PERSPEKTIVEN ZUR KOMMUNALEN JUGENDHILFE KINDESWOHLGEFÄHRDUNG FRÜHZEITIG ERKENNEN

March 16, 2017 | Author: Stephanie Weiss | Category: N/A
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PERSPEKTIVEN

ZUR

KOMMUNALEN

JUGENDHILFE

R I S K A N T E K I N D H E I T KINDESWOHLGEFÄHRDUNG FRÜHZEITIG ERKENNEN

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GÜNTER KAMPF, ANDREA LEHNER, BARBARA MOHR-MODES: RISKANTE KINDHEIT - KINDESWOHLGEFÄHRDUNG FRÜHZEITIG ERKENNEN EVALUATION EINES ANGEBOTS DER JUGEND- UND FAMILIENTHERAPEUTISCHEN BERATUNGSSTELLE DER STADT REGENSBURG

HERAUSGEBER:

STADT REGENSBURG AMT FÜR JUGEND UND FAMILIE RICHARD-WAGNER-STRASSE 17 93055 REGENSBURG FACHHOCHSCHULE REGENSBURG FAKULTÄT FÜR ANGEWANDTE SOZIALWISSENSCHAFTEN PRÜFENINGER STRASSE 58 93049 REGENSBURG

REDAKTION:

DR. WOLFGANG BUCHHOLZ-GRAF, PROFESSOR, FH REGENSBURG DR. VOLKER SGOLIK; SPFD DES AMTES FÜR JUGEND UND FAMILIE GÜNTER TISCHLER, LEITER DES AMTES FÜR JUGEND UND FAMILIE RUDOLF VOLK, DIPL.-SOZIALARBEITER (FH) UND SUPERVISOR

UMSCHLAGGESTALTUNG: PAVEL ZVERINA, PROFESSOR, FH REGENSBURG SONJA FRANKENBERGER, CHRISTIAN CIUPKA , ÖFFENTLICHKEITSARBEIT DRUCK:

STADT REGENSBURG, HAUSDRUCKEREI REGENSBURG, DEZEMBER 2007

BEZUGSADRESSE:

AMT FÜR JUGEND UND FAMILIE, POSTFACH 110643, 93055 REGENSBURG TEL.: 0941/507-1512, FAX.: 0941/507-4519 E-MAIL: [email protected]

Inhaltsangabe _______________________________________________________________________

Inhaltsverzeichnis Buchholz-Graf, Wolfgang / Tischler, Günter Was gefährdete Kinder brauchen ....................................................... 5 Nitsch, Michael Kinder, Eltern, Helfer in der Kinderschutzarbeit .................................. 9 Gerber, Christine Kindeswohlgefährdung ..................................................................... 42 Srdinko, Petra / Linder, Martin Bindungsstörung ............................................................................... 57 Kampf, Günter Früherkennung von Vernachlässigung ............................................. 68

Autorenverzeichnis ........................................................................... 80

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Riskante Kindheit

Was gefährdete Kinder brauchen – Eine Anmerkung zur verschärften Debatte um den Kinderschutz Die in diesem Heft vorliegenden Texte sind Ergebnis des Regensburger Fachforums „Riskante Kindheit“ vom November 2006. Obwohl seit dieser Veranstaltung mehr als ein Jahr vergangen ist, haben wir uns entschieden, die leicht überarbeiteten Referate einem breiteren Fachpublikum zur Verfügung zu stellen. Zum einen besteht nach wie vor in einigen Einrichtungen Verunsicherung über die Folgen und Handlungskonsequenzen des § 8a SGBVIII (KICK). Zum zweiten üben die schrecklichen Fälle von Kindestötungen, die innerhalb einer Woche in Darry (Schleswig Holstein), Plauen (Sachsen) und Nordhausen (Thüringen) entdeckt wurden, erheblichen öffentlichen Druck auf die Jugendhilfe aus. Bereits der Fall „Kevin“ aus Bremen Ende 2006 führte zu der Forderung nach verstärkter Kontrolle von Eltern: Der Staat möge seiner Fürsorgepflicht endlich gerecht werden! So verständlich die öffentlichen Reaktionen auch sind, wir müssen uns - gerade auch im Interesse der Kinder - um Differenzierung bemühen. Das renommierte Kriminologische Institut Niedersachsen verweist darauf, dass sich die Zahl der Kindestötungen seit Jahren wenig verändert hat. In Deutschland erliegen 80 bis 100 Kinder im Jahr einem Gewaltverbrechen, aber da heute mehr Fälle erkannt werden als früher, können wir sogar von einem leichten Rückgang ausgehen. Natürlich kann unter dem verstörenden Eindruck, dass Mütter ihre Kinder töten, keine Statistik beruhigen! Bis zu 100 Kindstötungen im Jahr ist und bleibt einfach ein erschreckender Tatbestand. Wie aber kann frühzeitig der Zugang zu überforderten Eltern hergestellt werden? Zunächst: Der Arm des Staates reicht nur bedingt bis ins Kinderzimmer, und das sollte - wollen wir eine freie Gesellschaft – auch so bleiben. Ob die Einführung verpflichtender Vorsorgeuntersuchungen in Bayern, die bereits in ähnlicher Weise im Saarland und Hessen durchgeführt werden, diesen Kindern entscheidend helfen kann, muss offen bleiben. Kritiker fürchten, dass um den hohen Preis eines Generalverdachtes aller Eltern kaum Gefährdungsfälle erfasst werden können. Der große zeitliche Abstand der Untersuchungen sei ein zu grobmaschiges Screening. Außerdem gäbe es keine brauchbaren Tests zur Erfassung gefährdeter Kinder und ihrer gefährdenden Eltern. Zudem fürchten die niedergelassenen Ärzte durch diese systematische Kontrollaufgabe um das Arzt-Patient-Vertrauensverhältnis. Erste Ergebnisse verpflichtender Vorsorgeuntersuchungen liegen aus dem Saarland vor: 2100 von 2500 Eltern meldeten sich unaufgefordert, 80 Kinder (und Eltern) erschienen auch nach zweimaliger Aufforderung

nicht. Mit diesen setzte sich das Gesundheitsamt in Verbindung und meldete letztlich acht Fälle an das Jugendamt (Süddeutsche Zeitung vom 08.12.2007). Das heißt 0,3 % aller Eltern wurden an das Jugendamt gemeldet, ohne dass wir wissen, mit welchem Ergebnis das Jugendamt in diesen Fällen intervenierte. Vielversprechend erscheint uns der Vorschlag, zu „Risikoeltern“ bereits bei der Geburt etwa durch die Hebammen Kontakt aufzubauen und begleitende Hilfen für den Alltag zu organisieren. Ein Risiko für Kinder wird vor allem bei sehr jungen und/oder alkohol- und drogenkranken, psychisch kranken und gewaltbelasteten Eltern gesehen. Bayern plant zudem eine Verbesserung des Kinderschutzes durch eine stärkere Vernetzung des Gesundheitsbereichs mit der Kinder- und Jugendhilfe. In diesem Zusammenhang wird Bayern eine gesetzliche Mitteilungspflicht von Ärzten und Hebammen gegenüber den Jugendämtern bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch einführen. „Hiermit sorgen wir für mehr Rechtssicherheit, denn gerade bei schwerwiegenden Verdachtsfällen steht die Schweigepflicht einer Einbindung des Jugendamtes nicht im Wege", erläuterte die bayerische Sozialministerin Christa Stewens. Durch die interdisziplinäre Kooperation solle bei den Eltern für die Inanspruchnahme weitergehender Unterstützungsangebote geworben, etwaige Hemmschwellen abgebaut und Brücken zu Hilfeangeboten gebaut werden. Begrüßt wird auch in Bayern eine Gesetzesinitiative aus dem Bundesjustizministerium: Die Gerichte sollen in Zukunft früher eingreifen können. Nicht erst für Entscheidungen über Sorgerechtseinschränkungen und -entzüge sollen die Familiengerichte angerufen werden, sondern auch, um Eltern über verpflichtende Weisungen zur Annahme von Hilfeleistungen (z. B. Anti-Gewalt-Trainingskurs) und Betreuungen (z. B. Besuch eines Kindergartens) zu veranlassen. So wichtig der eine oder andere Vorschlag zur Früherkennung sein mag: Alle diese Vorschläge berücksichtigen nicht, dass die weitaus meisten Risikofälle nicht akute, sondern latente Gefährdungen sind. Diese verlangen von den Fachkräften eine sehr schwierige Gratwanderung zwischen Hilfe und Kontrolle. Zum einen versuchen die Fachkräfte eine Beziehung zu den Risikofamilien aufzubauen und die Hilfen zu geben, die notwendig sind, um den Kindern ihre Eltern zu erhalten. Vielen Kindern (und Eltern) kann auf diese Weise nachhaltig geholfen werden. Und zum anderen müssen die Fachkräfte früh genug erkennen, wann alle Bemühungen um eine Verbesserung der häuslichen Situation für die Kinder vergeblich sind. Kinderschutz und Sicherung des Kindeswohls verlangen also eine doppelte Aufgabe: Frühzeitig und verlässlich zu erkennen, wann nur die Herausnahme eines Kindes aus der Familie Kinder schüt-

zen kann, und wann der beste Schutz für die Kinder in der Betreuung und Begleitung von Risikofamilien gegeben ist. Was die Arbeit der Fachkräfte so schwierig und belastend macht, ist dieser doppelte Auftrag: Zum einen eine verlässliche und vertrauensvolle Beziehung zu den Eltern aufzubauen und zum anderen den Zeitpunkt nicht zu verpassen, an dem sofort und zwar oft gegen das Interesse der Eltern gehandelt werden muss. Die Alltagsrealität der Jugendämter sind also weniger die spektakulären akuten Gefährdungslagen, sondern die Fälle, die eine permanente Begleitung (und Kontrolle) der Familien erfordern. Diese Fälle, die einen hohen Personalaufwand erfordern, nehmen in den letzten Jahren erheblich zu. So fordert der Sozialreferent der Stadt München auf Grund der massiv gestiegenen Fallzahlen 32 neue Planstellen für Sozialpädagogen bzw. Sozialpädagoginnen. Auch in Regensburg lässt sich ein deutlicher Anstieg der Fälle vermelden, während 2003 insgesamt 108 Gefährdungsfälle gezählt wurden, sind es 2006 über 300 (314)!1 Auch wenn durch veränderte Zählverfahren die Zunahme relativiert werden muss, gibt es keinen Zweifel an der Steigerung. „Es gibt nicht nur die Verwahrlosung von Kindern, sondern auch die Gefahr einer Verwahrlosung der öffentlichen Verantwortung“ lautet die Polemik eines uns leider nicht bekannten Verfassers, der auf einen fehlenden Aspekt aller Früherkennungsdiskussion verweist: Zu wenig qualifiziertes Fachpersonal! Das Regensburger Fachforum bezieht sich einmal auf die alltägliche berufliche Situation mit dem doppelten Auftrag in der helfenden Beziehung. Zum zweiten werden aber auch Bemühungen aufgegriffen, „Risikofamilien“ frühzeitiger mit möglichen Hilfen in Kontakt zu bringen. Wir gehen der Frage nach, welche Unterstützung Fachkräfte in der professionellen Hilfsbeziehung benötigen. In einer bundesweiten empirischen Studie hat Johannes Münder aufzeigen können, dass die meisten Sorgerechtsentzüge in Fällen vorgenommen wurden, die dem Jugendamt bereits seit längerer Zeit bekannt sind und nicht etwa in solchen, die dem Jugendamt neu gemeldet wurden. Diese Ergebnisse machen deutlich, dass die Fachkräfte Unterstützung benötigen, gerade in den Fällen, in die sie professionell eingebunden sind. Michael Nitsch vom Kinderschutzzentrum München warnt vor zu großen Hoffnungen auf hochspezialisierte Screeningverfahren, die den Fachleuten scheinbar objektiv vorgeben, wann eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Er plädiert nachdrücklich dafür, die „strukturelle Ambivalenz“ der Jugendhilfe in eine hilfeorientierte Haltung einzubetten. Michael Nitsch gibt Antworten darauf, was Kinder, Eltern und Fachkräfte benötigen, um 1

Diese Daten verdanken wir dem Sozialpädagogen Gerhard Vatter (Leiter des Sachgebietes Sozialpädagogischer Fachdienst im Amt für Jugend und Familie Regensburg).

auch in Risikofamilien zu einer tragfähigen und damit schützenden Beziehungsgestaltung zu kommen. Cristine Gerber stellt die Erfahrungen mit einer sehr umfangreichen Checkliste zur Risikoabschätzung dar, die im Stadtjugendamt München entwickelt wurde. Checklisten können helfen, „blinde Flecken“ zu überwinden und Fachkräfte auf Symptome aufmerksam zu machen, auf die sie bisher zu wenig geachtet haben. Christine Gerber macht aber auch deren Grenzen deutlich. Selbst hochdifferenzierte Listen können nie Fehler oder „falsche“ Prognosen ausschließen. Zudem ist die Risikoabschätzung ein laufender Prozess, der durch das Grundprinzip „Hilfe vor Eingriff“ die Unterstützung der Eltern erfordert - also ist Risikoabschätzung prozesshaft in die helfende Beziehung eingebunden. Aus der Perspektive der Kinderpsychiatrie greifen die Regensburger Kinder- und Jugendpsychiater Martin Linder und Petra Srdinko die Diagnose „Bindungsstörung“ auf. Bindungsstörungen bei Kindern gehen mit ausgeprägten charakteristischen psychopathologischen Veränderungen einher. Um späteren schweren psychischen Störungen vorzubeugen, müssen diese bereits im Kleinkind- und Kindergartenalter erkannt und therapiert werden. Die Verfasser plädieren dafür, dass die präventiven Früherkennungsuntersuchungen dementsprechend erweitert werden sollten. Martin Linder und Petra Srdinko sprechen von kinderpsychiatrischen Hochrisikopatienten, die frühzeitig in Kooperation mit der Jugendhilfe die geeigneten therapeutischen und psychosozialen Hilfen erhalten sollten. Günter Kampf von der Jugend- und Familientherapeutischen Beratungsstelle der Stadt Regensburg berichtet über den Aufbau eines Frühwarnsystems in Kindertagesstätten. Erzieherinnen werden nach einem in Regensburg entwickelten Programm darin ausgebildet, Anzeichen von Vernachlässigung zu erkennen und die notwendigen Schritte vorzunehmen. Aus den verschiedenen Formen der Kindesmisshandlung wurde die Vernachlässigung von Kindern fokussiert, weil diese Problematik die weitaus häufigste Form der Kindeswohlgefährdung ist. Man erhofft sich, dass durch dieses Frühwarnsystem Risikofamilien früher erkannt werden und dementsprechend auch frühzeitig Hilfe erhalten können.

Wolfgang Buchholz-Graf

Günter Tischler

Von der Ambivalenz des Glaubens an die Hilfe _________________________________________________________________________________

Kinder, Eltern, Helfer in der KinderschutzarbeitVon der Ambivalenz des Glaubens an die Hilfe - Michael Nitsch 1. Einführung Als ich dieses Jahr von Herrn Buchholz-Graf angefragt wurde, ob ich einen Vortrag auf diesem Regensburger Fachforum halten möchte, da begann für mich schon ein wesentlicher Teil der eigentlichen Arbeit - wenn Sie so wollen der Kinderschutzarbeit generell - nämlich das Abwägen einer Vielzahl von Ambivalenzen. Die einfache Frage lautet dann: „Was soll ich tun?“ So häufig diese Frage in unserem privaten Alltag auftaucht, so häufig stellt sie sich auch in der Kinderschutzpraxis: „Was soll ich tun?“ „Was sollen wir tun?“ „Einerseits und andererseits“... Und in einer Multioptionsgesellschaft lebend haben wir mittlerweile alle gelernt, dass einerseits ganz einfach wäre, wäre da nicht das Andererseits. Meine Vorgaben zu diesem Vortrag waren, zu beschreiben, was das für Familien sind, die da zu uns kommen oder gerade nicht kommen. Insbesondere die so genannten „Multiproblemfamilien“ oder „Hochrisikofamilien“ sollten ins Blickfeld rücken, um zu fragen, mit welchen Ängsten und Vorannahmen diese der Hilfe gegenüberstehen. Daraus, so die Annahme, ließe sich ableiten, wie unsere Arbeitsansätze dazu aussehen, und was die Jugendhilfe hier anbieten sollte. Ganz wesentlich: Die Zuhörerinnen sollen sich in ihrer Praxis wieder erkennen, und es sollte ein Diskurs darüber eröffnet werden, was es heißt, mit entmutigten perspektivlosen Familien zu arbeiten. Zeit: 45 Minuten. „Das reicht nie“, dachte ich mir - „Ganz klar ein typisches Kinderschutz - Überforderungsprogramm“. Wie Sie sehen, ich sagte zu, denn ein erster und wesentlicher Kinderschutzsatz lautet „Insecurity keeps me going“ oder auch auf Deutsch „Hinter jeder Ecke lauern ein paar Richtungen“. Was hat mich mein anfängliches Zaudern überwinden lassen, und wieso erzähle ich Ihnen das in meiner Einführung?

Kindeswohlgefährdung frühzeitig erkennen

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Michael Nitsch:

Kinder, Eltern, Helfer in der Kinderschutzarbeit

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Starthilfe -

Zugangswege zeigen Willkommen heißen Unterstützen Nachfragen Zuhören Sicherheit vermitteln Beteiligen, Einbetten Lösungen erarbeiten Mut machen Verantwortlichkeit und Kooperation herstellen

Abb. 1: Starthilfe für den Beziehungsaufbau

Herr Buchholz-Graf hatte bei seiner Anfrage an mich stets ein offenes Ohr für meine terminlichen Nöte in diesem Jahr, er hörte zu, machte mir Vorschläge, wie es laufen könnte, hielt meinen Auftrag für heute hier in angemessenen Grenzen, und er ließ mir Zeit zum Nachdenken. Dann rief er wieder in seiner unvergleichlich charmanten Art an, und ich gewann die Gewissheit, dass Herr Buchholz-Graf ein freundlicher Gastgeber sein wird, der mich schon im Vorfeld mit Fahrplänen versehen und mir erklären wird, wie ich ohne Komplikationen zu Ihnen finde, und der mich bei meiner Ankunft herzlich willkommen heißen wird. Er unterstützt mich vor Ort, „bleibt an mir dran“, fragt nach und hört mir bei etwaigen Problemen zu. Er vermittelte mir Sicherheit, dass vor Ort alles da sein wird, was ich zu meinem Vortrag brauche, und dass er, sollte etwas Unvorhergesehenes passieren, mit mir eine Lösung finden wird. Kurz gesagt: Ich fühlte mich eingebettet, auch durch die Anerkennung, die mir mit dieser Anfrage entgegenkam. Das machte mir Mut, und darum stehe ich heute hier. An diesem kleinen Beispiel sind bereits wesentliche Leitlinien gekennzeichnet, die es uns, den Profis wie den Betroffenen, leichter machen, ein Wagnis auf uns zu nehmen. „Hilfe zu wagen“ ist für beide Seiten ein Abenteuer - darüber werde ich heute zu Ihnen sprechen. 10

Riskante Kindheit

Von der Ambivalenz des Glaubens an die Hilfe _________________________________________________________________________________

Wie bei jeder großen Reise bedarf es einer guten Planung und innerer Vorbereitung. Bei Reisen nennen wir das gemeinhin Vorfreude. Und dies ist bereits die Antwort auf Frage zwei, warum ich das in der Einführung erzähle. Zurück zum Beginn: „Was soll ich tun?“ ist, sie haben das erkannt, keine allzu neue Frage, sie stammt von Immanuel Kant. Es ist die Frage, wie aus der Theorie, also dem Wissen um seiner selbst willen, eine verantwortbare Praxis wird. Es geht also gleichsam um die „Prinzipien guten Handelns“ und deren Anwendung. Wobei die Anwendung der Prinzipien auf den einzelnen Fall nicht durch diese selbst leistbar ist, so sagt uns die Ethik. Dies ist Aufgabe der praktischen Urteilskraft. Aristoteles verglich dies mit der Kunst des Arztes oder eines Steuermanns - und hätte er die Jugendhilfe in ihrer heutigen Ausformung gekannt, wären wir sicher auch mit aufgeführt worden. Diese Fachleute verfügen über ein theoretisches Wissen, das aber situationsspezifisch angewendet werden muss. Die praktische Urteilskraft also muss ihre allgemeinen Prinzipien immer wieder auf neue Situationen und Lebenslagen anwenden. Kein Rezept nach Dr. Oetker also oder in anderen Worten:

Von der Theorie zur Praxis – oder: Zur Vorfreude der Kinderschutzreise

- „Professionalität ist die Kunst mit offenen Situationen sinnvoll umgehen zu können“.

- „Dort passiert Wirklichkeit, wo die Aufmerksamkeit fokussiert wird“.

