon enttäuscht war, weil andere ihr zuvorgekommen waren, oder erfreut, weil andere ihre Ergebnisse bestätigten – jedenfalls verschwand sie. Während ihres dreijährigen Doktorandenkurses an der Penn wurde das ihr Standardverhalten. Sie pflegte mir die Daten einer wichtigen Entdeckung auf den Schreibtisch zu legen und dann für ein paar Wochen zu verschwinden. Eine ihrer Entdeckungen betraf die Kindheit. Madelon hatte festgestellt, daß Ratten, die als Jungtiere erlebt hatten, daß sie negative Ereignisse kontrollieren konnten, als ausgewachsene Tiere gegen Tumoren immun waren. Sie hatte jungen Ratten Schocks gegeben, denen einige ausweichen konnten, während einige andere den Schocks nicht ausweichen konnten. Eine dritte Gruppe hatte keine Schocks bekommen. Dann hatte sie gewartet, bis die Tiere erwachsen waren. Sie hatte ihnen Sarkomzellen eingepflanzt und die Tiere wieder in drei Gruppen geteilt. Eine Gruppe erhielt vermeidbare Schocks, eine zweite Gruppe erhielt unvermeidbare Schocks und eine dritte gar keine Schocks. Die meisten der Ratten, die als Jungtiere hilflos gewesen waren, stießen als ausgewachsene Tiere den Tumor nicht ab, während die meisten Ratten, die als Jungtiere Kontrolle gelernt hatten, als ausgewachsene Tiere den Tumor abstießen. Die frühen Erfahrungen erwiesen sich als entscheidend dafür, ob die ausgewachsenen Tiere Tumoren abstoßen konnten. Die Erfahrung der Kontrolle in der ersten Lebenszeit immunisierte, während früh erlebte Hilflosigkeit das Krebsrisiko bei ausgewachsenen Ratten erhöhte.53 Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, wohin Madelon immer wieder verschwand, aber ein Teil des Rätsels löste sich, als sie 1982 ihr Doktorexamen abgelegt hatte. Sie bewarb sich bei verschiedenen Universitäten um eine Assistenzprofessur. Einige Universitäten bestanden auf einem vollständigen Lebenslauf. Ich bekam einen solchen Lebenslauf zu Gesicht und erfuhr zu meinem Erstaunen, daß sie bereits Assistenzprofessorin für Krankenpflege in Yale gewesen war, ehe sie ihren Doktorandenkurs in Psychologie besuchte. Ich erfuhr weiterhin, daß sie den Silver Star und noch eine Reihe anderer Auszeich-

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nungen für Tapferkeit während der Kampfeinsätze in Vietnam erhalten hatte. 1970 hatte sie in Parrot’s Beak in Kambodscha ein Krankenhaus geleitet. Mehr erfuhr ich nicht. Aber ich verstand jetzt besser, aus welchen Quellen sie den Mut und die Charakterstärke schöpfte, die sie 1976 gebraucht hatte, um sich auf das von ihr gewählte intellektuelle Schlachtfeld zu begeben. Denn das Spezialgebiet, das sie sich aussuchte – psychische Einflüsse auf die körperliche Gesundheit –, galt als Territorium von Quacksalbern und Geistheilern. Sie wollte wissenschaftlich beweisen, daß die Psyche Krankheit beeinflussen kann. Während ihrer Laufbahn als Krankenschwester hatten die meisten Ärzte, mit denen sie arbeitete, auf ihre Pläne mit Hohngelächter und Ungläubigkeit reagiert. Es galt das Dogma, daß nur körperliche, nicht seelische Prozesse Krankheit beeinflussen können. Mit ihrer bahnbrechenden Dissertation trug Madelon zu dem Nachweis bei, daß Seele und Geist Krankheit kontrollieren können. Selbst die Schulmedizin akzeptiert allmählich dieses Ergebnis. Heute ist Madelon Visintainer Associate Professor und Vorsitzende der Abteilung für Kinderkrankenpflege an der medizinischen Fakultät in Yale.

10.1 Das Problem von Geist und Körper Warum stößt der Gedanke auf so großen Widerstand, daß das geistig-seelische Leben körperliche Krankheit beeinflussen könnte? Die Antwort berührt das heikelste philosophische Problem, das ich kenne. René Descartes, der große französische Philosoph des 17. Jahrhunderts, behauptete, es gebe im Universum nur zwei Arten von Substanz: körperliche und geistige. Wie wirken diese beiden aufeinander ein? Man kann beobachten, daß ein Billardball, der gegen einen anderen stößt, diesen in Bewegung setzt. Aber wie kann der geistige Willensakt, die Hand zu bewegen, die körperliche Bewegung der Hand auslösen? Descartes fand darauf eine ausgefallene Antwort. Er sagte, der Geist regiere den Körper über die Zirbeldrüse, ein Organ des Gehirns, dessen Funktion man noch nicht recht verstehe. Diese Antwort Descartes’ war falsch, und Wissenschaftler und Philosophen haben seither unablässig darüber gerätselt, auf welchem Weg geistige Substanz körperliche Substanz beeinflussen könne. Descartes war Dualist. Er glaubte, daß das Geistige auf das Körperliche einwirken könne. Bald entwickelte sich eine Denkrichtung, deren Anhänger anderer Meinung waren. Diese Richtung setzte sich durch; sie wird Materialismus genannt. Die Materialisten glaubten, daß es nur eine Art von Substanz gebe – die materielle –, oder daß es auch geistige Substanz gebe, daß sie aber keine eigene Wirkung habe. Beinahe alle modernen Wissenschaftler und Ärzte sind Materialisten. Sie lehnen den Gedanken strikt ab, daß Denken und Gefühle den Körper beeinflussen können. Das wäre nach ihrem Verständnis Spiritualismus. Alle Behauptungen, daß emotionale und kognitive Zustände Krankheit beeinflussen, widersprechen den Überzeugungen der Materialisten. Es gibt drei Fragen zum Thema Gesundheit und Hoffnung, die mich seit mindestens 20 Jahren intensiv beschäftigen. Alle drei Fragen liegen im Bereich des Versuches, körperliche Krankheit zu verstehen, und dieser Versuch ist die moderne Version des Problems von Körper und Geist. Ursache: Kann Hoffnung tatsächlich lebenserhaltend wirken? Können Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit tatsächlich töten? Mechanismus: Wie könnte das in dieser materiellen Welt funktionieren? Durch welchen Mechanismus können so eminent spirituelle Dinge materielle Dinge beeinflussen? Therapie: Kann eine Veränderung der Denkweise, eine Veränderung der Erklärungsmuster die Gesundheit fördern und das Leben verlängern?

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10.2 Optimismus und gute Gesundheit In den letzten fünf Jahren haben Labors in der ganzen Welt einen steten Fluß von wissenschaftlichen Erkenntnissen hervorgebracht. Diese Erkenntnisse belegen, daß psychische Eigenschaften, vor allem Optimismus, zu guter Gesundheit führen können. Die Erkenntnisse geben den zahlreichen persönlichen Erzählungen recht – und übertreffen sie sogar noch –, nach denen alle möglichen Dinge, vom Lachen bis zum Lebenswillen, die Gesundheit zu fördern scheinen. Nach der Theorie der erlernten Hilflosigkeit könnte Optimismus die Gesundheit in vierfacher Weise fördern: Erstens kann aus Madelon Visintainers Versuchen gefolgert werden, daß bei Ratten mit erlernter Hilflosigkeit Tumore besser wachsen können. Diese Ergebnisse wurden inzwischen durch noch detailliertere Arbeiten über das Immunsystem von Ratten bestätigt. Das Immunsystem, also das zelluläre Abwehrsystem des Körpers gegen Krankheit, enthält unterschiedliche Zellen, deren Aufgabe es ist, Eindringlinge zu identifizieren und zu töten, wie etwa Viren, Bakterien und Krebszellen. So erkennen beispielsweise die TLymphozyten spezifische Eindringlinge wie Masern, vermehren sich dann stark und töten die Eindringlinge. Die natürlichen Killerzellen töten alles Fremde, auf das sie stoßen. Wissenschaftler haben das Immunsystem von hilflosen Ratten untersucht. Sie stellten fest, daß die Erfahrung von unvermeidlichem Schock das Immunsystem schwächt. Die T-Lymphozyten im Blut hilfloser Ratten vermehren sich dann nicht mehr so schnell, wenn sie auf die spezifischen Eindringlinge stoßen, die sie zerstören sollen. Natürliche Killerzellen aus der Milz hilfloser Ratten verlieren sogar ihre Fähigkeit, fremde Eindringlinge zu töten.54 Diese Feststellungen sind sehr bedeutsam: Sie zeigen, daß erlernte Hilflosigkeit nicht nur auf der Verhaltensebene schwächt, sondern bis zur Ebene der Zellen reicht und das Immunsystem passiver werden läßt. Einer der Gründe dafür, daß Visintainers Ratten die Tumore nicht abstießen, könnte also sein, daß das Immunsystem der Tiere durch die Erfahrung der Hilflosigkeit geschwächt wurde. Was bedeutet das im Hinblick auf die Erklärungsmuster? Die Erklärungsmuster sind die Verstärker der erlernten Hilflosigkeit. Wie wir bereits gesehen haben, widerstehen optimistische Menschen der Hilflosigkeit. Sie werden bei einem Mißerfolg nicht depressiv. Sie geben nicht leicht auf. Ein optimistischer Mensch macht im Laufe seines Lebens weniger Erfahrungen, die ihn hilflos werden lassen, als ein pessimistischer Mensch. Je seltener erlernte Hilflosigkeit erlebt wird, desto besser müßte auch das Immunsystem funktionieren. Fassen wir also unser erstes Argument in einem Satz zusammen: Optimismus kann Ihre Gesundheit im Laufe Ihres Lebens beeinflussen, indem er die Entstehung von Hilflosigkeit verhindert und dadurch das Immunsystem gut in Form hält. Zweitens fördert Optimismus möglicherweise auch dadurch die Gesundheit, daß er zu einer gesunden Lebensweise motiviert und dazu beiträgt, bei Problemen ärztliche Hilfe zu suchen. Ein pessimistischer Mensch wird eher glauben, daß eine Krankheit dauerhaft ist, alles zerstört und persönlich verschuldet ist. Er ist überzeugt, daß er nichts gegen seine Krankheit unternehmen kann. Wozu also soll er überhaupt etwas unternehmen? Ein solcher Mensch wird nicht so leicht das Rauchen aufgeben, eine Grippeimpfung vornehmen lassen, Diät halten, für Bewegung sorgen, bei Krankheit einen Arzt aufsuchen und sich an ärztliche Ratschläge halten. In einer Untersuchung an 100 HarvardAbsolventen, die sich über 35 Jahre erstreckte, zeigte sich, daß Pessimisten tatsächlich seltener das Rauchen aufgeben und anfälliger für Krankheiten sind. Optimisten hinge-

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gen wollen ihr Leben selbst in die Hand nehmen und sind eher bereit, einer Krankheit aktiv vorzubeugen oder sich rechtzeitig behandeln zu lassen. Drittens beeinflußt Optimismus die Gesundheit, indem er sich auf die Anzahl der negativen Ereignisse im Leben auswirkt. Es ist statistisch erwiesen, daß ein Mensch um so häufiger erkrankt, je mehr negative Ereignisse er in einem bestimmten Zeitraum erlebt. Menschen, die innerhalb von sechs Monaten ihre Stelle verlieren, umziehen und sich scheiden lassen, sind anfälliger für Infektionskrankheiten – und sogar für Herzattacken und Krebs – als Menschen, die ein geregeltes Leben führen. Aus diesem Grunde ist es wichtig, sich bei größeren Veränderungen im Leben häufiger als gewöhnlich ärztlich untersuchen zu lassen. Selbst wenn Sie sich wohl fühlen, sollten Sie sorgfältig auf Ihre Gesundheit achten, wenn Sie die Stelle wechseln, eine Beziehung beenden, sich zur Ruhe setzen oder wenn ein geliebter Mensch stirbt. Das Risiko zu sterben ist bei Witwern in den ersten sechs Monaten nach dem Tod ihrer Frau sehr viel größer als zu jeder anderen Lebenszeit. Wenn Ihre Mutter kürzlich gestorben ist, sollten Sie dafür sorgen, daß sich Ihr Vater in den ersten sechs Monaten danach wenigstens einmal gründlich untersuchen läßt – es könnte sein Leben verlängern. Wer erlebt Ihrer Einschätzung nach mehr negative Ereignisse im Leben? Die Pessimisten, denn sie sind passiver, sie unternehmen weniger, um das Eintreten negativer Ereignisse zu verhindern oder ihnen entgegenzuwirken, wenn sie eingetreten sind. Es liegt also auf der Hand, daß Pessimisten mehr Negatives erleben und daß mehr Negatives zu mehr Krankheit führt; demzufolge müßten Pessimisten häufiger krank sein. Viertens sind Optimisten wahrscheinlich auch deshalb gesünder, weil sie mehr »soziale Unterstützung« erhalten. Für die körperliche Gesundheit scheint die Fähigkeit sehr wichtig zu sein, tiefe Freundschaften und Liebesbeziehungen zu pflegen. Menschen in mittleren Lebensjahren müssen jemanden haben, den sie mitten in der Nacht anrufen können, um ihm ihre Sorgen zu erzählen; sie bleiben dann gesünder als Menschen ohne Freunde. Unverheiratete sind stärker depressionsgefährdet als Paare. Sogar oberflächliche soziale Kontakte sind ein Schutz gegen Krankheit. Menschen, die sich bei Krankheit isolieren, werden häufig noch anfälliger für Krankheiten. Pessimisten haben dasselbe Problem. Sie werden leichter passiv, wenn ein Unglück über sie hereinbricht. Sie unternehmen auch weniger, um soziale Unterstützung zu bekommen und Kontakte aufrechtzuerhalten. Es scheint also einen Zusammenhang zwischen dem Mangel an sozialer Unterstützung und Krankheit zu geben – ein weiteres Argument dafür, daß optimistische Erklärungsmuster zu guter Gesundheit beitragen können.

10.3

Pessimismus, labile Gesundheit und Krebs

Die erste systematische Untersuchung zu der Frage, ob dem Pessimismus bei Krankheiten eine ursächliche Bedeutung zukommt, wurde von Chris Peterson durchgeführt.55 Mitte der achtziger Jahre lehrte Peterson an der Virginia Tech Psychopathologie. Er ließ die 150 Studenten seines Kurses den ASQ ausfüllen. Außerdem gaben sie über ihren Gesundheitszustand Auskunft sowie darüber, wie oft sie in letzter Zeit einen Arzt aufgesucht hatten. Dann beobachtete Peterson ein Jahr lang den Gesundheitszustand der Studenten. Er stellte fest, daß die Pessimisten doppelt so häufig Infektionskrankheiten bekamen und doppelt so häufig zum Arzt gingen wie die Optimisten. Lag der Grund hierfür vielleicht darin, daß Pessimisten insgesamt häufiger klagen, sowohl auf dem Fragebogen als auch über ihre Schmerzen und Nöte, aber nicht wirklich öfters körperlich erkranken? Nein. Peterson beschaffte sich auch Daten zur Anzahl der Erkrankungen und der Arztbesuche vor dem Ausfüllen des Fragebogens. Sie zeigten im Vergleich zu den Ergebnissen der Befragungsaktion kein anderes Bild. 118

Andere Untersuchungen galten dem Brustkrebs.56 In einer bahnbrechenden britischen Untersuchung beobachtete man 69 Frauen mit Brustkrebs fünf Jahre lang. Die Frauen, bei denen der Krebs nicht wiederkam, waren überwiegend solche, die den Krebs mit Entschlossenheit bekämpften. Diejenigen, die starben oder bei denen der Krebs erneut auftrat, waren hingegen eher Frauen, die mit Hilflosigkeit und stoischer Gelassenheit reagierten. Eine spätere Untersuchung erfaßte 34 Frauen, die zum zweiten Mal Brustkrebs bekommen hatten. Alle wurden ausführlich über ihr Leben befragt: Ehe, Kinder, Arbeit und ihre Krankheit. Dann begann die Therapie: Operationen, Bestrahlung und Chemotherapie. Wir erhielten Zugang zu diesen Interviews und werteten sie mit der CAVE-Methode aus (Inhaltsanalyse verbaler Erklärungen), die wir schon früher benutzt hatten. Nach dem zweiten Auftreten von Brustkrebs sind die Überlebenschancen gering. Etwa ein Jahr später starben die ersten der untersuchten Frauen. Mehrere von ihnen starben im Laufe einiger Monate, einige wenige sind heute noch am Leben. Wer hat am längsten weitergelebt? Diejenigen, die große Freude am Leben und sehr optimistische Erklärungsmuster hatten. Waren die optimistischen Frauen von Anfang an weniger schwer krank? Lebten sie länger, weil ihr Krebs nicht so schlimm war? Spielte dabei ihre Lebensfreude und ihr Optimismus gar keine Rolle? Nein. Das National Cancer Institute verfügt über wertvolle, detaillierte Aufzeichnungen über die Schwere der Krankheit – Aktivität der natürlichen Killerzellen, Anzahl der Krebsknoten, Ausdehnung der Krankheit im Körper. Die lebensverlängernde Wirkung von Freude und optimistischen Erklärungsmustern zeigte sich unabhängig von der Schwere der Krankheit. Diese Resultate blieben nicht unangefochten.57 Barrie Cassileth stellte 1985 in einer Untersuchung von Patienten mit Krebs im Endstadium fest, daß keine psychische Variable einen Einfluß auf die Länge der verbleibenden Lebenszeit hatte. Diese Untersuchung wurde sehr bekannt. In einer Sondernummer der Zeitschrift New England Journal of Medicine bezeichnete die Mitherausgeberin Marcia Angell die Untersuchung als Beweis, daß unsere »Überzeugung, Krankheiten seien eine direkte Widerspiegelung eines geistig-seelischen Zustandes, weitgehend Legende ist«. Angell ignorierte sämtliche sorgfältig durchdachten Untersuchungen und zitierte nur die schlechtesten, die sie auftreiben konnte. Sie verurteilte das ganze Gebiet der medizinischen Psychologie, denn ihrer Meinung nach hält diese Forschung nur den »Mythos« am Leben, daß der Geist Einfluß auf Krankheiten haben kann. Denn die Materialisten greifen nach jedem Strohhalm, der ihr Dogma festigt – daß nämlich psychische Zustände niemals die körperliche Gesundheit beeinflussen könnten. Wie verhalten sich Cassileths Ergebnisse zu den vielen Untersuchungen, die Belege für die Auswirkungen psychischer Zustände auf Krankheiten erbrachten? Erstens waren Cassileths psychologische Tests unzureichend. Sie benützte Fragmente gut eingeführter Tests anstelle der ganzen Tests. Faktoren, deren Messung normalerweise Dutzende von Fragen erfordern, wurden lediglich mit ein oder zwei kurzen Fragen abgetan. Zweitens waren alle Patienten Cassileths schon im Endstadium. Wenn Sie unter eine Dampfwalze geraten, spielt das Ausmaß Ihres Optimismus keine große Rolle mehr. Wenn Sie dagegen von einem Fahrrad angefahren werden, kann Ihr Optimismus ausschlaggebend für die Folgen sein. Ich glaube nicht, daß psychische Prozesse noch sehr viel helfen, wenn Patienten so schwer krebskrank sind, daß man ihren Zustand als Endstadium bezeichnet. Aber am Anfang, wenn die Belastung mit Krebszellen noch gering ist und die Krankheit noch langsam voranschreitet, kann Optimismus sehr wohl über Leben und Tod entscheiden. Das haben wir bei Untersuchungen über die Wirkung von Trauerfällen und Optimismus auf das Immunsystem festgestellt.

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10.3.1 Das Immunsystem Materialisten betrachten das Immunsystem als unabhängig von der Psyche der Person, zu der es gehört. Sie meinen, psychische Variablen wie Optimismus seien so flüchtig wie der Geist. Deshalb wollen sie nicht akzeptieren, daß Optimismus, Depression und Trauerfälle das Immunsystem beeinflussen können. Sie vergessen, daß das Immunsystem mit dem Gehirn verbunden ist, und daß mit Zuständen wie Hoffnung entsprechende Zustände im Gehirn einhergehen, die das psychische Befinden einer Person reflektieren. Diese Zustände des Gehirns beeinflussen den übrigen Körper. Daher kann der Prozeß, durch den Emotion und Gedanken eine Krankheit beeinflussen, weder als Rätsel noch als Spiritualismus bezeichnet werden. Die Verbindung zwischen Gehirn und Immunsystem läuft nicht über Nerven, sondern über Hormone – die chemischen Boten, die im Blutstrom mitfließen und emotionale Zustände von einem Körperteil zum anderen weiterleiten können. Durch entsprechende Forschungen ist gut belegt, daß sich die Gehirnfunktion eines Menschen bei Depression verändert. Neurotransmitter – Hormone, die Impulse von einem Nerv zum anderen weiterleiten – können sich verbrauchen. Bestimmte Neurotransmitter, nämlich die Katecholamine, verbrauchen sich bei Depression. Woher weiß das Immunsystem, daß sein Besitzer depressiv oder traurig ist? Wenn die Katecholamine sich verbrauchen, erhöhen andere chemische Stoffe, die Endorphine – eine Art körpereigenes Morphin –, ihre Aktivitäten. Im Immunsystem gibt es Zellrezeptoren, die dann reagieren, wenn sich die Menge der Endorphine verändert. Wenn sich, wie bei einer Depression, die Katecholamine verbrauchen, nehmen die Endorphine zu. Das merkt das Immunsystem und verringert seine Aktivität. Ist das nur biologische Phantasterei oder schwächen Depression, Verluste durch Todesfälle und Pessimismus tatsächlich das Immunsystem? Vor ungefähr zehn Jahren gelang es einer Gruppe von australischen Wissenschaftlern, 26 Männer für eine Untersuchung zu gewinnen, deren Frauen gerade an tödlichen Verletzungen oder Krankheiten gestorben waren. Die Forscher nahmen den Männern eine Woche nach dem Tod ihrer Frauen Blut ab und dann wieder sechs Wochen danach. So konnten die Wissenschaftler das Immunsystem in der Trauerphase der Männer beobachten. Sie stellten fest, daß das Immunsystem in dieser Zeit weniger aktiv war. Die TLymphozyten vermehrten sich nicht so rasch wie sonst. Im Laufe der Zeit begann sich das Immunsystem zu erholen.58 Amerikanische Forscher haben diese bahnbrechenden Entdeckungen inzwischen bestätigt und erweitert. Depression scheint sich ebenfalls auf das Verhalten des Immunsystems auszuwirken. Bei einer anderen Studie beobachtete man den Zusammenhang von belastenden Ereignissen und Depression bei 37 Frauen und untersuchte die T-Lymphozyten und natürlichen Killerzellen in ihrem Blut. Bei Frauen, in deren Leben gerade große Veränderungen stattfanden, hatten die Killerzellen eine geringere Aktivität als bei Frauen, deren Leben gleichmäßig verlief. Je depressiver die Frauen wurden, desto schwächer wurde ihr Immunsystem.59 Wenn Depression und Trauer die Aktivität des Immunsystems zeitweilig herabsetzen, dann müßte ein chronischer Zustand von Pessimismus seine Aktivität langfristig schwächen. Wir haben im fünften Kapitel dargelegt, daß pessimistische Menschen leichter und häufiger depressiv werden. Das könnte bedeuten, daß Pessimisten generell ein nicht voll funktionierendes Immunsystem haben. Bei dieser Forschungsfrage arbeiteten Leslie Kamen und ich von der Penn mit Judy Rodin aus Yale zusammen. Judy hatte den Gesundheitszustand einer großen Zahl von alten Menschen im Gebiet von New Haven beobachtet. Mehrmals im Jahr gaben diese Leute, deren Durchschnittsalter bei 71 Jahren lag, ausführlich über ihre Ernährung, ihre Ge120

sundheit und ihre Enkelkinder Auskunft. Einmal im Jahr wurde ihr Blut untersucht, um ihr Immunsystem zu überprüfen. Wir werteten die Interviews aus, stellten den Pessimismusgrad fest und berücksichtigten die Blutwerte, um festzustellen, ob wir die Aktivität des Immunsystems vorhersagen konnten. Wie erwartet, hatten die Optimisten ein aktiveres Immunsystem als die Pessimisten. Außerdem stellten wir fest, daß sich weder aus ihrem Gesundheitszustand zum Zeitpunkt des Interviews noch aus ihrem Depressionsgrad die Reaktion des Immunsystems ableiten ließ. Der Pessimismus an sich schien die Aktivität des Immunsystems unmittelbar herabzusetzen, ohne Verbindung zu Gesundheit oder Depression. Betrachtet man all diese Daten, so wird deutlich, daß der psychische Zustand eines Menschen die Aktivität seines Immunsystems beeinflussen kann. Der Tod eines nahestehenden Menschen, Depression und Pessimismus können das Immunsystem schwächen. Wie das im einzelnen zustande kommt, muß erst noch ermittelt werden, aber ein gangbarer Weg zeichnet sich bereits ab. Wie erwähnt, verbrauchen sich bei diesen Zuständen einige Neurotransmitter des Gehirns, dadurch steigt die Menge des endogenen Morphins. Das Immunsystem hat Rezeptoren für diese Hormone und drosselt seine Aktivität, wenn der Endorphinspiegel steigt. Wenn das Maß Ihres Pessimismus Ihr Immunsystem beeinflussen kann, dann kann dieser Pessimismus wahrscheinlich Ihre körperliche Gesundheit im Laufe des Lebens beeinträchtigen.

10.4

Optimismus und gesundes Leben

Ist es möglich, daß Optimisten länger leben als Pessimisten? Ist man sein ganzes Leben lang gesünder, wenn man in der Kindheit optimistische Erklärungsmuster erwarb? Diese Fragen sind wissenschaftlich nicht leicht zu beantworten. Es genügt nicht, auf die hohe Zahl von sehr alten Menschen zu verweisen und zu behaupten, daß sie Optimisten sind. Vielleicht sind sie nur deshalb Optimisten, weil sie ein langes und gesundes Leben geführt haben, und nicht umgekehrt. Ehe wir diese Frage angehen konnten, mußten wir einige andere Probleme klären. Erstens mußten wir feststellen, ob die Erklärungsmuster im Laufe des Lebens stabil bleiben. Wenn Optimismus in der Jugend die Gesundheit bis ins hohe Alter hinein beeinflussen soll, dann müßte der Optimismusgrad während des ganzen Lebens gleich hoch bleiben. Melanie Burns, eine graduierte Studentin an der Penn, und ich gaben in Zeitschriften für Senioren Inserate auf: Wir suchten Leute, die als Teenager Tagebücher geführt hatten und sie noch immer besaßen. 30 Personen antworteten auf unser Inserat und schickten uns ihre Tagebücher. Wir werteten sie nach der CAVE-Technik aus und konstruierten für alle Beteiligten persönliche Profile ihrer Erklärungsmuster in ihrer Jugendzeit. Außerdem verfaßten alle Versuchspersonen Aufsätze, in denen sie ihr gegenwärtiges Leben schilderten: ihre Gesundheit, ihre Familie, ihre Arbeit. Wir werteten auch die Aufsätze nach der CAVE-Technik aus und entwarfen ein zweites Profil der Erklärungsmuster dieser Personen für ihr Alter. In welchem Verhältnis standen diese persönlichen Erklärungsprofile zueinander? Wir fanden heraus, daß die Erklärungsmuster für gute Ereignisse im Laufe der Jahre stark veränderlich waren. Zum Beispiel konnte dieselbe Person zu einer gewissen Zeit ihres Lebens meinen, gute Ereignisse seien auf blinden Zufall zurückzuführen, und zu einer anderen Zeit glauben, sie seien das Ergebnis eigenen Könnens. Andererseits waren die Erklärungsmuster für negative Ereignisse über mehr als fünf Jahrzehnte hinweg außerordentlich stabil. Die Frauen, die als Teenager geschrieben hatten, die Jungen hätten kein Interesse an ihnen, weil sie »nicht liebenswert« seien, schrieben auch 50 Jahre später, ihre Enkel besuchten sie nicht, weil sie (die Großeltern) »nicht liebenswert« sei121

en. Die Weise, in der wir negative Ereignisse betrachten, also unsere eigene Theorie der Tragödie, bleibt ein Leben lang stabil.60 Dieses Schlüsselergebnis brachte uns der Frage näher, ob Erklärungsmuster der Kindheit die Gesundheit noch viel später im Leben beeinflussen können. Was fehlte uns noch, ehe wir diese Frage direkt stellen konnten? Wir benötigten eine große Gruppe von Individuen mit ganz bestimmten Eigenschaften: 1.

Sie mußten in der Jugend eine Reihe von Kausalaussagen gemacht haben, die noch vorhanden waren und nach der CAVE-Technik ausgewertet werden konnten.

2.

Wir mußten sicher sein, daß sie gesund und erfolgreich waren, als sie diese jugendlichen Erklärungen abgaben. Das war nötig, denn wären sie damals schon krank gewesen oder hätten sie versagt, wären sie deshalb später vielleicht nicht nur häufiger krank, sondern auch pessimistischer gewesen.

3.

Wir brauchten Versuchspersonen, die regelmäßig medizinisch untersucht worden waren, damit wir ihren Gesundheitszustand im Laufe des Lebens verfolgen konnten.

4.

Schließlich mußten unsere Versuchspersonen recht alt sein, damit wir die Prognose ihrer lebenslangen Gesundheit auch verifizieren konnten.

Das war viel verlangt. Wo konnten wir solche Leute finden?

10.5 Die Männer der Grant-Studie George Vaillant ist Psychoanalytiker. Er beschäftigt sich seit seiner Ausbildung mit dem Begriff »Abwehr«. Nach seiner Überzeugung ist das, was sich im Laufe des Lebens ereignet, nicht einfach das Ergebnis der Anzahl von Schicksalsschlägen, die uns treffen. Vielmehr spielt es eine große Rolle, wie wir uns innerlich gegen sie zur Wehr setzen. Weiterhin meint er, daß unsere gewohnheitsmäßigen Erklärungen von Unglück Teil unserer Abwehr sind. Und diese Theorie überprüfte er an einer einzigartigen Gruppe von Versuchspersonen. Vaillant hat über zehn Jahre damit verbracht, eine Anzahl ungewöhnlicher Männer zu beobachten und zu interviewen, während sie von den mittleren Lebensjahren allmählich ins Alter vorrückten. Mitte der dreißiger Jahre beschloß die William T. Grant Foundation, gesunde Menschen während ihres gesamten Erwachsenenlebens zu beobachten. Die Initiatoren der Studie wollten eine Gruppe von hochbegabten Personen durch ihr ganzes Leben begleiten, um etwas über die Faktoren zu erfahren, die zu Erfolg und Gesundheit führen. Zu diesem Zweck siebten sie aus fünf Anfängerkursen in Harvard Männer aus, die körperlich kerngesund waren und große intellektuelle und soziale Fähigkeiten besaßen. Die Stiftung ließ umfangreiche Tests durchführen und wählte dann 200 Männer aus – etwa fünf Prozent der Anfänger von 1939 bis 1944 –, deren Leben sie seither ununterbrochen beobachtet. Diese Männer, die heute rund 70 Jahre alt sind, haben 50 Jahre lang bei dieser anspruchsvollen Untersuchung mitgearbeitet. Sie werden alle fünf Jahre gründlich medizinisch untersucht, werden in bestimmten Abständen interviewt und füllten unzählige Fragebogen aus. Sie haben einen großen Schatz an Information darüber geliefert, was einen Menschen gesund und erfolgreich macht. Als die Initiatoren der Grant-Studie zu alt wurden, sahen sie sich nach einem jüngeren Forscher um, der die Studie bis zum Lebensende der Harvardabsolventen fortführen konnte. Die Wahl fiel auf George Vaillant. Vaillants erste bedeutsame Entdeckung anhand der Grant-Studie war, daß Reichtum im Alter von 20 Jahren keine Garantie für Erfolg und Gesundheit ist. Bei den entsprechenden Männern gab es eine hohe Rate an Mißerfolgen und Krankheit: gescheiterte Ehen, 122

Bankrott, Herzinfarkte in relativ jungen Jahren, Alkoholismus, Selbstmord und sonstige Tragödien – einer wurde sogar ermordet. Vaillants theoretisches Anliegen war der Versuch, vorherzusagen und zu verstehen, wer von seinen Versuchspersonen ein gutes Leben führen und wessen Leben unglücklich verlaufen würde. Sein zentrales Interesse galt dabei der »Abwehr«, der charakteristischen Weise, in der Menschen mit negativen Ereignissen umgehen. Einige der Männer bewältigten schon auf der Universität ihre Mißerfolge mit »reifen Abwehrformen« – Humor, Altruismus und Sublimierung.* Anderen gelang das nie. Wenn etwa ihre Freundinnen mit ihnen Schluß machten, reagierten sie mit Leugnung, Projektion und anderen »unreifen Abwehrformen«. Interessanterweise führten die Männer, die schon im Alter von 20 Jahren über reife Formen der Abwehr verfügten, später ein viel erfolgreicheres und gesünderes Leben. Mit 60 Jahren war keiner dieser Männer chronisch krank, während mehr als ein Drittel der Männer mit unreifen Abwehrformen im Alter in schlechter körperlicher Verfassung war. * Als Sublimierung (von lat. sublimare = »erhöhen«) bezeichnet die Psychoanalyse die Umsetzung eines Abwehrmechanismus nicht zugelassener Wünsche und Bedürfnisse in Leistungen, die sozial erwünscht sind oder sogar hoch bewertet werden. Nach psychoanalytischer Ansicht ist die Entstehung der gesamten menschlichen Kultur ein Ergebnis von Sublimierung. (Quelle: Wikipedia)

Das war genau die Gruppe, die wir gesucht hatten. Die Männer hatten in der Jugend dokumentierte Kausalerklärungen abgegeben, sie waren erfolgreich und gesund, als sie die Erklärungen abgaben, ihr Gesundheitszustand war ein Leben lang genau verfolgt worden, und sie standen jetzt am Ende der mittleren Lebensjahre. Außerdem lagen eine Menge weiterer Informationen über ihre Persönlichkeit und ihr Leben vor. Führten die Optimisten unter ihnen ein gesünderes Leben als die Pessimisten? Würden sie länger leben? George Vaillant erklärte sich bereit, mit Chris Peterson und mir zusammenzuarbeiten. Er ist sich bewußt, daß er kostbare und einzigartige Daten verwaltet; er »verleiht« diese Daten nur an andere seriöse Wissenschaftler (wobei er stets sorgsam darauf achtet, die Anonymität seiner Versuchspersonen zu wahren), die jene Faktoren ergründen wollen, die für das ganze Leben Gesundheit und Erfolg verheißen. Wir entschlossen uns, nach dem Prinzip des »versiegelten Umschlags« zu arbeiten. Vaillant sorgte dafür, daß wir bei unserer Arbeit keine Ahnung hatten, wer die Männer waren und welche von ihnen gesund geblieben waren. Er gab uns zuerst die Essays von 99 willkürlich ausgewählten Männern, die diese nach ihrer Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1945 oder 1946 geschrieben hatten. Es waren ergiebige Dokumente, die zahlreiche optimistische und pessimistische Erklärungen enthielten: »Das Schiff ging unter, weil der Admiral so dumm war.« – »Ich verstand mich nie gut mit den Männern, weil sie mich um das Privileg beneideten, in Harvard studiert zu haben.« Wir werteten sämtliche Essays mit der CAVE-Methode aus und erstellten für alle Männer ein persönliches Erklärungsprofil am Ende ihrer Jugend. Dann flogen Chris Peterson und ich nach Dartmouth zu George Vaillant, der dort Professor für Psychiatrie ist, um den sogenannten versiegelten Umschlag zu öffnen. Wir erfuhren, wie das Leben der Männer verlaufen war, deren Essays wir ausgewertet hatten. Wir stellten fest, daß Gesundheit im Alter von 60 Jahren viel mit dem Optimismus zu tun hatte, den die Person mit 25 Jahren besessen hatte. Die pessimistischen Männer waren früher und schwerer an den Gebrechen der mittleren Lebensjahre erkrankt als die optimistischen, und schon mit 45 Jahren wiesen sie große Unterschiede im Gesundheitszustand auf. Vorher hatte der Optimismus keinen Einfluß auf die Gesundheit gehabt. Bis zum Alter von 45 Jahren hatte sich ihr Gesundheitszustand gegenüber dem mit 25 Jahren nicht verändert. Aber mit 45 beginnt bei Männern der körperliche Abbau. Wie stark und wie rasch er sich vollzieht, läßt sich gut anhand des Pessimismus 25 Jahre 123

früher vorhersagen. Auch als wir noch mehrere andere Faktoren in die Gleichung eingaben – die Abwehrformen und die körperliche und seelische Gesundheit mit 25 Jahren –, stach der Optimismus noch immer als entscheidende Komponente für die Gesundheit zwischen 45 und 65 hervor. Jetzt haben diese Männer ein Alter erreicht, in dem sie dem Tod näherrücken. Wir werden also im Laufe der nächsten zehn Jahre feststellen können, ob Optimismus nicht nur ein gesünderes, sondern auch ein längeres Leben verheißt.61

10.6 Erneute Betrachtung des Problems von Geist und Körper Es gibt überzeugende Hinweise darauf, daß geistig-seelische Zustände die Gesundheit eines Menschen beeinflussen. Depression, Trauer und Pessimismus scheinen die Gesundheit zu beeinträchtigen, sowohl kurz- als auch langfristig. Und dieser Vorgang ist auch kein völliges Geheimnis mehr. Es gibt eine plausible Kettenreaktion, die von belastenden Ereignissen direkt zu schlechter Gesundheit führen kann. Die Kettenreaktion beginnt mit einem negativen Erlebnis – Verlust, Mißerfolg, Niederlage –, das einen Menschen hilflos macht. Wie wir gesehen haben, reagieren alle Menschen auf solche Erlebnisse mit wenigstens zeitweiliger Hilflosigkeit, und Menschen mit pessimistischen Erklärungsmustern werden depressiv. Die Depression führt dazu, daß sich die Katecholamine verbrauchen, und erhöht die Sekretion von Endorphinen. Das Ansteigen des Endorphinspiegels kann die Aktivität des Immunsystems herabsetzen. Der Körper ist zu allen Zeiten Krankheitserregern ausgesetzt, die normalerweise vom Immunsystem unter Kontrolle gehalten werden. Wenn das Immunsystem durch den Mangel an Katecholaminen und den erhöhten Endorphinspiegel geschwächt wird, können diese Krankheitserreger ihre Wirkung entfalten. Das Krankheitsrisiko steigt drastisch, selbst das Leben kann bedroht sein. Der Zusammenhang zwischen allen Gliedern dieser Kette Verlust – Pessimismus – Depression – Katecholamine – Endorphine – Immunsystem – Krankheit kann Schritt für Schritt überprüft werden; in der Tat gibt es bereits Belege für die Funktionszusammenhänge auf allen Stufen. Diese Reaktionskette hat nichts mit Geisterbeschwörung und mysteriösen, nicht meßbaren Prozessen zu tun. Wenn sich dieser Ablauf tatsächlich so vollzieht, dann besteht an jeder Stelle die Möglichkeit, mit Therapie und Prävention einzugreifen.

10.7 Psychologische Prävention und Therapie »Das ist eine einmalige Gelegenheit«, sagte Judy Rodin, mit der ich bei der New Haven-Untersuchung über die Auswirkung des Pessimismus auf das Immunsystem zusammengearbeitet hatte. Sie war inzwischen Professorin in Yale geworden und war Mitglied mehrerer einflußreicher Gremien. An jenem Tag hatte sie eine kleine Gruppe von führenden Wissenschaftlern für medizinische Psychologie zusammengerufen. Sie teilte uns mit, daß ihrer Meinung nach die Zeit gekommen sei, die MacArthur Foundation um Unterstützung für das neue Gebiet der Psychoneuroimmunologie zu bitten. Diese Wissenschaft beschäftigt sich mit der Frage, wie psychische Ereignisse die Gesundheit und das Immunsystem beeinflussen. Die MacArthur Foundation steht solchen Forschungsfragen aufgeschlossen gegenüber. Sie würde ein entsprechendes Projekt fördern, das die Medizin revolutionieren könnte, auch wenn es von anderen Stiftungen nicht ernst genommen würde. Von welchem Projekt haben Sie schon immer geträumt, es aber nicht für finanzierbar gehalten?

Sandy Levy, eine sonst eher stille junge Professorin für Psychologische Onkologie aus Pittsburgh, meldete sich zu Wort. »Am liebsten würde ich Therapie und Prävention aus124

probieren«, sagte sie. »Judy und Marty haben uns überzeugt, daß pessimistische Erklärungsmuster zu einem lausigen Funktionieren des Immunsystems und zu miserabler Gesundheit führen. Es gibt eine plausible Erklärung dafür, wie das zustande kommt. Und es gibt überzeugende Hinweise darauf, daß kognitive Therapie die Erklärungsmuster verwandelt. Versuchen wir doch, auf der psychischen Ebene einzugreifen. Verändern wir die Erklärungsmuster und heilen wir den Krebs.« Diese Sache erforderte sorgfältige Überlegungen, denn fast niemand außerhalb dieses Raumes glaubte, daß man durch Psychotherapie ein schlecht funktionierendes Immunsystem positiv beeinflussen könne. Für die meisten war das Scharlatanerie, und nichts ist für einen mühsam erworbenen wissenschaftlichen Ruf gefährlicher als der Vorwurf der Scharlatanerie. Schließlich entschieden wir uns, einen Versuch zu wagen. Wir stellten bei der MacArthur-Stiftung einen Antrag auf Unterstützung für eine Pilotstudie über kognitive Therapie zur Stärkung des Immunsystems. Der Antrag wurde rasch bewilligt. In den folgenden beiden Jahren behandelten wir 40 Patienten mit Melanomen und Darmkrebs, zwei besonders aggressive Formen von Krebs. Diese Patienten wurden weiterhin wie üblich mit Bestrahlung und Chemotherapie behandelt. Zusätzlich erhielten sie zwölf Wochen lang einmal in der Woche eine modifizierte Form von kognitiver Therapie. Wir legten die Therapie nicht auf die Heilung von Depression an, sondern wollten diesen Patienten ermöglichen, anders als bisher über erlittene Verluste zu denken: Sie sollten lernen, automatische Gedanken zu erkennen, Ablenkungsstrategien zu entwickeln und Einspruch gegen ihre eigenen pessimistischen Erklärungen zu erheben (vgl. Kapitel zwölf). Wir ergänzten die kognitive Therapie durch Entspannungstraining zur Bewältigung von Streß. Wir bildeten auch eine Kontrollgruppe von Krebspatienten, die dieselbe körperliche Therapie erhielten, aber keine kognitive Therapie und kein Entspannungstraining. »Donnerwetter, sehen Sie sich einmal diese Zahlen an!« Selten habe ich Sandy so aufgeregt erlebt wie bei ihrem Anruf an einem Novembermorgen zwei Jahre später. »Die Aktivität der natürlichen Killerzellen bei den Krebspatienten, die kognitive Therapie erhalten haben, ist unglaublich gestiegen. Und in der Kontrollgruppe überhaupt nicht!« Kurz gesagt, stärkte die kognitive Therapie das Immunsystem beträchtlich – wie wir es erhofft hatten. Man kann noch nicht sagen, ob diese Therapie den Verlauf der Krankheit verändert oder diesen Krebspatienten das Leben gerettet hat. Dazu ist es noch zu früh. Die Krankheit verändert sich viel langsamer als das Immunsystem, dessen Aktivität von Tag zu Tag schwanken kann. Wir müssen abwarten. Aber diese Pilotstudie genügte, um die MacArthur Foundation zur Finanzierung einer Langzeitstudie zu bewegen. Ab 1990 werden wir Krebspatienten in größerem Umfang mit kognitiver Therapie behandeln und versuchen, ihr Immunsystem zu stärken und die Krankheit zu beeinflussen. Vielleicht können wir sogar ihr Leben verlängern. Wir werden auch Versuche zur Prävention unternehmen. Wir werden die Übungen, die Sie in Kapitel zwölf finden, mit solchen Menschen durchführen, bei denen das Krankheitsrisiko besonders hoch ist: frisch geschiedene oder getrennte Paare sowie Rekruten, die arktischer Kälte standhalten müssen. Wird die Veränderung ihrer pessimistischen Erklärungsmuster ihr Immunsystem stärken und sie davor schützen, krank zu werden? Wir hegen große Hoffnung.

