Mittwoch, 9. März, bis Freitag, 11. März 2011

March 15, 2017 | Author: Adam Schräder | Category: N/A
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Evangelische Hochschule Ludwigsburg

INTERNATIONALE ÜBERSICHTSSTUDIE Rechte und soziale Wirklichkeit von Menschen mit Behinderung in Brasilien, Deutschland, Frankreich, Rumänien, Südkorea und Tansania mit einer ergänzenden Länderstudie Niederlande

Eine sozialwissenschaftliche Studie im Auftrag des Diakonischen Werks Württemberg

W ü r t t e m b e r g

Evangelische Hochschule Ludwigsburg Institut für angewandte Forschung (IAF) Prof’in Dr’in Monika Barz, Wissenschaftliche Leitung Dominique Heyberger, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Claudia Hettenkofer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Edith Stein-Stan, Autorin Studienteil Rumänien Unter Mitwirkung von: Eun Cho You, Yoon Hee Kim-Bischof, Studienteil Südkorea Stefan Mangerich, Studienteil Brasilien

Für die Länderstudie Niederlande Tobias Zinser, Autor

Diakonisches Werk Württemberg Dr. Antje Fetzer, Konzeption und Koordination Karl Georg Wagner, Fachliche Beratung

Diese Studie verdankt ihre Aktualität der fachlichen Unterstützung von Abel Anania, Mattias Binder, Henry von Bose, Dominique Denimal, Klaus Dollmann, Lutz Drescher, Johannes Flothow, Hubert Freyermuth, Walter Gebhardt, Jae-Hoon Jung, Deok Hwan Kim, Angelika Krause, Martina Menzel, Irina Ose, Ana-Maria Palcu, Leander Palleit, Maria Pazen, Heike Rieser, Peter Ruf, Friedemann Salzer, Klaus-Peter Stenzig, Stefan Tremmel

Mit freundlicher Unterstützung der Paul-Lechler-Stiftung Alle Rechte bleiben dem Auftraggeber vorbehalten Stuttgart, im Januar 2011

VORWORT

DER

AUFTRAGGEBER

Die Welt wächst zusammen: Durch die UN-Behindertenrechtskonvention haben Menschen und Staaten rund um den Globus die Chance, einander wieder ein Stück näher zu kommen. Die Bewegung, die von der Konvention ausgeht, ist allerorten zu spüren. Doch was heißt das konkret: mehr Teilhabe, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung für Menschen mit Behinderungen? Und wie tragen die evangelischen Kirchen und ihre Diakonie dazu bei? Anlass genug für uns als Diakonie in Württemberg, unsere Partner weltweit zum Internationalen Diakoniekongress „All inclusive!?“ einzuladen. Menschen aus West- und Osteuropa, aus Asien, Afrika und Lateinamerika kommen vom 9.-11. März 2011 zusammen, um die Perspektiven der Inklusion gemeinsam auszuloten. Bunt und vielfältig wird es zugehen, und im Mittelpunkt wird der Austausch stehen. Für das Gespräch zwischen Menschen aus den verschiedensten Kontexten legt die vorliegende Länderstudie die Basis. Als Landkarte vermittelt sie erste Eindrücke und gibt Orientierung. Sie soll Vorfreude wecken und Interesse bündeln: wie leben Menschen mit Behinderungen z.B. in Südkorea? Wie funktioniert das Sozialsystem und welche Rolle hat die Diakonie in Tansania? Während der Recherchen wurde deutlich, dass es bisher keine vergleichbare Darstellung gibt. So freuen wir uns, dass wir mit dieser Studie auch einen Beitrag über Württemberg und unsere konkreten Partnerschaften hinaus leisten: zur Inspiration für Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen, die sich inmitten der neuen Möglichkeiten neu bewegen lernen, ebenso wie für Verantwortliche in Einrichtungen und Kirchengemeinden, die neue Wege gehen. Gemeinsam mit den Impulsen der Tagung wird die Studie im Jahr 2011 intensiv in unseren Gremien bearbeitet und diskutiert. Wir danken der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, insbesondere Prof. Monika Barz, Frau Dominique Heyberger und Frau Claudia Hettenkofer, für die engagierte Kooperation. Ganz besonders danken wir den Gesprächspartnerinnen und -partnern aus den beteiligten Ländern. Ohne sie wäre es nicht möglich gewesen, die gelebte Realität zu beschreiben. Unser ausdrücklicher Dank gilt schließlich der Paul-Lechler-Stiftung für die großzügige Unterstützung dieser Arbeit. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und Begegnungen voller Impulse bei „All inclusive!?“.

Ihre Dieter Kaufmann, Diakonisches Werk Württemberg; Lothar Bauer, BruderhausDiakonie; Dr. Hartmut Fritz, Samariterstiftung; Heinz Gerstlauer, Evangelische Gesellschaft; Rainer Hinzen, Diakonie Stetten; Joachim L. Beck, Evangelische Akademie Bad Boll

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Brasilien Claudia Hettenkofer Synoptische Darstellung für Brasilien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Länderstudie Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Fallbeispiel Luana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Deutschland Dominique Heyberger Synoptische Darstellung für Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Länderstudie Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Fallbeispiel Lara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Frankreich Dominique Heyberger Synoptische Darstellung für Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Länderstudie Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Fallbeispiel Aurelie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Korea Dominique Heyberger Synoptische Darstellung für Korea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Länderstudie Korea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Fallbeispiel Na-Young. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Rumänien Edith Stein-Stan Synoptische Darstellung für Rumänien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Länderstudie Rumänien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Fallbeispiel Alina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Tansania Claudia Hettenkofer Synoptische Darstellung für Tansania . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Länderstudie Tansania . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Fallbeispiel Banuelia. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Niederlande Tobias Zinser Synoptische Darstellung für Niederlande. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Länderstudie Niederlande Tobias Zinser. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Fallbeispiel Ruben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

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EH Ludwigsburg: Internationale Übersichtsstudie Rechte und soziale Wirklichkeit von Menschen mit Behinderung in Brasilien, Deutschland, Frankreich, Rumänien, Südkorea und Tansania mit einer ergänzenden Länderstudie Niederlande. Eine sozialwissenschaftliche Studie im Auftrag des Diakonischen Werks Württemberg

EINLEITUNG I Grund und Anlass für die Länderstudie „Jeder Mensch hat Rechte. Zum Beispiel das Recht, dass er gut behandelt wird. Allen Menschen soll es gut gehen. Darüber gibt es viele Regeln und Gesetze in Europa und der ganzen Welt. Diese Regeln und Gesetze sind auch für Menschen mit Behinderung.“1 So lautet der erste Satz des „Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ in leichter Sprache. Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die am 3. Mai 2008 für die ratifizierenden Länder in Kraft getreten ist,2 ist ein Meilenstein bei der Umsetzung der Rechte von behinderten Menschen.3 Die Konvention wurde in einem mehrjährigen Prozess unter maßgeblicher Beteiligung von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen erarbeitet. Viele Länder haben mittlerweile die Konvention ratifiziert und sich damit verpflichtet, Menschen mit Behinderungen besser zu unter-

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stützen. Ziel ist eine Gesellschaft, an der alle gleichberechtigt teilhaben können. In der Fachsprache heißt dies Inklusion. Alle sollen dazu gehören. Das wollen auch Diakonie und Kirche überall auf der Welt verwirklichen. Denn Gott hat jeden Menschen nach seinem Bild geschaffen, keinen mehr und keine weniger. Unter Federführung der Diakonie Württemberg findet vom 9.-11. März 2011 in der Evangelischen Akademie Bad Boll die internationale Tagung „All inclusive!?“ statt, bei der Herausforderungen für Kirche und Diakonie auf dem Weg zu Umsetzung der Konvention im Mittelpunkt stehen. Teilnehmende und Referentinnen und Referenten aus mindestens sieben Ländern, Menschen mit und ohne Behinderung, Verantwortliche aus diakonischen Einrichtungen und Kirchengemeinden sowie Angehörige und weitere Fachleute kommen zusammen, um ihre Erfahrungen zum Thema Inklusion auszutauschen, ihre Erwartungen auszusprechen und Wege zur Verwirklichung zu diskutieren.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Übereinkommen der Vereinten Nationen über Rechte von Menschen mit Behinderungen. Deutsch / English / francais / leichte deutsche Sprache (Stand Januar 2010), Einleitung in leichter Sprache, 79 (Hervorhebung getilgt). Die UN-BRK ist am 3. Mai 2008 in Kraft getreten. Dem ging ein mehrjähriges Verfahren voraus: Der Text der UNKonvention sowie der Text des Zusatzprotokolls wurden am 13. Dezember 2006 von der UN-Vollversammlung verabschiedet. Damit der Text völkerrrechtlich in Kraft treten konnte, war es nötig, dass zwanzig Mitgliedsstaaten ihn ratifizierten, also national für sich verbindlich erklärten. Dies war mit der Ratifizierung durch Ecuador gegeben. (vgl. aaO, Einleitung, 3). Die UN-BRK wurde von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen, um den weltweiten Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen gegenüber Menschen mit Behinderungen entgegenzutreten. Sie ist das erste Übereinkommen, das als universelles Rechtsinstrument auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung zugeschnitten ist. Sie definiert soziale Standards, an denen sich die Vertragsstaaten messen lassen müssen. Als Ziele werden Teilhabe, Selbstbestimmung und uneingeschränkte Gleichstellung bestimmt. Vgl. BMAS (Hrsg.) http://www.bmas.de/portal/10796/sgb__ix.html [Stand: 07.12.2010] 5

Die vorliegende Studie soll den Austausch zur Förderung der gleichberechtigten Teilhabe über Ländergrenzen und Kulturen hinweg unterstützen. Sie stellt die rechtliche und gelebte Situation von Behinderung in folgenden sieben Ländern dar: Brasilien, Deutschland, Frankreich, Niederlande, Rumänien, Südkorea und Tansania. Zu diesen Ländern pflegen Einrichtungen der württembergischen Diakonie partnerschaftliche Beziehungen und diese sieben Erfahrungskontexte werden bei der Tagung präsent sein. Mit der Bearbeitung der Studie hat das Diakonische Werk Württemberg (DWW) das Institut für Angewandte Forschung (IAF) der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg beauftragt.

II Motivation der Länderstudie Drei Fragestellungen waren für die Konzeption der Studie leitend:

gehen. Die internationale Begegnung inspiriert zu neuen Ideen und ermöglicht eine konstruktive Selbstprüfung auf hohem Niveau. Um die jeweiligen Ländersituationen möglichst praxisnah zu veranschaulichen, wurden Fallbeispiele gewählt. Drittens: Der Beitrag der evangelischen Kirchen und ihrer Diakonie Von besonderem Interesse war das kirchliche Engagement für die Rechte von Menschen mit Behinderungen und die Angebotsformen, die im jeweiligen Kulturkreis und Gesellschaftssystem entwickelt wurden: Ist die Diakonie einer unter vielen weltanschaulich geprägten Anbietern von Hilfeangeboten für Menschen mit Behinderungen? Ruht die soziale Arbeit vorwiegend auf kirchlichen Schultern? Ist das diakonische Angebot ein Randphänomen in einem ansonsten säkular durchorganisierten Gemeinwesen?

Erstens: Die sachliche Klärung Welche Rechte haben Menschen mit Behinderung in den jeweiligen Ländern und wie gestaltet sich deren Umsetzung? Auf welche sozialstaatliche Unterstützung kann sich ein Mensch mit Behinderung verlassen und was ist die Rolle der Familie? Schließlich war von besonderem Interesse, wie sich Kirche und Diakonie für Menschen mit Behinderung engagieren. Zweitens: Der Mehrwert der internationalen Begegnung Durch die Übernahme der UN-Behindertenrechtskonvention haben sich die ratifizierenden Länder verpflichtet, konkrete Maßnahmen zu deren Umsetzung zu ergreifen. Dies geschieht ausgehend von sehr verschiedenen Levels der Sozialstaatlichkeit und unter sehr unterschiedlichen kulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen. Die Begegnung so verschiedener Kontexte soll der Horizonterweiterung dienen. Der Blick über den Tellerrand wird hochentwickelten Sozialsystemen vor Augen stellen, wie Inklusion unter einfacheren Bedingungen in manchen Fällen leichter gelingt. Er soll Vertreterinnen und Vertreter von gemeinwesennah strukturierten Systemen ermutigen, ihren Weg konsequent weiter zu 6

In diesem Zusammenhang wäre es lohnend gewesen, die theologischen Bewertungen von Behinderung und deren Auswirkungen im jeweiligen Kontext zu beschreiben. So galten Menschen mit Behinderungen zwar einerseits unter Christinnen und Christen in der Regel früh als bildbar, andererseits trugen falsche und zeitgebundene religiöse Vorstellungen von Behinderung als Sündenstrafe zur Zementierung des gesellschaftlichen Ausschlusses der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen bei. Die traditionelle Verknüpfung von Ehe und Fortpflanzung versperrte Paaren mit Behinderung lange den Zugang zum kirchlichen Segen. Bis heute werden die Lebensthemen Sexualität und Ehe in Bezug auf Menschen mit Behinderung nur mit großer Vorsicht behandelt. Menschen mit Behinderung waren Jahrhunderte lang vom Abendmahl ausgeschlossen, und die Taufe eines Kindes mit Behinderung ist schon für manche Familie zur Mutprobe geworden. Diese wenigen Stichworte markieren kirchlichdiakonisch brisante Themen, die in manchen der Länderstudien anklingen und Anlass bieten für eine zukünftige Vertiefung.

III Erfahrungen bei der Recherche Bei der Recherche hat sich zum einen gezeigt, wie stark die weltweite Landschaft der Behindertenhilfe durch die UN-Behindertenrechtskonvention in Bewegung gekommen ist. Zehn Jahre alte Standardwerke waren bereits von der gewandelten Rechtslage überholt. In die vorliegende Studie ist daher in hohem Maß aktuelle Recherchearbeit eingeflossen. Fachliche Gesprächspartnerinnen und -partner aus allen beteiligten Ländern stellten sich zur Verfügung, die gelebte Realität zu beschreiben und die jeweilige Länderstudie gegenzulesen. Die Frage nach der Bedeutung des kirchlichen Engagements erwies sich bei der Recherche als eine der schwierigsten, da sie nicht im Verantwortungsbereich der staatlichen Stellen liegt und offizielle Statistiken dazu schweigen. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass es in allen Ländern evangelisch motivierte soziale Dienste gibt, deren Wirkungsgrad und Reichweite jedoch von Land zu Land sehr stark variieren. Der internationale Dialog über diese Fragen hat begonnen und wird in den nächsten Jahren fortgesetzt werden.

IV Ergebnislinien des Ländervergleichs 1. Die Rechtslage für Menschen mit Behinderung ist durch die UN-Konvention in allen ratifizierenden Ländern unter die gleiche Zielsetzung gestellt worden. Abhängig von der ökonomischen Situation eines Landes und der herrschenden Mentalität im Verhältnis zu Behinderung kommt es jedoch in manchen Ländern bis heute kaum zur Rechtsverwirklichung. 2. Als entscheidender Faktor für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung in allen Bereichen der Gesellschaft erweist sich, in wieweit das rechtlich niedergelegte Leitbild von Inklusion dem in den Institutionen und Hilfeangeboten repräsentierten Verständnis sowie der Haltung der Verantwortlichen entspricht. Eine Gesellschaft beispielsweise, die Menschen mit Behinderungen aufgrund eines perfektionistischen Menschenbilds seit Jahrzehn-

ten in möglichst einfachen Institutionen untergebracht hat, statt sie zu fördern, braucht neben heilerziehungspflegerischem Know-how vor allem Arbeit am Menschenbild. Eine Gesellschaft, die aus Gründen der Spezialisierung und der ökonomischen Effizienz auf die zentrale Versorgung von Menschen mit hohem Hilfebedarf gesetzt hat, braucht gute Begegnungsmöglichkeiten im Alltag und breit angelegte Information, um die Bevölkerung für den Kurs der Inklusion zu gewinnen. 3. Die Familie ist nach wie vor die entscheidende gesellschaftliche Institution für Menschen mit Behinderung. Sie trägt die Verantwortung dafür, welche der vorhandenen gesellschaftlichen Chancen ein Kind ergreifen kann. Oft muss sie die Teilhaberechte für das Kind mit großem Aufwand erstreiten. In Versorgungsengpässen gibt letztendlich oft nur die Familie verlässliche Unterstützung. Auch in hoch entwickelten und partizipativ angelegten Systemen stellen die Eltern die Weichen für Förderung, Bildung und Beruf. Auch hier wird Teilhabe in der Freizeit fast ausschließlich durch engagierte Angehörige möglich. 4. Die Förderung von Menschen mit Behinderung ist entscheidend für ihre Entwicklung und späteren Perspektiven. Qualität und Umfang des Förderangebots hängt maßgeblich von den ökonomischen Rahmenbedingungen ab. 5. Eine entscheidende Stellschraube der Selbstbestimmung ist, inwiefern Menschen mit Behinderung einen unabhängigen Rechtsanspruch auf auskömmliches Einkommen haben, oder ob sie einkommensabhängig versorgt werden. Einkommensabhängigkeit bedeutet automatisch finanzielle und damit auch mentale Abhängigkeit von der Familie. Die Konvention hat auch in diesem Bereich hohe Ansprüche formuliert, die es rechtspolitisch umzusetzen gilt. 6. Menschen mit Behinderung erzielen dort, wo sie eine Arbeitsstelle bekommen können, in den meisten Fällen kein auskömmliches Gehalt. So ist die Integration in den Arbeitsmarkt faktisch in keinem Land ohne Abstriche gegeben. Eine Arbeit, die den Lebensunterhalt nicht sichern kann, bleibt symbolisch im Bereich der Beschäftigungsmaßnahme. 7

7. Inklusion kann sowohl durch Systeme auf hohem Niveau als auch durch Systeme auf niedrigem Niveau erschwert werden. Systematisch stellt sich die Frage, ob die Förderung von Menschen mit Behinderung durch Besonderung oder durch Inklusion adäquater erreicht wird. Für die Inklusion stellt die Ausprägung großer und spezialisierter Sonderinstitutionen – Sonderkindergärten, Sonderschulen, Werkstätten für Menschen mit Behinderung – jedenfalls eine große Hürde dar.