Abb. 2: Von der Theorie zur Praxis

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Michael Nitsch:

Kinder, Eltern, Helfer in der Kinderschutzarbeit

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Professionalität ist die Kunst, mit offenen Situationen sinnvoll, in unseren Kontext übersetzt - verantwortungsvoll, hilfreich und die Kinder schützend - umgehen zu können. Somit geht es nicht allein um die Schulung allgemeiner Prinzipien oder den alleinigen Erkenntnisgewinn, z. B. durch immer umfangreichere „Kinderschutzbögen“, sondern ebenso um die Schulung der Urteilskraft in praktischer Erfahrung, um die ganz konkrete Ermutigung auch der Helfer und Helferinnen darin, Hilfe zu wagen, sich eine persönliche Einschätzung zuzutrauen, diese im eigenen Team zu ventilieren und gemeinsam die notwendige Ambiguitätstoleranz zu trainieren. Das ist wesentlich. Denn wir leben etwas vor mit unserer Präsenz im Beziehungsgeschehen der Hilfe. Wir erzeugen mit unseren Klienten eine Wirklichkeit, und diese entsteht nach hypnotherapeutischer Erkenntnistradition dort, wo die Aufmerksamkeit fokussiert wird. Der Kinderschutzbogen als solcher hat allein noch kein Kind geschützt, er allein kann den Schutzauftrag nicht einlösen. Das theoretische Wissen, z. B. über Gefährdungsmerkmale, ist eine - und nur eine - notwendige Hintergrundfolie einer verantwortbaren Praxis. Es geht darum, diese zahlreichen Hintergrundfolien zu nutzen, um damit einen lebendigen Bogen zu einer hilfreichen Praxis zu spannen. Eine wesentliche Folie in der Kinderschutzarbeit ist das Wissen um die gesellschaftlichen Hintergründe, auf denen familiäres Leben stattfindet.

2. Einige Anmerkungen zu Gefährdungs- und Entmutigungskreisläufen Die Thematik: Vom Aufwachsen in einer Risikogesellschaft, einer Multioptionsgesellschaft, einer fluiden Gesellschaft, einer Gesellschaft auch, wie namhafte Soziologen sagen, „ohne Leitplanken“. Ich kann an dieser Stelle nur holzschnittartig einige markante Eckdaten benennen. Ich will es tun, da moderne Kinderschutzarbeit sich einmal zum Ziel gesteckt hatte, das Verhalten der Eltern und ihrer Kinder nicht von den Verhältnissen abzuspalten, unter denen diese zu leben haben. Und das hat nicht nur etwas mit der zur Verfügung stehenden Geldmenge zu tun. Für das Verstehen, die wesensmäßige Einfühlung in entmutigte Familien - ein wesentlicher Aspekt jeder Beratung - sollte der beraterischtherapeutische Blick zunächst, bevor er sich auf die Familie als einzelnen Mikrokosmos richtet, ein Verständnis darüber mitbringen, warum und worin Eltern - und häufig auch die sie beratenden Fachleute - heute verunsichert sind. 12

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Dies dient sowohl als eine Hilfe zum Zugang zu den betroffenen Familien, zum anderen zur Entwicklung einer professionellen Haltung. Einer Haltung, die, so sie in der konkreten Arbeit z. B. Unzulänglichkeiten der einzelnen Familienmitglieder fokussiert und damit notwendigerweise für diese Familie individualisiert, die gesellschaftliche Bühne, auf der sich die einzelnen Familiengeschichten inszenieren, stets mit im Blick hat. Denn damit sind die politischen Rahmenbedingungen mit im Blick, der reale Lebenshintergrund, und auch dieser stellt eine wesentliche Perspektive dar, unter der Kinderschutz betrachtet werden muss. Dies ist von großer Relevanz, sowohl bei der Einschätzung realistischer Beratungsziele als auch bei der Einschätzung realer Beratungserfolge oder -misserfolge. Das macht unsere Arbeit zugegebenermaßen zunächst komplex, mindert aber die stets präsente Gefährdung einseitig zuschreibender Diagnosen. Es ist somit keine neue Erkenntnis, aber eine, die es zu erinnern lohnt, dass das Wissen um Lebenshintergründe die Haltung verändern mag, mit der wir auf Familien zugehen - und wesentlich auch die Grenzen benennt, in denen wir in unserer täglichen Familien- und Kinderschutzarbeit konfrontiert sind. Das sind dann Grenzen erster Ordnung - mithin politisch zu lösende Aufgaben. Es sind nicht per se immer Grenzen beraterischen Könnens. Über diese Grenzen ist es aber in der Regel scheinbar leichter zu diskutieren. Komplexe Zusammenhänge lassen sich am einzelnen Fall zuweilen vereinfachen. Hier bildet sich Empörendes ab, dessen Betrachtung aber allein auf dieser Ebene zu kurz greift. Die sozialpädagogisch-psychologischen Angebote in der Kinderschutzarbeit können bspw. Armutsprobleme nicht beseitigen. Dazu braucht es gesellschaftspolitische Konsequenzen.

Kindeswohlgefährdung frühzeitig erkennen

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Michael Nitsch:

Kinder, Eltern, Helfer in der Kinderschutzarbeit

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3. Wie leben also die Familien heute? Entlang folgender Gliederung werde ich meine Anmerkungen machen:

Gesellschaftspolitische Lebensbedingungen - Das Erziehungsverhältnis wandelt sich zu einem Beziehungsverhältnis - Enttraditionalisierung und Disembedding - Leistungsdruck - Armut und der Teufelskreis der sozialen Herkunft - Gesundheit - Devianz und Delinquenz

Abb. 3: Lebensbedingungen von Familie heute

Klaus Hurrelmann hielt auf dem 2. Kinderschutzforum 1998 einen viel beachteten Vortrag zum Thema: „Kinder - Modernisierungsgewinner oder -verlierer?“ Es gab viel Positives zu berichten: Kinder, so Hurrelmann, werden heute als Subjekt gesehen. Eltern entscheiden sich für Kinder gegen jede wirtschaftliche Vernunft. „Kinder kriegen“ ist eine emotionale Entscheidung geworden, Kinder sind ein Teil des Lebenssinns, das erleben wir alle in unseren Beratungen. Soviel Zuwendung auf das Kind als Subjekt hat es historisch betrachtet noch nie gegeben. Gut situierte Kinder bzw. Kinder gut situierter Eltern profitieren in vielfacher Hinsicht von der Entwicklung. Kinder sind in vielen Bereichen Gewinner eines Modernisierungsprozesses.

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Kinder lernen zudem im Unterricht, dass sie Rechte haben, die in der UN-Charta festgeschrieben wurden. In der bundesdeutschen Gesetzgebung wurde im § 1631 BGB die gewaltfreie Erziehung als Leitlinie implementiert. Das sind zweifelsohne gute Entwicklungen. Schon manche Beratungen führten wir, in denen die Eltern erzählten, dass ihre Kinder ihnen sagten: „Das darfst du nicht - das ist gegen das Gesetz!“ oder “Wenn du mich noch mal haust, gehe ich zum Jugendamt!“ Oder in eskalierten Pubertätskonflikten: „Wenn ich heute nicht ausgehen darf, gehe ich morgen zum Jugendamt und sage denen, dass du mich schlägst und einsperrst!" Hier kommen wir bereits an erste Punkte, an denen deutlich wird, dass das Aufwachsen einerseits sowie das Erziehen andererseits in vielfacher Hinsicht auch schwieriger geworden ist. •

Das Erziehungsverhältnis wandelt sich zu einem Beziehungsverhältnis

Ulrich Beck pointierte diese neue Lebenshaltung einmal mit dem Satz: „Partner kommen und gehen, Kinder bleiben.“ Für viele Eltern ist es in diesem zu Zeiten überhitzten Wärmepol schwierig geworden, Spielregeln für ihre Familien zu finden und zu etablieren. Häufig ist die elterliche Kraft durch emotionale Lecks geschwächt. Eltern sind heute mehr denn je gefährdet, in einer Gemengelage von Gefühlen zu versinken. Thomas Rauschenbach, Mitautor des 12. Kinder- und Jugendberichtes, benannte auf einer Fachtagung in München 2006 als erste Prämisse, dass Deutschland ein Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungsproblem habe. Es fehlten die Zugänge zu „schwierigen Familien“ und viele Familien hätten massive Erziehungsunsicherheiten, gar ein Erziehungsversagen wurde konstatiert. Die „Verhandlungsfamilien“ seien ein Beispiel dafür. Das implizite Postulat zu der Frage der Erziehung sei, so Rauschenbach, „dass die Eltern das einfach irgendwie können“ und wenn nicht, dann sind sie deviant. Dies offensiv anzugehen und beispielsweise zu fragen, wohin Kinder denn erzogen werden sollten, ist eines der größten Tabus unserer Gesellschaft. Eine Maxime des Berichtes lautet dann am Ende ja auch „Dienste vor Geld“, denn „die öffentliche Erziehung sei nicht der ideologische Feind der Familie“. Zudem könnten so, durch das frühzeitig einsetzende Regulativ der öffentlichen Erziehung und Bildung, die Chancen vieler vernachlässigter Kinder erheblich verbessert werden. Das ist auch Kindeswohlgefährdung frühzeitig erkennen

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sicher richtig, doch bleibt auch bei verbesserter öffentlicher Erziehung, die einen wesentlichen Beitrag zur „work-life-balance“ bilden kann, die Verunsicherung vieler Eltern, ihre Rat- und Hilflosigkeit bestehen. Bei Untersuchungen zu den Wirkungen des §1631 BGB stellte Kai Bussmann lakonisch fest: „Eltern schlagen heute ihre Kinder ohne Überzeugung.“ Dass Gewalt nicht in den Erziehungsalltag gehört, befürworten heute die meisten, jedoch können sie nicht danach handeln. Diese Fragen zur Ausgestaltung des Erziehungs- und Beziehungsverhältnisses sind für viele Eltern zentrale Stellen geworden, an denen sie zermürbt, entmutigt und verzweifelt uns um Rat fragen. Hier kann die Jugendhilfe einen wesentlichen Beitrag leisten. • Enttraditionalisierung, „Disembedding“ Das sind weitere Begrifflichkeiten, mit denen Soziologen heutige Lebensformen der Familien beschreiben. Es geht um eine tief greifende Individualisierung und explosive Pluralisierung. Die Zahl möglicher Lebensformen wächst ständig, und auch der Normalitätsbegriff ist somit einem permanenten Wandel unterworfen. Es ist zu einem Verlust ungefragt als gültig angesehener Werte gekommen, gerade auch in der Erziehung. Gibt man bei Google „Kinder und Erziehung“ ein, so lässt einen die Fülle der aufgezeigten Einträge doch ein wenig ins Grübeln kommen. Es erscheinen 335.000 Einträge. Gibt man „Kinder und Erziehungsratgeber“ ein, kommen immerhin noch 109.000 Einträge zum Vorschein. Bücher über Supermamas, über die goldenen Regeln der Erziehungskunst, bis hin zu den Säulen der Erziehung sind zu finden. Kindererziehung scheint geradezu ein Problembereich biblischen Ausmaßes zu sein. Das zeigte auch der Zulauf zu Sendungen wie die Supernanny und andere mehr. • Leistungsdruck Auch die Kinder werden immer früher von der Individualisierung der Gesellschaft erfasst, und schon sehr frühzeitig unterliegen sie einem hohen Leistungsdruck. „Du kannst alles werden, du selber bist deines Glückes Schmied, es liegt an dir allein.“ Somit ist auch ein mögliches Versagen ganz auf die eigene Kappe zu nehmen, und viele Kinder sind nach ersten frustrierenden Erlebnissen nicht mehr bereit, sich diesem auszuset-

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zen und verweigern sich der zum Teil gnadenlosen Rangfolge von Benotungen.

„Komm, wir finden eine Lösung!“ Präventionsprojekt für kreative Konfliktlösungen in Schule und Familie

Abb. 4: Gewaltpräventionsprojekt

In unserem Gewaltpräventionsprojekt für Grundschulen „Komm, wir finden eine Lösung!“ sehen die Pädagogen in ihrer Arbeit laufend, wie dies oft zu Entwicklungsstörungen führt. Bei Mädchen öfter in der depressiven Variante, bei Jungen häufiger in der aggressiven Form. Im KinderschutzZentrum erleben wir bei diesen Kindern im Jugendalter Probleme der ausweichenden Variante, die nicht selten mit Drogen oder Alkoholkonsum oder generell mit Devianz und Delinquenz einhergehen. • Armut und der Teufelskreis der sozialen Herkunft Im Juli 2006 konstatierte der Deutsche Kinderschutzbund, dass 2,2 Mio. Kinder in Deutschland auf Sozialhilfeniveau leben (Bundesagentur für Arbeit) und dies inmitten einer Wohlstandsgesellschaft. In manchen Städten sind 30% oder 35% aller Kinder arm, besonders betroffen sind Kindeswohlgefährdung frühzeitig erkennen

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die allein erziehenden Elternteile. Allein die Zahl der Kinder unter 15 Jahren, die auf Sozialhilfeniveau leben, liegt bei 1,5 Millionen. Heiner Keupp resümiert in seinem Vortrag „Quo vadis, Erziehungsberatung?“ (2005), dass die Aufforderung der heutigen Gesellschaft, sich selbstbewusst zu inszenieren, ohne den Zugang zu den erforderlichen Ressourcen, etwas Zynisches hat. Eltern resignieren und die Kinder mit ihnen nicht nur psychisch, auch physisch. Chronische Entwicklungsstörungen, so zeigen viele Untersuchungen, sind in armen Familien deutlich verbreiteter. Das Vernachlässigungsrisiko der Kinder ist erheblich erhöht. Bei Auswertungen der Jugendhilfestatistiken zeigt sich, dass 90% aller Vernachlässigungsfamilien arme Familien sind. Hier sind die meisten entmutigten Familien zu finden. Und damit auch die meisten Familien, die auf der unsichtbaren Warteliste stehen, d.h. auf der Warteliste derer, die zwar Hilfe bräuchten, sie sich aber nicht holen. „Da geh ich nicht hin!“ Durch viele Untersuchungen ist eindrücklich belegt, dass soziale Benachteiligung auch mit wesentlich höheren Gesundheitsrisiken einhergeht. • Gesundheit Am Gesundheitszustand der Kinder lässt sich der Grad der Armut messen, je ärmer, desto mehr Frühgeburtlichkeit beziehungsweise Säuglingssterblichkeit, vermehrte Infektionskrankheiten, Fehlernährungsprobleme, Asthma, Neurodermitis, schlechte Zähne, schlechtes Hören und Sehen, schlechtere geistige Entwicklung, psychosomatische Störungen wie Einnässen und vieles andere mehr. Auch die in diesem Jahr erschienene UNICEF-Studie zur Lage der Kinder in Deutschland bescheinigt Deutschland einen Mangel in der psychosozialen Gesundheitsvorsorge. Die Entwicklungsstörungen und damit häufig einhergehenden Bindungsund Beziehungsstörungen ziehen sich von der Kindheit in die Jugend durch, häufig - wir sehen das im Beratungsalltag immer wieder - bis ins Erwachsenenalter und bis in die eigene Elternschaft hinein. Die frühe Verzahnung der Angebote der Jugendhilfe und der Gesundheitshilfen ist sicherlich eine wichtige Aufgabe der Zukunft, sie braucht aber, soll sie im Sinne der Hilfe gelingen, die entsprechenden Ressourcen. Gestatten Sie mir eine Randbemerkung: Wir alle sind schon im Vorfeld unserer Bemühungen aufgerufen, unseren Sprachgebrauch sorgfältig zu prüfen, auch in unseren Arbeitstiteln, denn auch Sprache schafft Wirklichkeit. Viele Jahre hat es in der Kinderschutzarbeit gedauert, die Schwellen der Hilfeannahme zu senken - wohlgemerkt mit Erfolg! Also: „Frühe Hilfen durch frühes Erkennen“ - oder, medienwirksamer, „Früh18

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warnsysteme“ - ein Vokabular des kalten Krieges und der Katastrophenbekämpfung, z. B. bei Tsunamis. Wie wirkt dieser Sprachgebrauch auf die Eltern? • Devianz und Delinquenz Wurden aus gefährdeten Kindern gefährliche Jugendliche, so wird in aller Regel zunächst der Ruf nach einer besseren Ordnungspolitik laut. Auf Fortbildungen zu der Thematik devianter und delinquenter Jugendlicher zeigt sich im fachlichen Austausch über die besonders schwierig erlebten Jugendlichen und ihren Familien, wie Vernachlässigung, soziale Randständigkeit und die daraus folgenden Entmutigungen vielfältige Gefährdungen wie Trebegängerei, Drogenkonsum, Prostitution und anderes mehr begünstigen. Häufig sind dann auch die Berater und Beraterinnen ratlos und entmutigt, was bei diesen Fällen denn noch zu machen sei. Teufelskreise der Entmutigung beginnen zu wirken und laufen Gefahr, sich gegenseitig zu verstärken - die Familien sind ratlos und manchmal auch die BeraterInnen. KollegInnen ertappen sich dabei, wie sie diesen Fall am liebsten loswerden würden. Nicht selten löst sich das Problem von selbst, wenn die Klienten sich nicht wieder melden oder die Justizbehörden gehandelt und einen Jugendlichen erstmal aus dem Verkehr gezogen haben. Jeder kennt die innere Anstrengung in manchen wirklich schwierigen Fällen, diesen nicht in der Fülle anderer Aufgaben „hintenrunter-rutschen“ zu lassen. In ihrem Thesenpapier auf Basis von Forschungsbefunden „Zur Struktur und Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland“ haben Christian Pfeiffer und Peter Wetzels (2001) festgehalten, dass die Zunahme der Jugendgewalt in engem Zusammenhang damit steht, dass unsere Gesellschaft zunehmend zu einer „Winner-Loser-Kultur“ wird.

Kindeswohlgefährdung frühzeitig erkennen

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Michael Nitsch:

Kinder, Eltern, Helfer in der Kinderschutzarbeit

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Struktur von Entwicklung der Jugendgewalt (Christian Pfeiffer, Peter Wetzels) • Das Risiko der Entstehung von Jugendgewalt erhöht sich drastisch, wenn mindestens zwei der folgenden Faktoren zusammentreffen: a) Erfahrung innerfamiliärer Gewalt b) Gravierende soziale Benachteiligung der Familie c) schlechte Zukunftschancen des Jugendlichen selbst aufgrund eines niedrigen Bildungsniveaus => Unterprivilegierte Jugendliche weisen erheblich höhere Raten selbst berichteter Gewaltdelinquenz auf. Drei- bis viermal so häufig berichten sie von Raub, Erpressung oder der Bedrohung mit einer Waffe. Sie sind auch häufiger Mehrfachtäter.

Abb. 5: Entwicklung von Jugendgewalt

Das Risiko der Entstehung von Jugendgewalt erhöht sich drastisch, wenn mindestens zwei der folgenden Faktoren zusammentreffen: Erfahrung innerfamiliärer Gewalt, gravierende soziale Benachteiligung der Familie oder schlechte Zukunftschancen des Jugendlichen selbst aufgrund eines niedrigen Bildungsniveaus. Unterprivilegierte Jugendliche weisen erheblich höhere Raten selbst berichteter Gewaltdelinquenz auf. Drei- bis viermal so häufig berichten sie von Raub, Erpressung oder der Bedrohung mit einer Waffe. Sie sind wesentlich häufiger Mehrfachtäter. Hier ist zu sagen, dass die Gewalt durch Eltern im familiären Bereich weiter verbreitet ist als die Viktimisierung Jugendlicher durch ähnliche Gewalttaten (jeder 6. befragte Schüler wurde im Befragungsjahr zuhause geschlagen, außerhalb 12 %). Aus gefährdeten Kindern werden somit wesentlich leichter auch gefährliche Jugendliche, die sich signifikant häufiger in Gewalt befürwortenden Gleichaltrigengruppen zusammenschließen. Die Normen in den Cliquen entsprechen den biographischen Erfahrungen im Elternhaus. Die Gewalt wirkt über die Generationen hinweg.

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Das war und ist der eigentliche und oft verkannte Skandal der Pisastudien, dass die soziale Herkunft in Deutschland die individuelle Zukunft maßgeblich beeinflusst. Die Studie hat gezeigt, wie wenig es bisher gelingt, Chancenungleichheit zu mildern. Schule schwächt nicht die Maßgaben der sozialen Herkunft, so Rauschenbach, sondern verstärkt sie sogar. Die Beendigung innerfamiliärer Gewalt, die Verhinderung derselben in der Kinder- und Jugendzeit, die Verbesserung der persönlichen Handlungskompetenzen sowohl der Eltern als auch der Kinder, gehen, so zeigen Studien, mit einer Reduzierung des Risikos aktiver Gewalttätigkeit einher. Das ist der Teil, den wir in Beratung und Therapie erfüllen können, wo wir selbstbewusst einen hilfreichen Beitrag leisten können. Es lohnt sich also!