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11 Politik, Religion und Kultur: Eine neue »Psychogeschichte« Meine Freud-Lektüre im zarten Jugendalter hatte großen Einfluß auf die Fragen, die mich seither beschäftigt haben. Aber ein anderer Schriftsteller meiner Kindheitsjahre, der im allgemeinen weniger angesehen ist als Freud, hat einen noch tieferen Eindruck hinterlassen: Isaac Asimov, Visionär und Autor zahlreicher Romane sowie umfangreicher Science-fiction-Literatur. In seiner spannenden FOUNDATION TRILOGY62 hat Asimov einen großartigen Helden für pickelige, intellektuelle Jugendliche erfunden: Hari Selden. Er ist ein Wissenschaftler, der die »Psychohistory« begründet, um die Zukunft vorhersagen zu können. Selden glaubt, daß man zwar nicht das Verhalten von Individuen, wohl aber das Verhalten einer Masse von Individuen vorhersagen kann, wie das einer Masse von Atomen. Dazu benötigt man weiter nichts als Hari Seldens statistische Gleichungen und seine Verhaltensprinzipien (die uns Asimov nirgendwo verrät), um den Lauf der Geschichte und sogar das Ergebnis von Krisen vorhersagen zu können. Das hatte mich tief beeindruckt. Anfang der siebziger Jahre erfuhr ich als junger Professor, daß es in den Vereinigten Staaten ein Fach mit dem Namen »Psychohistory« tatsächlich gibt. Aber die akademische Version von Asimovs Vision war enttäuschend. Es handelt sich dabei um die Darstellung und Deutung einer historischen Persönlichkeit oder eines historischen Ereignisses mit den Mitteln der Psychoanalyse. Später führte ich zusammen mit einem Freund ein »psychohistorisches« Seminar durch, in dem wir Erik Eriksons Buch über den jungen Luther lasen.63 Erikson unternimmt darin den Versuch, Luthers Entwicklung nach den Prinzipien der Freudschen Psychoanalyse zu untersuchen. Nach Erikson ist Luthers rebellische Haltung gegen den Katholizismus das Resultat seiner Sauberkeitserziehung. Diese verblüffende Hypothese leitet Erikson aus einigen wenigen Informationen über Luthers Kindheit ab. Diese Art von weithergeholter Extrapolation war bestimmt nicht das, was Hari Selden im Sinn gehabt hatte. Erstens führten die Prinzipien dieser »Psychohistory« nicht weit. Zweitens bestand sie damals aus einzelnen Fallstudien, während man für gültige Vorhersagen eine Menge von Daten braucht, um unvorhersagbare individuelle Variablen auszugleichen; auch Asimov betont dies. Drittens ließen sich bei dieser Art von »Psychohistory« keinerlei Prognosen erstellen. Vielmehr nahm sie längst vergangene Ereignisse und konstruierte daraus im nachhinein mit psychoanalytischen Mitteln eine plausible Geschichte. Als ich 1981 Glen Elders Herausforderung annahm, eine »Zeitmaschine« zu entwickeln, hatte ich immer noch Asimovs Vision im Sinn. Ich wollte mit der Technik der Inhaltsanalyse verbaler Erklärungen sowohl die Erklärungsmuster und den Optimismus von Menschen ergründen, die keinen Fragebogen ausfüllen wollen, als auch von solchen, die keinen Fragebogen ausfüllen können, weil sie nicht mehr leben. Dazu benötigten wir lediglich wortgetreue Zitate. Ich machte Glen darauf aufmerksam, daß wir eine ungeheure Fülle von Material verwenden konnten: Autobiographien, Testamente, Presseberichte, Tagebücher, Therapiemitschriften, Briefe und Reden. »Glen«, sagte ich, »damit können wir Psychohistory betreiben.« Schließlich verfügten wir über die drei grundlegenden Dinge, die Hari Selden voraussetzte. Erstens hatten wir ein vernünftiges psychologisches Prinzip: Optimistische Erklärungsmuster lassen die Prognose zu, daß ein Mensch fähig ist, sich gegen Depressionen zu wehren, daß er ein hohes Leistungsvermögen und Ausdauer besitzt. Zweitens hatten wir ein zuverlässiges Verfahren, mit dem wir die Erklärungsmuster lebender und

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verstorbener Personen auswerten konnten. Drittens konnten wir eine große Anzahl von Personen untersuchen – so viele, daß statistische Prognosen möglich wurden. An einem Frühlingsmorgen im Jahre 1983 erklärte ich all das einem energiegeladenen, begeisterten Studienanfänger namens Harold Zullow. »Haben Sie je daran gedacht, diese Technik auf die Politik anzuwenden?« fragte er eifrig. »Vielleicht könnten wir Wahlprognosen treffen. Ich wette, Amerikaner wollen optimistische Politiker, die ihnen versprechen, ihre Probleme zu lösen. Sie brauchen viele Personen? Reichen die Wähler von ganz Amerika? Man kann nicht vorhersagen, wie sich einzelne Wähler bei einer Wahl entscheiden werden, aber man kann vielleicht vorhersagen, wie sie sich als Masse entscheiden. Wir könnten aus den Aussagen der beiden Kandidaten ein Optimismusprofil erstellen und vorhersagen, wer gewinnt.« Harold Zullow kam an die Penn und leistete in den folgenden fünf Jahren hervorragende Arbeit. Mit meiner Unterstützung wurde er der erste Psychologe, der ein wichtiges historisches Ereignis vorhersagte, ehe es eintrat.

11.1 Die amerikanischen Präsidentschaftswahlen: 1948 – 1984 Was für einen Präsidenten wollen die amerikanischen Wähler? Legen sie Wert auf Optimismus? Politikwissenschaft war Harold Zullows Hobby, und bei seiner Forschungsarbeit im Graduiertenstudium konnte er sich diesem Hobby ausgiebig widmen. Wir lasen die Reden, die die großen Sieger und Verlierer der jüngsten Geschichte anläßlich ihrer Nominierung als Präsidentschaftskandidaten gehalten hatten. Die Unterschiede im Optimismus waren auffallend. Hier ein Auszug aus der Rede Adlai Stevensons vor der Parteiversammlung der Demokraten im Jahre 1952, mit der er seine Nominierung annahm: Wenn der Tumult und das Geschrei sich gelegt haben, wenn die Musikkapellen gegangen sind und die Scheinwerfer ausgehen, dann bleibt die nackte Realität der Verantwortung in einer Stunde der Geschichte, die bedroht ist von den Schreckgespenstern des Haders, der Uneinigkeit und des Materialismus im Inland und von einer skrupellosen, unergründlichen und feindlichen Macht im Ausland.

Das ist vielleicht unsterbliche Prosa, aber sie enthält nur grüblerische Gedanken. Stevenson mußte denn auch zweimal eine Niederlage einstecken. Getreu seinem intellektuellen Ruf ließ sich Stevenson über negative Ereignisse aus und analysierte sie, ohne Handlungen vorzuschlagen, mit denen man sie ändern konnte. Werfen wir einen Blick auf seine Erklärungsmuster: Die schwere Prüfung des zwanzigsten Jahrhunderts – der blutigsten, turbulentesten Ära des christlichen Zeitalters – ist noch lange nicht vorbei. Opfer, Geduld und unnachgiebige Zielstrebigkeit sind vielleicht auf Jahre hinaus unser Los ... Ich wollte mich nicht für die Präsidentschaft nominieren lassen, denn die Bürde dieses Amtes übersteigt die Vorstellungskraft.

Das sind zwei für Stevenson typische Erklärungen. Der kursive Text ist die Erklärung, der nichtkursive Text das Ereignis, das erklärt wird. Die Erklärungen sind sehr dauerhaft: Die schwere Prüfung kann Jahre dauern und Opfer verlangen. Außerdem sind sie global: Wegen der schrecklichen Last der Präsidentschaft wollte er sich nicht für dieses Amt aufstellen lassen. Adlai Stevenson, ein hochintelligenter Mann, sah gefühlsmäßig rabenschwarz. Seine Erklärungsmuster waren pessimistisch, und er grübelte wie ein Depressiver.

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Die Reden Dwight Eisenhowers, der zweimal gegen Stevenson antrat, unterschieden sich grundlegend von Stevensons Reden – sie enthielten nur wenige grüblerische Gedanken, viele optimistische Erklärungen und zahlreiche Anspielungen auf geplantes Handeln. Lesen Sie einen Auszug aus Eisenhowers berühmter Rede im Jahre 1952 (»Ich werde nach Korea gehen«), mit der er seine Nominierung durch die Republikaner annahm. Heute ist der erste Tag unseres Kampfes. Der Weg, der zum 4. November führt, ist der Weg des Kampfes. In diesen Kampf werde ich alle Reserven einbringen. Ich stand oft schon vor Kämpfen. Vor jedem Angriff habe ich stets die Männer in unseren Lagern und an den Straßen aufgesucht und mit ihnen über ihre Sorgen gesprochen und über die große Aufgabe debattiert, der wir alle verpflichtet sind.

Eisenhowers Rede hat nicht die Eleganz und Subtilität von Stevensons Prosa. Dennoch errang Eisenhower sowohl 1952 als auch 1956 überwältigende Siege. Natürlich war er ein großer Kriegsheld, und der Lebenslauf seines Gegners nahm sich im Vergleich eher bescheiden aus. Historiker bezweifeln, daß Eisenhower überhaupt hätte geschlagen werden können. Tatsächlich wollten ihn sogar sowohl die Demokraten als auch die Republikaner als Kandidaten gewinnen. Aber spielten Eisenhowers Optimismus und Stevensons Pessimismus eine kausale Rolle für das Ergebnis der Wahl? Wir glauben, ja. Wie würde ein Präsidentschaftskandidat abschneiden, der pessimistischere Muster hat und mehr grübelt als sein Gegner? Wahrscheinlich würden drei negative Konsequenzen eintreten: Erstens wäre der Kandidat mit dem pessimistischeren Stil vermutlich passiver, würde weniger Wahlreden halten und sich weniger bereitwillig Herausforderungen stellen. Zweitens wäre er vermutlich bei den Wählern weniger beliebt. Bei kontrollierten Experimenten sind depressive Personen weniger beliebt als nichtdepressive und werden häufiger gemieden. Das soll nicht heißen, daß Präsidentschaftskandidaten depressiv sind – im allgemeinen sind sie das nicht –, sondern vielmehr, daß die Wähler außerordentlich sensibel sind für die gesamte Dimension des Optimismus und selbst feine Unterschiede zwischen den Kandidaten wahrnehmen. Drittens weckt der pessimistischere Kandidat weniger Hoffnung bei den Wählern. Die dauerhaften und globalen Aussagen, die Pessimisten über negative Ereignisse machen, signalisieren Hoffnungslosigkeit. Je mehr ein Kandidat grübelt, desto mehr Hoffnungslosigkeit verbreitet er. Wenn die Wähler einen Präsidenten wollen, der sie glauben macht, daß er die Probleme ihres Landes lösen wird, dann werden sie für den Optimisten stimmen. Aus allen drei Faktoren zusammen läßt sich vorhersagen, daß der pessimistischere der beiden Kandidaten verlieren wird. Wie konnten wir testen, ob der Optimismus der Kandidaten tatsächlich das Wahlergebnis beeinflußt? Wir benötigten ein standardisiertes Ereignis, in dem die Reden der beiden Kandidaten miteinander und mit den Reden ihrer Vorgänger verglichen werden konnten. Ein solches Ereignis gibt es: die Rede, mit der ein Kandidat seine Nominierung annimmt und seine Ideen für die Zukunft der Nation skizziert. Bis vor 40 Jahren wurde diese Rede vor der in einer Halle versammelten Partei gehalten und kam den meisten Amerikanern nicht zu Ohren. Aber seit 1948 erreicht diese Rede ein großes Publikum, da sie im Fernsehen ausgestrahlt wird. Daher exzerpierten wir alle Kausalaussagen aus allen Nominierungsreden seit 1948, also die Reden der letzten zehn Wahlen. Wir mischten sie willkürlich und ließen sie von Leuten, die nicht wußten, wer was gesagt hatte, mit der CAVE-Methode auf ihren Optimismus hin auswerten. Außerdem prüften wir das Ausmaß des Grübelns, das heißt die Prozentzahl der Sätze, in denen ein 128

negatives Ereignis bewertet oder analysiert wird, ohne daß Maßnahmen zur Abhilfe vorgeschlagen werden. Wir bewerteten auch die »Handlungsorientierung«, nämlich die Anzahl der Sätze, in denen davon die Rede ist, was ein Kandidat getan hat oder zu tun gedenkt. Wir addierten den Wert für die Erklärungsmuster und den Wert für das Grübeln zu einer Gesamtsumme, die wir »Pessrum« (aus »pessimism« und »rumination«, grübeln) nannten. Je höher der Pessrum-Wert, desto schlechter war der Stil des Kandidaten. Als erstes stellten wir bei dem Vergleich der Pessrum-Werte der beiden Kandidaten jeder Wahl von 1948 bis 1984 fest, daß die Kandidaten mit dem niedrigsten Wert – also die optimistischsten Kandidaten – neun von zehn Wahlen gewonnen hatten. Wir erzielten genauere Ergebnisse als die Meinungsumfragen, einfach aufgrund der Inhaltsanalyse der Reden. Bei einer Wahl lagen wir falsch – bei der Wahl zwischen Nixon und Humphrey im Jahre 1968. Humphrey war in seiner Nominierungsrede etwas optimistischer als Richard Nixon, daher setzten wir auf Humphrey. Aber auf dem Weg zum Sieg trat ein unerwarteter Zwischenfall ein. Als Humphrey vor der Parteiversammlung in Chicago sprach, kam es in der Stadt zu Demonstrationen und Straßenkämpfen. Es gab Bilder von Polizisten, die Hippies verprügelten. Humphrey verlor schlagartig an Popularität. Er begann den Wahlkampf – den kürzesten in der modernen Geschichte – mit einem Minus von 15 Prozent in der Wählergunst. Humphrey gewann jedoch stetig an Boden und verlor am Wahltag mit knapp einem Prozent. Hätte der Wahlkampf noch drei Tage länger gedauert, so sagten die Meinungsforscher, dann hätte der optimistische Humphrey gewonnen. Welcher Zusammenhang bestand zwischen dem Vorsprung beim Sieg und dem Unterschied in den Pessrum-Werten der Kandidaten? Wir fanden einen sehr deutlichen Zusammenhang. Die Kandidaten, die beträchtlich optimistischer waren als ihre Gegner, siegten haushoch: Eisenhower (zweimal) über Stevenson, Johnson über Goldwater, Nixon über McGovern und Reagan über Carter. Die Kandidaten, die nur geringfügig optimistischer waren als ihre Gegner, siegten mit knapper Not: Kennedy über Nixon, Nixon über Humphrey und Carter über Ford. Aber was kommt zuerst? Der Optimismus oder der Vorsprung? Sorgt der größere Optimismus des zukünftigen Siegers dafür, daß die Wähler ihn wählen, oder spiegelt er lediglich die Tatsache wider, daß er optimistisch ist, weil er bereits in Führung liegt? Betrachtet man die Kandidaten, die aus einer fast aussichtslosen Position heraus gewannen, so ist die Antwort gut erkennbar. Diese Kandidaten lagen bei Meinungsumfragen hinter ihren Gegnern, teilweise sogar weit hinter ihnen. Sie konnten nicht deshalb optimistischer sein, weil sie führten, denn sie führten nicht. 1948 lag Truman zunächst 13 Prozent hinter Thomas E. Dewey, aber sein Pessrum-Wert war viel optimistischer als der Deweys. Truman gewann mit 4,6 Prozent Vorsprung und stürzte damit alle Meinungsforscher in Verwirrung. 1960 begann John Kennedy 6,4 Prozent hinter Richard Nixon. Kennedy war optimistischer als Nixon, wie sein Pessrum-Wert zeigte, und er errang mit 0,2 Prozent Vorsprung einen äußerst knappen Sieg. Es war der knappste Sieg in der modernen Geschichte. 1980 begann Ronald Reagan 1,2 Prozent hinter dem amtierenden Jimmy Carter. Reagans Pessrum-Wert war optimistischer; er gewann mit mehr als 10 Prozent Vorsprung. Warum wirkt Optimismus auf die Wähler? Es gibt drei mögliche Gründe dafür: Entweder führen Optimisten einen schwungvolleren Wahlkampf, oder die Wähler empfinden mehr Abneigung gegen die Pessimisten, oder die Optimisten wecken mehr Hoffnung. Den zweiten und dritten Grund können wir nicht direkt überprüfen, aber bei sieben von zehn Wahlen konnten wir die Zahl der Wahlveranstaltungen feststellen, die jeder Kandidat pro Tag abhielt; das ist ein Maßstab für die Intensität des Wahlkampfes. Wie erwartet hielten die optimistischeren Kandidaten mehr Wahlveranstaltungen ab. 129

Die Rede bei der Annahme der Nominierung wird meist nicht von dem betreffenden Politiker selbst geschrieben und wird außerdem mehrfach umformuliert. Spiegelt sie also den wirklichen Optimismusgrad des Kandidaten wider oder nur den Optimismus des Ghostwriters, der die Reden des Kandidaten verfaßt? Oder beinhaltet sie das, was die Öffentlichkeit nach Meinung des Kandidaten hören will? Von einem bestimmten Standpunkt aus spielen diese Fragen keine Rolle. Denn die Analyse des Optimismus prognostiziert, was die Wähler aufgrund des Eindrucks tun werden, den sie von dem Kandidaten haben – unabhängig davon, ob dieser Eindruck nun korrekt ist oder manipuliert wurde. Aber von einem anderen Standpunkt aus ist es wichtig zu wissen, wie der Kandidat wirklich ist. Um das herauszufinden, kann man zum Beispiel Pressekonferenzen und Diskussionen vergleichen, die spontaner sind, obwohl dabei auch präparierte Reden gehalten werden. Wir untersuchten dies bei den vier Wahlen, bei denen Diskussionen zwischen den beiden Kandidaten stattfanden. In allen Fällen schnitt der Kandidat, der bei der Nominierung den besseren Pessrum-Wert hatte, auch in den Diskussionen besser ab. Dann wertete ich die vorbereiteten Reden und Pressekonferenzen von einem halben Dutzend Staatsoberhäupter (deren Identität mir nicht bekannt war) im Hinblick auf Erklärungsmuster aus. Ich konnte dabei eine Art »Fingerabdruck« feststellen, der konstant bleibt, ganz gleich, ob es sich um sorgfältig vorbereitete Reden oder um spontane Äußerungen bei Pressekonferenzen handelte. Die Werte für Dauerhaftigkeit und Geltungsbereich blieben bei vorbereiteten und unvorbereiteten Reden stabil; jeder Staatsmann wies ein spezifisches Profil auf. (Diese Technik läßt sich vermutlich auch anwenden, wenn man feststellen will, ob eine schriftliche Botschaft tatsächlich von der Person stammt, die sie angeblich verfaßt hat – etwa von einer Geisel oder den Entführern.) Die Werte für Personalisierung unterschieden sich in bestimmtem Umfang bei vorbereiteten Reden und Pressekonferenzen: Persönliche Erklärungen, wie die Übernahme von Verantwortung für negative Ereignisse, werden bei formellen Reden ausgelassen, tauchen aber in spontanen Äußerungen häufiger auf. Ich habe daraus den Schluß gezogen, daß in einer vorbereiteten Rede die tatsächliche Persönlichkeit des Redners zum Ausdruck kommt, ob die Rede von einem anderen verfaßt wurde oder nicht. Entweder schreibt der Redner die Rede so um, daß sie seinem Optimismusgrad entspricht, oder er sucht sich einen Ghostwriter, der in diesem wichtigen Punkt zu ihm paßt. Aber wir stießen auf eine Ausnahme: Michael Dukakis.

11.2 1900 – 1948 Wir beschlossen zu überprüfen, ob unsere korrekte Prognose für neun von zehn Wahlen nach dem Krieg ein glücklicher Zufall war, oder ob es vielleicht nur ein Phänomen des Fernsehzeitalters ist, daß die Leute Optimisten wählen. Wir lasen alle Reden anläßlich der Annahme der Nominierung bis zurück zur Wahl McKinley-Bryan im Jahre 1900. Wir analysierten sie blind auf Erklärungsmuster und Grübeln. Damit hatten wir zwölf weitere Wahlen in unserer Dokumentation. Wieder erhielten wir dieselben Ergebnisse. Bei neun von zwölf Wahlen gewannen die Kandidaten mit den besseren Pessrum-Werten. Der Vorsprung beim Sieg hing wieder deutlich damit zusammen, wieviel besser der PessrumWert des Siegers war. Auch die drei Ausnahmen waren interessant. Wir rieten bei allen drei Wiederwahlen von Franklin D. Roosevelt falsch. In allen drei Wahlen gewann er mit weitem Abstand, obwohl sein Pessrum-Wert schlechter war als die Werte von Landon, Willkie und Dewey. Wir vermuten, daß sich die Wähler bei diesen drei Wahlen eher von Roosevelts bewährter Tüchtigkeit in Krisen leiten ließen als von der Hoffnung in den Reden seiner Gegner.

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Bei 18 der 22 Präsidentschaftswahlen zwischen 1900 und 1984 wählten die Amerikaner den Kandidaten, der optimistischere Reden hielt. Bei allen Wahlen, in denen ein Kandidat aus fast aussichtsloser Position nach oben kam und sich an die Spitze setzte, war er optimistischer als sein Gegenspieler. Der Vorsprung beim Sieg hatte viel mit dem Unterschied in den Pessrum-Werten zu tun. Haushohe Siege errangen die Kandidaten, die wesentlich optimistischer waren als ihre Gegner. Nachdem wir erfolgreiche Prognosen für die Vergangenheit gemacht hatten, beschlossen Harold Zullow und ich, uns nun an die Zukunft heranzuwagen.64

11.3 Die Wahl von 1988 Ende 1987 war Harold Zullow nach zwei Jahren Arbeit mit der Analyse der Wahlen von 1900 bis 1984 fertig. Endlich waren wir auf den Versuch vorbereitet, eine Prognose für 1988 zu wagen. Kein Sozialwissenschaftler hatte je wichtige historische Ereignisse vor ihrem Eintreten vorhergesagt. Wirtschaftsleute sagen zwar ständig Höhen und Tiefen der Konjunktur voraus; tritt jedoch das Gegenteil ihrer Prognosen ein, scheinen sie nie greifbar zu sein, um ihren Irrtum zuzugeben. Unsere Ergebnisse für die Vergangenheit schienen jedoch so gut gesichert, daß wir glaubten, das Risiko einer Prognose eingehen zu können. Wir entschlossen uns zu Vorhersagen auf drei Ebenen: Erstens interessierten uns die Vorwahlen für die Präsidentschaft. Wer würde als Kandidat aufgestellt werden? Wer würde zweitens die Präsidentschaftswahlen gewinnen? Und wer würde drittens in den Senat gewählt werden?

11.4 Die Präsidentschaftsvorwahlen im Jahre 1988 Im Januar 1988 traten 13 Bewerber an und hielten Tag für Tag ihre Wahlreden, sechs Republikaner und sieben Demokraten. Die New York Times veröffentlichte die Wahlreden, die die Kandidaten mit kleinen Variationen mehrmals am Tag vortrugen. Wir werteten alle 13 mit der CAVE-Methode aus und trafen dann unsere Vorhersagen. Im Februar beschlossen wir, unsere Prognosen in versiegelten Umschlägen der New York Times und dem Sekretariat des Fachbereichs Psychologie an der Penn zu übergeben. Niemand sollte später behaupten können, wir hätten gemogelt. Die Prognosen waren sonnenklar: Bei den Demokraten kam nur Michael Dukakis als Sieger in Frage. Sein Pessrum-Wert war um Klassen besser als die Werte aller anderen Bewerber. Selbstverständlich gewann er. Auch bei den Republikanern gab es einen eindeutigen Sieger: George Bush, der sich weit und breit als der größte Optimist erwies und selbst Dukakis übertraf. Ich konnte es kaum glauben, als Harold und ich uns Anfang Mai zusammensetzten und prüften, wie weit unsere Prognosen in den versiegelten Umschlägen zutreffend gewesen waren. Sie waren beinahe perfekt.

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11.5 Die Präsidentschaftswahlen im Jahre 1988 Als die Vorwahlen zur Hälfte vorbei waren, erhielten wir einen Anruf von der New York Times. Der Reporter, dem wir unsere Prognosen geschickt hatten und der bemerkt hatte, daß sie richtig waren, hatte einen Bericht darüber verfaßt. Er wollte ihn auf die Titelseite setzen und fragte uns, wer die Wahl gewinnen würde. Wir machten Ausflüchte. Bush war in den Reden bei den Vorwahlen erheblich optimistischer als Dukakis. Er würde die Wahl mit 6 Prozent Vorsprung gewinnen. Aber wir wollten keine Prognosen aufgrund der Wahlreden allein machen. Erstens gab es in Bushs Rede nur wenige Erklärungen für Ereignisse, und zweitens beruhten unsere sämtlichen früheren Daten über die Präsidentschaftswahlen auf den Nominierungsreden. Harold machte sich noch aus einem anderen Grund Sorgen. Wir waren prompt von beiden Lagern, den Republikanern und den Demokraten, angesprochen worden. Sie wollten, daß wir unsere Methode der Auswertung veröffentlichten. Harold befürchtete, daß die Kandidaten ihre Reden nach unseren Prinzipien umschreiben könnten, um den Wählern nur noch das zu sagen, was sie hören wollten. Das würde unsere Prognosen für die kommende Wahl ungültig machen. Obwohl auch mir nicht ganz wohl dabei war, versuchte ich ihn zu beruhigen. Ich schlug vor, wir sollten unser Material an beide Parteien schicken, denn unsere Forschung sei Allgemeingut. Die Kandidaten hätten ebenso ein Anrecht darauf wie jeder andere auch. An einem schwülen Juliabend saßen Harold und ich in meinem Wohnzimmer und verfolgten die Live-Übertragung der Nominierungsrede von Gouverneur Michael Dukakis. Es ging das Gerücht, daß Dukakis dieser Rede größte Bedeutung beimaß und Theodore Sorenson – der die großen Reden für John F. Kennedy geschrieben hatte – damit beauftragt habe, sie zu verfassen. Mitten in der Rede flüsterte ich Harold zu: »Das ist eine Glanzleistung! Wenn er so weitermacht, kann ihn niemand mehr schlagen.« Und es war eine Glanzleistung. Es war eine der optimistischsten Nominierungsreden der modernen Geschichte, übertroffen lediglich von Eisenhowers Rede im Jahre 1952 und Humphreys im Jahre 1968. Die Pessrum-Werte waren viel besser als in Dukakis’ Wahlrede. Sein Optimismus schien seit den Vorwahlen sprunghaft gestiegen zu sein. Auch der Öffentlichkeit gefiel die Rede. Dukakis gewann bei den Meinungsumfragen einen großen Vorsprung. Konnte George Bush diese Leistung übertreffen? Auch seine Rede Ende August vor der Parteiversammlung in New Orleans war eine Meisterleistung. Bushs Erklärungen für die Probleme Amerikas waren äußerst spezifisch und temporär. Seine Pessrum-Werte hätten bei den meisten Wahlen der jüngsten Geschichte die der anderen Kandidaten übertroffen – nur nicht Dukakis’ Werte bei seiner Rede im Juli. Bushs Ansprache war eine Spur grüblerischer und weniger optimistisch als die von Dukakis. Wir setzten die Werte in unsere Gleichung ein. Aufgrund der Nominierungsrede prophezeiten wir einen knappen Sieg für Dukakis mit drei Prozent Vorsprung. Als ich nach einer längeren Reise nach Philadelphia zurückkehrte, erklärte mir Harold, er sei nicht sicher, daß wir im Juli den echten Dukakis gehört hätten. Er hatte Dukakis Reden seit dem ersten September gelesen; sie klangen ganz anders als seine Nominierungsrede. Auch seine Wahlreden bei den Vorwahlen hatten nicht so geklungen. Harold überlegte, ob die Nominierungsrede eher Sorenson entsprach als Dukakis oder ob sie womöglich absichtlich so frisiert worden war, daß sie einen niedrigeren Pessrum-Wert aufwies. Er wartete gespannt auf die erste Fernsehdiskussion.

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Bei den anderen vier Wahlen, bei denen die Kandidaten im Fernsehen miteinander diskutiert hatten, hatte jeweils derjenige den besseren Pessrum-Wert, der auch bei der Nominierungsrede besser abgeschnitten hatte. Aber diesmal war es anders. Es sah so aus, als sei Harolds Skepsis begründet. Dukakis fiel gegenüber der Nominierungsrede steil ab und kam wieder auf das Niveau der früheren Wahlreden. Bushs Werte blieben stabil; er legte nun wieder einen optimistischeren Stil an den Tag als Dukakis. Die Meinungsumfragen ergaben denn auch veränderte Ergebnisse. Bush war in Führung gegangen, und der Abstand wuchs. Die zweite Diskussion war eine Pessrum-Katastrophe für Dukakis. Und auch im restlichen Wahlkampf vergrößerte sich der Abstand zwischen den beiden Kandidaten: Bushs Wahlreden waren durchgängig optimistischer als die von Dukakis. Harold und ich hatten den Eindruck, daß Dukakis Anfang Oktober innerlich aufgab. Ende Oktober gaben wir die letzten Daten in unsere Gleichung ein und machten unsere abschließende Prognose: Bush würde mit 9,2 Prozent Vorsprung gewinnen. George Bush schlug Michael Dukakis im November mit 8,2 Prozent Vorsprung.

11.6 Die Senatswahlen im Jahre 1988 Auch 33 Senatssitze sollten neu besetzt werden. Für 29 von ihnen konnten wir Reden erhalten, die die beiden Bewerber im Laufe des Jahres gehalten hatten, überwiegend im Sommer und im Frühjahr. Es waren meistens Reden, die die Kandidaten gehalten hatten, als sie ihre Kandidatur bekanntgaben. Sie wurden lange vor dem Ende des Wahlkampfes verfaßt, daher konnten Unterschiede im Pessrum-Wert nicht auf einen unterschiedlichen Stand bei Meinungsumfragen zurückgeführt werden. Am Tag vor der Wahl machte Harold seine letzte Pessrum-Analyse der 29 Bewerber und schickte versiegelte Umschläge mit den Prognosen an mehrere zuverlässige Zeugen. Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl wurde schon früh bekannt. Aber für uns hielt die Spannung die ganze Nacht an. Schließlich stellten sich nicht nur 25 unserer 29 Prognosen als richtig heraus. Vielmehr hatten wir auch alle Wechsel und alle knappen Ergebnisse korrekt vorausgesagt, mit einer einzigen Ausnahme. Das also war unser Resultat. Auf nichts anderes als die Erklärungsmuster der Reden und die Anzahl grüblerischer Gedanken gestützt, hatten wir das Ergebnis der Vorwahlen für die Präsidentschaft, der Präsidentschaftswahlen und der Senatswahlen für 29 Sitze vorhersagen wollen. Bei den Vorwahlen gelang uns das vollkommen. Wir nannten die Sieger und Verlierer aller Parteien, lange bevor in den Meinungsumfragen ein Sieger genannt wurde. Die Prognose für die Präsidentschaftswahl war nicht eindeutig. Aber schließlich war Dukakis’ Rede nicht authentisch gewesen. Die Reden im Herbst ließen einen Sieg für Bush erwarten. Aber zu diesem Zeitpunkt war das eine weit verbreitete Erwartung. Bei den Senatswahlen erzielten wir eine zu 86 Prozent korrekte Prognose. Keine andere Vorhersage war so genau gewesen.

11.7 Erklärungsmuster über die Grenzen hinaus 1983 reiste ich nach München, um am Kongreß der Internationalen Gesellschaft zur Erforschung von Verhaltensentwicklung teilzunehmen. Am zweiten Tag kam ich mit einer lebhaften deutschen Studentin ins Gespräch, die sich einfach als »Ele« vorstellte. »Ich wollte Ihnen sagen, was mir einfiel, als Sie heute morgen über die CAVE-Technik referiert haben«, sagte sie. »Aber zuerst habe ich eine Frage. Glauben Sie, daß die Vorzüge des Optimismus und die Gefahren von Pessimismus und Hilflosigkeit universelle Gesetze der menschlichen Natur widerspiegeln, oder gelten sie nur in unserer Art von Gesellschaft, also der westlichen, zum Beispiel in Amerika oder in Westdeutschland?« 133

Das war eine gute Frage. Ich antwortete, daß ich mir oft selbst überlegte, ob unsere Beschäftigung mit Kontrolle und Optimismus durch die Werbung einerseits und die puritanische Ethik andererseits beeinflußt wurde. Depression scheint in nichtwestlichen Kulturen nirgendwo auch nur annähernd in dem epidemischen Ausmaß aufzutreten, das sie in den westlichen Industriestaaten erreicht. Vielleicht leiden die Menschen in Kulturen, die nicht so sehr vom Leistungszwang beherrscht werden wie die unsrige, weniger an den Folgen von Hilflosigkeit und Pessimismus. Beispiele aus dem Tierreich könnten aufschlußreich sein, erklärte ich Ele. Denn nicht nur westliche Männer und Frauen werden depressiv, wenn sie Vedust und Hilflosigkeit erfahren. Sowohl in der freien Natur als auch im Labor reagieren Tiere auf Hilflosigkeit mit Symptomen, die denen westlicher Menschen erstaunlich ähnlich sind. Schimpansen reagieren auf Tod, Ratten auf unvermeidliche Elektroschocks, Goldfische, Hunde und selbst Küchenschaben reagieren auf Mißerfolg ganz ähnlich wie wir. Meiner Vermutung nach hat in Kulturen, in denen die Menschen nicht mit Depression auf Verlust und Hilflosigkeit reagieren, das jahrtausendelange Erdulden unsäglicher Armut und einer hohen Kindersterblichkeit die natürliche Reaktion der Depression gelöscht. Ich fuhr fort: Das muß aber nicht heißen, daß Optimismus universell hilft. Betrachten Sie zum Beispiel den Erfolg bei der Arbeit und in der Politik. Optimismus hilft amerikanischen Versicherungsvertretern und Präsidentschaftskandidaten. Aber man kann sich nur schwer vorstellen, daß ein Engländer mit seiner Liebe zum Understatement positiv auf einen unverdrossen optimistischen Versicherungsvertreter reagiert. Oder daß ein spröder schwedischer Wähler einen Eisenhower wählt. Oder daß die Japaner jemandem wohlwollend begegnen, der seine Mißerfolge immer anderen zur Last legt. Der Ansatz des erlernten Optimismus muß daher an den Stil der entsprechenden Umgebung angepaßt werden. Leider ist noch nicht viel darüber geforscht worden, wie Optimismus in verschiedenen Kulturen wirkt. Aber sagen Sie mir jetzt doch bitte, was Ihnen eingefallen ist, als ich über die CAVE-Technik referierte?

»Ich glaube«, sagte Ele, »ich habe einen Weg gefunden, wie man feststellen kann, wieviel Hoffnung und Verzweiflung es in verschiedenen Kulturen und verschiedenen geschichtlichen Epochen gibt. Gibt es zum Beispiel so etwas wie nationale Erklärungsmuster, die Vorhersagen darüber ermöglichen, wie ein Volk auf eine Krise reagiert? Erklärungsmuster, die zeigen, ob eine bestimmte Regierungsform mehr Hoffnung erzeugt als eine andere?« Ich erwiderte, daß ihre Fragen großartig seien, aber leider kaum beantwortbar. Angenommen, man fände durch eine CAVE-Analyse von traditionellen Texten heraus, daß die Bulgaren bessere Erklärungsmuster haben als die Navajo-Indianer. Das Ergebnis wäre nicht interpretierbar. Die beiden Kulturen sind so verschieden, daß man die Unterschiede in den Erklärungsmustern mit tausend anderen Gründen erklären könnte und nicht nur mit einem unterschiedlichen Grad von Hoffnung und Verzweiflung. »Das ist richtig«, sagte Ele, »aber ich dachte eher an zwei ähnliche Kulturen, nämlich an Ost- und Westberlin. Sie liegen nahe beieinander, haben dasselbe Wetter, es wird derselbe Dialekt gesprochen, emotionale Wörter und Gesten bedeuten dasselbe, sie hatten bis 1945 dieselbe Geschichte. Erst seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gehören die beiden Stadtteile unterschiedlichen politischen Systemen an. Sie sind wie eineiige Zwillinge, die vierzig Jahre lang in getrennten Familien lebten. Ich glaube, daß sie einen perfekten Rahmen für die Frage bieten, ob sich das Ausmaß der Verzweiflung in verschiedenen politischen Systemen unterscheidet, wenn alle anderen Faktoren konstant sind.« Am nächsten Tag erfuhr ich, daß meine kreative Gesprächspartnerin Prinzessin Gabriele zu Oettingen-Oettingen und Oettingen-Spielberg war und als vielversprechende junge Wissenschaftlerin galt. 134

Bei einer Tasse Tee setzten wir später unser Gespräch fort. Ich war ebenfalls der Meinung, daß Unterschiede in den Erklärungsmustern von Ostberlinern und Westberlinern sinnvoll auf die Unterschiede zwischen dem kommunistischen und dem kapitalistischen System zurückgeführt werden könnten. Aber wie wollte sie an das Material herankommen, das sie für den Vergleich benötigte? Ich brauche dafür nur schriftliche Materialien aus beiden Stadtteilen, die gut vergleichbar sind. Sie müssen dieselben Ereignisse kommentieren. Und es sollten neutrale Ereignisse sein – nichts über Politik oder Wirtschaft oder psychische Gesundheit. In etwa vier Monaten finden in Jugoslawien die Olympischen Winterspiele statt. Sie werden in den Zeitungen von OstBerlin und West-Berlin gleichermaßen ausführlich kommentiert werden. Wie die meisten Sportberichte werden sie eine Menge Kausalaussagen von Sportlern und Reportern beinhalten, sowohl über die Siege als auch über die Niederlagen. Ich möchte sie mit der CAVE-Technik auswerten und herausfinden, welche Kultur pessimistischer ist. Auf diese Weise könnte man zeigen, daß der Grad der Hoffnung auch interkulturell verglichen werden kann.

Ich fragte sie nach ihren Prognosen. Sie sagte, sie erwarte, daß die Erklärungsmuster in der DDR zumindest in den Sportberichten optimistischer seien. Denn die DDR habe schon große olympische Erfolge erzielt, und die Zeitungen dort fungierten praktisch als Staatsorgane. Es sei Teil ihrer Aufgabe, die Stimmung hochzuhalten. Meine Prognose fiel anders aus, aber das behielt ich für mich. Wir blieben in Kontakt. Während der gesamten Olympischen Spiele kämmte Gabriele drei Westberliner und drei Ostberliner Zeitungen durch; sie exzerpierte und analysierte die Erklärungen für Erfolg und Mißerfolg. Sie fand 381 solche Begründungen. Hier einige Auszüge. Zuerst die optimistischen Erklärungen: ¾

Ein Eisschnelläufer konnte sein Tempo nicht halten, denn »an diesem Tag schien keine Morgensonne, die das Eis mit einem spiegelglatten Eisfilm überzieht«. (4)

¾

Ein Skiläufer stürzte, weil »eine Schneelawine von nahestehenden Bäumen den Sehschlitz des Helms zudeckte«. (4)

¾

Sportler hatten keine Angst, denn »wir wissen einfach, daß wir besser als unsere Konkurrenten sind«. (16)

Nun die pessimistischen Erklärungen: ¾

Die Katastrophe ereignete sich, weil »sie so schlecht in Form ist«. (17)

¾

»Er mußte die Tränen zurückhalten. Er hat die Hoffnung auf eine Medaille verloren.« (17)

¾

Er hatte Erfolg, weil »unsere Gegner die ganze Nacht vorher gefeiert haben«. (3)

Aber wer machte die optimistischen Aussagen und wer die pessimistischen? Die Antwort stellte für Gabriele eine Überraschung dar. Die Aussagen in der DDR-Presse waren viel pessimistischer als die in der westdeutschen Presse. Das war besonders bemerkenswert, weil die DDR bei den Spielen sehr gut abschnitt. Die DDR-Sportler gewannen 24 Medaillen, die der Bundesrepublik nur vier. Daher hatten die Ostberliner Zeitungen viel mehr positive Ereignisse zu berichten: Im Osten galten 61 Prozent der Erklärungen positiven Ereignissen, im Westen dagegen nur 47 Prozent. Dennoch war der Ton der Ostberliner Reportagen viel gedrückter als der in den Westberliner Zeitungen. »Die Ergebnisse haben mich überrascht«, erklärte mir Gabriele. »Und obwohl sie eindeutig sind, werde ich sie erst glauben, wenn ich noch einen anderen Weg gefunden habe, den Pessimismus der Ostberliner mit dem der Westberliner zu vergleichen.«

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Gabriele promovierte nicht in Psychologie, sondern in Humanethologie. Das ist ein Zweig der Verhaltensforschung, die wiederum zum Fach Biologie gehört. Verhaltensforscher beobachten Menschen in ihrer natürlichen Umgebung und notieren sehr detailliert, wie sie sich verhalten. Daher kam Gabriele auf den Gedanken, das Verhalten der Menschen in Kneipen in Ost- und West-Berlin zu beobachten und sorgfältig die Zeichen der Verzweiflung zu registrieren und zu vergleichen. Im Winter 1985 besuchte sie 31 Kneipen in Arbeitervierteln, 14 in West-Berlin und 17 in Ost-Berlin. Es waren Kneipen, die Arbeiter nach Feierabend aufsuchen. Sie lagen nahe beieinander, nur durch die Mauer getrennt. Gabriele machte alle Beobachtungen an fünf Werktagen einer einzigen Woche. Für ihre Arbeit setzte sie sich jeweils in eine stille Ecke der Kneipe, so unauffällig wie möglich. Dann wählte sie eine Gruppe von Gästen aus und notierte in Fünf-MinutenBlöcken, wie sie sich verhielten. Sie zählte alles, was irgend etwas mit Depression zu tun haben konnte: Lächeln, Lachen, Haltung, lebhafte Gesten und kleine Bewegungen wie Nägelkauen. Nach diesen Maßstäben betrachtet, waren die Ostberliner wiederum viel depressiver als die Westberliner. Von den Westberlinern lächelten 69 Prozent, dagegen nur 23 Prozent der Ostberliner. Von den Westberlinern saßen oder standen 50 Prozent aufrecht, dagegen nur 4 (!) Prozent der Ostberliner. 80 Prozent der Westberliner nahmen eine offene Haltung ein und wandten sich anderen zu, aber nur 7 (!) Prozent der Ostberliner. Westberliner lachten zwei- bis dreimal so häufig wie Ostberliner. Das sind deutliche Unterschiede, die zeigen, daß Ostberliner – nach zwei Maßstäben – mehr Verzweiflung ausdrücken als Westberliner. Die Ergebnisse zeigen allerdings nicht, was diesen Unterschied verursacht. Da die beiden Kulturen bis nach dem Zweiten Weltkrieg eine einzige Kultur waren, sagen diese Ergebnisse zwar etwas über das Maß der Hoffnung, das von zwei unterschiedlichen politischen Systemen erzeugt wird. Aber sie filtern nicht heraus, welcher Aspekt des Systems für die geringere Hoffnung maßgeblich ist. Wir wissen lediglich, daß heute ein Unterschied besteht und daß im Osten mehr Verzweiflung herrscht als im Westen. * * Bei der Fertigstellung dieses Manuskripts (im April 1990) frage ich mich, wie weit sich die Erklärungsmuster der Ostdeutschen im Laufe der letzten, bedeutsamen Monate verändert haben. Der Theorie nach hängen der Wiederaufbau und das materielle Gedeihen im Osten Deutschlands teilweise von den Erklärungsmustern ab. Sind diese inzwischen optimistisch geworden, ist die Zukunft von Ostdeutschland vielversprechend. Sind sie so pessimistisch geblieben, wie sie 1984 waren, werden die wirtschaftliche und seelische Erholung viel langsamer vor sich gehen, als allgemein erwartet wird. Ich wage eine Prognose: Die Veränderungen bei den Erklärungsmustern der Menschen in Ostdeutschland, der Tschechoslowakei, Rumänien, Polen, Ungarn und Bulgarien geben Hinweise darauf, wie erfolgreich diese Nationen ihre neugewonnene Freiheit nutzen werden.