V Methodischer Ansatz der Studie Das Institut für Angewandte Forschung (IAF) der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg folgte bei der Bearbeitung der Studie folgender Methodik:4

Messinstrumente Um Inhalte der Studie vergleichend gegenüberzustellen wurde auf internationale Messinstrumente zurückgegriffen. Hierbei ist von Bedeutung, dass gemäß der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) Behinderung je nach nationaler, sozialrechtlicher und kultureller Norm unterschiedlich definiert wird. Dies führt zu unterschiedlichen Wahrnehmungen von Behinderungsformen. Hierdurch werden Vergleiche vermeintlich gesicherter Angaben über Menschen mit Behinderung erschwert. Die geläufigsten Angaben stammen von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie schätzt die Anzahl der Menschen mit Behinderung weltweit auf 600 Millionen. Dies entspricht in etwa 10% der Weltbevölkerung. Auch fehlende oder undifferenzierte Erhebungssysteme machen Vergleiche komplex, weil Menschen teilweise nicht erfasst werden. Oftmals findet man in Industrieländern einen erhöhten Anteil von Menschen mit Behinderung,

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während Prozentsätze in Entwicklungsländern niedriger ausfallen. In internationalen Diskussionen setzt sich vermehrt ein sozialer Ansatz (Soziales Modell) durch, welcher Behinderung als soziale Konstruktion versteht. Hierzu zählen Barrieren, Stigmatisierungen und Diskriminierungen der Umwelt gegenüber Menschen mit Behinderung. Diese Entwicklungen sind in das neue Modell der WHO eingeflossen, das zusätzlich soziale Faktoren in der Klassifizierung von Gesundheit und gesundheitsbezogenen Bereichen berücksichtigt.5 Ein weiteres Messinstrument stellt der Human Development Index (HDI) der UN dar. Dieser bietet ein breites Spektrum zur Wahrnehmung des komplexen Zusammenhangs zwischen Einkommen und Wohlergehen. Der HDI umfasst vier Kategorien, in die alle Länder und Gebiete eingeteilt werden. Entwickelte Länder haben einen HDI ab 0,9 erreicht und gelten als „Very High Human Development“ Länder. Länder, die unter diesem Wert liegen, werden als Entwicklungsländer bezeichnet und je nach HDI in die drei Kategorien eingeteilt: „High Human Development“ (0,80,899), „Medium Human Development“ (0,50,799) und „Low Human Development“ (weniger als 0,5).6 Des Weiteren wurde auf Veröffentlichungen der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zurückgegriffen, in der sich 33 Länder der Welt zusammengeschlossen haben.7

Recherchemethoden Die „Internationale Übersichtsstudie“ wurde in ihrem analytischen Teil mit den Methoden der Literatur- und Internetrecherche, standardisierten Expertinnen- und Experteninterviews mit Betroffenen und Fachkräften sowie durch Teilnahme an Fachkonferenzen angefertigt.

Die Länderstudie “Niederlande”, die ergänzend in Auftrag gegeben wurde, folgt demselben Vorgehen und Aufbau. GTZ (Hrsg.) http://www.gtz.de/de/dokumente/de-behinderung-und-entwicklung.pdf, S.7 [Stand: 07.12.2010] Vgl. UNDP http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2009_EN_Complete.pdf (Hrsg.), HDI Report 2009, S.15 oder 204 [Stand: 15.09.2010] Vgl. Verlag für die Deutsche Wirtschaft AG (Hrsg.) http://www.vnr.de/glossar/oecd/ [Stand 03.10.2010]

Darstellung 1) Ausführliche Länderberichte Alle Länderberichte sind entlang der folgenden Fragestellungen entwickelt und aufgebaut: 1. Statistik zu Menschen mit Behinderung 2. Werden in der Verfassung Aussagen zum sozialen Bereich getroffen? Wie versteht sich der Staat in Bezug auf den sozialen Bereich? 3. Welches Leitbild von Inklusion besteht?

Im Fallbeispiel wurde fiktiv für jedes Land das Leben eines Kindes nachgezeichnet, das im frühen Kindesalter eine Behinderung erwirbt.8 Länderspezifische Besonderheiten wurden in die biographischen Entwicklungslinien integriert. Dadurch konkretisieren sich gesellschaftliche Rahmenbedingungen in ihrer Wirkung auf das Leben von Menschen mit Behinderung. Es wurden bewusst Mädchen ausgewählt, um die Rolle der Frau im jeweiligen Kulturkontext herauszubilden. Die UN-BRK verweist in Artikel 6 auf die Tatsache, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen mehrfach Diskriminierungen ausgesetzt sind und fordert bei allen Überlegungen zur Umsetzung der UN-BRK, dies zu berücksichtigen. 9

4. Welche expliziten Rechte haben hilfebedürftige Menschen? 5. Welche staatlichen Sozialleistungen gibt es?

3) Ländersynopse

6. Wer sind die Träger sozialer Arbeit?

Die vorliegende Studie enthält im analytischen Teil - neben den ausführlichen Länderberichten jeweils eine synoptische Darstellung als Überblick. Sie dient der schnellen Erfassung der wesentlichen Daten und Fakten.

7. Welche Finanzierungsformen kennt das jeweilige System? 8. Welche Rolle spielt die Kirche und religiöse Motivation bei der sozialen Versorgung? 9. Welche Bedeutung haben informelle Versorgungsformen? 10. Wie ist der Bildungsbereich ausgestaltet? Welche Rolle spielen dort Integration, Inklusion, soziale Teilhabe? 11. Welche Perspektive haben Menschen mit Behinderung?

2) Fallbeispiele Für den rekonstruktiven Teil wurden idealtypische Fallbeispiele entwickelt, in denen die länderspezifischen Rahmenbedingungen in eine fiktive biographische Entwicklungslinie gebracht wurden.

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Abweichend hier das Fallbeispiel der Länderstudie “Niederlande”, das zwei Menschen mit Trisomie 21 in den Mittelpunkt stellt. Vgl. Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (Hrsg.) http://www.alleinklusive.behindertenbeauftragte.de/cln_108/nn_1430096/SharedDocs/Downloads/DE/AI/BRK [Stand: 05.12.2010] 9

SYNOPTISCHE DARSTELLUNG

FÜR

BRASILIEN1

Gesamtbevölkerung

192 Millionen

Menschen mit Behinderung (1)

2000: 24,5 Millionen

In der Verfassung verankert (2)

Ja, Artikel 203, Artikel 208 und Artikel 28a.

Leitbild von Inklusion (3)

Inklusion konzentriert sich in den staatlichen Programmen überwiegend auf Barrierefreiheit. Da Armut und Hunger in unmittelbarem Zusammenhang mit Behinderung stehen, wird darüber hinaus versucht, diesen Faktoren entgegen zu wirken.

Explizite Rechte und Realität (4)

Viele gesonderte Gesetzestexte, Umsetzung ist schwierig, Menschenrechtsverletzungen gegen ‚Excluidos‘, ärmere Bevölkerungsschichten wissen nicht um ihre Rechte.

Staatliche Sozialleistungen (5)

Sozialversicherungssystem für Beitragspflichtige, Sozialhilfeprogramme konzentrieren sich auf Armutsbekämpfung zum Beispiel Schulstipendien (Bolsa escola).

Träger Sozialer Arbeit (6)

Staatliche Institutionen, freie und private Organisationen, große Anzahl an internationalen NGOs.

Finanzierungsformen (7)

Sozialversicherungen, öffentliche Gelder, internationale Programme und Spenden.

Religion (8)

Katholisch (74%), evang. (15%), keine und andere Religionen (11%).

Rolle der Kirche (8)

Große Bedeutung der Kirche im Bereich des Bildungswesens.

Rolle informeller Versorgungsformen (9)

Traditionelle Familie dominierend. Großfamilie gilt als Absicherung bei Pflegebedürftigkeit.

Bildungsbereich (10)

Schulpflicht für alle Kinder, hohe Inklusionsrate, geringe Sonderbeschulung, Barrierefreiheit in Regelschulen oft nicht gewährleistet, geringe Bildungschancen für Kinder aus finanziell schwachen Familien.

Zukunftsperspektiven (11) Inklusion nimmt an Bedeutung zu. Regierung passt Lehrpläne neu an. Straßenkinder und Kinder mit Behinderung werden zunehmend von der Gesellschaft akzeptiert. Ratifizierung der UNBehindertenrechtskonvention

Ja, im Jahr 2008.

Monitoring-Stelle

Nationale Koordinierungsstelle für Menschen mit Behinderung (CORDE).

Geschlecht und Behinderung

Höchste Anzahl von alleinerziehenden Müttern auf der Welt. Unterschiedliche Behinderungsformen bei Männern und Frauen auf Grund geschlechtsspezifischer beruflicher Tätigkeiten.

Besondere Stärken

Maßnahmen auf Regierungsebene, ausgebautes Sozialsystem, Interventionen gegen die Diskrepanz zwischen arm und reich, im ländlichen Gebiet hohe Inklusion durch Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an alltäglichen Aufgaben.

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Anm.: Die in Klammern gesetzten Zahlen geben die Kapitelnummer in jeweiliger Länderstudie an.

LÄNDERSTUDIE BRASILIEN

Claudia Hettenkofer

1. Statistik In Brasilien erhebt, sammelt und evaluiert das brasilianische Institut für Geographie und Statistik (IBGE) Daten zu Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt. Diese Daten geben, gemeinsam mit einer Studie der Stiftung Getúlio Vargas (FGV) über die ‚Bilder der Behinderung in Brasilien‘, einen Überblick über die Formen und die Häufigkeit von Behinderungen in Brasilien.1 Das IBGE hat im Jahr 2000 eine demografische Volkszählung durchgeführt. Sie ergab, dass 24 Millionen Menschen von Behinderung betroffen sind. Das entspricht circa 14% der Gesamtbevölkerung in Höhe von 192 Millionen Menschen.2 Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass nicht alle Menschen mit Behinderungen erfasst werden. Der größte Anteil (17%) findet sich in der nordöstlichen Region und der niedrigste (13%) im Südosten des Landes. Differenziert nach Stadt und Land zeigt sich eine Konzentration auf die Städte. Dort kommen auf 100 Einwohnerinnen und Einwohner 20 Menschen mit Behinderung, während es in den ländlichen Regionen fünf sind.3 Differenziert nach der Hautfarbe zeigen sich große soziale und ethnische Unterschiede. Gemäß IBGE sind hellhäutige Bürgerinnen und Bürger seltener von Behinderung betroffen, als Indios und Menschen mit dunkler Hautfarbe. Dies wird auf die Tatsache zurückgeführt, dass Letztere einen schlechteren Zugang zum Gesundheitswesen haben. Die Definition von Behinderung lehnt sich an die Klassifikation der WHO an, die zwischen geistiger, körperlicher, Hör-, Sehund motorischer Behinderung unterscheidet. Anders als bei der WHO, wird die Mehrfachbehinderung nicht aufgeführt.4 Hieraus ergibt sich, dass Menschen mit multiplen Behinderungen mehrmals in der Statistik geführt werden, da jede Be-

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hinderung einzeln erfasst ist. Dies führt rechnerisch zu einer höheren Anzahl an Menschen mit Behinderung.5 2. Verfassung Nachdem 1985 die Militärdiktatur überwunden war, sollte mit der Verfassung von 1988 eine Stärkung der Demokratie erreicht werden. Über 60.000 Eingaben der Bevölkerung trugen maßgeblich zu ihrer Entstehung bei. Nie zuvor wurde ein solches Werk in dieser Art und Weise unter Einbeziehung der Bevölkerung ausgearbeitet. Sie gilt als eine der freiheitlichsten Verfassungen weltweit.6 Die Föderative Republik Brasilien ist ein demokratischer Rechtsstaat, der in der Verfassung explizit die Rechte von Menschen mit Behinderung berücksichtigt. Die Grundprinzipien besagen, dass alle Menschen ohne jeglichen Unterschied, vor dem Gesetz gleich sind und alle das unverletzliche Recht auf Leben, Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Grundbesitz haben. Nach Artikel 208 haben Menschen mit Behinderungen das verfassungsmäßig verankerte Recht auf eine besondere Beschulung, vorzugsweise an Regelschulen.7 In der Skala des Human Development Index (HDI) aus dem Jahr 2009 nimmt Brasilien mit Rang 75 von 182 Ländern eine Position im Mittelfeld ein. Es zählt zu den Entwicklungsländern mit der Kategorie ‚High Human Development‘.8 3. Leitbild ‚Inklusion’ 2008 hat Brasilien die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ratifiziert. Für die Umsetzung und Koordination der nationalen Politik ist das Sekretariat für Menschenrechte (SDH) mit seiner Unterbehörde zur Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderungen (SNPD)

IBGE=Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística; Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.) [Stand: 24.09.2010]; FGV=Fundacion Getulio Vargas. Anm: Die Stiftung war im Rahmen der IBGE Studie für den Bereich Behinderung zuständig. Ihre Studie setzt die Formen und Grade von Behinderung in Verbindung mit soziodemographischen und politischen Aspekten. Vgl. Weltbank (Hrsg.), Weltentwicklungsindikatoren [Stand: 01.11.2010] Vgl. Center for International Rehabilitation (Hrsg.) [Stand: 27.09.2010]; IBGE (Hrsg.), 2003 Vgl. Hüttl, Beate (2010), S. 63-69 [Stand: 23.11.2010]; IBGE (Hrsg.), 2003 Vgl. IBGE (demografische Volkszählung 2000, nota 1) Vgl. Brasilianische Botschaft [Stand: 26.09.2010] Vgl. Brazil Government, Constitution [Stand: 26.09.2010] Vgl. UN (Hrsg.) HDI Report 2009, S. 144 [Stand: 26.09.2010] 11

Brasilien verantwortlich. 2009 gründete SNPD die nationale Koordinationsstelle für die Integration von Menschen mit Behinderungen (CORDE).9 Sie erlässt Gesetze und Rechtsvorschriften und strebt innovative Formen der sozialen Teilhabe an.10 Der Nationale Mehrjahresplan 2004 bis 200711 und das Programm ‚Brasilien barrierefrei‘12 sehen vor, die Ausbildung von sozialen Fachkräften zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung und die Öffentlichkeitsarbeit für ein barrierefreies Brasilien auszubauen. Im nationalen Fachdiskurs über Inklusive Pädagogik wird gefordert, dass die sozialen Dimensionen der Barrierefreiheit einen größeren Stellenwert einnehmen müssten, da Barrierefreiheit nicht nur das Bauen von Rampen meint, sondern auch das Herstellen sozialer Gleichheit.13 Menschen mit Behinderung sind auf den ersten Blick in die Politik des Landes integriert, in der gesellschaftlichen Realität aber eher „geduldet“ als anerkannt. Dies wird durch materielle und soziale Barrieren in der brasilianischen Gesellschaft deutlich. Menschen mit Behinderung erleben Ignoranz, Vorurteile, Diskriminierung und Ungleichheit. Das professionelle Hilfesystem für Menschen mit Behinderung, das die Menschen integrieren soll, hat teilweise Gegenteiliges bewirkt. Die Exklusion wird durch die progressive Segregation in Schulen, Kliniken und Heimen noch offensichtlicher und größer. Auch im sozialen Bereich, wie zum Beispiel der Partnersuche oder der Arbeitsplatzwahl, zeigt sich, dass Menschen mit Behinderung stark eingeschränkt sind.14 In einem Bericht kirchlicher Sozialarbeite-

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rinnen und Sozialarbeiter wird darauf aufmerksam gemacht, dass die Geburt eines Kindes mit Behinderung von Gesellschaft und Familie häufig als Strafe Gottes interpretiert und schamhaft als Schande erlebt wird. Mangels öffentlicher Unterstützung bleibt den Kindern oft nur das familiäre Umfeld als Lebensumgebung. Je nach Einstellung und Interpretation der Eltern bedeutet das für das Kind ein Leben zwischen behütet und versteckt werden in einer ablehnenden Umwelt. Eltern versuchen so den verletzenden Vorurteilen und diskriminierenden Sichtweisen von Schuld und Schande zu entgehen.15 Von den 24 Millionen Menschen mit Behinderungen gehen neun Millionen einer Beschäftigung nach. 5,6 Millionen von ihnen sind männlichen und 3,4 Millionen weiblichen Geschlechts. Fünf Millionen von ihnen verdienen unter 930 Real (410 Euro), dies entspricht etwa dem Doppelten des Mindestgehalts von 465 Real. Sie sind überwiegend im Dienstleistungssektor tätig. Laut der nationalen IBGE-Studie haben Personen mit Behinderung in der Regel ein Jahr weniger an Schulbildung als der Durchschnitt der Gesellschaft. 22% der 24 Millionen Menschen mit Behinderung haben nie eine Schule besucht. Die fehlende Schulbildung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Situation, in Armut zu leben. 29% der Menschen mit Behinderung leben unterhalb der Armutsgrenze.16

Vgl. Baldi, César Augusto [Stand: 27.09.2010]; SDH=Secretaria dos Direitos Humanos; SNPD=Subsecretaria Nacional de Promoção dos Direitos da Pessoa com Deficiência; CORDE=Coordenadoria Nacional para integração da Pessoa Portadora de Deficiência; Vgl. Presidente da República, CORDE [Stand: 29.09.2010] (Üb. Stefan Mangerich) 10 Vgl. Escola de Enfermagem de Ribeirão Preto / Universidade de São Paulo: [Stand: 15.10.2010]; Anm.: Die Koordinationsstelle umfasst 15 technische Expertinnen und Experten, von denen fünf eine Behinderung haben. Vgl. Center for international Rehabilitation (Hrsg.) [Stand: 16.11.2010] 11 Anm.: Originaltitel: Programa Nacional de Acessibilidade no Plano Plurianual 2004/2007 12 Anm.: Originaltitel: Programa Brasileiro de Acessibilidade Urbana – Brasil Acessive!; Vgl. Acessibilidade Brasil: [Stand: 27.09.2010] 13 Anm.: Auf politischer Ebene wird hauptsächlich über bauliche Maßnahmen zur Inklusion diskutiert. Vgl. Loiola, Mariana [Stand: 15.10.2010]; Krausnick, Michail (2009), S.93; Loiola, Mariana (2004) [Stand: 27.09.2010] 14 Vgl. Krausnick, Michail (2009), S.92f; Hüttl, Beate (2010), S.71 15 Anm.: Handicap International verweist darauf, dass Kinder mit Behinderungen auch ausgesetzt oder getötet werden oder man sie verhungern lässt. Vgl. Krausnick, Michail (2009), S.96

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Brasilien 4. Rechte In den letzten 20 Jahren hat sich die rechtliche Situation von Menschen mit Behinderung stark verändert. Bereits bestehende Gesetze wurden überarbeitet und neue initiiert. Das Gesetz 7853 aus dem Jahr 1989 weist ausdrücklich auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen hin, inklusive der Regelungen bei Nichteinhaltung dieser Gesetze. So wird die Missachtung mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe von bis zu vier Jahren geahndet. Diese Strafen sind auch anwendbar bei Nichteinhaltung der Arbeitsgesetze. Durch das Gesetz 8213/91 wird die Quote der Beschäftigten mit Behinderungen geregelt. Laut dieses Gesetzes sind Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die mehr als 100 Beschäftigte haben, dazu verpflichtet, mindestens 2% der Stellen an Menschen mit Behinderung zu vergeben. Weitere Gesetze aus dem Jahr 1999 und 2000 (Gesetz 3298 und 10048) beinhalten Bestimmungen für die nationale Politik zur Integration, insbesondere bei subventionierten staatlichen Einrichtungen. Im Jahr 2001 wurde durch das Gesetz 10216 der Schutz der Rechte von Menschen mit psychischen Erkrankungen geregelt. Es etabliert neue Ansätze im Umgang mit psychisch kranken Menschen. Das Gesetz 10436 aus dem Jahr 2002 erkennt die brasilianische Zeichensprache als legales Mittel der Kommunikation und des Ausdrucks an. Im gleichen Jahr wird durch die Verordnung 4360 die dauerhafte Assistenzleistung für Menschen mit Behinderungen und älteren Menschen geregelt. Das Gesetz 10754 aus dem Jahr 2003 befasst sich mit der Steuerbefreiung von Fahrzeugen, die für die Beförderung von Menschen mit Behinderung gedacht sind.17 Trotz vieler Verbesserungen auf gesetzlicher Ebene wird von Expertinnen und Experten betont, dass sich bezüglich der Umsetzung der allgemeinen Menschenrechte in den letzten Jahren kaum etwas verändert hat. Menschen mit Behinderung,