4. Bei welchen Familien tut sich der Kinderschutz besonders schwer? Im Weiteren möchte ich sie einladen, den Blick auf die Familien, die Eltern und Kinder zu richten. In unserer Arbeit im KinderschutzZentrum erleben wir täglich die Eltern dieser Kinder und Jugendlichen, die unter diesen schwierigen Bedingungen oftmals nicht mehr die souveränen Erzieher sind, die sie selber gerne wären. Und manchmal ist diese Arbeit auch sehr belastend. Insoo Kim Berg, eine der führenden Therapeutinnen im Bereich des lösungsorientierten Arbeitens sagte einmal in einem Workshop: „Manchmal ist es schwer auszuhalten, was die Eltern über ihre Kinder erzählen oder wie sie über ihre Kinder erzählen, manchmal möchte ich einfach hinübergehen und sie schütteln. Allein - ich habe in langen Jahren der Beratung die Erfahrung gemacht, das dies wenig hilfreich ist.“ • Das Hilfeparadox Um zu verstehen, was in entmutigten Familien, in Familien mit schwierigen Problemlagen vor sich geht, und wie sich Zugangsschwierigkeiten vermindern lassen, hat Norman Polanski vor etlichen Jahren in seinem Buch „Damaged Parents“ eine meines Erachtens sehr gute Beschreibung gegeben. Und da Verstehen nicht der Gegensatz von Handeln ist, sondern der Grundstein dafür, möchte ich es Ihnen kurz vorstellen. Polanski benennt zunächst die Gefühle, die wir alle in der Arbeit mit beKindeswohlgefährdung frühzeitig erkennen

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lasteten Eltern und ihren Kindern kennen. Welche Gefühle herrschen also vor in Familien mit schwierigen Problemlagen und mit nicht ausbalanciertem Beziehungserleben?

Das Hilfeparadox I Welche Gefühle herrschen vor in Familien mit schwierigen Problemlagen?

• • • • •

Angst Scham Schuld Verzweiflung Anspannung

• Unsicherheit • Einsamkeit • Hilflosigkeit • Beziehungslosigkeit • etc.

Abb. 6: Das Hilfeparadox I

Angst, Scham, Schuld, Verzweiflung, Anspannung, Unsicherheit, Einsamkeit, Hilflosigkeit, Beziehungslosigkeit und andere mehr. Im Weiteren beschreibt Polanski das Apathy-futility-Syndrome, die Erlebens- und Verhaltensphänomene, die in Vernachlässigungsfamilien häufig dominieren. Bei diesen Eltern und ihren Kindern herrschen Gefühle der Nutzlosigkeit und Überflüssigkeit, der emotionale Taubheit, i. S. einer massiven Affekteinschränkung vor. Es fehlen lebenspraktische Kompetenzen und es besteht, aus Angst zu scheitern, eine gewisse Abwehr, diese zu erwerben. Ein hartnäckiger Negativismus wird als letzte Bestätigungsbastion verteidigt. Der innere Dialog ist oft rigide, Freund oder Feind, schwarz oder weiß.

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Das Hilfeparadox II Das A - F - Syndrom ( Apathy- futility Syndrome) nach Norman Polansky Gemeint ist hier, speziell bei Vernachlässigung: • • • • • • •

Gefühle der Nutzlosigkeit und Überflüssigkeit „Emotionale Taubheit“, i.S. massiver Affekteinschränkung Häufig starkes Anklammern in Beziehungen Fehlen lebenspraktischer Kompetenz und Abwehr sie zu erwerben, aus Angst zu scheitern Hartnäckiger Negativismus als letzte Bestätigungsbastion Verarmter / rigider innerer Dialog Große Fähigkeit ähnliche Gefühle auch bei anderen auszulösen (Abwehr von Veränderung)

Abb. 7: Das Hilfeparadox II

Erscheinen die einzelnen Familienmitglieder zuweilen auch wie einzelne Satelliten, in großer Distanz zueinander, unklar, worum sie kreisen, so besteht doch ebenso ein starkes Anklammern an diese Beziehungen. Die Gefühle der Hoffnungslosigkeit und der Widersprüchlichkeit lösen die Klienten auch bei den HelferInnen aus. Man möchte helfen, weiß zunächst aber nicht so recht wie.

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Das Hilfeparadox III Welche Haltungen und soziale Folgen ergeben sich? • • • • •

Abwehr Verweigerung Abschotten Geheimhaltung Soziale Isolation

• Beziehungs- u. Bindungsvermeidung • Nicht- Wissen um Hilfemöglichkeiten • Falsche Vorstellungen um Hilfemöglichkeiten • Das „Außen“ ist die Bedrohung

allgemein: “Niemand soll wissen, niemand darf wissen...“ Hilfeparadox: Je größer die Beziehungsproblematik ist, umso schwieriger fällt es den Familienmitgliedern, sich selbst Hilfe zu holen, umso schwerer hat es die Jugendhilfe, mit ihren Hilfeangeboten zu landen.

Abb. 8: Das Hilfeparadox III

Welches Problem liegt für den Kinderschutz in diesen Haltungen? Hier hat Polanski das Hilfeparadox formuliert. Es besagt, dass je größer die Abwehr, die soziale Isolation und die Beziehungsproblematik sind, umso schwieriger fällt es den Familienmitgliedern, sich selbst Hilfe zu holen. Auch der Kinder- und Jugendschutz hat es auf diesem Boden der Angst und des Misstrauens umso schwerer, mit seinen Hilfeangeboten zu landen. Aus diesen Erkenntnissen heraus ist immer wieder diskutiert worden, wie Schwellen im Kinderschutz zu senken sind, damit möglichst viele Familien von sich aus einen Schritt auf die Angebote zu machen können, bzw. wenn die Hilfe zu ihnen kommt, die Abwehrschwellen nicht so massiv sind. Unser Schutzauftrag lebt also ganz wesentlich davon, dass Beratung ohne Schwellenangst in Anspruch genommen werden kann.

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• Angst vor Veränderung Für viele Familien sind die in meinem ersten Teil beschriebenen Lebensbedingungen die tägliche Realität, und sie sind voll Angst und Scham, den Spiegel des Versagens vorgehalten zu bekommen. Sie haben ebenso Angst, etwas Neues zu hoffen und damit zu wagen. Etwas hoffen heißt konsequenterweise, etwas auch zu versuchen zu etablieren. Das Versuchen also führt zum Handeln. Handeln beinhaltet immer die Gefahr des Scheiterns. Die „Lösung“ ist dann bei entmutigten Familien, diese Gefahr des Scheiterns zu vermeiden. Viele Eltern - gerade die hoch belasteten - haben zunächst Angst vor Veränderung, Angst davor, dass das Neue keine Stabilität herausbildet. Die betroffenen Kinder und ihre Eltern brauchen in der Regel zunächst jemanden, der die Kraft und die Zeit hat, auf sie zuzugehen, sie anzuhören, und wo nötig, ihnen nachzugehen. Dabei ist zu bedenken, dass je bedrohlicher die Welt draußen erlebt wird, desto mehr versuchen Familien, im inneren Kreis alles zu finden und festzuhalten. Doch: „Wer nicht will, der hat schon“ ist für diese Familien sicherlich keine hinreichende Hilfehaltung. Diese Eltern und ihre Kinder benötigen also BeraterInnen, die sie fachkompetent darin unterstützen, den Blick aus dem Brunnen zu heben, und die ihnen wieder Mut machen können. Familien sind komplexe Systeme, in denen häufig die Kinder mit ihrem auffälligen Verhalten Boten von Familien in Not sind. Eltern und Kinder zeigen im Alltag ihre Not im Verhalten, in den Stimmungen, manchmal auch direkt in Worten. Sie wenden sich so nach außen in der Hoffnung, richtig verstanden und behandelt zu werden. Die Kinder sind ihren Eltern gegenüber in aller Regel sehr loyal, auch wenn nicht alles zum Besten steht. Aus der Sicht des Kindes gehören in aller Regel Kindeswohl und Elternwohl zusammen, sie sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille.

5. Einbetten, Unterstützen, Identität stiften Was können wir zum „embedding“ vernachlässigender Familien anbieten, wie gehen wir auf diese entmutigten Familien, die sozusagen auf einer unsichtbaren Warteliste sitzen, zu? Was brauchen Eltern, Mütter und Väter, die mit ihren Kindern in eskalierte Machtkämpfe geraten und diese nur mehr durch Gewalt oder Ausstoßung meinen lösen zu können?

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Was sollen wir tun? -

Was können wir zur „Einbettung“, zum „ embedding “ vernachlässigender Familien anbieten, wie gehen wir auf diese entmutigten Familien/unsichtbare Warteliste zu?

-

Was brauchen Eltern, Mütter und Väter, die bestmeinend ihre Kinder erziehen, mit den Jahren in eskalierte Machtkämpe geraten und diese nurmehr durch Gewalt oder Ausstoßung meinen lösen zu können?

-

Welche Identitätskonstruktionen bieten wir also den Eltern, den Kindern und Jugendlichen an?

-

Was braucht die Jugendhilfe, um Stand zu halten, gegenüber den Krisen der Klienten, gegenüber den gesellschaftlichen Anforderungen?•

Abb. 9: Was sollen wir tun?

Welche Identitätskonstruktionen bieten wir also den Eltern, den Kindern und Jugendlichen an? Und nicht zuletzt: Was braucht die Jugendhilfe, um Stand zu halten gegenüber den Krisen der Klienten, gegenüber den gesellschaftlichen Anforderungen? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich zunächst Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, was in Krisen passiert. Dazu ein Beispiel: • Eine kurze Geschichte vom Teufel oder Markus und seine Mutter Anfang des Jahres ruft mich in unserem telefonischen Abendnotdienst eine Frau aus einem Mietshaus an. Sie ist die Nachbarin einer Mutter und ist in großer Sorge. Die Mutter ist weinend ins Treppenhaus gerannt und hat laut um Hilfe gerufen. Ihr Sohn hatte sie gerade mit einem Messer bedroht. Die Nachbarin kannte unsere Nummer, und so rief sie mich kurz vor 20.00 Uhr an, mit der Frage, was zu tun sei, ob sie die Polizei rufen solle, das Jugendamt, oder ob ich kommen könne. Ich fragte die Nachbarin, ob es möglich sei, dass ich mit der Mutter reden könne.

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Daraufhin holte sie die Mutter in ihre Wohnung. Diese nahm weinend den Hörer und fragte mich, ob ich kommen könne, es sei so furchtbar. „Ja“, antwortete ich, „wenn es nach unserem Gespräch notwendig sein sollte, werde ich kommen“. In den ersten Minuten, die Mutter versucht sich wieder zu fassen, signalisiere ich ihr nur meine Präsenz „So viel Aufregung gerade..., schön, dass Ihre Nachbarin Ihnen hilft..., jetzt bin auch ich für Sie da. Sie sind nicht allein, ich habe für Sie Zeit!“ Die Mutter fasst sich langsam. „Ich weiß nicht mehr weiter“, sagt sie, „Markus mein Sohn flippt völlig aus, er hat rumgeschrien wie verrückt, dann hat er das Brotmesser genommen und mich damit bedroht. Das hat er noch nie gemacht, da bin ich raus gerannt.“ - Markus war in der Wohnung geblieben, und die Nachbarin sah nach ihm. Markus, so die Mutter, sei bei anderen auch ein ganz netter Junge. Auf behutsames Nachfragen erfahre ich, dass der Junge neun Jahre alt ist (in meiner Erstphantasie war er einiges älter) und die Mutter ihm gestern versprochen habe, dass sie heute gemeinsam ins Kino gehen würden. Doch heute Abend ging es ihr nicht so gut, sie habe ALS und heute sei kein guter Tag. „Neun Jahre..“ sage ich, „ihr kleiner Rabauke hat sie ja gerade ganz schön erschreckt.“. „Und wie“, antwortet die Mutter „und das nicht zum ersten Mal“. „..Es tut mir so leid, ich glaube, ich mache alles falsch, ich denke immer öfter, Markus muss ins Heim“ - „Ich sag ihm das schon immer, damit er aufhört“, und sie fängt erneut das Weinen an. „..Ich schäme mich so!“ „Doch Markus lebt noch immer bei Ihnen“, sage ich, „eine Seite in Ihnen will ihn offenbar doch nicht in ein Heim geben, oder ...?“ „Natürlich, er ist doch mein Kind, doch in letzter Zeit wird es immer schlimmer, und ich weiß nicht, ob ich das noch lange aushalte.“ „Sie möchten gerne etwas verändern, wissen nur noch nicht, wie das aussehen könnte?“ „Ja, genau, und ich hab schon soviel probiert.“ Ich erzähle der Mutter von unserer Möglichkeit, Markus im Bedarfsfall in unser KinderschutzHaus bringen zu können. Sollten wir übereinkommen, dass es im Moment zu Hause nicht geht, wäre dies eine zeitweilige Entlastungsmöglichkeit. Die Mutter fasst sich etwas - eine mögliche Lösung steht zumindest mal im Raum - und wir können über die konkrete Situation an diesem Abend reden. Sie erzählt mir, wie sie immer wieder versucht hat, Markus ihre Befindlichkeit zu erklären, und es wird deutlich, wie sie in dieser Stresssituation unablässig auf ihn eingeredet hat und ihn zum Einsehen überzeugen wollte. Auf mein Nachfragen erzählt die Mutter, dass ihre Erklärungsbemühungen bei Markus gar nichts bringen, meist wird er noch wütender. Sie versteht das gar nicht, und was soll sie auch sonst machen, damit ihr Sohn Kindeswohlgefährdung frühzeitig erkennen

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ein bisschen Rücksicht nimmt auf ihre Erkrankung? In dieser Formulierung werden erstmals ihre Enttäuschung und auch ihr Ärger, wenn auch untergründig, spürbar. Ich frage: „Was hat sie gehindert, den Ärger und die Enttäuschung von Markus auszuhalten oder sogar anzunehmen?“ Im Fortgang erzählt die Mutter, dass sie Markus nicht frustrieren möchte, sie möchte seine beste Freundin sein, und aufgrund der Erkrankung habe sie ohnehin ein permanent schlechtes Gewissen. Ach und überhaupt hasse sie alle Konflikte. Nachdem ihr Umgang mit Schuldgefühlen, ihr hoher Anspruch und ihr Beziehungsverhältnis zu ihrem Sohn als Themen ihrer Entkräftung und fortwährenden Nachgiebigkeit transparent geworden sind, als ihre „emotionalen Lecks“, frage ich: „...und gibt es etwas, was Markus manchmal beruhigt, wo Sie sagen, das war gut?“ „Ja, manchmal,... das traue ich mich gar nicht zu sagen...“. Die Mutter springt über ihren Schatten und vertraut mir an, dass sie manchmal mit Markus betet. Manchmal habe das Gebet ihn in Streitsituationen auch besänftigt. Dann sagt sie „aber, aber jetzt, oh es ist furchtbar, wissen Sie, ich bin seit einigen Jahren in einem Bibelkreis, und jetzt denke ich immer wieder, das Kind ist vom Teufel besessen.“ Abruptes Abbrechen des Redeflusses, diese ihre Bemerkung macht der Mutter spürbar selber Angst. Oftmals ein wichtiger Punkt in Krisengesprächen - werde ich standhalten können? „Na ja“, sage ich, „ein Teufelchen ist er vielleicht gerade schon, doch vom Teufel besessen??“ „Und was Sie mir über Ihren Sohn erzählt haben und vor allem, wie Sie über ihn erzählt haben, da schwingt soviel Liebe mit, da kann ich mir das mit Teufel nur schwer vorstellen...“ Auf mich wirkt das wie ein ganz normaler Mutter-Sohn-Erziehungsclinch. „Machen Sie Ihren kleinen Rabauken nicht größer als er ist?“ „Und so nebenbei, vielleicht wäre es auch hilfreich zu gucken, ob und ab wann Sie als Mutter sagen könnten, so, heute bin ich eine hinreichend gute Mutter!“ „Hinreichend gut?“, „das habe ich ja noch nie gehört“. Die Mutter seufzt dabei erneut, erleichtert, doch auch skeptisch. Ihre schlimmsten Befürchtungen hat sie mir nun gesagt, wir konnten im Gespräch schon mal schmunzeln, sie hat ihren inneren Blick wieder gehoben, etwas Distanz gewonnen und Vertrauen darin gefasst, dass ich sie nicht als hoffnungslosen Fall einstufe, dass ich Normalität sehe, dass ich mir Lösungen vorstellen kann: Sie spürt, dass ich denke, dass sie es schaffen kann.

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Wir besprachen im Folgenden, wie sie in ihre Wohnung zurückkehren und mit Markus sprechen kann. Sie hatte ihn, wie ich später erfuhr, verschüchtert und verloren in der Küche sitzend vorgefunden. Wir vereinbarten für den nächsten Tag einen persönlichen Termin bei uns im KinderschutzZentrum München. • Die Krise nutzen Die Krise nutzen heißt auch, den Betroffenen zügig einen Termin anzubieten. Die Mutter war sich sicher, dass sie den Abend mit Markus übersteht, dass sie es „hinkriegt“. Sie hatte wieder Kontrolle über sich, sie wusste, was zu tun war. Sie wusste aber auch, für den Fall der Fälle, dass sie mich noch einmal anrufen könnte. Allein das Wissen, das da jetzt jemand ist, der bei aller Überforderung erstmal nur da ist, der eine Verbindlichkeit herstellt, der als Hilfs-Ich in der Not herangezogen werden kann, zu dem man zeitnah kommen kann, und der keine expliziten oder impliziten Schuldvorwürfe an einen richtet, der einen auch ermutigt, gibt Eltern in der allergrößten Zahl der Fälle das Gefühl zurück, die noch vor wenigen Augenblicken ausweglos erscheinende Situation wieder in die eigenen Hände - zumindest vorübergehend - nehmen zu können. Die Klienten brauchen also unsere emotionale Unterstützung im Beziehungsaufbau, sie brauchen unseren Mut. Wie ich später von der Lehrerin erfahren habe, ist Markus ein ordentlicher Schüler, manchmal ein bisschen wild, aber nichts besonders Auffälliges - unter Betrachtung eines Kinderschutzbogens wäre Markus nicht weiter aufgefallen, soviel noch einmal zur Notwendigkeit der Niedrigschwelligkeit. • Was also passiert in Krisen? Krisen gehören zum Leben, meist treten sie akut auf, überraschend, überwältigend und wirken für die Betroffenen sehr bedrohlich. Die Menschen sind in großer Not. Überflutet von Stresshormonen erscheinen uns unsere Handlungsmöglichkeiten als völlig unzureichend.

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Krisen und ihre Folgen • hohes Erregungsniveau • eigene Handlungs- und Bewältigungsmöglichkeiten werden als nicht hinreichend erlebt • Verzweiflung und Überforderung • Gefühle von Sinnlosigkeit und Bedrohung • Ängste • Depression / Aggression • Tunnelblick und Optionslosigkeit • Kontrollverlust Der schnelle Weg • „Fight“ – „Flight“ – „Freeze“ – Reaktionen • Dissoziieren / Sensorischer „Shut-Down“ • hohe Angestrengtheit – „Mehr desselben“

Abb. 10: Krisen und ihre Folgen

Nichts scheint mehr zu tragen, nichts je getragen zu haben, geschweige denn, je wieder in Zukunft tragfähig zu sein. Aus der Traumaarbeit kennen wir die Begriffe der drei F - Fight, Flight, Freeze. Kämpfe, fliehe oder friere ein - das scheinen die einzigen Bewältigungsmöglichkeiten zu sein. Die Wahrnehmung ist reduziert, alles bedeutet Gefahr und kein Silberstreif am Horizont. Unschwer sich vorzustellen, dass bei wiederholtem Erleben dieser Not, sich die Verzweiflung in Wut wandeln, dass das vermeintlich diese Situation erzeugende Kind Opfer von Gewalt - ohnmächtiger Gewalt werden kann. Allerdings: • Krisen eröffnen Chancen Krisen beinhalten immer die Chance zur Neuorientierung und Veränderung. In Krisen ist das Bindungsverhalten der Betroffenen maximal aktiviert, die Menschen suchen Schutz, den sie sich selber im Moment nicht geben können. Darin liegt auch die große Chance der Beratung in Krisen. Nämlich hier Zugänge zu bekommen zu Menschen, die in aller Re-

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Krisen und ihre Chancen • Bindungsverhalten ist aktiviert • Suche nach Schutz und Lösungen • Zugeben von Überforderung • Erhöhte Akzeptanz von Hilfeangeboten Positiv • wenn einfacher unbürokratischer Zugang möglich • die „große Tür“ der Öffnungszeiten • Fachleute mit Krisenerfahrung

Abb. 11: Krisen und ihre Chancen

gel schon länger „beratungsbedürftig“ sind, den Weg zur Hilfe bislang aber nicht gefunden haben. „Das muss ich doch allein schaffen!“ Die Entmutigung zeigt sich also manchmal explosiv. Ist dann Hilfe schnell erreichbar, sind gute Zugangsmöglichkeiten gegeben. Wieder einer weniger auf der unsichtbaren Warteliste! Doch, wie gesagt, die Gefühle, die die Klienten in der Krise formulieren und signalisieren, sind sehr ansteckend. Das berühmt berüchtigte Fass ohne Boden tut sich auf. • Standhalten im Krisenprozess Aus dem Erleben der Klienten lässt sich dies zuweilen als ein symbiotischer Wunsch verstehen, in dieser Aufgeregtheit und Verlorenheit mit dem Berater vollkommen zu verschmelzen. Dieser möge völlig meine Sicht teilen, mich ganz und gar verstehen. Menschen in Krisen signalisieren - oft nicht in Worten - auch die Grenzen des Ansprechbaren.