Diese Ergebnisse zeigen uns aber noch etwas anderes: daß es jetzt eine neue Methode dafür gibt, das Ausmaß der Hoffnung und Verzweiflung in verschiedenen Kulturen zu messen. Damit konnte Gabriele Oettingen einen Vergleich anstellen, den andere Wissenschaftler für unmöglich gehalten hatten.65

11.8

Religion und Optimismus

Viele Menschen sind überzeugt, Religion führe zur Hoffnung und ermögliche es ihnen, besser mit der Mühsal dieser Welt fertig zu werden. Organisierte Religionen nähren den Glauben, daß das Leben mehr Gutes birgt, als auf den ersten Blick sichtbar wird. Das Scheitern von Individuen wird durch die Überzeugung aufgefangen, Teil eines viel größeren Ganzen zu sein. Die lindernde Wirkung dieser Überzeugung tritt unabhängig davon ein, ob man konkret auf die ewige Seligkeit hofft oder den abstrakten Glauben hat, man sei ein Teil von Gottes Plan oder ein Glied in der Evolutionskette. Dies wird durch die Ergebnisse der Depressionsforschung bestätigt. 136

Der Londoner Soziologe George Brown, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, depressive Hausfrauen zu interviewen, führte auch Untersuchungen auf den Äußeren Hebriden (Großbritannien) durch. Dabei stellte er fest, daß treue Kirchgänger weniger depressiv sind als Menschen, die nicht in die Kirche gehen. Erfüllen manche Religionen ihre Gläubigen mit mehr Hoffnung als andere? Diese Frage stellte sich 1986, als Gabriele Oettingen mit einem Postgraduiertenstipendium an die Penn kam. Sie war überzeugt, daß der Vergleich zwischen zwei Religionen im Prinzip ebenso möglich sein müßte wie der Vergleich zweier Kulturen. Die Schwierigkeit bestand darin, zwei geeignete Religionen zu finden, die räumlich und zeitlich nah beieinander liegen. Eines Tages sprach eine junge Historikerin und Soziologin namens Eva Morawska in unserem Seminar über Hilflosigkeit bei russischen Juden und russischen Slawen im 19. Jahrhundert. Eva Morawska legte Materialien vor, aus denen hervorging, daß die Juden angesichts bedrückender Lebensumstände viel weniger hilflos waren als die Slawen. Warum waren die Juden fähig, sich aufzuraffen und auszuwandern, als die Lage unerträglich wurde, die Slawen hingegen nicht? Beide Gruppen lebten unter enormem Druck. Die bäuerlichen Slawen lebten in bitterster Armut, einer Armut, die in Amerika unvorstellbar ist. Die Juden waren arm und wurden zudem religiös verfolgt, sie waren stets von Pogromen bedroht. Und doch emigrierten nur die Juden, während die Slawen dortblieben. »Vielleicht fühlten sich die russisch-orthodoxen Slawen hilfloser und hoffnungsloser als die Juden«, meinte Eva. »Vielleicht erfüllen die beiden Religionen ihre Gläubigen mit unterschiedlich viel Optimismus. Könnte es sein, daß die russisch-orthodoxe Kirche eine pessimistischere Religion predigt als das Judentum?« Die beiden Kulturen lebten in vielen russischen Dörfern Seite an Seite, daher kann man ihre Erklärungsmuster direkt anhand ihrer Gebete, Märchen und überlieferten Erzählungen vergleichen. Hatten die Botschaften, die die Slawen und die Juden täglich hörten, einen unterschiedlichen Klang? Bald arbeiteten Gabriele Oettingen und Eva Morawska zusammen. Mit Hilfe eines russisch-orthodoxen Priesters stellte Eva umfangreiches Textmaterial aus dem religiösen und dem weltlichen Bereich beider Kulturen zusammen: die tägliche Liturgie, fromme Erzählungen, Märchen, Lieder und Sprichwörter. Diese Texte wurden erzählt, gesungen und spontan im Alltag beider Kulturen verwendet. Sie mußten die Erklärungsmuster stark beeinflussen. Gabriele wertete das gesamte Material mit der CAVE-Technik aus. Die weltlichen Texte ließen keinen Unterschied zwischen den beiden Kulturen erkennen, wohl aber die religiösen. Die religiösen Texte der Juden waren erheblich optimistischer als die der russisch-orthodoxen Bevölkerung. Der Unterschied betraf vor allem die Dimension der Dauerhaftigkeit. Bei den Juden wurden positive Ereignisse auf einen längeren Zeitraum projiziert – Schönes hielt länger an –, während negative Ereignisse verkürzt wurden. Die beiden Wissenschaftlerinnen wiesen nach, daß das russische Judentum in seinen Geschichten und Gebeten optimistischer war als die russisch-orthodoxe Kirche. Man kann nur spekulieren, ob die Ursache für die Emigration der Juden und das Ausharren der slawischen Bauern darin lag, daß die Juden aus den religiösen Botschaften, die sie tagtäglich hörten, tropfenweise eine größere Hoffnung schöpften als die Slawen aus ihren Texten. Die Gründe dafür, daß Menschen emigrieren, sind hochkomplex. Aber hier wurde ein plausibler Grund sichtbar, der bislang noch nie in Betracht gezogen worden war. Die Überprüfung dieser These erfordert erfinderische historische und psychologische Forschungsarbeit. Aber zumindest liegt nun eine neue Methode dafür vor, wie man das Ausmaß der Hoffnung vergleichen kann, das zwei Religionen erzeugen.

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11.9 Noch einmal »Psychogeschichte« Das ist immerhin ein Anfang. Was bisher als »Psychogeschichte« (Psychohistory) bezeichnet wurde, ist meilenweit von dem entfernt, was die Romanfigur Hari Selden akzeptiert hätte. Es gab keine Prognosen, sondern nur nachträgliche Erklärungen. Es wurden lediglich einzelne Lebensläufe rekonstruiert, nicht die Handlungen von Gruppen. Die verwendeten psychologischen Prinzipien waren fragwürdig, Statistiken fehlten ganz. Wir haben das alles auf eine völlig neue Grundlage gestellt. Wir versuchen große Ereignisse vorauszusagen, ehe sie eintreten. Wenn wir nachträglich erklären, schummeln wir nicht, sondern arbeiten blind. Wir berücksichtigen bei unseren Prognosen die Handlungen großer Gruppen – Wähler bei politischen Wahlen, Emigranten – in großem Maßstab. Wir arbeiten nach fundierten psychologischen Prinzipien und nach erprobten statistischen Methoden. Aber wir stehen noch am Anfang. Es sieht so aus, als müßten sich Psychologen in Zukunft nicht auf fragwürdige Laboruntersuchungen oder teure Langzeitstudien beschränken, um ihre Theorien zu überprüfen. Historische Dokumente können fruchtbare Materialien für Tests sein; Prognosen können ein sehr überzeugender Weg sein, Theorien zu überprüfen. Hari Selden wäre bestimmt stolz auf uns gewesen.

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Teil 3: Veränderung: Vom Pessimismus zum Optimismus 12

Das optimistische Leben

Der Optimist erlebt ebenso viele Niederlagen und Tragödien wie der Pessimist, aber er bewältigt sie besser. Wie wir dargestellt haben, rappelt sich der Optimist nach einem Mißerfolg wieder auf, akzeptiert den erlittenen Verlust und beginnt noch einmal von vorne. Der Pessimist gibt auf und versinkt in Depression. Aufgrund seiner Widerstandskraft erreicht der Optimist bei der Arbeit, in der Schule und auf dem Sportplatz mehr. Er ist körperlich gesünder und lebt möglicherweise auch länger. Die Amerikaner wollen von optimistischen Politikern geführt werden. Optimisten gelingt es, trotz der Widrigkeiten des Alltags immer auf der Lichtseite zu leben. Der Pessimist verbringt sein Leben auf der Schattenseite, und selbst in seinen glücklichsten Momenten verfolgt ihn die Angst vor der Katastrophe. Für Pessimisten sind dies schlechte Nachrichten. Die gute Nachricht ist, daß Pessimisten die Techniken des Optimismus lernen und damit die Qualität ihres Lebens dauerhaft verbessern können. Sogar für Optimisten ist es ein Vorteil zu lernen, sich zu ändern. Beinahe alle Optimisten erleben auch Zeiten, in denen sie zumindest leicht pessimistisch sind; Optimisten können die Techniken, die den Pessimisten nützen, ebenfalls anwenden, wenn sie niedergeschlagen sind. Manchem unter den Lesern dieses Buches mag gar nichts daran gelegen sein, den Pessimismus aufzugeben und optimistischer zu werden. Er stellt sich vielleicht unter einem Optimisten eine unerträgliche Nervensäge vor, einen Wichtigtuer, einen chronischen Drückeberger, der nie die Verantwortung für seine eigenen Fehler übernimmt. Aber weder Optimisten noch Pessimisten sind gegen schlechte Manieren gefeit. In diesem Kapitel erfahren Sie, daß man als Optimist nicht unbedingt selbstsüchtiger werden und selbstbewußter auftreten oder sich anderen gegenüber arrogant verhalten muß. Optimist zu sein heißt vielmehr, eine Reihe von Techniken zu lernen, die Ihre Selbstgespräche bei persönlichen Mißerfolgen betreffen. Sie werden lernen, sich selbst bei Ihren Niederlagen mehr Mut zuzusprechen. Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, daß es Ihnen nicht erstrebenswert erscheinen mag, die Techniken des Optimismus zu erlernen. In Kapitel sechs haben wir Optimismus und Pessimismus einander gegenübergestellt. Während der Optimismus in vielen Situationen die Vorteile mit sich brachte, die zu Beginn dieses Kapitels aufgeführt sind, hatte auch der Pessimismus einen Vorzug: Er förderte eine schärfere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Müssen wir diesen Realismus opfern, wenn wir die Techniken des Optimismus lernen? Das ist eine weitreichende Frage, die verlangt, unsere Zielsetzung in diesem Kapitel über Veränderung genauer einzugrenzen. Ich predige hier keinen absoluten, bedingungslosen Optimismus, den Sie blindlings in allen Lebenslagen anwenden sollten, sondern biete das Konzept eines flexiblen Optimismus an. In diesen Kapiteln verfolge ich das Ziel, Ihnen mehr Kontrolle darüber zu geben, wie Sie über unangenehme Ereignisse 139

denken. Wenn Sie ein Mensch mit negativen Erklärungsmustern sind, müssen Sie nicht länger unter der Tyrannei des Pessimismus leben. Wenn Ihnen ein Mißgeschick zustößt, müssen Sie es nicht mehr als absolut dauerhaft, allumfassend und persönlich betrachten und all die unangenehmen Folgen tragen, die pessimistische Erklärungsmuster mit sich bringen. Diese Kapitel werden Ihnen eine Entscheidung darüber ermöglichen, wie Sie Ihre Niederlagen betrachten. Darüber hinaus werden Ihnen Alternativen zu einem sklavenhaft blinden Optimismus eröffnet.

12.1

Richtlinien für den Gebrauch des Optimismus

Ihr Ergebnis bei dem Test in Kapitel drei gibt den Ausschlag dafür, ob Sie diese Techniken dringend lernen müssen oder nicht. Wenn Ihr Wert für g-s (Ihr Gesamtwert) niedriger als 8 war, werden Sie aus den Kapiteln über Veränderung einen Nutzen ziehen. Je weiter der Wert unter 8 lag, desto größer wird Ihr Nutzen sein. Selbst wenn Ihr Wert über 8 lag, sollten Sie sich die folgenden Fragen stellen. Wenn Sie auch nur eine einzige mit ja beantworten, können auch Sie von diesen Kapiteln profitieren. ¾

Lassen Sie sich leicht entmutigen?

¾

Werden Sie häufiger depressiv, als Ihnen lieb ist?

¾

Erleben Sie mehr Mißerfolge, als Ihrer Meinung nach eintreten müßten?

In welchen Situationen sollten Sie die Techniken zur Veränderung der Erklärungsmuster anwenden, die in diesen Kapiteln dargestellt werden? Fragen Sie sich zuerst, was Sie in der jeweiligen Situation erreichen möchten. ¾

Wenn es eine Situation ist, in der es um Leistung geht (eine Beförderung erreichen, ein Produkt verkaufen, einen schwierigen Bericht schreiben, ein Spiel gewinnen), dann setzen Sie Optimismus ein.

¾

Wenn Sie sich Sorgen um Ihr Wohlbefinden machen (wenn Sie eine Depression abschütteln oder Ihre Stimmung heben wollen), setzen Sie Optimismus ein.

¾

Wenn sich die gegenwärtige Lage längere Zeit nicht bessert und Ihre Gesundheit auf dem Spiel steht, setzen Sie Optimismus ein.

¾

Wenn Sie andere führen oder inspirieren wollen, wenn Sie gewählt werden wollen, setzen Sie Optimismus ein.

Andererseits gibt es Situationen, in denen es besser ist, diese Techniken nicht anzuwenden. ¾

Wenn Sie das Ziel verfolgen, Pläne für eine unsichere und ungewisse Zukunft zu schmieden, setzen Sie keinen Optimismus ein.

¾

Wenn Sie andere beraten wollen, deren Zukunft ungewiß ist, setzen Sie keinen Optimismus ein.

¾

Wenn Sie Mitgefühl für die Sorgen anderer zeigen möchten, tragen Sie anfangs keinen Optimismus zur Schau; allerdings kann er später, wenn Vertrauen und Einklang hergestellt sind, durchaus helfen.

Als oberste Richtlinie, wann man keinen Optimismus einsetzen sollte, gilt die Frage, welchen Preis das Scheitern in einer bestimmten Situation hat. Ist der Preis hoch, so ist der Einsatz von Optimismus die falsche Strategie. Die folgenden Beispiele zeigen, wann Optimismus unangebracht ist: ¾

Wenn ein Pilot vor der Frage steht, ob er das Flugzeug noch einmal enteisen soll.

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¾

Wenn ein Partygast überlegt, ob er sich nach einigen Drinks noch ans Steuer seines Autos setzen soll.

¾

Wenn ein frustrierter Ehepartner überlegt, ob er eine Affäre anfangen soll, deren Entdeckung ein Auseinanderbrechen der Ehe zur Folge hätte.

In diesen Fällen wäre der Preis des Scheiterns der Tod, die Gefahr eines Unfalls, die Scheidung. Es wäre unverantwortlich, Techniken einzusetzen, die diese Gefahren herunterspielen. Wenn andererseits der Preis für das Scheitern niedrig ist, setzen Sie Optimismus ein. Ein Versicherungsvertreter, der überlegt, ob er noch einen Anruf tätigen soll, wird nur etwas Zeit verlieren, wenn er scheitert. Ein schüchterner Jüngling, der sich fragt, ob er ein Mädchen ansprechen soll, riskiert lediglich eine Ablehnung. Ein Teenager, der in Erwägung zieht, eine neue Sportart zu erlernen, riskiert lediglich Frustration. Ein verärgerter Angestellter, der bei der Beförderung übergangen wurde, riskiert lediglich ein paar Absagen, wenn er sich nach einer neuen Stelle umsieht. Sie alle sollten Optimismus einsetzen. In diesem Kapitel zwölf nenne ich Ihnen die grundlegenden Prinzipien dafür, wie Sie im Alltagsleben vom Pessimismus zum Optimismus gelangen können. Im Gegensatz zu den Techniken der meisten anderen Selbsthilfeangebote – die auf einem gerüttelten Maß klinischer Legenden beruhen, aber häufig nur ein winziges Körnchen echter Forschung enthalten – wurden die hier vorgestellten Techniken in gründlicher Forschungsarbeit erprobt. Tausende von Erwachsenen haben sie angewendet, um ihre Erklärungsmuster dauerhaft zu verändern. Ich habe die drei Kapitel zum Thema Veränderung so angelegt, daß jedes für sich allein stehen kann. Dieses Kapitel bezieht sich auf alle Bereiche des Erwachsenenlebens – mit Ausnahme der Arbeit. Das nächste Kapitel ist für Kinder. Das 14. Kapitel beschäftigt sich mit der Arbeit. In allen diesen Kapiteln werden im wesentlichen dieselben Techniken für das Erlernen des Optimismus in verschiedenen Bereichen vorgestellt; sie weisen daher ein gewisses Maß an Wiederholungen auf. Wenn Sie sich nur für eines der genannten Themen interessieren, ist es nicht unbedingt erforderlich, die anderen beiden Kapitel zu lesen.

12.2 Das ABC der Reaktionen Katie hatte zwei Wochen lang eine strenge Diät eingehalten. Nun jedoch ging sie mit Freunden aus, um etwas zu trinken. Doch dann naschte sie von den Pommes frites und den Hähnchenschlegeln, die die anderen bestellt hatten. Sofort hatte sie das Gefühl, ihre ganze Diät »ruiniert« zu haben. Sie dachte: Mein Gott, Katie! Jetzt ist meine ganze Diät umsonst gewesen. Was bin ich doch für ein Waschlappen! Ich kann nicht mal mit ein paar Freunden in ein Lokal gehen, ohne mich gleich vollzustopfen. Die müssen mich wirklich für dumm halten. Zwei Wochen Diät sind jetzt für die Katz, da kann ich mich genausogut auch gleich richtig vollfressen. Im Kühlschrank steht auch noch ein Stück Torte.

Katie holt das restliche Stück Cremetorte aus dem Kühlschrank und ißt danach noch ein Sahneeis mit heißer Schokoladensoße. Ihre Diät, die sie bis dahin sorgfältig eingehalten hatte, ist jetzt wirklich in Gefahr. Dabei ist der Zusammenhang zwischen Katies Naschen im Lokal und dem wirklichen Überfressen zu Hause keineswegs zwingend. Die Verbindung kommt erst durch ihre Erklärung für das Naschen zustande: »Ich bin so ein Waschlappen.« – »Meine ganze Diät ist umsonst gewesen.« Tatsächlich war ihre Diät überhaupt nicht umsonst gewesen, ehe Katie nicht eine dauerhafte, globale und personalisierte Erklärung einführte. Erst dann gab sie auf. 141

Hätte Katie ihre erste, automatische Erklärung in Frage gestellt, hätte das Naschen von ein paar Pommes frites ganz andere Folgen gehabt. Sie hätte sich auch sagen können: Immer mit der Ruhe, Katie. Erstens habe ich mich in dem Lokal nicht vollgestopft. Ich habe zwei Gläser Bier getrunken, zwei Hähnchenschlegel und eine Handvoll Pommes frites gegessen. Dafür habe ich sonst nichts zu Abend gegessen, also habe ich wahrscheinlich nur ein paar Kalorien mehr zu mir genommen, als mein Diätplan erlaubt. Und wenn ich an einem einzigen Abend einmal nicht stramm meine Diät einhalte, bin ich nicht gleich ein Waschlappen. Niemand wird mich deshalb für dumm halten. Wahrscheinlich hat sich sowieso niemand darum gekümmert, wieviel ich gegessen habe, ein paar Leute haben sogar gesagt, ich wäre schlanker geworden. Auch wenn ich ein paar Sachen gegessen habe, die ich nicht hätte essen sollen, so heißt das noch nicht, daß ich jetzt munter so weitermachen und mit der Diät gleich ganz aufhören soll. Das ist Unsinn. Am besten halte ich den Schaden so gering wie möglich, verzeihe mir, daß ich einen kleinen Fehler gemacht habe, und führe meine Diät genauso streng weiter wie in den letzten beiden Wochen.

Es ist eine Frage des ABC der Reaktionen:* Wenn wir auf »Adversity« (Not, Unglück, negative Ereignisse) stoßen, dann denken wir zunächst darüber nach. Unsere Gedanken verfestigen sich schnell zu »Beliefs« (Glaubenssätze, Überzeugungen). Diese Überzeugungen können so sehr zur Gewohnheit werden, daß wir sie gar nicht mehr bemerken, wenn wir nicht innehalten und uns auf sie konzentrieren. Und sie sind nicht einfach nur da, sondern sie haben »Consequences« (Konsequenzen). Die Überzeugungen sind die direkten Ursachen unserer Gefühle und unserer nächsten Handlungsschritte. Sie können den Unterschied zwischen Mutlosigkeit und Resignation einerseits und Wohlbefinden und konstruktiven Handlungen andererseits ausmachen. * In den Kapiteln über Veränderung benütze ich das ABC-Modell, das von dem Psychologen Albert Ellis entwickelt wurde.

Wir haben im Verlauf dieses Buches immer wieder gesehen, daß bestimmte Arten von Überzeugungen (B) die Reaktion des Aufgebens auslösen. Ich werde Ihnen jetzt zeigen, wie Sie diesen Teufelskreis durchbrechen können. Der erste Schritt besteht darin, den Zusammenhang zwischen negativem Ereignis (A), Überzeugung (B) und Konsequenz (C) zu erkennen. Der zweite Schritt besteht in der Erkenntnis, wie diese Kette von Reaktionen in Ihrem eigenen Alltagsleben wirkt. Diese Techniken sind Teil eines Kurses, den zwei der weltweit führenden kognitiven Therapeuten – Dr. Steven Hollon, Professor für Psychologie an der Vanderbilt University und Herausgeber einer wichtigen Zeitschrift für dieses Gebiet, und Dr. Arthur Freeman, Professor für Psychiatrie am New Jersey College of Medicine –in Zusammenarbeit mit mir entwickelt haben, um die Erklärungsmuster normaler Menschen zu ändern.66 Sie sollen nun lernen, einige ABC-Ketten zu identifizieren. Auf diese Weise werden Sie erkennen, wie sie funktionieren. Ich werde das negative Ereignis (A) und entweder die Überzeugung (B) oder die Konsequenz (C) vorgeben, während Sie das fehlende Glied einsetzen.

142

12.3 Die Identifizierung von ABC-Ketten 1.

A B C

Jemand fährt in eine Parklücke, die Sie gerade ansteuern wollten. Sie denken ........................................................................................................ Sie werden wütend, kurbeln die Scheibe herunter und brüllen den Fahrer oder die Fahrerin des anderen Autos an.

2.

A Sie schreien Ihre Kinder an, weil sie ihre Hausaufgaben nicht machen wollen. B Sie denken: »Ich bin eine Rabenmutter.« C Sie fühlen (oder machen) .................................................................................

3.

A Ihre beste Freundin hat Ihre Anrufe nicht erwidert. B Sie denken ........................................................................................................ C Sie sind den ganzen Tag deprimiert.

4.

A Ihre beste Freundin hat Ihre Anrufe nicht erwidert. B Sie denken ........................................................................................................ C Sie fühlen sich deshalb nicht elend und gehen gelassen den Aufgaben des Tages nach.

5

Sie haben Streit mit Ihrem Ehepartner. A Sie denken: »Ich mache nie etwas richtig.« B Sie fühlen (oder machen) .................................................................................

6

Sie haben Streit mit Ihrem Ehepartner. A denken: »Er/Sie war schrecklich schlechter Laune.« B Sie fühlen (oder machen) .................................................................................

7

Sie haben Streit mit Ihrem Ehepartner. A Sie denken: »Ich kann Mißverständnisse immer gut klären.« B Sie fühlen (oder machen) .................................................................................

Jetzt wollen wir diese sieben Situationen näher analysieren und der Frage nachgehen, wie die einzelnen Elemente einander beeinflussen. 1.

Im ersten Beispiel wurde Ihr Ärger durch den Gedanken ausgelöst, übervorteilt zu werden: »Dieser Fahrer hat mir meinen Parkplatz weggenommen. Das war unverschämt und egoistisch.«

2.

Wenn Sie sich Ihre Grobheit gegenüber den Kindern damit erklären, daß Sie sich als Rabenmutter bezeichnen, so werden Sie traurig und haben dann keine Energie mehr, die Kinder zu ihren Hausaufgaben zu bewegen. Erklären wir negative Ereignisse mit dauerhaften, globalen und persönlichen Eigenschaften, dann folgen daraus Niedergeschlagenheit und Resignation. Je dauerhafter die Eigenschaft, desto länger bleiben Sie niedergeschlagen.

3.

und 4. Das können Sie deutlich sehen, wenn Ihre beste Freundin Ihre Anrufe nicht erwidert. Wenn Sie eine dauerhafte und allumfassende Erklärung dafür finden, wie etwa: »Ich denke immer nur an mich und nie an die anderen. Kein Wunder ...«, dann werden Sie depressiv. Wenn Sie aber eine zeitweilige, spezifische und externale Erklärung finden, wird es Sie nicht stören. Sie sagen sich dann etwa: »Sie macht diese Woche viele Überstunden« oder »Sie ist zur Zeit nicht so gut drauf«.

5.

6. und 7. Wenn Sie sich mit Ihrem Ehepartner streiten und denken: »Ich mache nie etwas richtig« (dauerhaft, global und persönlich), so werden Sie depressiv. Dann werden Sie auch nichts unternehmen, um die Kluft zu ihm/ihr zu überbrükken. Denken Sie: »Er/sie war schrecklich schlechter Laune« (zeitweilig und external), dann werden Sie etwas Ärger, wenig Niedergeschlagenheit und nur zeitweilige Lähmung verspüren. Wenn die Stimmung sich bessert, unternehmen Sie ver143

mutlich etwas, um sich wieder zu versöhnen. Denken Sie: »Ich kann Mißverständnisse immer gut klären«, dann werden Sie eine Versöhnung herbeiführen und sich bald wieder recht gut und energiegeladen fühlen.

12.4 Ihre ABC-Liste Sie können herausfinden, wie diese ABC-Kette in Ihrem Alltag wirkt. Dazu müssen Sie in den nächsten ein bis zwei Tagen ein ABC-Tagebuch führen, jedenfalls aber so lange, bis Sie fünf ABC-Folgen aus Ihrem eigenen Leben notiert haben. Blenden Sie sich in den ständigen Dialog ein, der in Ihrem Kopf stattfindet und den Sie normalerweise nicht beachten. Es geht darum, die Verbindung zwischen einem bestimmten negativen Ereignis (A) – es kann sich auch um etwas sehr Geringfügiges handeln – und einem daraus entstehenden Gefühl zu bemerken. Sie könnten zum Beispiel mit einer Freundin telefonieren, die es sehr eilig zu haben scheint, das Gespräch zu beenden (für Sie ein geringfügiges, aber schmerzhaftes Erlebnis). Sie merken, daß Sie traurig werden (das ist das daraus entstandene Gefühl). Diese kleine Episode wird in Ihre ABC-Liste eingetragen. Sie notieren drei Punkte: Das negative Ereignis (A) kann beinahe alles sein – ein tropfender Wasserhahn, das Stirnrunzeln einer Freundin, ein schreiendes Baby, das Sie nicht beruhigen können, eine hohe Rechnung, eine Unaufmerksamkeit Ihres Partners. Seien Sie objektiv. Schreiben Sie auf, was wirklich geschah, und nicht Ihre Beurteilung des Geschehens. Wenn Sie einen Streit mit Ihrem Partner hatten, können Sie notieren, daß sie oder er über etwas unglücklich war, was Sie gesagt oder getan haben. Aber schreiben Sie nicht: »Sie war unfair.« Das ist eine Schlußfolgerung, die eher zum zweiten Punkt gehört: Überzeugung. Mit Überzeugung (B) ist Ihre Interpretation des negativen Ereignisses gemeint. Trennen Sie die Gedanken säuberlich von den Gefühlen (die Gefühle kommen unter Konsequenzen). »Jetzt ist meine ganze Diät umsonst gewesen« und »Ich bin ein Waschlappen« sind Überzeugungen. Die Richtigkeit dieser Aussagen kann nachgeprüft werden. Aber »Ich bin traurig« drückt ein Gefühl aus. Es ist sinnlos, die Richtigkeit dieser Aussage nachprüfen zu wollen; man ist entweder traurig oder nicht traurig. Konsequenzen (C): An dritter Stelle halten Sie jeweils fest, was Sie gefühlt oder gemacht haben. Fühlten Sie sich traurig, ängstlich, froh, schuldig? Oft werden Sie mehr als ein Gefühl verspürt haben. Schreiben Sie alle Empfindungen auf, die Ihnen bewußt werden. Was haben Sie dann gemacht? »Ich hatte keine Energie«, »Ich überlegte, wie ich sie dazu bringen könnte, sich zu entschuldigen«, »Ich ging wieder ins Bett« usw. sind Folgehandlungen. Ehe Sie damit anfangen, möchte ich Ihnen noch ein paar nützliche Beispiele geben, was Ihnen dabei zustoßen könnte. Negatives Ereignis (A): Mein Mann sollte die Kinder baden und ins Bett bringen, aber als ich von meiner Versammlung nach Hause kam, saßen alle vor dem Fernseher. Überzeugung (B): Warum kann er nicht machen, was ich ihm sage? Ist es denn so viel verlangt, sie zu baden und ins Bett zu bringen? Jetzt muß ich wieder als Spielverderber auftreten, wenn ich ihrem Vergnügen ein Ende mache. Konsequenz (C): Ich war wirklich wütend auf Jack und habe sofort losgebrüllt, ohne ihm die Chance zu geben, mir etwas zu erklären. Ich ging ins Zimmer und schaltete den Fernseher aus, ohne überhaupt »Hallo« zu sagen. Ich war wirklich die Spielverderberin. Negatives Ereignis (A): Ich kam früher von der Arbeit nach Hause und überraschte meinen Sohn und seine Freunde dabei, wie sie in der Garage Marihuana rauchten.

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Überzeugung (B): Was glaubt er denn eigentlich? Ich bringe ihn um! Da sieht man mal wieder, wie verantwortungslos er ist. Ich kann ihm überhaupt nicht vertrauen. Er tischt mir eine Lüge nach der anderen auf. Konsequenz (C): Ich war außer mir und war wütend auf ihn und auf meine Frau. Ich habe mich strikt geweigert, über die Situation zu diskutieren. Ich habe ihm gesagt, er sei ein verantwortungsloser Nichtsnutz, und schäumte den ganzen Abend vor Wut. Negatives Ereignis (A): Ich habe einen Mann angerufen, an dem ich Interesse habe, und ihn zu einer Veranstaltung eingeladen. Er hat gesagt, das müßten wir leider auf ein andermal verschieben, denn er müsse sich auf eine Tagung vorbereiten. Überzeugung (B): Lieber Himmel, was für eine Entschuldigung! Er wollte nur meine Gefühle schonen. In Wahrheit will er einfach nichts mit mir zu tun haben. Aber was konnte ich denn anderes erwarten? Ich bin eben zu selbstsicher für ihn. Ich werde nie wieder jemanden zu einem gemeinsamen Unternehmen einladen. Konsequenz (C): Ich fühlte mich dumm, beschämt und häßlich. Statt jemand anderen einzuladen, mit mir zu der Veranstaltung zu gehen, habe ich meine Karten an Freunde verschenkt. Negatives Ereignis (A): Ich beschloß, einen Gymnastikkurs mitzumachen. Als ich ankam, sah ich nur straffe, durchtrainierte Figuren. Überzeugung (B): Was habe ich hier zu suchen? Verglichen mit all diesen Leuten sehe ich aus wie ein gestrandeter Walfisch! Ich sollte schnellstens wieder verschwinden, ehe ich mich blamiere. Konsequenz (C): Ich fühlte mich total befangen und ging nach einer Viertelstunde wieder weg. Jetzt sind Sie an der Reihe. Schreiben Sie in den nächsten beiden Tagen fünf ABCAbläufe aus Ihrem Alltag auf. Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ 145

______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Wenn Sie Ihre fünf ABC-Abläufe notiert haben, lesen Sie sie aufmerksam durch. Schauen Sie nach dem Zusammenhang zwischen Ihrer Überzeugung und den Konsequenzen. Sie werden sehen, daß pessimistische Erklärungen Passivität und Niedergeschlagenheit auslösen, während optimistische Erklärungen Ihnen Energie geben. Daraus folgt unmittelbar der nächste Schritt: Wenn Sie die Überzeugungen ändern, mit denen Sie gewohnheitsmäßig auf negative Ereignisse reagieren, dann können Sie gleichzeitig Ihre Reaktion auf negative Ereignisse ändern. Es gibt sehr zuverlässige Methoden, sich zu ändern.

12.5

Disput und Ablenkung

Mit Ihren pessimistischen Überzeugungen können Sie auf zwei verschiedene Weisen umgehen, wenn Sie sie erst einmal erkannt haben. Die erste Möglichkeit ist, sich einfach abzulenken, wenn diese Gedanken kommen – versuchen Sie, an etwas anderes zu denken. Die zweite Möglichkeit ist, diese Gedanken anzufechten, zu disputieren. Das Anfechten ist auf lange Sicht erfolgreicher, weil dadurch die Wahrscheinlichkeit sinkt, daß dieselben Überzeugungen wieder auftauchen, wenn sich die gleiche Situation wiederholt. Wir Menschen sind so geartet, daß wir über die guten und schlechten Dinge nachdenken, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und Forderungen an uns stellen. Das ist vom evolutionären Gesichtspunkt aus sehr sinnvoll. Wir würden nicht lange leben, wenn wir Gefahren und Bedürfnisse nicht sofort erkennen könnten und wenn wir uns nicht darüber Sorgen machten, wie wir mit ihnen umgehen. Gewohnheitsmäßig pessimistisches Denken geht aber noch einen verhängnisvollen Schritt weiter. Pessimistische Gedanken erregen nicht nur unsere Aufmerksamkeit, sondern sie gehen uns unablässig im Kopf herum. Es liegt in ihrer Natur, daß wir sie nicht vergessen können. Sie sind primitive, biologische Mahnrufe, die uns an Bedürfnisse und Gefahren erinnern. Die Evolution hat dafür gesorgt, daß diejenigen unserer Vorfahren eher überleben und sich fortpflanzen konnten, die sich Sorgen machten und Pläne entwarfen. Aber im modernen Leben können uns diese primitiven Überbleibsel im Weg stehen und unsere Leistungsfähigkeit und unser Gefühlsleben beeinträchtigen. Untersuchen wir den Unterschied zwischen Ablenkung und Disput.

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12.5.1 Ablenkung Sie sollen jetzt nicht an ein Stück ofenfrischen, noch warmen Apfelkuchen und auch nicht an süße, kühle Schlagsahne denken, die auf der Zunge zergeht und einen köstlichen Kontrast zu den säuerlichen Apfelstückchen bildet. Sie werden es wahrscheinlich fast unmöglich finden, nicht an den Kuchen zu denken. Aber Sie besitzen die Fähigkeit, Ihre Aufmerksamkeit abzulenken. Denken Sie noch einmal an den Apfelkuchen. Gut. Das Wasser läuft Ihnen im Mund zusammen. Jetzt stehen Sie auf, schlagen mit der flachen Hand an die Wand und rufen »STOP! Das Bild von dem Apfelkuchen ist weg, nicht wahr? Das ist eine von mehreren einfachen, aber höchst wirksamen Techniken, um Gedanken zu stoppen. Viele Menschen verwenden sie, um gewohnheitsmäßige Denkmuster zu durchbrechen. Andere läuten mit einer lauten Glocke, wieder andere tragen eine Karte bei sich, auf der in großen roten Buchstaben das Wort »STOP« steht. Viele Leute finden es nützlich, ein Gummiband um das Handgelenk zu tragen und es kräftig schnappen zu lassen, wenn sie sich vom Grübeln ablenken wollen. Wenn Sie eine dieser körperlichen Techniken mit einer Technik namens »Verschiebung der Aufmerksamkeit« kombinieren, erzielen Sie dauerhafte Ergebnisse. Sie können verhindern, daß Ihre Gedanken nach der Unterbrechung (mittels einer der genannten Methoden) zu Ihren negativen Überzeugungen zurückkehren, indem Sie sie nun woanders hinlenken. Schauspielern hilft dies, wenn sie plötzlich von einer Emotion auf eine andere umschalten müssen. Versuchen Sie es einmal so: Nehmen Sie einen kleinen Gegenstand in die Hand und schauen Sie ihn einige Sekunden lang aufmerksam an, befühlen Sie ihn, nehmen Sie ihn in den Mund und prüfen Sie seinen Geschmack, riechen Sie an ihm, beklopfen Sie ihn und hören Sie, wie er klingt. Sie werden feststellen, daß die Konzentration auf diesen Gegenstand die Verschiebung Ihrer Aufmerksamkeit intensiviert hat. Schließlich können Sie sich auch die Natur der grüblerischen Gedanken selbst zunutze machen und ihnen so den Boden entziehen. Diese Gedanken sind so beschaffen, daß sie Ihnen ständig im Kopf herumgehen; Sie sollen sie nicht vergessen dürfen und sich bei Ihrem Handeln nach ihnen richten. Wenn also ein negatives Ereignis eintritt, dann nehmen Sie sich eine Zeit vor – später –, in der Sie die Dinge durchdenken wollen, etwa heute abend um sechs Uhr. Wenn es Ihnen dann schwerfällt, nicht daran zu denken, können Sie sich sagen: »Stop. Darüber werde ich heute abend um sechs Uhr nachdenken.« Außerdem können Sie die belastenden Gedanken in dem Augenblick aufschreiben, in dem Sie Ihnen kommen. Die Kombination des Niederschreibens – um sie auszudrücken – und des Festsetzens einer späteren Zeit zum Nachdenken funktioniert gut. Sie nützt die Natur der grüblerischen Gedanken aus – Sie ständig an sie zu erinnern – und unterläuft sie dadurch. Wenn Sie die Gedanken aufschreiben und eine Zeit festsetzen, zu der Sie über sie nachdenken wollen, verlieren die Gedanken ihren Zweck ... und damit auch ihren Einfluß.

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12.5.2 Disput Als erste Hilfsmaßnahme kann es nützlich sein, unsere belastenden Gedanken auszuschalten oder unter ihnen wegzutauchen. Wenn wir aber eine tiefgreifendere, dauerhaftere Lösung erreichen wollen, müssen wir sie disputieren – wir müssen mit ihnen streiten, sie angreifen. Wenn Sie die Überzeugungen erfolgreich anfechten, die durch negative Ereignisse aktiviert werden, können Sie Ihre gewohnte Reaktion der Niedergeschlagenheit und Resignation in Aktivität und gute Stimmung umwandeln. Negatives Ereignis: Seit kurzem besuche ich nach der Arbeit einen Abendkurs, um einen akademischen Grad zu erwerben. Jetzt habe ich das Ergebnis meiner ersten Prüfung bekommen; es ist nicht halb so gut ausgefallen, wie ich erwartet hatte. Überzeugung: Was für schreckliche Noten, Judy! Ich war bestimmt die Schlechteste in der ganzen Klasse. Ich bin einfach dumm. Das ist alles. Ich muß es endlich einsehen, denn es ist die Wahrheit. Ich bin zu alt, um mit all diesen jungen Leuten konkurrieren zu können. Selbst wenn ich weitermache, wer wird dann eine zweiundvierzigjährige Frau einstellen, wenn er auch eine dreiundzwanzigjährige bekommen kann? Was habe ich mir nur gedacht, als ich mich für den Kurs eingeschrieben habe? Es ist einfach zu spät für mich. Konsequenzen: Ich fühlte mich völlig niedergeschlagen und nutzlos. Ich schämte mich, überhaupt einen Versuch gewagt zu haben, und beschloß, den Kurs abzubrechen und mich mit dem Job zufriedenzugeben, den ich habe. Disput: Ich übertreibe maßlos. Ich wollte nur die besten Noten haben und habe statt dessen eine Zwei plus, eine Zwei und eine Zwei minus bekommen. Das sind keine schlechten Noten. Vielleicht bin ich nicht die Beste in der Klasse, aber die Schlechteste bestimmt auch nicht. Ich habe es gesehen. Der Mann neben mir hatte zweimal eine Drei und eine Vier plus. Und daß ich nicht so gut war, wie ich wollte, liegt nicht an meinem Alter. Die Tatsache, daß ich vierzig bin, macht mich nicht dümmer als die anderen in der Klasse. Ein Grund für mein Abschneiden könnte sein, daß ich mich noch um alle möglichen anderen Dinge zu kümmern habe, die auch Zeit brauchen und mir wenig Zeit zum Lernen lassen. Ich habe eine Ganztagsstelle. Ich habe eine Familie. Ich finde, unter diesen Umständen habe ich bei der Prüfung recht gut abgeschnitten. Außerdem weiß ich jetzt besser, wieviel Arbeit ich zukünftig in mein Studium stecken muß, wenn ich noch besser werden will. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, mir über meine zukünftige Stelle Sorgen zu machen. Fast alle, die diesen Kurs erfolgreich abschließen, bekommen eine Stelle. Im Augenblick geht es nur darum, den Stoff zu lernen und meinen Magister zu machen. Anschließend kann ich mich darauf konzentrieren, eine bessere Stelle zu finden. Ergebnis: Ich hatte ein viel besseres Gefühl in bezug auf mich selbst und meine Prüfungen. Ich werde den Kurs nicht abbrechen, und ich lasse mich nicht von meinem Alter daran hindern, meine gewünschten Ziele zu erreichen. Ich fürchte noch immer, daß mein Alter ein Nachteil sein könnte, aber damit befasse ich mich erst, wenn es nötig wird. Judy hat ihre Überzeugungen in bezug auf ihre Noten effektiv angefochten. Dadurch hat sie ihr Gefühl der Verzweiflung in Hoffnung umgewandelt und sich auf der Handlungsebene zum Weitermachen statt zum Abbrechen entschlossen. Judy kennt schon einige Techniken, die Sie gleich lernen werden.

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12.5.3 Distanzierung Sie müssen erkennen, daß Ihre Überzeugungen nicht mehr als eben dieses sind – subjektive Überzeugungen. Sie können den Tatsachen entsprechen oder auch nicht. Überlegen Sie, wie Sie reagieren würden, wenn eine eifersüchtige Rivalin wütend rufen würde: »Du bist eine gräßliche Mutter! Du bist egoistisch, rücksichtslos und dumm!« Wahrscheinlich würden Sie dieser Anklage wenig Gewicht beimessen. Fühlten Sie sich aber betroffen, so würden Sie sich gegen die Beschuldigung zur Wehr setzen (entweder laut oder im stillen). Sie würden sich sagen: »Meine Kinder lieben mich. Ich verbringe unendlich viel Zeit mit ihnen. Ich bringe ihnen Algebra bei, spiele Fußball mit ihnen und zeige ihnen, wie sie sich in dieser rauhen Welt gut zurechtfinden können. Sie ist nur neidisch, weil ihre eigenen Kinder so schlecht geraten sind.« Wir können uns also mehr oder weniger gut von unbegründeten Vorwürfen anderer distanzieren. Aber es fällt uns sehr viel schwerer, uns von den Vorwürfen zu distanzieren, die wir uns selbst – jeden Tag – machen. Wenn wir selbst so über uns denken, dann muß es ja wohl stimmen. Falsch! Was wir uns selbst bei einem Mißerfolg sagen, kann ebenso unbegründet sein wie die Vorwürfe einer eifersüchtigen Rivalin. Unsere reflexhaften Erklärungen sind meistens Entstellungen. Sie sind nichts anderes als schlechte Denkgewohnheiten, die durch unangenehme Erfahrungen in der Vergangenheit zustande kamen – durch Kindheitskonflikte, durch strenge Eltern, durch einen überkritischen Lehrer, durch eine eifersüchtige große Schwester. Aber da sie aus uns selbst zu kommen scheinen, behandeln wir sie, als seien sie das Evangelium. Doch sie sind nur subjektive Überzeugungen. Wenn wir glauben, etwas sei so und nicht anders, muß es noch lange nicht so sein. Nur weil ein Mensch fürchtet, er würde nie eine Stelle bekommen, er sei nicht liebenswert oder völlig inkompetent, muß das keineswegs stimmen. Es ist außerordentlich wichtig, seine Überzeugungen für einen Augenblick zurückdrängen zu können – sich selbst von den eigenen pessimistischen Erklärungen zu distanzieren, zumindest so lange, bis man ihre Richtigkeit überprüft hat. Der Sinn des Disputierens besteht darin, die Richtigkeit reflexhafter Überzeugungen zu überprüfen. Der erste Schritt ist die Erkenntnis, daß Ihre Überzeugungen einer Überprüfung bedürfen. Der nächste Schritt besteht darin, den Disput durchzuführen.

12.6

Lernen, mit sich selbst zu disputieren

Zum Glück haben Sie bereits Ihr ganzes Leben lang Erfahrungen mit dem Disputieren gesammelt. Sie nützen die dadurch erworbenen Fähigkeiten, wann immer Sie mit anderen disputieren. Wenn Sie erst einmal angefangen haben, Ihre eigenen, unbegründeten Selbstvorwürfe anzufechten, werden sich Ihre bereits vorhandenen Fähigkeiten für diesen neuen Zweck einsetzen lassen. Damit Ihr Disput überzeugend wird, muß er vier wichtige Fragen beantworten: ¾ ¾ ¾ ¾

Beweise? Alternativen? Implikationen? Nutzen?

