nun soll es werden frieden auf erden

December 18, 2017 | Author: Thomas Gerber | Category: N/A
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1 Dietrich Steinwede nun soll es werden frieden auf erden Weihnachten Geschichte, Glaube und Kultur Patmos2 3 Inhalt Zur...

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Dietrich Steinwede

nun soll es werden frieden auf erden Weihnachten Geschichte, Glaube und Kultur

Patmos

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Inhalt

Zur Einführung 9 Ankunft 15

menschenkind – gotteskind 17

heil der welt – der heiland 47

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Vorahnung in der Hebräischen Bibel 17

Ein »Heiland« in Rom – Die Pax Romana 47 Ein politisches Evangelium – Die Kaiserinschrift von Priene 48 Der »Heiland« Christus – Die Pax Christiana 50

Jesaja – Prophet der Hoffnung 17 Jesaja – Prophet des Friedens, Prophet der Weihnacht 18 Der Menschensohn in der antiken Welt 20

Wer war dieser Jesus? 21 Er lebte unter Tiberius und Pontius Pilatus 25 Wie sehen ihn Juden heute? 30 Er kam zu Tode 31 Er wurde »gesehen« 32 Er wird zum »Christus« der Christen 34 Er wird zum Gottes-Sohn 36

die weihnachtsbotschaft des neuen testaments 52 -----------------------------------------------------------Lukas – Theologe, Historiker, Schriftsteller 53 Die lukanischen Weihnachtserzählungen 57

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Die Ankündigung der Geburt des Johannes 58 Die Ankündigung der Geburt Jesu 59 Der Engel Gabriel bei Maria 60 Maria und Elisabet 60

Sonnengottheiten 39

Verkündigung an Maria 63

Christus – der neue Helios 40 Christus – der neue Sol 41 Und leuchtet als die Sonne in seiner Mutter Schoß 43 Und leuchtet als die Sonne – vor Gott 44

Nicht, dass ein Engel eintrat 64 Das leidenschaftliche Lied der Maria 66

Die göttliche Sonne 39

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Als aber die Zeit erfüllt war 69

Die Geburt 69 Mysterium der Menschwerdung 70 Nativitas Domini 72

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Der römische Census 74 Seht Betlehem dort 77

Geheimnis der Höhle 78 Domus panis – Haus des Brotes 79

Das vierte Evangelium 134 Das Wort 135 Das Licht 138

Und wickelte ihn in Windeln 80 Ochs und Esel 82 Verkündigung an die Hirten 85

die entstehung der christlichen weihnachtskultur 140

Der Friede euch – Gott in der Höh die Ehre 86

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Die Stunde der Engel 89

Die Anfänge 140

Nomaden 94 Uns sind die Augen aufgegangen 95

Verfolgungen 140 Erlaubte Religion 141 Aufblühende christliche Weihnachtskultur 143 Erste Hymnen der Weihnacht 145

Gottesmutter Maria 96

Legenden aus den Legenden 147

Zweimal Maria – Das Engelskonzert in Isenheim 96 Maria aber bewahrte all diese Worte 98 Und da acht Tage um waren 99 Geburt aus der jungen Frau – aus der Jungfrau 100 Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist 103 Die neue Eva 105 Die Zeugin des Absoluten 107

Josef findet Maria schwanger 148 Josef, seine Söhne und Maria 152 Jesus wird geboren – Stillstand der Natur 154 Zwei Hebammen 155 Die Visionen der Birgitta von Schweden 157 Vom Kind aber gingen Strahlen aus 159

Matthäus – Sachwalter der Hebräischen Bibel 108

das fest der feste 163

Die Weihnachtsgeschichte des Matthäus 110 Sternbeobachtung – Astronomie 112 Sterndeutung – Astrologie 113 Die Christen und der Stern 114 Erst Magier, dann Könige 116 Dreikönigsritt 119 Die Schätze der Völker bringen sie dir 122 Und in einem Traum 123

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Träume Josefs 125 Gefahr für das Kind 127