Frauen, Kinder, Dunkelhäutige, Indios, Strafgefangene, Homosexuelle und Menschen, die von Armut betroffen sind, zählen weiterhin zu den‚ Excluídos da Sociedade‘, den Ausgeschlossenen der Gesellschaft. Sie müssen um ihre Rechte kämpfen. Dies beinhaltet den Zugang zu Bildungseinrichtungen, zu medizinischer Versorgung, Arbeit, Unterkunft, Sport, Freizeit und Kultur. Es bestehen umfangreiche Gesetze, die diese Rechte allen Menschen zusichern. Dennoch werden von der brasilianischen Gesellschaft alle systematisch ausgeschlossen, die als ‚Anders‘ klassifiziert werden. Viele gesetzliche Bestimmungen sind in der Praxis nicht umgesetzt. Im Jahr 2003 hat die Menschenrechtsorganisation Justiça Global einen Bericht über Menschenrechte in Brasilien publiziert. Der Bericht verweist auf die Diskrepanz zwischen progressiven Normen und ihrer mangelhaften praktischen Umsetzung. Als Hauptursache werden zwei Aspekte benannt: Die Spaltung der brasilianischen Gesellschaft in völlig ungleiche Bevölkerungsschichten und das kaum ausgeprägte Bewusstsein, dass alle Menschen mit gleichen und unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind.18 5. Sozialleistungen Die soziale Situation ist durch die zunehmende Ökonomisierung geprägt. Die Privatisierung von Erziehungs-, Sozial- und Gesundheitswesen hat durch die Marktöffnung zu einer Vergrößerung der Probleme der Menschen mit Behinderung und ärmeren Schichten geführt. Die Zahl der arbeitslosen und der von Armut betroffenen Menschen hat dadurch zugenommen. In den Städten leben viele Kinder und alte Menschen auf der Straße.19 Das brasilianische Ministerium für Soziale Fürsorge (MPS) ist verantwortlich für das Sozialversicherungssystem, das beitragspflichtigen, registrierten Erwerbstätigen und deren Familien-

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Vgl. IBGE (Hrsg.), 2003; Anm.: Laut UN leben 22% der Gesamtbevölkerung in Armut. Vgl. Krausnick, Michail (2009); Laut IBGE leben 45% aller Kinder und Jugendlichen in Armut und 33% aller Familien mit einem Einkommen unterhalb des halben Mindestlohn. Vgl. Hüttl, Beate (2010), S. 25 17 Vgl. Hüttl, Beate (2010), S.72; Center for International Rehabilitation (Hrsg.) [Stand: 27.09.2010] 18 Vgl. Hüttl, Beate (2010), S.69 [Stand: 26.09.2010]; Carvalho, Sandra E.de., 2004, S.11 19 Anm.: Nach Schätzung von ‚Terre des hommes‘ leben sieben Millionen Kinder auf der Straße. Sie leben von: Schuhe putzen, Autowaschen, Prostitution, Diebstahl, Raubüberfälle und Betteln. Vgl. Krausnick, Michail (2009),S.94; Presidente da República, Lei No.10.098 [Stand: 27.09.2010] 13

Brasilien angehörigen zu Gute kommt. Die Hauptaufgabe des MPS besteht in der Überwachung von sozialen Dienstleistungsangeboten und der Gewährung von Sozialleistungen. Der Versicherungsschutz umfasst Krankheit, Unfall, Schwangerschaft, Kindergeld, Invaliditätsrente, Haft, Tod und Rentenleistungen im Alter.20 Die Arbeitslosenversicherung steht allen zu, die aus ungerechtfertigten Gründen entlassen werden und jenen, die aus unzumutbaren Arbeitsbedingungen befreit wurden. Die Zuwendungen sichern eine finanzielle Versorgung und errechnen sich anhand des durchschnittlichen Gehalts der letzten drei Monate vor Ende des Arbeitsverhältnisses. Die Höhe variiert zwischen 510 Real (225 Euro) und 950 Real (420 Euro). Der Betrag wird über einen Zeitraum von fünf Monaten ausgezahlt und ist abhängig von der Situation der Begünstigten.21 Zusätzlich wurde im Jahr 2004 das Ministerium für Soziale Entwicklung und Bekämpfung des Hungers (MDS) initiiert. Es ist zuständig für die soziale Integration von Familien, die in Armut leben und Hunger leiden. Es soll den Familien ein Mindesteinkommen sichern und bietet Sozialhilfeprogramme wie „Bolsa Familia“ an. Dieses ermöglicht bedürftigen Familien einen Zugang zu Bildung und Gesundheit. Beispielsweise werden Lebensmittel verteilt, landwirtschaftliche Familienbetriebe gefördert und Kampagnen zur gesunden Ernährung durchgeführt. Dieses Programm versorgt mehr als 12 Millionen Familien und Menschen mit Behinderung und gewährleistet den Ärmsten der Armen eine Grundversorgung. Die finanzielle Unterstützung wird nach dem Einkommen berechnet sowie der Anzahl und des Alters der im Haushalt zu versorgenden Kinder.22

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6. Träger der Sozialen Arbeit Die öffentliche Soziale Arbeit ist dezentral organisiert und nennt sich System für die Soziale Hilfe (SUAS)23. Es besteht seit 2005 als System der geteilten Verwaltung und Co-Finanzierung der Leistungsangebote, welche autonom auf Bundes, Länder und Gemeindeebene Angebote bereitstellen. Soziale Dienstleistungen werden von verschiedenen Organisationen wie Privatunternehmen, öffentlichen Institutionen und freien Organisationen angeboten. Das Ministerium für Soziale Sicherheit (MPS) hat einen Bericht über die privaten gemeinnützigen Einrichtungen publiziert. Aus diesem geht hervor, dass 16.000 Einrichtungen erklärt haben, sie seien Anbieterinnen sozialer Dienstleistungen. Diese Dienstleistungsangebote unterstehen der Aufsicht des MPS. Es gibt zwei bedeutende Stellen, die sich mit Angelegenheiten rund um das Thema Behinderung beschäftigen, die Koordinierungsstelle CORDE und das Beratungssgremium CONADE.24 Letzteres besteht aus Vertreterinnen und Vertretern der Ministerien und der Zivilgesellschaft sowie Verbänden und Gruppen, die Menschen mit verschiedenen Arten von Behinderungen repräsentieren. Um einen wirkungsvollen Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen sicherzustellen, wird die Zusammenarbeit zwischen der Staatsanwaltschaft, der Exekutive und den Organisationen von Menschen mit Behinderungen gefördert. Derzeit existieren circa 1000 Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, die die Rechte von Menschen mit Behinderung fördern und vom Sozialministerium (SEAS) finanziert werden.25 Eine bekannte gemeinnützige Organisation ist der 1950 gegründete Verein zur Unterstützung von Kindern und Menschen mit Behinderungen (AACD). Er hat die Behandlung, Rehabilitation und Wiedereingliederung in die Gesellschaft zum Ziel. Er organisiert Spendenmarathons und

MPS=Ministerio Previdência Social; Vgl. Ministério da Previdência Social [Stand: 27.09.2010] Vgl. Ministério do Trabalho e Emprego (Hrsg.) [Stand: 27.09.2010] 22 MDS=Ministério do Desenvolvimento Social e Combate à Fome; Anm.: Siehe Gesetze 10836/04, 10836/04 und die Verordnung 5209/04; Vgl. Presidente da República, Lei No. 10.098 [Stand: 27.09.2010]; MDS (Hrsg.) [Stand: 27.09.2010] 23 SUAS=Sistema Único de Assistência Social 24 Vgl. Government Brazil, Sistema unico de assistencia social (Üb. Stefan Mangerich) [Stand: 13.10.2010]; CONADE=Conselho Nacional dos Direitos da Pessoa Portadora de Deficiência 25 SEAS=Secretaria de Estado da Assistência Social; Vgl. Center for International Rehabilitation [Stand: 04.10.2010] 21

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Brasilien Kongresse. Weiter bietet er konkrete Maßnahmen wie Hydrotherapie und Ergotherapie an.26 Eine der wichtigsten, auf nationaler Ebene agierenden Einrichtungen, ist der ‚Verband der Eltern, Freundinnen und Freunde der Außergewöhnlichen‘ (APAE). Er wurde 1954 gegründet und hat sich zum Ziel gesetzt, vor allem Menschen mit mehrfachen und mentalen Behinderungen zu fördern. Mittlerweile existieren mehr als 2000 Einrichtungen dieser Art in 23 Bundesstaaten des Landes, die circa 250.000 Menschen betreuen.27 Die Behindertenarbeit kirchlich orientierter Initiativen bietet jungen Menschen mit Behinderung Freizeitaktivitäten wie Tanz, Musik und Sport an. Diese Initiativen haben zum Ziel, das Selbstwertgefühl zu stärken und einen Beitrag zu einer selbstbestimmten und autonomen Lebensführung zu leisten. Sie streben an, die Bevölkerung für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung zu sensibilisieren und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Menschen mit Behinderung ein Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft haben.28 7. Finanzierungsformen Die Daten, die vom brasilianischen Finanzministerium 2009 veröffentlicht wurden, haben ergeben, dass die Brutto-Steuer- und Abgabenbelastung, die in Brasilien erhoben wird, circa 33% des Bruttosozialproduktes beträgt. Im Vergleich zu anderen Ländern hat Brasilien eine höhere Steuer- und Abgabenbelastung. Teile der Steuern fließen zurück in die brasilianische Sozialversicherung.29 Im Jahr 2006 veröffentlichte das Nationale Institut für Statistik (IBGE) Daten einer Un-

tersuchung von privat-gemeinnützigen Einrichtungen der Sozialen Arbeit. Daraus geht hervor, dass soziale Dienste zu 60% aus Spenden sowie eigenen, privaten und freiwilligen Mitteln finanziert werden. Ein Drittel (33%) wird seitens des Staates zur Verfügung gestellt, 2% kommen aus dem Ausland und 5% aus anderen, nicht angegebenen Quellen.30 Die Gemeinden haben ein Recht auf staatliche Unterstützung und Co-Finanzierung der Programme, Dienste und Projekte. Die Vergabe der staatlichen Mittel erfolgt durch den nationalen Fond der Sozialen Arbeit (FNDS).31 Das Bildungswesen wird je zur Hälfte aus öffentlichen und privaten Mitteln finanziert. Der private Sektor unterhält Kindergärten und Privatschulen. In diesem Sektor sind vor allem die Kirchen und die flächendeckend tätigen Anbieter von Aus- und Weiterbildungen, SENAI und SENAC, von Bedeutung.32 8. Kirche und religiöse Motivation In Brasilien dominiert der katholische Glaube. Die Zugehörigkeit zu verschiedenen Religionen verteilt sich wie folgt: 74% der Brasilianerinnen und Brasilianer sind katholisch, 15% protestantisch und 11% gehören keiner oder anderen Religionen an, wie zum Beispiel indianischen Naturreligionen und afrobrasilianischen Kulten wie Candomblé.33 Die Vorreiterrolle brasilianischer Bildungseinrichtungen schreibt man den Jesuiten zu, die 1549 ins Land kamen. Diese hatten sich zum Ziel gesetzt, den katholischen Glauben zu verbreiten und gleichzeitig die Bildungsarbeit zu fördern. Bis 1749 galten die Jesuiten als die einzigen‚

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AACD=Associação de Assistência a Criança Deficiente [Stand: 27.09.2010]; Vgl. AACD [Stand: 16.10.2010]; AACD, Video: [Stand: 16.10.2010] 27 APAE=Associação dos País e Amigos dos Excepcionais; Vgl. Ministério da Previdência Social (Hrsg.) [Stand: 27.09.2010] (Üb. Stefan Mangerich) 28 Vgl. Krausnick, Michail (2009), S.96 29 Vgl. Bundesministerium für Finanzen Brasilien (Hrsg.) [Stand: 29.09.2010] (Üb. Stefan Mangerich) 30 Vgl. IBGE [Stand: 29.09.2010] (Üb. Stefan Mangerich) 31 FNDS=Fundo Nacional de Assistência Social; Vgl. MDS (Hrsg.), SUAS [Stand: 29.09.2010] (Üb. Stefan Mangerich) 32 SENAI=Serviço Nacional de Aprendizagem Industrial. SENAC=Serviço Nacional de Aprendizagem Comercial. Anm.: SENAI ist die Aus- und Weiterbildungsorganisation des brasilianischen Arbeitgeberverbandes und größte Anbieterin in Brasilien. SENAC ist eine Institution für Berufsausbildung, die sich an die gesamte Bevölkerung wendet. Hüttl, Beate (2010), S.104 33 Vgl. Centro Turismo Alemão, 2007 15

Brasilien erziehenden Kräfte‘. Nachdem sie aus allen portugiesischen Kolonien vertrieben wurden, kamen jegliche Bildungsbemühungen zum Stillstand.34 Es waren vor allem die Kirchen und religiös motivierte Gruppen, die der breiten Öffentlichkeit ihre Dienste zur Verfügung stellten.35 Die Einrichtung Pastoral da Crianca nimmt eine wichtige Rolle für die soziale Entwicklung benachteiligter Menschen mit und ohne Behinderung ein. Diese Organisation wurde von der Nationalen Konferenz der brasilianischen Bischöfe (CNBB) gegründet. Sie hat zum Ziel, bedürftigen Kindern unter sechs Jahren eine lebenswerte Existenz zu ermöglichen.36 Eine weitere kirchlich orientierte Vereinigung ist Santas Casas. Sie wurde kurz nach der Entdeckung des Landes im Jahr 1543 gegründet und die erste Einrichtung in der Stadt Santos aufgebaut. Mit circa 2500 Einrichtungen stellt Santas Casas circa 50% aller Betten in Krankenhäusern im Land.37 Eine weitere wichtige Einrichtung ist die Legião da Boa Vontade (LBV), eine gemeinnützige ökumenische Bürgervereinigung, die 1950 gegründet wurde.38 Sie unterstützte im Jahr 2009 beispielsweise über acht Millionen Menschen mit und ohne Behinderung in prekären Lebenslagen.39 9. Informelle Versorgungsformen Die Familiensituation stellt sich als komplex dar. Es gibt große Unterschiede zwischen den Lebenslagen armer und reicher Familien und Menschen, die in der Stadt oder auf dem Land wohnen. Generell dominiert in der Gesellschaft die traditionelle Familienform, welche aus einem Ehepaar und deren Kindern besteht. Die Bedeutung der Familie liegt in der psychologischen und emotionalen Bindung zueinander. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist die Verbindung zu Großfamilien. Obwohl die Individualität eines jeden Paares respektiert wird, wird von den Paaren erwar-

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tet, eine enge Bindung mit ihren Herkunftsfamilien beizubehalten. Der Grad der Nähe sowie das Ausmaß der Beteiligung der Herkunftsfamilie im Alltag des Paares variieren mit sozialen, wirtschaftlichen und verwandtschaftlichen Faktoren. Die Großfamilie gilt als Absicherung bei Pflegebedürftigkeit eines Familienmitglieds. Das Familienleben hat sich in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stark verändert. Hierdurch sind weitere vielfältige und komplexe Formen des Zusammenlebens entstanden. Die Anzahl der Familien, in denen beide Elternteile einer Arbeit nachgehen, der Alleinerziehenden und Wiederverheirateten nahm zu. Auf politischer Ebene gibt es derzeit eine Bewegung, die zum Ziel hat, den Frauen mehr Rechte zuzugestehen und ihnen eine unabhängigere Lebensführung zu ermöglichen.40 Innerhalb einer Familie stehen alle für einander ein. Töchter und Söhne leben bis zu ihrer Heirat mit deren Eltern unter einem Dach. Das Elternhaus stellt bis zuletzt einen besonderen Schutz dar, es gilt als ein Hort der Kontinuität und der Sicherheit. Wenn die Eltern in eine Notsituation geraten, versuchen die Kinder, dem entgegen zu wirken. Der Vater gilt als Familienoberhaupt. Die Mutter trifft jegliche Entscheidungen, die den Haushalt und die Kinder betreffen oder delegieren an eventuelle Hausangestellte. Der Vater entscheidet, welchen Mann seine Tochter heiraten darf. In den Armenvierteln dominiert die Anzahl der alleinerziehenden Mütter. Brasilien gilt weltweit als das Land mit der höchsten Anzahl an alleinerziehenden Müttern. Dies resultiert oftmals aus der Tatsache, dass Väter nicht ausreichend zum Lebensunterhalt beitragen. Aus der damit einhergehenden Frustration und Aggression zerbricht die sonst so hochgehaltene Familie. Circa 50 Millionen Menschen leben in Favelas. Viele

Vgl. Hüttl, Beate (2010), S.98 Anm.: Eine wichtige Rolle spielen: Santas Casas, die Irmandades Leigas und die Vinzentiner Orden. Vgl. Damião Alves de Azevedo, Por uma compreensão constitucionalmente adequada da Assistência Social [Stand: 29.09.2010] (Üb. Stefan Mangerich) 36 CNBB=Conferencia Nacional dos Bispos do Brasil; Vgl. Pastoral da Criança (Hrsg.) [Stand: 29.09.2010] (Üb. Stefan Mangerich) 37 Vgl. CMB (Hrsg.) [Stand: 29.09.2010] (Üb. Stefan Mangerich) 38 Vgl. Centro de Informação das Nações Unidas- Rio de Janeiro [Stand: 16.10.2010] 39 Vgl. LBV [Stand: 29.09.2010] (Üb. Stefan Mangerich) 40 Vgl. Bruschini et. al [Stand: 03.10.2010] 35

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Brasilien dieser Menschen haben Schwierigkeiten bei der Bewältigung der Grundversorgung. In manchen Familien stellen die Sozialleistungen, die dem Kind mit Behinderung zustehen, die Haupteinnahmequelle der Familie dar. Die finanzielle Not widerspricht somit einer gesicherten (inklusiven) Zukunft des Kindes, da das Geld nicht in Fördermaßnahmen investiert werden kann.41 Für Menschen mit Behinderung bedeutet es einen großen Unterschied für ihre Chancen auf Inklusion, ob sie auf dem Land wohnen oder in der Stadt. Auf dem Land werden sie mit eingebunden, indem keine verstärkte Rücksicht auf sie genommen wird. Sie arbeiten auf dem Feld, in der Eigenproduktion der Familie oder bei häuslichen Tätigkeiten mit. In den Städten werden Kinder mit Behinderung zum Teil von ihren Eltern versteckt und erfahren hierdurch Exklusion.42 10. Bildungsbereich Seit der Bildungsreform 1971 gibt es keine Unterscheidungen in verschiedene Schultypen mehr, sondern allgemein eine Grundschule, die sich über einen Zeitraum von acht Jahren erstreckt und einen sich anschließenden Sekundarschulbereich von drei Jahren. Der Sekundarbereich kann allgemeinbildend in drei oder berufsbegleitend in vier Jahren absolviert werden. Ab einem Alter von 14 Jahren kann Schulbildung im Rahmen der Erwachsenenbildung kostenlos nachgeholt werden, da die Grundschule von vielen armen Menschen nicht besucht werden kann.43 Das Bildungssystem ist prinzipiell in zwei Bereiche aufgeteilt: Die ‚educação básica‘ - der vorschulische und schulische Bereich mit Kinderkrippen, Kindergärten und Regelschulen und die ‚educação superior‘ - der berufsbildende Zweig, unter den alle Hochschulen fallen.44 Seit 1990 hat sich die bildungspolitische Lage in Brasilien zunehmend verbessert. Die Zahl der Analphabetinnen und Analphabeten ging zurück

und die Zahl der Schulbesuche und die Länge der Ausbildungszeiten stieg an. Dies spiegelt das verstärkte Interesse der Regierung wieder, der gesamten Bevölkerung einen Zugang zur Bildung zu ermöglichen. Seit dem Jahr 2000 gibt es ein Stipendienprogramm, „Bolsa Escola“, für Kinder aus sozial schwachen Familien, die pro Person monatlich weniger als 90 Real (40 Euro) zur Verfügung haben.45 Die Unterteilung in private und staatliche Schulen führt zu einer Spaltung zwischen Kindern aus wohlhabenden Familien und Kindern, die finanziell weniger gut gestellt sind und zementiert eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Mittellose Eltern werden gezwungen, überhöhtes Schulgeld zu entrichten, damit ihr Kind eine gute Bildung in einer Privatschule genießen kann. 1996 wurde ein Bildungsgesetz (LDB) verabschiedet, das zur Neuorganisation des Bildungswesens geführt hat.46 Insgesamt konnten dadurch die Einschulungsraten und damit einhergehend die Erfüllung der Schulpflicht gesteigert werden.47 Seit dem Amtsantritt des derzeitigen Präsidenten im Jahr 2003 wurde den Bereichen Bildung, Erziehung und Armutsbekämpfung höchste Priorität zugesprochen. Trotz der Veränderungen und Investitionen, ist es noch immer ein Bildungssystem, das stark exkludiert, die sozialen Unterschiede in den Schichten herausbildet und von hohem Konkurrenzdruck geprägt ist. An oberster Stelle der Separation stehen Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen. Kinder, die als ‚andersartig‘ wahrgenommen werden, sind oftmals aus den Regelschulen ausgeschlossen.48 Die IBGE Studie aus dem Jahr 2000 machte die Benachteiligung von Kindern mit Behinderung sichtbar: 11% von ihnen wurden nicht beschult. Bei schweren Behinderungsformen waren es 25%. Das Thema der inklusiven Beschulung gewann in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung.