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12.6.1 Beweise Die überzeugendste Art, eine negative Überzeugung anzufechten, ist der Nachweis, daß sie faktisch falsch ist. In den meisten Fällen werden die Tatsachen für Sie sprechen, denn pessimistische Reaktionen auf negative Ereignisse sind sehr häufig Überreaktionen. Schlüpfen Sie in die Rolle eines Detektivs und fragen Sie sich: »Welche Beweise gibt es für diese Überzeugung?« Judy hat das getan. Sie glaubte, daß ihre »schrecklichen Noten« die »schlechtesten in der ganzen Klasse« seien. Sie prüfte diese Meinung nach und stellte fest, daß ihr Nebensitzer viel schlechtere Noten hatte als sie. Katie, die angeblich ihre Diät nicht durchgehalten hatte, hätte die Kalorien der Pommes frites, der Hähnchenschlegel und der zwei Gläser Bier zusammenzählen und dabei feststellen können, daß die Kalorienzahl die des Abendessens, das sie ausfallen ließ, kaum überstieg. Es ist wichtig, daß Sie den Unterschied zwischen diesem Ansatz und der sogenannten »Macht des positiven Denkens« erkennen. Positives Denken beinhaltet den Versuch, aufmunternden Aussagen zu glauben, für die es keine Beweise gibt oder die sogar den Tatsachen widersprechen, wie etwa: »Es geht mir jeden Tag in jeder Hinsicht besser und besser.« Wenn es Ihnen gelingt, diese Art von Aussage wirklich zu glauben, dann gewinnen Sie Kraft. Viele gebildete Menschen, die kritisches Denken gelernt haben, können mit solchen Energiespritzen nichts anfangen. Erlernter Optimismus hingegen verlangt genaues Denken. Wir haben festgestellt, daß die stete Wiederholung positiver Aussagen weder die Stimmung noch die Leistung sonderlich hebt, wenn überhaupt. Der kritische Punkt ist die Art, in der Sie mit negativen Aussagen umgehen. Meist sind die negativen Überzeugungen unrichtig, die durch Niederlagen wachgerufen werden. Die meisten Menschen neigen dann zum Katastrophendenken und sehen nur die schlimmsten Ursachen. Aus allen denkbaren Gründen wählen sie nur diejenigen mit den härtesten Folgen aus. Eine der wirksamsten Techniken beim Disputieren besteht darin, nach Beweisen zu suchen, die die Verzerrungen Ihrer katastrophalen Erklärungen sichtbar machen. Meist werden Sie die Realität auf Ihrer Seite haben. Erlernter Optimismus wirkt nicht durch unrealistische positive Annahmen über die Welt, sondern durch die Macht des »nicht negativen Denkens.«67

12.6.2 Alternativen Fast kein Ereignis, das Ihnen zustößt, hat eine einzige Ursache. Die meisten Ereignisse haben zahlreiche Gründe. Wenn Sie bei einem Test schlecht abgeschnitten haben, könnten dabei alle möglichen Gründe eine Rolle gespielt haben: wie schwer der Test war, wie intensiv Sie sich vorbereiteten, wie intelligent Sie sind, wie gerecht der Professor ist, wie gut die anderen Studenten sind, wie müde Sie waren. Pessimisten suchen sich mit Sicherheit die schlimmsten all dieser Gründe aus – die dauerhaften, globalen und persönlichen. Judy wählte: »Ich bin zu alt, um mit diesen jungen Leuten zu konkurrieren.« Auch hier haben Sie beim Disputieren meist die Wirklichkeit auf Ihrer Seite. Es gibt vielfältige Gründe, warum also suchen Sie sich die niederträchtigsten aus? Fragen Sie sich: »Könnte man diese Sache nicht auch weniger destruktiv betrachten?« Judy, die schon Erfahrung im Disputieren mit sich selbst hatte, kam leicht zu der Antwort: »Ich habe eine Ganztagsstelle und eine Familie.« Katie, die das Disputieren ebenfalls hervorragend erlernte, konnte später ihrer »Schwäche« entgegenhalten: »Schau, wie stark ich bin, daß ich diese Diät ganze zwei Wochen lang so streng eingehalten habe.«

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Wenn Sie Ihre eigenen Überzeugungen anfechten wollen, suchen Sie alle möglicherweise beteiligten Gründe. Konzentrieren Sie sich auf die veränderbaren (nicht genügend gelernt), spezifischen (dieser Test war außergewöhnlich schwer) und nichtpersönlichen Gründe (der Lehrer hat ungerechte Noten gegeben). Möglicherweise müssen Sie sich große Mühe geben, zu anderen Überzeugungen zu gelangen, und vielleicht müssen Sie Gründe finden, die Sie nicht unbedingt für zutreffend halten. Denken Sie daran, daß pessimistisches Denken häufig gerade im Gegenteil besteht, nämlich darin, daß man sich an den folgenschwersten Überzeugungen orientiert – nicht, weil die Beweise dafür sprechen, sondern gerade deshalb, weil sie so folgenschwer sind. Es ist Ihre Aufgabe, diese destruktive Gewohnheit dadurch aufzulösen, daß Sie sich darin üben, Alternativen zu finden.

12.6.3 Implikationen In dieser Welt werden Sie die Tatsachen nicht immer auf Ihrer Seite haben. Die Realität kann Ihnen entgegenstehen, und die negative Überzeugung, die Sie über sich selbst hegen, kann wahr sein. In dieser Situation verwenden Sie die Technik der KatastrophenBremse. »Gut«, sagen Sie dann zu sich selbst, »wenn es wirklich wahr ist, welche Implikationen hat das dann?« Judy war wirklich älter als die übrigen Studenten. Aber was folgt daraus? Es bedeutet nicht, daß Judy auch nur eine Spur weniger intelligent ist als die anderen, und es heißt bestimmt nicht, daß niemand ihr eine Stelle anbieten wird. Daß Katie ihre Diät einmal nicht durchhält, bedeutet nicht, daß sie ein unverbesserlicher Vielfraß ist, daß sie dumm ist und erst recht nicht, daß sie die Diät deswegen ganz aufgeben sollte. Sie sollten sich fragen: »Wie wahrscheinlich sind diese schrecklichen Implikationen?« Wie wahrscheinlich ist es, daß niemand Judy je eine Stelle anbieten wird, weil sie dreimal eine Zwei bekam? Bedeuten ein paar Pommes frites und zwei Hähnchenschlegel wirklich, daß Katie ein unverbesserlicher Vielfraß ist? Gehen Sie an dieser Stelle zurück zur ersten Technik: zu der Suche nach Beweisen. Wenn Sie sich fragen, ob die Implikationen wirklich so dramatisch sind, halten Sie gleichzeitig auch nach Beweisen Ausschau. Katie erinnerte sich an den Beweis, daß sie zwei ganze Wochen lang eine strenge Diät eingehalten hat – ein Zeichen, daß sie kein unverbesserlicher Vielfraß ist. Judy erinnerte sich, daß beinahe alle, die denselben Kurs mit dem Magister abgeschlossen hatten, gute Stellen bekommen hatten.

12.6.4 Nutzen Manchmal kommt es mehr auf die Konsequenzen einer bestimmten Überzeugung an als auf ihren Wahrheitsgehalt. Ist die Überzeugung destruktiv? Katies Überzeugung, daß sie ein unverbesserlicher Vielfraß sei, ist destruktiv, selbst wenn sie wahr wäre (was nicht der Fall war). Auf diese Weise wird sie die Diät bald ganz aufgeben. Manche Menschen verlieren die Fassung, wenn sich die Welt als ungerecht erweist. Wir können Mitgefühl für diese Reaktion aufbringen, aber die Enttäuschung über die Boshaftigkeit der Welt kann viel unnötigen Kummer verursachen. Welchen Nutzen habe ich davon, mir Gedanken darüber zu machen, daß die Welt gerecht sein sollte? Bei manchen Gelegenheiten ist es sehr nützlich, statt dessen den Alltagsgeschäften nachzugehen, ohne sich die Zeit zu nehmen, die Richtigkeit der eigenen Überzeugungen zu prüfen und zu disputieren. Ein Techniker, dessen Aufgabe es ist, Bomben zu entschärfen, denkt vielleicht: »Die Bombe könnte losgehen und mich töten« – mit dem Ergebnis, daß seine Hände zu zittern beginnen. In diesem Fall würde ich Ablenkung und nicht einen Disput empfehlen. Wann immer Sie einfach jetzt eine Aufgabe erfüllen müssen, ist Ab151

lenkung das beste Mittel. In diesem Augenblick geht es nicht um die Frage: »Ist diese Überzeugung richtig?« sondern: »Ist es nützlich, jetzt darüber nachzudenken?« Lautet die Antwort nein, dann verwenden Sie die Techniken zur Ablenkung (Stop! Legen Sie eine spätere Zeit für das Nachdenken fest. Notieren Sie Ihren Gedanken.) Eine weitere Taktik ist, detailliert über alle Möglichkeiten nachzudenken, wie man die Situation zukünftig ändern könnte. Ist die Situation veränderbar, selbst wenn die Überzeugung richtig ist? Wie können Sie die Veränderung angehen?

12.6.5 Ihre Disput-Liste Jetzt können Sie damit beginnen, Ihr ABCDE-Modell zu üben. Sie wissen bereits, wofür A, B und C stehen. D steht für Disput und Ablenkung (Distraction). E steht für Energieschub. Achten Sie bei den nächsten fünf negativen Ereignissen in Ihrem Alltag aufmerksam auf Ihre Überzeugungen. Beobachten Sie die Konsequenzen und disputieren Sie Ihre Überzeugungen nachdrücklich. Beobachten Sie dann den Energieschub, der eintritt, wenn Sie erfolgreich mit den negativen Überzeugungen streiten und wenn Sie all das aufzeichnen. Diese fünf negativen Ereignisse können geringfügig sein: Der Briefträger verspätet sich, jemand beantwortet einen Anruf nicht, der Sohn fährt zur Tankstelle, putzt aber die Windschutzscheibe nicht. Benützen Sie in allen Fällen die vier Techniken effektiven Disputierens mit sich selbst. Ehe Sie anfangen, lesen Sie bitte die folgenden Beispiele aufmerksam durch. Negatives Ereignis (A): Ich habe mir ein paar sehr teure Ohrringe von meiner Freundin ausgeliehen und habe einen davon beim Tanzen in einer Discothek verloren. Überzeugung (B): Ich bin doch unglaublich leichtsinnig. Das waren Kays liebste Ohrringe, und natürlich muß ich einen davon verlieren. Sie wird wütend auf mich sein. Und sie hat auch allen Grund dazu. An ihrer Stelle wäre ich auch wütend. Es würde mich gar nicht wundern, wenn sie jetzt jede Verbindung zu mir abbrechen würde. Konsequenz (C): Ich fühlte mich miserabel. Ich habe mich geschämt und wollte sie nicht anrufen, um ihr zu erzählen, was passiert ist. Ich saß lange Zeit da und versuchte, Mut zu sammeln, um sie anzurufen. Disput (D): Na ja, es ist wirklich Pech, daß ich diesen Ohrring verloren habe. Es waren Kays Lieblingsohrringe [Beweis], und sie wird wahrscheinlich sehr enttäuscht sein [Implikation]. Aber sie wird einsehen, daß so etwas mal passieren kann [Alternative], und ich bin ganz und gar nicht sicher, daß sie deswegen auf mich wütend sein wird [Implikation]. Ich glaube nicht, daß ich mich deshalb als leichtsinnig bezeichnen muß, nur weil ich einen Ohrring verloren habe [Implikation]. Energieschub (E): Ich hatte noch immer ein ungutes Gefühl, weil ich ihren Ohrring verloren hatte, aber ich schämte mich lange nicht mehr so und fürchtete auch nicht mehr, daß sie mir deshalb die Freundschaft aufkündigen würde. Ich konnte mich entspannen und sie anrufen und die Lage erklären. Hier ist ein Beispiel, von dem Sie die erste Hälfte schon kennen: Negatives Ereignis (A): Ich kam früher von der Arbeit nach Hause und überraschte meinen Sohn und seine Freunde dabei, wie sie in der Garage Marihuana rauchten. Überzeugung (B): Was glaubt er denn eigentlich? Da sieht man mal wieder, wie verantwortungslos er ist. Ich kann ihm überhaupt nicht vertrauen. Er lügt mir andauernd etwas vor. Diesmal werde ich ihm nicht mehr zuhören. Konsequenz (C): Ich war wütend auf ihn. Ich habe mich strikt geweigert, über die Situation zu diskutieren. Ich habe ihm gesagt, er sei ein verantwortungsloser Nichtsnutz, und schäumte den ganzen Abend vor Wut.

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Aber jetzt sehen Sie, wie jemand diesen inneren Dialog beendet, der im Disputieren geübt ist: Disput (D): Okay, es ist zweifellos wahr, daß es verantwortungslos von Joshua ist, Marihuana zu rauchen. Aber das heißt nicht, daß er in allen Lebenslagen verantwortungslos ist und daß man ihm gar nicht vertrauen kann [Implikationen]. Er hat nie die Schule geschwänzt und ist abends nie länger weggeblieben, ohne anzurufen, und er hat sich immer an der Hausarbeit beteiligt [Beweis]. Die Situation ist zwar ernst, aber es hilft nichts, wenn ich alles, was er sagt, für gelogen halte [Nutzen]. Die Kommunikation zwischen uns hat bisher gut geklappt. Ich denke, wenn ich jetzt ruhig bleibe, bessert sich die Lage auch wieder [Nutzen]. Wenn ich nicht bereit bin, die Situation mit Joshua zu diskutieren, kann sie nicht gelöst werden [Nutzen]. Energieschub (E): Ich habe es fertiggebracht, mich zu beruhigen und die Sache in die Hand zu nehmen. Ich habe mich zunächst einmal dafür entschuldigt, daß ich ihn »verantwortungslos« genannt habe. Ich habe ihm gesagt, wir müßten darüber reden, daß er Marihuana raucht. Das Gespräch wurde zwar zeitweise ziemlich hitzig, aber zumindest haben wir miteinander geredet. Negatives Ereignis (A): Ich habe eine Gruppe von Freunden zum Abendessen eingeladen, aber die Frau, die ich damit vor allem beeindrucken wollte, hat ihr Essen kaum angerührt. Überzeugung (B): Das Essen hat furchtbar geschmeckt. Ich bin eine miserable Köchin. Ich wollte die Frau gern näher kennenlernen; das kann ich jetzt vergessen. Ich kann von Glück reden, daß sie nicht mitten im Essen aufstand und ging. Konsequenz (C): Ich war sehr enttäuscht und habe mich über mich selbst geärgert. Ich habe mich wegen des Essens so geschämt, daß ich der Frau den ganzen Abend aus dem Weg gehen wollte. Es war klar, daß die Dinge nicht so liefen, wie ich gehofft hatte. Disput (D): Das ist lächerlich. Ich weiß, daß das Essen nicht furchtbar geschmeckt hat [Beweis]. Es kann hundert Gründe dafür geben, daß sie nicht viel gegessen hat [Alternativen]. Vielleicht macht sie gerade eine Diät oder hat sich nicht wohl gefühlt oder ißt einfach überhaupt wenig [Alternativen]. Und obwohl sie nicht viel gegessen hat, scheint es ihr geschmeckt zu haben [Beweis]. Sie hat ein paar lustige Geschichten erzählt und hat recht entspannt gewirkt [Beweis]. Sie hat mir sogar angeboten, beim Abwaschen zu helfen [Beweis]. Das hätte sie bestimmt nicht gemacht, wenn sie mich unangenehm gefunden hätte [Alternative]. Energieschub (E): Ich war nicht einmal mehr halb so verlegen oder ärgerlich. Wenn ich sie an dem Abend gemieden hätte, hätte ich wirklich keine Chance mehr gehabt, sie näher kennenzulernen. Ich konnte mich entspannen und verhindern, daß meine Phantasie mir den Abend verdorben hat. Nun sollten Sie diesen Prozeß in Ihrem Alltag im Laufe der nächsten Woche selbst durchführen. Suchen Sie nicht angestrengt nach negativen Ereignissen; wenn sie Ihnen jedoch zustoßen, sollten Sie sorgfältig auf Ihren inneren Dialog achten. Wenn Sie Ihre negativen Überzeugungen wahrnehmen, fechten Sie sie an. Vertreiben Sie solche Überzeugungen. Dann notieren Sie Ihr ABCDE. Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Disput (D): ______________________________________________________________________ 153

Energieschub (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Disput (D): ______________________________________________________________________ Energieschub (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Disput (D): ______________________________________________________________________ Energieschub (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Disput (D): ______________________________________________________________________ Energieschub (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Disput (D): ______________________________________________________________________ Energieschub (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________

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12.7

Die Externalisierung der Stimmen

Sie müssen nicht auf ein negatives Ereignis warten, wenn Sie Ihre Disputfähigkeit üben wollen. Sie können einen Freund oder eine Freundin bitten, Ihnen negative Überzeugungen laut vorzusagen. Setzen Sie sich ebenfalls laut gegen die Kritik zur Wehr. Diese Übung heißt »Externalisierung der Stimmen«. Sie bitten einen Freund, eine Freundin oder Ihren Ehepartner, Ihnen 20 Minuten zu widmen. Ihr Übungspartner hat die Aufgabe, Sie zu kritisieren. Deshalb sollten Sie Ihren Übungspartner sorgfältig auswählen. Sie sollten ihm gefühlsmäßig vertrauen. Es muß jemand sein, der Sie nicht in die Defensive drängt. Erklären Sie Ihrem Übungspartner, daß er Sie in dieser Situation kritisieren soll. Versichern Sie ihm, daß Sie seine Kritik nicht persönlich nehmen werden, denn in dieser Übung gehe es darum, solche Kritikpunkte zu disputieren, die auch bei Ihren Selbstvorwürfen auftreten könnten. Damit Ihr Übungspartner die richtige Art von Kritik findet, sollten Sie ihm anhand Ihrer ABC-Liste erläutern, welche negativen Überzeugungen Ihnen immer wieder zu schaffen machen. Wenn Sie sich mit ihm darüber verständigt haben, werden Sie feststellen, daß Sie seine Kritik tatsächlich nicht persönlich nehmen. Diese Übung kann sogar die Sympathie zwischen Ihnen und Ihrem Partner fördern. Ihre Aufgabe besteht darin, der Kritik mit allen Argumenten zu begegnen, die Ihnen einfallen. Sammeln Sie alle Gegenbeweise, die Sie finden können, erläutern Sie die alternativen Erklärungen, wirken Sie einer Katastrophenreaktion entgegen, indem Sie Ihrem Übungspartner klarmachen, daß die Implikationen längst nicht so dramatisch sind, wie er Ihnen weismachen will. Wenn Sie glauben, daß der Vorwurf gerechtfertigt ist, dann zählen Sie detailliert alle Schritte auf, die Sie unternehmen können, um die Situation zu ändern. Ihr Übungspartner darf Sie unterbrechen, um Ihren Disput zu disputieren. Darauf sollten Sie wieder antworten. Ehe Sie anfangen, sollten Sie beide die folgenden Beispiele lesen. Jedes enthält eine Situation, die der Freund oder die Freundin für einen gemeinen Vorwurf ausnutzen kann. (Ihr Übungspartner muß grob zu Ihnen sein, denn bei Ihren eigenen Erklärungsmustern gehen Sie auch grob mit sich selbst um.) Dann müssen Sie die Vorwürfe anfechten. Ihr Gegenüber sollte nach Anschuldigungen suchen, die möglicherweise auf Sie zutreffen. Diese sollten Sie wirksam entkräften. Situation: Carol räumt Kleidungsstücke im Zimmer ihrer fünfzehnjährigen Tochter auf und findet dabei unter einem Stapel Wäsche eine Packung Antibabypillen. Vorwurf Freund/in: Wie konnte so etwas vorgehen, ohne daß du es bemerkst? Sie ist erst fünfzehn. Als du fünfzehn warst, bist du noch nicht mal mit Jungen ausgegangen. Wie konntest du so blind sein und nicht sehen, was deine Tochter macht? Ihr müßt eine miserable Beziehung zueinander haben, wenn du nicht einmal bemerkst, daß sie mit jemandem schläft. Was bist du nur für eine Mutter? Disput: Es bringt nicht viel, meine Teenagerzeit mit Susans Erfahrungen von heute zu vergleichen [Nutzen]. Die Zeiten haben sich geändert. Heute sieht die Welt anders aus [Alternative]. Es stimmt, daß ich keine Ahnung hatte, daß Susan mit jemandem schläft [Beweis], aber das bedeutet noch lange nicht, daß unsere Beziehung furchtbar schlecht ist [Implikationen]. Unsere Diskussionen über Verhütung haben auf alle Fälle etwas genützt, denn sie nimmt die Pille [Beweis]. Wenigstens das ist ein gutes Zeichen. Freund/in unterbricht: Du bist so mit deinem eigenen Leben beschäftigt, und deine Arbeit nimmt dich so in Anspruch, daß du keine Ahnung vom Leben deiner Tochter hast. Du bist eine lausige Mutter. Fortsetzung des Disputs: Ich bin in letzter Zeit bei meiner Arbeit ziemlich gefordert worden und habe mich nicht so oft mit meiner Tochter beschäftigen können, wie ich das gern getan hätte [Alternativen], aber das kann ich ändern [Nutzen]. Deshalb brauche ich 155

nicht in die Luft zu gehen oder mir Selbstvorwürfe zu machen, denn ich kann diese Situation dafür nützen, die Kommunikation zwischen uns zu verbessern und mit ihr über Sexualität und mögliche sexuelle Probleme zu reden. Das wird am Anfang nicht leicht sein. Ich schätze, sie wird abwehrend reagieren, aber das kriegen wir schon hin. Situation: In diesem Fall ist der Pessimist ein Mann namens Doug. Er und seine Freundin Barbara sind bei Freunden zum Abendessen eingeladen. Barbara unterhält sich eine Zeitlang mit Nick, einem Mann, den Doug bisher nicht kannte. Auf dem Heimweg im Auto kann sich Doug die giftige Bemerkung nicht verkneifen: »Du scheinst dich mit diesem Typ ja ausgezeichnet zu verstehen. Ich habe dich schon lange nicht mehr so angeregt gesehen. Ich hoffe, du hast seine Telefonnummer – es wäre doch schade, eine solche Freundschaft verkümmern zu lassen.« Barbara ist überrascht und sagt lachend, Doug brauche nicht gleich so empfindlich zu reagieren, Nick sei nur ein Kollege von ihr. Vorwurf Freund/in: Es war wirklich unhöflich von Barbara, den ganzen Abend lang mit anderen zu reden und sich zu amüsieren. Es waren ihre Freunde, und sie wußte, daß du praktisch niemanden kanntest. Disput: Doug: Ich glaube, meine Reaktion war ein bißchen überzogen. Sie hat nicht den ganzen Abend mit Nick geredet [Beweis]. Wir waren vier Stunden auf dieser Party, und sie hat vielleicht eine knappe halbe Stunde mit ihm gesprochen [Beweis]. Daß ich die meisten Leute noch nicht kannte, ist kein Grund, sie als Kindermädchen in Anspruch zu nehmen [Alternative]. Schließlich hat sie die erste Stunde damit zugebracht, mich mit ihren Freunden bekannt zu machen, und hat erst nach dem Essen eine Zeitlang allein mit Nick gesprochen [Beweis]. Ich glaube, sie hat so viel Vertrauen in unsere Beziehung, daß sie nicht die ganze Zeit an mir kleben muß [Alternative]. Sie weiß, daß ich mich allein unter die Leute mischen und mit ihnen ins Gespräch kommen kann [Beweis]. Freundin unterbricht: Wenn du ihr wirklich wichtig wärst, hätte sie nicht den ganzen Abend mit diesem Typ geflirtet. Du machst dir offensichtlich mehr aus ihr, als sie sich aus dir macht. Und wenn die Sache so ist, machst du am besten Schluß mit ihr. Fortsetzung des Disputs: Ich weiß, daß Barbara mich liebt [Beweis]. Wir sind schon lange zusammen, und sie hat noch nie etwas von Trennung gesagt oder sich mit anderen Männern verabredet [Beweis]. Sie hat recht, wahrscheinlich war ich einfach etwas nervös, weil ich so viele neue Leute auf einmal kennenlernen mußte [Alternative]. Ich sollte mich dafür entschuldigen, daß ich so sarkastisch war, und ihr erklären, warum ich so heftig reagiert habe [Nutzen]. Situation: Andrews Frau Lori ist Alkoholikerin. Drei Jahre lang hat sie keinen Tropfen angerührt, aber vor kurzem hat sie wieder zu trinken begonnen. Andrew tat alles, was er konnte, um einen Rückfall zu verhindern. Er redete ihr vernünftig zu, er drohte ihr, er flehte sie an. Aber jeden Abend, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, ist Lori betrunken. Vorwurf Freund/in: Das ist furchtbar. Du müßtest es eigentlich schaffen, Lori vom Alkohol abzubringen. Du hättest merken müssen, daß etwas sie bedrückt, schon lange bevor es so weit gekommen war wie jetzt. Wie konntest du nur so blind sein? Warum kannst du ihr nicht klarmachen, was sie sich selbst antut? Disput: Andrew: Es wäre toll, wenn ich Lori dazu bringen könnte, mit dem Trinken aufzuhören, aber das ist nicht realistisch [Beweis]. Beim letzten Mal habe ich gelernt, daß ich überhaupt nichts dagegen tun kann. [Beweis]. Wenn sie sich nicht selbst entscheiden kann, mit dem Trinken aufzuhören, gibt es für mich keinen Weg, sie dazu zu bringen [Alternative]. Das heißt nicht, daß ich in bezug auf meine eigenen Gefühle hilflos bin [Implikation]. Ich kann in eine Gruppe für Angehörige von Alkoholikern gehen, damit ich nicht wieder in die Falle tappe, mir ständig selbst Vorwürfe zu machen [Nutzen].

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Freund/in unterbricht: Du hast gedacht, alles stünde gut zwischen euch beiden. Wahrscheinlich hast du dir die letzten drei Jahre etwas vorgemacht. Eure Ehe scheint ihr nichts zu bedeuten. Fortsetzung des Disputs: Daß Lori wieder zu trinken angefangen hat, bedeutet nicht, daß die letzten drei Jahre unserer Ehe ein Fehlschlag waren [Alternative]. Unsere Beziehung war gut [Beweis] und wird sich auch wieder bessern. Das Trinken ist ihr Problem [Alternative], das muß ich mir einfach immer wieder klarmachen [Nutzen]. Sie trinkt nicht, weil ich etwas Bestimmtes getan oder nicht getan habe [Alternative]. Im Augenblick kann ich für uns beide nichts anderes tun, als mit jemandem darüber zu reden, was die Sache für mich bedeutet und welche Sorgen ich mir mache [Nutzen]. Es wird hart werden, aber ich werde es durchstehen. Situation: Brenda und ihre Schwester Andrea standen sich immer sehr nahe. Sie gingen in dieselben Schulen, bewegen sich in denselben Kreisen und wohnen nahe beieinander. Brendas Sohn Joey soll in Kürze ein Studium in Dartmouth beginnen; Andrea und Brenda beraten ihn bei der Frage, welches College er besuchen soll. Doch zu Beginn seines letzten Schuljahres erklärt Joey plötzlich seinen Eltern, er wolle nicht auf das College gehen, sondern als Restaurator in der Bauindustrie arbeiten. Als Andrea Brenda fragt, warum Joey nicht auf das College gehen will, faucht Brenda wütend: »Das geht dich überhaupt nichts an, es müssen ja nicht alle dasselbe tun wie dein Sohn.« Vorwurf Freund/in: Es muß dir doch längst lästig sein, daß Andrea über dein ganzes Leben genau Bescheid weiß. Sie hat doch selbst eine Familie. Sie hat nicht den geringsten Grund, ihre Nase ständig in deine Angelegenheiten zu stecken. Disput: Brenda: Ich glaube, deine Reaktion ist ein bißchen überzogen. Andrea hat nur gefragt, warum Joey sich gegen das College entschieden hat [Beweis]. Das ist eine berechtigte Frage [Alternative]. Ich habe das Gefühl, daß ich ihr diese Frage ohne weiteres stellen könnte, wenn die Situation umgekehrt wäre und ihr Sohn beschlossen hätte, nicht auf das College zu gehen [Beweis]. Freund/in unterbricht: Sie hält sich für etwas Besseres, weil ihr Sohn nach Dartmouth geht und Joey nicht. Darauf kannst du verzichten. Soll sie sich doch zum Teufel scheren. Fortsetzung des Disputs: Sie hat sich nicht herablassend verhalten. Sie hat mir auch nicht zu verstehen gegeben, daß sie sich für etwas Besseres hält. Sie macht sich nur einfach Gedanken, weil ihr Joey sehr am Herzen liegt [Alternative]. Ich glaube, mir gefällt einfach Joeys Entscheidung nicht, und ich bin neidisch, weil Brendas Sohn sich anders entschieden hat [Alternative]. Im Grunde bin ich stolz auf mein enges Verhältnis zu meiner Schwester. Natürlich gibt es ab und zu Rivalitäten, aber ich würde unsere enge Beziehung niemals beenden [Nutzen]. Situation: Daniel ist Student im vierten Studienjahr. Sein Vater ist vor vier Jahren nach einer langen Krankheit gestorben. Während der Weihnachstferien zu Hause teilt ihm seine Mutter mit, daß sie Geoff heiraten wird, mit dem sie seit einigen Monaten befreundet ist. Daniel wußte schon von ihrer Beziehung zu Geoff, aber ihre Heiratspläne stellen für ihn eine große Überraschung dar. Als Daniel zunächst nicht auf diese Eröffnung seiner Mutter reagiert, fragt sie ihn, was er davon halte. Daniel sagt: »Es ist einfach ekelhaft, daß du diesen widerlichen Kerl heiraten willst«, und stürzt aus dem Haus. Vorwurf Freund/in: Ich kann gar nicht glauben, daß deine Mutter diesen Typ heiraten wird. Sie kennt ihn kaum, er ist viel zu alt für sie und paßt überhaupt nicht zu ihr. Wie kann sie dir so etwas antun? Disput: Daniel: Moment mal. Ist die Sache wirklich so furchtbar? Erstens weiß ich nicht, wie gut sie Geoff kennt [Beweis]. Ich war das ganze Jahr über nicht zu Hause [Beweis]. Sie kennen sich zwar erst seit ein paar Monaten, aber vielleicht verbringen sie jede freie Minute miteinander [Alternative]. Und er ist auch nicht zu alt für sie; das ist Unsinn [Beweis]. Er ist nur zehn Jahre älter als sie, und mein Vater war dreizehn Jahre

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älter als Mutter [Beweis]. Freund/in unterbricht: Wie kann sie das deinem Vater antun? Dein Vater ist erst vor kurzem gestorben, und schon nimmt sie einen anderen. Da kann einem richtig übel werden. Was ist sie bloß für eine Frau, daß sie so etwas tun kann? Fortsetzung des Disputs: Meine Mutter ist so glücklich, wie ich sie seit langem nicht gesehen habe [Beweis]. Eigentlich macht mir zu schaffen, daß mir Vater noch immer so sehr fehlt. Ich kann nicht begreifen, daß Mutter schon so viel Abstand von ihm gewonnen hat, daß sie sich wieder verlieben konnte [Alternative]. Vielleicht rede ich mal mit ihr darüber. Tatsache ist, daß Vater jetzt schon seit vier Jahren tot ist [Beweis], und Mutter muß ihr Leben weiterleben, ob es mir gefällt oder nicht [Alternative]. Ich will auch nicht, daß sie ganz allein ist. In gewisser Weise ist das auch eine Erleichterung [Implikationen]. Jetzt muß ich mir keine Sorgen machen, daß sie sich einsam fühlt. Im Grunde ersetzt sie ja auch nicht Vater, sondern sie hat eben jemanden kennengelernt, der sie glücklich macht [Alternative]. Ich wette, Vater wäre froh darüber [Beweis]. Er würde nicht wollen, daß sie nie mehr Liebe erfährt [Beweis]. Es war einfach so eine große Überraschung für mich [Alternative]. Wahrscheinlich kann ich das alles besser akzeptieren, wenn ich Geoff erst einmal kennengelernt habe [Nutzen]. Ich hoffe, er ist ein netter, anständiger Kerl.

12.8 Zusammenfassung Sie müßten jetzt so weit sein, daß Sie die Technik des Disputierens, die in erster Linie zum Erlernen von Optimismus führt, schon geschickt in Ihrem Alltag einsetzen können. Sie haben zuerst die Verknüpfung von A, B und C kennengelernt – die Tatsache, daß spezifische Überzeugungen zu Niedergeschlagenheit und Passivität führen. Gefühle und Handlungen folgen im allgemeinen nicht direkt aus negativen Ereignissen. Vielmehr entspringen sie direkt aus Ihren Überzeugungen bezüglich dieser negativen Ereignisse. Das heißt, wenn Sie Ihre innere Reaktion auf negative Ereignisse ändern, dann werden Sie besser mit Mißerfolgen fertig. Das wichtigste Werkzeug zur Veränderung Ihrer Interpretationen negativer Ereignisse ist das Disputieren. Üben Sie von jetzt an ständig, Ihre automatischen Reaktionen anzufechten. Jedesmal, wenn Sie niedergeschlagen oder verärgert sind, fragen Sie sich, was Sie sich gesagt haben. Manchmal wird sich Ihre Überzeugung als richtig erweisen. In diesen Fällen konzentrieren Sie sich auf die Möglichkeiten, die derzeitige Situation zu ändern und zu verhindern, daß aus einem negativen Ereignis eine Katastrophe wird. Aber meist sind Ihre negativen Überzeugungen Verzerrungen der Wahrheit. Lassen Sie nicht zu, daß sie Ihr Seelenleben beherrschen. Im Gegensatz zu einer Diät läßt sich erlernter Optimismus leicht durchhalten, wenn Sie ihn erst einmal eingeführt haben. Haben Sie die Gewohnheit erworben, negative Überzeugungen anzufechten, wird Ihr Alltagsleben viel leichter, und Sie fühlen sich erheblich glücklicher.

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13 Wie Sie Ihrem Kind helfen können, dem Pessimismus zu entgehen Die Kindheit erscheint uns als idyllische Zeit – frei von Verantwortung, die uns später im Leben auferlegt wird, eine geschützte Phase, ehe der Ernst des Lebens beginnt. Aber gegen den Pessimismus und seine schwerwiegende Konsequenz, die Depression, gibt es keinen Schutz. Viele Kinder leiden unter ausgeprägtem Pessimismus, der sie jahrelang verfolgt und quält. Er beeinträchtigt ihre schulische Leistung und ihre Zukunftsaussichten und verdirbt ihnen die Freude am Leben. Kinder im Schulalter haben ebenso viele und ebenso schwere Depressionen wie Erwachsene. Dabei wiegt besonders schwer, daß sich der Pessimismus als generelles Weltbild festsetzt. Pessimismus in der Kindheit führt nur allzu leicht zu Pessimismus im Erwachsenenalter. In einer Reihe von Untersuchungen wurden Belege dafür erbracht, daß Kinder ihren Pessimismus zum großen Teil von ihren Müttern lernen. Auch die Kritik Erwachsener an ihnen lehrt sie Pessimismus. Kinder können also Pessimismus erlernen; sie können ihn aber auch wieder verlernen. Das erfolgt in genau derselben Weise wie bei Erwachsenen – nämlich dadurch, daß sich die Kinder unerfreuliche Dinge in ihrem Leben etwas hoffnungsvoller erklären. Die ABC-Techniken wurden in gründlicher Forschungsarbeit mit Erwachsenen entwickelt und von Tausenden von Erwachsenen gelernt; an Kindern jedoch wurden sie bisher kaum erprobt. Inzwischen sind diese Techniken so weit entwikkelt, daß man sie auch für Kinder empfehlen kann. Ohne Übertreibung läßt sich feststellen, daß es ebenso bedeutsam ist, Ihrem Kind Optimismus beizubringen, wie es zu Fleiß und Ehrlichkeit anzuhalten. Denn Optimismus kann sich im späteren Leben des Kindes als ebenso wichtig erweisen. Ist es bei Ihrem Kind erforderlich, ihm die Techniken des Optimismus beizubringen? Manche Eltern haben eine gewisse Abneigung dagegen, in die spontane emotionale Entwicklung ihrer Kinder einzugreifen. Ihr Kind wird wahrscheinlich davon profitieren, diese Techniken zu erlernen. Es gibt aber drei verläßliche Anhaltspunkte, die Ihnen zeigen können, ob die ABC-Techniken für Ihr Kind besonders wichtig sind. Erstens: Welchen Wert hatte Ihr Kind beim CASQ in Kapitel sieben? Wenn Ihre Tochter einen Wert unter 7 oder Ihr Sohn einen Wert unter 5 hatte, ist Ihr Kind doppelt so anfällig für Depression wie optimistische Kinder und wird vermutlich einen großen Nutzen aus den Übungen ziehen, die in diesem Kapitel vorgestellt werden. Je niedriger der Wert, desto größer der Nutzen. Zweitens: Welchen Wert hatte Ihr Kind bei dem Test in Kapitel acht? Wenn er bei 10 oder darüber lag, kann Ihr Kind aus diesen Techniken Nutzen ziehen. Wenn der Wert bei 15 oder darüber lag, halte ich es für äußerst wichtig, daß es diese Techniken lernt. Drittens: Streiten Sie sich häufig mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin? Besteht sogar die Möglichkeit einer Trennung oder Scheidung? Wenn das der Fall ist, wird Ihr Kind diese Techniken dringend brauchen. Wir haben festgestellt, daß Kinder bei solchen Anlässen oft schwer depressiv werden und jahrelang depressiv bleiben, schwache schulische Leistungen erbringen und dauerhaft pessimistische Erklärungsmuster erwerben. Ein sofortiges Eingreifen kann entscheidend sein. Mit Hilfe dieses Kapitels können Sie Ihrem Kind das ABC-System beibringen, das Sie im letzten Kapitel gelernt haben. Sollten Sie das letzte Kapitel noch nicht oder schon vor längerer Zeit gelesen haben, empfehle ich Ihnen, es jetzt (noch einmal) durchzulesen. Wenn Sie das dort vorgestellte Material kennen, können Sie Ihr Kind besser anleiten.

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13.1 ABC-Folgen für Ihr Kind In einem ersten Schritt muß Ihr Kind den Zusammenhang zwischen negativen Ereignissen (A), Überzeugungen (B) und Konsequenzen (C) kennenlernen. Dazu dienen die folgenden Übungen; sie richten sich an Kinder zwischen 8 und 14 Jahren. Achtjährige Kinder finden sie möglicherweise schwierig, aber wenn Sie viel Geduld aufbringen und wenn Ihr Kind schon genügend logische Denkfähigkeit entwickelt hat, können die Übungen auch schon in diesem Alter durchgeführt werden. Ältere Kinder, die schon fast Jugendliche sind, sollten die Techniken üben, die für die Erwachsenen vorgesehen sind. Sie würden die für Kinder entwickelten Beispiele meist schon nicht mehr richtig ernst nehmen. Es hat zwei Vorteile, Ihrem Kind Optimismus beizubringen. Einen Vorteil erzielt Ihr Kind. Den zweiten Vorteil erzielen Sie selbst, denn Unterrichten ist der beste Weg, etwas selbst gut zu lernen. Wenn Sie Ihrem Kind diese Techniken beibringen, werden auch Sie selbst viel erfolgreicher mit ihnen umgehen können. Lesen Sie zunächst das Kapitel zwölf durch und machen Sie die Übungen für Erwachsene. Dann nehmen Sie sich eine halbe Stunde Zeit für Ihr Kind. Erklären Sie ihm zunächst das ABC-Modell. Dem Kind muß dabei verdeutlicht werden, daß seine Gefühle nicht einfach aus dem Nichts kommen. Stellen Sie klar, daß das, was Ihr Kind bei negativen Ereignissen denkt, seine Gefühle stark beeinflußt. Wenn es plötzlich Angst bekommt oder traurig oder zornig oder verlegen wird, hat immer ein Gedanke das Gefühl ausgelöst. Wenn das Kind diesen Gedanken findet, kann es ihn verändern. Hat das Kind diese Zusammenhänge einigermaßen begriffen, können Sie die folgenden fünf Beispiele mit ihm durcharbeiten. Lassen Sie das Kind jedes Beispiel mit eigenen Worten nacherzählen und weisen Sie besonders auf den Zusammenhang zwischen den Überzeugungen und den Konsequenzen hin. Nachdem das Kind die Situation mit eigenen Worten nacherzählt hat, gehen Sie die Fragen am Ende eines jeden Beispiels durch. Negatives Ereignis (A): Mein Lehrer, Herr Minner, hat mich vor der ganzen Klasse angeschrien, und alle haben gelacht. Überzeugung (B): Er kann mich nicht leiden, und die ganze Klasse hält mich für einen Trottel. Konsequenz (C): Ich war sehr traurig und wäre am liebsten unter meinem Tisch verschwunden. Fragen Sie Ihr Kind, warum der Junge traurig war, warum er verschwinden wollte. Hätte er eine andere Meinung von Herrn Minner gehabt und beispielsweise gedacht, daß die ganze Klasse Herrn Minner für ungerecht hält, wäre die Konsequenz dann eine andere gewesen? Hätte die Klasse dann den Jungen trotzdem für einen Trottel gehalten? Die Überzeugungen sind der entscheidende Schritt, der zu den Konsequenzen führt. Wenn sie sich ändern, ändern sich auch die Konsequenzen. Negatives Ereignis (A): Meine beste Freundin, Susan, hat mir gesagt, daß jetzt Joannie ihre beste Freundin sei und daß sie in Zukunft mit Joannie in die Cafeteria gehen wird und nicht mehr mit mir. Überzeugung (B): Susan mag mich nicht mehr, weil ich nicht »cool« genug bin. Joannie kennt immer ganz tolle Witze und kann sie prima erzählen. Wenn ich einen Witz erzähle, lacht niemand. Und Joannie trägt richtig »coole« Sachen, während ich mich kleide wie Aschenputtel. Ich wette, wenn ich beliebter wäre, würde Susan meine beste Freundin bleiben wollen. Jetzt habe ich niemanden mehr, mit dem ich in die Cafeteria gehen kann. Alle werden wissen, daß Joannie Susans neue Freundin ist. Konsequenz (C): Ich hatte richtig Angst vor dem Mittagessen, weil ich nicht ausgelacht werden wollte und nicht ganz alleine dasitzen wollte. Deshalb habe ich gesagt, ich hätte 160

Bauchweh und habe Frau Frankel gebeten, mich zur Schulkrankenschwester zu schikken. Ich habe mich richtig häßlich gefühlt und hätte am liebsten die Schule gewechselt. Warum wollte sie die Schule wechseln? War es aufgrund der Tatsache, daß Susan neben Joannie sitzen wollte? Oder war es wegen der Überzeugung, sie würde niemanden mehr finden, mit dem sie zusammensitzen könne? Warum hat sie sich häßlich gefühlt? Welche Rolle spielte es, daß sie meinte, sie kleide sich wie Aschenputtel? In welcher Weise hätten sich die Konsequenzen geändert, wenn sie geglaubt hätte, Susan sei ein unbeständiges Geschöpf? Negatives Ereignis (A): Als ich mit meinen Freunden an der Bushaltestelle wartete, kam eine Gruppe von Neuntkläßlern vorbei, die mich vor allen meinen Freunden »Fettsack« und »Fettmops« riefen. Überzeugung (B): Ich kann gar nichts dagegen sagen, denn sie haben recht, ich bin ein Fettsack. Jetzt werden mich alle meine Freunde auslachen, und niemand mehr wird im Bus neben mir sitzen wollen. Alle werden mich hänseln und mir Schimpfnamen geben, und ich muß es einfach über mich ergehen lassen. Konsequenz (C): Ich wäre am liebsten gestorben, so habe ich mich geschämt. Ich wollte einfach weglaufen, aber das ging ja nicht, weil es der letzte Bus war. Deshalb ließ ich den Kopf hängen und beschloß, mich ganz allein auf die erste Bank zu setzen, direkt hinter den Busfahrer. Warum wollte er weglaufen? War es aufgrund der Tatsache, daß er »Fettsack« genannt worden war, oder aufgrund der Überzeugung, daß ihn jetzt alle seine Freunde ablehnen würden? Gibt es andere, konstruktivere Überzeugungen, die er hätte haben können, etwa »Meine Freunde halten zu mir« oder »Meine Freunde denken, alle diese Neuntkläßler sind Idioten«? Was wäre dann geschehen? Beenden Sie die Einführung erst, wenn Ihr Kind das ABC-Muster verstanden hat. Legen Sie für den nächsten Tag eine halbe Stunde fest, in der Ihr Kind lernen soll, das ABCMuster in seinem eigenen Leben in die Praxis umzusetzen. Beginnen Sie diese halbe Stunde damit, den Zusammenhang zwischen negativem Ereignis, Überzeugung und Konsequenz noch einmal aufzuzeigen, und gehen Sie, falls nötig, eines der Beispiele noch einmal durch. Fragen Sie das Kind dann nach einem Beispiel aus seinem eigenen Leben. Schreiben Sie das Beispiel nieder. Wenn Ihr Kind Unterstützung braucht, zeigen Sie ihm eine oder zwei von Ihren eigenen ABC-Folgen aus Ihrer Liste. Dann muß Ihr Kind selbst ABC-Muster in seinem Alltag finden. Stellen Sie ihm die Aufgabe, an den folgenden fünf Tagen je ein Beispiel zu finden und es mit Ihnen zu besprechen. Schreiben Sie jeden Tag nach der Schule das Beispiel auf und diskutieren Sie es mit Ihrem Kind. Betonen Sie, wie sehr Traurigkeit, Wut, Angst und Resignation von seinen Überzeugungen herrühren. Machen Sie ihm klar, daß diese Überzeugungen nicht zwingend und unveränderlich sind. Vielleicht findet Ihr Kind an den ersten beiden Tagen schon alle fünf Beispiele. Sobald das Kind die fünf Beispiele gefunden hat, können Sie zur nächsten Phase, dem Disput, übergehen.