Das Epiphaniasfest 171 Die Musik der Weihnacht 174

Wo ist der neugeborene König? 127 Und sie flohen nach Ägypten 128 Mord an Kindern 130 Rückkehr aus Ägypten 132

Es kommt ein Schiff, geladen 174 Singt Fried den Menschen weit und breit 176 Ein Lied von Menschen und Engeln vernehme ich 177 Psallite 178 Stille Nacht, heilige Nacht – Ein Lied, das um die Welt geht 180

Kommet, ihr Hirten 92

Johannes – Prediger des Lichtes 133

Weihnacht – ganz nahe 163

Ein ganzes Haus weihnachtet sehr 163 Vom Wort »Weihnacht« 164 Christ-Baum – Lebensbaum 164 Wie Franziskus Weihnachten feierte 168 Das neue Betlehem 168

Der Weihnachtshymnus 133

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christgeburt in den kulturen 183 ----------------------------------------------------------------Bei den armenischen Christen 183 Bei den äthiopischen Christen 184 Bei schwarzafrikanischen Christen 185 Bei indonesischen Christen 187 Bei Christen in Lateinamerika 188 Bei den Muslimen 189 Bei den Hindus 190 Bei den Buddhisten 191

der schalom der weihnacht 193 ----------------------------------------------------------------Das Schalom-Weihnachtsbild des Sandro Botticelli 193 Der Gott in Menschverlassenheit – Der Mensch in Gottverlassenheit 196

Hundert Herodes, tausend 196 Kriegs-Weihnacht 1914–1918 197 Kriegs-Weihnacht 1939 – 1945 198 Das Friedens-Antlitz des 20. Jahrhunderts 200

Der gelbe Judenstern 201 Homines bonae voluntatis 203

Die Welt wird auf den Kopf gestellt 203 Der Engel des Friedens 203 Dunkle Könige 207 Das Wort der Weihnacht 207 Eine Geschichte - einfach und streng 209 Ein Bild – einfach und streng 210 Heut schließt er wieder auf die Tür 212 Und es war, wie es sein wird 213

Bildnachweis 215 Textnachweis 215 Autor 216

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Zur Einführung

Fest der Feste Ein Gegner des Festes sagte: »Weihnachten muss man stark sein, sonst macht man am Ende noch mit« (Georg Kreisler). Das mag wohl zutreffen angesichts der inneren Wahrheit, der immer noch geheimnisvoll verwandelnden Kraft dieses Festes. Aber auch die, die mitmachen, müssen stark sein, denn es gilt, dem Trend zur umfassenden Vermarktung dieser 1700 Jahre alten Festtradition zu widerstehen. »Weihnachten, das Fest des Trostes, das Fest der großen Einfachheit Gottes, ist weithin der große Betrug des Menschen geworden«, klagt der Dichtertheologe Wilhelm Willms. Und nicht von ungefähr bekennt der Dominikaner Frei Betto, hoher kritischer Repräsentant seiner Kirche in Brasilien: »Ich glaube weder an den Gott des Weihnachtsrummels noch an den Gott der eingängigen Werbung: Der Gott meines Glaubens wurde in einer Höhle geboren. Und er war Jude.« »Geboren im jüdischen Land.« Dort liegt der Ursprung. Und heute?: Weihnachten ist ein Fest, das auf dem ganzen Planeten wahrgenommen (berücksichtigt) wird. Eine seltsame Wirkung geht (immer noch) aus von dem Kind in Betlehem: Intensiver als im Jahr sonst gedenkt man allüberall der Hungernden, Obdachlosen, Kranken, Gefangenen. Man zeigt Solidarität. Niemals sind bei uns die Kollektenteller der Kirchen reicher gefüllt als am Heiligen Abend im Volksgottesdienst