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Vgl. Fritzsche, K. Peter [Stand: 03.10.2010]; Hüttl, Beate (2010), S.235f.; Brasilien de (Hrsg.) [Stand: 03.10.2010] Vgl. Hüttl, Beate, (2010), S.87 43 Vgl. Hoffmann, Erik [Stand: 30.09.2010] 44 Vgl. Hüttl, Beate (2010), S.102 45 Vgl. Government Brazil, Bolsa escola [Stand: 30.09.2010] 46 LDB=Lei de Diretrizes e Bases da Educação 47 Anm.: Die Alphabetisierungsrate lag im Jahr 2003 bei 88%; Vgl. Hüttl, Beate (2010), S.67f. 48 Vgl. Hüttl, Beate (2010), S.71 42

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Brasilien Im Jahr 2005 wurden 41% der Kinder mit Behinderung an öffentlichen Regelschulen beschult.49 In der Praxis stellt sich die Umsetzung von Inklusion als schwierig dar. Die Infrastruktur vieler Schulen lässt keine barrierefreie Nutzung zu. Die Lehrerinnen und Lehrer sind sonderpädagogisch nicht ausreichend ausgebildet und oft fehlt es an Material und an Geldern für spezielle Hilfsmittel.50 11. Perspektiven Durch internationale Richtlinien, denen sich Brasilien seit der Ratifizierung der UN- BRK verpflichtet hat, werden die Perspektiven von Menschen mit Behinderung stark beeinflusst.51 Die jüngsten Berichte von Inclusion Interamericana zeigen wichtige Fortschritte auf.52 Sie liegen vor allem in einem neuen Verständnis davon, was inklusive Bildung, Integration in den Arbeitsmarkt und soziale Eingliederung von Menschen mit Behinderungen sein kann. Der Veränderungsprozess ist durch wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten, die je nach Gebiet variieren, unterschiedlich umsetzbar. Die Regierung versucht, die Lehrpläne so zu verändern, dass viele Lehrerinnen und Lehrer gezwungen sind, ihre sonderpädagogischen Kompetenzen neu zu reflektieren und zu erweitern. Dies führt dazu, dass Schülerinnen und Schüler mit Behinderung und selbst Straßenkinder und Slum-Kinder zunehmend von der Gesellschaft akzeptiert werden, da Inklusion „Bildung für alle“ bedeutet und niemanden ausschließt. Während der letzten Jahre hat das Thema der inklusiven Bildung an Interesse und Aufmerksamkeit gewonnen und zu Publikationen, Konferenzen und Tagungen im ganzen Land geführt.53

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FALLBEISPIEL LUANA Frühe Kindheit54 Lana kommt durch eine Hausgeburt zur Welt. Ihre Familie lebt auf dem Land. Sie halten sich mit ihrer Landwirtschaft über Wasser und können sich mit großer Mühe selbst versorgen.55 Phasenweise ist die Ernährung sehr einseitig. Als Luana drei Jahre alt ist, wird sie plötzlich krank. Als sie immer schwächer wird, bringen ihre Eltern sie zur nächstgelegenen Krankenstation. Nachdem sie dort die ganze Nacht im Warteraum verbracht haben, beschließen sie, wieder nach Hause zu gehen, da die Station nach wie vor überfüllt ist und sie ihrer Tochter Ruhe gönnen wollen. Zuhause angekommen, hat sich der Zustand ihrer Tochter zunehmend verschlechtert. Immer wieder hat Luana Schwächeanfälle. Am nächsten Morgen geht die Familie erneut zur Krankenstation und wartet wieder den ganzen Tag. Schließlich wird Luana einem Arzt vorgestellt der bestätigt, dass Luana an einem bereits seit Wochen andauernden Jodmangel durch Unterernährung leidet. In zusätzlichen Untersuchungen stellt sich heraus, dass sie bereits Schäden im auditiven und visuellen System sowie eine Beeinträchtigung der intellektuellen Leistungsfähigkeit aufweist.56 Im ersten Moment wissen ihre Eltern nicht damit umzugehen und nehmen ihre Tochter wieder mit nach Hause. Kindheit Luana geht schon früh mit ihren Eltern aufs Feld, weil diese arbeiten müssen, um sich ihre Ernährung zu sichern. Dort trifft sie auf andere Kinder der Nachbarschaft. Als sie fünf Jahre alt ist, wird sie, wie andere Kinder, in die landwirtschaftliche Arbeit ihrer Eltern voll einbezogen. Luana fühlt

Vgl. Ministério da Educação - MEC/ INEP, 2006 [Stand: 16.10.2010] Vgl. Hüttl, Beate (2010), S.105 51 Anm.: 1990 hat Brasilien die Konvention 159 der ILO über die berufliche Rehabilitation und Beschäftigung und 2001 die Interamerikanische Konvention über die Beseitigung sämtlicher Formen der Diskriminierung von Personen mit Behinderung ratifiziert. Vgl. Krausnick, Michail (2009), S.97 52 Vgl. Inclusion Interamericana [Stand: 04.10.2010] 53 Vgl. Federação Nacional das Apaes [Stand: 04.10.2010] 54 Bei der Konstruktion dieses Fallbeispiels konnte nicht, wie in den anderen Ländern, die Erkrankung ‚Hirnhautentzündung‘ gewählt werden, da Luana aufgrund der medizinischen Versorgungssituation vermutlich daran gestorben wäre. Vgl. Brasilien.de (Hrsg.), Gesundheitssystem [Stand: 03.10.2010] 55 Vgl. Deutsches Institut für Armutsbekämpfung (Hrsg.) [Stand: 08.10.2010] 56 Vgl. Medizinfo (Hrsg.) [Stand: 16.10.2010] 50

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Brasilien sich durch die Arbeit gefordert. Die Nachbarn der Familie sehen, dass Luana anders ist als die anderen Kinder. Sie gehen freundlich mit ihr um. Schule Als Luana das siebte Lebensjahr57erreicht, hoffen die Eltern, dass ihre Tochter in der nahegelegenen öffentlichen Regelschule eingeschult wird. Dies stellt sich als schwierig heraus, da Luana zu ihrer auditiven und visuellen Behinderung auch noch eine geistige Behinderung aufweist und die Lehrerinnen und Lehrer sich dort nicht ausreichend ausgebildet fühlen, um sie angemessen zu fördern. Luana erhält keinen Schulplatz. Eine staatliche oder private Sonderschule gibt es in ihrem Dorf nicht. Die Nächste ist weit entfernt und ihre Eltern haben keine Möglichkeit, sie dort hinzubringen. Luana bleibt weiterhin Zuhause und arbeitet auf dem Feld. Freizeit Als ihre Eltern sie in die Kirche mitnehmen, wird eine Mutter auf das Mädchen aufmerksam. Sie kommt mit Luanas Eltern ins Gespräch und berichtet ihnen über ihre Tätigkeit in einem nahegelegenen Behindertenzentrum.58 Die Frau lädt Luana und ihre Eltern ein. Bereits am nächsten Tag besucht Luana mit ihren Eltern diese Einrichtung. Sie fühlt sich auf Anhieb wohl und kommt schnell in Kontakt mit anderen Kindern, die ein ihr ähnliches Schicksal teilen. Die Eltern Luanas sind positiv überrascht von diesem Projekt und setzen sich dafür ein, dass Luana dort ein Platz zugesichert wird. Sie haben Erfolg. Ihnen werden Übungen gezeigt, wie sie Luana gezielt zuhause fördern können. Schon den Tag darauf wird sie in die Gruppe aufgenommen und besucht diese von nun an täglich.

Schule Luana macht große Fortschritte. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentrums suchen das Gespräch mit den Eltern. Sie wollen sie dazu ermutigen, erneut zu versuchen, Luana in die Regelschule des Dorfes einzuschulen. Die Sozialarbeiterin begleitet Luanas Eltern zum Termin in der Schule. Sie weist auf die Fortschritte hin, die Luana bereits in kürzester Zeit gemacht hat und bietet der Schule an, eine Fortbildung für die dortigen Lehrerinnen und Lehrer zu organisieren und durchzuführen, damit diese den speziellen Bedürfnissen von Kindern mit Behinderung entsprechen können. Sie haben Erfolg. Luana darf probeweise kommen. Eine Woche später hat Luana ihren ersten Schultag. Im ersten Moment scheint alles gut zu werden. Die anderen Kinder interessieren sich für sie und Luana fühlt sich aufgenommen. Das bleibt nicht so. Schon zwei Monate später fühlt Luana sich nicht mehr wohl. Die anderen lachen sie aus, wenn sie etwas sagt. Die Klassenlehrerin bittet ihre Eltern zum Gespräch und rät ihnen, Luana von der Schule zu nehmen, da sie nicht mehr tragbar sei und durch sie der Unterricht gestört würde. Zudem hätte Luana die Schulpflicht bereits erfüllt, sie ist 14 Jahre alt. Die Eltern besprechen sich mit Luana und beschließen gemeinsam, die Schule zu verlassen. Eine Privatschule kann sich die Familie nicht leisten. Übergang ins Arbeitsleben und junges Erwachsenenalter Nachdem Luana nun nicht mehr zur Schule geht, erwarten ihre Eltern von ihr, dass sie wieder in der Landwirtschaft mitarbeitet. Luana fügt sich. Nach und nach entwickelt sie eigene Vorstellungen und Wünsche, wie sie ihr Leben gestalten möchte. Sie möchte nicht länger auf einem Feld

57

Anm.: In Brasilien gilt ab dem 7. bis zum 14. Lebensjahr Schulpflicht, jedoch wird dies nicht von den Behörden kontrolliert. 58 Anm.: Als Beispiel gilt CERVAC - das Centro de Reabilitação e Valorização da Criança. Es wurde 1988 von engagierten Eltern gegründet und wird von der Kindernothilfe unterstützt. Es ist ein Zentrum für 240 Kinder. Sieben Behandlungsräume, ein Essraum, eine Küche, zwei Unterrichtsräume, zwei therapeutische Schwimmbecken, zwei Warteräume, ein Raum für die Vorschularbeit und zwei Büros stehen den Kindern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dort zur Verfügung. Neben den bezahlten Teil- und Vollzeitkräften arbeiten rund 30 Mütter regelmäßig an der Rehabilitation ihrer Kinder mit. Gezielte Therapieformen und individuelle Förderung tragen dazu bei, die Kinder angemessen zu fördern. Ein Drittel der Kinder besucht dank dieser Unterstützung eine reguläre Schule. CERVAC bietet Fortbildungen für Lehrerinnen und Lehrer an, um eine Inklusion von Kindern mit Behinderung zu erreichen. Vgl. Kindernothilfe [Stand: 16.10.2010] 19

Brasilien arbeiten, sondern in die nächste Stadt ziehen, um sich dort einen Job zu suchen. Eine Ausbildung hat sie nicht. Sie hofft, in der Stadt eine Arbeitsstelle zu finden. Ihre Eltern sind anfangs dagegen, doch sie kann sie überzeugen und zieht um. Schnell bemerkt sie, dass ihr neuer Lebensweg nicht einfach wird. Sie ist nun auf sich alleine gestellt und hat nicht mehr den Rückhalt ihrer Familie. Sie nimmt wahr, dass sich viele Menschen, von ihr abwenden oder sie meiden. Auf der Straße lernt Luana eine Frau kennen, die sich ihrer annimmt und ihr einen Job als Haushaltshilfe bei einer Familie vermittelt. Diese ist besser situiert und bietet Luana sogar die Möglichkeit an, bei ihnen im Haus zu wohnen. Luana nimmt das Angebot an, aber sie fühlt sich dort oft einsam und vermisst ihre Familie und auch einen Freund, der sie unterstützt. Zunehmend hat sie das Gefühl, dass sie von der Familie, in der sie tätig ist, ausgenutzt wird. Sie arbeitet durchgehend von Montag bis Sonntag und hat kaum Zeit für sich.59

ihrer Eltern kennen. Die beiden verlieben sich ineinander und übernehmen gemeinsam die Arbeiten in der Landwirtschaft. Die nächsten zwei Jahrzehnte verbringt Luana gemeinsam mit Paulo. Seniorinnenalter Als Luana älter wird, bekommt sie plötzlich hohes Fieber, welches nach zwei Tagen wieder abklingt. Sie kann nicht mehr aufs Feld. Paulo kümmert sich alleine um die Bestellung der Felder. Luana verbringt die meiste Zeit des Tages alleine in der Hütte. Das Fieber tritt erneut in Schüben auf. Sie fühlt sich zu schwach, um die Krankenstation des Dorfes aufzusuchen. Innerhalb von drei Tagen sind die Symptome stärker geworden. Im Alter von 65 Jahren erliegt Luana den Folgen von Dengue-Fieber.61

Erwachsenenalter Nachdem Luana knapp drei Jahre in der Familie tätig war, verlässt sie diese und begibt sich auf die Suche nach einer anderen Arbeitsstelle. Im Moment verdient sie kein Geld, um sich ihren Lebensunterhalt zu sichern. Luana ist nach wie vor einsam, sie hat niemanden, an den sie sich anlehnen kann. Sie lernt einen jungen Mann kennen, der ihr Liebe und ein schönes Leben verspricht. Luana glaubt ihm alles. Sie rutscht in die Prostitution ab. Über ansteckende Krankheiten und Empfängnisverhütung wurde sie nie aufgeklärt.60 Das Leben wird immer schwieriger. Sie kann sich nur mit Prostitution und Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Mit 45 Jahren beschließt sie, zurück in ihr Heimatdorf zu ziehen. Sie vermisst ihre Eltern zunehmend, die nun selbst auf Unterstützung angewiesen sind. Sie hofft nun darauf, die Tätigkeit in der Landwirtschaft ihrer Eltern übernehmen zu können. Zurück im Dorf lernt Luana Paolo, einen Feldarbeiter

59

Anm.: Im Jahr 2003 hat die Menschenrechtsorganisation Justiça global einen Bericht über Menschenrechte in Brasilien publiziert. Der Bericht verweist auf die Diskrepanz zwischen progressiven Normen und ihrer mangelhaften praktischen Umsetzung. Vgl. Carvalho, Sandra E.de, S.11 60 Vgl. Index Mundi, Lebenserwartung von Frauen [Stand: 08.10.2010] 61 Vgl. Index Mundi, Lebenserwartung von Frauen [Stand: 08.10.2010]; Vgl. Heinemann, Pia [Stand: 16.10.2010] 20

Brasilien Quellenverzeichnis AACD (Associação de Assistência a Criança Deficiente: http://www.aacd.com.br/relatorio_atividades.pdf [Stand: 27.09.2010] AACD: http://asconcongressos.com.br/eventos/2009/aacd/ingles.php?conteudo=10 [Stand: 16.10.2010] AACD, Video: http://comunidadeaacd.ning.com/video/2406047:Video:91834?commentId=2406047%3AComment%3A119066&xg_source= activity [Stand: 16.10.2010] Acessibilidade Brasil: http://www.acessobrasil.org.br/index.php?itemid=263 [Stand: 27.09.2010] Baldi, César Augusto, Convenção sobre os direitos das pessoas com deficiência e o Brasil: http://www.paranaonline.com.br/canal/direito-e-justica/news/408355/?noticia= CONVENCAO+SOBRE+OS+DIREITOS+DAS +PESSOAS+ COM+DEFICIENCIA+E+O+BRASIL Brasilianische Botschaft: http://brasilianische-botschaft.de/politik/demokratie-und-rechtsstaat/ [Stand: 26.09.2010] http://brasilianische-botschaft.de/politik/ [Stand: 26.09.2010] Brasilien.de (Hrsg.): http://www.brasilien.de/volk/soziales/familie.asp [Stand: 03.10.2010] Brasilien.de (Hrsg.), Gesundheitssystem: http://www.brasilien.de/land/leben/gesund.asp [Stand: 03.10.2010] Brazil Government, Constitution: http://www.v-brazil.com/government/laws/titleVIII.html [Stand: 26.09.2010] Bruschini et al.: http://family.jrank.org/pages/178/Brazil-Aspects-Contemporary-Family.html [Stand: 03.10.2010] Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): http://www.kooperationinternational.de/brasilien/themes/info/detail/data/24166/backpid/13/?PHPSESSID=c332 [Stand: 24.09.2010] Bundesministerium für Finanzen Brasilien: http://www.1.folha.uol.com.br/mercado/792959-cara-tributaria-no-brasil-emaior-do-que-nos-eua-dinamarca-lidera.shtml [Stand: 29.09.2010] Carvalho, Sandra E. de: Menschenrechte in Brasilien. 1. Aufl. Berlin 2004. Centro Turismo Alemão (DZT) (2007). Marktinformation Brasilien 2007. São Paulo. Center for International Rehabilitation (Hrsg.): http://www.ideanet.org/content.cfm?id=535D [Stand: 27.09.2010] Centro de Informação das Nações Unidas- Rio de Janeiro: http://unicrio.org.br/unic-rio/ [Stand: 16.10.2010] CMB (Hrsg.): http://www.cmb.org.br/ [Stand: 29.09.2010] Damião Alves de Azevedo, Por uma compreensão constitucionalmente adequada da Assistência Social: http://www.cnecprsp.edu.br/files/instrucoes/2/anexo.pdf [Stand: 29.09.2010] Deutsches Institut für Armutsbekämpfung (Hrsg.): http://www.armut.de/definition-von-armut.php [Stand: 08.10.2010] Escola de Enfermagem de Ribeirão Preto / Universidade de São Paulo: http://www.scielo.br/scielo.php?script=sci_arttext&pid=S0104-11692007000700022 [Stand: 15.10.2010] Federação Nacional das Apaes: http://www.apaebrasil.org.br/noticia.phtml?n=24521 [Stand: 04.10.2010] Fritzsche, K. Peter: http://www.dochost.de/index.php?option=com_content&task=view&id=87&Itemid=82 [Stand: 03.10.2010] Government Brazil, Sistema unico de assistencia social: http://www.tj.sp.gov.br/Download/Corregedoria/pdf/sist_unico_as.pdf [Stand: 13.10.2010] Government Brazil, Bolsa escola: http://www.e.gov.br/defaultCab.asp?idservinfo=42069&url=http://www.caixa.gov.br/Voce/Social/Transferencia/bolsa_familia/saiba_mais.asp [Stand: 30.09.2010] Heinemann, Pia: http://www.welt.de/wissenschaft/article1843735/Dengue_Fieber_wuetet_am_Zuckerhut.html [Stand: 16.10.2010] Hoffmann, Erik, Brasilgate: http://www.brasilgate.com/main/bildungkultur.php [Stand: 30.09.2010] Hüttl, Beate: Inklusion von Schülern und Schülerinnen im Bildungssystem von -TERESINA - PIAUÍ -Brasilien, Carl von Ossietzky, Universität Oldenburg 2010.