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13.2 Die ABC-Liste Ihres Kindes Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________

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13.3 ABCDE für Ihr Kind Das Disputieren erfolgt bei Kindern genauso wie bei Erwachsenen. Wenn Ihr Kind das ABC-Muster verstanden hat, können Sie ihm den Zusammenhang zwischen Disput und Energieschub erklären. Setzen Sie dafür 40 Minuten fest und gehen Sie zuerst noch einmal die ABC-Folge durch. Benützen Sie dafür zwei Beispiele aus der persönlichen ABC-Liste Ihres Kindes. Erklären Sie dem Kind, daß seine Gedanken bei den Ereignissen nicht unbedingt stimmen müssen. Sie können genauso angefochten werden, als stammten sie von einem anderen Kind, das mißgünstig gesinnt ist. Wählen Sie eines der Beispiele Ihres Kindes aus. Ihr Kind soll sich nun vorstellen, sein ärgster Feind hätte das über ihn gesagt. Wie würde es reagieren? Wenn das Kind eine gute Antwort gibt, bitten Sie es, noch eine weitere zu suchen und dann noch einmal eine, bis ihm nichts mehr einfällt. Jetzt erklären Sie, daß man seine eigenen negativen Gedanken genauso anfechten kann, wie man die Vorwürfe anderer disputieren kann, aber mit einer besseren Wirkung: Wenn die negativen Dinge, die man sich selbst sagt, widerlegt werden, glaubt man sie nicht mehr. Man wird dann fröhlicher und unternehmungslustiger. Nun sollten Sie einige Beispiele mit Ihrem Kind vollständig durcharbeiten. Hier sind vier Beispiele, die Sie verwenden können, zwei alte und zwei neue. Negatives Ereignis (A): Mein Lehrer, Herr Minner, hat mich vor der ganzen Klasse angeschrien, und alle haben gelacht. Überzeugung (B): Er kann mich nicht leiden, und die ganze Klasse hält mich für einen Trottel. Konsequenz (C): Ich war sehr traurig und wäre am liebsten unter meinem Tisch verschwunden. Disput (D): Daß Herr Minner mich angeschrien hat, heißt noch nicht, daß er mich nicht leiden kann. Herr Minner schreit praktisch jeden an. Trotzdem hat er uns einmal seine Lieblingsklasse genannt. Wahrscheinlich habe ich irgendwelchen Unsinn gemacht; ich kann es ihm nicht übelnehmen, daß er wütend geworden ist. Alle anderen in der Klasse sind auch schon mindestens einmal von Herrn Minner angeschrien worden, höchstens Linda nicht, aber die ist sowieso superbrav. Die anderen werden mich also ganz bestimmt nicht für einen Trottel halten. Energieschub (E): Ich bin immer noch ein bißchen traurig, weil er mich angeschrien hat, aber nicht mehr so sehr. Und ich würde auch nicht mehr am liebsten unter meinem Tisch verschwinden. Lesen Sie noch einmal laut, was unter »Überzeugung« steht. Bitten Sie Ihr Kind, den Disput mit eigenen Worten nachzuerzählen. Lassen Sie Ihr Kind erklären, wie jeder Punkt in seinem Disput wirkt: Wieso schafft die Erkenntnis, daß Herr Minner alle anschreit, ein Gegengewicht zu der Annahme, »Herr Minner kann mich nicht leiden«? Negatives Ereignis (A): Meine beste Freundin Susan hat mir gesagt, daß jetzt Joannie ihre beste Freundin sei und daß sie in Zukunft mit Joannie in die Cafeteria gehen wird und nicht mehr mit mir. Überzeugung (B): Susan mag mich nicht mehr, weil ich nicht »cool« genug bin. Joannie kennt immer ganz tolle Witze und kann sie prima erzählen. Wenn ich einen Witz erzähle, lacht niemand. Und Joannie trägt richtig »coole« Sachen, während ich mich wie Aschenputtel kleide. Wenn ich beliebter wäre, würde Susan meine beste Freundin bleiben wollen. Jetzt habe ich niemanden mehr, mit dem ich in der Cafeteria zusammensitzen kann. Alle werden bemerken, daß Joannie Susans neue Freundin ist. Konsequenz (C): Ich hatte richtig Angst vor dem Mittagessen, weil ich nicht ausgelacht werden und nicht ganz alleine dasitzen wollte. Deshalb habe ich gesagt, ich hätte

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Bauchweh, und habe Frau Frankel gebeten, mich zur Schulkrankenschwester zu schikken. Ich habe mich richtig häßlich gefühlt und hätte am liebsten die Schule gewechselt. Disput (D): Susan ist ja wirklich nett, aber das ist nicht das erste Mal, daß sie mir sagt, sie hätte eine neue Freundin. Vor einer Weile war Katie ihre beste Freundin und davor war es Jacklyn. Ich glaube, es ist nicht so wichtig, wie toll meine Witze sind, und an meinen Kleidern kann es auch nicht liegen, denn als Susan und ich neulich zusammen einkaufen gingen, kaufte sie genau dieselben Klamotten wie ich. Wahrscheinlich will sie einfach immer wieder neue Freundinnen haben. Sie ist ja nicht meine einzige Freundin, ich kann mich beim Mittagessen zu Jessica und Latanya setzen. Energieschub (E): Ich habe mir nicht mehr so große Sorgen darüber gemacht, mit wem ich jetzt in der Cafeteria beisammensitze, und habe mich nicht mehr häßlich gefühlt. Lesen Sie die Überzeugung und die Konsequenzen noch einmal laut vor. Bitten Sie Ihr Kind, die Überzeugung mit eigenen Worten anzufechten. Helfen Sie ihm weiter, wenn es nötig ist. Fragen Sie, wie die einzelnen Argumente der Überzeugung entgegenwirken: Wie schafft die Erkenntnis, daß Susan alle paar Wochen die beste Freundin wechselt, ein Gegengewicht zu der Meinung: »Susan mag mich nicht mehr«? Welche Beweise gibt es gegen die Annahme: »Ich kleide mich wie Aschenputtel«? Negatives Ereignis (A): Heute in der Tumstunde hat Herr Riley zwei Jungen zu Spielführern beim Fußball ernannt, und wir anderen mußten uns in einer Reihe aufstellen. Dann durften sich die beiden Jungen Spieler für ihre Mannschaft aussuchen. Ich wurde als drittletzter gewählt. Überzeugung (B): Chrissy und Danny können mich nicht leiden. Sie wollten mich nicht in ihrer Mannschaft. Jetzt halten mich alle in der Klasse für eine Flasche. Niemand will mich im Team haben. Ich bin ja auch wirklich eine Flasche. Es ist kein Wunder, daß niemand mit mir spielen will. Konsequenz (C): Ich kam mir richtig blöd vor. Am liebsten hätte ich angefangen zu weinen, aber dann hätten sie noch mehr über mich gelacht. Deshalb stand ich einfach nur abseits und hoffte, der Ball würde nicht zu mir kommen. Disput (D): Die Wahrheit ist, daß ich in Sport wirklich nicht besonders gut bin. Aber wenn ich mich selbst eine Flasche nenne, fühle ich mich nur noch schlechter. Dafür bin ich in anderen Sachen sehr gut. Wenn uns zum Beispiel ein Lehrer auffordert, uns in Arbeitsgruppen aufzuteilen, wollen alle in meiner Gruppe sein. Und für meinen Aufsatz über die Amerikanische Revolution habe ich den ersten Preis bekommen. Ich glaube nicht, daß Chrissy und Danny mich nicht leiden können. Sie wollten einfach die besten Fußballspieler in ihrer Mannschaft haben. Sie wollten bestimmt nicht gemein zu mir sein. Manche Kinder sind eben gut in Sport und manche sind gut in anderen Fächern. Ich bin eben in Mathe und Englisch und Gemeinschaftskunde besser. Energieschub (E): Nachdem ich mir das gesagt hatte, fühlte ich mich viel besser. Ich wäre immer noch am liebsten in allen Fächern gut und mag es überhaupt nicht, wenn ich als letzter in Mannschaften gewählt werde. Aber ich weiß, daß ich bei manchen Sachen als erster gewählt werde und daß Chrissy und Danny mich nicht hassen. Bitten Sie Ihr Kind, den Disput in eigenen Worten wiederzugeben. Fordern Sie es auf, alle Beweise aufzuzählen, die gegen die Überzeugung sprechen, »Chrissy und Danny können mich nicht leiden«. Welche sonstigen Beweise hätte es noch finden können, um diese Überzeugung zu widerlegen? Negatives Ereignis (A): Gestern hatte mein Bruder Geburtstag. Meine Mutter und mein Stiefvater gaben ihm viele Geschenke und eine Riesentorte. Mich haben sie nicht einmal angeschaut. Überzeugung (B): Temple war schon immer ihr Liebling. Wenn Temple etwas will, bekommt er es auch. Sie merken gar nicht, daß ich auch noch da bin. Ich weiß, warum sie ihn lieber haben als mich – weil er bessere Noten nach Hause bringt und weil in sei-

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nem Zeugnis stand, er sei »hervorragend«, während in meinem Zeugnis stand, meine Schrift sei »verbesserungsbedürftig«. Konsequenz (C): Ich fühlte mich ganz traurig und allein und hatte Angst, meine Mutter würde sagen, sie wolle mich nicht mehr im Haus haben. Disput (D): Natürlich haben Mutter und Vater Temple gestern viele Geschenke gegeben – er hatte ja Geburtstag. Als ich Geburtstag hatte, habe ich auch viele Geschenke bekommen. Vielleicht haben sie ihm gestern mehr Beachtung geschenkt als mir, aber das heißt nicht, daß sie ihn lieber haben. Sie wollten es ihm nur besonders schön machen, weil es sein Geburtstag war. Wahrscheinlich hätte ich gern, daß meine Lehrerin von mir auch schreibt, ich sei »hervorragend«, aber meine Mitarbeit und meine Leistung in Naturwissenschaft hat sie gut beurteilt. Mutter und Vater sagen sowieso immer, sie würden meine Noten nicht mit denen von Temple vergleichen, sie würden jeden für sich sehen, und solange wir uns Mühe gäben, seien sie mit uns zufrieden. Energieschub (E): Ich hatte keine Angst mehr, daß meine Mutter mich wegschicken würde, und ich fühlte mich nicht mehr so schlecht, weil Temple alle Aufmerksamkeit bekam. Denn ich weiß, wenn ich Geburtstag habe, wird er sich genauso fühlen. Sobald Ihr Kind die Beispiele verstanden hat, können Sie aufhören. Nehmen Sie sich für den nächsten Tag noch einmal 40 Minuten Zeit. Wiederholen Sie den Zusammenhang zwischen D und E und gehen Sie noch einmal das Beispiel durch, mit dem das Kind am Vortag am besten zurechtkam. Jetzt ist Ihr Kind selbst an der Reihe. Kehren Sie zu seiner persönlichen ABC-Liste zurück. Nehmen Sie alle fünf Beispiele und bringen Sie Ihr Kind dazu, seine Überzeugungen anzufechten. Helfen Sie ihm, indem Sie nach Beweisen, Alternativen, Implikationen und Nutzen fragen, aber es ist nicht nötig, dem Kind diese vier Kategorien beizubringen. Verwenden Sie sie nur, um mit dem Kind zu arbeiten. Dann stellen Sie Ihrem Kind eine Aufgabe: An den folgenden fünf Tagen soll es jeden Tag eine negative Überzeugung disputieren, die in seinem Alltag auftaucht. Jeden Abend schreiben Sie die Episode gemeinsam auf und sprechen sie durch. Nach jeder Übung nennen Sie verschiedene unangenehme Dinge, die ihm vermutlich am nächsten Tag begegnen, um seinen Blick in die richtige Richtung zu lenken.

13.4 Die ABCDE-Liste Ihres Kindes Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Disput (D): ______________________________________________________________________ Energieschub (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________

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______________________________________________________________________ Disput (D): ______________________________________________________________________ Energieschub (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Disput (D): ______________________________________________________________________ Energieschub (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Disput (D): ______________________________________________________________________ Energieschub (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Disput (D): ______________________________________________________________________ Energieschub (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________

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13.5 Die Externalisierung der Stimmen für Ihr Kind Die letzte Übung, die Sie mit Ihrem Kind machen sollten, ist die Externalisierung der Stimmen. Das ist eine psychologische Technik. Sie macht sich die Tatsache zunutze, daß wir Kritik an uns selbst leichter prüfen und disputieren können, wenn sie von einem neutralen Dritten kommt, als wenn sie von einer parteiischen Seite kommt. Bei der Anwendung dieser Technik nehmen wir die unguten, bedrohlichen Gedanken, die Ihrem Kind durch den Kopf gehen, und legen sie einem Dritten in den Mund, entweder dem Elternteil, der ihm bei der Übung hilft, oder einer Handpuppe. Mit Hilfe Ihres Kindes werden Sie die Kritik äußern, und das Kind wird antworten. Bitten Sie es, Ihnen zu helfen und Ihnen zu sagen, welche Art von Kritik Sie äußern sollen. Das wird ihm leichterfallen, wenn Sie seine persönliche ABC-Liste mit ihm durchgehen und ihr Selbstvorwürfe entnehmen, die sich das Kind oft macht. Erklären Sie ihm, daß es durch dieses Rollenspiel Übung darin bekommt, erstklassig disputieren zu lernen. Dabei können Sie ihm helfen, indem Sie als Quelle negativer Überzeugungen fungieren. Erinnern Sie das Kind häufig daran, daß Sie diese Kritik nicht für zutreffend und wahr halten und daß Sie sie nur vorbringen, weil sie Gedanken ausdrückt, die das Kind selbst oft hat. Seien Sie sehr vorsichtig: Sie sind seine Mutter oder sein Vater; bei diesen Übungen erzählen Sie ihm Dinge, die aufgrund Ihrer intimen Kenntnis seines Wesens wahrscheinlich der Wahrheit recht nahekommen, vielleicht allzu nahe. Sie sollten auf gar keinen Fall ernstgemeinte Kritik vorbringen, die sich das Kind zu Herzen nimmt und die es als verletzend empfinden würde. Wenn Ihr Kind noch nicht das Teenageralter erreicht hat und noch so klein ist, daß es am Spiel mit Handpuppen oder Marionetten Freude hat, dann ist es sehr günstig, mittels einer Puppe Abstand zwischen Ihnen als liebevollem Elternteil und als Vertreter der kritischen Seite zu schaffen. Geben Sie der Puppe einen Namen, zum Beispiel »Herr Piesack«. Dann können Sie ein Spiel mit Herrn Piesack beginnen und die Stimme der Puppe übernehmen. Dabei können Sie folgendermaßen vorgehen: Jeder weiß, daß die Leute manchmal gemeine Sachen über Kinder sagen. Wenn andere Kinder gemeine, ungerechte Dinge über dich sagen, dann wehrst du dich meistens und rückst die Sache zurecht. Und das ist auch richtig so. Aber du kennst jetzt die Arbeit über die ABC-Muster, die wir zusammen gemacht haben. Deshalb weißt du auch, daß die Leute manchmal gemeine, ungerechte Dinge über sich selbst sagen. Wir wissen, daß sogar du manchmal Dinge über dich sagst, die wirklich nicht stimmen. Du mußt lernen, dich gegen die ungerechten Dinge zu wehren, die du manchmal zu dir selbst sagst, ja? Gut. Jetzt nehmen wir die Puppe, Herrn Piesack. Er wird dir beibringen, dich gegen dich selbst zu wehren. Herr Piesack hat deine ABC-Liste gelesen. Er weiß, was du dir selbst sagst, wie du dich selbst piesackst. Aber er ist auch ein bösartiger Kerl, und du mußt ihm nach Kräften widersprechen und ihm zeigen, daß seine Vorwürfe falsch und ungerecht sind.

Ehe Sie damit anfangen, lesen Sie die folgenden Beispiele laut durch, damit Ihr Kind merkt, gegen welche Art von Gedanken es sich wehren soll, und damit es beobachten kann, wie geübte Leute disputieren. Nehmen Sie für einige Kritikpunkte die Puppe Herrn Piesack. Situation: Ken ist in der siebten Klasse. Er besucht eine sehr gute Schule in einer Mittelschichtgegend und fährt mit dem Schulbus dorthin. Ken ist ein guter Schüler, die Schule gefällt ihm, und er hat viele Freunde. Jeden Tag nach der Schule entscheiden er und seine Freunde, zu wem sie jetzt nach Hause gehen. Ken würde gerne alle zu sich einladen, aber er schämt sich seiner Eltern und seiner Wohngegend. Eines Tages schlägt ein Freund vor, sie sollten alle zu Ken nach Hause gehen. Ken wird sehr verlegen und 167

sagt, sie könnten nicht zu ihm nach Hause gehen, denn sein Vater sei Arzt und hätte seine Praxis im Haus. Anschließend ist er traurig und schämt sich, daß er seine Freunde angelogen hat. Er sagt, er fühle sich nicht wohl, und geht allein nach Hause. Vorwurf (Benützen Sie Herrn Piesack vor allem für die häßlichsten Vorwürfe): Mutter (als Herr Piesack): Du bist mir ein schöner Lügner! Dein Vater Arzt? Daß ich nicht lache. Du wirst die anderen nie zu dir nach Hause mitnehmen können. Es kann gar nicht mehr lange dauern, bis es mal einem auffällt, daß niemand deine Eltern und dein Zuhause kennt. Disput: Ich hätte so gern auch solche Eltern und ein solches Zuhause wie Ricky. Ich hasse es, mich wegen meiner Eltern und meiner Wohngegend zu schämen. Aber da kann ich wohl nicht viel machen. Aber ich bin nicht der einzige, bei dem wir noch nie zu Hause waren. Meistens gehen wir sowieso zu Henry, weil der nahe bei der Schule wohnt. Mutter (als Herr Piesack) unterbricht: Sie werden herausfinden, daß du in einer armseligen Gegend wohnst, daß dein Vater ein Trinker und deine Mutter Hausangestellte ist. Und wenn sie das wissen, wollen sie nichts mehr mit dir zu tun haben. Die ganze Schule wird über dich lachen. Fortsetzung des Disputs: Ich würde mich wirklich schrecklich fühlen, wenn die anderen herausbekämen, daß mein Vater trinkt. Ich glaube aber, daß sie trotzdem meine Freunde bleiben würden. Sie mögen mich nicht, weil sie mich für reich halten. Wenn ich herausfände, daß Stewies Vater arbeitslos ist, würde mir Stewie leid tun; ich würde ihn aber deshalb nicht fallenlassen. Ich habe keine Ahnung, welche Berufe die Eltern der anderen Schüler haben und wo sie alle wohnen. Den Eltern von ein paar anderen Jungen geht es vielleicht genauso schlecht wie meinen. Ich werde die Freunde in nächster Zeit nicht zu mir nach Hause einladen, aber ich werde ihnen auch nichts mehr vorlügen. Lesen Sie die Vorwürfe noch einmal laut vor. Bitten Sie Ihr Kind, sich jetzt mit eigenen Worten gegen Sie zur Wehr zu setzen. Unterbrechen Sie es mit weiteren Vorwürfen und fordern Sie es zur Gegenwehr auf. Situation: Lyn darf mit einigen anderen Mädchen bei Betsy übernachten. Sie mag Betsy sehr. Nachdem ihre Mutter sie hingebracht hat, stellt Lyn fest, daß Betsys Eltern nicht zu Hause sind und daß die Mädchen vorhaben, den Likörschrank der Eltern zu öffnen. Lyn fühlt sich gar nicht wohl dabei. Sie behauptet, ihr sei schlecht. Sie ruft ihre Mutter an, um sich von ihr wieder abholen zu lassen. Vorwurf Mutter (Herr Piesack): Wenn du schon nicht mittrinken wolltest, hättest du es wenigstens ehrlich sagen können, anstatt zu behaupten, dir sei schlecht. Du hast es dir ganz leicht gemacht. Du hast keinerlei Mut im Leib. Disput: Ich habe doch Mut. Es wäre viel leichter gewesen, mit den anderen zusammen zu trinken. Meine Ausrede, mir sei schlecht, war sehr geschickt, denn so konnte ich aus der Situation herauskommen, ohne beschimpft oder unter Druck gesetzt zu werden. Mutter (Herr Piesack) unterbricht: Du bist wirklich noch ein Kind. Da wirst du einmal von Betsy eingeladen, und was machst du? Du verdirbst alles, weil du ein Musterkind sein willst. Fortsetzung des Disputs: Ich habe die Party nicht verdorben. Es hätte mir keinen Spaß gemacht zu bleiben, weil ich zu große Angst gehabt hätte, daß Betsys Eltern heimkommen könnten. Vielleicht ist Betsy doch keine so tolle Freundin. Jetzt lesen Sie den Vorwurf noch einmal laut vor und lassen Sie Ihr Kind mit eigenen Worten widersprechen. Sie dürfen Ihr Kind dabei auch unterbrechen. Kann Ihr Kind diesem Disput etwas hinzufügen, was ihn überzeugender macht? Situation: Anita wünscht sich schon seit langem einen kleinen Hund. Endlich geben die Eltern nach. Doch schon nach wenigen Wochen verliert sie das Interesse an dem Hund und wird mit dem Füttern und Spazierenführen sehr nachlässig. Schließlich drohen 168

Anitas Eltern, den Hund wieder wegzugeben, wenn sie sich nicht besser um ihn kümmert. Anita schreit: »Ihr seid so gemein! Ihr wolltet gar nicht, daß ich einen Hund bekomme! Ihr sucht nur nach einer Ausrede, ihn mir wieder wegzunehmen!« Vorwurf Mutter (Herr Piesack): Du hast die gemeinsten Eltern der Welt! Disput: Na ja, wahrscheinlich habe ich nicht die gemeinsten Eltern der Welt. Eigentlich sind sie ganz in Ordnung. Schließlich haben sie mir Hogan geschenkt, und an meinem Geburtstag ist Papa mit mir und Deb für den ganzen Tag nach New York City gefahren. Das war wirklich toll von ihm. Mutter (Herr Piesack) unterbricht: Hogan ist dein Hund. Sie haben ihn dir gekauft, und jetzt wollen sie ihn wieder loswerden. Sie gönnen dir einfach kein Vergnügen. Fortsetzung des Disputs: Vielleicht sind sie deshalb so wütend, weil ich Hogan nicht so pünktlich gefüttert und spazierengeführt habe, wie ich versprochen hatte. Ich hatte ihnen versprochen, wenn ich einen kleinen Hund bekäme, würde ich ganz allein für ihn sorgen. Aber ich habe nicht gewußt, wieviel Arbeit so ein Hund macht. Wenn ich mir mehr Mühe geben würde, jeden Tag mit ihm hinauszugehen und ihn zu füttern, dann würden sie mir vielleicht ein bißchen helfen. Es ist wohl besser, wenn ich mit Mama und Papa mal darüber rede. Lesen Sie den Vorwurf noch einmal laut vor und bitten Sie Ihr Kind, ihn mit eigenen Worten anzufechten. Jetzt nehmen Sie ein paar Selbstvorwürfe Ihres Kindes aus seiner ABC-Liste; spielen Sie sie mit Herrn Piesack durch. Loben Sie Ihr Kind, wenn es seine Sache gut macht. Wenn es noch aufnahmefähig ist, können Sie auch noch das folgende, letzte Beispiel mit ihm durchgehen. In diesem Fall überhäufen sich alle Personen mit Selbstvorwürfen und fechten sie auch selbst an. Das Beispiel ist daher relativ komplex und eignet sich besser für größere Kinder (zehn Jahre und älter). Wenn Sie glauben, daß Ihr Kind dafür noch zu klein sei, können Sie dieses Beispiel auslassen. In diesem Fall fahren Sie mit dem Teil fort, der sich unmittelbar an das Beispiel anschließt. Situation: Hope ist 14 Jahre alt, ihre Schwester Meagan ist 15 Jahre. Vor einigen Monaten haben sich ihre Eltern getrennt. Hope und Meagan leben bei ihrer Mutter, aber sie sind sonntags den ganzen Tag und donnerstagabends zum Essen beim Vater. Jeden Sonntag spielt sich dasselbe Ritual ab. Ihr Vater holt sie mit dem Auto zu Hause ab. Hope sitzt vorne neben ihm, Meagan auf dem Rücksitz. Hope schaltet das Radio ein und stellt es laut, ihr Vater stellt es leise. Der Vater fragt: »Na, wie geht es so?« Hope murmelt: »Gut.« Dann stellt sie das Radio wieder lauter. Meagan haßt das Verhalten ihrer Schwester und versucht ihrerseits, ein Gespräch in Gang zu bringen. Schließlich schaltet der Vater ärgerlich und frustriert das Radio aus, Hope murmelt eine sarkastische Bemerkung, und Meagan ist still. Hopes Vorwurf: Schon wieder dasselbe! Noch so ein Sonntag voller Spaß und Action. Vater bildet sich ein, wenn er einfach für einen Tag und einen Abend in der Woche in unser Leben hereinschneit, sei alles in Ordnung. Wie kann er fragen: »Na, wie geht es so?« und eine vernünftige Antwort erwarten? Natürlich geht es nicht gut. Er und Mutter haben sich getrennt, und ich muß meine Sonntage opfern, um mit jemandem beisammenzusein, mit dem ich eigentlich jeden Tag beisammensein sollte. Wenn es ihm wirklich wichtig wäre, wie es mir geht, würde er öfters anrufen und nicht nur deshalb Zeit mit mir verbringen, weil zufällig ein bestimmter Wochentag ist. Hopes Disput: Die Sonntage sind scheußlich. Vielleicht sind sie deshalb so gräßlich, weil wir alle so verkrampft sind. Eigentlich müßte das doch nicht so sein. Ich könnte ja mal versuchen, ein bißchen lockerer zu sein und Vater nicht ständig damit ärgern, daß ich das Radio auf volle Lautstärke drehe und nur einsilbige Antworten gebe. Vielleicht meint er das »Na, wie geht es so?« genauso beiläufig, wie meine Freundinnen und ich fragen: »Na, was gibt’s?« Zwar ist die Lage alles andere als ideal, aber immerhin habe ich Glück, daß er so nah bei uns wohnt und daß wir uns sehen können. Manche meiner 169

Freundinnen, deren Eltern sich getrennt haben, sehen ihre Väter überhaupt nicht mehr. Ich verbringe nicht gern jeden Sonntag mit ihm. Manchmal will ich sonntags auch etwas mit meinen Freundinnen unternehmen. Ich fände es besser, wenn wir jede Woche entscheiden würden, welcher Tag uns am besten paßt. Dann würde es uns nicht wie eine lästige Pflicht erscheinen. Das müßte ich ihm mal sagen. Ich verstehe wirklich nicht, warum er uns nicht häufiger anruft. Das muß aber nicht heißen, daß er sich nichts aus uns macht. Schließlich kann ich ihn ja auch selbst anrufen, wenn ich mit ihm reden will, anstatt zu warten, bis er mich anruft. Es stört mich, daß er nicht häufiger anruft, aber wahrscheinlich wäre es besser, ihn erst einmal zu fragen, warum er nicht anruft, statt voreilige Schlüsse zu ziehen. Vielleicht kann ich das im Laufe des Tages mal ansprechen. Meagans Vorwurf: Schon wieder dasselbe. Kaum sitzen wir fünf Minuten im Auto, streiten sich Vater und Hope wieder. Ich müßte es doch fertigbringen, daß alles mal gutgeht. Was mache ich nur falsch? Ich hätte nur das Gespräch in Gang halten müssen, dann wäre alles in Ordnung gewesen. Wenn ich nicht einmal etwas so Einfaches fertigbringe, wie soll es dann je wieder besser werden? Jetzt habe ich alles verdorben. Meagans Disput: Vielleicht bin ich ein bißchen zu streng mit mir. Für ein Gespräch braucht man schließlich zwei Leute. Ich kann reden und reden, bis mir die Luft ausgeht, aber wenn keiner von beiden darauf eingeht, hilft das gar nichts. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als daß alles wieder gutgeht, deshalb versuche ich immer, Dinge zu kontrollieren, die ich gar nicht kontrollieren kann. Ich kann locker und freundlich und gesprächig sein, aber ich kann die beiden nicht dazu bringen, sich auch so zu verhalten. Es ist wirklich ein Elend. Aber wenigstens weiß ich, daß es nicht meine Schuld ist, wenn die beiden aufeinander herumhacken. Vaters Vorwurf: Was zum Teufel soll das? Jeden Sonntag ist es dasselbe. Kaum sitzen wir im Auto, schaltet Hope das Radio ein und dreht es so laut, daß ich kaum mein eigenes Wort verstehen kann. Ich verstehe sie einfach nicht. Will sie mich denn gar nicht sehen? Ich weiß, daß es den Kindern am liebsten wäre, ihre Mutter und ich wären noch zusammen, aber sie müssen die Lage endlich akzeptieren und das Beste daraus machen. Meagan gibt sich wirklich große Mühe. Warum muß Hope alles verderben? Die beiden denken wahrscheinlich, ich sei allein an der Trennung schuld. Ihr Mutter sehen sie tagtäglich, aber wenn die Mädchen mit mir zusammen sind, behandeln sie mich wie einen Fremden. Ich hätte es verdient, daß sie mich besser behandeln. Vaters Disput: Im Augenblick ist alles wirklich schwierig. Ich muß einmal gründlich darüber nachdenken. Erstens hat Hope noch nie gesagt, daß sie mich nicht sehen will. Vielleicht ist sie deshalb so feindselig, weil sie die Trennung noch nicht verkraftet hat. Ich darf nicht vergessen, daß die beiden noch Kinder sind und daß diese Trennung ihre ganze Welt durcheinandergebracht hat. Ich darf auch nicht einfach Hopes Verhalten mit dem von Meagan vergleichen. Meagan ist älter, und sie war schon immer die ruhigere von beiden. Nur weil Meagan nicht offen feindselig ist, darf ich nicht annehmen, daß in ihren Augen alles in Ordnung ist. Bei Hope weiß ich wenigstens, daß sie aufgebracht ist. Ich habe im Grunde keine Ahnung, wie es in Meagan aussieht. Vielleicht werde ich deshalb so schnell wütend, weil ich mich durch die Situation frustriert fühle. Ich will, daß es besser wird, aber es fällt mir schwer, mit den beiden über die Trennung zu sprechen. Ich muß hier wohl viel mehr Geduld aufbringen. Schließlich sind sie noch Kinder. Außerdem habe ich als Vater die Verantwortung, das Thema anzusprechen, auch wenn es schmerzhaft für mich ist, darüber zu reden. Fahren Sie jetzt mit weiteren Beispielen aus der ABC-Liste Ihres Kindes fort. Wenn Sie mit Herrn Piesack arbeiten, lassen Sie ihn jeden Vorwurf laut vorlesen. Fordern Sie das Kind auf, die Rolle dessen zu übernehmen, dem die Vorwürfe gemacht werden, und sie mit eigenen Worten anzufechten.

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Jedes Kind kann lernen, die eigenen, negativen Gedanken anzufechten. Wie bei allen erworbenen Fertigkeiten wird das dem Kind fremd erscheinen. Erinnern Sie sich, wie unnatürlich sich der erste Rückhandschlag anfühlte, als Sie Tennis spielen lernten? Genauso ungewohnt ist es, die eigenen Gedanken zu disputieren. Nach einiger Übung fühlte sich die Rückhand ganz natürlich an; beim Disputieren Ihrer eigenen Gedanken wird das nicht anders sein. Je früher im Leben diese Technik erlernt wird, desto mehr Kummer kann damit verhindert werden. Wenn die Techniken des Optimismus früh gelernt werden, gehen sie Ihnen sozusagen in Fleisch und Blut über. Man kann das mit den Gewohnheiten der Sauberkeit und der Freundlichkeit vergleichen – sie sind sich selbst Lohn genug, und ihre Übung erfolgt automatisch und ist dann auch keine Last mehr. Aber diese Gewohnheit ist noch viel wichtiger als Sauberkeit oder Freundlichkeit. Dies gilt vor allem dann, wenn Ihr Kind beim Depressionstest oder beim CASQ schlecht abgeschnitten hat oder wenn Sie sich nicht gut mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin verstehen. In diesen Fällen sind das Depressionsrisiko und die Gefahr schlechter Schulleistungen bei Ihrem Kind dann sehr hoch, wenn es diese Techniken nicht lernt. Doch wenn es sie lernt, kann es gegen die langanhaltenden Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit, von denen es sonst gequält würde, so gut wie immun werden.

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14

Das optimistische Unternehmen

Denken Sie an die schwierigste Situation in Ihrem Beruf – an den Augenblick, in dem Ihre Arbeit zutiefst entmutigend ist und Sie das Gefühl haben, gegen eine Mauer zu laufen. Wie verhalten Sie sich wenn Sie an diese Mauer stoßen?

 Steve Prosper ist Vertreter bei einer Lebensversicherung. Zwischen 18.30 Uhr und 21.30 Uhr muß er beinahe täglich Menschen anrufen, die ihm unbekannt sind – er muß Telefonwerbung betreiben. Er haßt diese Aufgabe. Die Namen der Menschen, die er anrufen soll, entnimmt er einer Liste aller Ehepaare in Chicago, die kürzlich ein Baby bekommen haben. Ein typischer Abend verläuft so: Der erste mögliche Kunde legt nach 15 Sekunden den Hörer auf. Der zweite erklärt ihm, er habe bereits alle nötigen Versicherungen abgeschlossen. Der dritte fühlt sich einsam: Er läßt Steve reden und erzählt ihm seinerseits eine lange Geschichte über seine Erlebnisse am Vorabend. Nach einer halben Stunde stellt sich heraus, daß er Sozialhilfe bekommt und kein Interesse an einer Versicherung hat. Der vierte sagt: »Lassen Sie mich in Ruhe, Sie aufdringlicher Kerl!« und legt auf. Das ist der Augenblick, in dem es Steve zuviel wird. Er starrt finster auf das Telefon, auf die Liste und wieder auf das Telefon. Er blättert die Zeitung durch. Er starrt wieder auf das Telefon. Schließlich nimmt er ein Glas Cognac und setzt sich vor das Fernsehgerät.

 Naomi Sargent arbeitet bei einer anderen Versicherungsgesellschaft. Sie hat dieselbe Telefonliste für dieselbe harte Aufgabe vor sich liegen. Doch Naomi bringt es fertig, auch die fünfte und sechste und zehnte Telefonnummer ohne Zögern zu wählen. Beim zwölften Anruf gelingt es ihr, ein persönliches Beratungsgespräch zu vereinbaren. Als Steve schließlich drei Abende später denselben Kunden anruft, erklärt ihm dieser höflich, daß er bereits mit einer anderen Vertreterin ins Geschäft gekommen sei.

 Naomi ist erfolgreich; Steve steht am Rande des Scheiterns. Es ist daher kaum überraschend, daß Naomi optimistisch und von ihrer Arbeit begeistert ist, während Steve pessimistisch ist und auf seine Arbeit depressiv reagiert. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, daß Erfolg die Menschen optimistisch macht. Aber in diesem Buch haben wir wiederholt dargelegt, daß es auch anders sein kann. Optimistische Menschen haben Erfolg. In der Schule, auf dem Sportplatz und bei der Arbeit schöpft ein Optimist sein Potential voll aus. Inzwischen kennen wir auch den Grund. Ein optimistischer Mensch ist beharrlich. Wenn er die alltäglichen Rückschläge und sogar die größeren Fehlschläge im Leben erleidet, bleibt er beharrlich. Wenn er bei der Arbeit auf ein Hindernis stößt, macht er trotzdem weiter, vor allem an dem entscheidenden Punkt, an dem auch seine Konkurrenz gegen das Hindernis stößt und schlappzumachen beginnt. Naomi arbeitet nach diesem Prinzip. Sie weiß, daß in ihrer Branche im Durchschnitt nur einer von zehn Anrufen zu einem persönlichen Beratungsgespräch führt und daß nur bei einem von drei solchen Gesprächen auch eine Versicherung abgeschlossen wird. Ihre ganze Energie richtet sich zunächst darauf, das Hindernis zu überwinden, völlig fremde Menschen anrufen zu müssen. Sie benützt eine Reihe von Techniken, die ihren Optimismus stützen, um diese Energie aufrechtzuerhalten. Steve verfügt nicht über diese Techniken. 172

Optimismus hilft bei der Arbeit, und zwar nicht nur dort, wo eine Konkurrenzsituation besteht. Er kann immer dann helfen, wenn Sie Ihre Arbeit satt haben. Er kann darüber entscheiden, ob Sie eine Arbeit gut oder schlecht oder gar nicht machen. Betrachten wir einmal eine Arbeit, die überhaupt nichts mit Konkurrenz zu tun hat – das Schreiben. Beispielsweise das Schreiben dieses Kapitels. Im Gegensatz zu Naomi Sargent bin ich kein geborener Optimist. Ich mußte Techniken lernen (und manchmal erfinden), um die Hindernisse zu überwinden, die sich mir mitunter in den Weg stellen. Für mich ist die Hauptschwierigkeit beim Schreiben, gute Beispiele zu finden, die die dargestellten abstrakten Prinzipien lebendiger erscheinen lassen. Die Beschreibung der Prinzipien fällt mir leicht; das habe ich in zweieinhalb Jahrzehnten Forschungsarbeit üben können. Aber wann immer ich konkrete Beispiele brauchte, bekam ich Kopfschmerzen, die mir signalisierten, daß ich jetzt vor einer Mauer stand. Ich wurde unruhig und begann, mich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Wenn die Mauer sehr hoch erschien, verließ ich das Haus und spielte mit Freunden Bridge. Dieses Muster konnte stunden- und sogar tagelang anhalten. Dadurch blieb nicht nur meine Arbeit liegen, sondern ich wurde auch von Schuldgefühlen und Depression geplagt. All das hat sich geändert. Zwar stehe ich noch immer häufiger vor der Mauer, als mir lieb ist, aber ich habe eine Reihe von Techniken gefunden, die mir immer helfen, sie zu überwinden. In diesem Kapitel werden Sie zwei dieser Techniken lernen, die Sie bei der Arbeit verwenden können: Ihrem eigenen inneren Dialog zuzuhören und Ihren negativen Dialog mit sich selbst anzugreifen. Jeder Mensch kennt seine eigene Mauer: die Stelle, an der er den Mut verliert. Wie Sie sich verhalten, wenn Sie vor dieser Mauer stehen, kann den Unterschied zwischen Hilflosigkeit und Kontrolle, zwischen Scheitern und Erfolg ausmachen. Wir scheitern, wenn sich die Mauer als stärker erweist. Doch die Ursache für unser Scheitern ist nicht Faulheit – auch wenn es vielfach für ein Zeichen von Faulheit gehalten wird, vor dieser Barriere stehenzubleiben. Die Ursache liegt auch nicht in einem Mangel an Begabung oder an Phantasie. Vielmehr liegt sie einfach darin, daß Sie einige äußerst wichtige Techniken nicht gelernt haben, die in keiner Schule unterrichtet werden. Wo laufen Sie bei Ihrer Arbeit gegen die Mauer? Ich möchte, daß Sie sich jetzt auf die regelmäßig wiederkehrende Situation bei der Arbeit besinnen, die Sie am meisten blokkiert und entmutigt. Vielleicht sind es Anrufe bei Kunden. Vielleicht ist es die Aufgabe, einen Dialog zu schreiben. Vielleicht tritt sie auf, wenn Sie sich mit einem Kunden über eine Rechnung streiten müssen. Vielleicht ist es ein Geschäftsabschluß. Vielleicht ist es die Pflicht, einen genauen Kosten-Nutzen-Plan aufzustellen, ehe Sie einen Einkauf tätigen können. Vielleicht ist es der glasige Blick apathischer Schüler. Vielleicht ist es die Geduldsprobe, die Sie bestehen müssen, wenn ein Kollege für eine Arbeit zu viel Zeit braucht. Vielleicht ist es der Versuch, einen Ihnen untergeordneten Angestellten zu motivieren. Suchen Sie nach eigenen Beispielen, denn in diesem Kapitel wird es vor allem darum gehen, wie Sie Ihre ganz persönliche Mauer bei der Arbeit überwinden können.

173

14.1 Die drei Vorteile des Optimismus Erlernter Optimismus ermöglicht es den Menschen, die Mauer zu überwinden – und dies gilt nicht nur für Individuen. Wie wir in Kapitel neun gesehen haben, können die Erklärungsmuster einer ganzen Mannschaft über Sieg und Niederlage entscheiden. Auch große und kleine Unternehmen benötigen Optimismus; sie brauchen Menschen mit Begabung und Energie, aber auch mit Optimismus. Ein Unternehmen, in dem es viele Optimisten gibt, die an den entscheidenden Stellen eingesetzt werden, hat einen großen Vorteil. Diesen Vorteil kann ein Unternehmen auf drei Arten nützen. Die erste Möglichkeit betrifft die Auswahl. Dieses Thema haben wir in Kapitel sechs »Erfolg im Beruf« behandelt. Ein Unternehmen, wie beispielsweise die Metropolitan Life, kann optimistische Personen aussuchen. Optimisten bewältigen vor allem unter Druck mehr als Pessimisten. Begabung und Energie allein genügen nicht. Wie wir gesehen haben, kann es durchaus sein, daß ohne einen unerschütterlichen Glauben an den eigenen Erfolg auch eine hohe Begabung und unermüdliche Energie wenig nützen. Inzwischen werden Optimismusfragebögen von über 50 Unternehmen bei der Auswahl von neuem Personal eingesetzt, denn heute sind nicht nur Talent und Energie, sondern auch der Optimismus entscheidend für den Erfolg. Die Möglichkeit, nach dem Optimismus zu wählen, hat sich besonders für Berufe als wichtig erwiesen, die hohe Kosten bei der Einstellung und Ausbildung mit sich bringen und die eine hohe Fluktuation aufweisen. Die Auswahl nach dem Optimismus kann eine kostspielige Arbeitskraftverschwendung reduzieren helfen. Außerdem steigt dadurch die Produktivität und die Zufriedenheit aller Mitarbeiter. Aber das ist noch nicht der ganze Nutzen des Optimismus. Die zweite Art und Weise, in der ein Unternehmen Optimismus nutzen kann, ist die Plazierung. Strahlender Optimismus ist offensichtlich bei Aufgaben sehr hilfreich, die mit großem Streß und vielen Niederlagen verbunden sind und die daher Initiative, Ausdauer und große Visionen verlangen. Es ist aber auch offensichtlich, daß extremer Pessimismus niemandem nützt. Doch nicht für alle Aufgaben braucht man einen ausgeprägten Optimismus. Manche Berufe benötigen einen kräftigen Schuß Pessimismus. Wie wir in Kapitel sechs gesehen haben, gibt es zahlreiche Belege dafür, daß Pessimisten realistischer sind als Optimisten. Jedes erfolgreiche Unternehmen und jedes erfolgreiche Leben erfordern sowohl eine zutreffende Wahrnehmung der Wirklichkeit als auch die Fähigkeit, über die gegenwärtige Wirklichkeit hinauszuträumen. Es hat sich gezeigt, daß diese beiden Fähigkeiten mitunter auch bei einer einzigen Person anzutreffen sind. Nur wenige Menschen kennen die Techniken, die Sie in diesem Kapitel lernen werden und die Ihnen erlauben, Optimismus oder Pessimismus je nach Bedarf einzusetzen. In jedem großen Unternehmen nehmen unterschiedliche Menschen unterschiedliche Aufgaben wahr. Wie können Sie diese unterschiedlichen Aufgaben den richtigen Leuten zuweisen? Die Frage nach der psychischen Konstitution, die am besten für eine bestimmte Arbeit geeignet ist, umfaßt zwei Aspekte. Erstens: In welchem Ausmaß verlangt die Arbeit Ausdauer und Initiative und bringt häufige Frustration, Ablehnung und sogar Mißerfolge unvermeidlich mit sich? Das sind Berufe, für die optimistische Erklärungsmuster unverzichtbar sind: ¾ ¾ ¾ ¾ ¾ ¾

Verkäufer Makler Öffentlichkeitsarbeit Redakteur in einem Funk- oder Fernsehstudio Spendensammler für Wohltätigkeitszwecke Schöpferische Berufe

174

¾ ¾

Berufe mit harter Konkurrenz Berufe mit hohem Verschleiß

Zweitens: Welche Aufgaben verlangen hingegen einen ausgeprägten Realitätssinn? Diese Aufgaben bringen meist wenig Niederlagen mit sich, weisen eine geringe Fluktuation auf und erfordern spezifische technische Fähigkeiten in einer druckarmen Umgebung. Diese Aufgaben brauchen nachdenkliche Realisten und nicht jene draufgängerischen Individuen, die in den Kreisen der Starverkäufer anzutreffen sind. Es gibt auch Aufgaben für erfahrene Manager und sonstige hochqualifizierte Kräfte, die einen außerordentlich scharfen Realitätssinn erfordern, in denen der Optimismus gebremst werden muß und ein leichter Pessimismus vorteilhaft sein kann. Für diese Aufgaben benötigt man Menschen, die wissen, wann sie nicht vorpreschen dürfen und eher Vorsicht walten lassen müssen. Menschen mit leicht pessimistischem Einschlag eignen sich für folgende Berufe: ¾ ¾ ¾ ¾ ¾ ¾ ¾ ¾ ¾ ¾

Design- und Sicherheitsingenieur Gutachter für technische Planung oder Kostenentwicklung Verhandlungsführer bei Auftragsverhandlungen Finanzkontrolleur oder Buchhalter Rechtsanwalt (nicht als Verteidiger, sondern als Rechtsberater von Unternehmen) Verwaltungsfachmann Statistiker Sachbuchautor Sachverständiger für Qualitätskontrollen Manager für Personalfragen und Tarifverhandlungen

In einem optimistischen Unternehmen ist also das ganze Spektrum des Optimismus repräsentiert, mit Ausnahme des extremen Pessimismus. Wichtig ist jedoch, das Maß des Optimismus herauszufinden und die Person auf den richtigen Platz zu setzen. Darüber hinaus gibt es aber in jedem Unternehmen Menschen, die zu pessimistisch für die Aufgaben sind, die sie erfüllen sollen. Diese Menschen sind oft sehr begabt für ihre Arbeit und verfügen auch über ausreichende Energie; es wäre teuer und unmenschlich, sie einfach durch andere zu ersetzen. Glücklicherweise können diese Menschen Optimismus lernen.