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der vielen. Kein Kirchenlied wird inbrünstiger gesungen als »Stille Nacht«. Friedvoll geben sich die Politiker auch »nichtchristlicher« Staaten. Amnestien werden erlassen, gelegentlich auch Kriegshandlungen unterbrochen. »Schalom« (»Friede Gottes«, »Gerechtigkeit«) scheint – wenn auch nur für wenige Tage – ein Wort für jedermann. Und dann die Bräuche: In den christlich geprägten Ländern Europas und Amerikas werden sie – überall unterschiedlich – weiter gepflegt. Bei uns ist es das Einanderbeschenken, fast immer die Tradition des Baumes; es sind traute Atmosphäre, brennende Kerzen, Weihnachtsmusik, erlesenes Essen. Und es ist lebendige Volkskultur: Die Weihnachtsmärkte mit ihrem (noch) unvergleichlichen Zauber, Weihnachtskonzerte und Weihnachtsspiele, adventlich/weihnachtliches Backen, Basteln, Singen, Erzählen in zahllosen Kindergärten, Schulen, Familien. Es ist der Adventskranz, das Transparent und nicht selten auch noch die Krippe unter dem Baum. Und es ist im Dunkel der Winterzeit die Sehnsucht: Einmal im Jahr wirklich zur Besinnung kommen, bewusst Licht wahrnehmen, in Geborgenheit und Stille nachsinnen über das Heilsein, das Heilen, das Heil. Sehnsucht ist es auch nach dem ganz anderen, dem Neuen, das revolutioniert, nach dem neuen Äon, einem besseren, friedvoll erfüllten Zeitalter.

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Und bei manchen, nicht selten bei Christen, die außerhalb der Amtskirche stehen, ist es die Besinnung auf den Ursprung des Festes, die Erinnerung an die Geburt jenes Kindes von Gott, ein Vordringen zu den Wurzeln. Dieses Buch will an die Anfänge neu erinnern, über alles Vordergründige hinaus das Fest neu wahrnehmen, damit einer gewissen Ratlosigkeit, wie man denn recht feiern solle, begegnen. Es will Geschichtliches – gelegentlich überraschend – aufzeigen, Theologie erhellen und vertiefen, den vielfach verschütteten Reichtum christlicher Weihnachtskultur wieder aufdecken. Dies geschieht vor allem auch in den Bildern, viele davon in theologisch eigenwilliger Deutung von hoher Aussagekraft, viele selten, ja kostbar, frühe Zeugnisse der Katakombenmalerei und Sarkophagskulptur darunter, ebenso wie Werke der Buch- und Tafelmalerei, der Bildhauerkunst des frühen, des hohen, des späten Mittelalters. Aber auch Beispiele der Neuzeit, der Gegenwart. Keine Idylle sind diese Bilder, vielmehr Programm. Sorgfältig wurden sie gewählt, interpretiert, eingebunden in den jeweiligen Zusammenhang, so dass sie oft konstitutiv sind für den sachlichen Fortgang. Geschichte »Die geschichtlichen Vorkommnisse sind keine trügerischen Schattenbilder«, sagte der frühchristliche Kirchenlehrer Origenes bereits im 3. Jahrhundert im Hinblick auf Leben und Geburt des Jesus aus Nazaret. Geschichtlich ist die Geburt Jesu im Jahr 7 vor der Zeitenwende, der römisch/ syrische Census (als erster Akt einer Steuereintreibung) in Palästina im Jahr 7 v. Chr., die Konjunktion von Jupiter und Saturn im Sternbild der Fische ebenfalls im Jahr 7 v. Chr., errechnet von antiken Astronomen und von Johannes Kepler 1604 bestätigt. Geschichtlich ist die Überwindung des Weltenheilandes Augustus (griech. Soter = Retter) durch den Gottesheiland Christus