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Zu Beginn einer Beratung sind diese Grenzen völlig in Ordnung, in Krisen sogar zunächst notwendig, um die Affektüberflutung einzudämmen und zu einer Beruhigung zu kommen, die Differenzierung und Vertrauen und dann die Entwicklung von Verantwortlichkeit und Lösungen zulässt. Um eine schützende Beziehung aufzubauen, ist also das Mitgehen, zuhören, einfühlen, akzeptieren und wertschätzen einerseits, wie auch das Standhalten andererseits von großer Bedeutung. Die Menschen wollen sich verstanden wissen und sie wollen spüren, dass sie ein Gegenüber haben, das sie im Moment halten und stützen kann. Die Beraterin sollte über ein gutes Gespür verfügen, wie sich im jeweiligen Beratungsgespräch diese Ambiguität, diese Widersprüchlichkeit gestalten lässt. „Sei ganz bei mir, aber komm mir auch nicht zu nah - achte meine Verletzlichkeit - lass mir mein Gesicht - halte stand!“ Gerade zu Beginn einer Krisenberatung ist es in aller Regel nicht sinnvoll, auftauchende Widersprüchlichkeiten sofort zu konfrontieren - allerdings diese auch nicht zu vergessen! Es heißt also, Ambivalenzen aushalten und diese zu einem späteren Zeitpunkt nutzbar machen. In kritischen Alltagssituationen sind wir oft darum bemüht, Ambivalenzen ruckzuck auszuräumen, um uns wieder handlungsfähig zu machen. Hier standzuhalten und nicht in das „entweder - oder“ zu verfallen, ist eine wesentliche Aufgabe in der Krisenberatung und im Kinderschutz allgemein.

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Standhalten - Emotionalem Aufruhr - Verschmelzungswünschen – „Honey-moon“ - Ersten Ablehnungstendenzen - Ausblendung der Kindeswohlgefährdung - Zu schnellem „technischen Zugang“ - Gesellschaftlichen Omnipotenzerwartungen

Abb. 12: Risiken in der helfenden Beziehung

Bleibt man nur in der Symbiose, erlebt man vielleicht einen kurzen „Honeymoon“ in der Beratung nach dem Motto „Sie sind die erste, die mich ganz und gar versteht! - Belassen wir es doch dabei!“ Spätestens in den nächsten Gesprächen kann dies aber zu einer kritischen Stelle im Beratungsverlauf werden. „Wasche mich bitte, aber mach mich nicht nass!“ „Veränderung macht mir Angst!“ (ansonsten fühle ich mich unverstanden und werde nicht mehr kommen). Ab jetzt würde es spätestens Zeit, dieses Beratungsdilemma vorsichtig anzusprechen und aufzulösen. Ansonsten wäre ich entweder der sehr verständnisvolle Berater, der auch verstanden hat, dass er nichts Kritisches ansprechen soll, oder der „böse“ Berater, der nur noch mehr Stress, Angst und Verunsicherung auslöst. Das ist bereits eine Klippe, die sich insbesondere bei Kinderschutzberatungen immer wieder stellt. Wichtig ist für das Verständnis von Beratung, dass sich in der beraterischen Beziehung die Ambivalenzen des Klienten abbilden. Das ist gut so, ja sogar wünschenswert und notwendig. Die Klienten dürfen lernen, sich in ihren Ambivalenzen zu wiegen.

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Sie müssen sich nicht gleich für oder gegen etwas entscheiden. Sie müssen sich mir nicht als perfekte Eltern präsentieren. Die nicht einfache Aufgabe in der Beziehungsgestaltung zu unseren KlientInnen heißt, die eigene Position, die des Dritten nicht aufzugeben. Bei strittigen Eltern zum Beispiel bei dem Versuch des Einverleibens: „Sei für mich! - oder du bist gegen mich?“ oder bei Eltern mit eigener schwerwiegender Problematik „Sieh nur auf mich und meine Not und verliere mein Kind mit seinen Nöten aus den Augen!“ Die Kinder sind bei Kinderschutzberatungen - und das nicht erst seit § 8a KICK natürlich zu beteiligen und auf jeden Fall zu sehen. An sich ist diese Forderung banal und selbstverständlich und doch manchmal nicht ausreichend umgesetzt. Es gilt ebenso standzuhalten gegenüber hochgeschraubten und damit gleichsam irrationalen Erwartungen der Gesellschaft, jedwede Gefährdung sofort nach stets gleich bleibenden Verfahren beenden zu können. Kindesvernachlässigung, Kindesmisshandlung, sexuelle Gewalt an Kindern wird es, solange es Kinder gibt, leider immer geben. Aus dieser Betrachtungswarte ist Kinderschutz ein zeitloses Thema. Allerdings: Kinderschutzfragen sind auch zeitsensibel (Wiesner, 2006). Damit bezieht sich Reinhard Wiesner auf die Notwendigkeit, dass z. B. die Rufbereitschaften bei den Familiengerichten verbessert und die Zugänge der Familien zu den Jugendämtern beschleunigt werden müssen. Das ist sehr richtig, denn Krisensituationen richten sich nicht nach Öffnungszeiten. Ich möchte dem eine zweite „zeitsensible“ Perspektive hinzufügen: Außer in ganz akuten hochbrisanten Gefährdungen, in denen zunächst nur die Herausnahme des Kindes sein Wohl schützt, braucht das Herstellen einer tragfähigen Beziehung Zeit. Wichtig ist somit, sich natürlich einerseits zu überlegen, wie in „worst case - Szenarien“, also bei hochgradigen Gefährdungen zu verfahren ist. Genauso wichtig ist andererseits, unsere sonstige Arbeit nicht allein mit diesen Verfahren durchzudeklinieren. Vom Schrecken des Einzelfalls zum Handeln für viele und von einem linearen zu einem zirkulären Verständnis der Hilfe zu kommen, ist eine notwendige Voraussetzung zur Einlösung unseres Schutzauftrages. Sicher geht es auch um „Wahrnehmen, Deuten, Urteilen, Handeln“ und damit einhergehend um eine fachliche Qualifizierung der Risikoabschätzung. Vorsicht ist allerdings geboten, da diese Sicht der Dinge quasi eine Objektivierbarkeit eines komplexen Geschehens verspricht. In dieser linearen Sicht der Dinge sieht man etwas und nach eingehender Beurteilung weiß man, was zu tun ist.

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Noch einmal die Ethik: Die Anwendung der Prinzipien auf den einzelnen Fall ist durch diese allein nicht leistbar! Wie kompliziert und mit welchen Grenzen behaftet die Überlegungen zu Screeningverfahren in der Realität allerdings sind, wäre ein eigener Vortrag. Erinnern möchte ich nur noch mal an das eingangs genannte Bild von Aristoteles - der Steuermann - Sie erinnern sich -, der sein theoretisches Wissen situativ angemessen einsetzt. Politik, so sagt man, ist die hohe Kunst des Abwägens. Dies darf man auf die Kinderschutzarbeit getrost übertragen. • Die Seite der Fachkräfte Kinder schützen und dabei Eltern zu unterstützen - dies ist kein Gegensatz. Es wird mithin immer um die praxisbezogene Kunst gehen, den Zugang zu den Eltern, die dafür notwendige Zeit und die Prognose der Verbesserungsmöglichkeiten für das Wohl der Kinder mit der aktuellen Gefährdungslage in Beziehung zu setzen. Und dann müssen wir aufgrund einer begründeten Einschätzung eine Entscheidung wagen. Wobei Angst, Angst auch um die eigene berufliche Sicherheit, hierbei kein guter Ratgeber ist, denn: „Angst essen Seele auf!“ Wie dargelegt ist Helfen u. a. eine Frage der Haltung und damit nicht losgelöst von den uns umgebenden Arbeitsbedingungen. Früh entscheidet sich, auf welche innere Folie ich Mitteilungen über mögliche Gefährdungen fallen lasse.

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Die Seite der Helfer - Habe ich Unterstützung beim Helfen mit Risiko? - Habe ich Supervision? - Habe ich die Zeit, meine Ambivalenzen und die Ambiguitäten des Falles mir in Ruhe vor Augen zu führen? - Ist man auch wohlwollend mir gegenüber? - Habe ich die Zeit die qualitativen Vorgaben, z.B. das Ausfüllen eines Kinderschutzbogens, zu erfüllen? - Bin ich eingebettet? - Darf ich Hilfe wagen?

Abb. 13: Was die Fachkräfte in der Kinderschutzarbeit brauchen

Habe ich die Unterstützung meiner Kollegen, meiner Oberen, dass Kinderschutzarbeit in der Regel ein Helfen mit Risiko bedeutet? Habe ich Supervision, habe ich die Zeit, meine Ambivalenzen und die Ambiguitäten des Falles mir in Ruhe vor Augen zu führen? Ist man auch wohlwollend mir gegenüber? Habe ich die Zeit, die qualitativen Vorgaben, z. B. das Ausfüllen eines Kinderschutzbogens, zu erfüllen? Dies ist im Übrigen eine weitere Variable zum Thema „zeitsensibel“! Darf ich „Hilfe wagen“ oder ist mir die Absicherung der Akte wärmstens ans Herz gelegt worden? „Herr Nitsch, bitte sorgen Sie dafür, dass wir nicht auch einen Fall XY kriegen!“ Dann werde ich, polemisch formuliert, eher geneigt sein, die Beziehungsarbeit zu meiner Akte zu pflegen. Erst wenn ich eingebettet und gestützt bin, kann ich so auch auf die Klienten zugehen.

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• Hilfeparadox von Seiten der Hilfe Fehlt mir als Helfer die Einbettung, so kann eine Hintergrundfolie meiner Arbeit mit den Klienten sein: Die Klienten können mir - wenn die Hilfe zu scheitern droht - gefährlich werden. Die innere Bereitschaft „Hilfe zu wagen“ sinkt in diesen Momenten, und das kann für den weiteren Beratungsverlauf große Folgen haben. Es wäre sozusagen das Hilfeparadox auf der Seite des Helfers.

Das Hilfeparadox von Seiten der Hilfe Je größer die Kindeswohlgefährdung einerseits und je unsicherer die professionelle Einbettung der HelferInnen andererseits, desto verunsicherter und zurück genommener gehen Fachleute auf die Familien zu, desto eher scheint der technische Zugangsweg fachliche Sicherheit zu bieten. Familien in Not sind sehr sensibel in ihrer Wahrnehmung auf die Art und Weise des Zugangs.

Abb. 14: Das Hilfeparadox von Seiten der Hilfe

Etwa in dem Sinne: Je größer die Gefährdung, je unsicherer meine Arbeitssituation und je drängender die Hilfenotwendigkeit, umso verunsicherter und zaudernder, ja auch zurückgenommener werde ich auf die Familien zugehen, umso mehr werde ich zur technischen Abwicklung des Verfahrens neigen und die Herstellung einer tragenden Beziehung als eine Reise mit ungewissem Ausgang als zu risikobehaftet ansehen.

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Last but not least hat gute Kinderschutzarbeit auch mit dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten von uns Professionellen zu tun. Verunsicherte Familien, Familien, die der Hilfe ambivalent gegenüberstehen, sind höchst sensibel in ihrer Wahrnehmung, wie wir auf sie zugehen. Sie spüren, ob wir uns zutrauen zu helfen. Somit geht es nicht nur um die fachliche Qualifizierung der Risikoabschätzung. Es geht um viel mehr. In der fachlichen Qualifizierung zur Herstellung einer tragenden Hilfebeziehung geht es darum, wie ich bereits ausgeführt habe, Ambivalenzen zu halten und situativ nutzbar zu machen. Somit möchte ich in der Abfolge „Wahrnehmen, Deuten, Urteilen Handeln“ die Kunst des Handelns in das Zentrum der Betrachtung rücken und als das entscheidende Kernelement des § 8a bezeichnen. Da möchte ich standhalten und uns zur Ermutigung aufrufen, diesen wichtigen Bereich der Kinderschutzarbeit selbstbewusst zu vertreten und die Definition über ein Gelingen oder Misslingen der Hilfe nicht den Juristen zuzuschieben, die in der Regel den Vorteil haben, die Fälle im Nachhinein zu betrachten. Denn die Wahrnehmung und Diagnostik in der Kinderschutzarbeit, und das ist im Übrigen auch mehr als das bloße Feststellen von vorhandenen Risikofaktoren, ist ein fortlaufender, sich wandelnder und oftmals zeitintensiver Prozess. Das Einmalfoto ist auch bei der Gefährdungseinschätzung nur bedingt hilfreich. Die gefährdeten Kinder und ihre Eltern brauchen eine prozesshafte und kontinuierliche Begleitung und Unterstützung, die sich im Beratungsverlauf immer wieder neu auf die Gegebenheiten ausrichtet. Dies beschreibt ein zirkuläres Verständnis. Ich möchte Sie noch einmal dazu einladen, den Blick auf unsere KlientInnen und auf die Gefährdungseinschätzung zu richten. Zurück also zur konkreten Beziehungsgestaltung bei hoffentlich vorhandener eigener Einbettung! Eine wichtige Stelle im Beratungsprozess geht häufig mit den Fragen einher, ob wir in der Beratung mit den Eltern auch darüber reden dürfen und können, wie es den Kindern geht, ob wir erkannte Gefährdungen ins Gespräch bringen können. Können sich die Eltern darauf einlassen? Vertrauen sie mir, dass ich es gut mit ihnen meine, auch wenn ich mich als Dritter mit eigener Sicht einbringe? Wenn dies gelingt, so weiß ich aus langjähriger Erfahrung, werde ich auch viel mehr Wesentliches über die Kinder, die Eltern und ihr familiäres Miteinander erfahren, d.h. zu einer weit realistischeren Einschätzung auch um die Gefährdung kommen. Ich weiß dann nicht nur dies, was 38

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sich gerade im Beratungskontext abbildet, sondern erfahre etwas vom alltäglichen Leben und Erleben der Betroffenen. Nicht nur die Fassade wird gezeigt und damit Inhalt der Beratung, der Blick wird umfassender und damit werden Hilfen wesentlich zielgenauer. Und - genauso wichtig - die unterschiedlichen Hilfen werden eher angenommen! Nicht das Erkennen von Risikofaktoren allein ist ja das Ziel der Hilfe, das wäre dann bei aller Bescheidenheit doch zu wenig („Diagnose klar, Patient tot“), sondern die Annahme und Umsetzung von Hilfeangeboten (Vgl. § 8a KICK „...auf Hilfen hinwirken“), die konkrete Verbesserung des Alltags, der konkrete Schutz des Kindes, die konkrete Unterstützung der Eltern in ihrem schwierigen Erziehungs- und Beziehungsalltag sind unsere Ziele. Auf nichts reagieren verunsicherte Eltern sensibler, als wenn sie den Eindruck haben, das wärmende und schützende Licht richtet sich auf ihre Kinder, aber leider an ihnen vorbei. Wer mir etwas Kluges über mein Kind erzählen will und mich nicht mit in diesem Licht aufnimmt, von dem will ich auch nichts hören oder ich tue mich zumindest wesentlich schwerer. Eher werde ich mich aufgerufen fühlen, mein Kind oder/und mich zu verteidigen. Aus Sicht der Eltern und der Kinder benötigt unser vielschichtiger Jugendhilfeauftrag ein paar altmodische Werte: Verlässlichkeit, Ausdauer, Konstanz und Offenheit. Soviel zu den generellen Werten. Darüber hinaus benötigen Familien in Krisen zur Lösung ihrer Probleme die professionelle Hilfe des langsamen Weges.

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Vom schnellen Weg zum langsamen Weg Vertrauen „Ich bin gemeint“ Stabilisierung „Ich lerne, ich gewinne Kontrolle“ Kompetenzentwicklung „Ich kann“ Solidaritätserfahrung „Ich bin nicht allein“

Abb. 15: Der langsame Weg zum Beziehungsaufbau

Statt der impulsiven Affektabwehr brauchen unsere Klienten sichere Orte und sichere vertrauensvolle Bindungen. Kinderschutz bedeutet somit auch, eine geschützte Beziehung in einem geschützten Rahmen herzustellen. Der langsame Weg ist das Ziel. Dies gilt für die Familien, gerade für die, die bereits schlimme Erfahrungen in ihrem Leben gemacht haben, und gilt genauso wie für die Familien für die Jugendhilfe selbst. Erst im langsamen Weg, weg von der höchsten Erregung, kann ein komplexes Erfassen, ein kognitives Erarbeiten der drohenden Reize zu komplexen hilfreichen Antworten führen. Informationen und Erkenntnisse des Beratungsprozesses können integriert und Handlungsalternativen entwickelt werden. Hierzu benötigen KlientInnen Vertrauen, aus dem sich die Bereitschaft entwickelt, Neues zu lernen. Aus der Traumaarbeit wissen wir, wie wichtig das Gefühl von Kontrolle für das eigene Leben („Ich kann!“) ist. Wesentlich für Kinder und Erwachsene ist zudem zu wissen, in Krisen nicht allein auf sich gestellt sein zu müssen. In England lautet ein Motto des Kinderschutzes „Leave no child behind“, lassen Sie mich dem hinzufügen „You are not alone“.

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Riskante Kindheit

Von der Ambivalenz des Glaubens an die Hilfe _________________________________________________________________________________

• Zum Abschluss: In der Klassifizierung von Wissen gibt es grundsätzlich zwei Ausprägungspole: das explizite Wissen, das beschrieben werden kann und welches in Dokumenten vorgehalten werden kann (people to document), und das implizite Wissen, das eben nicht in dieser Form kodifizierbar ist. Wirkliches Expertenwissen, so die Forschung des Wissensmanagements, zeichnet sich dadurch aus, dass äußerste Komplexität mit einer geringen Gültigkeitsdauer zusammenfällt - der Einzelfall. Implizites Wissen, Expertenwissen, vermittelt sich auf dem Weg von people to people, also lauschen, lernen und austauschen, diskutieren und ventilieren. Setzen wir also unsere emotionale Intelligenz, unsere Intuition und Kreativität, unsere Empathie und soziale Kompetenz selbstbewusst, verantwortlich und ermutigend dafür ein, gemeinsam mit den Eltern und den Kindern, die für sie hilfreichen und schützenden Lösungen zu entwickeln. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld und wünsche Ihnen allen noch viel Spaß und Anregungen hier auf diesem Fachtag.

Anm. der Redaktion: Bei dem Artikel handelt es sich um einen Vortragstext, der durch das gesprochene Wort charakterisiert war. Bei Rückfragen zur behandelten Literatur oder zu zitierten Fachexperten steht der Autor Michael Nitsch sicherlich gerne zur Verfügung. Zu erreichen unter KinderschutzZentrum München, [email protected] oder Tel. 089/55 53 56.

Kindeswohlgefährdung frühzeitig erkennen

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Kindeswohlgefährdung

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Kindeswohlgefährdung - von der Checkliste zur persönlichen Risikoabschätzung - Christine Gerber In den letzten Jahren sind in der Bundesrepublik viele Verfahren und Checklisten1 zur Risikoabschätzung entwickelt worden. Die Gründe dafür sind vielfältig und sicher auch in den öffentlich gewordenen, tragischen Fällen, in denen Kinder zu Tode gekommen sind, zu finden. Die einzelnen Verfahren sind sehr unterschiedlich. Z.T. handelt es sich um ein oder zwei DIN A4 Seiten, zum Teil um komplexe Verfahren mit bis zu 30 und mehr Seiten. Die Erwartungen an diese Verfahren und vor allem an die Checklisten sind enorm hoch. Im Folgenden möchte ich zwei zentrale Forderungen herausgreifen, um anhand der Überprüfung dieser Erwartungen zu reflektieren, was Checklisten können, was sie vielleicht auch nicht können, und schließlich, was neben einer Checkliste zu einer qualifizierten Kinderschutzarbeit gehört. Die erste Erwartung, die ich genauer überprüfen möchte, ist die Erwartung: „Checklisten konkretisieren und objektivieren den unbestimmten Rechtsbegriff „Kindeswohlgefährdung“!“ Ende der 90er Jahre haben wir in München eine Checkliste entwickelt, die die Grundlage für ein „Qualitätssicherungsverfahren in Gefährdungsfällen“ bilden sollte. Anhand der Erfahrungen, die wir damals gemacht haben, möchte ich diese erste These überprüfen. Ein wesentliches Ziel bei der Entwicklung dieser Checkliste war die differenzierte Wahrnehmung von Risikofaktoren: • „blinde Flecken“ verhindern • Wahrnehmung von Symptomen schärfen Es sollte verhindert werden, dass junge Kolleginnen wichtige Bereiche übersehen, und sichergestellt werden, dass erfahrene Kolleginnen auf blinde Flecken aufmerksam gemacht werden. Wir wollten sicherstellen, dass bei der Abschätzung eines Gefährdungsrisikos eine möglichst breite Palette an Symptomen und Informationen mit einbezogen wird, um möglichst nichts zu übersehen. 1

Siehe Beispielitems aus den Münchener Checklisten im Anhang.