21

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SYNOPTISCHE DARSTELLUNG

FÜR

DEUTSCHLAND1

Gesamtbevölkerung

82 Millionen

Menschen mit Behinderung (1)

2005: 8,6 Millionen Menschen waren als behindert registriert. 6,7 Millionen Menschen davon als schwerbehindert.

In der Verfassung verankert (2)

Ja, Artikel 3, Absatz 3.

Leitbild von Inklusion (3)

Umfassende Fachdebatten über Inklusionsbegriff (Inklusion versus Integration).

Explizite Rechte und Realität (4)

Viele gesonderte Gesetzestexte, schwierig durchschaubar für Betroffene, Angehörige und Zuständige auf den Ämtern. Großer bürokratischer Aufwand, um zustehende Rechte geltend zu machen.

Staatliche Sozialleistungen (5)

Sozialversicherungssystem für Beitragspflichtige und Sozialhilfeprogramme für Bedürftige (Sozialgesetzbücher I-XII). Explizite Leistungen für Menschen mit Behinderung (Sozialgesetzbücher IX, XI und XII) konzentrieren sich auf die Eingliederung in die Gesellschaft.

Träger Sozialer Arbeit (6)

Staatliche Institutionen, überwiegend freie und private Trägerschaft auf Grund des Subsidiaritätsprinzips.

Finanzierungsformen (7)

Hauptsächlich Sozialversicherungen und öffentliche Gelder.

Religion (8)

Evangelisch (33%); katholisch (33%); muslimisch (4%); jüdisch (0,1%); andere (1,9%); keine (28%).

Rolle der Kirche (8)

Große Bedeutung der kirchlichen Träger in der Behindertenhilfe.

Rolle informeller Versorgungsformen (9)

Familienzusammenhalt emotional wichtig, für die Existenzsicherung nicht zwingend erforderlich.

Bildungsbereich (10)

Schulpflicht für alle Kinder. Fast alle Kinder mit Behinderung werden beschult, überwiegend in separierten Schulformen. Barrierefreiheit an Regelschulen oft nicht gewährleistet.

Zukunftsperspektiven (11) Aktionspläne auf kommunaler und nationaler Ebene wurden oder werden initiiert. Senkung des Versicherungsschutzes erkennbar, da finanzielles Defizit vorhanden. Marktöffnung für sozialen Sektor verstärkt Ungleichheiten. Demographischer Wandel fordert Sicherungssystem stark. Ratifizierung der UNBehindertenrechtskonvention

Ja, im Jahr 2009.

Monitoring-Stelle

Deutsches Institut für Menschenrechte.

Geschlecht und Behinderung

Gesundheits- und Hilfesystem noch nicht ausreichend auf Frauen mit Behinderung eingestellt. Barrierefreiheit in Einrichtungen für Frauen fehlt. Handlungsbedarf bei Recht auf Mutterschaft besteht.

Besondere Stärken

Ausgebautes Sozialsystem, in dem theoretisch alle Menschen abgesichert sind. Professionalität pädagogischer Fachkräfte für Menschen mit Behinderung. Viele Stellen und Organisationen mit Ansprechpersonen für Betroffene und ihre Angehörigen.

1

Anm.: Die in Klammern gesetzten Zahlen geben die Kapitelnummer in jeweiliger Länderstudie an. 23

LÄNDERSTUDIE DEUTSCHLAND 1. Statistik In Deutschland erhebt, sammelt und evaluiert das Statistische Bundesamt Daten zu Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt. Diese Statistiken geben einen Überblick über Formen und Häufigkeit von Behinderungen. Nach Angaben des Auswärtigen Amts leben im Jahr 2010 in Deutschland mehr als 82 Millionen Menschen. Zum Jahresende 2005 hatten insgesamt 8,6 Millionen (circa 10%) von ihnen eine amtlich anerkannte Behinderung. Hiervon gelten 1,9 Millionen Menschen als „leicht behindert“ und 6,7 Millionen als „schwerbehindert“.1 3,5 Millionen der „schwerbehinderten“ Menschen waren männlich, 3,2 Millionen weiblich. Behinderungen treten vor allem bei älteren Menschen auf. Drei von vier schwerbehinderten Menschen sind älter als 55 Jahre.2 Die Informationen für die Statistik erhält das Bundesamt durch die Versorgungsämter, die berechtigt sind, den Grad der Behinderung (GdB) zu bestimmen. Menschen mit Behinderung lassen sich dort registrieren, um mögliche Unterstützungsleistungen zu bekommen. Eine Meldepflicht bei Behinderung besteht nicht. Es kann davon ausgegangen werden, dass nicht alle Betroffenen sich registrieren lassen und in der Statistik erfasst sind.3 Die Behinderungsformen werden in Anlehnung an die WHO klassifiziert. Es wird unterschieden zwischen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen, zerebralen Störungen, Blindheit, Sehbehinderung, Schwerhörigkeit, Gleichgewichts- und Sprachstörungen.4 2. Verfassung Gemäß Verfassung ist Deutschland ein demokra-

1

Dominique Heyberger tischer und sozialer Bundesstaat. Im Grundgesetz (GG) sind eine Reihe sozialer Grundrechte festgelegt. In Artikel 1 wird die Würde des Menschen als unantastbar und ihr Schutz als Verpflichtung aller staatlichen Gewalt definiert. In Artikel 3 Absatz 3 ist explizit festgelegt, dass niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden darf (wurde 1994 ergänzend hinzugefügt).5 Die Aufgabe des Staates besteht gemäß des Sozialstaatsprinzips darin, dem Menschen in der Gemeinschaft ein menschenwürdiges Leben in Freiheit und Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen zu ermöglichen. Deutschland nimmt beim HDI Ranking Platz 22 von 182 Ländern ein und zählt zu den Hochentwickelten Ländern mit der Kategorie „Very High Human Development“.6 3. Leitbild ‚Inklusion‘ Es existiert derzeit noch kein einheitliches Leitbild von ‚Inklusion‘, dafür ein umfassender Fachdiskurs über die Konsequenzen aus der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die 2009 ratifiziert wurde. Große Kontroversen entzünden sich an der einfachen Frage ‚Was ist mit Inklusion in Deutschland gemeint?‘ Anlass hierfür bietet die offizielle Übersetzung der UN-BRK. Dort wurde der Begriff ‚inclusive education system‘ als ‚integratives Bildungssystem‘ ins Deutsche übertragen. Dies führt zu Unstimmigkeiten in deutschsprachigen Fachdiskussionen, da dort ein Unterschied zwischen Integrationskonzepten einerseits und Inklusionskonzepten andererseits gemacht wird. Während sich nach ersterem die Kinder mit Behinderung an die bestehenden Schulstrukturen anzupassen haben, müssen sich nach dem

Vgl. Auswärtiges Amt [Stand: 19.10.2010]; Statistisches Bundesamt Deutschland, Pressemitteilung Nr.406 vom 30.10.2008 [Stand: 19.05.2010]; Pompey, Heinrich [Stand: 19.10.2010]; 2 Vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland, Pressemitteilung Nr.258 [Stand: 19.05.2010] 3 Anm.: Trotz günstiger juristischer Ausgangslage zeigen sich Schwierigkeiten, die Bedarfe betroffener Menschen so zu erfassen, dass sie von den Leistungen profitieren können, die ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen sollen. Rechtsansprüche bestehen in allen Bundesländern. Die Umsetzung ist verschieden geregelt. Die Mehrzahl der Leistungen erhalten Menschen mit dem Status „schwerbehindert“. Rechtlich spricht man vom ‚Nachteilsausgleich‘, im Fachdiskurs wird bewusst von ‚personenzentrierten Hilfen‘ gesprochen. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Ratgeber für Menschen mit Behinderung (2010), S.13; Menzel, Martina/ Stenzig, Klaus-Peter (2010); Rathsmann-Sponsel, Irmgard/ Sponsel, Rudolf [Stand: 27.11.2010] 4 Vgl. Statistisches Bundesamt 2009, In: Aktion Mensch e.V. (Hrsg.), Leitfaden für Lehrer 5 Vgl. Deutscher Bundestag [Stand: 19.10.2010]; Wienand, Manfred (2006), S.9; Arnade, Sigrid, S.11 [Stand: 19.05.2010] 6 Vgl. Papenheim, Heinz-Gert et al. (2008), S.2; United Nations (Hrsg.), S.180ff. [Stand: 30.11.2010] 24

Deutschland Konzept der inklusiven Erziehung die Schulstrukturen an die Bedürfnisse der Kinder anpassen. Eine so verstandene ‚Inklusion‘ würde eine radikale Veränderung des deutschen Schulwesens auf allen Ebenen nach sich ziehen.7 Die Vorstellungen über Inklusion sind unterschiedlich. Betroffene und Angehörige betonen die ‚persönliche Individualität‘, während das deutsche Recht von Defiziten und von der Norm des ‚gesunden Menschen‘ ausgeht, an denen Menschen mit Behinderung bewusst oder unbewusst gemessen werden. Letzteres führt im Alltag von Menschen mit Behinderungen zu Stigmatisierungen. Behindertenbeauftragte sowie zahlreiche NGOs verweisen darauf, dass knapper werdende finanzielle Mittel und die angespannte Situation auf dem Arbeitsmarkt für viele Menschen mit Behinderung die Verwirklichung von Inklusion im Sinne von Teilhabe, Selbstbestimmung und Gleichstellung unerreichbar machen.8 Dieser Zustand widerspricht der Zielsetzung der UN-BRK. Das Deutsche Institut für Menschenrechte wurde mit der Monitoring-Stelle für die Begleitung der Umsetzung der UN-BRK beauftragt. Es übernimmt Aufgaben wie Politikberatung, anwendungsorientierte Forschung und Öffentlichkeitsarbeit.9 4. Rechte Ein fundamentales Gesetz für hilfsbedürftige Menschen mit Behinderung ist das im Jahr 2001 in Kraft getretene neunte Sozialgesetzbuch ‚Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen‘ (SGB IX).10 In diesem wird in §2 ‚Behinderung‘ definiert. Das SGB IX findet explizit bei Menschen mit Behinderung Anwendung, die Leistungen zur Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beantragen. Es hat zum Ziel, das

System der Sozialgesetzgebung zu vereinfachen, indem es Leistungen aus einer Hand ermöglicht. Antragstellerinnen und Antragstellern sollen lange Wartezeiten erspart und nach §9 das Wunsch- und Wahlrecht gewahrt werden. Diese Ziele wurden laut des Landesverbandes für körperbehinderte Menschen nicht erreicht. Seit Einführung des SGB IX habe sich nichts an der unübersichtlichen Lage der zustehenden Rechte und Leistungen für Betroffene und deren Familie geändert. Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ist eine Leistung der Sozialhilfe, die seit dem 1. Januar 2005 in das Sozialgesetzbuch XII (SGBXII) übernommen wurde.11 Ein weiteres Recht ist das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) aus dem Jahr 2002.12 Es regelt unter anderem die Barrierefreiheit, erkennt die Gebärdensprache als eigenständige Sprache an, benennt Benachteiligungsverbote für Bundesbehörden und das Recht auf zugängliche Bescheide und Vordrucke. Dieses Gesetz findet in der Praxis bisher kaum Anwendung.13 Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) aus dem Jahr 2006 gilt für alle Menschen mit und ohne Behinderung. Es verbietet unter anderem eine Diskriminierung aufgrund von Alter, Religion, Geschlecht, Behinderung, ethnischer Herkunft und sexueller Orientierung. Es reicht von der Bewerbungsauswahl über die Zugangsmöglichkeiten zu beruflichen Bildungsmaßnahmen bis hin zur Beförderung. Es verbietet Diskriminierungen bei Massengeschäften wie zum Beispiel Kaufverträgen und Hotelbuchungen. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS), die zur Umsetzung des AGG geschaffen wurde, unterstützt und berät Personen, die Benachteiligungen erfahren haben.14

7

Vgl. Arnade, Sigrid, S.19 [Stand: 19.05.2010] Vgl. Häfner, Sabine [Stand: 19.10.2010]; Anm.: Die Beauftragten für Menschen mit Behinderung sind auf Bundes-, Länder- und Kommunaler Ebene aktiv.; Vgl. Hüppe, Hubert [Stand: 19.10.2010] 9 Vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.) [Stand: 02.09.2010] 10 Vgl. SGB I bis SGB XII, SGB I Allgemeiner Teil (2010) 11 Vgl. Wasmund, Steffen [Stand: 19.10.2010]; Landesverband für körperbehinderte Menschen (Hrsg.) [Stand: 22.09.2010]; Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales (Hrsg.) [Stand: 27.11.2010] 12 Anm.: Es bekräftigt, dass sich die Gesellschaft vom Fürsorgebegriff löst und ein Verständnis von Teilhabe und Selbstbestimmung entwickelt. Vgl. Behncke, Rolf, S.1 [Stand: 22.11.2010] 13 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.); Politik für behinderte Menschen [Stand: 22.09.2010]; Fetzer, Antje (2010); Häfner, Sabine [Stand: 19.10.2010] 14 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Politik für behinderte Menschen [Stand: 22.09.2010]; Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.) [Stand: 19.10.2010] 8

25

Deutschland Die Alltagspraxis zeigt erhebliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Gesetze. Probleme existieren zum Beispiel durch die Tatsache, dass sich das Personal auf Ämtern, durch grundlegende gesetzliche Umstrukturierungen ständig neu orientieren muss. Gleichzeitig bewirken Kürzungen im sozialen Bereich, dass immer weniger Mittel zu vergeben sind.15 Trotz der positiven gesetzlichen Grundlage erhalten viele Menschen mit Behinderung und deren Angehörige nicht die beantragten Leistungen oder diese werden ihnen nur für einen kurzen Zeitraum bewilligt. Für viele Betroffene bedeuten die zahlreichen Ämterbesuche extreme Belastungen und Unsicherheiten, die sich durch ihr ganzes Leben ziehen. 5. Sozialleistungen Die sozialstaatlichen Strukturen wurden erstmals 1871 durch den Reichskanzler Otto von Bismarck aufgebaut. Seitdem durchlebte die deutsche Bevölkerung zwei Weltkriege, den Nationalsozialismus, die Spaltung in Ost- und Westdeutschland und die Wiedervereinigung im Jahre 1990. Während des nationalsozialistischen Systems, das den zweiten Weltkrieg zu verantworten hat, nahmen Massentötungen und die Auslöschung von sogenanntem ‚unwertem Leben‘ ein hohes Ausmaß an. Aufgrund krimineller Gesetze wurden zwischen 1940 und 1941 mindestens 70.000 Menschen mit geistiger Behinderung und psychisch kranke Menschen in Vernichtungszentren ermordet.16 Das heutige ausdifferenzierte

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System von Hilfen gründet in den Versagenserfahrungen der Vergangenheit und der bewussten Aufarbeitung der Ideologie des Faschismus und der ‚Euthanasie‘.17 Die unter Punkt 4 benannten Sozialgesetzbücher I bis XII beschreiben in erster Linie alle Geld- und Sachleistungen, die Menschen aktuell (2010) zustehen, wenn sie leistungsberechtigt sind.18 Für den Alltag von Menschen mit Behinderung sind SGB IX und XII entscheidend. Während ersteres die Leistungen zur Teilhabe der medizinischen Rehabilitation sowie Leistungen zur gesellschaftlichen Teilhabe beschreibt, beinhaltet letzteres Rechtsgrundlagen für die Sozialhilfe für Menschen mit und ohne Behinderung. SGB XII ermöglicht Menschen mit Behinderung, die hilfebedürftig im Sinne der Sozialhilfe sind19, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur beruflichen und sozialen Teilhabe im Rahmen der Eingliederungshilfe.20 Das Nachrangigkeitsprinzip des SGB XII führt zu langwierigen Abklärungen von Zuständigkeiten zwischen Sozialämtern einerseits und den Kranken-, Renten- und Unfallversicherungen andererseits.21 Das gegliederte System der sozialen Sicherung bewirkt, dass Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe und unterhaltssichernde Leistungen von verschiedenen Leistungsträgern erbracht werden. Um eine Leistung zu erhalten bedarf es der Bewilligung durch das zuständige Amt. Bei Nichtbewilligungen kann vor Sozialgerichten und allgemeinen

Vgl. Winden, Dorothee [Stand: 22.09.2010]; Häfner, Sabine [Stand: 19.10.2010]; Anm.: Durch die Einführung des SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende) und SGBXII (Sozialhilfe) und die damit verbundene Ablösung des Bundessozialhilfegesetzes sowie die Einführung des Fallmanagement 2006 und des trägerübergreifenden Persönlichen Budgets als Leistungsform 2008 kamen auf das Personal in den Ämtern große Veränderungen zu. Vgl. Klie, Thomas et al. (2008) 16 Vgl. Schubert, Klaus et al. (2008), S.127f.; Häußermann, Martin [Stand: 27.11.2010] 17 Vgl. Menzel, Martina/ Stenzig, Klaus-Peter (2010) 18 Vgl. SGB I bis SGB XII; SGB I Allgemeiner Teil (2010) 19 Anm.: Der Nachweis der Bedürftigkeit wird erbracht durch Offenlegung der eigenen Finanzlage und die der unterhaltspflichtigen Angehörigen. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Ratgeber für Menschen mit Behinderung (2010), S.15f. 20 Anm.: Eingliederungshilfen können zum Beispiel eine Assistenz in der Schule oder Pflegeleistungen sein. Ein Kind mit Behinderung kann durch Eingliederungshilfe zu 100% versorgt werden, soweit es keine eigenen zur Verfügung stehenden Mittel hat. SGB XII §§ 26, 33, 41, 54, 55 21 Anm.: Bei Antragstellung muss die Zuständigkeit und Begründetheit überprüft werden. Dabei ergeht ein Verwaltungsakt (§31 SGB X) der zuständigen Behörde. Hieraus resultieren oftmals Widerspruchsverfahren wenn Leistungen verweigert werden oder die Zuständigkeit nicht geklärt wird. SGB XII greift erst nachdem alle anderen Sozialleistungsträger auf Zuständigkeit geprüft wurden. 26