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(Soter), die Ablösung der Pax Romana durch die Pax Christiana. Geschichtlich ist ohne jeden Zweifel der Mann aus Nazaret, der sich »Menschensohn« nannte, den erst die Jünger, die Gemeinden nach Ostern zum Messias (= Christus = gesalbter König von Gott) erhoben, weil ihnen deutlich geworden war, dass sich hinter der Bezeichnung »Menschensohn« das göttliche Geheimnis Jesu verborgen hatte. Geschichtlich ist seine Geburt, ganz unbekannt, irgendwo in Palästina (vielleicht in Nazaret), zu Anfang ohne jede weltgeschichtliche Bedeutung. Geschichtlich ist seine Mutter Maria, eine einfache jüdische Frau, die auf natürliche Weise empfing und gebar, die neben Jesus andere Kinder hatte, die bei seiner Geburt in Kindesnöten schrie, die ihn säugte, ihn wie üblich wohl auch fest mit Leinenbinden umwickelte, die ihn vielleicht, wenn er denn in Betlehem geboren wurde, von einer tiefergelegenen Höhle in den Stall zu den Tieren hinauftrug – aber hier vermengen sich bereits Historie und Legende. Geschichtlich ist, dass die Mutter Jesu später emporgehoben wurde zur »unbefleckten« Jungfrau der Geistempfängnis, zur Gottesgebärerin, zur Himmelskönigin, zur gnadenreichen Frau der Altäre. Das war, nachdem die Theologen, z. B. Lukas, begonnen hatten, sich der Sache anzunehmen, nachdem die Ur- und Nachfolgelegenden, die mit ihren Überhöhungs-, ihren Wundertendenzen jeweils spezifische Ziele verfolgten, entstanden waren. Geschichtlich ist, dass Jesus aufgrund seiner Menschenliebe, seines Aufrufs zum Frieden, seiner ungewöhnlichen Gotteslehre, seiner Unbedingtheit zu Gott längst eine weltgeschichtliche Autorität geworden ist. Jüdische Theologen akzeptieren ihn als großen Bruder ihres Volkes. Muslime sehen in ihm – sie nennen ihn Isa – einen bedeutenden Propheten. In vielen Kulturen dieser Welt wird sei-

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ne Geburt dargestellt. Und denen, die sich nach ihm glaubwürdig Christen nennen, ist er der Verheißene Gottes, Zentrum ihres Glaubens, »Stern« ihrer Hoffnung. Theologie Geschichtlich ist, dass Lukas, Matthäus und Johannes (jeder anders) über die Geburt geschrieben haben. Aber was sie schrieben, das ist Theologie. Von ihnen als Personen wissen wir nur das, was sich aus ihren Evangelien (bei Lukas auch aus der Apostelgeschichte) erschließen lässt. Und das ist wenig. Ihre Theologie (Christologie) indes ist abzulesen: Lukas inszeniert seine (auf Vorlagen beruhende) Geburtslegende – Legenden als Sprachform enthalten innere Wahrheit, verdichten Historisches – um der Überbietung willen, einmal gegenüber dem Täufer Johannes (der ist Vorläufer), zum anderen gegenüber dem Caesar Augustus in Rom. Jesus ist für Lukas schon von Anfang an der Christus, ein Christus-Kind von Ostern her, geboren von einer Jungfrau, damit vergleichbar den jungfrauengeborenen Göttersöhnen seiner noch ganz den antiken Götterkulten verhafteten Umwelt. Gegenüber dem »Heiland« Augustus wird dieser Christus dann vom Engel Gottes Hirten, den Ärmsten der Armen, als der wahre Weltenheiland und Retter proklamiert. Lukas tut ein Übriges: Er lässt auch noch Engelscharen (es handelt sich um den alttestamentlichen Hofstaat Gottes) im Chor ein himmlisches Gloria und irdischen Frieden verkünden. Die Nutzung übernatürlicher Mittel ist ihm geläufig. Geschichtlicher Anknüpfungspunkt seiner Legende ist dabei neben dem Caesar Augustus in Rom der nicht unbedeutende syrische Statthalter Quirinius, der den römischen Census in Palästina zu verantworten hatte. Im aufstrahlenden Lichtglanz göttlicher Ewigkeit lässt Lukas die Geburtsproklamation sich vollziehen. Das ist weitaus mehr, als