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von der Checkliste zur persönlichen Risikoabschätzung _________________________________________________________________________________

In einem ersten Schritt haben wir zunächst die Faktoren aufgelistet, die auf eine Gefährdung oder ein erhöhtes Risiko hinweisen könnten. Ergebnis: 94 Risikofaktoren Die gesammelten Faktoren haben wir schließlich unter geeigneten Gliederungspunkten zusammengefasst. Ergebnis: 26 Gliederungspunkte Beispiele dafür sind: Ernährung Körperliche Gewalt Körperliche Symptome Psychische/psychiatrische Auffälligkeiten der Eltern Gefährdendes Erziehungsverhalten Mangelnde oder inadäquate Kommunikation zwischen Eltern und Kind Der Anspruch der Differenziertheit und der Anspruch, nichts zu übersehen, hatte zur Folge, dass die Liste insgesamt 27 Seiten umfasst. Nachdem einige der 94 Risikofaktoren für ein bestimmtes Kindesalter nicht relevant sind (z. B. bei einem Jugendlichen „Nicht altersgemäße oder unausgewogenen Ernährung“ oder bei einem Säugling „Weglaufen/Schule Schwänzen oder Streunen“), haben wir Altersgruppen eingeführt. In der Folge hatten wir 4 Listen für folgende Altersstufen - Säugling - Kleinkind - Schulkind - Jugendliche Da unsere Checkliste am PC auszufüllen ist, war dieser Punkt relativ einfach umzusetzen, weil am Anfang nach dem Alter des Kindes gefragt wurde und der Computer dann die entsprechende Liste ausgewählt hat. Als nächstes hatten wir das Ziel, dass in den unterschiedlichen Stadtteilen wenigstens in etwa gleiche Maßstäbe in der Beurteilung einzelner Risikofaktoren angelegt werden und dass nicht ein Kind aus einem „Mittelschichtsviertel“ anders „behandelt“ wird als ein Kind aus einem „Brennpunktviertel“. Ziel war also, die Risikoeinschätzung vergleichbar und damit für Kooperationspartner auch transparenter zu machen. In der Folge mussten wir uns als Organisation auf bestimmte Begrifflichkeiten, einen gemeinsamen Sprachgebrauch einigen.

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Dazu haben wir drei sogenannte „Prozessstandards“ bestimmt: 1. nicht gefährdet im Sinne des § 1666 BGB (aber Förderbedarf) 2. langfristig physisch und/oder psychisch schädigende Selbst- oder Fremdgefährdung 3. akute und unmittelbar physisch und/oder psychisch massiv schädigende bis lebensbedrohliche Selbst- und/oder Fremdgefährdung Jedes der 94 Merkmale wurde dann je nach Altersgruppe mit einem dieser „Prozessstandards“ hinterlegt. Beispiel: „Gesundheitsgefährdende Körperhygiene" (ständig sehr mangelhafte Körperpflege, die zu Gesundheitsschäden führt): Säugling: Prozessstandard „3“ Kleinkind: Prozessstandard „2“ Schulkind: Prozessstandard „2“ Jugendlicher: Prozessstandard „1“ Schon die massive Diskussion während dieser Zuordnung von Gefährdungsstufen machte deutlich, dass die jeweils hinterlegten Gefährdungsstufen der Bewertung der einzelnen Merkmale im konkreten Fall nicht ausreichend gerecht werden. Ein Grund ist zum Beispiel, dass es keine Möglichkeit gibt, das Ausmaß des Risikomerkmals mit einfließen zu lassen, was jedoch für eine differenzierte Bewertung von erheblicher Bedeutung ist. Beispiel: Unter dem Gliederungspunkt „Ernährung“ gibt es ein Merkmal „Gesundheitsgefährdende Nahrungsmittel“ (z. B. verdorbene Lebensmittel, nicht lebensmittelgerechte Lagerung). Es ist ein Unterschied, ob auf dem Herd - für das Kleinkind unzugänglich - ein Topf mit verdorbenem Gemüse steht oder ob vergammelte Lebensmittel in der Wohnung herumliegen und von dem Kind jederzeit gegessen werden können. Dieser Unterschied kann jedoch in einer Checkliste nicht ausreichend wiedergegeben werden. Die Entscheidung, ob und in welchem Ausmaß eine Gefährdung vorliegt, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab:

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Ausmaß der Risikofaktoren Problem-, Ursachen-, Prioritätensicht der Eltern

Schützende Faktoren

Ressourcen der Eltern Risikofaktoren (Checkliste) Kooperation/ Mitwirkung der Kinder/Jugendlichen

Kooperation/ Mitwirkung der Eltern

Ressourcen der Kinder/Jugendlichen

Ursachen/ Hintergründe

Hier wurde die Grenze unserer Checklisten eindrücklich deutlich! Obwohl sie sehr differenziert ist und obwohl sie die Risikofaktoren sogar nach Alter des Kindes differenziert, kann sie unmöglich sagen „dieses Kind ist langfristig gefährdet“ oder „dieses Kind ist nicht gefährdet“ oder „dieses Kind ist akut gefährdet“. Will man zu einer differenzierten Risikoabschätzung gelangen, sind alle oben genannten Faktoren zu berücksichtigen und fachlich zu bewerten. Für die Ausgangsthese „Checklisten sollen den unbestimmten Rechtsbegriff der Kindeswohlgefährdung konkretisieren, bzw. zweifelsfrei definieren“ - heißt das, dass diese Erwartung an Checklisten definitiv zu hoch ist und nicht erfüllt werden kann. Im Prinzip wird deutlich, dass die Definition der Kindeswohlgefährdung als unbestimmter Rechtsbegriff in § 1666 BGB nicht nur ausreichend ist, sondern der komplexen Fragestellung auch am besten gerecht wird. Laut BGB handelt es sich dann um eine Kindeswohlgefährdung, wenn das geistige, körperliche oder seelische Wohl eines Kindes gefährdet ist und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Eine qualifizierte Risikoeinschätzung muss also die Risikofaktoren und deren Auswirkungen konkret benennen die konkrete Gefahr bewerten, also die Ressourcen den Gefahren gegenüberstellen und schließlich differenzierte Aussagen zum Problembewusstsein, zur Motivation und zu den Fähigkeiten der Eltern machen - also auch dazu, was wir als Fachleute alles versucht haben, um die Eltern zu motivieren und zu Kindeswohlgefährdung frühzeitig erkennen

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stärken, damit sie die Gefahr selbstständig beseitigen. Denn nur an dem Ergebnis dieser Versuche sind Bereitschaft und Fähigkeit der Eltern, erzieherische Verantwortung zu übernehmen, zu erkennen. Bevor ich zu der zweiten Erwartung an Checklisten komme, möchte ich Ihnen noch eine wesentliche Erfahrung weitergeben, die wir mit der Einführung unserer Checkliste gemacht haben. Wir hatten also eine sehr differenzierte Liste mit Empfehlungen für die Bewertung der einzelnen Merkmale. Die Frage war nun, „wie kommen wir jetzt zu einer differenzierten Risikoabschätzung im konkreten Fall?“. Nachdem klar war, dass die Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung nicht an „ein Instrument“ delegiert werden kann, sondern dass die letztendliche Entscheidung immer von den Fachkräften getroffen werden muss, haben wir beschlossen, den Prozess, also das Verfahren der Risikoabschätzung mit bestimmten Qualitätsstandards (Prozessstandards) zu hinterlegen und auf diese Weise das Risiko einer Fehleinschätzung zu reduzieren. Das Verfahren im Einzelnen: 1. Anhand eines Rechensystems wurde am Ende der Checkliste ein Vorschlag (!) für einen Prozessstandard errechnet: Die zutreffenden Merkmale bzw. die hinterlegten Prozessstandards 1, 2 oder 3 wurden gezählt und es wurde ein Vorschlag für eine Gesamtbewertung errechnet. Die unterschiedlichen Prozessstandards wurden dabei unterschiedlich gewichtet. Beispiel: Wurde bei einem Säugling ein Risikofaktor mit „akut gefährdend“ und ansonsten nur Faktoren, die als „nicht-gefährdend“ bewertet werden, beobachtet, dann war das Ergebnis des Gesamtvorschlags „akut gefährdend“, weil die akute Gefahr durch den einen Faktor alle anderen Faktoren „überstimmte“. Bei dem Vorschlag zur Gesamtbewertung handelte es sich also nicht um einen rein mathematischen Durchschnittswert. Wichtig: Dieser Gesamtvorschlag sollte nicht den Grad der Gefährdung wiedergeben, sondern diente lediglich als Grundlage für die geltenden Qualitätsstandards (Terminierung der Wiedervorlage und Grad der fachlichen Reflexion).

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2. Im zweiten Schritt wurde als Standard vorgegeben, dass in einem Vier-Augen-Gespräch oder in einer Fallbesprechung eine differenzierte Analyse des Gesamtsystems vorgenommen wird, wobei die von der Checkliste nicht berücksichtigten Faktoren wie „Ausmaß der Risikofaktoren“, „Ressourcen“, „Motivation der Eltern“ oder „Problembewusstsein der Eltern“ jetzt vorgestellt und den Risikofaktoren gegenübergestellt werden mussten. 3. Das Ergebnis dieser Fallbesprechung musste dokumentiert und begründet werden und es musste ein neuer Wiedervorlagetermin vereinbart werden. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass die Bewertung und damit natürlich auch die daraus abgeleiteten Entscheidungen transparent und nachvollziehbar sowie eine verbindliche Fallbearbeitung gesichert waren. Unser Verfahren beinhaltete also: -

-

eine differenzierte Wahrnehmung der Risikofaktoren (Checkliste) eine verbindliche Reflexion von Gefährdungsfällen mit den Vorgesetzten oder im Team (fachliche Reflexion) alle für die Gefährdungseinschätzung relevanten Faktoren wurden berücksichtigt

und -

der Prozess hatte einen verbindlichen zeitlichen Rahmen (Wiedervorlage)

Nachdem wir dieses System in einigen Außenstellen eine Zeit lang erprobt haben, wurde es von einem externen Institut evaluiert. Als positive Auswirkungen wurden dem Verfahren u. a. bescheinigt, dass es -

Handlungssicherheit schafft ein strukturiertes und verbindliches Vorgehen sichert

und -

Führungsaufgaben unterstützt.

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Als kritisch wurde u. a. rückgemeldet, dass -

der vom System vorgeschlagene „Prozessstandard“ - obwohl er lediglich als Grundlage für die Qualitätsstandards (wann Wiedervorlage, mit wem fachliche Reflexion) diente und später im Verfahren zu einer eigenen Bewertung aufgefordert wurde - zu wenig hinterfragt wurde.

Konkret heißt das, dass die aufgrund der quantitativen Berechnung vorgeschlagenen Gefährdungseinschätzungen nach der Fallbesprechung von einigen Kolleginnen und Kollegen regelmäßig nicht verändert wurden. Grund dafür war häufig, dass die Kolleginnen und Kollegen sich absichern wollten und sich nicht getraut haben, eine Situation, die vom Rechner als „akut gefährdend“ bewertet wurde, quasi „herunter zu stufen“ und als „nur noch“ langfristig gefährdend zu bewerten. Interessant dabei ist, dass es den Kolleginnen und Kollegen wesentlich weniger Probleme gemacht hat, einen Fall „herauf zu stufen“, also von „langfristig“ in „akut gefährdend“ einzustufen. Diese Tatsache hat uns sehr zu denken gegeben! Offensichtlich stehen manche Kolleginnen und Kollegen so massiv unter dem Eindruck, dass sie „mit einem Bein im Gefängnis stehen“, dass sie sich nicht mehr trauen, ihrer eigenen fachlichen und im Rahmen einer Fallbesprechung reflektierten Bewertung zu trauen. Darüber hinaus scheinen wir ein Verfahren entwickelt zu haben, dass v. a. die jungen oder unsicheren Kolleginnen und Kollegen dazu verleitet, die Entscheidung über eine so wichtige und differenzierte Frage an einen Computer zu delegieren, statt deren Fachlichkeit zu qualifizieren. Jetzt könnte man sagen: Lieber übervorsichtig und damit „auf der sicheren Seite“, als am Ende etwas übersehen!! Das Problem ist jedoch, dass es für die Fachkräfte schwer sein wird, gegenüber den Eltern zu begründen, weshalb sie die Situation als gefährdend einschätzen, wenn sie keine klare innere Haltung zum Grad der Gefährdung haben. Die Risikoabschätzung ist erst der 1. Schritt. Die konkrete Arbeit zum Schutz der Kinder beginnt danach. Dann nämlich, wenn die Probleme und Gefahren, die festgestellt wurden, den Eltern übersetzt werden.

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Um in einen guten und konstruktiven Kontakt mit den Eltern zu kommen und um sich mit ihnen darüber auseinander zu setzen, was schwierig ist und was sich verändern muss, braucht es eine innere Haltung und eine innere Überzeugung über die Bewertung der konkreten Situation. Wenn die Fachkraft nicht hinter dem steht, was sie sagt, und wenn sie keine innere Sicherheit im konkreten Fall hat und für sich klar hat, was ihr Auftrag ist, wenn sie aus der Motivation heraus agiert sich abzusichern, wird sie wenig erfolgreich sein in der Arbeit mit der Familie. Aus lauter Not, weil sie nicht mehr weiter weiß und weil sie nicht weiß, wie sie den Eltern gegenüber ihre Einschätzung begründen kann, sucht sie vielleicht sogar die Flucht in falsche Drohungen, von denen sie vorher schon weiß, dass sie sie nicht wahr machen wird. Entweder, weil sie die Maßnahme z. B. gegenüber dem Familiengericht nicht begründen könnte, oder weil es aktuell gar nicht angemessen oder verhältnismäßig wäre. Die Folge ist, dass die Fachkraft unglaubwürdig wird und dass die ohnehin schwer zu schaffende Basis für eine konstruktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Eltern endgültig verloren ist. Konsequenzen, die angekündigt werden, dann aber, ohne für die Eltern nachvollziehbaren Grund, nicht umgesetzt werden, machen wenig Sinn und verkehren sich ins Gegenteil. Fazit: Eine Gefährdungsbewertung sollte realistisch sein. Der konkrete Schutz für das Kind wird nicht dadurch besser, dass man Situationen dramatisiert oder skandalisiert. Aufgrund der Ergebnisse der Evaluation haben wir unser Verfahren grundlegend überarbeitet. Zum einen haben wir den Gesamtvorschlag eines Prozessstandards abgeschafft und zum anderen haben wir das gesamte Verfahren in eine „sozialpädagogische Diagnose“ integriert, die sich - eingebettet in einen Beratungsprozess - mit Symptomen, Ressourcen, Ursachen und einer systemischen Betrachtungsweise auch mit der Fragestellung einer Kindeswohlgefährdung auseinander setzt. Jetzt zur zweiten Erwartung an Checklisten, die ich gerne genauer hinterfragen möchte: „Wenn man mit Hilfe von Checklisten die Gefährdung eines Kindes zuverlässig erkennen kann, kann man diese auch zuverlässig beseitigen!“

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In den meisten Fällen, die dem Jugendamt durch Meldungen bekannt werden, handelt es sich um Konstellationen, die zwar auf einen Handlungs- bzw. Veränderungsbedarf hinweisen, die aber kein Eingreifen von Außen durch familiengerichtliche Maßnahmen rechtfertigen. In diesen Fällen steht an oberster Stelle das Ziel, bei den Eltern Vertrauen zu schaffen und sie für eine Zusammenarbeit zu gewinnen, um auf diesem Wege frühzeitig eine Entwicklung in „die falsche Richtung“ abzuwenden. Ziel muss sein, dass die Eltern eben nicht alle Energie in die Flucht vor dem Jugendamt stecken, sondern dass sie sich darauf einlassen, mit Hilfe Dritter, sich mit schwierigen und u. U. auch Schuld besetzten Themen auseinandersetzen, und dass sie Veränderungen riskieren. Schaut man sich die aus tragischen Gründen öffentlichkeitswirksam gewordenen Fälle, aber auch viele andere Fälle, die irgendwann in einer akuten Krise eskaliert sind, in ihrem Verlauf genauer an, dann kann man feststellen, dass in den Jahren davor bereits Kontakt zum ASD bestanden hatte. In den meisten Fällen wurde damals auch eine differenzierte Risikoabschätzung vorgenommen. Zum Zeitpunkt der Erhebung war jedoch das Gefährdungsrisiko noch nicht so hoch, dass Zwangsmaßnahmen gerechtfertigt gewesen wären. Der Kontakt zwischen ASD und Familie ist dann - häufig mangels Kooperation der Eltern - abgebrochen. Man könnte auch anders herum sagen - in diesem Fällen ist es uns nicht gelungen, wirklichen Kontakt zu den Eltern herzustellen und Vertrauen zu schaffen. Es ist uns nicht gelungen, die Eltern ins Boot zu bekommen, obwohl wir frühzeitig auf eine schwierige Situation aufmerksam geworden sind und obwohl wir eine differenzierte Risikoabklärung - vielleicht sogar mit Hilfe einer Checkliste gemacht haben. Frühzeitige Meldungen schwieriger Situationen und eine differenzierte Bewertung der Risiken ist eine - zugegeben sehr wichtige - Sache. Um jedoch erfolgreich und frühzeitig Gefahren für Kinder abwenden zu können, müssen wir die Eltern in den Hilfeprozess miteinbeziehen. Fazit: Nur wenn es gelingt, Kontakt (Beziehung) zu den Eltern zu bekommen, können Hilfen und Maßnahmen zum Schutz der Kinder frühzeitig und erfolgreich eingeleitet werden. Checklisten sind wichtige Bausteine einer qualifizierten Risikoabschätzung - Gefahren und Risiken beseitigen können sie nicht!

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Gelingt es uns, Kontakt oder Beziehung zu den Eltern herzustellen, sind unsere Möglichkeiten, Kinder tatsächlich vor Gefahren zu schützen, tatsächlich groß. Checklisten alleine und standardisierte Verfahren zur Risikoabschätzung sind wichtige Bausteine. Sie alleine können aber Kinder vor Gefahren nicht schützen. 1.

Integrierte Verfahren und Instrumente Die Prozesse der Risikoeinschätzung, die Ursachenforschung und das Schutzkonzept müssen ineinander greifen und dürfen nicht voneinander losgelöst betrachtet werden. Darüber hinaus sollten alle Verfahren und Instrumente nur so viel wie nötig und so wenig wie möglich regeln. Schutz- und Hilfekonzepte müssen individuell für jeden Einzelfall neu gestrickt werden. Dafür brauchen wir qualifizierte, selbstbewusste und erfahrene Fachkräfte. Qualifizierte Kinderschutzarbeit kann nicht an „Instrumente“ delegiert werden. Instrumente sollten daher immer versuchen, Fachkräfte zu unterstützen, nicht sie zu ersetzen.

2.

Eine gesellschaftliche Übereinkunft, dass wir gemeinsam Verantwortung für den Schutz von Kindern übernehmen, statt dass wir die Zuständigkeit und die Verantwortung allein auf das Jugendamt delegieren. Damit ich nicht missverstanden werde, was ich damit meine, ein kurzes Beispiel: Letzter Schultag vor den Ferien. Ein Lehrer ruft im Jugendamt an: „Was ich Ihnen schon immer mal sagen wollte: Ich hab da ein Kind in der Klasse. Ich glaube, dass er von seinen Eltern vernachlässigt wird. Da morgen Ferien sind und da ich im nächsten Jahr die Klasse nicht mehr habe, dachte ich, ich rufe Sie heute noch an, damit Sie sich darum kümmern können…“ Unter diesen Bedingungen wird es wohl schwierig werden, Kontakt zu den Eltern zu bekommen. Sinnvoll wäre wohl, dass der Lehrer Verantwortung übernimmt. Die Eltern mit seinen Befürchtungen konfrontiert. Uns zu einem gemeinsamen Gespräch mit den Eltern einlädt und allein dadurch, dass er zu seiner Einschätzung steht, uns den Einstieg in den Kontakt mit den Eltern erleichtert.

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Kindeswohlgefährdung

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3.

Niedrigschwellige und offene Angebote für Eltern sowie Daten- und Vertrauensschutz Unangemessene Kontrolle riskiert, dass belastete Eltern Hilfe und Unterstützung meiden. Familien werden durch lückenlose Überwachung eher in die Isolation getrieben. Dass wir durch solche Maßnahmen mehr Kinder schützen, würde ich bezweifeln.

4.

Zeit, Geduld und Verbindlichkeit Situationen, die sich über Jahre entwickelt haben, können nicht in ein paar Wochen oder Monaten verändert werden. Tragfähige Hilfekonzepte müssen Schritt für Schritt mit den Eltern erarbeitet werden. Das braucht personelle Ressourcen und Kontinuität in der Mitarbeiterschaft. Laufend wechselnde Ansprechpartner auf der Seite der Jugendhilfe gefährden den Erfolg der Hilfen.