14.2

Optimismus lernen

Der dritte Vorteil, den der Optimismus einem Unternehmen bringt, wird in diesem Kapitel behandelt: Optimismus im Beruf zu lernen. Es gibt nur zwei Gruppen von Personen, die keinen Optimismus für ihren Beruf zu erlernen brauchen: die Glücklichen, die als Optimisten geboren wurden, und jene Menschen, die die soeben aufgelisteten Aufgaben mit geringem Druck und wenigen Niederlagen erfüllen. Alle anderen können Nutzen daraus ziehen, Optimismus zu lernen, vielleicht sogar großen Nutzen. Steve Prosper zum Beispiel war gern Versicherungsvertreter. Er genoß die Unabhängigkeit seiner Arbeit: Niemand kontrollierte ihn, er konnte seine Arbeitszeiten selbst bestimmen und freinehmen, sooft er wollte. Er eignete sich hervorragend zum Versicherungsvertreter und arbeitete sehr motiviert. Nur eines stand seinem Erfolg im Wege: Er konnte die Mauer nicht überwinden. Steve belegte einen viertägigen Kurs in Optimismus. Das ist ein Kurs, den die beiden führenden kognitiven Therapeuten, die ich in Kapitel zwölf erwähnt habe – Dr. Steven Hollon von der Vanderbilt University und Dr. Arthur Freeman vom New Jersey College of Medicine – und ich für Foresight, Inc., entwickelt haben. Foresight, ein Unter175

nehmen in Falls Church, Virginia, wird von Dr. Dan Oran geleitet. Das Unternehmen setzt unsere Optimismusfragebögen in der Wirtschaft ein und veranstaltet Workshops, in denen Optimismus bei der Arbeit eingeübt wird.68 In den meisten Kursen für Verkäufer lernt man, was man seinen Kunden sagen soll. Im Gegensatz dazu liegt das Schwergewicht der Kurse und Übungen bei Foresight auf dem, was Sie sich selbst sagen, wenn sich ein Kunde ablehnend verhält. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Steve Prosper lernte zum Beispiel eine Reihe von Techniken, die für ihn große Veränderungen bewirkten. Dieses Kapitel soll Ihnen einige der grundlegenden Techniken im Hinblick auf Ihre Arbeit vermitteln.

14.3 Ihr innerer Dialog bei der Arbeit: Das ABCDE-Modell Was Sie bei Fehlschlägen denken und was Sie zu sich selbst sagen, wenn Sie vor der Mauer stehen, entscheidet über Ihre nächste Handlung: ob Sie aufgeben oder ob Sie anfangen, die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Unser Denkschema ist das ABCDEModell von Albert Ellis, das Sie bereits aus Kapitel zwölf kennen.

14.4 ABC A steht für »Adversity« (Unglück, negatives Ereignis). Für manche Menschen ist ein negatives Ereignis ein Schlußpunkt. Sie geben auf. Sie sagen sich: »Ich kann nicht mehr. Warum soll ich weitermachen? Es kostet mich den letzten Rest meiner Kraft.« Andere sehen in einem negativen Ereignis nur den Beginn einer Serie von Herausforderungen, die häufig zum Erfolg führt. Als negatives Ereignis kann beinahe alles gelten: der Druck, mehr Geld zu verdienen, das Gefühl, abgelehnt zu werden, Kritik vom Vorgesetzten, das gelangweilte Gähnen eines Schülers, eine Ehefrau, die Sie nicht aus den Augen läßt. Wenn Ihnen ein negatives Ereignis zustößt, werden Ihre »Beliefs« (B; Meinungen, Überzeugungen) aktiviert, also Ihre Erklärungen und Interpretationen des Ereignisses. Die Erklärung ist unsere erste Reaktion auf ein negatives Ereignis. In diesem Buch haben wir immer wieder dargelegt, daß sich diese Erklärungen entscheidend auf die nachfolgenden Schritte auswirken. Welche »Consequences« (C; Folgen, Konsequenzen) haben diese Erklärungen? Unsere Erklärungen können persönlich, dauerhaft und global ausfallen: »Es ist meine Schuld ... Es wird immer so bleiben ... Es wird alles beeinträchtigen, was ich tue.« Bei solchen Erklärungen geben wir auf und fühlen uns wie gelähmt. Wenn unsere Erklärungen optimistisch ausfallen, gewinnen wir Energie. Die Konsequenzen unserer Überzeugungen sind nicht nur Handlungen, sondern auch Gefühle. Bei der folgenden Übung sollen Sie nun einige ABC-Ketten identifizieren. Manche dieser Beispiele werden auch für Ihr Leben zutreffen, andere nicht. Bei jedem Beispiel werde ich das negative Ereignis (A) und entweder die Überzeugung (B) oder die Konsequenz (C) vorgeben. Sie haben die Aufgabe, das fehlende Glied in einer Weise einzusetzen, die zu dem ABC-Modell paßt.

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14.5 Die Identifizierung von ABC-Ketten 1.

A B C

Jemand gefährdet Sie beim Überholen. Sie denken ........................................................................................................ Sie werden wütend und hupen.

2.

A B C

Ein Verkauf, den Sie für sicher hielten, kommt nicht zustande. Sie denken: »Ich bin ein schlechter Vertreter.« Sie fühlen (oder machen) .................................................................................

3.

A B C

Ihr Chef kritisiert Sie. Sie denken ........................................................................................................ Sie sind den ganzen Tag deprimiert.

4.

A B C

Ihr Chef kritisiert Sie. Sie denken ........................................................................................................ Sie fühlen sich trotz des Vorfalls wohl.

5.

A B C

Ihre Frau bittet Sie, jeden Abend zu Hause zu verbringen. Sie denken ........................................................................................................ Sie sind wütend und frustriert.

6.

A B C

Ihre Frau bittet Sie, abends zu Hause zu bleiben. Sie denken ........................................................................................................ Sie sind traurig.

Stellen Sie sich bei den nächsten drei Beispielen vor, Sie seien Vertreter/in: 7.

A B C

8.

A B C

9.

A B C

Sie haben während der ganzen Woche kein einziges Verkaufsgespräch vereinbaren können. Sie denken: »Nichts gelingt mir richtig.« Sie fühlen (oder machen) ................................................................................. Sie haben während der ganzen Woche kein einziges Verkaufsgespräch vereinbaren können. Sie denken: »Ich hatte letzte Woche gute Erfolge.« Sie fühlen (oder machen) ................................................................................. Sie haben während der ganzen Woche kein einziges Verkaufsgespräch vereinbaren können. Sie denken: »Mein Chef hat mir diese Woche eine schlechte Auftragsliste gegeben.« Sie fühlen (oder machen) .................................................................................

In dieser Übung soll Ihnen klarwerden, wie Ihr Denken über negative Ereignisse sich auf das auswirkt, was Sie fühlen und was Sie dann unternehmen. Beim ersten Beispiel haben Sie vermutlich geschrieben: »So ein Depp!«, »Warum hat der es denn so eilig?« oder »So ein rücksichtsloser Rüpel!« Beim fünften Beispiel könnte Ihre Antwort lauten: »Sie denkt nie an meine Bedürfnisse.« Wenn unsere Erklärungen für negative Ereignisse external sind und wenn wir das Gefühl haben, das negative Ereignis betreffe unsere Lebenssphäre, ärgern wir uns. Beim zweiten Beispiel fühlen Sie sich vermutlich traurig, schlapp und lustlos. Die Erklärung »Ich bin ein schlechter Vertreter« ist persönlich, dauerhaft und global – sie ist ein Rezept für Depression. Ähnlich lautet Ihre Erklärung beim sechsten Beispiel (in dem Sie auf die Bitte Ihrer Frau, abends zu Hause zu bleiben, mit Traurigkeit reagieren) vermutlich: »Ich bin rücksichtslos!« oder: »Ich bin ein schlechter Ehemann.« Welche Erklärung könnte dazu führen, daß Sie den ganzen Tag deprimiert sind, weil Ihr Chef Sie kritisiert, wie in Beispiel drei? Eine dauerhafte, globale und persönliche, zum 177

Beispiel: »Ich kann eben nicht gut schreiben!« oder: »Ich mache immer alles verkehrt.« Aber wie haben Sie die Erklärung verändert, damit Sie sich immer noch ganz wohl fühlen konnten, nachdem Ihr Chef Sie kritisiert hatte? Erstens mußten Sie etwas finden, auf das Sie Einfluß haben: »Ich weiß, wo ich Hilfe finde, um effektiver schreiben zu lernen.« – »Ich hätte den Text noch einmal durchgehen sollen.« Zweitens hätte die Erklärung weniger global sein müssen: »Nur dieser Bericht ist so schlecht ausgefallen.« Drittens hätten Sie die Schuld von sich abschieben müssen: »Mein Chef hatte furchtbar schlechte Laune.« – »Ich stand zu sehr unter Zeitdruck.« Wenn Sie diese drei Denkschritte immer dann vornehmen, wenn Sie an Punkt B ankommen, können negative Ereignisse für Sie das Sprungbrett zum Erfolg werden. An den letzten drei Beispielen können Sie sehen, daß Sie sich bei dem Gedanken »Nichts gelingt mir richtig« – dauerhaft, global und persönlich – traurig fühlten und nichts unternahmen. Wenn Sie dachten: »Ich hatte letzte Woche gute Erfolge«, konnten Sie die Traurigkeit von sich fernhalten und Ihre Arbeit fortsetzen. Die Erklärung »Mein Chef hat mir diese Woche eine schlechte Auftragsliste gegeben« ist zeitweilig, spezifisch und external. Sie wären dann zwar böse auf Ihren Chef, könnten aber hoffen, daß es nächste Woche besser wird.

14.6 ABCDE Jetzt sollte Ihnen die ABC-Verbindung zwischen dem, was Sie über negative Ereignisse denken, und dem, was Sie anschließend fühlen, klar sein. Wenn Sie noch nicht überzeugt sind, sondern mehr Belege brauchen, können Sie die Übung der ABC-Liste in Kapitel zwölf mit Beispielen aus Ihrem Arbeitsalltag durchgehen. Jedesmal, wenn Sie sich bei der Arbeit plötzlich niedergeschlagen, traurig, wütend, ängstlich oder frustriert fühlen, schreiben Sie den Gedanken auf, den Sie unmittelbar vorher hatten. Sie werden feststellen, daß diese Gedanken Ihren Antworten in den ABC-Übungen ziemlich ähnlich sind. Wenn Sie Ihre Überzeugungen (B) in bezug auf negative Ereignisse und Ihre Erklärungen dafür ändern, werden sich auch die Konsequenzen (C) ändern. Sie können dann von einer passiven, traurigen oder ärgerlichen Reaktion auf unerfreuliche Ereignisse auf eine kraftvolle, heitere Reaktion umschalten. Diese Fähigkeit hängt wesentlich von D ab. D steht für »Disputation« (Disput). Sie müssen lernen, negative Überzeugungen zu disputieren, also anzufechten.

14.7 Wie Sie Ihre Überzeugungen disputieren können Wenn ein Betrunkener Ihnen zuriefe: »Du machst alles verkehrt! Du hast kein Talent! Gib deine Stelle auf!«, so würden Sie seinen Aussagen wenig Beachtung schenken. Sie würden sie entweder ganz an sich abgleiten lassen und Ihrer Wege gehen, oder, falls er zufällig einen empfindlichen Punkt träfe, im stillen dagegen argumentieren. »Ich habe gerade einen Bericht geschrieben, der uns aus den roten Zahlen gebracht hat.« »Ich wurde gerade zum Vizepräsidenten ernannt.« »Er hat keine Ahnung davon. Außerdem ist er betrunken.« Was aber geschieht, wenn Sie sich selbst solche niederschmetternden Sätze zurufen? Sie glauben sie. Sie wehren sich nicht dagegen. Denn wenn Sie selbst etwas über sich sagen, dann muß es ja wohl unbestreitbar und wahr sein. Das ist ein großer Fehler. Wie wir in anderen Kapiteln dargelegt haben, können die Dinge, die wir uns selbst bei Fehlschlägen sagen, ebenso grundlos sein wie die Beleidigungen durch einen Betrunkenen. Unsere reflexhaften Erklärungen beruhen im allgemeinen nicht auf der Realität. Sie 178

beruhen auf schlechten Gewohnheiten, die aus der Vergangenheit, aus alten Konflikten stammen. Sie gehen auf elterliche Strenge zurück, auf die unwidersprochene Kritik eines einflußreichen Lehrers, auf die Eifersucht eines oder einer Geliebten. Aber da sie aus unserem Inneren kommen – der glaubwürdigsten aller Quellen –, behandeln wir sie als Wahrheiten. Wir lassen zu, daß sie unser Leben beherrschen, ohne auch nur die Stimme gegen sie zu erheben. Ein Großteil der Fähigkeit, mit Mißerfolgen fertig zu werden und die Mauer zu überwinden, besteht darin, die ersten Gedanken disputieren zu lernen, die als Reaktion auf Mißerfolge auftauchen. Unsere Erklärungsgewohnheiten sitzen so tief, daß es viel Übung verlangt, sie wirksam bekämpfen zu lernen. Damit Sie Ihre automatischen Gedanken disputieren können, müssen Sie zuerst lernen, Ihren eigenen inneren Dialog wahrzunehmen, wenn er stattfindet. Das folgende Spiel zeigt Ihnen den Weg.

14.8 Stabhochsprung über die Mauer Im Mittelpunkt dieses Spiels steht Ihre eigene, persönliche Mauer, der Teil Ihrer Arbeit, der Sie am häufigsten zum Aufgeben bringt. In unseren Workshops für Versicherungsvertreter ist dieser Teil leicht aufzuspüren. Es ist die Telefonwerbung, bei der man völlig unbekannte Menschen anrufen muß, um ein Verkaufsgespräch mit ihnen zu vereinbaren. Man muß dabei unbeirrt bei der Sache bleiben. Wenn ein Vertreter dabei leicht den Mut verliert und sich nach einer Ablehnung nicht rasch wieder erholen kann, bleibt er auf der Strecke. Erfolg haben nur jene Vertreter, die jeden Abend 20 Anrufe tätigen. Wir benützen Telefonwerbung als Instrument, mit dessen Hilfe die Vertreter die ABCFolgen bei ihrer Arbeit identifizieren können. Die Teilnehmer bringen ihre Telefonlisten in den Workshop. Als Hausaufgabe tätigen sie am ersten Abend zehn Anrufe. Nach jedem Anruf schreiben sie die Art des negativen Ereignisses, die Überzeugung und die Konsequenzen auf. Sie hören sich etwa folgende Sätze sagen: Negatives Ereignis (A): Ich will mit den Anrufen anfangen. Überzeugung (B): Ich hasse diese Anrufe. Sie sind eine Zumutung, ich sollte sie gar nicht erst machen. Konsequenz (C): Ich fühlte mich wütend und angespannt. Es fiel mir schwer, überhaupt den Hörer abzuheben. Negatives Ereignis (A): Der erste, den ich anrief, legte einfach auf. Überzeugung (B): Das war unhöflich. Er hat mir nicht einmal eine Chance gegeben. Er sollte mich nicht so behandeln. Konsequenz (C): Ich fühlte mich verletzt und mußte eine Pause einlegen, bevor ich den zweiten Anruf tätigen konnte. Negatives Ereignis (A): Der erste, den ich anrief, legte einfach den Hörer auf. Überzeugung (B): Na ja, das ist schon ein »Nein« weniger. Damit komme ich einem »Ja« näher. Konsequenz (C): Ich fühlte mich entspannt und energiegeladen. Negatives Ereignis (A): Ich redete beinahe zehn Minuten lang mit einer Frau, aber dann wollte sie doch keinen Gesprächstermin vereinbaren. Überzeugung (B): Das habe ich ganz falsch angepackt. Wenn ich bei einem solchen Gespräch keinen Termin vereinbaren kann, muß ich ein schlechter Vertreter sein. Konsequenz (C): Ich war niedergeschlagen und frustriert und fürchtete mich vor dem nächsten Anruf. Wie Sie sehen, reagieren wir mit Niedergeschlagenheit und Resignation, wenn auf ein negatives Ereignis eine dauerhafte, globale und persönliche Erklärung folgt (»Ich muß wirklich ein schlechter Vertreter sein!«). Folgt auf einen Mißerfolg eine optimistische 179

Erklärung (»Das ist schon ein ›Nein‹ weniger!«), dann führt das zu Energie und guter Laune. Jetzt sind Sie an der Reihe, einen Stabhochsprung über Ihre eigene Mauer zu machen. Bitte stellen Sie sich auf Ihren inneren Dialog ein, der einsetzt, wenn Sie bei der Arbeit vor Ihrer Mauer stehen. Nun können Sie erkennen, wie die Überzeugungen, die Sie dabei entdecken, Ihre nachfolgenden Gefühle und Handlungen beeinflussen. Es gibt drei Varianten dieses Spiels. Wählen Sie diejenige aus, die zu Ihrem Beruf paßt. 1.

Wenn es zu Ihrem Beruf gehört, Fremde anzurufen, nehmen Sie Ihre Liste zur Hand. Rufen Sie fünf Leute an. Nach jedem Telefonat schreiben Sie auf, ob der Anruf ein negatives Ereignis war und welcher Art. Schreiben Sie die Gedanken auf, die Ihnen durch den Kopf gegangen sind, notieren Sie Ihre Gefühle und Handlungen. Tragen Sie Ihre Notizen in die nachfolgende Liste ein.

2.

Wenn es nicht zu Ihrem Beruf gehört, Fremde anzurufen, suchen Sie sich bitte eine Mauer, vor der Sie bei Ihrer Arbeit jeden Tag stehen, damit Sie Ihr persönliches ABC-Muster ausfindig machen können. Zwei Beispiele können Ihnen dabei helfen. Beim Unterrichten stellt die Apathie der Schüler eine Mauer dar. Was ich auch mache und wie kreativ ich auch sein mag, es gibt immer auch einige Kinder, die einfach nicht lernen wollen. Ich hasse es, ihnen Wissen mit Gewalt einzutrichtern. Das Bewußtsein, daß ich diese Kinder nicht erreichen kann, macht es mir immer schwerer, kreativ zu sein. Mir drängt sich die Frage auf: »Wozu soll ich mich so anstrengen?« In der Krankenpflege werden die Krankenschwestern von oben und von unten schlecht behandelt. Das führt dazu, daß sie sich »ausgebrannt« fühlen. Die Patienten sind häufig anspruchsvoll, aggressiv und wehleidig; die Ärzte sind oft anspruchsvoll, aggressiv und unfreundlich. Die Krankenschwestern fühlen sich deshalb überstrapaziert und geringschätzig behandelt. Eine ihrer typischen Klagen lautet: »Ich sage mir zu Beginn jeder Schicht, daß ich mich nicht unter Druck setzen lassen werde. Natürlich sind die Patienten anspruchsvoll und wehleidig – sie sind krank und müssen im Krankenhaus liegen, wer könnte da noch fröhlich sein? Das Verhalten der Ärzte kann ich nicht so leicht entschuldigen. Statt mich wie eine Mitarbeiterin zu behandeln, tun sie so, als sei meine Arbeit gar nicht wichtig und als sei ich viel weniger intelligent als sie. Nach einer Weile spüre ich die Wirkung, ganz gleich, wie viele gute Vorsätze ich am Morgen fasse, und fürchte mich vor der nächsten Schicht. Ich werde lethargisch und launisch und zähle ständig die Stunden bis zum Ende der Schicht.« Jetzt identifizieren Sie die Mauer, vor der Sie selbst täglich bei Ihrer Arbeit stehen. Doch diesmal sollten Sie darauf achten, was Sie sich selbst sagen. Sobald Sie die Zeit dafür finden, sollten Sie das negative Ereignis, Ihre Überzeugungen und die Konsequenzen aufschreiben. Tragen Sie die Notizen in dem dafür vorgesehenen freien Platz in der nachstehenden Liste ein.

3.

Die dritte Variante ist für Menschen, die nur von Zeit zu Zeit vor der Mauer stehen. Dies betrifft beispielsweise das Problem, bei längeren Berichten oder größeren Projekten den Anfang zu finden – eine Schwierigkeit, die normalerweise nur ein paarmal im Jahr auftritt. Auch bei der Führung anderer Menschen stehen wir nicht jeden Tag vor Problemen. Managern stellt sich vor allem eine Aufgabe als anscheinend unüberwindliches Hindernis entgegen: die Motivation der von ihnen geführten Mitarbeiter. Ein Manager drückte dies einmal so aus: »Es kann manchmal sehr frustrierend sein, Menschen zu führen ... zumindest zeitweise. Die schwierigste Aufgabe besteht darin, 180

die Mitarbeiter auf einem hohen Motivations- und Leistungsstand zu halten. Obwohl ich mich vor dieser Aufgabe fürchte, bemühe ich mich, positiv zu sein. Ich versuche, durch mein Beispiel zu führen, aber manchmal verstehe ich einfach nicht, was in den Köpfen der Leute vorgeht. Ich komme mir selbst wie ein unerträglicher Nörgler vor, wenn ich die Mitarbeiter dauernd kontrollieren muß. Ich darf nicht zu weich sein, aber ich will auch nicht zu hart sein. Am Ende fühle ich mich völlig ineffektiv. Wie gesagt, es kann sehr frustrierend sein.« Wenn Sie zu den Menschen gehören, für die diese dritte Kategorie zutrifft, kann Ihnen der folgende Test eine Hilfe bieten. Nehmen Sie sich zu Hause 20 Minuten Zeit und ziehen Sie sich in einen ruhigen Raum zurück. Stellen Sie sich die Situation, die für Sie eine Mauer darstellt, so lebhaft wie möglich vor. Benützen Sie auch die Hilfsmittel, die Sie normalerweise einsetzen. Wenn beispielsweise Ihre Mauer darin besteht, daß Sie Mühe mit Berichten haben, sollten Sie jetzt ein leeres Blatt Papier vor sich hinlegen. Stellen Sie sich vor, Sie müßten den Bericht morgen abliefern. Lassen Sie die ganze Verzweiflung hochkommen, die Sie in dieser Situation gewöhnlich empfinden; steigern Sie sich richtig in die Situation hinein. Wenn Sie Manager sind, stellen Sie sich das Gesicht ihres säuerlichsten Angestellten vor. Spielen Sie sich selbst eine Auseinandersetzung vor. Schreiben Sie die negativen Ereignisse, Ihre Überzeugungen und die Konsequenzen auf. Dies sollten Sie fünfmal durchführen und dabei das negative Ereignis jedesmal unter einem anderen Gesichtspunkt betrachten. Tragen Sie Ihre Notizen in die folgenden Leerzeilen ein. Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ 181

Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Wenn Sie Ihre fünf ABC-Folgen aufgeschrieben haben, gehen Sie Ihre Überzeugungen aufmerksam durch. Sie werden feststellen, daß pessimistische Erklärungen in Ihrem eigenen, inneren Dialog Passivität und Niedergeschlagenheit auslösen, während optimistische Erklärungen Sie zur Aktivität anregen. Also besteht der nächste Schritt darin, diese gewohnheitsmäßig pessimistischen Erklärungen zu ändern, die von negativen Ereignissen hervorgerufen werden. Diesem Zweck dient die zweite Runde des Spiels: Sie üben den Disput.

14.9 Disput In der zweiten Runde des Spiels »Stabhochsprung über die Mauer« wiederholen Sie, was Sie in der ersten Runde gemacht haben. Diesmal jedoch müssen Sie Ihre pessimistischen Erklärungen disputieren. Zum Glück braucht man nicht viel Übung, um die Technik des Disputierens zu lernen. Sie tun das jeden Tag, entweder in Wirklichkeit oder in Ihrem Kopf, wenn Sie nicht mit dem einverstanden sind, was andere tun oder sagen. Sie haben schon Ihr ganzes Leben lang geübt, negative Überzeugungen anzufechten. Dabei haben Sie jedoch immer unterlassen, Ihre eigenen, negativen Überzeugungen so zu behandeln, als stammten sie nicht von Ihnen selbst, sondern von einem eifersüchtigen Mitarbeiter, einem aufsässigen Studenten oder Ihrem ärgsten Feind. Wenn Sie heute abend nach Hause kommen, sollten Sie dasselbe Szenario verwenden, das Sie in der ersten Phase verwendet haben – nehmen Sie Ihre Namenliste für die Telefonwerbung oder gehen Sie in einen ruhigen Raum und stellen Sie sich vor, sie säßen vor Ihrer Mauer bei der Arbeit. Konzentrieren Sie sich jetzt bei jedem der fünf von Ihnen notierten negativen Ereignisse auf Ihre eigenen, negativen Gedanken. Disputieren Sie diese Gedanken. Nach jedem einzelnen Ereignis halten Sie das ABC, Ihren Disput (D) und den Energieschub (E) mit den darauffolgenden Gefühlen fest. Doch ehe Sie damit beginnen, sollten Sie die folgenden Beispiele durchlesen, um die Technik des Disputierens noch besser kennenzulernen.

14.9.1 Telefonwerbung Negatives Ereignis (A): Bei einem Anruf legte jemand den Hörer auf, nachdem er mir lange zugehört hatte. Überzeugung (B): Er hätte mich ausreden lassen sollen, wenn er mich schon so weit kommen ließ. Ich muß etwas falsch gemacht haben, daß das Gespräch so spät noch schiefgelaufen ist. Konsequenz (C): Ich war wütend auf den Gesprächspartner und sehr enttäuscht von mir selbst. Nach diesem Fehlschlag hatte ich keine Lust mehr. Disput (D): Vielleicht war er gerade sehr beschäftigt und wollte möglichst schnell wieder damit weitermachen. Ich muß ganz gut gewesen sein, um jemanden, der so beschäftigt war, so lange am Telefon halten zu können. Ich kann schließlich nicht kontrollieren, war er tut. Ich kann nur mein Material so gut wie möglich darstellen und hoffen, daß der Gesprächspartner interessiert ist und sich die Zeit nimmt zuzuhören. Dieser Mann hatte offensichtlich keine Zeit. Das ist zu seinem eigenen Nachteil. 182

Energieschub (E): Ich war bereit, den nächsten Anruf zu machen. Ich war zufrieden mit meiner Präsentation und vertraute darauf, daß sich meine Arbeit auf lange Sicht lohnen würde. Negatives Ereignis (A): Der Mann hatte Interesse, wollte aber keinen Gesprächstermin vereinbaren, ehe er mit seiner Frau gesprochen hatte. Überzeugung (B): So eine Zeitverschwendung! Jetzt kann ich mich vielleicht nicht um andere Gelegenheiten kümmern, weil ich noch einmal mit diesem Ehepaar reden muß. Warum kann er diese Entscheidung nicht alleine treffen? Konsequenz (C): Ich war sehr ungeduldig und auch ein bißchen verärgert. Disput (D): Das war doch zumindest keine Ablehnung. Und Zeitverschwendung war es auch nicht, denn es kann gut sein, daß wir doch noch einen Termin vereinbaren. Wenn er eine Versicherung abschließt, schließt seine Frau vielleicht auch eine ab. Die halbe Arbeit ist also schon geleistet. Energieschub (E): Ich fühlte mich zuversichtlich und optimistisch, daß ich mit ein wenig zusätzlicher Mühe eine Versicherung abschließen kann. Negatives Ereignis (A): Ich wählte 20 Nummern und traf nur sechs Leute an. Überzeugung (B): Das ist Zeitverschwendung. Ich habe nicht genug Energie, um erfolgreich zu sein. Ich organisiere meine Arbeit nicht richtig. Konsequenz (C): Ich fühlte mich frustriert, müde und deprimiert. Disput (D): Sechs Telefonate in einer Stunde sind nicht so schlecht. Es ist noch nicht einmal 20 Uhr, also kann ich noch eineinhalb Stunden lang telefonieren. Jetzt nehme ich mir zehn Minuten Zeit und ordne meine Papiere besser, dann kann ich in der kommenden Stunde mehr Anrufe schaffen als in der letzten. Energieschub (E): Ich fühlte mich nicht mehr so deprimiert und hatte mehr Energie, weil ich nun einen Handlungsplan hatte. Negatives Ereignis (A): Mein Mann rief mich an, als ich gerade mit meinen Kundenanrufen beschäftigt war. Überzeugung (B): Warum ruft er mich jetzt an? Er stört mich bei der Arbeit und verschwendet meine Zeit. Konsequenz (C): Ich war ärgerlich und kurz angebunden. Disput (D): Sei doch nicht so hart zu ihm. Er konnte ja nicht wissen, daß sein Anruf dich stört. Er dachte wahrscheinlich, der Anruf wäre eine angenehme Unterbrechung. Es ist nett von ihm, daß er an mich denkt, wenn wir nicht zusammen sind. Ich freue mich, daß ich einen so lieben und freundlichen Mann habe. Energieschub (E): Ich entspannte mich und hatte ein gutes Gefühl in bezug auf meinen Mann und unsere Ehe. Ich rief ihn noch einmal an und erklärte ihm, warum ich so kurz angebunden gewesen war. Negatives Ereignis (A): Ich rief 40 Leute an und konnte keinen einzigen Termin vereinbaren. Überzeugung (B): Mir will überhaupt nichts gelingen. Ich verschwende nur meine Zeit und meine Energie. Konsequenz (C): Ich fühlte mich frustriert und wütend, weil ich meine Zeit mit diesen Anrufen vertan hatte. Disput (D): Es war nur ein Abend, und es waren nur 40 Anrufe. Alle haben Schwierigkeiten mit der Telefonwerbung, und ein Abend wie dieser kommt eben ab und zu mal vor. Auf alle Fälle war es eine Erfahrung, aus der ich lernen konnte. Ich habe meine Präsentation geübt, also werde ich morgen abend noch besser sein. Energieschub (E): Ich fühlte mich noch immer ein wenig frustriert, aber viel weniger als vorher, und ich war nicht mehr wütend. Morgen abend werde ich ein besseres Ergebnis erzielen.

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14.9.2 Unterricht Negatives Ereignis (A): Es ist mir nicht gelungen, die Gleichgültigkeit einiger meiner Schüler gegen das Lernen zu überwinden. Überzeugung (B): Warum kann ich diese Kinder nicht erreichen? Wenn ich dynamischer oder kreativer oder intelligenter wäre, könnte ich in Ihnen die Freude am Lernen wecken. Diese Kinder brauchen besonders dringend Hilfe; wenn ich sie nicht erreichen kann, tauge ich nichts. Ich bin einfach nicht zum Lehrer geboren. Konsequenz (C): Ich habe keine Lust und kann auch nicht kreativ sein. Ich habe wenig Energie und fühle mich deprimiert und niedergeschlagen. Disput (D): Es ist Unsinn, meine Fähigkeiten als Lehrer an einer kleinen Gruppe von Schülern zu messen. Die Wahrheit ist, daß ich in den meisten Schülern durchaus Begeisterung wecken kann. Ich verbringe auch eine Menge Zeit damit, interessante Unterrichtsstunden vorzubereiten, die den Schülern so viel persönlichen Spielraum wie möglich geben. Am Ende des Schulhalbjahres, wenn ich ein bißchen mehr Zeit habe, kann ich ein Treffen mit den anderen Lehrern und Lehrerinnen der Schule organisieren, die dasselbe Problem haben. Vielleicht finden wir gemeinsam ein paar Ideen, die uns helfen, auch die apathischen Schüler zu erreichen. Energieschub (E): Ich habe eine bessere Meinung von meiner Arbeit als Lehrer und hoffe, daß Diskussionen mit anderen Lehrkräften zu neuen Ideen führen werden.

14.9.3 Krankenpflege Negatives Ereignis (A): Ich habe noch sechs Stunden Dienst, die Station ist personell unterbesetzt, und eine Arztin hat mir gerade gesagt, ich sei zu langsam. Überzeugung (B): Sie hat recht. Ich bin wirklich zu langsam. Ich sollte eigentlich dafür sorgen, daß alles glatt läuft, aber ich schaffe es nicht. Die anderen Krankenschwestern werden besser mit der Situation fertig. Ich bin wohl nicht gut genug für diesen Beruf. Konsequenz (C): Ich fühle mich sehr unzulänglich und habe Schuldgefühle, weil ich meine Arbeit nicht so gut mache wie ich sollte. Ich habe Lust, mitten in der Schicht aus dem Krankenhaus davonzulaufen. Disput (D): Es wäre ideal, wenn jederzeit alles glatt liefe, aber das ist nicht realistisch, besonders in einem Krankenhaus. Ich bin aber auch nicht als einzige dafür verantwortlich. Ich bin genauso gut wie die anderen Krankenschwestern. Vielleicht war ich ein bißchen langsamer als sonst, aber bei uns fehlen heute ein paar Leute, deshalb bin ich für mehr Dinge verantwortlich als gewöhnlich und brauche also auch ein bißchen länger. Ich fühle mich gut, weil ich zusätzliche Arbeit übernommen habe; es gibt keinen Grund, mich schlecht zu fühlen, nur weil die Arztin ihre Arbeit ein wenig umstellen muß. Energieschub (E): Ich habe ein viel besseres Gefühl in bezug auf mich selbst und viel weniger Schuldgefühle, wenn die Ärztin nicht alles so antrifft, wie sie es gewohnt ist. Die Aussicht, noch sechs Stunden Dienst zu haben, ist nicht mehr so bedrückend.

14.9.4 Manager Negatives Ereignis (A): Meine Abteilung erreicht nicht ihre vorgesehene Produktionsleistung. Mein Chef hat sich kürzlich darüber beklagt. Überzeugung (B): Warum schaffen meine Leute ihre Arbeit nicht richtig? Ich habe ihnen alles gezeigt, was sie wissen müssen, aber sie packen es einfach nicht. Warum kann ich sie nicht dazu bewegen, besser zu arbeiten? Dazu bin ich doch angestellt worden. Und jetzt beklagt sich mein Chef. Er denkt, es sei alles meine Schuld, und hält mich für einen schlechten Manager. Konsequenz (C): Ich bin wirklich wütend und ärgerlich über meine ganze Abteilung. Am liebsten würde ich alle in mein Büro rufen und sie ordentlich rüffeln. Ich fühle mich

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auch in bezug auf mich selbst schlecht und bin nervös wegen meines Jobs. Am liebsten würde ich meinem Chef aus dem Weg gehen, bis wir wieder unser Soll erfüllen. Disput (D): Es ist richtig, daß meine Abteilung ihr Soll nicht erfüllt. Aber ich habe mehrere Leute neu eingestellt, und es dauert eine Weile, bis sie alles richtig machen und zügig arbeiten können. Ich kenne solche Situationen, aber so viele Neue hatte ich noch nie auf einmal. Ich habe ihnen zwar alle wichtigen Instruktionen gegeben, aber sie brauchen trotzdem Zeit. Manche sind schon etwas schneller geworden, und einer ist wirklich sehr gut. Ich habe nichts verkehrt gemacht. Und die alten Mitarbeiter leisten gute Arbeit, also braucht es nur Geduld und vor allem viel Aufmerksamkeit für die Neuen. Ich habe meinem Chef all das erklärt; er weiß, daß es stimmt – jedenfalls hat er nicht gesagt, ich solle etwas anderes ausprobieren. Ich wette, die Manager der Produktionsabteilung haben ihn unter Druck gesetzt. Sie sind unnachgiebig, also muß auch er sich unnachsichtig zeigen. Ich will noch einmal mit ihm reden und ihn direkt fragen, ob ich irgend etwas versäumt habe. Gleichzeitig werde ich meine Leute weiter anfeuern, ermutigen und motivieren. Außerdem kann ich vielleicht die alten Mitarbeiter dazu bringen, den Neuen zu helfen. Energieschub (E): Ich hatte nicht mehr das Bedürfnis, sie zu rüffeln. Vielmehr kann ich die Situation jetzt ruhig und offen mit ihnen besprechen. Ich bin nicht mehr so nervös wegen meines Jobs, weil ich weiß, daß ich in dieser Firma bisher gut gearbeitet habe. Statt meinen Chef zu meiden, werde ich zu ihm gehen, ihm von meinem Vorgehen berichten und seine Fragen beantworten. Jetzt sind Sie an der Reihe, Ihre Dispute aufzuschreiben. Machen Sie fünf Durchgänge. Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Disput (D): ______________________________________________________________________ Energieschub (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Disput (D): ______________________________________________________________________ Energieschub (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ 185

______________________________________________________________________ Disput (D): ______________________________________________________________________ Energieschub (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Disput (D): ______________________________________________________________________ Energieschub (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Negatives Ereignis (A): __________________________________________________ ______________________________________________________________________ Überzeugung (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Konsequenz (C): _______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Disput (D): ______________________________________________________________________ Energieschub (B): ______________________________________________________ ______________________________________________________________________ Wenn Sie Ihre negativen Überzeugungen disputieren, werden Sie wahrscheinlich feststellen, daß sich die Konsequenzen von Niedergeschlagenheit und Unlust in Belebung und Stimmungsaufschwung verwandelten. Sie werden wahrscheinlich ein wenig Übung brauchen, um Ihre automatischen, pessimistischen Gedanken erfolgreich anfechten zu können. Wir wenden uns nun einer Übung zu, die Ihre Erfolgsaussichten weiter steigern soll.

14.10

Die Externalisierung der Stimmen

Sie betreten das Büro; Ihr Chef runzelt die Stirn. Sie denken: »Mein letzter Bericht war nicht gut. Vielleicht wirft er mich jetzt raus.« Sie fühlen sich niedergeschlagen. Sie schleichen in Ihr Büro und starren finster auf Ihren Bericht. Sie bringen es nicht einmal fertig, ihn noch einmal durchzulesen. Sie brüten zehn Minuten lang über diesem Bericht; Ihre Stimmung wird immer schlechter. Wenn Ihnen so etwas passiert, müssen Sie die schlechte Stimmung durch Disputieren überwinden. Setzen Sie sich also mit Ihren pessimistischen Erklärungen für das Stirnrunzeln Ihres Chefs oder für die sonstigen Ursachen Ihrer schlechten Stimmung auseinander. Wie wir in den letzten beiden Kapiteln dargestellt haben, richtet sich ein wirksamer Disput vor allem auf folgende vier Fragen:

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¾ ¾ ¾ ¾

Beweise? Alternativen? Implikationen? Nutzen?

14.10.1 Beweise Versetzen Sie sich in die Rolle eines Detektivs und fragen Sie sich: »Welche Beweise gibt es – sowohl für als auch gegen meine Überzeugung?« Zum Beispiel: Weshalb haben Sie angenommen, Ihr Bericht sei die Ursache für das Stirnrunzeln des Chefs? Wußten Sie, daß an Ihrem Bericht etwas nicht in Ordnung war? Enthält er etwas, das Ihrem Chef mißfallen haben könnte? Haben Sie alle offenkundig wichtigen Faktoren berücksichtigt? Sind die Schlußfolgerungen richtig abgeleitet? Hat Ihr Chef den Bericht überhaupt schon gelesen, oder liegt er noch auf dem Schreibtisch seiner Sekretärin? Sie werden häufig feststellen, daß Sie dem Katastrophendenken verfallen sind, daß Sie ohne handfeste Beweise zu den schlimmsten Schlußfolgerungen gelangten, die man sich vorstellen kann – und manchmal mit sehr dürftigen Begründungen.

14.10.2 Alternativen Gibt es irgendeine Möglichkeit, das negative Ereignis in einem anderen Licht zu betrachten? Zum Beispiel: Welche anderen Erklärungen gibt es für das Stirnrunzeln Ihres Chefs? Solche anderen Erklärungen fallen Ihnen vielleicht nicht so schnell ein, weil Ihre automatischen, pessimistischen Erklärungen jahrelang unwidersprochen blieben und deshalb sehr tief sitzen können. Sie müssen bewußt nach allen erdenklichen plausiblen, alternativen Erklärungen suchen. »Hat er gerade einen schwarzen Tag?« – »Hat er die letzte Nacht durcharbeiten müssen?« – »Bezieht sich sein Stirnrunzeln tatsächlich auf meinen Bericht, oder findet er nur meine Krawatte zu auffallend?« Wenn Sie mehrere Erklärungen gefunden haben, können Sie zum ersten Schritt zurückkehren und nach Beweisen für jede einzelne Erklärung suchen.

14.10.3 Implikationen Wenn nun aber Ihre düstere Erklärung richtig ist? Bricht dann die Welt zusammen? Angenommen, Ihr Chef hat sich wirklich über Ihren Bericht geärgert. Heißt das, daß er Sie hinauswerfen wird? Schließlich ist es Ihre erste Fehlleistung. Wie können Sie verhindern, daß er sich nun ein negatives Bild von Ihren Fähigkeiten zu machen beginnt? Gehen Sie wieder zurück zum ersten Schritt: Welche Beweise gibt es dafür, daß er Sie hinauswerfen will, selbst wenn ihm Ihr Bericht nicht gefallen hat? Eine unerfreuliche Situation ist noch keine Katastrophe. Lernen Sie die wichtige Technik, dem Katastrophendenken entgegenzuwirken – prüfen Sie die Implikationen möglichst realistisch.

14.10.4 Nutzen Nicht immer lautet die zentrale Frage, ob Ihre Erklärung zutrifft. Häufig kommt es eher darauf an, ob es überhaupt einen Nutzen hat, jetzt über das Problem nachzudenken. Wenn Sie Seiltänzer wären, würde ich Ihnen nicht empfehlen, sich Gedanken über die Folgen eines Sturzes zu machen, solange Sie oben auf dem Seil stehen. Es könnte zwar sehr nützlich sein, zu einem anderen Zeitpunkt darüber nachzudenken, aber nicht just in

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dem Augenblick, in dem Sie all Ihre Konzentrationsfähigkeit brauchen, um den Sturz zu vermeiden. Nützt es Ihnen jetzt etwas, über die schlimmsten Konsequenzen des Stirnrunzelns Ihres Chefs nachzudenken? Oder wird Ihr Brüten eher Ihre Vorbereitung auf die wichtige Besprechung stören, die Sie heute nachmittag leiten sollen? Wenn ja, dann sollten Sie sich von Ihren negativen Überzeugungen ablenken.