Deutschland Verwaltungsgerichten Einspruch eingelegt werden.22 Expertinnen und Experten der Behindertenhilfe weisen darauf hin, dass segregierende Sondergesetze und Sonderhilfen, die zum Schutz gedacht waren und Teilhabe ermöglichen sollten, häufig eine gesellschaftliche Teilhabe unmöglich machen. Sie fordern den bisherigen Automatismus im Umgang von Menschen mit Behinderung durch Anwendung des im Sozialgesetzbuch vorgesehenen Konzeptes des persönlichen Budgets zu ersetzen.23 Dieses basiert auf Geld- statt Sachleistungen und macht aus Hilfeempfängerinnen und -empfängern selbstbestimmte Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber.24 6. Träger der Sozialen Arbeit In Deutschland wird unterschieden zwischen den öffentlichen Trägern (Bund, Länder, Kommunen oder Körperschaften des öffentlichen Rechts) und den freien und privaten Trägern (Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Stiftungen, Körperschaften des privaten Rechts). Entscheidend ist das Subsidiaritätsprinzip, das die Eigenverantwortung vor staatliches Handeln stellt. Erst wenn eigenverantwortliches Unterstützungspotential und bürgerschaftliches Engagement ausgeschöpft sind, greift die staatliche Ebene ein.25 Der Subsidiaritätsgedanke wird auf Verbandsebene durch das Vorrangprinzip freier Träger umgesetzt. Dieses Prinzip bewirkt, dass öffentliche Träger, die für die jeweiligen Bedarfsleistungen zuständig sind, diese nur dann selbst ausführen, wenn nicht andere freie oder private Träger bereit sind, die Leistungen in Auftragsform zu erbringen. Die Freie Wohlfahrtspflege ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die sozialen Hilfen auf einer freigemeinnützigen Basis, also nicht gewerblich orientiert, anbietet.26 Das System der Freien Wohlfahrtspflege ist ein-

zigartig und für Deutschland spezifisch. Die sechs Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege sind die Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Deutsche Caritasverband, das Deutsche Rote Kreuz, der Paritätische Wohlfahrtsverband, das Diakonische Werk und die Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden.27 7. Finanzierungsformen Die soziale Sicherung besteht aus drei Säulen. Die erste Säule ist die Sozialversicherung, die zum Beispiel bei Krankheit, Unfall und Rente Unterstützung bietet. Sie wird durch Beitragszahlungen finanziert. Der Bezug einer Leistung setzt eine finanzielle Vorleistung voraus. Die zweite Säule, die Versorgung, wird aus allgemeinen Steuermitteln finanziert, um Menschen gegen soziale Risiken abzusichern und beim Vorliegen lebenstypischer Belastungen, wie zum Beispiel ‚Behinderung‘, zu unterstützen. Diese Versorgungszahlungen setzen keine finanzielle Vorleistung voraus. Die dritte Säule, die Fürsorgeleistung, ist grundsätzlich nachrangig gegenüber den anderen beiden Säulen der sozialen Sicherung. Sie setzt finanzielle Bedürftigkeit voraus und wird hauptsächlich aus kommunalen Steuermitteln finanziert. Je nach Zuständigkeitsbereich werden die Sozialleistungen von Bund, Land oder Kommunen finanziert. Der Bund ist verpflichtet, den Kommunen finanzielle Mittel (Zuwendungen) zu gewähren, damit sie ihrer Funktion gerecht werden können. Zudem dürfen Gemeinden Steuern erheben.28 Viele Probleme der Eingliederungshilfe ergeben sich aus langwierigen Klärungen von Zuständigkeiten für verschiedene Hilfeleistungen.29 Im Jahr 2005 beliefen sich die Ausgaben der Sozialleistungen auf knapp 700 Milliarden Euro. Dies entspricht etwa einem Drittel des Brutto-

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Vgl. Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen [Stand: 13.11.2010]; Wienand, Manfred, (2006), S.19; Papenheim, Heinz-Gert et al. (2008), S.7 23 Vgl. § 17 SGB IX; Menzel, Martina/ Stenzig, Klaus-Peter (2010) 24 Vgl. Hofe Vom, Jutta [Stand: 27.11.2010] 25 Vgl. Papenheim, Heinz-Gert et al. (2008), S.53 ff. 26 Vgl. Kehlbreier, Dietmar, S.18 [Stand 27.11.2010]; Papenheim, Heinz-Gert et al. (2008), S.53 ff. 27 Vgl. Papenheim, Heinz-Gert et al. (2008), S.53 ff.; Fetzer, Antje (2010) 28 Vgl. Wienand, Manfred (2006), S.12ff.; Frenzel, Britta (2003), S. 48f., Papenheim, Heinz-Gert et al. (2008), S.44 29 Anm.: Als schwierig erweist sich beispielsweise die Klärung der Beförderungskosten zur Schule (Schule oder SGB XII) Vgl. Menzel, Martina/ Stenzig, Klaus-Peter (2010) 27

Deutschland inlandsprodukts (BIP). Im Jahr 2006 wurden zehn Milliarden Euro für die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung nach dem SGB XII ‚Sozialhilfe‘ ausgegeben. Mit einem Anteil von 58% ist die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung die finanziell bedeutsamste Hilfeart im Rahmen der Sozialhilfe. Im Laufe des Jahres 2006 erhielten 643.000 Personen Eingliederungshilfe nach dem SGB XII. Von den Leistungsbeziehern und -bezieherinnen waren 60% männlich und 40% weiblich. Circa 90% der Ausgaben für die Eingliederungshilfe wurden in Einrichtungen und 10% außerhalb von Einrichtungen investiert.30 Freie Träger können trotz staatlicher Zuwendungen nicht alle Leistungen durch öffentliche Gelder decken. Sie übernehmen ganz oder teilweise die entstehenden Kosten, um im Notfall schnelle Hilfe zu leisten. Hierzu setzen die freien Träger eigenes Vermögen aus Einnahmen, Spenden und sozialem Sponsoring ein. Da es den freien Trägern häufig an Geld mangelt, führen diese vermehrt Fundraising durch.31 8. Kirche und religiöse Motivation Die kirchlichen Verbände der Wohlfahrtspflege spielen eine bedeutende Rolle für die Soziale Arbeit. Die evangelische und katholische Kirche sind die größten Glaubensgemeinschaften. Ihnen gehören das Diakonische Werk und der Caritasverband als Sozialverbände an. Sie wirken als Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege, organisieren die politische Mitwirkung und führen Pflegesatzverhandlungen durch. Beide zusammen führten im Jahr 2004 knapp 61.000 Einrichtungen in Deutschland.32 Davon dienten circa 4.000 Einrichtungen der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen. 47% dieser Einrichtungen der Behindertenhilfe gehörten der Caritas und 53% der Diakonie an.33 Islamische Glaubensgemeinschaften haben (noch) nicht die gleichen Privilegien wie christliche und jüdische Vereine.

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Immer mehr islamische Vereine schließen sich dem überkonfessionellen Paritätischen Wohlfahrtsverband an. Die Zugehörigkeit zu verschiedenen Religionen verteilt sich wie folgt: Jeweils 33% der Bevölkerung gehören der katholischen und evangelischen Kirche an, ungefähr 28% sind konfessionslos, islamische Glaubensgemeinschaften sind mit 4%, jüdische Glaubensgemeinschaften mit 0,1% und weitere Glaubensgemeinschaften mit 1,9% vertreten. Zu Letzteren zählen Angehörige der Freikirchen, der orthodoxen Kirchen, der Adventisten, der Zeugen Jehovas und der Pfingstbewegung. Gerade auch die kleinen religiösen Gemeinschaften verstehen sich als verantwortlich für ihre Mitglieder und nehmen innerhalb ihrer Gemeinde soziale Aufgaben wahr. Vielen Menschen bietet der Rückhalt in der Gemeinde und der Glaube emotionalen Halt.34 9. Informelle Versorgungsformen Die traditionelle Großfamilie existiert in der Regel nicht mehr. Familienmitglieder leben oftmals weit auseinander. Die Kleinfamilie, die zusammen wohnt, besteht meist aus Eltern und Kindern. Die gegenseitige Unterstützung liegt vor allem in der Hilfe im Alltag und der emotionalen Zugehörigkeit. Finanzielle Unterstützungsleistungen spielen bei verwandtschaftlichen Beziehungen eine nachgeordnete Rolle. Dieser Bedeutungswandel der Familie wird mit der Absicherung durch das umfangreiche Wohlfahrtsangebot in Verbindung gebracht. Für die 8,6 Millionen Menschen mit Behinderung standen im Jahr 2003 mehr als 5.000 Wohneinrichtungen der stationären Behindertenhilfe mit circa 180.000 Plätzen zur Verfügung. Knapp 60% dieser Einrichtungen sind für Menschen mit geistiger Behinderung.35 Eltern von Kindern mit Behinderung sind im Alltag zu großen Anpassungsleistungen bereit, um das Zusammenleben mit ihrem Kind zu ermöglichen.

Vgl. Schubert, Klaus et al. (2008), S.132f.; Rathsmann-Sponsel, Irmgard; Sponsel, Rudolf [Stand: 27.11.2010] Papenheim, Heinz-Gert et al. (2008), S.70f. 32 Vgl. Flierl, Hans (1992), S.20ff.; Auswärtiges Amt (Hrsg.) [Stand: 19.10.2010] 33 Vgl. Fix, Birgit et al (2005), S. 51f.; Anm.: Die Chance der religiösen Verbände liegt in der Mitgestaltung der Gesellschaft im Sinne des christlichen Menschenbildes. Ihr Risiko ist die finanzielle Abhängigkeit und staatliche Reglementierung. Vgl. Diakonie Württemberg (Hrsg.) [Stand: 20.10.2010] 34 Vgl. Auswärtiges Amt [Stand: 19.10.2010]; Fetzer, Antje (2010); Schibilsky, Michael (1999), S.15 35 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Publikation Heimbericht 2003 [Stand: 02.09.2010]; Kim, Anna (2001) 31

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Deutschland Diese Belastungen werden von Außenstehenden selten wahrgenommen. Oft werden Hilfen von Kostenträgern versagt, weil Unterstützungsbedarfe der Angehörigen nicht anerkannt werden. Bei Eltern mit einer Behinderung gibt es erhebliche Schwierigkeiten, eine Assistenz zur Erfüllung ihrer elterlichen Sorge zu erhalten. Soziale Bedürfnisse, die nicht unmittelbar mit Pflegeleistungen für sich selbst zusammenhängen, sind Kostenträgern schwer zu vermitteln. Soziale Teilhabebedürfnisse werden weniger akzeptiert, als pflegerische Bedarfe. Der Staat fordert in der Regel den Einsatz von Unterhaltsleistungen von nächsten Angehörigen ein, um die notwendigen Hilfeleistungen zu bezahlen. Dies bringt Angehörige häufig in finanzielle Schwierigkeiten und bewirkt starke Einschränkungen. Viele Eltern berichten, dass sie mit unzähligen Kämpfen konfrontiert sind.36 Sie befinden sich entweder in einer ständigen Bittstellerrolle, um Hilfeleistungen bei den Ämtern und Schulen zu erhalten, die sie ständig neu beantragen müssen oder sie geben ihr Kind in ein Heim oder eine Sonderschule. Dort werden ihnen diese Hilfen ohne große Komplikationen gewährt. Von diesen Kämpfen können sich Betroffene und ihre Angehörigen befreien, wenn sie über ausreichende materielle Ressourcen verfügen, um sich Unterstützungsleistungen zu erkaufen. Dank der vielen betroffenen Eltern, die für schulische Inklusion und Eingliederung auf dem Arbeitsmarkt kämpfen, wurden gesellschaftliche Veränderungen vorangetrieben.37 10. Bildungsbereich Die allgemeine Schulpflicht beginnt in der Regel mit sechs Jahren in der Grundschule. Kinder können vorher eine Kinderkrippe und einen Kindergarten besuchen. Während Grundschulen kostenfrei sind, werden im Kindergarten Gebühren verlangt. Je nach Stadt und Träger variieren diese zwischen null und 3.700 Euro im Jahr.38 Die Grundschulzeit umfasst, je nach Bundesland,

vier bis sechs Jahre. Danach erfolgt, abhängig von den bisherigen Schulleistungen, ein Wechsel in die Hauptschule, Realschule oder das Gymnasium. Zur Aufnahme eines Studiums bedarf es in der Regel eines Abiturs oder Fachabiturs. Seit 1980 ist bundesweit festgeschrieben, dass Menschen mit geistiger Behinderung, unabhängig von der Art und Schwere ihrer Behinderung, in pädagogische Fördermaßnahmen einzubeziehen seien. Es gibt keine Mindestvoraussetzung für einen Schulbesuch.39 Gemäß der föderalen Staatstruktur liegen Schulgesetze in der Hoheit der Länder. Dies führt zu unterschiedlichen Inklusionskonzepten.40 Gemeinsam ist allen Ländern ein selektives und segregierendes Schulsystem. Aufgrund des schlechten Abschneidens bei der internationalen Vergleichsstudie PISA ist das Schulsystem in seiner Gesamtstruktur in die Kritik geraten. Für die Diskussion um Inklusion von Kindern mit Behinderung ist dies nicht immer förderlich, da deutlich wird, dass Bundesländer mit niedriger Inklusionsrate bessere Notendurchschnitte erzielen, als Länder in denen die Inklusionsrate höher liegt. Innerhalb der Inklusionsdebatten wird kritisch wahrgenommen, dass häufig die passende Schule für das jeweilige Kind gesucht wird, anstatt die Schule für das Kind passend zu machen. Im Jahr 2008 wurden 87% der Kinder mit Behinderung segregiert und 13% integriert beschult. Der europäische Durchschnitt der Segregationsrate liegt bei 15%.41 Folgeprobleme der Segregation liegen darin, dass Abgängerinnen und Abgänger aus Sonderschulen oftmals geringere Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Ihnen stehen flächendeckend Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) zur Verfügung, soweit sie die Zugangsbedingung ‚Erwerbsminderung‘ erfüllen. Je nach Werkstatt und Schwere der Behinderung erhalten die Beschäftigten zwischen 67 und 160 Euro monatliches Gehalt. Sie befinden sich somit trotz Erwerbstätigkeit in

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Vgl. Rößler, Carl-Wilhelm [Stand: 20.10.2010], Ministerium für Gesundheit und Soziales, Sachsen Anhalt (Hrsg.) [Stand: 20.10.2010]; Müller-Zurek [Stand: 22.09.2010] 37 Vgl. Wagner, Karl (2010); Menzel, Martina/ Stenzig, Klaus-Peter; Jacobs, Kurt [Stand: 22.09.2010] 38 Vgl. Bendel, Marvin (Hrsg.) [Stand: 02.09.2010] 39 Vgl. Wüllenweber, Ernst et al. (2006) S.334 40 Vgl. Deutsche Presse-Agentur GmbH (Hrsg.) [Stand: 26.10.2010]; 41 Vgl. Katzenbach, Dieter/ Schroeder, Joachim (2007), Kapitel Wirklichkeit [Stand: 22.11.2010]; Markowetz, Reinhard (2009); Fannrich, Isabell [Stand: 13.11.2010] 29

Deutschland Abhängigkeit der Ämter. Nach 20 Jahren wird ihnen eine Rente von 80% des Durchschnittgehaltes bezahlt. In der schulpolitischen Debatte um inklusionsfördernde Maßnahmen spielt der Kostenfaktor eine wesentliche Rolle. Dies erschwert die Umstrukturierung des Schulsystems. Oftmals fehlt es den Regelschulen an fachlichem Personal und an Ressourcen, um eine barrierefreie Partizipation gewährleisten zu können.42 11. Perspektiven Die Perspektiven für Menschen mit Behinderung werden auf wissenschaftlicher Ebene in den Disability Studies diskutiert.43 2009 wurde durch die Bundesregierung die Kampagne ‚alle inklusive! Die neue UN-Konvention‘ initiiert. Betroffene und ihre Verbände erarbeiteten in acht Fachkonferenzen mit über 1000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern konkrete Handlungsaufträge an Politik und Gesellschaft.44 Seit der Ratifizierung der UN-BRK finden zahlreiche Fortbildungen, Kongresse und Konferenzen zum Thema Inklusion statt. Hierbei zeigt sich, dass vorhandene Barrieren und diskriminierende Themen lange nur oberflächlich behandelt wurden. Gefordert werden internationale und universale Standards, um auf die Herausforderungen durch Bioethik45, die tabuisierte Gewalt und den Abbau sozialer Sicherungsnetze, angemessen zu reagieren. Neue Studiengänge wie ‚Soziale Arbeit - Inklusion und Exklusion‘ weisen auf zunehmende Sensibilisierung des umfangreichen Themenkomplexes hin.46 Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen kündigte im März 2010 einen nationalen Aktionsplan als eines der wichtigsten Vorha-

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ben der Bundesregierung in der Sozialpolitik an.47 Dieser soll grundlegende Kernthemen wie soziale Sicherheit, Barrierefreiheit, Arbeit und Freizeit behandeln. Im Jahr 2010 wurde der erste Landesaktionsplan in Rheinland-Pfalz vorgestellt. Weitere Aktionspläne anderer Landesregierungen sollen folgen. Diese Entwicklungen weisen auf die politischen Bemühungen hin, Veränderungen in allen Bereichen der Sozialpolitik vorzunehmen. All diese positiven Ansätze werden den Maßstäben der UN-BRK noch nicht gerecht. Zwar stellen Arbeitsfördermaßnahmen wie ‚Job 4000‘48 einen Grundstein dar, dennoch fehlen langfristige Arbeitsstellen. Auf Grund knapper werdender öffentlicher Ressourcen reagiert die Politik mit Sparauflagen und Privatisierungen im Gesundheits- und Sozialwesen.49 Im Zusammenhang mit Einsparungsmaßnahmen wird die Notwendigkeit deutlich, die wirkliche „Inklusion“ von der „Inklusion zum Spartarif“ zu unterscheiden. Dies ist erforderlich, da Kinder, die bisher an Förderschulen unterrichtet wurden, neuerdings an Regelschulen beschult werden, ohne dass sich die Regelschulen verändern.50 Zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs der Disability Studies und den Expertinnen und Experten aus den Fachverbänden besteht Einigkeit darüber, dass weitere Überlegungen und Maßnahmen notwendig sind, um möglichst vielen Menschen mit Behinderung eine echte Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben zu geben.