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man über die Geburt des Octavian Augustus zu erzählen wusste. Matthäus, dem die alttestamentlichen Vorankündigungen soviel bedeuten, bei dem Maria und Josef von vornherein in Betlehem wohnen – der Ort ist durch die Verheißung des Propheten Micha (Micha 5,1) als Geburtsort des Messias legitimiert –, sieht das Kind als den neuen Mose (auch der alttestamentliche Mose wurde von Kindestötung bedroht), er sieht es von Jesaja her als den neuen König auf Davids Thron. Der Kosmos kommt bei ihm in Spiel, und Völker der Welt nehmen den neugeborenen König der Juden wahr. Nichtjuden aus ferner Fremde, Magier, SternDeuter des Ostens, setzen sich nach ihren astronomisch-astrologischen Ermittlungen in Bewegung, in Palästina den endzeitlichen Friedenskönig zu finden. Mit ihrem Weg, ihrer Huldigung, ihren Gaben repräsentieren sie zugleich Ankündigungen der Hebräischen Bibel: »Nationen machen sich auf von den Enden der Erde, ihn zu sehen« (Jesaja 11,10). »Dieser König soll leben. Man bringe ihm das Gold von Saba. Man bete jetzt für ihn. Man wünsche ihm alle Tage Segen« (Psalm 72,15). Und dann Johannes, der in seinem Weihnachtshymnus vom präexistenten Christus her denkt, von einem Christus als Logos (Wort), der, von Anfang an bei Gott, sich aus der göttlichen Sphäre löst, um Licht in die dunkle Welt zu bringen. Zwei Legenden und ein Hymnus, seltsam, darauf beruht das größte Fest des Christentums, das eines der bedeutendsten religiösen Phänomene der Menschheitsgeschichte ist. Zwei Legenden, in unterschiedlichen Farben gemalt, und ein Hymnus – und eine Welt ist in Bewegung gesetzt. Kultur »Der Punkt, an dem alle Farben und Kulturen zusammentreffen, ist da, wo Gott

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Zwischen den weihnachtlichen Zentralorten Jerusalem (links) und Betlehem (rechts) halten zwei Engel das Sonnenrad

ein verwundbares menschliches Wesen wird« (Hans-Ruedi Weber). »Das Fest der Geburt Christi übertrifft alle anderen christlichen Feste an Resonanz in den künstlerischen Medien.Vor allem in den Klängen, den Worten und Bildern früherer Zeiten verbergen sich dabei verschlüsselte Aussagen, Symbole, die den Menschen der Moderne nicht mehr bewusst sind« (Edith Neubauer). »Mag die geistige Kultur nun immer fortschreiten, mögen die Naturwissenschaften in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachsen, und der menschliche Geist sich erweitern, wie er will, über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums, wie sie in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen« (Johann Wolfgang von Goethe, Gespräche mit Eckermann, 11.3.1832). Ein Beispiel: In Sandro Botticellis »Mystischer Geburt«, gemalt im Jahr 1500 (siehe S. 195 sowie den Ausschnitt auf dem Einband), sind Geschichte, Glaube und Kultur des Weihnachtsfestes eng miteinander verwoben: Das Bild steht u.a. – für die Verbindung von Transzendenz und Immanenz: Gott kommt auf die Erde, unfasslich, – für die Friedenssehnsucht eines einzelnen (der Maler Botticelli wünscht sich nach den Florentiner Wirren um den exzentrischen Dominikanermönch Savonarola nichts sehnlicher als ein Reich des Friedens in seiner geliebten Heimatstadt), – für die innere Gewissheit, dass vor dem