14.11 Wie Sie Ihre Sorgen aus Ihrem Kopf vertreiben können Es gibt drei zuverlässige Methoden, sich abzulenken. Alle drei sind sehr einfach, aber dennoch sehr effektiv: 1.

Suchen Sie nach einer körperlichen Ablenkung. Sie können zum Beispiel ein Gummiband am Handgelenk tragen und es kräftig schnappen lassen. Sie können sich auch kaltes Wasser ins Gesicht spritzen und dabei laut »Stop!« rufen.

2.

Setzen Sie eine bestimmte Zeit fest, in der Sie »in Ruhe über die Dinge nachdenken« wollen. Vielleicht eine halbe Stunde am Abend oder zu jeder anderen Tageszeit, die für Sie günstig ist. Wenn Sie sich beim Grübeln ertappen, können Sie sich selbst sagen: »Stop! Darüber werde ich heute abend um halb acht nachdenken.« Unser Gehirn ist so beschaffen, daß quälende, unablässig im Kopf kreisende Gedanken auch einen Sinn haben: Dieser Vorgang verhindert, daß wir wichtige Angelegenheiten vergessen oder vernachlässigen. Wenn wir jedoch eine bestimmte Zeit dafür reservieren, diese Angelegenheit durchzudenken, beseitigen wir den Grund dafür, jetzt sofort grübeln zu müssen. Das Grübeln verliert dann seine psychische Notwendigkeit.

3.

Schreiben Sie die quälenden Gedanken in dem Augenblick auf, in dem Sie Ihnen bewußt werden. Dann sind Sie ihnen nicht mehr hilflos ausgeliefert, sondern können freiwillig, und bewußt zu ihnen zurückkehren, wenn die Zeit dafur günstig ist. Wie die zweite Methode entzieht auch diese dritte dem Grübeln die Existenzgrundlage.

Sie sind nun mit den vier Möglichkeiten gerüstet, Ihre pessimistischen Erklärungen, anzufechten – Beweise? Alternativen? Implikationen? Nutzen? Nun können Sie üben, Ihren Disput zu externalisieren: Ihre Gedanken so zu äußern, daß man sie bearbeiten kann. Die folgende Technik hat sich bei vielen Seminaren über Optimismus bewährt: Bitten Sie einen Kollegen oder eine Kollegin Ihres Vertrauens um Hilfe. Wenn niemand aus Ihrem Arbeitsbereich geeignet erscheint, können Sie auch Ihren Ehepartner oder einen geduldigen Freund darum bitten. Ihr Partner oder Ihre Partnerin hat die Aufgabe, Ihnen pessimistische Kritik der Art an den Kopf zu werfen, mit der Sie sich gewöhnlich selbst überhäufen. Gehen Sie mit Ihrem Partner Ihre ABCDE-Liste durch; er soll erkennen, welche Art von Selbstvorwürfen Sie sich machen. Ihre Aufgabe ist es, sich auf den »Stuhl des Angeklagten« zu setzen und sich laut gegen die Kritik zu wehren. Versuchen Sie, die Kritik zu entkräften. Benützen Sie jedes Argument, das Ihnen einfällt. Lesen Sie zunächst die folgenden Beispiele durch: Kollege/Kollegin (greift Sie an, wie Sie sich sonst selbst angreifen): Die Managerin hat keinen Blickkontakt mit dir aufgenommen, als du gesprochen hast. Sie scheint deine Äußerungen nicht für sehr wichtig zu halten. Sie (auf dem »Stuhl des Angeklagten«): [Beweis] Es ist wahr, daß die Managerin mich während meiner ganzen Rede kaum angeblickt hat. Sie machte wirklich nicht den Eindruck, als hörte sie mir aufmerksam zu. [Implikationen] Das heißt aber noch nicht, daß meine Ideen unwichtig sind oder daß sie sie für unwichtig hält. 188

[Alternativen] Vielleicht hat sie gerade andere Dinge im Kopf. [Beweis] Ich weiß, daß sie schon oft meine Ideen zur Kenntnis genommen und mich sogar mehrmals nach meiner Meinung gefragt hat. Kollege/Kollegin unterbricht: Du mußt ganz schön dumm sein. Sie setzen den Disput fort: [Implikationen] Selbst wenn ihr meine Ideen nicht gefallen haben, heißt das noch lange nicht, daß ich dumm bin. [Beweis] Ich bin ziemlich intelligent und habe auch zu den meisten Gesprächen etwas Intelligentes beizusteuern. [Implikationen] In Zukunft werde ich mich vergewissern, ob der Zeitpunkt günstig ist, ihr meine Gedanken vorzutragen, ehe ich zu reden anfange. [Alternativen] Auf diese Weise unterläuft mir nicht mehr der Fehler, ihre Zerstreutheit für Mangel an Interesse an meinen Ideen zu halten. Kollege/Kollegin an der Schule (greift Sie an, wie Sie sich sonst selbst angreifen): Du erreichst deine Schüler nicht. Sie schießen Papierkügelchen durch die Gegend und hören dir nicht zu. Sie (auf dem »Stuhl des Angeklagten«): [Beweis] Es ist wahr, daß ich einen Teil meiner Schüler nicht erreiche. [Implikationen] Aber das heißt nicht, daß ich ein schlechter Lehrer bin. [Beweis] Ich kann bei den meisten Schülern Interesse wecken, und ich bin stolz auf die kreativen Unterrichtseinheiten, die ich ausgearbeitet habe. [Alternativen] Es wäre schön, wenn alle meine Schüler an meinem Fach Interesse hätten, aber das ist keine realistische Erwartung. [Beweis] Ich bemühe mich ständig darum, die desinteressierten Schüler in den Unterricht einzubeziehen. Ich ermutige sie, sich an den Aktivitäten in der Schule zu beteiligen. Kollege unterbricht. Du kannst wirklich kein guter Lehrer sein, wenn es dir nicht einmal gelingt, das Interesse der Klasse eine Stunde lang wachzuhalten. Sie setzen den Disput fort: [Implikationen] Ich habe bisher nur bei dieser kleinen Gruppe von Schülern keinen Erfolg. Das ändert nichts an der Tatsache, daß ich bei der Mehrzahl meiner Schüler außerordentlich gute Erfolge erziele. Mitarbeiter/in: Deine Chefin behandelt dich wie einen Fußabtreter. Du hast einfach kein Rückgrat. Du bist wirklich ein Feigling. Sie (auf dem »Stuhl des Angeklagten«): [Alternativen] Viele Menschen haben Schwierigkeiten, Probleme mit Vorgesetzten zu besprechen. [Beweis] Ich glaube nicht, daß ich ihr gegenüber so selbstsicher aufgetreten bin wie meinen Kollegen gegenüber, aber ich habe meine Bedenken klar und sachlich dargelegt. [Alternativen] Ich bin vorsichtig; das heißt aber nicht, daß ich ein Feigling bin. Sie ist meine Chefin und hat Macht über mich. [Implikationen] Es war eine heikle Situation. Da ich mich für ein behutsames Auftreten entschieden habe, wirkte ich nicht bedrohlich oder beleidigend – sonst hätten wir überhaupt nicht mehr miteinander reden können. (Nutzen) Jetzt kann ich, ehe ich die Diskussion mit ihr fortsetze, in aller Ruhe üben, wie ich meine Sache selbstbewußt, aber nicht aggressiv vertreten kann. Mitarbeiter/in: Dein Gesprächspartner am Telefon hat den Hörer aufgelegt, weil deine Präsentation sehr schlecht war. Sie (auf dem »Stuhl des Angeklagten«): [Beweis] Ich habe wahrscheinlich nicht gerade eine Glanzleistung vollbracht, aber ich war gut und habe klar und mit Autorität gesprochen. [Beweis] Die Präsentation war ziemlich ähnlich wie die anderen, die ich heute gemacht habe. Diese Person war bei über 20 Anrufen die einzige, die aufgelegt hat. [Alternativen] Ich glaube nicht, daß meine Präsentation irgend etwas damit zu tun hatte, daß er aufgelegt hat. Er hatte vielleicht gerade etwas Wichtiges zu tun oder will prinzipiell am Telefon nicht von Vertretern angesprochen werden. 189

[Implikationen] Es war zwar unerfreulich für mich, daß er aufgelegt hat, aber es sagt nichts über meine Fähigkeiten aus. (Nutzen) Wenn du mir bessere Vorschläge für die Telefonwerbung machen kannst, höre ich sie mir gerne in der Pause an. Krankenschwester: Du tust nie genug. Die Patienten brauchen deine ständige Aufmerksamkeit, und die Ärzte kritisieren dich dauernd. Wenn du eine bessere Krankenschwester wärst, könntest du die Patienten und die Ärzte zufriedenstellen. Sie (auf dem »Stuhl des Angeklagten«): [Beweis] Es stimmt – ganz gleich, wieviel ich arbeite, es werden immer noch Dinge übrig sein, um die ich mich kümmern sollte. [Implikationen] Das gehört zu dieser Arbeit. Es heißt nicht, daß ich keine gute Krankenschwester bin. Krankenschwester unterbricht: Das ist ein Beruf, in dem man eine Menge Druck verkraften können muß. Du hast einfach nicht genug Energie dafür. Sie setzen den Disput fort: [Alternativen] Es ist nicht realistisch anzunehmen, ich könne die Patienten und die Ärzte restlos zufriedenstellen. Ich kann es Patienten so angenehm wie möglich machen, und ich kann den Ärzten helfen, ihr Arbeitspensum zu bewältigen, aber ich bin nicht dafür verantwortlich, daß sie glücklich sind. (Nutzen) Der Beruf verlangt wirklich, daß man viel Druck aushalten kann, und ich möchte gerne lernen, mit dem Druck besser umzugehen. Ich werde mir Zeit dafür nehmen, mit erfahrenen Krankenschwestern darüber zu sprechen, wie sie mit dem Druck fertig werden. Jetzt sind Sie an der Reihe. Nehmen Sie sich 20 Minuten und setzen Sie sich auf den »Stuhl des Angeklagten«, während Ihr Übungspartner Ihnen die Art Kritik an den Kopf wirft, die Sie sich sonst selbst vorhalten. Wehren Sie sich mit allen Argumenten, die Ihnen einfallen. Wenn Sie sich selbst und Ihr Gegenüber davon überzeugt haben, daß Sie einen plausiblen Ausweg gefunden haben, gehen Sie zur nächsten Kritik über. Nach 20 Minuten tauschen Sie und Ihr Partner die Rollen.

14.12 Zusammenfassung Dieses Kapitel hatte das Ziel, Ihnen zwei grundlegende Techniken zu vermitteln, die Sie bei der Arbeit verwenden können. Erstens haben Sie gelernt, sich auf Ihren eigenen, negativen Dialog einzustellen und die Überzeugungen aufzuschreiben, die in Ihnen auftauchen, wenn ein negatives Ereignis eintritt. Sie haben erkannt, daß pessimistische Überzeugungen meist zu Niedergeschlagenheit und Passivität führen. Wenn es Ihnen gelang, diese automatischen Erklärungen negativer Ereignisse zu verändern, konnten Sie auch die nachfolgenden Gefühle beeinflussen und sich lebendig und gut gestimmt fühlen. Für diesen Zweck haben Sie geübt, Ihre pessimistischen Überzeugungen zu disputieren. Die Übung bestand darin, Ihre eigenen Einwände aufzuschreiben. Dann haben Sie die »Externalisierung der Stimmen« geübt. All das ist nur ein Anfang. Das Weitere liegt bei Ihnen. Wenn Ihnen in Zukunft wieder ein negatives Ereignis zustößt, hören Sie sorgfältig auf Ihre eigenen Erklärungen. Wenn sie pessimistisch sind, disputieren Sie sie aktiv. Verwenden Sie dabei Beweise, Alternativen, Implikationen und Nutzen als Wegweiser. Wenn nötig, benützen Sie die Techniken zur Ablenkung. Ihre neue Gewohnheit muß sein, Ihre früheren automatischen, pessimistischen Erklärungen sofort durch optimistische Erklärungen zu ersetzen.

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15 Flexibler Optimismus Die Ängste, die mich um vier Uhr morgens quälen, haben sich in den letzten beiden Monaten geändert. Mein ganzes Leben hat sich geändert. Ich habe eine neugeborene Tochter, Lara Catrina Seligman. Sie ist wunderschön. Seit kurzem kann sie lächeln. Laras Lächeln ist hinreißend; es erscheint morgens um vier Uhr vor meinem inneren Auge. Was wird die Zukunft Lara bringen? Was wird aus der strahlenden Lebensbejahung werden? Mit ihr ist eine neue Generation geboren worden. The New York Times berichtete kürzlich, daß heute doppelt so viele verheiratete Amerikanerinnen Kinder haben wollen wie noch vor zehn Jahren. Diese neue Generation ist unser Ja zur Zukunft. Aber diese Generation wird großen Gefahren gegenüberstehen – den Gefahren eines Atomkrieges, politischen Wirren und der Umweltzerstörung, aber darüber hinaus auch geistigen und seelischen Gefahren. Vielleicht gibt es ein Heilmittel für diese geistigen und seelischen Gefahren. Erlernter Optimismus könnte bei dieser Heilung eine Rolle spielen.

15.1 Rückblick auf die Depression In Kapitel vier habe ich dargelegt, daß die Depression seit Ende des Zweiten Weltkrieges beständig zugenommen hat. Bei jungen Menschen ist das Risiko einer schweren Depression heute zehnmal so hoch wie zur Jugendzeit ihrer Großeltern. Besonders betroffen sind Frauen und Kinder. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß die Epidemie von Depressionen nachläßt; darin liegt die größte Gefahr für Lara und ihre Generation. Es gibt eine Erklärung dafür, warum Depression heute so viel häufiger auftritt und warum das moderne Leben in den Industrieländern die Kinder so anfällig für lebenshemmende Depression macht. Doch zunächst möchte ich zwei andere besorgniserregende Entwicklungen betrachten: den Bedeutungszuwachs des Selbst und das Schwinden des Gemeinsinns.69

15.1.1 Der Bedeutungszuwachs des Selbst Unsere heutige Gesellschaft räumt dem Selbst einen hohen Steellenwert ein. Sie nimmt die Freuden und Leiden, die Erfolge und Mißerfolge des Individuums so ernst wie keine Gesellschaft zuvor. Unsere Wirtschaft profitiert immer mehr von den Wünschen einzelner. Unsere Gesellschaft gibt dem Selbst eine Macht, die es noch nie zuvor besessen hat: sich zu verändern und sogar das Denken zu verändern. Wir leben im Zeitalter der persönlichen Kontrolle. Das Selbst nimmt einen solchen Raum ein, daß wir der Meinung sind, gegen individuelle Hilflosigkeit müsse man etwas unternehmen. Wir glauben nicht mehr, daß Hilflosigkeit unser Los im Leben sein muß. Um die Jahrhundertwende wurde das Fließband erfunden. Damals ergaben sich zunächst keine Probleme persönlicher Kontrolle für das Selbst. Man konnte nur weiße Kühlschränke kaufen, weil es nach der Einführung des Fließbandes rentabler war, alle Kühlschränke in derselben Farbe herzustellen. Seit den fünfziger Jahren jedoch, als Transistoren und rudimentäre maschinelle Intelligenz erfunden wurden, zwang man uns das Problem der Wahl auf. Nun konnte es ebenso rentabel sein, jeden hundertsten Kühlschrank mit Edelsteinen zu besetzen, wenn man dafür Käufer fand. Die maschinelle Intelligenz bot enorme Möglichkeiten für einen Markt, der ständig auf Kundensuche war. Der Markt lebte von der Auswahl, die er dem einzelnen bieten konnte. Heute sind Blue jeans längst nicht mehr nur blau; sie sind in Dutzenden von Farben und Hunderten von Modellen erhältlich. Wenn man die zahlreichen Ausstattungsvarianten von Autos be-

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rücksichtigt, werden uns Hunderte von verschiedenen Automodellen angeboten. Es gibt mehrere hundert Arten Schmerztabletten und Tausende von Biersorten. Die Werbung muß Märkte für all diese Produkte schaffen. Werbung versucht, möglichst große Begeisterung für persönliche Kontrolle zu entfachen. Mit dem hedonistisch ausgerichteten Individuum, das auswählt und entscheidet, macht man das große Geschäft. Wenn das Individuum sehr viel Geld ausgeben kann, wird der Individualismus zu einer mächtigen und gewinnbringenden Weltsicht. Im selben Zeitraum wurde Amerika ein steinreiches Land. Zwar haben Millionen Menschen nicht am Wohlstand teil, aber im Durchschnitt verfügen die Amerikaner heute über mehr Kaufkraft als jedes andere Volk in der Geschichte. Reichtum bedeutet heute etwas anderes als in früheren Jahrhunderten. Denken Sie an einen Fürsten im Mittelalter: Er war zwar reich, aber ein Großteil seines Besitzes war unveräußerlich. Er konnte sein Land nicht verkaufen, um dafür Pferde zu erwerben. Sein Reichtum konnte im Gegensatz zu unserem heutigen Reichtum nicht direkt in Kaufkraft umgesetzt werden. Unser Reichtum ist an eine verwirrende Vielfalt von Wahlmöglichkeiten geknüpft, und diese Wahlmöglichkeiten verdanken wir demselben Prozeß, der uns den edelsteinbesetzten Kühlschrank bescherte. Uns werden mehr Nahrungsmittel, mehr Kleider, mehr Bildungsmöglichkeiten, mehr Konzerte, mehr Bücher, mehr Wissen und nach der Ansicht mancher Leute sogar mehr Liebe zur Auswahl angeboten als jeder anderen Generation vor uns. Mit dieser Eskalation materieller Erwartungen wuchsen die Ansprüche, die wir an Arbeit und Liebe stellen. Arbeit galt früher als zufriedenstellend, wenn sie das tägliche Brot erbrachte. Das ist heute anders. Heute muß die Arbeit auch sinnvoll sein. Sie muß Möglichkeiten zum Aufstieg bieten. Sie muß eine gute Altersversorgung sichern. Die Kollegen müssen sympathisch und die Produktion des Unternehmens ökologisch vertretbar sein. Auch in der Ehe verlangen wir mehr als früher. Es geht nicht mehr nur darum, Kinder großzuziehen. Unser Partner oder unsere Partnerin muß äußerlich attraktiv, sexuell anziehend und schlank sein, sich interessant unterhalten und Tennis spielen können. Diese gestiegenen Erwartungen haben ihre Wurzel in der Zunahme der Wahlmöglichkeiten.70 Wer wählt? Das Individuum. Das moderne Individuum ist nicht mehr der Bauer von früher, vor dem eine klar bestimmte, langweilige Zukunft lag. Die Seele des Mannes (und natürlich heute auch der Frau, womit sich der Markt verdoppelt hat) ist Schauplatz heftiger Konkurrenzkämpfe zwischen Möglichkeiten, Entscheidungen und Präferenzen. Das Ergebnis ist eine neue Art Selbst – das maximale Selbst. Das Selbst hat eine Geschichte.71 In der einen oder anderen Form war es schon immer da. Seine Eigenschaften haben sich mit der Zeit und mit der Kultur gewandelt. Vom Mittelalter bis in die Spätrenaissance hatte das Selbst eine minimale Bedeutung; auf den Gemälden von Fra Angelico sehen alle Personen außer Jesus gleich aus. Gegen Ende der Renaissance gewann das Selbst an Ansehen; auf den Bildern von Rembrandt und El Greco tragen auch die Hintergrundfiguren individuelle Züge. Die Expansion des Selbst hat sich bis in unsere Zeit hinein fortgesetzt. Unser Reichtum und unsere Technik haben zu einem Selbst geführt, das wählen kann, das Freude und Leid erfährt, Handlungen diktiert, optimiert und sogar edle Tugenden aufweist, wie Selbstachtung, Tüchtigkeit, Selbstvertrauen und Kontrolle. Ich nenne dieses neue Selbst, das so gänzlich mit seinen Freuden und Leiden beschäftigt ist, das maximale Selbst, um es von dem minimalen Selbst zu unterscheiden, das noch die Generation unserer Großeltern prägte. Das minimale Selbst hatte sich wie das mittelalterliche Selbst einfach gut zu benehmen; es war erheblich weniger mit seinem Befinden beschäftigt. Es kümmerte sich weniger um Gefühle und mehr um Pflichten.

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Heute leben wir mit allen Konsequenzen in einer Kultur des maximalen Selbst. Wir wählen frei aus einer Fülle von kundengerechten Produkten und Dienstleistungen und streben nach immer noch exquisiteren Freiheiten. Die Freiheiten, die dieses aufgeblähte Selbst bringt, bergen aber auch Gefahren. An erster Stelle dieser Gefahren steht die schwere Depression. Ich bin überzeugt, daß die epidemische Verbreitung der Depression ein Produkt des maximalen Selbst ist. Wenn die stärkere Betonung des Selbst ein isolierter Prozeß gewesen wäre, hätten daraus vielleicht eine positive Wirkung und ein erfüllteres Leben folgen können. Aber das war nicht der Fall. Das Wachstum des Selbst in unserer Zeit traf zusammen mit einem Verebben des Gemeinschaftsgefühls und der Orientierung an einem höheren Zweck. Die Verbindung dieser beiden Phänomene bot der Depression einen idealen Nährboden.

15.1.2 Das Schwinden des Gemeinsinns Ein Leben ist armselig, wenn es kein höheres Ziel hat als sich selbst. Menschen brauchen einen Zusammenhang von Sinn und Hoffnung. Früher lebten die Menschen in enger Gemeinschaft; wenn sie Niederlagen erlitten, konnten sie innehalten und sich auf sich selbst besinnen. Ich nenne diesen größeren Zusammenhang »Gemeinsinn«. Er besteht im Glauben an die Nation oder im Glauben an Gott oder im Glauben an die eigene Familie oder im Glauben an einen Sinn, der über unser eigenes Leben hinausreicht. Die Ereignisse der letzten drei Jahrzehnte haben unsere innere Orientierung auf größere Zusammenhänge so geschwächt, daß wir selbst den ursprünglich alltäglichen Härten des Lebens beinahe schutzlos ausgesetzt sind. Immer wieder wird betont, politische Morde, der Vietnamkrieg und der Watergate-Skandal zusammengenommen hätten die Vorstellung vieler Amerikaner zerstört, daß ihre Nation ein Instrument zur Erreichung hehrer Ziele sei. Viele Angehörige meiner eigenen Generation verlagern ihr Engagement von der Karriereplanung im öffentlichen Leben auf Berufe, in denen sie zumindest persönliches Glück finden können. Diese Verschiebung vom allgemeinen zum privaten Wohl wurde verstärkt durch die Ermordung von Martin Luther King, Malcolm X und Robert Kennedy. Der Vietnamkrieg erteilte den Jüngeren eine ähnliche Lektion. Und wer auch diese Lektion noch nicht begriffen hatte, kam am Watergate-Skandal kaum vorbei. Das Engagement für Amerika konnte uns also keine Hoffnung mehr geben. Die Untergrabung dieses Engagements wiederum führte dazu, daß die Menschen ihre Befriedigung im Inneren suchten, sich auf ihr eigenes Leben konzentrierten. Zur selben Zeit, zu der die politischen Ereignisse die alte Idee der Nation zerstörten, wurden Gott und die Familie durch grundlegende soziale Trends praktisch abgeschafft, wie Sozialwissenschaftler feststellten. Die Religion oder die Familie hätten als Quelle von Sinn und Hoffnung an die Stelle der Nation treten und die Menschen davon abhalten können, sich nach innen zu wenden. Aber durch eine unglückliche Fügung traf die Unterwanderung des Glaubens an die Nation mit dem Zusammenbruch der Familie und dem Schwinden des Gottesglaubens zusammen. Für die Erosion der Familie sind eine hohe Scheidungsrate, stark gestiegene Mobilität und zwei Jahrzehnte mit niedriger Geburtenrate verantwortlich. Aufgrund der Häufigkeit der Scheidungen ist die Familie nicht mehr die zuverlässige Institution von einst. Sie ist kein Zufluchtsort mehr, der stets unverändert bestehen bleibt. Die erhöhte Mobilität – die Möglichkeit, seine Sachen zu packen und weit weg zu ziehen – schwächt den Zusammenhalt der Familie. Außerdem werden Menschen isoliert, wenn sie gar keine Geschwister oder nur einen einzigen Bruder oder eine einzige Schwester haben, was in zahlreichen amerikanischen Familien der Fall ist. Die besonders große Aufmerksamkeit, die Kinder in den heutigen Kleinfamilien erhalten, wirkt sich zwar kurzfristig positiv auf die Kinder aus (dies steigert ihren durchschnittlichen Intelligenzquotienten um etwa

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einen halben Punkt), vermittelt ihnen aber langfristig die Illusion, daß ihre Freuden und Leiden bedeutender seien, als sie tatsächlich sind. Der Verlust des Glaubens, daß das Verhältnis der Menschen zu Gott wichtig sei, der Zusammenbruch des Vertrauens in die gerechte Macht der Nation und das Auseinanderbrechen der Familie wirken also heute zusammen. Wohin kann man sich auf der Suche nach einer Identität, einem Sinn, einer Hoffnung wenden? Statt all der bewährten Säulen ist nur noch eines übriggeblieben: das zerbrechliche Selbst. Und das maximale Selbst, das nicht mehr in eine Verpflichtung auf irgend etwas Größeres im Leben eingebunden ist, erweist sich als äußerst anfällig für Depression. Auch wachsender Individualismus und das Schwinden des Gemeinsinns allein würden die Gefahr der Depression erhöhen. Daß in Amerika in der jüngsten Geschichte beide Phänomene zusammentreffen, ist meiner Auffassung nach der Grund dafür, daß wir jetzt mit Depression epidemischen Ausmaßes zu tun haben. Erlernte Hilflosigkeit spielt dabei die Mittlerrolle. In den Kapiteln vier und fünf haben wir dargelegt, daß Individuen hilflos werden, wenn sie Fehlschläge erleiden, die sie nicht kontrollieren können. Unser Argument lautete, daß Hilflosigkeit zur Hoffnungslosigkeit werden und sich zur schweren Depression steigern kann, wenn ein Mensch seine Fehlschläge mit dauerhaften, globalen und persönlichen Ursachen erklärt. Wir erleben immer wieder unvermeidliche, persönliche Mißerfolge. Nur selten erhalten wir alles, was wir erstreben. Frustration, Niederlagen und Ablehnung sind Alltagserfahrungen. Unsere individualistische Kultur mißt Werten außerhalb des Selbst geringe Bedeutung zu; der einzelne Mensch erhält von der Gesellschaft nur wenig Unterstützung, wenn er einen Verlust erleidet. »Primitivere« Gesellschaften nehmen große Mühen auf sich, um Menschen beizustehen, die einen Verlust erlitten. Sie verhindern so, daß Hilflosigkeit in Hoffnungslosigkeit umschlägt. Aber die epidemische Verbreitung der Depression ist nicht nur eine Frage mangelnder Unterstützung seitens der Gesellschaft. Extremer Individualismus führt in vielfältiger Weise dazu, pessimistische Erklärungsmuster zu maximieren. Außerdem verleitet er die Menschen dazu, alltägliche Mißerfolge mit dauerhaften, globalen und persönlichen Ursachen zu erklären. Die Betonung des Individuums impliziert beispielsweise, daß ich an einem Mißerfolg wahrscheinlich selbst schuld bin – denn wer käme sonst noch in Frage? Das Schwinden des Gemeinsinns bringt es mit sich, daß Mißerfolge dauerhaft und allumfassend sind. In dem Maße, in dem höhere, positiv besetzte Werte (Gott, Nation, Familie) ihre umfassende Bedeutung verlieren, erscheinen persönliche Fehlschläge als Katastrophen. Weil in einer individualistischen Gesellschaft die Zeit mit unserem eigenen Tod zu enden scheint, werden persönliche Fehlschläge als permanent angesehen. Es gibt keinen Trost für Verluste. Sie verderben unser ganzes Leben. In dem Maße, in dem uns höhere Werte und Institutionen mit Vertrauen erfüllen, erscheinen persönliche Fehlschläge weniger dauerhaft und haben einen geringeren Wirkungsbereich.

15.2

Neugewichtung der Werte

Meine Diagnose lautet: Die Ursache der Depressionsepidemie ist der vielzitierte Bedeutungszuwachs des Individualismus und der Niedergang des Engagements für das Gemeinwohl. Das bedeutet, daß es zwei Auswege aus der Depression gibt: Erstens die Neugewichtung der Werte von Individualismus und Gemeinsinn und zweitens die Nutzung der Kräfte des maximalen Selbst.

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15.2.1 Die Grenzen des Individualismus Können wir aus dem maximalen Selbst und seinen Nachteilen eine Aussage über die langfristige Zukunft des Individualismus ableiten? Ich glaube, daß ungebremster Individualismus so negative Konsequenzen hat, daß er langfristig uns und gleichzeitig sich selbst zerstören wird. Erstens wird eine Gesellschaft, die dem Individuum eine solche Bedeutung einräumt, von epidemischer Depression geplagt werden. Wenn aber immer deutlicher wird, daß der übertriebene Individualismus ein Anwachsen der Depression auf das Zehnfache mit sich bringt, wird er seinen Reiz als Lebensmaxime zunehmend einbüßen. Ein zweiter und vielleicht noch bedeutsamerer Faktor ist der Verlust des Sinns unserer Existenz. Ich werde mich hüten, Ihnen eine Definition für den Begriff »Sinn« zu geben; eine notwendige Bedingung für Sinn läßt sich jedoch konstatieren: die Bindung an etwas, das über unser Dasein hinausgeht. Je größer die Entität ist, an die man sich bindet, desto mehr Sinn erfährt unsere Existenz. Für junge Menschen ist es heute sehr schwierig, eine Bindung an Gott anzuerkennen, sich ihrem Land verpflichtet zu fühlen oder sich als Teil einer großen und stabilen Familie zu empfinden. Jugendliche finden daher nur sehr schwer einen Sinn im Leben. Mit anderen Worten: das Selbst ist als Sinnquelle wenig ergiebig. Wenn Individualismus ohne Engagement für das Gemeinwohl zu weitverbreiteter Depression und Sinnentleerung führt, zeichnet sich eine Veränderung ab. Welcher Art wird diese Veränderung sein? Eine Möglichkeit ist, daß der übertriebene Individualismus verblaßt und sich das maximale Selbst wieder dem minimalen Selbst nähert. Eine weitere, beängstigende Möglichkeit ist, daß wir die neu gewonnenen Freiheiten des Individualismus, die persönliche Kontrolle und die Sorge um das Individuum überstürzt wieder aufgeben, um die Depression loszuwerden und den Sinn zu erschließen. Gerade in unserem Jahrhundert gibt es einige verheerende Beispiele für diese Vorgehensweise. Einige Gesellschaften haben genau das getan, um ihre Mißstände zu kurieren. Auch die Rückkehr zu fundamentalistischen Religionen überall auf der Welt stellt eine ähnliche Reaktion dar.

15.3 Die Stärken des maximalen Selbst Es gibt noch zwei weitere Möglichkeiten; beide geben zu mehr Hoffnung Anlaß und nutzen die Stärken des maximalen Selbst. Die erste verändert die Gewichtung von Selbst und Gemeinwohl zugunsten einer stärkeren Wertung des Gemeinwohls. Die zweite Möglichkeit besteht in der Nutzung von erlerntem Optimismus.

15.3.1 Moralisches Jogging Obwohl die Verteidigungsmöglichkeiten des maximalen Selbst bis vor kurzem nicht bekannt waren und nicht genutzt wurden, ist das maximale Selbst nicht schutzlos: Es kann sich verbessern. Vielleicht kann ein Mensch gerade durch den Prozeß der Selbstverbesserung zu der Einsicht gelangen, daß seine übermäßige Beschäftigung mit sich selbst zwar kurzfristig Nutzen bringt, langfristig aber dem eigenen Wohlbefinden schadet. Dann trifft das maximale Selbst möglicherweise eine paradoxe Entscheidung. Aus reinem Egoismus könnte es seine eigene Bedeutung ein Stück weit zurücknehmen; es erkennt, daß aus seiner Selbstzentriertheit Depression und Sinnlosigkeit folgen. Vielleicht können wir unseren Glauben an die Bedeutung des Individuums behalten, aber die Sorge um unser eigenes Wohl mindern. Dies könnte Raum für eine neue Bindung an etwas Größeres schaffen. 195

Aber selbst wenn wir ein Engagement für das Gemeinwohl wollen, wird es in unserer individualistischen Kultur nicht über Nacht entstehen können. Das Selbst ist noch zu mächtig. Wir brauchen eine neue Taktik. Am Beispiel des Jogging läßt sich das aufzeigen. Viele Menschen gelten als Anhänger dieser Art von Leibesertüchtigung. Unverdrossen und bei Wind und Wetter stehen sie in aller Frühe auf, um ihr Programm zu absolvieren. Der Dauerlauf selbst bereitet den meisten gar kein oder nur geringes Vergnügen. Es erscheint ihnen oft lästig und bereitet ihnen sogar häufig Schmerzen. Dennoch joggen sie weiter, weil sie glauben, daß es ihnen langfristig bessergeht. Jogging appelliert an ihr langfristiges Eigeninteresse. Jogger glauben, daß sie länger leben, gesund bleiben und attraktiver sind, wenn sie diese tägliche Strapaze auf sich nehmen. Eine kleine Portion Selbstüberwindung jeden Tag führt zu langfristigem Gewinn. Als die Menschen zu der Überzeugung kamen, daß sie für einen Mangel an Bewegung einen hohen Preis an Gesundheit und Wohlbefinden zahlen müssen, bot sich Jogging als interessante Alternative an. Ähnlich ist die Situation beim Individualismus und Egoismus. Wie bereits gesagt, entsteht Depression aus einem übergroßen Interesse für sich selbst und einem mangelhaften Engagement für das Gemeinwohl. Dieser Zustand ist für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden in derselben Weise schädlich wie Bewegungsmangel und bestimmte Sorten von Cholesterin. Aus der übermäßigen Konzentration auf unsere eigenen Erfolge und Mißerfolge und aus dem Fehlen eines ernsthaften Engagements für das Gemeinwohl folgen zahlreiche Depressionen, schlechte Gesundheit und ein sinnentleertes Leben. Wie können wir – in unserem eigenen Interesse – weniger in uns selbst und mehr in das Gemeinwohl investieren? Eine mögliche Lösung könnte als »moralisches Jogging« bezeichnet werden. Für die gegenwärtige Generation sind Opfer – anderen etwas zu geben und Zeit, Geld und Mühe für die Steigerung des Gemeinwohls aufzubringen – nicht selbstverständlich. Heute ist es eher selbstverständlich, die »Nummer eins« sein zu wollen. In der letzten Generation war es selbstverständlich, an Wochenenden auszuruhen und festlich zu schmausen – der ideale Sonntag. Unsere Generation verzichtet lieber auf diese Art von Vergnügen; wir verbringen unsere Sonntage mit den entgegengesetzten Freuden: Bewegung und Fasten. Große Veränderungen sind also immerhin möglich. Wie können wir die starken Gewohnheiten der Selbstzentriertheit bei uns und unseren Kindern bekämpfen? Übung – nicht körperlicher, sondern moralischer Art – könnte eine wirksame Taktik gegen die Depression sein. Überlegen Sie, ob Sie nicht eine der folgenden fünf Möglichkeiten für sich selbst in Betracht ziehen könnten: ¾

Fünf Prozent Ihres steuerpflichtigen Einkommens vom Vorjahr werden für Spenden reserviert. Geben Sie es nicht an Wohlfahrtsverbände, die Ihnen die Arbeit abnehmen, sondern spenden Sie es persönlich selbstgewählten Empfängern. Informieren Sie die potentiellen Empfänger in dem Wohlfahrtsbereich, der Sie interessiert, daß Sie beispielsweise 3000 Dollar (oder wieviel auch immer) spenden wollen und für welchen Zweck Sie das Geld vorgesehen haben. Interviewen Sie die möglichen Empfänger selbst und entscheiden Sie sich dann für einen Antragsteller. Geben Sie das Geld weg und behalten Sie im Auge, wie es ausgegeben wird, bis die Aktion erfolgreich abgeschlossen ist.

¾

Verzichten Sie auf eine Aktivität, die Sie regelmäßig zu Ihrem eigenen Vergnügen praktizieren – einmal in der Woche auswärts essen, einmal wöchentlich einen geliehenen Videofilm anschauen, an Herbstwochenenden jagen gehen, neue Schuhe kaufen. Verbringen Sie diese Zeit (also etwa einen Abend pro Woche) mit einer Aktivität, die dem Wohle anderer oder der Gemeinschaft dient: Helfen Sie in einer 196

Armenküche oder bei einer Schulveranstaltung, besuchen Sie AIDS-Patienten, säubern Sie öffentliche Parkanlagen, werben Sie um Spenden für karitative Zwekke. Verwenden Sie das Geld, das Sie durch die Streichung Ihres Vergnügens gespart haben, für den Bereich, in dem Sie helfen. ¾

Wenn ein Obdachloser Sie um Geld bittet, sprechen Sie mit ihm. Entscheiden Sie nach bestem Wissen, ob er das Geld für konstruktive Zwecke ausgeben wird. Wenn Sie denken, daß das der Fall ist, geben Sie ihm Geld. Suchen Sie Bezirke auf, in denen Sie Bettlern begegnen, reden Sie mit den Obdachlosen und geben Sie den Menschen Geld, die es wirklich brauchen. Verbringen Sie damit drei Stunden pro Woche.

¾

Wenn Sie von besonders heroischen oder abscheulichen Taten lesen, schreiben Sie Briefe: unterstützende Briefe an Menschen, die durch Ihr Lob ermutigt werden könnten; Briefe, die zur Besserung mahnen, schreiben Sie an Menschen und Organisationen, die Sie verabscheuen. Schreiben Sie auch Briefe an Politiker oder andere einflußreiche Personen, die direkt einen Mißstand beheben können. Verbringen Sie drei Stunden in der Woche damit. Lassen Sie sich Zeit dafür. Formulieren Sie diese Briefe genauso sorgfältig, wie Sie einen wichtigen Bericht für Ihre Firma formulieren würden.

¾

Bringen Sie Ihren Kindern bei, Sachen zu verschenken. Lehren Sie sie, ein Viertel ihres Taschengeldes zu spenden. Die Kinder sollten selbst nach einer bedürftigen Person oder einem förderungswürdigen Projekt suchen und dann ihr Geld persönlich überreichen.

Es ist nicht nötig, dies alles aus purer Selbstlosigkeit zu tun. Es genügt völlig, wenn Sie es tun, weil es gut für Sie ist, ganz abgesehen von der Wirkung auf das Gemeinwohl. Man könnte dagegenhalten, daß vermehrte Kontakte mit den Randexistenzen unserer Gesellschaft deprimierend wirken. Wenn man eine Depression loswerden will, sollte man eher Umgang mit den reichen Luxusgeschöpfen in Acapulco pflegen, als eine Nacht lang die Aufsicht in einem Obdachlosenheim zu übernehmen. Ein wöchentlicher Besuch bei einem unheilbar an AIDS Erkrankten könnte eine Garantie für eine wöchentliche Depression sein. Aber ich glaube, daß die Konfrontation mit menschlichem Leid und Elend zwar bedrückend sein kann, aber nicht deprimierend in dem Sinn, in dem wir das Wort in diesem Buch benutzt haben. Wirklich deprimierend ist es, sich in einer Welt von Monstern gefangen zu fühlen – bei unordentlichen, zerlumpten Armen, bei ausgemergelten AIDS-Kranken usw. Erfahrene freiwillige Helfer berichten jedoch immer wieder, daß es eine große Überraschung für sie war, wieviel Auftrieb sie durch ihre Arbeit bekamen. Sie entdecken durch den Kontakt, daß die Armen und Kranken keine Monster, sondern sehr menschliche Wesen sind, daß Heldenmut bei Menschen in Notlagen eher die Regel als die Ausnahme darstellt, daß die Not, die sie als freiwillige Helfer sehen, sie vielleicht traurig, aber nicht depressiv macht, und daß sie oft tief bewegt sind. Es ist eine befreiende Erkenntnis, daß es bei den äußerlich Armen oft ein erstaunliches Maß an geistiger und seelischer Größe gibt. Wenn Sie sich lange genug für das Gemeinwohl einsetzen, wird es Ihnen wichtig werden. Sie werden feststellen, daß Sie weniger leicht depressiv und seltener krank werden und daß es Ihnen bessergeht, wenn Sie sich für die Interessen der Allgemeinheit engagieren und nicht mehr nur Ihren einsamen Vergnügungen nachgehen. Vor allem wird die Leere in Ihnen, das Gefühl des Sinnverlusts, das durch den übertriebenen Individualismus befördert wird, allmählich weichen.72 In dieser Zeit der freien Entscheidungen liegt die Entscheidung bei uns.

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15.3.2 Erlernter Optimismus Erlernter Optimismus stellt die zweite Möglichkeit dar, die Stärken des maximalen Selbst zu nutzen. Dies war das Thema dieses Buches. Wir haben dargelegt, daß Depression stets aus pessimistischem Denken über Mißerfolge und Verluste hervorgeht. Wenn wir lernen, bei Fehlschlägen optimistischer zu denken, erhalten wir ein dauerhaftes Werkzeug, mit dem wir einer Depression vorbeugen können. Es kann außerdem zu einer stabileren Gesundheit beitragen. Die Empfehlung, Optimismus zu lernen, hätte allerdings vor dem Bedeutungswachstum des maximalen Selbst wenig Sinn gehabt. Wenn eine Gesellschaft überzeugt ist, daß Depressionen von fehlerhaften Genen oder biologischen Mängeln verursacht werden, wird sie wenig davon halten, unser Denken über Fehlschläge zu verändern. Eine Gesellschaft, in der das Selbst einen minimalen Status hat, wird sich nicht besonders für Psychologie interessieren. Aber unsere Gesellschaft betont das Selbst und macht es mit seinen Gedanken und deren Konsequenzen zum Gegenstand sorgfältiger Untersuchungen, Therapien und Strategien zur Selbstverbesserung. Ein verbessertes Selbst ist kein Hirngespinst. Wie wir erläutert haben, beeinflußt das Ausmaß des Optimismus eines Menschen ganz erheblich, was er erlebt, und der Optimismus selbst kann gestärkt werden. Wenn alles gutgeht, wird die Generation meiner Tochter Lara generell zu der Ansicht gelangen, Depression erwachse aus unserem Denken. Vor allem wird sie auch glauben, daß dieses Denken verändert werden kann. Eines der stärksten Bollwerke des maximalen Selbst ist seine Überzeugung, daß es sein eigenes Denken verändern kann. Und diese Überzeugung führt dazu, daß die Veränderung auch stattfindet. Ich glaube nicht, daß erlernter Optimismus allein die Flut von Depression in der ganzen Gesellschaft eindämmen kann. Optimismus ist nur eine nützliche Beigabe. Für sich allein betrachtet macht er wenig Sinn. Optimismus ist ein Werkzeug, das dem Menschen helfen kann, die Ziele zu erreichen, die er sich gesetzt hat. Der Sinn – oder die Leere – liegt in der Wahl der Ziele selbst. Doch wenn erlernter Optimismus mit einem erneuerten Engagement für das Gemeinwohl gekoppelt wird, verebbt die heutige Epidemie von Depression und Sinnlosigkeit vielleicht wieder.