Vgl. Langenau, Lars [Stand: 20.10.2010]; Aktion Mensch (Hrsg.), WfbM [Stand 28.11.2010]; Rößler, Carl-Wilhelm [Stand: 20.10.2010]; Frenzel, Britta (2003), S.78 43 Vgl. Waldschmidt, Anne, In: BpB (2003), S.12f. 44 Anm.: Die Themenfelder umfassten: Gleichstellung, Antidiskriminierung; Frauen; Bildung; Barrierefreiheit; Freiheit, Schutz, Sicherheit; Selbstbestimmtes Leben, soziale Sicherung; Gesundheit; Rehabilitation, Erwerbsarbeit. Vgl. Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (Hrsg.) [Stand: 13.11.2010] 45 Anm.: Der Begriff „Bioethik“ schließt ein kontroverses Feld der Politik und Debatten über Zulässigkeit von Sterbehilfe, Untersuchung von Embryonen auf genetisch bedingte Erbkrankheiten und Stammzellenforschung ein. Vgl. Graumann, Sigrid (2002) 46 Vgl. Degener, Theresia (2003), S.42; Waldschmidt, Anne (2003), S.12f; Hochschule Regensburg [Stand: 27.10.2010] 47 Langendörfer, Hans, S.2 [Stand: 01.11.2010] 48 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrgs.), Programm »Job4000« [Stand: 20.10.2010] 49 Vgl. Bundesärztekammer (Hrsg.), S.25 [Stand: 13.11.2010]; Schug, Andreas [Stand: 13.11.2010] 50 Vgl. Erdélyi, Andrea, S.8 [Stand: 01.11.2010] 30

Deutschland

FALLBEISPIEL LARA Lara hatte in ihrer frühen Kindheit eine Hirnhautentzündung. Sie ist geh- und hörbehindert und hat Sprach- und Sehbeeinträchtigungen. Frühe Kindheit Lara ist aufgrund der Hirnhautentzündung im Krankenhaus. Ihre Eltern werden vom Sozialpädagogischen Dienst der Klinik aufgesucht und beraten. Nach dem Krankenhausaufenthalt wenden sich die Eltern an eine Frühförderstelle. Durch das Gutachten, das Laras Ärztin bei der Frühförderstelle eingereicht hat, werden Maßnahmen zur Förderung eingeleitet.51 Mehrmals pro Woche besucht Lara eine Interdisziplinäre Frühförderstelle, um Angebote wie Krankengymnastik, Ergotherapie und Logopädie in Anspruch zu nehmen. Auch ihre Eltern erfahren dort Beratung und Unterstützung.52 Kindheit (Vorschulische Bildung) Als Lara in den Kindergarten kommt, müssen die Eltern entscheiden, ob Lara in eine sonderpädagogische Einrichtung, einen integrativen Kindergarten oder einen Regelkindergarten gehen soll. Laras Eltern entscheiden sich für den integrativen Kindergarten.53 Nach kurzer Zeit treten dort Probleme auf, da die Erzieherinnen nicht ausreichend Zeit finden, um auf die Bedürfnisse von

Lara einzugehen. Die Bezugserzieherin fordert die Eltern auf, zu handeln. Die Eltern wenden sich an das zuständige Versorgungsamt, um die Behinderung und den zusätzlichen individuellen Förderbedarf von Lara feststellen zu lassen. Nach Antragsstellung nimmt das Versorgungsamt Kontakt zu Laras Ärztin und den Therapeuten und Therapeutinnen auf. Ein Verfahren zur Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) wird eingeleitet. Nach acht Monaten wird Lara ein GdB von 80 zugesprochen, sie gilt somit als schwerbehindert. Lara wird vom Sozialamt eine pädagogische Assistenz gewährt. Sie kann weiterhin den integrativen Kindergarten besuchen und ihre Eltern müssen nur den regulären Elternbeitrag bezahlen.54 Schule Als Lara ins Schulalter kommt, wird überlegt, in welche Schule sie sinnvollerweise gehen soll. Laras Eltern möchten, dass ihre Tochter mit ihren Freundinnen und Freunden zur Schule gehen kann. Sie berufen sich auf das Schulgesetz des Landes55 und fordern für Lara einen Schulplatz an der allgemeinen Grundschule. Die Rahmenbedingungen für Laras Schulbesuch werden beim Schulamt geklärt. Weil die nächste Grundschule, keinen Aufzug hat, muss Lara ohne die vertrauten Freundinnen und Freunde in eine Grundschule die weiter weg liegt. Ab sofort wird Lara mit dem

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Anm.: Die Frühförderung ist kostenfrei konzipiert und bis zum Schuleintritt möglich. Die zu erbringenden Einkommensnachweise verunsichern viele Eltern so stark, dass sie oftmals keinen Antrag stellen. Vgl. Menzel, Martina/ Stenzig, Klaus-Peter (2010) 52 Vgl. Landesverband für körperbehinderte Menschen, S. 18 [Stand: 22.09.2010], Anm.: Früh-förderung wird als so genannte Komplexleistung erbracht. Sie umfasst zwei Leistungskomponenten: Die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und die heilpädagogischen Leistungen. Die Kosten für medizinische Maßnahmen werden nach ärztlicher Verordnung von den Krankenkassen übernommen. Für die heilpädagogischen Maßnahmen kommen die örtlichen Sozialhilfeträger auf. Gemeinsam mit den Eltern erstellen die Fachkräfte der Frühfördereinrichtung einen Förder- und Behandlungsplan. Darin werden die einzelnen medizinischen und heilpädagogischen Leistungen individuell fixiert. Der Behandlungsplan wird den Kostenträgern zusammen mit einem Antrag vorgelegt. Vgl. Polster, Michael [Stand: 26.10.2010] 53 Vgl. Kruse, Katja, S.22 [Stand: 22.11.2010]; Anm.: Ein integrativer Kindergarten ist eine Einrichtung, in der es Gruppen gibt, in denen körperlich oder geistig behinderte Kinder mit Kindern ohne Behinderung gemeinsam gefördert werden. Eltern entscheiden sich bewusst für diese Art der Förderung. Erzieherinnen und Erzieher sind häufig nicht so umfangreich ausgebildet, wie dies in Sonderschulen der Fall ist. Vgl. Knittel, Tjark (Hrsg.) [Stand: 26.10.2010] 54 Vgl. Wendler, Ulrich, S.3 [Stand: 27.10.2010]; Anm.: Wäre Lara in einer Sonderschule, wären ihre Eltern von Zahlungsbeiträgen befreit. Vgl. Menzel, Martina/ Stenzig, Klaus-Peter (2010); Landesverband für körperbehinderte Menschen, S.20ff. [Stand: 22.09.2010] 55 Anm.: Jedes Bundesland hat ein eigenes Schulgesetz (föderale Struktur). 31

Deutschland Fahrdienst zur Schule gebracht. Es besteht Uneinigkeit bei der Übernahme der Beförderungskosten, da sich die Schule und die Träger der Eingliederungshilfe nach SGB XII die Zuständigkeiten gegenseitig zuschieben. Für die notwendige Unterstützung im Schulalltag organisiert das Schulamt für Lara (sonder-) pädagogische, wie auch technische Hilfen. Es dauert über sechs Monate, bis die Krankenkasse alle Hilfsmittel organisiert und bewilligt hat. Laras Eltern werden zur Teilfinanzierung entstehender Kosten herangezogen.56 Mittlerweile ist Lara neun Jahre alt. Ihre Mutter, die tagsüber für Lara sorgt, klagt über starke Rückenbeschwerden, die unter anderem durch das Heben von Lara ausgelöst wurden. Die Eltern werden auf die Möglichkeit einer Internatsunterbringung oder Heimunterbringung aufmerksam gemacht.57 Da die Mutter an einem Bandscheibenvorfall erkrankt und ins Krankenhaus muss, kommt Lara vorübergehend in eine stationäre Kurzzeitpflegeeinrichtung. Als sie wieder regulär in die Schule gehen kann, ist dort der Aufzug kaputt. Die Schule hat kein Geld, die Reparatur dauert und Lara kann an vielen Unterrichtsstunden nicht regulär teilnehmen. Die Eltern suchen die kommunal zuständige Behindertenbeauftragte auf und lassen sich beraten. Freizeit Lara nimmt in den Sommerferien an einer Kinderstadtranderholung teil. Sie erhofft sich, dadurch den Kontakt zu den Freundinnen und Freunden zu halten. Jugend und Schulzeit Beim Wechsel auf eine weiterführende Schule wird Lara an der städtischen allgemeinen Realschule abgelehnt, da die zuständige Schulbehörde der integrativen Beschulung nicht zu-

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stimmt, weil grundlegende bauliche Maßnahmen nicht gegeben sind.58 Lara kommt auf eine Sonderschule für körperbehinderte Kinder. Sie schließt mit der Mittleren Reife ab. Als 16-jährige möchte sie in den Ferien, ebenso wie ihre Freundinnen, Betreuerin in der Stadtranderholung werden und dort eine Kindergruppe leiten. Die Freizeitleitung stellt sich mit dem Argument quer, dass dies zu gefährlich sei auf Grund der Aufsichtspflicht. Es wird immer schwieriger für Lara, an den Freizeitaktivitäten ihrer Freundinnen teilzunehmen. Frühes Erwachsenenalter Nach der Schule möchte die mittlerweile 19-jährige Lara eine Ausbildung zur Bürokauffrau absolvieren. Ihre Bewerbungen werden abgelehnt. Nach häufigen Bewerbungsversuchen wendet sich Lara an das Arbeitsamt, das ihr eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung nahe legt. Laras Wunsch nach einer Ausbildung als Bürokauffrau ist stark, und ihre Eltern stehen hinter ihr. Nach weiteren Gesprächen beim Arbeitsamt und Recherchen ergibt sich für Lara die Gelegenheit, an dem neuen Modellprojekt „Job4000“ 59 teilzunehmen. Es dient der Förderung der Ausbildung schwerbehinderter Jugendlicher und wird unter anderem bei der Siemens AG angeboten.60 Sie absolviert dort ihre Ausbildung und schließt sie mit 23 Jahren ab. Da sie nicht übernommen werden kann, bewirbt sie sich bei mehreren Betrieben. Sie erhält Absagen mit der Begründung, dass durch die Wirtschafts- und Finanzkrise nur wenige Personen neu eingestellt werden können.61 Da sie keinen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt findet, meldet sie sich beim Arbeitsamt arbeitslos. Auf Anraten der Fachkräfte im Arbeitsamt tritt Lara eine Arbeitsstelle in einer Werkstatt für behinderte Menschen an.62

Vgl. Landesverband für körperbehinderte Menschen, S.21 [Stand: 22.09.2010] Anm.: Wird ein Mensch mit Behinderung in einer stationären Einrichtung untergebracht, übernimmt die Krankenkasse, Pflegekasse oder das Sozialamt einkommensabhängig die anfallenden Kosten und regelt zudem die Bewilligung weiterer Hilfeleistungen. Hieraus ergibt sich für Angehörige oftmals ein grosser Anreiz für eine stationäre Versorgung. Vgl. Menzel, Martina/ Stenzig, Klaus-Peter (2010) 58 Vgl. Knospe, Ulrike; Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) [Stand: 03.11.2010] 59 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Programm »Job4000« [Stand: 20.10.2010] 60 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Jobs ohne Barrieren (Hrsg.) [Stand: 27.10.2010] 61 Vgl. Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden Württemberg (Hrsg.), S.8 [Stand: 27.10.2010] 62 Anm.: Bundesweit gab es im Jahr 2009 etwa 700 anerkannte Werkstätten mit über 275.000 Plätzen. Vgl. BMAS (Hrsg.), Bericht der Bundesregierung zur Lage behinderter Menschen 2009, S.60 57

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Deutschland Sie ist dort zuständig für Bürotätigkeiten und erhält mit den zusätzlichen Beiträgen des Reha Trägers (Sozialhilfe) monatlich 351 Euro. Lara fühlt sich mit der Zeit unterfordert und entschließt sich nach einigen Jahren, das Arbeitsverhältnis zu beenden. Zudem sucht sie eine Wohnung, die sie mit Hilfe des Wohngeldes finanzieren könnte. Eine Bekannte der Familie erfährt von Laras verzweifelter Jobsuche und dem Wunsch des Auszugs und reagiert. Lara wird in ihrer Firma als Bürokauffrau eingestellt. Sie erhält dort reguläres Gehalt und hat nun Anspruch auf personenzentrierte Hilfen am Arbeitsplatz.63 Hierzu zählt eine Büroeinrichtung, die auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist. Lara sucht weiterhin eine Wohnung, in der sie selbständig wohnen kann. Sie entscheidet sich für eine Wohngemeinschaft, in der Menschen mit und ohne Behinderung zusammen leben.64 Lara zieht in die Wohngemeinschaft ein, lernt dort Markus kennen und verliebt sich in ihn.65 Erwachsenenalter Die Beziehung zwischen Markus und Lara festigt sich. Beide möchten in eine eigene Wohnung ziehen und heiraten. Die beiden erkundigen sich bei mehreren Juristinnen und Juristen und erfahren, dass durch eine Heirat für Markus möglicherweise die Verpflichtung entstehen könnte, Lara eine gewisse Zeit des Tages selbst zu pflegen. Da Markus in Vollzeit im Schichtdienst arbeitet, wäre das schwierig. Sie erkennen, dass ihr Heiratswunsch ein großes „Risiko“ für beide bedeutet.66 Das Paar heiratet trotzdem und gestaltet das Leben mit allen Herausforderungen. Lara und Markus möchten Kinder. Sie wenden sich an verschiedene Ärztinnen und Ärzte, um die Risiken und Möglichkeiten zu erfragen. Von diesen wer-

den sie mehrfach gemaßregelt, dass sie nicht so egoistisch handeln sollen.67 Die beiden lassen sich von ihrem Kinderwunsch nicht abbringen. Im Alter von 34 Jahren wird Lara schwanger und gebärt bald darauf Paul. Zur Grundversorgung ihres Kindes, für ihre eigene Mobilität und zur Bewältigung des Haushalts, benötigt Lara spezielle Hilfsmittel wie eine angepasste Babytragetasche, Kinderstuhl und Wickeltisch. Diese sind im freien Handel nicht erhältlich. Markus und Lara improvisieren und bauen vieles selbst. Lara beantragt eine Assistenz beim Sozialamt und der Pflegekasse für die ersten Lebensjahre ihres Kindes. Sie müssen einen großen Teil der entstehenden Kosten mittragen und sind deshalb stark auf die materielle und erzieherische Unterstützung der Großeltern angewiesen.68 Bei der Erziehung des Kindes sind viele Menschen beteiligt, was Lara und Markus manchmal stark belastet. Sie leben die folgenden zwei Jahrzehnte mit ihrem Kind Paul zusammen. Im Alter von 20 Jahren zieht Paul aus der elterlichen Wohnung aus, um ein Studium aufzunehmen. Seniorinnenalter Als Lara 62 Jahre alt ist, nimmt ihr Assistenzbedarf zu. Markus kann die zunehmenden Anforderungen körperlich nicht mehr alleine bewältigen. Da ihr Sohn beruflich sehr eingespannt ist, kann er seiner Mutter kaum helfen. Als Lara sich zunehmend als Belastung empfindet, da sie die Aufgaben des täglichen Lebens wie Waschen, Essen und Anziehen nicht mehr selbständig bewältigen kann, beschließt sie, in ein Altenheim zu ziehen. Die Kosten hierfür trägt die Pflegekasse und das Sozialamt. Das gemeinsame Vermögen, das sich beide erspart haben, wird für die Kostenerstattung herangezogen. Im Altenheim erlebt

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Anm.: Wenn Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig sind haben sie die meisten Ansprüche auf personenzentrierte Leistungen (Nachteilsausgleiche). 64 Vgl. Bayrisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen (Hrsg.) [Stand: 27.10.2010] 65 Anm.: Da Lara einen Arbeitsplatz besitzt trägt sie einen Anteil der Betreuungskosten selbst. Wenn sie und ihre Angehörigen keine ausreichenden finanziellen Mittel zur Verfügung hätten, würden diese Leistungen nach §53ff. SGB XII vom Sozialamt finanziert werden (Prinzip der Nachrangigkeit). 66 Vgl. kobinet e.V. (Hrsg.) [Stand: 03.11.2010] 67 Anm.: Das Gesundheits- und Hilfesystem ist noch nicht ausreichend auf Frauen mit Behinderung eingestellt. Bislang fehlen barrierefreie Beratungsstellen und Frauenarztpraxen. Nach wie vor besteht Handlungsbedarf bei der Durchsetzung des Rechtes auf Mutterschaft. Vgl. Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (Hrsg.) [Stand:20.12.2010] 68 Anm.: Hier wird das Prinzip der Nachrangigkeit deutlich; Vgl. Vukovic, Sandra [Stand: 03.11.2010] 33

Deutschland Lara wenig Freiraum und Selbstbestimmung. Ihr Alltag ist von den Abläufen der Einrichtung geprägt. Ihr fällt es schwer, dass so viele verschiedene Personen für sie zuständig sind und bei der Intimpflege oftmals junge Männer die pflegerische Tätigkeit durchführen. Besuche durch ihren

Mann und ihren Sohn geben ihr Kraft.69 Mit 67Jahren stürzt Lara unglücklich und bricht sich den Oberschenkel. Seither kann sie nicht mehr aufstehen. Bald darauf bekommt sie eine schwere Lungenentzündung und stirbt einige Zeit später daran.

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69

34

Vgl. Hermes, Gisela, S.14ff. [Stand: 03.11.2010]

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37

SYNOPTISCHE DARSTELLUNG

FÜR

FRANKREICH1

Gesamtbevölkerung

64 Millionen

Menschen mit Behinderung (1)

1999: Keine genaue Angabe. Über 5 Millionen erhalten Assistenzleistungen, ca. 12 Millionen haben eine oder mehrere Form(en) von Behinderung. Im Jahr 2011 werden neue Zahlen veröffentlicht.

In der Verfassung verankert (2)

Nein.

Leitbild von Inklusion (3)

Zentralen Stellenwert nimmt Gesetz von 2005 (Gleichberechtigung und Chancengleichheit, Partizipation und Bürgerschaft von Menschen mit Behinderungen) ein. Tendenz von der Individualisierung zur Politisierung.

Explizite Rechte und Realität (4)

Neue Gesetze verabschiedet und bestehende überarbeitet. Vereinfachung schwer verständlicher Gesetze. Besserverdienende haben besseren Zugang zu Leistungen. Jede(r) erhält Mindestleistungen, die jeder/m bei Antragstellung gewährleistet werden.

Staatliche Sozialleistungen (5)

Soziales Sicherungssystem setzt sich aus verschiedenen rechtlich verankerten Versicherungszweigen zusammen. Hilfen für Familien und Kinder zählen zu den Sozialversicherungsleistungen. Hilfen für Erwachsene zählen zu den Solidaritätsleistungen.

Träger Sozialer Arbeit (6)

Staat und Ministerien nehmen Kontrollfunktion ein und beauftragen zahlreiche freie und private Träger mit der Ausführung von sozialen Dienstleistungen.

Finanzierungsformen (7)

Sozialversicherungen, öffentliche Gelder, Pflichtbeiträge von sonstigen privaten Versicherungen.

Religion (8)

Katholisch (81%), geringe Prozentsätze muslimisch, evangelisch, buddhistisch und jüdisch.

Rolle der Kirche (8)

Da Frankreich ein laizistischer Staat ist, ist die offizielle Einflussnahme begrenzt. Religionsgemeinschaften haben sich als Vereine gegründet und bieten soziale Dienstleistungen an.

Rolle informeller Versorgungsformen (9)

Familienzusammenhalt emotional wichtig, für die Existenzsicherung nicht zwingend erforderlich. Ganztagsschulen nehmen großen Stellenwert ein und entlasten Eltern.

Bildungsbereich (10)

Kinder mit und ohne Behinderung werden in der Regel gemeinsam beschult. Ca. 20 000 Kinder besuchen keine öffentliche Schule, trotz Schulpflicht. Gründe sind u.a. Homeschooling.

Zukunftsperspektiven (11) Senkung des Versicherungsschutzes erkennbar, da finanzielles Defizit vorhanden. Marktöffnung verstärkt Ungleichheiten. Demographischer Wandel fordert Sicherungssystem. Arbeitslosenquote wirft Fragen auf. Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention

Ja, seit 2010.

Monitoring-Stelle

Keine.

1

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Anm.: Die in Klammern gesetzten Zahlen geben die Kapitelnummer in jeweiliger Länderstudie an.

Geschlecht und Behinderung

Besserverdienende -hauptsächlich Männer- sind im System besser abgesichert und haben besseren Zugang zu Leistungen. Durch die Wahlfreiheit staatlich geförderter Unterstützungsangebote profitieren Eltern, besonders Frauen, da sie Familie und Beruf miteinander vereinbaren können.

Besondere Stärken

Familienbeihilfe wird unabhängig vom Einkommen bei Bedarf gewährt, da Familienpolitik hohe Priorität eingeräumt wird. Niederschwellige Angebote werden bereitgestellt und zunehmend ausgebaut, damit Menschen ihre Rechte einfordern können. Gesundheitssystem ist sehr leistungsstark.