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göttlichen Frieden der Weihnacht das Böse keinen Bestand hat (der Weg zur Krippe ist offen) und – für den weltverändernden Wandel, den die Geburt des Friedensstifters zu bewirken vermag. Altes, Gängiges wird auf den Kopf gestellt. Zeichen dafür: Menschen und Engel umarmen und küssen einander. Text der Texte Die Weihnachtsgeschichte des Lukas, der bekannteste Text der Weltliteratur, ist ein Text, der im Sinne Ernst Blochs nicht in abweisender Ferne belassen, aber auch nicht dem Hier und Jetzt unterstellt sein will, vielmehr ein Text, der derart zu übersetzen ist, dass er die jeweilige Gegenwart trifft und mitdeutet; ist also ein Stück Prosa, »das nicht gelassen nacherzählt, sondern parteiisch, betroffen, subjektiv, sanft und zornig ausgemalt werden will, gut Lutherisch also, oder gut Brechtisch« (Walter Jens). Menschheitsgeschichte ist »aufgehoben« in diesem Text (und dem zugeordneten Fest). Seine weltweite Ausstrahlung ist einmalig. Nicht zuletzt deshalb haben andere Religionen sich der Christgeburt in ihrem eigenen kulturellen Kontext angenommen. »Ich glaube, dass es höchste Zeit ist, Jesus in eine Brücke der Versöhnung zu verwandeln, um zu jenem Schalom zu führen, der nicht nur ein Leitmotiv der Lukastradition ist, sondern auch die große Sehnsucht unserer verängstigten Menschheit« (Pinchas Lapide). »Unter ihm soll Friede sein«, heißt es im

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Christi mit dem sechsstrahligen Stern. Mosaik aus der Apsiswand von San Vitale in Ravenna. Um 550.

Brief an die Gemeinde in Kolossä (1,20), »ein Friede, den er gestiftet hat. Dieser Friede umfasst die Menschen auf der ganzen Erde.« Es ist ein Friede der Herzen, unbegreiflicher göttlicher Friede, der hier ersehnt wird. Allen Menschen ist er zugesprochen, auch denen, die sich nicht in einem Glauben gebunden wissen. Es ist ein tiefer, tragender Friede. »Et in terra pax«, gewiss einer der zentralsten Sätze der Bibel, ist Wort aller Völker, aller Hautfarben und Religionen dieser Welt. Gemeint ist ein »Frieden ohne Ende« (Jesaja 9,6), Friede als Heilwerden, Heilsein der ganzen Menschheit, utopisch vielleicht, aber im Sinne einer Realutopie, an der festzuhalten ist, weil sie alle Menschen guten Willens zu einen vermag. Weihnachten »Er hat unter uns gewohnt« (Evangelium des Johannes 1,14). Das bekennen Christen. »Und er wird kommen«: Weihnachten als Traum, als Traum der Zukunft, der Wiederkunft dessen, der als Kind geboren wurde vor 2000 Jahren. Weihnachten als jene Zeit, da der »Nachkomme Isais als Zeichen dastehen wird, weithin sichtbar für alle Völker« (Jesaja 11,10). Weihnachten, solange es diese Legenden gibt und Menschen, die Wunder, Stern und den Lichtglanz Gottes auch vor den Schrecknissen einer jeweiligen Gegenwart nicht vergessen, Menschen, die zusammen mit diesen Legenden ernst sein können, kritisch und gelassen, die mit ihnen zu lächeln vermögen und zu hof-

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fen, dass eine Zeit begann, die nie mehr aufhört. Weihnachten, Tag der neuen Sonne, die von Ostern her leuchtet. »Denn die Finsternis vergeht, und das wahre Licht scheint jetzt« (1. Brief des Johannes 2,8). Weihnachten: Tag des Christus-Sol, dessen Geburtstag am 25. Dezember jenes Jahresfest des unbesiegten Sonnengottes der Römer, des Sol invictus, abgelöst hat. Weihnachten, das Fest des Friedens, der höher ist als alles Denken, tiefer als alle Angst, jenes Friedens, der den alten Simeon ruhig (in pace) sterben lässt, denn seine Augen haben den Heiland gesehen. Weihnachten: »Der Herr, der sich offenbart im Kleinsten wie in den Galaxien, den unermesslichen, gab ein Signal in die Nacht: die Geburt seines Boten« (Richard Münch). Weihnachten: »Ich fasse keinen anderen Gott als den, der in jenem Menschen ist, der vom Himmel kam. Ich fange bei der Krippe an« (Martin Luther). »Alles freue sich des kommenden Weltenjahrhunderts« (Vergil, vierte Ekloge). Jenseits aller Kalenderdaten gilt es an der Schwelle des 3. Jahrtausends Hoffnung zu wecken auf den kommenden, den neuen Äon, in dem die sanfte Gewalt von Betlehem sich Bahn bricht, »damit aus guten Vorsätzen gute Werke werden, aus Stein Brot, Obdach, Segen« (István Szamoskösi). Dietrich Steinwede