15.3.3 Flexibler Optimismus Es gibt keinen Zweifel: Optimismus ist eine Wohltat. Er macht auch mehr Spaß: Unsere Gedanken sind angenehmer, wenn wir Optimisten sind. Aber kann Optimismus allein das Heilmittel für die Depression, die Fehlschläge und die schlechte Gesundheit sein, die Gegenstand dieses Buches waren? Optimismus ist kein Wundermittel. Wir haben seine Grenzen bereits erläutert: Erstens hilft er in manchen Kulturen mehr als in anderen. Zweitens hält er uns manchmal davon ab, die Wirklichkeit mit der notwendigen Klarheit zu sehen. Drittens mag er manchen als Ausflucht dienen, die keine Verantwortung für ihre Mißerfolge übernehmen wollen. Aber diese Einschränkungen stellen eben nur Grenzen dar, mehr nicht. Sie heben die positiven Wirkungen des Optimismus nicht auf, sondern ermöglichen eher die richtige Perspektive und Gewichtung. Im ersten Kapitel sprachen wir von den zwei Arten, die Welt zu betrachten: optimistisch und pessimistisch. Wenn Sie ein Pessimist waren, mußten Sie zwangsläufig auch pessimistisch leben. Sie mußten häufige Depressionen ertragen. Ihre Arbeit und Ihre Gesundheit wurden beeinträchtigt. In Ihrem Inneren herrschte ständig Regenwetter. Zum Ausgleich dafür hatten Sie vielleicht einen ausgeprägten Wirklichkeitssinn und ein starkes Verantwortungsbewußtsein. Jetzt haben Sie zumindest eine Wahlmöglichkeit. Wenn Sie Optimismus lernen, steht es Ihnen frei, die entsprechenden Techniken immer dann anzuwenden, wenn Sie sie brauchen – ohne ihr Sklave zu werden. 198

Nehmen wir an, Sie hätten die Techniken schon gut gelernt. Wenn Sie jetzt einen Mißerfolg oder eine Niederlage erleiden, sind Sie in der Lage, einer Depression vorzubeugen, indem Sie die Katastrophenängste disputieren, von denen Sie früher gequält wurden. Ein Beispiel: ein neues Problem tritt auf. Ihre Tochter, nennen wir sie May, geht in den Kindergarten. May ist dort die Jüngste und die Kleinste. Es ist damit zu rechnen, daß sie auch zukünftig in der Reife stets etwas hinter den anderen Kindern zurück sein wird. Die Kindergärtnerin möchte sie deshalb noch ein Jahr von der Einschulung zurückstellen. Sie machen sich darüber Gedanken. Es ist deprimierend, May ein Jahr zurückzustellen. Sie können nun alle Argumente sammeln, die Sie in der Überzeugung bestärken, May sollte sofort eingeschult werden: Sie hat einen hohen Intelligenzquotienten, ihre musikalische Begabung liegt weit über dem Kindergartenniveau, und sie ist sehr hübsch. Aber Sie können sich auch dafür entscheiden, nicht zu disputieren. Sie können sich sagen, daß in dieser Situation ein glasklarer Realismus erforderlich ist. Schließlich geht es nicht darum, eine Depression von Ihnen fernzuhalten. Es geht um die Zukunft Ihrer Tochter. Der Preis für eine Fehlentscheidung ist so hoch, daß es nicht so wichtig ist, Ihnen Gefühle von Niedergeschlagenheit zu ersparen. Vielmehr müssen Sie jetzt sorgfältig nachdenken. Sie können sich dafür entscheiden, Ihre pessimistischen Gedanken nicht zu disputieren. Auf jeden Fall haben Sie mehr Freiheit gewonnen – eine zusätzliche Wahlmöglichkeit. Sie können sich dafür entscheiden, Optimismus einzusetzen, wenn Sie der Meinung sind, es gehe darum, Depression zu lindern, bessere Leistungen zu erbringen oder gesünder zu werden. Aber Sie können sich auch dafür entscheiden, keinen Optimismus einzusetzen, wenn Sie der Meinung sind, daß nüchterner Realismus oder das Eingeständnis einer Fehlleistung angebracht sind. Wenn Sie Optimismus lernen, bedroht das nicht Ihre Werte oder Ihre Urteilsfähigkeit. Vielmehr erhalten Sie die Freiheit, ein Werkzeug einzusetzen, mit dem Sie selbstgesetzte Ziele besser erreichen können. Es erlaubt Ihnen, die Weisheit besser zu nutzen, die Sie durch die zahlreichen Prüfungen in Ihrem Leben erworben haben. Und der geborene Optimist? Bisher war er ebenso ein Sklave des Optimismus, wie der Pessimist der Tyrannei des Pessimismus ausgesetzt war. Der Optimist zog daraus große Vorteile: Er war seltener deprimiert, gesünder und leistungsfähiger. Er wurde sogar häufiger in öffentliche Ämter gewählt. Aber er mußte einen Preis dafür bezahlen: Er hatte beschönigende Illusionen und ein schwächeres Verantwortungsbewußtsein. Bisher jedenfalls. Auch der Optimist gewinnt mehr Freiheit: Er lernt, was der Optimismus bewirkt und wie er funktioniert. Er kann jetzt seine Werte und seine Urteilsfähigkeit einsetzen; er kann bestimmen, wann er seiner sehr effektiven Gewohnheit nachgeben will, unangenehme Gedanken zu disputieren. Er kann nun auch wählen, ob er die Techniken des Disputierens überhaupt anwenden will, denn jetzt kennt er ihre Vorteile und ihren Preis. Gelten die Vorteile des Optimismus also nicht uneingeschränkt? Auch Pessimismus spielt eine nützliche Rolle, sowohl in der Gesellschaft als auch in unserem eigenen Leben. Wir müssen den Mut aufbringen, den Pessimismus auszuhalten, wenn er wertvolle Perspektiven aufzeigt. Wir wollen keinen blinden Optimismus, sondern einen flexiblen Optimismus – Optimismus mit offenen Augen. Wir müssen in der Lage sein, bei Bedarf den scharfen Wirklichkeitssinn des Pessimismus zu nutzen, ohne jedoch ständig im Schatten des Pessimismus leben zu müssen. Ich bin überzeugt, daß die Vorteile dieser Art von Optimismus uneingeschränkte Geltung besitzen.

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Danksagung Dieses Buch wäre ohne die Hilfe von vier Persönlichkeiten nicht entstanden. An erster Stelle möchte ich Tom Congdon danken. Er half mir, den Text in einer für Laien gut lesbaren, flüssigen Sprache abzufassen. Er war stets mit Rat und Tat zur Stelle, wenn der Elan aller anderen schon erlahmt war. Und er wurde ein Freund. Dan Oran, President von Foresight, Inc., drängte mich, dieses Buch zu schreiben. Nach anfänglichem Zögern erkannte ich darin eine Chance, die Geschichte meiner Lebensarbeit zu erzählen. Dan stellte auch den ersten Kontakt zu Richard Pine her, der mich als Literaturagent betreute. Der Vater meiner zweiten Frau, Dennis McCarthy, ermutigte mich ebenfalls sehr, dieses Buch zu schreiben. Aber auch viele andere gaben mir gute Ratschläge. Zu ihnen gehören mein Lektor, Jonathan Segal, Karen Reivich von Foresight, Inc., und Peter Schulman. Meine Tochter Amanda Seligman las Teile der ersten Fassung und half mir, den Text lesbar zu machen. Meine Sekretärin, Terry Silver, half mir in so vielfältiger Weise, daß eine Aufzählung gar nicht möglich ist. Schließlich lasen die 28 Studenten und Studentinnen, die 1989-1990 an meinem Seminar an der University of Pennsylvania teilnahmen, die gesamte erste Fassung des Manuskripts. Viele gaben wertvolle Kommentare dazu ab. Sehr viele Menschen halfen mir bei den einzelnen Kapiteln. Ihnen möchte ich im folgenden danken: Bei Kapitel eins standen mir Ralph Keyes, Carol Stillman und Bob Trotter bei. Kapitel zwei handelt von der erlernten Hilflosigkeit. Hier möchte ich vor allem den Forschern Steve Maier, Bruce Overmier, Dick Solomon und Don Hiroto danken. Danken möchte ich auch dem National Institute of Mental Health, der National Science Foundation, der Guggenheim Foundation und der Woodrow Wilson Foundation, die in dieser Phase meine Arbeit förderten. Den beiden zuerst genannten Institutionen habe ich auch für die finanzielle Unterstützung bei vielen wichtigen Projekten zu danken. Ohne ihre Hilfe befände sich die Depressionsforschung nicht auf ihrem heutigen Stand. Kapitel drei beschreibt Erklärungsmuster. Hier waren Lyn Abramson, Chris Peterson, John Teasdale und Judy Garber namhaft beteiligt, ebenso Amy Semmel und Karen Reivich. Unterstützt hat mich auch das Center of Advanced Study in the Behavioral Sciences. Die Kapitel vier und fünf über Depression haben der Arbeit von Albert Ellis und Aaron Beck viel zu verdanken. Hier möchte ich auch Dean Schuyler danken sowie Mickey Stunkard, Gerry Klerman, Myrna Weissman, Janice Egeland und Buck Scheiffelin sowie Lenore Radloff, Steve Hollon, Rob DeRubeis, Mark Evans und Susan NolenHoeksema. Kapitel sechs über Erfolg bei der Arbeit beruht auf der Zusammenarbeit mit der Versicherungsgesellschaft Metropolitan Life. Besonders danken möchte ich Dick Calogero, John Creedon, Howard Mase, Bob Crimmins, Al Oberlander, Joyce Jiggots, Yvonne Miesse und fast 200.000 Bewerbern und Vertretern, die den ASQ ausfüllten. Die Kapitel sieben und acht über Eltern und Kinder haben der Arbeit von Nadine Kaslow, Richard Tannenbaum, Carol Dweck, Chris Peterson und Glen Elder besonders viel zu verdanken.

200

Die Langzeitstudien über Kinder förderte u.a. das Social Science Research Council Committee on Life Span Development. Joan Girgus und Susan Nolen-Hoeksema trugen am meisten zum Thema Erklärungsmuster und Depression bei Kindern bei. Danken möchte ich auch allen, die uns bei den Untersuchungen an den Schulen geholfen haben. Kapitel neun über Sport stützt sich auf die Arbeiten von Chris Peterson, David Rettew und Karen Reivich. Besonderer Dank gebührt auch Nort und Karen Moe Thornton aus Berkeley. Kapitel zehn über Gesundheit wurde bereichert durch die Arbeiten von Madelon Visintainer, Joe Volpicelli, Steve Maier, Leslie Kamen, Judy Rodin, Chris Peterson, George Vaillant und Sandy Levy. Die MacArthur Foundation und das National Institute of Aging finanzierten unsere Arbeit. Kapitel elf über Politik, Kultur und Religion hat den Interessen junger Forscher und Forscherinnen viel zu verdanken: Harold Zullow, Gabriele Oettingen, Eva Morawska. Bei den Kapiteln zwölf bis vierzehn über die Veränderung von Erklärungsmustern stützte ich mich auf die Arbeiten von Art Freeman, Steve Hollon, Dan Oran, Karen Reivich, Aaron Beck und Albert Ellis, Ed Craighead, Susan NolenHoeksema und Judy Garber. Beteiligt waren auch die Metropolitan Life im allgemeinen und Dick Calogero, Howard Mase, Bob Crimmins, Yvone Miesse und John Creedon im besonderen. Kapitel 15 handelt von der Zukunft. Ich bin Lara Catrina Seligman dankbar, daß sie dazugehört. George T. Harris veranlaßte mich, über Depression und Individualismus zu schreiben. Die American Psychological Association lud mich 1988 zur Stanley Hall Lecture ein, wo ich diese Gedanken erstmals darlegen konnte. Schließlich gibt es noch zwei prägende Einflüsse auf mein Leben und auf dieses Buch. Das Seminar für Psychologie an der University of Pennsylvania war 25 Jahre lang die geistige Heimat für meine Arbeit und hat mich in jeder Weise unterstützt. Meinen dortigen Lehrern, Studenten und Kollegen schulde ich mehr Dank, als ich ihnen mit Worten je erstatten kann. Vor allem aber möchte ich Mandy McCarthy danken, Laras Mutter, meiner Frau. Ihre Liebe, ihr wacher Intellekt und ihre unermüdliche Unterstützung ließen dieses Buch entstehen. Januar 1990

201

Anmerkungen 01

N. Chomsky, REVIEW OF VERBAL BEHAVIOR BY B. F. SKINNER, Language, 1959, 35, S. 26-58.

02

Gerald Klerman gab als Leiter der Alcohol, Drug Abuse, and Mental Health Administration (ADAMHA) eine Reihe von großangelegten Untersuchungen in Auftrag, um die Verbreitung psychischer Krankheiten in Amerika zu ermitteln. In dem Artikel »The Age of Melancholy?«, Psychology Today, April 1979, S. 37-42, veröffentlichte Klerman Auszüge aus den besorgniserregenden Statistiken über die Verbreitung der Depression in unserer Zeit.

03

Sigmund Freud stellt diese Theorie in dem spekulativen, aber faszinierenden Aufsatz TRAUER UND MELANCHOLIE aus dem Jahre 1915 vor: SIGMUND FREUD STUDIENAUSGABE, Bd. III, Frankfurt 1975, S. 193-212. Freud unterscheidet den normalen Zustand der Trauer von der krankhaften Störung Melancholie. In der modernen Forschung wird dagegen der fließende Übergang zwischen diesen beiden Zuständen hervorgehoben.

04

Zwei nützliche Bücher von Vertretern der biomedizinischen Position sind Fieve, R. R. MOODSWING, New York, William Morrow, 1975; dt. STIMMUNGSSCHAUKEL, München 1977, und (etwas fachlicher) Klein, D. F. und Davis, J. M., DIAGNOSIS AND DRUG TREATMENT OF PSYCHIATRIC DISORDERS, Baltimore, Williams and Wilkins, 1969.

05

Ich habe Robertson Davies’ hervorragendem Essay »What Every Girl Should Know« in ONE HALF OF ROBERTSON DAVIES, New York, Viking, 1977, die treffende Wendung »Das Wort im Innern« zu verdanken. Ich habe ihm außerdem noch vieles andere zu verdanken.

06

Die Transferexperimente zeigten letztlich, daß Pawlowsche Konditionierung nur instrumentelles Lernen herbeiführen oder verhindern konnte; vgl. Rescorla, R. A. und Solomon, R. L., »Two-Process Learning Theory: Relationship Between Pavlovian Conditioning and Instrumental Learning«, Psychological Review, 1967, 74, S. 151-182.

07

Eine umfassendere Darstellung und eine vollständige Bibliographie der Tierversuche zur Hilflosigkeit findet sich in Seligman, M., HELPLESSNESS: ON DEPRESSION, DEVELOPMENT, AND DEATH, San Francisco, Freeman, 1975; dt. ERLERNTE HILFIOSIGKEIT, München, 1979. (Dritte, erweiterte Auflage: 1986.) Vgl. auch Maier, S. F. und Seligman, M. »Learned Helplessness: Theory and Evidence«, Journal of Experimental Psychology: General, 1976, 105, S. 3-46.

08

Die Darstellung einer mehrtägigen Debatte zwischen der behavioristischen und der kognitiven Auffassung von erlernter Hilflosigkeit wurde veröffentlicht in Behavior Research and Therapy, 1980, 18, S. 459-512. Sie können selbst entscheiden, wer gewonnen hat.

09

Vgl. Hiroto, D. S., »Locus of Control and Learned Helplessness«, Journal of Experimental Psychology, 1974, 102, S. 187 bis 193.

10

Eine Darstellung der Rolle der Attributionstheorie in Leistungssituationen findet sich in Weiner, B., Frieze, I., Kukla, A., Reed, L. und Rosenbaum, R. M., PERCEIVING THE CAUSES OF SUCCESS AND FAILURE, Morristown, N. J., General Learning Press, 1971, und in Julian Rotters klassischer Monographie »Generalized Expectancies for Internal Versus External Control Reinforcement«, Psychological Monographs, 1966, 80 (1, die ganze Nummer 609).

11

Die Sondernummer des Journal of Abnormal Psychology, 1978, 87, enthielt die Neuformulierung von Abramson, Seligman und Teasdale, etwa ein Dutzend weiterer Artikel, die meist Kritik an der ursprünglichen Theorie der erlernten Hilflosigkeit beinhalteten, sowie einige scharfe Reaktionen und Ablehnungen. Seit damals sind Hunderte von Zeitschriftenartikeln und Dutzende von Doktorarbeiten über Erklärungsmuster, erlernte Hilflosigkeit und Depression erschienen. Diese umfangreiche Literatur spiegelt viele unterschiedliche Meinungen wider, aber es hat sich ein Konsens darüber herausgebildet, daß pessimistische Erklärungsmuster und Depression so eng miteinander verbunden sind, wie die Theorie besagt. In Sweeney, P., Anderson, K. und Bailey, S., »Attributional Style in Depression: A Meta-analytic Review«, Journal of

202

Personality and Social Psychology, 1986, 50, S. 974-991 werden 104 Untersuchungen besprochen, wobei alle in meinem eigenen Labor durchgeführten Versuche ausgeschlossen wurden. Robins, C., »Attributions and Depression: Why Is the Literature So Inconsistent?«, Journal of Personality and Social Psychology, 1988, 54, S. 880-889 kommt zu dem Schluß, daß bei Versuchen, in denen die vorhergesagte Beziehung zwischen Pessimismus und Depression nicht belegt werden konnte, durchgängig mit zu kleinen Versuchsgruppen gearbeitet worden war. Tenen, H. und Herzberger, S. »Attributional Style Questionnaire«, in: Keyser, J. und Sweetland, R. C. (Hrg.), TEST CRITIQUES, 1986, Band 4, S. 20-30, besprechen die Geschichte und die Verwendung des Fragebogens. 12

Die neueste Version der Hoffnungs-Theorie findet sich in Abramson, L. Y., Metalsky, G. I. und Alloy, L. B., »Hopelessness Depression: A Theory-Based Process-Oriented Subtype of Depression«, Psychological Review, 1989, 96, S. 358-372.

13

Der Konflikt zwischen Selbstvorwürfen und Verantwortung auf der einen Seite und Hilflosigkeit auf der anderen Seite wurde erstmals in einem aufschlußreichen Artikel über Depression von Abramson, L. Y. und Sackheim, H., »A Paradox in Depression: Uncontrollability and Self-blame«, Psychological Bulletin, 1977, 84, S. 838-851, diskutiert. Die Autorinnen stellen die Frage, wie es möglich ist, daß ein depressiver Mensch gleichzeitig überzeugt sein kann, er sei für die Tragödien in seinem Leben verantwortlich und er sei hilflos.

14

Das aufschlußreichste Standardwerk über die Psychologie der Depression ist noch immer der Klassiker von Beck, Aaron T., Depression, New York, Hoeber, 1967. Zwei ausgezeichnete Bücher zur Behandlung sind Ellis, A., Reason and Emotion in Psychotherapy, New York, Stuart, 1962; dt. Die rationalemotive Therapie. Das innere Selbstgespräch bei seelischen Problemen und seine Veränderung, München, 1977, und Beck, A. T., Rush, A. J., Shaw, B. F. und Emery, G., Cognitive Therapy of Depression: A Treatment Manual, New York, Guilford, 1979, dt. Kognitive Therapie der Depression, München, 1981.

15

Vgl. Allen, M. G., »Twin Studies of Affective Illness«, Archives of General Psychiatry, 1976, 33, S. 1476-1478.

16

Der CES-D- (Center for Epidemiological Studies-Depression) Test ist ein vielverwendetes Verzeichnis der Symptome von Depression, vgl. Radloff, L., »The CES-D Scale: A Self-report Depression Scale for Research in the General Population«, Applied Psychological Measurement, 1977, 1, S. 385-401.

17

In seinem Artikel »The Age of Melancholy?«, Psychology Today, April 1979, S. 37-42, führt Gerald Klerman einige der besorgniserregenden Statistiken über die Verbreitung der Depression an und prägt den Terminus »Age of Melancholy« (»Zeitalter der Melancholie«). Die beiden wichtigsten Untersuchungen, in denen das epidemische Ausmaß der Depression festgestellt wurde, sind Robins, L., Helzer, J., Weissman, M., Orvaschel, H., Gruenberg, E., Burke, J. und Regier, D., »Lifetime Prevalence of Specific Psychiatric Disorders in Three Sites«, Archives of General Psychiatry, 1984, 41, S. 949-958, und Klerman, G., Lavori, P., Rice, J., Reich, T., Endicott, J., Andreasen, N., Keller, M. und Hirschfeld, R., »Birth Cohort Trends in Rates of Major Depressive Disorder Among Relatives of Patients with Affective Disorder«, Archives of General Psychiatry, 1985, 42, S. 689-693. Beide Untersuchungen sind Fundgruben für Forscher, die ernsthaft über psychische Störungen arbeiten wollen. Mein einziger Einwand gegen diese bedeutenden Untersuchungen betrifft die Aussage der biomedizinisch orientierten Autoren, es habe »im Laufe der Zeit eine Interaktion zwischen Genen und Umwelt« stattgefunden, die für die weite Verbreitung der Depression heute verantwortlich sei. Ich kann ihrem Untersuchungsmaterial keinerlei Hinweis auf eine solche Interaktion entnehmen, vielmehr scheint mir allein die Umwelt entscheidend zu sein. Sowohl diejenigen, die genetisch vorbelastet sind (die Verwandten), als auch die Öffentlichkeit im allgemeinen (die Population der ECA) scheinen in den letzten Jahren erheblich häufiger depressiv zu werden.

18

Die Kriterien dafür, wann ein Modell für Psychopathologie adäquat ist, werden aufgeführt in Abramson, L. Y. und Seligman, M., »Modeling Psychopathology in the Laboratory: History and Rationale«, in Maser, J. und Seligman, M. (Hgg.), Psychopathology: Experimental Models, San Francisco, Freeman, 1977, S. 1-27. Das Hauptkriterium ist die

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Übertragung der Symptome vom Modell auf die Pathologie. Wie der Leser sehen kann, ist dieses Kriterium im vorliegenden Fall voll erfüllt. Die ausführlichste Darlegung der weitreichenden Symptomentsprechung der erlernten Hilflosigkeit und der mit Hilfe des DSM-3-Test diagnostizierten Depression findet sich in Weiss, J. M., Simson, P. G., Ambrose, M. J., Webster, A. und Hoffman, L. J., »Neurochemical Basis of Behavioral Depression«, Advances in Behavioral Medicine, 1985, 1, S. 253-275. Dieser Aufsatz und die wichtige Arbeit von Sherman und Petty stellen auch die auffallenden Ähnlichkeiten in der Chemie des Gehirns und der Pharmakologie zwischen erlernter Hilflosigkeit und Depression dar, vgl. Sherman, A. D. und Petty, F. »Neurochemical Basis of Antidepressants on Learned Helplessness«, Behavioral and Neurological Biology, 1982, 30, S. 119-134. 19

Das Beck-Zitat stammt aus Beck, A. T., Cognitive Therapy and the Emotional Disorders, New York, New American Library, 1976, dt. Wahrnehmung der Wirklichkeit und Neurose. Kognitive Psychotherapie emotionaler Störungen, München, 1979.

20

Wolpes revolutionäre Entdeckungen wurden veröffentlicht in Wolpe, J., Psychotherapy by Reciprocal Inhibition, Stanford, Stanford University Press, 1958. Freuds Theorie der Phobie ist in dem berühmten Fall vom Kleinen Hans aus dem Jahre 1909 dargelegt: »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben [Der kleine Hans]«, Sigmund Freud Studienausgabe, Bd. VIII, Frankfurt 1969, S. 9-123. Wolpes Therapie hat zahlreiche Forschungsarbeiten angeregt, von denen die meisten zeigen, daß diese Therapie bei Phobien sehr wirksam hilft, ohne daß die Symptome an anderer Stelle wieder auftauchen, was nach der Theorie Freuds zu erwarten wäre. Es ist jedoch noch immer umstritten, welche Faktoren in der Therapie wirken. Eine Übersicht findet sich in Kazdin, A. E. und Wilcoxon, L. A., »Systematic Desensitization and Nonspecific Treatment Effects: A Methodological Evaluation«, Psychological Bulletin, 1976, 83, S. 729-758.

21

Die gemeinsame Untersuchung im Auftrag des National Institute of Mental Health wurde kürzlich veröffentlicht: Elkin, I., Pilkonis, P., Docherty, J. P. und Sotsky, S., »Conceptual and Methodological Issues in Comparative Studies of Psychotherapy and Pharmacotherapy«, American Journal ofPsychiatry, 1988, 145, S. 909-917. Noch wichtiger ist vielleicht ein anderer Artikel, weil er auch nachvollziehbar darstellt, wie die Therapie wirkt, und nicht nur belegt, daß kognitive Therapie ebenso wirkt wie trizyklische Medikamente: Hollon, S. D., DeRubeis, R. J. und Evans, M. D., »Combined Cognitive Therapy and Pharmacotherapy in the Treatment of Depression«, in: Manning, D. und Frances, A. (Hgg.), Combination Drug and Psychotherapy in Depression, Washington, D. C., American Psychiatric Press, 1990. Ich bin überzeugt, daß diese Untersuchung bald als Klassiker auf diesem Gebiet gelten wird.

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Ausführliche Besprechungen von Erklärungsmustern und Depression sowie umfangreiche bibliographische Angaben finden sich in Peterson, D. und Seligman, M., »Causal Explanations as a Risk Factor for Depression: Theory and Evidence«, Psychological Review, 1984, 91, S. 347-374, in Sweeney, P., Anderson, K. und Bailey, S., »Attributional Style in Depression: A Meta-Analytic Review«, Journal of Personality and Social Psychology, 1986, 50, S. 974-991, und in Abramson, L. Y., Metalsky, G. I. und Alloy, L. B., »Hopelessness Depression: A Theory-Based Process-Oriented Sub-type of Depression«, Psychological Review, 1989, 96, S. 358-372.

23

Die grundlegenden Erkenntnisse, daß kognitive Therapie Depression ebenso wirksam bessert wie trizyklische Antidepressiva, daß kognitive Therapie dadurch wirkt, daß sie die Erklärungsmuster ändert und daß der Stand der Erklärungsmuster am Ende der Therapie Rückfälle kalkulierbar macht, sind drei wichtigen Artikeln zu verdanken, die demnächst veröffentlicht werden. Die Hauptautoren sind Steve Hollon, Rob DeRubeis und Mark Evans. Die »Tanya«-Zitate stammen aus Transkriptionen in diesen bald erscheinenden Untersuchungen. Wie bei anderen Patientenzitaten in diesem Buch wurden die Namen und die persönlichen Daten geändert, um die Anonymität der Patienten zu wahren.

24

Drei Psycholog(inn)en haben die wichtigsten Beiträge zu den neueren Untersuchungen über das Grübeln geliefert: Julius Kuhl, Susan Nolen-Hoeksema und Harold Zullow. Vgl. Kuhl, J., »Motivational and Functional Helplessness: The Moderating Effect of State Versus Action-Orientation«, Journal of Personality and Social Psychology, 1982, 40, S.

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155-170; Zullow, H. M., »The Interaction of Rumination and Explanatory Style in Depression«, Magisterarbeit, University of Pennsylvania, 1984, und Nolen-Hoeksema, S., Sex Differences in Depression, Stanford, CA, Stanford University Press, 1990. 25

Es ist unbestreitbar, daß Frauen häufiger an Depression leiden als Männer. Der Grund dafür ist jedoch heftig umstritten. Die beste neuere Stellungnahme zu diesem Thema ist möglicherweise Nolen-Hoeksema, S., »Sex Differences in Depression: Theory and Evidence«, Psychological Bulletin, 1987, 101, S. 259-282, und ebenso ihr Buch.

26

Vier der fünf grundlegenden Schritte der kognitiven Therapie entstammen Beck, A. T., Rush, A. J., Shaw, B. F. und Emery, G., Cognitive Therapy of Depression. A Treatment Manual, New York, Guilford, 1979, dt. Kognitive Therapie der Depression, München, 1981. Den fünften Schritt, die Anfechtung der Prämissen, gibt es nur bei Ellis. Vgl. Ellis, A., Reason and Emotion in Psychotherapy, New York, Stuart, 1962, dt. Die rationalemotive Therapie, München, 1977. Die Therapien von Beck und Ellis sind inzwischen sehr ähnlich; einer der Hauptunterschiede besteht eben in der Anfechtung von Grundannahmen.

27

Die meisten Daten über Versicherungsabschlüsse und Erklärungsmuster sind in internationalen Berichten von Foresight, Inc., (Falls Church, Va.) und seinen Geschäftskunden enthalten. Es gibt jedoch auch zwei veröffentlichte Artikel: Seligman, M. und Schulman, P., »Explanatory Style as a Predictor of Performance as a Life Insurance Agent«, Journal of Personality and Social Psychology, 1986, 50, S. 832-838, und Schulman, P., Seligman, M. und Oran, D., »Explanatory Style Predicts Productivity Among Life Insurance Agents: The Special Force Study«, 1990, unveröffentlichtes Manuskript, erhältlich bei Foresight, Inc., 3516 Duff Drive, Falls Church, Va. 22041 (703-820-8170).

28

Lionel Tiger, OPTIMISM. THE BIOLOGY OF HOPE, New York, Simon and Schuster, 1979.

29

Der inzwischen klassische Artikel von Alloy, L. B. und Abramson, L. Y., »Judgement of Contingency in Depressed and Nondepressed Students: Sadder but Wiser«, Journal of Experimental Psychology: General, 1979, 108, S. 441-485, war die erste Untersuchung, die den Realismus von Depressiven aufzeigte.

30

Lewinsohn, P., Mischel, W., Chaplin, W. und Barton, R., »Social Competence and Depression: The Role of Illusory Selfperceptions«, Journal of Abnormal Psychology, 1980, 89, S. 203-212, haben den Realismus depressiver Menschen bei der Beurteilung von sozialen Fähigkeiten nachgewiesen.

31

Der Realismus depressiver Menschen scheint auch für das Gedächtnis zu gelten, aber hier gibt es widersprüchliche Daten. Vgl. beispielsweise DeMonbreun, R. und Craighead, E., »Distortion of Perception and Recall of Positive and Neutral Feedback in Depression«, Cognitive Therapy and Research, 1977, 1, S. 311-329.

32

Die verzerrte Sichtweise von Nichtdepressiven wird besprochen in Peterson, C. und Seligman, M., »Causal Explanations as a Risk Factor for Depression: Theory and Evidence«, Psychological Review, 1984, 91, S. 347-374.

33

Ambrose Bierce, The Devil’s Dictionary, New York, Dover 1958 [Erstausgabe 1911], dt. Des Teufels Wörterbuch, Werkausgabe Bd.1, Zürich, 1986.

34

Der Children’s Attributional Style Questionnaire (CASQ) ist das meistbenützte Instrument für die Erfassung der Erklärungsmuster von Kindern zwischen 8 und 12 Jahren. Vgl. Seligman, M., Kaslow, N. J., Alloy, L. B., Peterson, C., Tannenbaum, R. und Abramson, L. Y., »Attributional Style and Depressive Symptoms Among Children«, Journal of Abnormal Psychology, 1984, 93, S. 235-238.

35

Vgl. etwa Puig-Antich, J., Lukens, E., Davies, M., Goetz, D., Brennan-Quattrock, J. und Todak, G., »Psychosocial Functioning in Prepubertal Major Depressive Disorders: 1. Interpersonal Relationships during the Depressive Episode«, Archives of General Psychiatry, 1985, 42, S. 500-507. Während das vorliegende Buch entstand, ist Kim Puig-Antich, der in der Erforschung schwerer Depression bei kleinen Kindern führende Wissenschaftler Amerikas, im Alter von 47 Jahren plötzlich gestorben. Die Psychiatrie und die Psychologie haben durch den Tod dieses so menschlichen und verständnisvollen Wissenschaftlers einen großen Verlust erlitten.

205

36

Die führende Wissenschaftlerin im Bereich Hilflosigkeit im Klassenzimmer ist Carol Dweck. Sie und ihre Kollegen haben die Arbeit durchgeführt, die in diesem Abschnitt geschildert wird. Eine Übersicht findet sich in Dweck, C. S. und Licht, B., »Learned Helplessness and Intellectual Achievement«, in: Garber, J. und Seligman, M. (Hgg.), Human Helplessness: Theory and Applications, New York, Academic Press, 1980, S. 197-222.

37

Vgl. Seligman, M. und Elder, G., »Learned Helplessness and Life-Span Development«, in: Sorenson, A., Weinert, F. und Sherrod, L. (Hgg.), Human Development and the Life Course: Multidisciplinary Perspectives, Hillsdale, N. J., Erlbaum, 1985, S. 377-427.

38

Wenn Sie lernen möchten, wörtliche Rede geschult zu beurteilen, finden Sie eine Anleitung im Anhang von Schulman, P., Castellon, C. und Seligman, M., »Assessing Explanatory Style: The Content Analysis of Verbatim Explanations and the Attributional Style Questionnaire«, BEHAVIOR RESEARCH AND THERAPY, 1989, 27, S. 505-512. Man braucht etwa einen halben Tag, um die Aussagen verläßlich beurteilen zu lernen.

39

Diese wichtige Arbeit über verletzlich machende Faktoren findet sich in Brown, G. W. und Harns, T., SOCIAL ORIGINS OF DEPRESSION, London, Tavistock, 1978.

40

Die Bewertungsskala für Depression bei Kindern entspricht meiner leicht modifizierten Version des CES-DC-(Center for Epidemiological Studies-Depression Child) Test. Dieser Test wurde entwickelt von Weissman, M., Orvaschell, H. und Padian, N., »Children’s Symptom and Social Functioning: Self-Report Scales«, Journal of Nervous and Mental Disease, 1980, 168, S. 736-740.

41

Ein repräsentativer Artikel über die Princeton-Penn Longitudinal Study ist: NolenHoeksema, S., Girgus, J. und Seligman, M., »Learned Helplessness in Children: A Longitudinal Study of Depression, Achievement and Explanatory Style«, Journal of Personality and Social Psychology, 1986, 51, S. 435-442.

42

In letzter Zeit gab es relativ übereinstimmende Forschungsergebnisse darüber, wie überraschend schädlich sich Scheidung und Trennung der Eltern und vor allem elterlicher Streit auf Kinder auswirken. Drei wichtige Titel in diesem Zusammenhang sind: Wallerstein, J. und Blakeslee, S., SECOND CHANCES: MEN, WOMEN, AND CHILDREN A DECADE AFTER DIVORCE, New York, Ticknor und Fields, 1989; dt. GEWINNER UND VERLIERER. FRAUEN, MÄNNER, KINDER NACH DER SCHEIDUNG, München, 1989; Hetherington, E. M., Cox, M. und Roger, C., »Effects of Divorce on Parents and Children«, in: Lamb, M. E. (Hg.), NON-TRADITIONAL FAMILIES, Hillsdale, N. J., Erlbaum, 1982, S. 233-288, und Cummings, E. M., Vogel, D., Cummings, J. S. und El-Sheikh, M., »Children’s Responses to Different Forms of Expression of Anger Between Adults«, Child Development, 1989, 60, S. 1392-1404.

43

Zu den Versuchen über den Ausgang von Streitigkeiten siehe Cummings, E. M., Vogel, D., Cummings, J. S. und El-Sheikh, M., »Children’s Responses to Different Forms of Expression of Anger Between Adults«, Child Development, 1989, 60, S. 1392 bis 1404.

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Die zerstörerischen Auswirkungen von Wut und ihre (überbewerteten) konstruktiven Aspekte werden besprochen in einem mutigen Buch von Carol Tavris: ANGER: THE MISUNDERSTOOD EMOTION, New York, Simon and Schuster, 1982.

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Eine ausgezeichnete Abhandlung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern in bezug auf Depression ist Nolen-Hoeksema, S., »Sex Differences in Depression: Theory and Evidence«, Psychological Bulletin, 1987, 101, S. 259-282, sowie ihr wichtiges Buch SEX DIFFERENCES IN DEPRESSION, Stanford, Stanford University Press, 1990.

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Diese Arbeit wurde zusammen mit Leslie Kamen durchgeführt, aber bei der Publikation kamen uns Peterson und Barrett zuvor, die gleichzeitig praktisch die gleiche Untersuchung an einer anderen Universität durchgeführt hatten. Vgl. Peterson, C. und Barrett, L., »Explanatory Style and Academic Performance Among University Freshmen«, Journal of Personality and Social Psychology, 1987, 53, S. 603-607.

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Das alljährlich erscheinende »Elias«-Kompendium faszinierender Baseballstatistiken ist unsere Quelle für das Schlagen und Werfen unter Druck. Vgl. Siwoff, S., Hirdt S. und

206

Hirdt, T., THE 1988 ELIAS BASELBALL ANALYST, New York, Collier, MacMillan Publishing Company, 1988. Wir haben auch die Bände für die Jahre 1985, 1986 und 1987 ausgewertet. 48

Vgl. Seligman, M., Nolen-Hoeksema, S., Thornton, N. und Thornton, K. M., »Explanatory Style as a Mechanism of Disappointing Athletic Performance«, Psychological Science, 1990, 1, S. 143-146.

49

Daniels Geschichte wird berichtet in Visintainer, M. und Seligman, M., »The Hope Factor«, American Health, 1983, 2, S. 58-61.

50

Vgl. Langer, E. J. und Rodin, J., »Effects of Choice and Enhance d Personal Responsibility for the Aged: A Field Experiment in an Institutional Setting«, Journal of Personality and Social Psychology, 1976, 34, S. 191-199.

51

Vgl. Visintainer, M., Volpicelli, J. und Seligman, M., »Tumor Rejection in Rats After Inescapable or Escapable Shock«, Science, 1982, 216, S. 437-439.

52

Vgl. Sklar, L. S. und Anisman, H., »Stress and Coping Factors Influence Tumor Growth«, Science, 1979, 205, S. 513-515.

53

Vgl. Seligman, M. und Visintainer, M., »Tumor Rejection and Early Experience of Uncontrollable Shock in the Rat«, in: Brush, F. R. und Overmier, J. B. (Hgg.), AFFECT, CONDITIONING, AND COGNITION: ESSAYS ON THE DETERMINANTS OF BEHAVIOR, Hillsdale, N. J., Erlbaum, 1985, S. 203-210.

54

Wenn Sie einen aufschlußreichen Einblick in dieses hochspezielle Gebiet gewinnen wollen, eignet sich Maier, S. F., Laudenslager, M. und Ryan, S. M., »Stressor Controllability, Immune Function, and Endogenous Opiates«, in: Brush, F. R. und Overmier, J. B. (Hgg.), AFFECT, CONDITIONING, AND COGNITION: ESSAYS ON THE DETERMINANTS OF BEHAVIOR, Hillsdale, N. J., Erlbaum, 1985, S. 203-210.

55

Vgl. Peterson, C. »Explanatory Style as a Risk Factor for Illness«, Cognitive Therapy and Research, 1988, 12, S. 117-130.

56

Vgl. Greer, S., Morris, T. und Pettingale, K. W., »Psychological Response to Breast Cancer: Effect on Outcome«, The Lancet, 1979, II, S. 785-787.

57

Vgl. Cassileth, B. R., Lusk, E. G., Miller, D. S., Brown, L. L. und Miller, C., »Psychosocial Correlates of Survival in Malignant Disease«, New England Journal of Medicine, 1985, 312, S. 1551-1555, und Angell, M., »Disease as a Reflection of the Psyche«, New England Journal of Medicine, 1985, 312, S. 1570-1572.

58

Vgl. Bartrop, R., Lockhurst, L., Lazarus, L., Kiloh, L. und Penney, R., »Decreased Lymphocyte Function after Bereavement«, The Lancet, 1979, 1, S. 834-836.

59

Vgl. Irwin, M., Daniels, M., Bloom, E. T., Smith, T. L. und Weiner, H., »Life Events, Depressive Symptoms, and Immune Function«, American Journal of Psychiatry, 1987, 144, S. 437 bis 441.

60

Vgl. Burns, M. und Seligman, M., »Explanatory Style Across the Lifespan: Evidence for Stability over 52 years«, Journal of Personality and Social Psychology, 1989, 56, S. 471477.

61

Vgl. Peterson, C., Seligman, M. und Vaillant, G., »Pessimistic Explanatory Style as a Risk Factor for Physical Illness: A Thirty-five-year Longitudinal Study«, Journal of Personality and Social Psychology, 1988, 55, S. 23-37.

62

Asimov, I., DIE PSYCHO-HISTORIKER: DIE BERÜHMTE FOUNDATION-TRILOGIE, Bergisch Gladbach, 1983.

63

Erikson, Erik, YOUNG MAN LUTHER, New York, Norton, 1957, dt. DER JUNGE MANN LUTHER, München 1958.

64

Vgl. Zullow, H. M., Oettingen, G., Peterson, C. und Seligman, M., »Pessimistic Explanatory Style in the Historical Record: CAVEing LBJ, Presidential Candidates and East versus West Berlin«, American Psychologist, 1988, 43, S. 673-682, und Zullow, H. M.

207

und Seligman, M., »Pessimistic Rumination Predicts Defeat of Presidential Candidates: 1900-1984«, Psychological Inquiry, 1990, 1. 65

Vgl. Zullow, H. M., Oettingen, G., Peterson, C. und Seligman, M., »Pessimistic Explanatory Style in the Historical Record: CAVEing LBJ, Presidential Candidates and East versus West Berlin«, American Psychologist, 1988, 43, S. 673-682, und Gettingen, G., Seligman, M. und Morawska, E. T., »Pessimism Across Cultures: Russian Judaism versus Orthodox Christianity and East versus West Berlin«, European Journal of Social Psychology, 1990 (erscheint in Kürze).

66

Die Übungen in den Kapiteln 12-14 haben ihren Ursprung in der bahnbrechenden Arbeit von Aaron Beck und Albert Ellis, von der in den Kapiteln 4 und 5 die Rede war. Sie entwickelten die erste Version unserer Techniken, um die Not von Menschen zu lindern, die bereits an Depressionen litten. 1987 bat Metropolitan Life das Unternehmen Foresight, Inc., darum, diese Techniken so zu modifizieren, daß sie für gesunde Menschen und als Präventivmaßnahme verwendet werden können. Met Life wollte sie für seine Versicherungsvertreter einsetzen – eine ausgesprochen nichtdepressive Gruppe. Steve Hollon, Professor an der Vanderbilt University und Herausgeber der Zeitschrift Cognitive Research and Therapy, und Art Freeman, Professor am New Jersey College of Medicine and Dentistry und einer der führenden Lehrer kognitiver Therapie, standen mir mit ihrer großen Sachkenntnis bei. Gemeinsam veränderten wir die Grundtechniken der kognitiven Therapie in der gewünschten zweifachen Weise. Dan Oran von Foresight, Inc., und Dick Calogero von der Metropolitan Life befaßten sich mit dem Workshop-Projekt, und Karen Reivich war Hauptherausgeberin der dafür neu geschaffenen Textmaterialien. In Kapitel 1214 stütze ich mich stark auf das, was wir erarbeitet und gelernt haben.

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Ich glaube, daß Philip Kendall, Professor für Psychologie an der Temple University, als erster die Wendung »die Macht des nicht negativen Denkens« benützte, um den Wirkungsmechanismus der kognitiven Therapie zu beschreiben.

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Die Techniken, die in diesem Kapitel vorgestellt werden, wurden erstmals unter der Schirmherrschaft von Foresight, Inc., Falls Church, Virginia, entwickelt. Steve Hollon, Art Freeman, Dan Oran, Karen Reivich und ich haben die Techniken der kognitiven Therapie zu einem System gestaltet, das als Präventivmaßnahme für nichtdepressive Versicherungsvertreter verwendet werden konnte. Foresight hat Workshops von einem, zwei und vier Tagen Dauer für Unternehmen eingerichtet, in denen mit diesem Material gearbeitet wird. Es ist auf Anfrage bei Foresight, Inc., 3516 Duif Drive, Falls Church, Va. 22041 erhältlich.

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Eine ausführlichere Erörterung der Rolle des Individualismus bei der heutigen epidemischen Verbreitung der Depression findet sich in Seligman, M., »Why Is There So Much Depression Today? The Waxing of the Individual and the Waning of the Commons«, The G. Stanley Hall Lee ture Series, 9, Washington, D. C., American Psychological Association, 1989. Vgl. auch Seligman, M., »Boomer blues«, Psychology Today, 1988, 10, S. 50-55.

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Christopher Lasch macht in seinem scharfsichtigen Buch THE CULTURE OF NARCISSISM, New York, Norton, 1979, dt. DAS ZEITALTER DES NARZIßMUS, München 1980, eine ähnliche Beobachtung in einem ganz anderen Bezugssystem.

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Diese Bemerkung über die Hintergrundfiguren auf Gemälden des Mittelalters und der Renaissance machte Henry Gleitman eines Abends beim Poker. Ich hoffe, daß ich damit nicht der Verwendung dieser Beobachtung in Gleitmans hervorragender Einführung in die Psychologie zuvorgekommen bin.

72

Egoismus ist möglicherweise weniger tief verwurzelt, als wir annehmen, und daher auch leichter zu beeinflussen, als gemeinhin angenommen wird. Vgl. Schwartz, B. THE BATTLE FOR HUMAN NATURE, New York, Norton, 1988.

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