5.

Empathie, Offenheit und ein ernst gemeintes Kontaktangebot Schuldzuweisungen und Verurteilungen sind Stammtischen und der Justiz vorbehalten. Wenn wir den Glauben in die Eltern verlieren, geraten alle Eltern unter Generalverdacht. Nur wenn wir die Nöte und Zwänge der betroffenen Familien sowie ihre Stärken sehen und anerkennen, kann es gelingen, dass die Eltern gemeinsam mit uns „das Risiko einer Veränderung“ eingehen.

6.

Gelassenheit und Besonnenheit Aktionismus, Panik und ein auf die persönliche Absicherung vor strafrechtlichen Folgen gerichtetes Handeln verstellen uns den Blick für das, was im Interesse der Kinder sinnvoll und notwendig ist.

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Liste der Gefährdungsmerkmale 100 Grundversorgung und Schutz 110

Mangel an Lebensnotwendigem Zu bewertende Gefährdungsmerkmale

Säugl.

Gefährdungsstufe KleinSchul- Jugendkind kind liche

111

Ernährung

111.1

Unzureichende Versorgung mit Nahrung

112

Körperpflege und gesundheitliche Versorgung

112.1

Gesundheitsgefährdende Körperhygiene

3

2

Beobachtbare Hinweise, Symptome, Beispiele, Konkretisierungen

1

1

[111.1] Zu wenig Nahrung, keine Vorräte, z.B. leerer Kühlschrank, auffallender Hunger in der Tagesstätte, regelmäßig fehlendes Pausenbrot

3

2

2

1

[112.1] Ständig sehr mangelhafte Körperpflege, die zu Gesundheitsschäden führt: Massive Zahnschäden (z.B. schwarze Stummelzähne bei größeren Kindern und Jugendlichen) unbehandelter Parasitenbefall, Ungeziefer, Ekzeme Zu seltener Windelwechsel

120

Körperliche Gewalt

121

Körperliche Gewalt

121.1

Gelegentliche leichte körperliche Gewalt

1

1

1

0

[121.1] Gelegentlich leicht mit der Hand schlagen z.B. Klaps, auf die Finger schlagen

121.2

Gelegentliche schwere körperliche Gewalt

3

3

3

3

[121.2] Gelegentlich Schlagen mit der Hand, mit Gegenständen bewerfen, fest anpacken und stoßen (Bauch-)schmerzen, blaue Flecken, Ohrverletzungen, Striemen, Beulen, aufgeplatzte Lippen, offene Wunden, eingeschlagene Zähne, langanhaltende Schmerzzustände, Würgemale, Schütteltrauma: Benommenheit, Erbrechen, Wirbelbruch, Krampfanfälle, Griffmarken an Brust und Armen, Brandwunden, wie z.B. Verbrennungen von ausgedrückten Zigaretten, Herdplatten Einsperren, Fixieren mit Fesseln, Gurten

200 Interaktions-, Beziehungsebene und Symptomebene 210

Symptome am Kind/Jugendlichen Zu bewertende Gefährdungsmerkmale

Säugl.

Gefährdungsstufe KleinSchul- Jugendkind kind liche

Beobachtbare Hinweise, Symptome, Beispiele, Konkretisierungen

211

Auffälligkeiten in der Interaktion

211.1

Überangepasstheit

0

1

1

1

Das Kind versucht den tatsächlichen oder vermuteten Erwartungen anderer unter Hintanstellung der eigenen Wünsche, Bedürfnisse oder Meinungen gerecht zu werden. z.B. es richtet sich im Spiel ganz nach anderen Kindern, passt sich den Äußerungen oder Handlungen seiner Bezugspersonen an; entschuldigt sich, wenn es den Eindruck hat, den Erwartungen nicht zu entsprechen.

211.2

Sozial zurückgezogen/isoliert

0

1

1

1

Das Kind nimmt in vermindertem Maße an den alltäglichen Interaktionen in der Familie, der Schule oder in der Gleichaltrigengruppe teil z.B. fehlende soziale Kontakte; Außenseiterrolle im sozialen Umfeld; zieht sich in der Familie ständig auf sein Zimmer zurück.

213

Entwicklungsstörungen

213.1

Sprachstörungen

0

1

1

0

[213.2] Expressive und rezeptive Sprachstörung, Stottern/Poltern Expressive Sprachstörung: Eingeschränkter Wortschatz und Schwierigkeiten Sätze zu bilden, die nach Länge und Komplexität der Entwicklungsstufe entsprechen. Rezeptive Sprachstörung: Defizite im Sprachverständnis mit Auffälligkeiten im Wortschatz und in den grammatikalischen Strukturen. Stottern: Redefluss wird durch häufige Wiederholungen oder Dehnungen bzw. durch Zögern oder Pressen unterbrochen. Poltern: Unregelmäßiges und unrhythmisches Sprechen mit schnellen, ruckartigen Anläufen, z.B. Räuspern, Bellen, Zischen.

220

Symptome an den Eltern/familiären System Zu bewertende Gefährdungsmerkmale

Säugl.

Gefährdungsstufe KleinSchul- Jugendkind kind liche

Beobachtbare Hinweise, Symptome, Beispiele, Konkretisierungen

221

Psychische /psychiatrische Auffälligkeiten

221.1

Diagnose liegt vor, adäquate Hilfe wird abgelehnt

3

3

3

2

[221.1]Medikamente werden nicht eingenommen Notwendiger Arztbesuch wird verweigert Keine Krankheitseinsicht

221.2

Keine Diagnose, aber Hinweise auf psychische Störungen, die die Wahrnehmung elterlicher Verantwortung erheblich einschränken

3

3

3

2

[221.2]Hinweise auf folgende mögliche Krankheitsbilder liegen vor: ƒ Depression: schwere akute depressive Symptomatik (extreme Antriebsarmut, verzweifelte Trostlosigkeit) ƒ Manie: massive Selbstüberschätzung, situationsinadäquate gehobene Stimmung, unkontrollierte Erregung ƒ Schizophrenie, Halluzinationen, paranoide Symptomatik ƒ Persönlichkeitsstörungen sind tief verwurzelte anhaltende Verhaltensmuster die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen zeigen. Es zeigen sich deutliche Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in Beziehungen zu anderen. Diese Verhaltensmuster sind stabil. Beispiel: Borderline-Störung (Kennzeichen: mangelnde Impulskontrolle, Störung des Selbstbildes, unbestänge Beziehungen, Tendenz zur Entwertung, Selbstdestruktion) ƒ Akute Suizidalität, ƒ Demenz ƒ Massive Angststörung, z.B. schwere Panikattacken, ƒ Massive Zwangshandlungen und Zwangsgedanken, z.B. erheblich einschränkender Kontrollzwang ƒ

Zu bewertende Gefährdungsmerkmale

Säugl.

Gefährdungsstufe KleinSchul- Jugendkind kind liche

Beobachtbare Hinweise, Symptome, Beispiele, Konkretisierungen

223

Hinweise auf Suchterkrankung und/oder Suchtmittelkonsum die sich auf folgende Substanzen beziehen: Alkohol, Opioide, Cannabinoide, Sedativa oder Hypnotika, Kokain, andere Stimulantien, Halluzinogene, flüchtige Lösungsmittel und Störung der Impulskontrolle

223.1

Akute Vergiftung

223.2

Schädlicher Gebrauch

223.3

Abhängigkeit

3

3

3

2

3

3

2

1

3

3

2

1

[223.1] Störung von Bewusstsein, Affekt und Wahrnehmung Mögliche Komplikationen: Delierien, Koma, Krampfanfälle, Erbrechen, Alkoholvergiftung, Horrortrip [223.2] Konsum führt zur Gesundheitsschädigung, z.B. körperlich (Hepatitis) psychisch (depressive Episoden) [223.3] Verminderte Kontrolle, anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen Dem Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben. Es entwickelt sich eine Toleranzerhöhung.

300 Verdacht auf sexuelle Kindesmisshandlung 320 Aussage des Kindes/Jugendlichen über sexuelle Handlungen 321.1 321.2

Eindeutige Aussage des Kindes/Jugendlichen Indirekte Aussagen/Andeutungen des Kindes/Jugendlichen

[321.1] Direkte Aussagen, z.B. über Geschlechtsverkehr, Masturbation, Analverkehr ggf. auch an Bezugspersonen [321.2]Aussagen des Kindes/Jugendlichen werden von der Fachkraft als Anhaltspunkt für einen Verdacht auf sexuellen Missbrauch interpretiert

350 Auffälligkeiten im Familiensystem & Umfeld 351.1

Grenzüberschreitendes Verhalten gegenüber Kindern

[351.1] Körperkontakt gegen den Willen des Kindes Fassen an Genitalien oder sekundäre Geschlechtsmerkmale, Zungenküsse Stark sexualisierte Sprache

351.2

unangemessene Beziehungsmuster

[351.2] unangemessene und nicht altersgemäße Beziehungsmuster (Alter, Behinderung) Auffälliges Umwerben von Kindern, ungewöhnliche und unangemessene Kontakte zu Kindern

eine kinderpsychiatrische Diagnose mit Aufforderungscharakter für die Jugendhilfe _________________________________________________________________________________

Bindungsstörung - eine kinderpsychiatrische Diagnose mit Aufforderungscharakter für die Jugendhilfe - Martin Linder & Petra Srdinko An der kinderpsychiatrischen Diagnose Bindungsstörung soll aufgezeigt werden, welchen Beitrag die Entwicklungspsychopathologie und deren ätiopathogenetische Zusammenhänge zur Früherkennung von Entwicklungsrisiken im Kindesalter leisten können.

1. Bindungsforschung und kinderpsychiatrische Diagnostik René Spitz hat in der damals bahnbrechenden Monographie „Vom Säugling zum Kleinkind“ erstmals mit wissenschaftlichen Methoden die seelische Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern in Säuglingsheimen und Findelhäusern beobachtet und bei einem großen Teil der Kinder dort schwerwiegende seelische Veränderungen beschrieben und dafür die Begriffe “ananklitische Depression“ und „Syndrom des Entzugs der affektiven Zufuhr (Hospitalismus)“ verwendet. Als maßgebliche Bedingungsfaktoren für die Entstehung dieser Störungsbilder hat er die länger andauernde Trennung von der Mutter und die Qualität der Mutter-KindBeziehung erkannt. Vor allem die Qualität der Beziehung sah er als entscheidend für das Ausmaß der Symptomatik und für die Entwicklungsfortschritte bei den Kindern an. Die Lebensnotwendigkeit der „affektiven Zufuhr“ wird eindrücklich belegt und die hohe Sterblichkeit in Findelhäusern damit in Zusammenhang gebracht. Die Psychopathologie der unterschiedlichen Schweregrade der Symptomatik, die sich in der Folge des Entzugs der affektiven Zufuhr entwickelt, ist in der Monographie anschaulich und eindrucksvoll dargestellt. Gleichzeitig legte John Bowlby die Grundlagen für die Bindungsforschung, aus der Beobachtung der Mutter-Kind-Interaktion wurde eine eigene Forschungsdisziplin mit ungeahnten Fortschritten. Auf diesen Grundlagen beruhen die in der ICD-10 (und DSM-IV) aufgeführten kinderpsychiatrischen Diagnosen der Bindungsstörungen. Die psychiatrischen Diagnosen in der ICD-10, der Klassifikation für psychische Störungen und Erkrankungen, sind Syndrombeschreibungen, also Darstellungen von Gruppen psychopathologischer Symptome, wie sie klinisch auftreten als psychische Störungs- und Krankheitsbilder, ohne eine Aussage zur Entstehung zu machen. Für Entstehung und Verlauf dieser

Kindeswohlgefährdung frühzeitig erkennen

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Petra Srdinko und Martin Linder:

Bindungsstörung

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Diagnosen können vielfältige Ursachenbündel und Risikofaktoren zu Grunde liegen, deren Abklärung Aufgabe der psychiatrischen Diagnostik ist. Auch bei den kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern, die in der ICD-10 unter F9 zu finden sind, gilt dies im Allgemeinen. Eine Ausnahme davon stellen die Bindungsstörungen dar. Bei diesen psychopathologischen Syndromen handelt es sich um Störungsbilder, zur deren Ätiologie und Pathogenese in der ICD-10 klare Aussagen enthalten sind. Es ist eine charakteristische Psychopathologie bei Kleinkindern und Vorschulkindern, die in einer die kindlichen Bedürfnisse vernachlässigenden und deprivierenden Umgebung leben. Diese Aussage zur Ätiologie ist so klar, dass sich mit der Diagnosestellung auch die Frage nach der Wahrnehmung des Kindeswohls stellt. So schwerwiegende Deprivationen, wie sie Rene Spitz beobachtet hat, sind glücklicherweise inzwischen selten geworden. In den 90er Jahren nach der Öffnung des „eisernen Vorhangs“ kamen aus den rumänischen Kinderheimen viele Kinder mit so schweren Deprivationen zu uns. Minderschwere Formen von Deprivation sind aber weiterhin keine Seltenheit und die Psychopathologie ist dennoch charakteristisch. In der ICD-10 werden zwei Formen von Bindungsstörungen unterschieden: • Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters (F94.1 ICD-10, entsprechend der "gehemmte Form" im DSM-IV) • Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94.2 ICD-10, „ungehemmte Form“ im DSM-IV)

2. Die Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters Für diese Form der Bindungsstörung werden in der ICD-10 (F94.1, entsprechend der "gehemmte Form" im DSM-IV) folgende Diagnosekriterien vorgegeben: • anhaltende Auffälligkeiten im Muster der sozialen Beziehungen • Beginn vor dem 5. Lebensjahr • widersprüchliche, ambivalente soziale Reaktionen • emotionale Störung (Rückzug, Aggressivität, Unglücklichsein, Überempfindlichkeit) • evtl. Wachstumsverzögerung • Syndrom wahrscheinlich direkte Folge ausgeprägter elterlicher Vernachlässigung und/oder Misshandlung 58

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Unter den anhaltenden Auffälligkeiten im Muster der sozialen Beziehungen ist ein abnormes Beziehungsmuster zu Betreuungspersonen mit einer Mischung aus Annäherung und Vermeidung und Widerstand gegen Zuspruch zu verstehen. Die soziale Interaktion mit Gleichaltrigen ist durch mangelnde Initiative, Ängstlichkeit und Zurückgezogenheit sehr eingeschränkt, das soziale Spielen ist stark beeinträchtigt. Bei geringen Frustrationen oder auch ohne erkennbare Anlässe richten die Kinder Aggressionen gegen sich selbst oder andere. Die emotionalen Auffälligkeiten sind deutlich und durchgängig, auch wenn durchaus noch eine emotionale Auslenkbarkeit bestehen kann. Sie sind charakterisiert durch Furchtsamkeit, Übervorsichtigkeit, Unglücklichsein, Mangel an emotionaler Ansprechbarkeit, Verlust/Mangel an emotionalen Reaktionen, Apathie und die typische von Spitz so beschriebene "frozen watchfulness". Typische Verhaltensmuster der Kinder sind: • Annäherungs-Vermeidungs-Konflikte gegenüber Bezugspersonen (z. B. Annäherung an Bezugsperson mit abgewandtem Gesicht), • Mischung von Annäherung, Vermeidung und Widerstand gegenüber den Trostversuchen der Bezugsperson, trotz anhaltender negativer Befindlichkeit, • intensives Rückzugsverhalten (z. B. am Boden zusammenkauern, ohne Reaktion bei Kontaktaufnahme durch Betreuungsperson), • aggressives Verhalten gegenüber Bezugspersonen. In Ergänzung zur ICD-10 finden sich auch: • stärker gehemmte Explorationsfähigkeit, • exzessiv klammernde Kinder (die Kinder sind in unmittelbarer Nähe der Bezugsperson ruhig, lösen sich aber nicht von ihnen, wenn sich ihnen fremde Personen nähern oder sie selbständig spielen könnten), • zwanghaft folgsame Kinder (die Kinder zeigen übermäßig große Aufmerksamkeit hinsichtlich der Reaktion der Bezugspersonen, wenig Spontaneität und positiven Affekt - häufig bei misshandelten Kindern). An einem Fallbeispiel aus unserer Klinik (zitiert nach Zimmermann 1999) sei dieses Bild nochmals verdeutlicht: Susanne (6 Jahre) ist das jüngste von sechs Kindern. Sie wird zu einer ambulanten Untersuchung vorgestellt, weil sie sich im Kindergarten die Kleidung aufschneidet oder diese zuhause anzündet. Die Eltern beschreiben das Kind als wenig folgsam und aggressiv gegenüber ihren Geschwistern und manchmal selbststimulierend (masturbierend). Sie haben aber nur wenig Erinnerung an die frühe Kindheit ihrer Tochter.

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Susanne wirkt sehr schüchtern, traut sich kaum etwas zu sagen und reagiert auf Fragen mit Blick zu den Eltern. Ansonsten sucht sie keinen Kontakt zu ihnen, auf eine Trennung von der Mutter, die zu Untersuchungszwecken herbeigeführt wird, und die anschließende Wiedervereinigung reagiert sie emotionslos. Sie bleibt apathisch auf dem Stuhl sitzen und wirkt während der gesamten Untersuchung hilflos und ohne eigenständiges Interesse. Nur auf explizite Aufforderung hin malt sie etwas. Ihre Feinmotorik ist erheblich eingeschränkt, jedoch ohne auffälligen körperlichen Befund. Bei der körperlichen Untersuchung wirkt sie angespannt und bemüht sich sofort, den Anweisungen nachzukommen, beim Test hingegen ist sie sehr unruhig und unkonzentriert. Ihre intellektuelle Leistung entspricht dem Niveau einer Lernbehinderung, besondere Defizite sind im logischen Denken und allgemeinen Wissen zu verzeichnen. Das Kind wirkt insgesamt wenig gefördert. Die Mutter hat selbst Sprachstörungen, ist nicht lebenstüchtig, kümmert sich kaum um die Kinder, ist ihnen gegenüber abweisend und abwertend, der Vater ist kaum anwesend. Die ältere Tochter übernimmt Haushalts- und Fürsorgeaufgaben. Viele der Geschwister waren für unterschiedliche Zeiten in Heimen.

3. Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung Für diese Form der „Bindungsstörung des Kindesalters“ finden sich in der ICD-10 (F94.2, „ungehemmte Form“ im DSM-IV) folgende Diagnosekriterien: • anhaltende diffuse Bindungen in den ersten fünf Lebensjahren, • Fehlen selektiver Bindungen, mit der Tendenz, bei Unglücklichsein Trost bei anderen zu suchen und abnormer Wahllosigkeit bei der Auswahl der Personen, • wenig modulierte soziale Interaktionen, • anklammerndes, Aufmerksamkeit heischendes oder distanzloses Verhalten, • Kontakt- und Bindungsverhalten situationsübergreifend. Der in der ICD-10 verwendete Begriff der „Enthemmung“ wurde inzwischen problematisiert wegen seines eben auch entwertenden Charakters. In der DSM-IV ist dem Rechnung getragen mit dem Begriff der Ungehemmtheit. In einer Neuauflage der ICD wird dies auch geändert werden.

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Im Vordergrund des Störungsbildes stehen die Veränderungen in den sozialen Funktionen vor allem mit der Wahllosigkeit im Beziehungsverhalten: Das Beziehungsmuster zu Betreuungspersonen ist auffällig und nicht altersentsprechend mit einer Mischung aus Annäherung und Vermeidung und Widerstand gegen Zuspruch, Reaktionen auf Beziehungsangebote von Bezugspersonen sind inadäquat. Charakteristisch ist vor allem das nicht-selektive Bindungsverhalten mit wahlloser Freundlichkeit und Distanzlosigkeit. Interaktionsmuster gegenüber Fremden sind gleichförmig und ebenso eingeschränkt wie die Interaktion mit Gleichaltrigen und des sozialen Spielens. Gegen sich selbst und andere gerichtete Aggressionen sind häufig, emotionale Auffälligkeiten stehen nicht im Vordergrund, kommen aber vor.