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El Greco, Knabe, der eine Kerze entzün­ det (1570/72). Museo Nazionale di Capodi­ monte, Neapel El Greco (spanisch »Der Grieche«), eigentlich Domini­ kos Theotokopulos (1541–1614), der geniale Manierist aus der zweiten Hälfte des 16. Jahr­ hunderts, zeigt in seinem Knaben auf dunklem Hinter­ grund, der vom Licht der Kerze, die er gerade entzündet, angestrahlt wird, ein Symbol all dieser Lichtsehnsucht im Dunkel. Hohe Inten­ sität liegt in dem ganz einfachen Vorgang

So, wie die römische Antike einem endzeitlichen Weltenherrscher entgegenharrte, so, wie die Juden noch heute auf den Messias warten, so ist den Christen die alljährliche Vorbereitungszeit auf die Erinnerungsfeier der Geburt ihres Messias vor 2000 Jahren eine Zeit der Ankunft, des adventus, des Advents. Wolfgang Borchert, der von den Schreckenserfahrungen des Zweiten Weltkriegs gezeichnete, frühverstorbene Dichter, schrieb 1947 (nicht christlich gedacht): »Wir sind eine Generation der Ankunft. Vielleicht sind wir eine Generation voller Ankunft auf einem neuen Stern, in einem neuen Leben. Voller Ankunft unter einer neuen Sonne, zu neuen Herzen. Vielleicht sind wir voller Ankunft zu einem neuen Lieben, zu einem neuen Lachen, zu einem neuen Gott. Wir sind eine Generation ohne Abschied. Aber wir wissen, dass alle Ankunft uns gehört.« Hoffnung also, Offenheit. Rose Ausländer, die jüdische Dichterin, kennt den Zauber dieser offenen Zeit. Für die Christen ist es zugleich eine Zeit des Lichtes in bedrängender Dunkelheit. Sie lesen es bei Jesaja: Wir hoffen auf das Licht. Doch ringsum ist es dunkel. Wir hoffen und wir warten. Und sieh: Es strahlt auf, das Licht. nach Jesaja 9,1 Der Advent der Christen ist nicht zuletzt durch den Schein der Kerzen konstituiert. Hilde Domin sieht in der Kerze ein kaum atmendes kleines Licht, aber eben doch ein Licht. Die Kerze brennt, eine stille Nacht. Ich sehe mich auf den Weg gebracht.

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Dietrich Bonhoeffer, der große evangelische Märtyrertheologe des 20. Jahrhunderts, besingt diese Kerzenzeit: Lass warm und hell die Kerzen heute flammen, die du in unsre Dunkelheit gebracht, führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen. Wir wissen es: dein Licht scheint in der Nacht. Kerzenlicht verbreitet Stille. Das ist eine ganz eigentümliche Erfahrung. Dietrich Bonhoeffer wurde angesichts seines Todes 1945 diese Stille transparent für Jenseitiges: Wenn sich die Stille tief nun um uns breitet, so lass uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all deiner Kinder hohen Lobgesang. Unerschütterlich ist der Licht-Glaube dessen, der im Neuen Testament den ersten Johannesbrief schrieb: Denn die Finsternis vergeht, und das wahre Licht scheint jetzt. 1 Johannes 2,8

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