4. Zur Epidemiologie und multiaxialen Diagnostik Die Epidemiologie ist stark abhängig von der sozialpolitischen und ökonomischen Situation eines Landes, in Deutschland liegt die Prävalenz bei ca. 1 %, in einer klinischen Stichprobe einer Uniklinik liegt die Häufigkeit bei etwa 3,9 %, in einer Versorgungsklinik wie der Regensburger Kinder- und Jugendpsychiatrie bei 5,6 %. In der kinder- und jugendpsychiatrischen multiaxialen Diagnostik werden die aktuellen psychosozialen Lebensbedingungen eines Kindes erfasst. Dazu ist die eingehende Erhebung der Eigenanamnese, der Familienanamnese und - wenn möglich - von Fremdanamnesen erforderlich. In einer eigenen diagnostischen Achse werden abweichende oder abnorme, belastende psychosoziale Lebensumstände erfasst und kategorisiert. Diese Achse sieht mit ihren neun Kategorien die Möglichkeit vor, eine ansatzweise normierte Beschreibung abnormer psychosozialer Lebensumstände in der Diagnose zu erfassen. In einer der wenigen Untersuchungen zu den Bindungsstörungen, die von Lehmkuhl an der Uniklinik Berlin durchgeführt wurde, ist eine Auflistung der in der Achse V am häufigsten verschlüsselten abnormen psychosozialen Umstände enthalten, bezogen auf die Fälle, bei denen auf der Achse 1 die Diagnose einer Bindungsstörung gestellt wurde: • • • •

Mangel an Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung feindselige Ablehnung körperliche Kindesmisshandlung, sexueller Missbrauch unzureichende elterliche Aufsicht und Steuerung

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• • • • •

Erziehung, die unzureichende Erfahrung vermittelt psychische Störung eines Elternteils inadäquate oder verzerrte intrafamiliäre Kommunikation Lebensumstände, die eine psychosoziale Gefährdung darstellen Migration

Noch eine Reihe weiterer spezifischer Gesichtspunkte in der Anamnese und der Befunderhebung stehen häufig im Zusammenhang mit der Verdachtsdiagnose auf eine Bindungsstörung: Häufig zeigen Kinder mit Bindungsstörungen allgemeine oder partielle Entwicklungsverzögerung. In der eingehenden Diagnostik werden dann meist schwerwiegende Förderdefizite deutlich. Bei entsprechender Verbesserung der psychosozialen Lebenssituation mit einem dem Bedarf des Kindes angepassten Förderangebot zeigen sich in der Regel sehr rasch große Entwicklungsfortschritte. Dieses Verlaufscharakteristikum ist hilfreich bei der oft schwierigen Unterscheidung zwischen Begabungs- und Förderdefizit. Besondere Beachtung in der Diagnostik braucht auch die Erfassung spezifischer umschriebener Entwicklungsstörungen, die sicherlich häufiger sind und für die Entwicklung als zusätzliche Risiken unerkannt eine große Belastung für den Verlauf darstellen. Häufig sind auch bestimmte körperliche Erkrankungen, die durch Mangelernährung oder Fehlernährung unter den vernachlässigenden Lebensbedingungen einhergehen, wie psychosozialer Minderwuchs, Vitamin-Mangelerkrankungen oder auch Infektionskrankheiten. Bei der Anamnese bedarf die oft ungeklärte oder nicht dem Wohl des Kindes entsprechende Sorgerechtssituation besonderer Aufmerksamkeit. In der Lebensgeschichte des Kindes, die in der psychosozialen Situation oft nur schwer genau zu eruieren ist, finden sich häufige Beziehungsabbrüche, die Kinder sind von häufigen Wechseln der Bezugspersonen belastet. Bei den Eltern finden sich häufig psychische Erkrankungen. Sie sind dadurch in der Beziehungsgestaltung und Belastbarkeit eingeschränkt. Kinder erleben dann die nicht nachvollziehbaren emotionalen Ausschläge ihrer Eltern als Beziehungsabbrüche. In diesen Fällen werden anamnestisch keine Beziehungsabbrüche angegeben und doch ist die kindliche Entwicklung von ständig wiederkehrenden, traumatisch wirkenden Beziehungsabbrüchen gekennzeichnet. Um dies zu erkennen, bedarf es einer genauen Wahrnehmung für die Persönlichkeiten der Sorgeberechtigten und deren Psychopathologie.

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Das Betroffensein von aktiver oder passiver Misshandlung und/oder sexuellem Missbrauch ist häufig. Das Wissen darüber ist oft die Voraussetzung, um aus den anamnestischen Angaben Hinweise darauf zu erkennen, um weitere Klärungen einzuleiten. Wichtig ist aber auch zu wissen, dass Missbrauch keine spezifische Psychopathologie nach sich zieht. Die spezifischen Belastungen in den psychosozialen Umständen fordern den Kindern oft ungeheuere Anpassungsleistungen ab. In der Literatur ist Charles Dickens „Oliver Twist“ ein Beispiel für meisterhafte Beschreibungen der Lebensumstände und (oft aber auch idealisierende Darstellungen) der Anpassungsleistungen von so belasteten Kindern.

5. Zu den diagnostischen Verfahren Zur Abklärung des Verdachts einer Bindungsstörung sind spezielle diagnostische Verfahren und Maßnahmen, das Kind betreffend, angezeigt: • Beobachtung des Bindungsverhaltens, z. B. Video mit Trennung und Wiederannäherung von Kind und Bezugsperson • Spielbeobachtung/projektive Untersuchungsverfahren, um auch bei jüngeren Kindern Aussagen über das Selbstkonzept machen zu können • Elternfragebögen, Lehrerfragebögen, ggf. Selbstkonzeptfragebögen • EEG; ggf. Labor (z. B. endokrinologische Abklärung bei Wachstumsstörungen) • Entwicklungsneurologische Untersuchung • Untersuchung von Sprechen und Sprache • Untersuchung schulischer Fertigkeiten hinsichtlich Teilleistungsstörungen • ggf. Leistungs-/Intelligenzdiagnostik Auch im Hinblick auf die Sorgeberechtigten oder die Bezugspersonen ist eine eingehende Diagnostik erforderlich: • Beziehungsgeschichte des Kindes mit der Bindungsperson • Verhalten des Kindes in bindungsrelevanten Situationen • beobachtbares Fürsorgeverhalten der Bindungsperson gegenüber dem Kind • geäußerte Haltung der Bindungsperson gegenüber dem Kind und ihrer Fürsorgerolle • Lebensgeschichte und Lebenssituation der Bindungsperson, insbesondere Frage nach den Risikofaktoren (häufig besteht eine Kindeswohlgefährdung frühzeitig erkennen

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schwere Belastung durch Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch in der eigenen Biographie) • Bild des Kindes von der Beziehung zur Bindungsperson • Reaktion der Bindungsperson auf geeignete Hilfen zur Erziehung Mit der Diagnose Bindungsstörung steht eine erhöhte Rate von Komorbidität mit zahlreichen psychiatrischen Störungsbildern in Verbindung. Daher ist in der Diagnostik das Vorliegen der folgenden Syndrome zu klären oder auszuschließen: • Störung des Sozialverhaltens • ADHD • Angststörungen • Depression • andere emotionale Störungen (Zwänge) • posttraumatische Belastungsreaktion (PTSD) • Entwicklungsverzögerungen • Intelligenzminderung • häufige schwere Risikobelastung durch Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch Der oben beschriebene Aufwand an Diagnostik ist auch erforderlich, um differentialdiagnostisch von den Bindungsstörungen andere, manchmal ähnlich wirkende psychiatrische Störungsbilder abzugrenzen: • tiefgreifende Entwicklungsstörungen • Intelligenzminderung • Sprachentwicklungsstörungen expressiv, rezeptiv • ADHS • akute Belastungsreaktionen (PTSD) • Anpassungsstörungen

6. Zu den therapeutischen Interventionen bei Bindungsstörungen Die Diagnose einer Bindungsstörung impliziert den Verdacht auf Gefährdung des Kindeswohls und macht geeignete Maßnahmen und Hilfestellungen erforderlich durch die dafür vorgesehenen Hilfesysteme: • sicheres, wertschätzendes, entwicklungsförderndes, bindungsstabiles Milieu als Voraussetzung für Therapie • enge Kooperation mit der Jugendhilfe (SGB VIII §§ 27, 35a u. a.) und Familiengericht (§ 1666 BGB) • pädiatrische Behandlung somatischer Störungen

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• Behandlung der komorbiden Störungen durch Psychotherapie und spezielle Übungsbehandlungen • Förderung versus Therapie • Psychopharmakotherapie

In den Kinder- und jugendpsychiatrischen Leitlinien findet sich ein dem diagnostischen Prozess entsprechendes Diagramm zur differentiellen therapeutischen und psychosozialen Intervention.

In der Literatur sind die Angaben zum Verlauf spärlich. Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist die Abhängigkeit der Prognose von der Dauer der Deprivation und Traumatisierung. Verlaufsbeobachtungen von Kindern aus rumänischen Kinderheimen, die nach der „Wende“ in Deutschland adoptiert wurden (Lehmkuhl, 2002) zeigten, dass bei einer Dauer des Heimaufenthaltes von weniger als sechs Monaten nach der Geburt und der anschließenden Adoption im 6. Lebensjahr noch bei 7 % deutliche Entwicklungsauffälligkeiten vorlagen. Lag die Aufenthaltsdauer zwischen sechs Monaten und zwei Jahren, dann bestanden bei ca. 30 % noch im 6. Lebensjahr deutliche Symptome.

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7. Folgerungen und Forderungen Zusammenfassend sind folgende Aussagen zu machen: • Das Risiko für spätere schwere psychische Auffälligkeiten ist hoch. • Es handelt sich um kinderpsychiatrische Hochrisikopatienten, mit hoher Störungsstabilität, die eine sorgfältige und nachhaltige kinderpsychiatrische Nachbetreuung in enger Abstimmung mit der Eingliederungshilfe und Jugendhilfe erfordern. Im folgenden sei noch auf die Problematik eingegangen, dass die Bindungsstörungen für unser System zur Früherkennung durch die Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U9 häufig nicht oder viel zu spät erfasst werden. In der BRD sind seit 1976 Vorsorgeuntersuchungen für Kinder kostenlos im Gesundheitssystem zugänglich, seit 1991 sind diese Untersuchungen für alle Bundesländer einheitlich. Dies macht deutlich, dass die Bedeutung der Prävention in der Gesundheitspolitik klar gesehen wird und die notwendigen Ressourcen dafür zur Verfügung gestellt werden können. Die Gesundheit der Kinder ist dadurch nachweislich verbessert worden, am besten nachweisbar an der Zahngesundheit. Krankheiten werden viel früher erkannt und rascher und zielgerichteter behandelt. Psychische Erkrankungen mit ihren Symptomen und ihren Entstehungsbedingungen und den entsprechenden Risikobedingungen sind in den Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U9 und J1 nicht ausreichend berücksichtigt. Hinzu kommt, dass die medizinische Ausbildung Ärzte mit der kognitiven, emotionalen und psychosozialen Entwicklung überhaupt nicht und Kinderärzte jedenfalls nicht ausreichend vertraut macht, um Abweichungen frühzeitig erkennen zu können. Ein Kriterium der Effizienz von Vorsorgemaßnahmen ist deren Inanspruchnahme. Für die Vorsorgeuntersuchungen ist dies gut untersucht. Das gegenwärtige Vorsorgeangebot wird in Abhängigkeit vom Alter der Kinder und der sozialen Schichtzugehörigkeit sehr unterschiedlich wahrgenommen. Einerseits sinkt die Teilnahme mit steigendem Alter deutlich (U3: 93 %, U9: 73 %, J1: 25 %), andererseits ist die Teilnahme abhängig von der sozialen Schichtzugehörigkeit. Kinder aus Migrationsfamilien und kinderreichen Familien nehmen deutlich weniger teil (z. B. für die U9 bundesweit Kinder mit mittlerem oder hohen Status: 70 %, mit niedrigem Status: 45 %).

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Der Bundesausschuss, der nach dem Sozialgesetzbuch die ärztlich angewendeten Methoden auf den therapeutischen Nutzen, den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und auf Wirtschaftlichkeit überprüft, hat den Auftrag erteilt, die inhaltlichen Richtlinien der Vorsorgeuntersuchungen U1-U9 und J1 zu überprüfen. Von kinder- und jugendpsychiatrischer Seite wurde dazu eine ausführliche Stellungnahme vorgelegt. Bei Vorsorgeuntersuchungen geht es um Früherkennung von Krankheiten, die die körperliche und geistige Entwicklung in nicht geringfügigem Maße gefährden. Bei psychischen Störungen hängen die Risiken für deren Entwicklung aber nicht nur von einer (eher kleinen Zahl) von genau definierbaren Erkrankungen des Kindesalters ab, sondern von einer Vielzahl von Belastungsfaktoren. Daher müssen zur Früherkennung von psychischen Störungen deren Bedingungsfaktoren in das Screening mit einbezogen werden. Es sind Ansätze notwendig, die die Risikofaktoren für die Entwicklung psychischer Störungen so frühzeitig wie möglich erfassen.

Literaturverzeichnis Linder, M., von Aster M., Noterdaeme M., Schlamp, D., Bandy J., von Brackel, K. (2003). Die Basisdokumentation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie: Erste Auswertungen und Erfahrungen. Psychiatrische Praxis 2003, 169-172. Pfeiffer, E., Lehmkuhl U. (2003). Bindungsstörungen. In: Herpetz-Dahlmann B. et al. (Hg): Entwicklungspsychiatrie. Stuttgart: Schattauer Verlag, 541-547. Remschmidt, H., Schmidt M., Poustka F. (2006). Multiaxiales Klassifikationsschema. 5. Auflage. Bern: Hans Huber Verlag. Spitczok von Brisinski, I., Schaff Ch., Schepker R., Schulte-Markwort M. (2006). Kinder- und jugendpsychiatrische Aspekte zur Überarbeitung der Kinderfrüherkennungsuntersuchungen U4 bis U9. Forum der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2-2006, 7-60. Spitz, R.A. (1965). The Fist Year of Life. New York: International Universities Press. Zimmermann, P. (in press). (Reaktive) Bindungsstörung im Kindesalter. In: Lauth G.W., Brack U. & Linderkamp, F. (Hg.): Praxishandbuch Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen. 2. Auflage. Weinheim: Psychologische Verlags Union.

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Günter Kampf: _________________________________________________________________________________

Früherkennung von Vernachlässigung Wie können Risiken für die kindliche Entwicklung in Kindergärten, Kinderhorten und Schulen besser erkannt werden?

- Günter Kampf -

1. Die Aufgabe: Früherkennung von Vernachlässigung Der Aufbau sozialer Frühwarnsysteme und die Förderung Früher Hilfen für gefährdete Kinder und ihre Eltern werden in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt und als Aufgabe der Gesellschaft wahrgenommen. Ein Aktionsprogramm des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (www.bmfsfj. de) zielt u. a. darauf ab, über die verbesserte Erkennung von psychosozialen Risiken und die Bereitstellung geeigneter Hilfen der Gefahr von Vernachlässigung bzw. Misshandlung entgegenzuwirken. Im Rahmen dieses Aktionsprogramms zum Schutz von Kleinkindern, zur Früherkennung von Risiken und Gefährdungen und zur Implementierung effektiver Hilfesysteme wurde im Herbst 2006 ein Projekt des Deutschen Jugendinstituts (DJI) durchgeführt, das eine Kurzevaluation von Programmen zu Frühen Hilfen für Eltern und Kinder und sozialen Frühwarnsystemen in den Bundesländern zum Ziel hatte (vgl. Helming et al. 2007). Der abschließende Projektbericht steht mittlerweile auch auf der Internetseite des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (www.bmfsfj.de) zur Verfügung. Ein zentrales Ergebnis der Studie weist darauf hin, dass ein kumulatives Zusammenspiel sowohl der Hilfepersonen als auch der mit der Hilfe befassten Institutionen für hohe Effektivität intervenierender und präventiver Hilfen entscheidend ist.

2. Die Regensburger Arbeitsgemeinschaft Gegen Gewalt an Kindern (AGGGK) Diesem Gedanken trägt die Regensburger Arbeitsgemeinschaft Gegen Gewalt an Kindern (AGGGK) seit ihrer Gründung im Jahre 1990 Rechnung. Die Arbeitsgemeinschaft ist vom Jugendhilfeausschuss der Stadt Regensburg als trägerübergreifende Arbeitsgemeinschaft gem. § 78 SGB VIII anerkannt. Der Kreis der Teilnehmer und Teilnehmerinnen 68

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kommt aus einer breit gestreuten Palette psychosozialer bzw. medizinischer Grundberufe und einer Vielzahl von Institutionen - u. a. Erziehungsberatungsstellen, Jugendamt, Kliniken, Anwaltskanzleien, Schulen, Kindertagesstätten, Fachstellen für Gewaltprävention, Straffälligenhilfe, Arztpraxen. Ihre Aufgabe als Kompetenznetzwerk sieht die AGGGK einerseits in der Erstellung, Erprobung und Umsetzung von Arbeitskonzepten - derzeit mit dem Fokus Frühprävention von Vernachlässigung - andererseits in der einzelfallbezogenen kollegialen Fachberatung. Die Früherkennung von Vernachlässigung bei Kindern im Kindergartenund Schulalter versteht die AGGGK als Teil eines sozialen Frühwarnsystems, das die Aufgabe hat, betroffene Kinder vor gravierenden Beeinträchtigungen ihrer Entwicklung zu schützen und sie bzw. ihr soziales Umfeld mit adäquaten Hilfeangeboten zu unterstützen. Die AGGGK ist daher auch in die Kampagne Kindeswürde der Stadt Regensburg eingebunden, einer im Jahr 2000 vom städtischen Amt für Jugend und Familie ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe von Ämtern und Fachstellen in Regensburg, die sich die nachhaltige lokale Umsetzung der Kinderrechte gemäß der Charta der Vereinten Nationen zur Aufgabe gemacht hat. Die in der UN-Charta definierten Kinderrechte reflektieren die kindlichen Grundbedürfnisse, deren Erfüllung mit dem Ziel einer gesunden körperlichen, geistig-seelischen und sozialen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen durch die Eltern und die Gesellschaft gewährleistet werden soll. Wird die Erfüllung der Grundbedürfnisse nicht oder nicht ausreichend wahrgenommen - z. B. durch Vernachlässigung -, kann das Wohl des Kindes gefährdet sein, da für seine gedeihliche Entwicklung Beeinträchtigungen zu erwarten sind.

3. Grundproblem Vernachlässigung Vernachlässigung als eine Form der Kindeswohlgefährdung - in der Vergangenheit oft als „Verwahrlosung“ bezeichnet - hat meist keine spektakuläre Präsenz in der Öffentlichkeit. Gleichwohl hat sie die öffentliche Jugendhilfe seit deren Bestehen ständig beschäftigt - auch heute geht noch die Mehrzahl der Jugendhilfefälle mit der einen oder anderen Variante von „Vernachlässigung“ (Definition s. u.) einher oder ist auf sie zurückzuführen. Da Vernachlässigung typischer Weise schleichend verläuft und auch die gravierenden Beeinträchtigungen, die sie nach sich zieht, erst allmählich zu Tage treten, wird sie leicht immer wieder durch auffälligere Formen der Gewalt gegen Kinder bzw. der Kindeswohlgefährdung in den Hintergrund gedrängt und in der Folge vernachlässigt.

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Günter Kampf: _________________________________________________________________________________



Definition Vernachlässigung

Kindler definiert Vernachlässigung als „andauerndes oder wiederholtes Unterlassen fürsorglichen Handelns sorgeverantwortlicher Personen, bzw. Unterlassen der Beauftragung geeigneter Dritter mit einem solchen Handeln, das für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen Beeinträchtigungen der physischen und/oder psychischen Entwicklung des Kindes führt oder vorhersagbar ein hohes Risiko solcher Folgen beinhaltet“ (Kindler, 2005a). Diese Begriffsbestimmung stellt das elterliche Handeln bzw. dessen Unterlassen in den Mittelpunkt und bezieht sich so auf die Wahrnehmung der Elternverantwortung, die auch die Kooperation mit der Jugendhilfe umfasst. •

Von Vernachlässigung betroffene Versorgungsbereiche

Die unterschiedlichen Versorgungsbereiche, die von Vernachlässigung betroffen sein können, entsprechen den kindlichen Grundbedürfnissen, die im Dienst einer gedeihlichen Entwicklung erfüllt werden müssen (vgl. Kindler, 2005a; DJI, 2006). Körperliche Vernachlässigung bezieht sich auf die mangelnde Erfüllung physischer Grundbedürfnisse, wie Versorgung mit flüssiger und fester Nahrung, Kleidung, Wohnung, sowie die Sicherstellung hygienischer und medizinischer Versorgung. Kognitive und erzieherische Vernachlässigung meint einen Mangel an altersadäquater Anregung, Spiel, Lernumfeld, aber auch fehlende pädagogisch angemessene Grenzsetzungen, die - meist bei älteren Kindern als fehlende elterliche Einflussnahme auf unregelmäßigen Schulbesuch, Delinquenz, Substanzmissbrauch u. ä. auffallen. Emotionale Vernachlässigung wird vor allem deutlich in einem Mangel an Wärme in der Beziehung zum Kind und dem Fehlen adäquater Reaktionen der Eltern auf Signale des Kindes. Unzureichende Beaufsichtigung äußert sich u. a. im langen Alleinlassen von Kindern, bzw. dem Fehlen von elterlichen Reaktionen auf längere unangekündigte Abwesenheit eines Kindes.

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Schweregrade von Vernachlässigung

Hinsichtlich der Schweregrade von Vernachlässigung ist zu unterscheiden zwischen unzureichender Fürsorge, bei der das Kindeswohl (zeitweise) nicht gewährleistet ist und dem überdauernden bzw. wiederholten und somit schwerer wiegenden Unterlassen fürsorglichen Handelns, also der eigentlichen Vernachlässigung. Erst wenn diese Intensität und Dauer vernachlässigenden Handelns gegeben sind, sind die Voraussetzungen des § 1666 BGB erfüllt, es liegt dann eine Gefährdung des Kindeswohls vor. Ein weiteres Kriterium für das Vorliegen von Vernachlässigung i. S. einer Kindeswohlgefährdung wäre ein überdauernder Mangel an Bereitschaft der Eltern zur Kooperation mit der Jugendhilfe Im Fall unzureichender Fürsorge findet sich häufig eine distanziertunengagierte Erziehungshaltung der Eltern. Die Folgen mangelnder Fürsorge können zwar erheblich sein, entsprechen aber meist im Schweregrad nicht den Folgen von Vernachlässigung. Im Kontext von Vernachlässigung lassen verschieden neuere Studien (eine Zusammenstellung z. B. bei Kindler, 2005 b) auf hohe Überlappungsraten zu anderen Formen der Kindeswohlgefährdung, wie physische und/oder sexualisierte Misshandlung, schließen. •

Häufigkeit von Vernachlässigung

Zur Auftretenshäufigkeit (Prävalenz) von Vernachlässigung in Deutschland liegen sehr unterschiedliche und teils sehr vage Angaben vor (vgl. Deegener und Körner, 2005; Rauschenbach, 2006). Verschiedene Schätzungen geben zwischen drei und 15 % (150.000 bis 750.000) der unter 7jährigen Kinder im Bundesdurchschnitt als von Vernachlässigung betroffen an. Immerhin 40 - 65 % beträgt der Anteil von Vernachlässigung in Jugendhilfestichproben (Hilfen zur Erziehung mit Anträgen gem. § 1666 BGB), ferner ist nach Kindler davon auszugehen, dass 25 - 50 % der Fälle von Vernachlässigung chronische Verläufe aufweisen (Kindler, 2005b). Es ist nicht bekannt, ob Vernachlässigung in Deutschland signifikant zunimmt, da Deutschland eines der wenigen entwickelten Industrieländer ist, die keine nationalen Statistiken zur Auftretenshäufigkeit von Kindeswohlgefährdungen führen (DJI, 2006).

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Folgen von Vernachlässigung

Allgemein zieht Vernachlässigung erhebliche Belastungen für den Entwicklungsverlauf von Kindern nach sich. Bei der Schwere der Folgen ist einerseits ein „Dosiseffekt“ zu beobachten, d. h. proportional zu Stärke und Dauer der Vernachlässigung steigt die Beeinträchtigung durch die Vernachlässigungsfolgen. Die Intensität der Folgen ist aber auch abhängig von der Position der vernachlässigten kindlichen Bedürfnisse in einer Bedürfnishierarchie (s. Abb. 1): Je „tiefer“ in der Hierarchie die vernachlässigten Bedürfnisse angesiedelt sind, um so gravierender sind die zu erwartenden Vernachlässigungsfolgen. Ferner spielt auch das Alter des vernachlässigten Kindes und der zeitliche Beginn der Vernachlässigungssituation eine wichtige Rolle: Je früher die Vernachlässigung einsetzt, desto schwerwiegender werden in der Regel auch die Folgen sein.

Abb. 1: Hierarchisches Modell kindlicher Bedürfnisse (nach Maslow)

In Deutschland sterben pro Jahr schätzungsweise vier bis sieben Kinder an den Folgen massiver Vernachlässigung (vermutlich kommt ein Mehrfaches an Kindern aufgrund chronischen Unterlassens von Beaufsichtigung und durch die Eltern zu Tode, vor allem durch Unfälle). Im Fall chronischer Vernachlässigung besteht ein erhöhtes Risiko für Beeinträchtigungen der körperlichen Gesundheit, nach epidemiologischen Befunden liegen die gesundheitlichen Risiken hier ebenso hoch wie im Zusammenhang mit Misshandlung (Kindler, 2005b).

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Früherkennung von Vernachlässigung _________________________________________________________________________________

Auch in Bezug auf die kognitive Entwicklung sind für die Gruppe der vernachlässigten Kinder deutliche Beeinträchtigungen zu erwarten, sowohl im Hinblick auf ihr Abschneiden in Intelligenztests als auch auf ihre schulischen Leistungen. Es besteht somit eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit für Verweisungen an Förderschulen. Vernachlässigung führt offenbar für die betroffenen Kinder zu erheblichen Problemen im Aufbau sicherer Bindungsbeziehungen an ihre primären Bezugspersonen und damit zu Defiziten in der sozial-emotionalen Entwicklung. Häufig sind sowohl das Selbstbild und auch die späteren Beziehungen beeinträchtigt. Entsprechend finden sich bei den Betroffenen überdurchschnittlich häufig Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit, vor allem auch nach innen gerichtete Symptome oder Störungsbilder wie Depression, Ängste und sozialer Rückzug. Im Übergang zum Erwachsenenalter besteht ein erhöhtes Risiko für Mehrfachstörungen (Kindler, 2003). •

Erfassung von Vernachlässigung

Um Vernachlässigung möglichst frühzeitig zu erkennen und geeignete Hilfeverfahren aktivieren zu können, ist es notwendig, die Bedingungen zu kennen, unter denen Vernachlässigung mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auftritt. Die entsprechenden Belastungen der Eltern können vielfältig sein, wobei Familien aber auch Risikofaktoren aufweisen können, ohne dass es zu Vernachlässigung kommt (Kindler und Lillig, 2005 c). Einzelne Risikofaktoren können z. B. sein • • • • • • • •

Armut soziale Isolation Suchterkrankung Geschichte schwerer psychischer Erkrankung jugendliches Alter der Mutter Erleben von Ohnmacht gegenüber dem Kind Partnerschaftsgewalt Geschichte eigener Misshandlung/Vernachlässigung

Die einzelnen Faktoren steigern das Vernachlässigungsrisiko unterschiedlich stark, die drei zuletzt aufgeführten Bedingungen z. B. scheinen die Auftretenswahrscheinlichkeit von Vernachlässigung um das Vierbis Sechsfache zu erhöhen.

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Auch individuelle Belastungen auf Seiten des Kindes (Behinderung, Unerwünschtheit etc.) können sich als Risikofaktoren im Sinne einer Gefährdung durch Vernachlässigung auswirken. Das gehäufte Auftreten von Risikofaktoren scheint die Wahrscheinlichkeit von Kindeswohlgefährdungen insgesamt stark zu erhöhen. Eine neuere Studie (Wu et al., 2004; zitiert bei Kindler und Lillig, 2005c) zeigt, dass in Familien, in denen zum Zeitpunkt der Geburt eines Kindes drei oder mehr Risikofaktoren vorlagen - immerhin 13% der untersuchten Gruppe -, mehr als 50 % aller in den ersten drei Jahren nach der Geburt bekannt gewordenen Misshandlungen konzentriert waren. •

Screeningverfahren zur Erkennung von Vernachlässigung

Um Vernachlässigungsrisiken frühzeitig zu erkennen, werden bei Präventionsprojekten meist selektive Verfahren verwendet, mit denen die Träger einzelner oder mehrerer Risikofaktoren identifiziert werden sollen, so genannte Screeningverfahren (vgl. Kindler und Lillig, 2005c; Deegener und Körner, 2005). Die Güte von Screeningverfahren kann man anhand ihrer Sensitivität und ihrer Spezifität einschätzen: im Dienst der Prävention von Vernachlässigung sollten aussagekräftige Verfahren möglichst zuverlässig diejenigen Fälle herausfiltern, in denen es später tatsächlich zu einer Vernachlässigung kommt (Sensitivität) und gleichzeitig Fälle, in denen dies nicht geschieht, im Voraus als Fälle mit geringem Risiko einstufen (Spezifität). Kindler und Lillig (2005 c) weisen darauf hin, dass die zur Zeit vorliegenden Daten aus Studien zur Vorhersagegüte entsprechender Screeningverfahren darauf schließen lassen, dass die untersuchten Verfahren gute Sensitivitätswerte aufweisen: zahlreiche Verfahren erkennen über 80 % der späteren Misshandlungs- bzw. Vernachlässigungsfälle schon sehr frühzeitig. Andererseits werden durch die untersuchten Verfahren aber auch sehr viele Familien, bei denen es später zu keiner Gefährdung des Kindeswohls kommt, irrtümlich der Hochrisikogruppe zugewiesen. Mit den o. g. Autoren ist allen Fachkräften in der Praxis ein sehr besonnener und vorsichtiger Umgang mit Screeningverfahren zu empfehlen. Es sollte alles getan werden, um die Diskreditierung aller potenziell Betroffenen (“Generalverdacht“) zu vermeiden, des Weiteren ist es wünschenswert, mit Hilfe einer möglichst präzisen Diagnose den Einsatz von Jugendhilfemaßnahmen zielgenau zu steuern, also genau dort Hilfe zu leisten, wo dies erforderlich ist.

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Riskante Kindheit

Früherkennung von Vernachlässigung _________________________________________________________________________________



Früherkennung von Vernachlässigung in Kindergarten, Hort und Grundschule

Neben der im Aktionsprogramm des Bundes zum Schutz von Kleinkindern und zur Früherkennung von Risiken und Gefährdungen besonders hervorgehobenen Zielgruppe der Null- bis Dreijährigen müssen nach Auffassung der AGGGK auch Präventionsansätze für die Zielgruppen der Kinder, die einen Kindergarten besuchen, sowie der Schülerinnen und Schüler in den Grundschulen erarbeitet und umgesetzt werden. Dies empfiehlt sich auf Grund der Tatsache, dass die allermeisten (in Regensburg 98 %) der Drei- bis Fünfjährigen in Kindertagesstätten und Kindergärten betreut werden und alle Kinder im Schulalter öffentliche und private Schulen besuchen. Ein Teil der Grundschulkinder (bei uns ca. 20 %) besucht zusätzlich Einrichtungen der Nachmittagsbetreuung (Horte etc.). Das pädagogische Personal in Schulen und Tagesbetreuungseinrichtungen erreicht also so gut wie lückenlos alle Kinder im Alter von drei bis ca. zehn Jahren und eignet sich unter dem Aspekt des umfassenden Zugangs zur Zielgruppe als Multiplikatorengruppe.

4 Maßnahmen des modularen Qualifizierungsangebots der AGGGK In den letzten Jahren hat die AGGGK ein Maßnahmenpaket entwickelt, mit dem über die Arbeit mit den Multiplikatoren und Multiplikatorinnen aus Kindergärten, Horten und Schulen drei Ziele erreicht werden sollen: • • •

Schärfung der Sensibilität für Vernachlässigung Steigerung der Kompetenz bezüglich Vernachlässigung Förderung der Kooperation im Netzwerk der Jugendhilfe

Diese drei Ziele beschreiben sowohl eine individuelle Entwicklungsaufgabe als auch eine Aufgabe der Teamentwicklung: Über die Schärfung von Eigen- und Fremdwahrnehmung und den Erwerb einer verlässlichen Basis von Informationen sollen Prozesse der individuellen und gemeinsamen Übernahme von Verantwortung für den Schutz von Kindern begünstigt und optimiert werden. Ein erstes Modul bildet die Information durch Broschüren für Fachkräfte aus der Kindertagesbetreuung (Kindergärten, Kindertagesstätten, Kinderhorte) und Grundschulen. Hierzu wurden für den Bereich der Tagesbetreuung von Vorschulkindern und Schulkindern zwei entsprechende

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Günter Kampf: _________________________________________________________________________________

Handreichungen entwickelt, die den Fachkräften grundlegende Informationen und Arbeitshilfen zum Thema bieten, einschließlich speziell erarbeiteter Beobachtungsbögen. Die beiden Handreichungen stellen erfahrungsgemäß auch für sich genommen brauchbare Arbeitshilfen für die Fachkräfte dar. Sie können unter folgender Adresse bezogen werden: Jugend- und Familientherapeutische Beratungsstelle der Stadt Regensburg, Ostengasse 35, 93047 Regensburg. Tel.: 0941/507 2762. Email: [email protected] Im Konzept der AGGGK wird der Einsatz der Broschüren sinnvoll ergänzt durch Fortbildungseinheiten für die entsprechenden Zielgruppen. Diese Fortbildungsmodule dienen dazu, den Teilnehmern und Teilnehmerinnen die Möglichkeit zu geben, die wesentlichen Inhalte der Broschüren vertiefend erarbeiten. Die so vermittelten Informationen werden durch Selbsterfahrungselemente erweitert und ergänzt, um auch der persönlichen emotionalen Auseinandersetzung mit dem Thema Vernachlässigung Raum zu geben. Weitere wesentliche Bestandteile des Fortbildungskonzepts sind die Erarbeitung von effektiven Ansätzen der entsprechenden Elternarbeit sowie die Darstellung von Interventions- und Hilfemöglichkeiten des örtlichen Jugendamtes durch eine Mitarbeiterin des Sozialpädagogischen Fachdienstes. Gerade der Kooperation mit diesem Bereich des Jugendamts kommt im Hinblick auf die Umsetzung des Schutzauftrages in der Jugendhilfe (insbesondere gemäß § 8a SGB VIII), die eine gut strukturierte und funktionale Vernetzung möglichst aller beteiligten Fachkräfte voraussetzt, besondere Bedeutung zu. Um mehr Sicherheit und Kontinuität in der Befassung mit dem Phänomen Vernachlässigung zu vermitteln, wird in den Broschüren, und in verstärktem Maß auch in den Fortbildungsveranstaltungen, die Beobachtungspraxis in den Einrichtungen angesprochen. Zur Erleichterung einer möglichst objektivierbaren und nachhaltigen Beobachtungspraxis wird ein Beobachtungsinstrument in Form einer Checkliste vorgestellt und dessen praktische Verwendung im Alltag der Einrichtungen erläutert. Ein Exemplar des Beobachtungsbogens liegt jeder der oben erwähnten Broschüren als Kopiervorlage bei. Der Bogen ist inhaltlich in vier Beobachtungsbereiche gegliedert: • 76

Erscheinungsbild (physisch/psychisch) Riskante Kindheit

Früherkennung von Vernachlässigung _________________________________________________________________________________

• • •

Entwicklungsstand (sozial/kognitiv) Familiäre Situation (Risikofaktoren) Interaktion zwischen Eltern und Kind

Eine detaillierte Anleitung zur Verwendung des Beobachtungsinstruments in den Einrichtungen ist ebenfalls enthalten, diese Handanweisung wird den Fachkräften in den Fortbildungsveranstaltungen in vertiefter Form vermittelt. Der Beobachtungsvorgang wird durch die Handreichung als systematische Prozessdiagnostik (systematisierte Beobachtung durch möglichst zwei Fachkräfte über einen Zeitraum von ca. 2 Monaten) definiert, mit deren Hilfe auch „schleichende“ Verläufe erfasst werden sollen, wie sie gerade für Vernachlässigung typisch sind. Gleichzeitig ermöglicht die Anwendung der Beobachtungsbögen eine Nutzung der Aufzeichnungen für die kontinuierliche Falldokumentation, die ggf. als Teil eines integrierten Verfahrens zur Umsetzung des gesetzlichen Schutzauftrags im Netzwerk der Jugendhilfe erforderlich ist. Die zentrale Rolle der Netzwerkarbeit wird sowohl in den Broschüren als auch in den Fortbildungsangeboten hervorgehoben. Netzwerk meint hier einerseits die kollegialen Teams innerhalb der Einrichtungen, andererseits auch die Kooperationspartner außerhalb der Bildungs- und Betreuungsinstitutionen, v. a. in den Jugendämtern. In den Teams innerhalb der Einrichtungen stehen dabei die Abklärung von „Verdachtsfällen“, Möglichkeiten der Elternarbeit und die eventuelle Einbeziehung Außenstehender im Vordergrund. In der vernetzten Arbeit mit Fachkräften der Jugendämter müssen zunächst die vom Gesetzgeber und vom Träger vorgegebenen Verfahren (Schutzauftrag des SGB VIII; Dienstanweisungen u. ä., Datenschutzregelungen) bekannt sein und beachtet werden, daneben sind wechselseitige Informationen und Verständnis in Bezug auf die Arbeitsfelder der Kooperationspartner bedeutsam. Neben den inhaltlichen Aspekten der Zusammenarbeit sind auch Beziehungsaspekte zu berücksichtigen, wenn die Kooperationspartner durch eine „Zusammenfassung verschiedener Datenquellen“ (vgl. Deegener und Körner, 2005) auch unter Verwendung unterschiedlicher Methoden zu verlässlichen Ergebnissen hinsichtlich einer Gefährdungseinschätzung beitragen sollen.

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Ausblick: Evaluation des Qualifizierungsangebots der AGGGK zum Thema Vernachlässigung Gegenwärtig wird in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Regensburg1 eine Evaluationsstudie zum Fortbildungsangebot der AGGGK für das Personal in städtischen Kindergärten und Kindertagesstätten durchgeführt. Wir erwarten Ergebnisse zu den Auswirkungen des Qualifizierungsangebotes: Zum einen erhoffen wir uns natürlich eine höhere Sensibilität der Fachkräfte in der institutionellen Erziehung. Zum zweiten wird zu prüfen sein, wie die Fachkräfte im Falle des Verdachts auf Vernachlässigung vorgehen. Da aber auch nicht auszuschließen ist, dass die Fachkräfte nach der Qualifizierung vermehrt und vor allem nicht sachgerecht bei Eltern Vernachlässigung vermuten, muss drittens geprüft werden, ob die Zahl der „falschen Fälle“ ansteigt. Wir erhoffen uns natürlich durch eine fachlich fundierte Qualifizierung, dieses Risiko gering gehalten zu haben. Nicht zuletzt dient die Evaluation der Überprüfung der gesamten Fortbildungskonzeption.

1

Die Evaluation wird von der Diplomandin Anita Scheitinger unter Anleitung von Prof. Dr. Buchholz-Graf (Fakultät für Sozialwissenschaften der Fachhochschule Regensburg) durchgeführt.

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Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2007). Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme. Bekanntmachung zur Förderung von Modellprojekten sowie deren wissenschaftlicher Begleitung und Wirkungsevaluation vom 07.02.2007. Textdownload: www.bmfsfj.de Deegener, G. & Körner, W. (2005). Vernachlässigte Vernachlässigung. In. Kindesmisshandlung und –vernachlässigung, Heft 2/2005, 82-111. Deutsches Jugendinstitut (2006). Kindesvernachlässigung früh erkennen - früh helfen. Thema 2006/03. Textdownload: www.dji.de/cgibin/projekte/output.php?projekt=556 Helming, E., Sandmeir, G., Sann, A. & Walter, M. (2007). Kurzevaluation von Programmen zu Frühen Hilfen für Eltern und Kinder und sozialen Frühwarnsystemen in den Bundesländern. Abschlussbericht. München: DJI Kindler, H. (2003). Vernachlässigung in der Wohlstandsgesellschaft. Sozialemotionale Vernachlässigung im Schnittpunkt struktureller und psychischer Gewalt. Vortrag beim Fachforum „Vernachlässigung von Kindern – ein vernachlässigtes Thema“ in Regensburg. Unveröffentlichtes Manuskript. Kindler, H. (2005a). Was ist unter Vernachlässigung zu verstehen? In. Kindler, H., Lillig, S., Blüml, H. & Werner, A. (Hg): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD).Textdownload: http:://213.133.108/asd/13.htm Kindler, H. (2005b). Was ist über die Folgen von Vernachlässigung bei Kindern bekannt? In. Kindler, H., Lillig,S., Blüml, H. & Werner, A. (Hg): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD).Textdownload: http:://213.133.108/asd/13.htm Kindler, H. & Lillig, S. (2005c). Früherkennung von Familien mit erhöhten Misshandlungs- oder Vernachlässigungsrisiken. IKK-Nachrichten, Heft 1-2/2005, 10-13. Rauschenbach, Th. (Hg.) (2006). Kevin. Bremen. Und die Folgen. Daten zu Kindesvernachlässigung und staatlichen Hilfen. KomDat - Informationsdienst der Dortmunder Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJ). Sonderausgabe Oktober 2006. Werner, A. (2005). Was brauchen Kinder um sich altersgemäß entwickeln zu können? In. Kindler, H., Lillig,S., Blüml, H. & Werner, A. (Hg): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD).Textdownload: http:://213.133.108/asd/13.htm

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Autorenverzeichnis _________________________________________________________________________________

Autorenverzeichnis Buchholz-Graf, Wolfgang, Dr.: Professor an der Fachhochschule Regensburg, Fakultät für Sozialwissenschaften Gerber, Christine: Diplom-Sozialpädagogin, Diplom-Betriebswirtin (VWA), Stadtjugendamt München, Abt. Kinder, Jugend und Familie, Freiberufliche Referentin zum Themenschwerpunkt Kinderschutz Kampf, Günter: Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Leiter der Jugend- und Familientherapeutischen Beratungsstelle der Stadt Regensburg Linder, Martin, Dr. med.: Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie; Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Regensburg Nitsch, Michael: Diplom-Sozialpädagoge und Familientherapeut, Leiter des Kinderschutzzentrums München Srdinko, Petra, Dr. med.: Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie; Stellv. ärztliche Leiterin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Regensburg Tischler, Günter: Leiter des Amtes für Jugend und Familie der Stadt Regensburg

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