LÄNDERSTUDIE FRANKREICH

Dominique Heyberger

1. Statistik In Frankreich erhebt, sammelt und evaluiert das Nationale Institut für Statistik und Ökonomische Studien (INSEE) in Zusammenarbeit mit der Direktion für Forschung, Evaluation und Statistik (DREES) statistische Informationen des Landes.1 Auf die Frage, wie viele Menschen mit einer Behinderung in Frankreich leben, gibt es unterschiedliche Antworten, je nachdem, welche Gruppierung in die Berechnungen einbezogen wird. Eine Untersuchung über Beeinträchtigung, Behinderung und Abhängigkeit (HID)2, die 1999 von INSEE und DREES durchgeführt wurde, ergab, dass bei einer Gesamtbevölkerung von 64 Millionen mehr als fünf Millionen Menschen regelmäßige Hilfen zur Bewältigung der Aufgaben ihres täglichen Lebens und mehr als zwei Millionen Menschen eine Vergütung, Rente oder sonstige Einkommen auf Grund einer Behinderung erhalten haben.3 Eine der fünf anerkannten Gewerkschaften, die Bundesvereinigung der Profes-

1

2 3 4

5 6

sionellen (CFE-CGC), hat alle die in der HID Studien aufgeführten Gruppierungen aufaddiert und kommt auf eine Anzahl von 12 Millionen Menschen mit Behinderungen. Dabei sind auch jene mit einbezogen, die Einschränkungen durch Gebrechlichkeit im Alter erleben, chronisch krank oder Sehbeeinträchtigt sind etc.4 Die Behinderungsformen werden von INSEE und DREES in Anlehnung an die WHO klassifiziert. Hierzu zählen physische, motorische, intellektuelle, mentale, sensorische und organische Behinderungsformen. Aktuell wird eine neue Studie, „Handicap-Santé“, durchgeführt. Diese wird voraussichtlich im Jahr 2011 veröffentlicht.5 6 2. Verfassung Die Verfassung trat 1958 in Kraft und wurde bis 2008 insgesamt 18 Mal geändert. Charakteristisch ist die Direktwahl des Staatsoberhauptes. Die Staatspräsidentin oder der Staatspräsident

INSEE=Institut National de la Statistique et des Études Économiques; Vgl. INSEE (Hrsg.) [Stand: 06.11.2010]; DREES=Direction de la Recherche, des Etudes, de l’Evaluations et des Statistiques HID=Handicaps-Incapacités-Dépendance Vgl. Mormiche, Pierre, S.1ff. [Stand: 11.10.2010] CFE-CGC=Confédération Francaise de l’Encadrement et Confédération Générale des Cadres [Stand: 11.10.2010] Vgl. Mormiche, Pierre, S.1ff. [11.10.2010] ; Vgl. Ministère de la Santé et des Sports (Hrsg.) [Stand: 24.08.2010] 39

Frankreich wird für fünf Jahre durch das Volk gewählt und kann während einer Wahlperiode nicht durch das Parlament abberufen werden. Hieraus ergibt sich für sie oder ihn eine große Machtstellung. In der Präambel der Verfassung wird auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 Bezug genommen.7 In Artikel 1 wird Frankreich als eine unteilbar laizistische, demokratische und soziale Republik bestimmt, die die Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger vor dem Gesetz gewährleistet, ohne Unterschied der Herkunft, Rasse und Religion. Die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung wird nicht explizit aufgeführt.8 Frankreich nimmt beim HDI Ranking den achten Platz von 182 Ländern ein und zählt zu den Hochentwickelten Ländern in der Kategorie „Very High Human Development“.9 3. Leitbild ‚Inklusion‘ Frankreich hat 2007 die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) unterschrieben und 2010 ratifiziert.10 Fachdebatten befassen sich mit der Bedeutung von Inklusion für das Alltagshandeln und insbesondere mit der Frage, wie das inklusive Konzept im Schulsystem verwirklicht und umgesetzt werden kann. Der Begriff Inklusion wird gesellschaftlich unterschiedlich interpretiert. Gemeinsam sind allen Interpretationen die Werte ‚Gleichberechtigung und Chancengleichheit, Partizipation und Bürgerschaft von Menschen mit Behinderungen‘. Das gleichlautende Gesetz aus dem Jahre 2005 nimmt einen zentralen Stellenwert in der Umsetzung von Inklusion ein.11 Gesamtgesellschaftlich gesehen, rückt die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung mehr und mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Damit einher geht eine Tendenz weg von der Individualisierung hin zur Politisierung. So gingen

7

beispielsweise im März 2008 in ganz Frankreich Menschen mit Behinderung auf die Straßen, um gegen die niedrigen Zuschüsse der Behindertenhilfe zu demonstrieren, deren Höchstsatz mit 630 Euro unter der französischen Armutsgrenze von 820 Euro liegt. Hinzu kommen Budgeteinsparungen in Einrichtungen, die zu Unterbesetzung in Teams und einem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften führen.12 An Schulen fehlt es an finanziellen Ressourcen und qualifiziertem Lehrpersonal, um den Bedürfnissen der Kinder mit Behinderung gerecht zu werden. 5000 französische Schülerinnen und Schüler mit Behinderung werden derzeit wegen fehlender Schulplätze in Belgien beschult.13 Auch der Arbeitsplatzmangel wirkt sich aus. Im Jahr 2006 war ein Drittel der erwachsenen Menschen mit Behinderung arbeitslos gemeldet.14 Es gibt 80.000 Plätze in den Werkstätten für behinderte Menschen (ESAT), diese Anzahl reicht nicht aus. Das fehlende Angebot lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass die Werkstätten für Menschen mit Behinderung die anfallenden Kosten selbst decken müssen und aus Einspargründen Arbeitsverhältnisse beenden.15 4. Rechte Im Jahr 1975 wurde gesetzlich festgelegt, dass Menschen mit einer Behinderung, wie alle Mitglieder der Gesellschaft, ein Recht auf Erziehung und Arbeit haben. Dieses Gesetz verankerte die ersten expliziten Rechte für Menschen mit Behinderung in Frankreich.16 Gesetzliche Veränderungen von 1987 und 1990 brachten wichtige arbeitsrechtliche Neuregelungen wie die Quotenregelung, die Ausgleichsabgabe und den Schutz vor Diskriminierung auf Grund des Gesundheitszustandes oder einer Behinderung.17 Im Jahr

Vgl. Schoefer, Michael [Stand: 06.11.2010] Vgl. Schild, Joachim/ Unterwedde, Henrik (2006), S.69ff., 91f. 9 Vgl. United Nations (Hrsg.) (2009), 180f. [Stand: 30.11.2010] 10 Vgl. UN (Hrsg.), Human Rights [Stand: 05.11.2010] 11 Vgl. l’égalité des droits et des chances, la participation et la citoyenneté des personnes handicapées; Krause, Angelika (2010); Musset, Marie/ Thibert, Rémi [Stand: 30.07.2010]; 12 Vgl. Kohlhoff, Ludger (2009), S. 54f 13 Vgl. French-Property (Hrsg.) [Stand: 02.09.2010]; Musset,Marie / Thibert,Rèmi [Stand: 06.11.2010] 14 Vgl. Ministère des Affaires étrangèreset européennes 2007 [Stand: 02.09.2010] 15 Vgl. Krause, Angelika (2010); ESAT=Etablissement et Service d’Aide par le Travail 16 Vgl. Kohlhoff, Ludger (2009), S. 51; Musset, Marie/ Thibert, Rémi bref [Stand: 06.11.2010]; 17 Vgl. Ernst, Karl-Friedrich [Stand: 30.07.2010]; Vgl. Frenzel, Britta (2003), S.41; Loi n°90-602 8

40

Frankreich 2005 folgte das Gesetz ‚Gleichberechtigung, Chancengleichheit, Partizipation und Bürgerschaft von Menschen mit Behinderungen‘. Es sichert den Zugang zu Hilfsmitteln, welche die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen. Hierzu zählen Transportmittel, behindertengerechte Wohnungseinrichtungen sowie zugängliche Bauten. Es erkennt die französische Gebärdensprache an und regelt die Rechte von Menschen mit Hörbeeinträchtigung, zum Beispiel vor Gericht und in der Schule. Für die Umsetzung dieser Vorhaben wurde eine Anpassungsfrist bis zum Jahr 2015 festgelegt. Insgesamt zeigt sich in den neueren gesetzlichen Vorgaben die Tendenz, komplizierte und schwer anwendbare Rechtsvorschriften zu vereinfachen.18 So werden auf regionaler Ebene niedrigschwellige Angebote wie die ‚Häuser der Menschen mit Behinderung‘ (MDPH) geschaffen. Sie sind offizielle Institutionen mit Entscheidungsgewalt über die Zuweisungen von Dienstleistungen und beraten rund um das Thema Behinderung. Sie sind wichtige Zentren geworden, die den Betroffenen und deren Angehörigen helfen, mit schwierigen Lebenslagen zurecht kommen.19 Für viele Betroffene ist die Tatsache irritierend, dass sich einige gesetzliche Regelungen zwischen Frankreich und Elsass-Lothringen unterscheiden. Elsass-Lothringen wurde während des Zweiten Weltkrieges von Deutschland besetzt. Nachdem das Elsass im Jahr 1945 wieder der Französischen Verwaltung unterstellt wurde, wurden die Rechtsstrukturen in den elsässischen

Departements in manchen Bereichen nicht an die allgemein in Frankreich geltenden Rechtsstrukturen angeglichen.20 5. Sozialleistungen Das Sozialsystem ist durch eine Vielzahl von Gesetzen und Regulierungen extrem komplex. Es setzt sich aus verschiedenen rechtlich verankerten Versicherungszweigen zusammen.21 Sie umfassen die traditionellen Hauptrisiken wie Krankheit, Versorgungsausfall gegenüber der Familie, Alter und Arbeitslosigkeit und sind teilweise berufsgruppenbezogen.22 Es wird zwischen Sozialversicherungsleistungen und Solidaritätsleistungen unterschieden. Leistungen bei Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und Invaliditätsrenten sowie Zuwendungen für Kinder mit Behinderung (AEEH) zählen zu den Sozialversicherungsleistungen.23 Die AEEH fördert im Alter von 0-18 Jahren die individuellen Hilfen zur sonderpädagogischen Erziehung, wenn das Kind einen Behinderungsgrad von mindestens 80 hat. Hierdurch sollen hohe Ausgaben, wie die Inanspruchnahme von Hilfen durch dritte Personen, bezahlbar werden. Unter bestimmten Voraussetzungen haben Eltern zusätzlich Anspruch auf finanzielle Unterstützung als pflegende Eltern (APP).24 Leistungen für Erwachsene mit Behinderung und ältere Menschen mit Selbständigkeitsverlust werden als Solidaritätsleistungen bezeichnet. Hierzu

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Vgl. Hess-Klein, Caroline [Stand: 07.09.2010]; Puhl, Ria/ Maas, Udo (1997), S.71 MDPH=Maison Departementales des Personnes Handicapées; Vgl. Consell General (Hrsg.) [Stand: 06.11.2010]; Handitec handroit (Hrsg.)[Stand: 06.11.2010]; Ministère du Travail (Hrsg.) [Stand: 07.09.2010] 20 Vgl. Frankreich Ratgeber 2006 (Hrsg.) [Stand: 07.09.2010] 21 Vgl. Schubert, Klaus et al. (2008), S.207 und S.212; CLEISS (Hrsg.) [Stand: 30.07.2010] 22 Anm.: Die drei großen Versicherungen sind die allgemeine Sozialversicherung (Securite Sociale), die Sozialversicherung für die Landwirtschaft (MSA= Mutualité sociale agricole) und die Krankenversicherung (CMU=Couverture Maladie Universelle); Vgl. Schubert Klaus et al. (2008), S.213; Schild, Joachim (2006), S.279 23 Anm.: Der Umverteilungsfaktor bei den Gesundheits- und Sozialleistungen ist gering. Diejenigen die viel einzahlen erhalten wesentlich mehr als jene, die wenig einzahlen. Besserverdienende – mehrheitlich Männer – sind im System besser abgesichert. Die HID Studie zeigt auf, dass Männer doppelt so häufig Unterstützungen durch Versicherungsleistungen erhalten. Dies liegt neben den Verdienstunterschieden daran, dass viele Leistungen an Bereiche gebunden sind, die mehrheitlich Männer betreffen, wie Arbeitsunfähigkeit oder Militärpensionen. Vgl. Schubert, Klaus et al. (2008), S.226; Mormiche, Pierre, S.3 [Stand: 11.10.2010] 24 AEEH=Allocation d’Education de l’Enfant Handicapé; Vgl. Frenzel, Britta (2003),S.43; APP=Allocation de Présence Parentale; Vgl. EU (Hrsg.), S.3 [Stand: 06.11.2010]; 19

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Frankreich zählen unter anderem das Pflegegeld und die Invaliditätsrente für Erwachsene mit einer Behinderung (A.A.H.).25 Um das Risiko der Armut und Ausgrenzung zu reduzieren, gibt es für Menschen mit und ohne Behinderung eine staatliche Grundsicherung, die sogenannte Mindestleistung (RMI). Sie wurde 2005 von 1,3 Millionen Menschen bezogen.26 Seit 2000 existiert eine Krankenversicherung für Bedürftige (CMU), die Menschen einen umfassenden Versicherungsschutz gewährleistet, die nicht anderweitig versichert sind. Sie wurde 2006 von knapp fünf Millionen Menschen bezogen.27 Die Familienbeihilfe (CAF) wird als einzige unabhängig vom Einkommen bei Bedarf gewährt. Hier kommt eine Besonderheit des französischen Sozialsystems zur Geltung, das der Familienpolitik hohe Priorität einräumt. Allerdings haben diese Leistungen in den letzten Jahren stetig abgenommen.28 Für Familien mit Kindern mit Behinderung existieren zusätzliche Sondererziehungsbeihilfen.29 6. Träger der Sozialen Arbeit Der Staat beaufsichtigt und kontrolliert die verschiedenen Institutionen des Sozialwesens. Er übernimmt selten direkte Verantwortung als Träger, außer bei Psychiatrien und einigen Spezialstationen in Krankenhäusern. In der Regel beauftragt er die zahlreichen regionalen und autonomen Institutionen mit der Trägerschaft.30 Im Jahr 1983 begann die Dezentralisierung. Den örtlichen

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Politikerinnen und Politikern in den Departements wurde mehr Verantwortung übertragen, um besser vor Ort agieren und den Verwaltungsaufwand minimieren zu können. Die Departements sind für die örtliche Sozialhilfe zuständig, auf die Kinder, Jugendliche und Menschen mit Behinderungen Anspruch haben. Sie investieren, abhängig von ihrem Budget, beispielsweise in den Bau von Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Diese Investitionen sind regional stark unterschiedlich.31 Als Träger treten in der Behindertenhilfe eine ganze Reihe regionaler Zusammenschlüsse auf, die überwiegend als Vereine verwaltet werden und sich nach dem Vereinsgesetz von 1901 gegründet haben.32 Die meisten Einrichtungen, die in den letzten 30 Jahren entstanden sind, werden von Freiwilligen und Angehörigen von Menschen mit Behinderung betrieben.33 Sie sind auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene vertreten und fangen häufig Problemlagen auf, die durch den Abbau staatlicher Leistungsangebote verursacht werden. Die meisten Vereine vernetzen sich in großen Dachverbänden wie dem URIOPSS34. Der Staat stellt Dachverbänden Finanzmittel zur Verfügung, damit sie die Vernetzung von Einzelinitiativen fördern. Der privatwirtschaftliche Sektor spielt eine immer größere Rolle. Er reagiert auf die zunehmenden Finanzierungsprobleme im öffentlichen Sicherungssystem mit Konkurrenzangeboten.35

A.A.H.=Allocation aux Adultes Handicapés; Vgl. EU (Hrsg.), S.3 [Stand: 06.11.2010]; Neumann, Wolfgang; Veil, Mechthild, S.6 [Stand: 04.07.2010]; 26 RMI=Revenu Minimum d`Insertion; Vgl. Schubert, Klaus et al. (2008), S.219 27 CMU=Couverture de Maladie Universelle; Anm: 53% von ihnen waren weiblich und 47% männlich. Vgl. Französische Botschaft, CMU [Stand: 07.09.2010] 28 CAF=Caisses d’Allocations Familiales; Vgl. Schubert, Klaus et al. (2008), S.213ff 29 Vgl. Maas, Udo/ Puhl, Ria (1997), S.73 30 Vgl. CLEISS [Stand: 06.11.2010]; Schubert, Klaus et al. (2008), S.221 31 Anm.: Die Umsetzung der Dezentralisierung ist geprägt von Spannungen und Machtkämpfen zwischen der Nationalregierung in Paris und den 100 Departements, die zunehmend mehr entscheiden möchten, weil sie den Großteil der Sozialen Arbeit selbst finanzieren. Vgl. Maas, Udo / Puhl, Ria (1997) S.75f; Schubert, Klaus et al. (2008), S.215 32 Anm.: Das Gesetz ermöglicht die Gründung von Unternehmen ohne Kapital und Gewinnabsicht. 33 Directions Regionale et Départementales des Affaires Sanitaires et Sociales de Picardie (Hrsg.) [Stand: 02.09.2010] 34 URIOPSS=Union Régionale Interfédérale des Organismes Privés Sanitaires et Sociaux, 35 Vgl. Krause, Angelika (2010)

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Frankreich 7. Finanzierungsformen Die Sozialleistungen werden zu unterschiedlichen Anteilen vom Staat, den einzelnen Departements und den gesetzlichen Krankenkassen finanziert. Den größten Anteil bei der Finanzierung von sozialen und gesundsheitsrelevanten Leistungen trägt die „sécurité social“. Sie wird über Beiträge der sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen finanziert und deckt damit 42% der Ausgaben für das Sozialsystem ab. Bei der Finanzierung von Einrichtungen für Menschen mit Behinderung spielt sie eine noch größere Rolle. Hier finanziert sie mehr als 66% des erforderlichen Budgets.36 Wie in den meisten europäischen Ländern arbeiten auch in Frankreich immer weniger Menschen in sozialversicherungspflichten Beschäftigungsverhältnissen. Dies führt zu rückläufigen Einnahmen der „sécurité social“ einerseits und zu Erhöhung des staatlichen Anteils bei der Finanzierung des Sozialsystems andererseits. Er stieg von 17% in den 1980er Jahren auf aktuell 30%. Zur Finanzierung wurden im Jahr 1991 die neuen Steuern (CSG und CRDS) eingeführt. Erstere hat sich zu einer bedeutenden Finanzierungsquellen für soziale Leistungen entwickelt. Durch sie werden die sozialen Fürsorgemaßnahmen des Mindesteinkommens sowie Leistungen für Erwachsene mit Behinderung bezahlt.37 Teilweise müssen Behandlungskosten und Leistungen auch von leistungsberechtigten Personen selbst mitgetragen werden. Hierfür gibt es freiwillige Zusatzversicherungen, die von 90% der französischen Bevölkerung abgeschlossen wurden.38 Ein Teil der Einrichtungen und Vereine lebt von erheblichen Eigenmitteln durch Fundraising und

Spendeneinnahmen.39 In geringerer Weise gilt das für die laufenden Kosten, die durch die Tagessätze abgedeckt werden. Kleine Vereinigungen haben die Möglichkeit, Mittel über die „Fondation de France“ und anderer Stiftungen zu erhalten.40 8. Kirche und religiöse Motivation Frankreich ist verfassungsrechtlich ein laizistischer Staat. Dies bedeutet, dass alles religiöse Handeln von staatlichen Aktivitäten strikt getrennt ist. In der Bevölkerung sind viele Konfessionen vertreten. Mehrheitlich gehört die Bevölkerung mit 81% der römisch-katholischen und zu jeweils geringen Prozentsätzen der muslimischen, protestantischen, buddhistischen und jüdischen Glaubensgemeinschaft an.41 Die offizielle Einflussnahme der Kirchen ist begrenzt. Sie haben seit 1905 nur das Recht, ihre gottesdienstlichen Funktionen zu erfüllen und im geistlichen und spirituellen Sinne zu wirken. Durch das bereits erwähnte Vereinsgesetz von 1901 ist es möglich, dass sich Religionsgemeinschaften (nicht die Kirchen) als Verein gründen. Voraussetzung dafür ist, dass die religiösen Werte nicht an erster Stelle stehen42 und dass mehrere der vertretenen Werte vom Staat anerkannt sind. Dann haben diese Vereine, wie andere Vereine auch, die Möglichkeit, Staatszuschüsse und Stiftungsgelder zu erhalten.43 9. Informelle Versorgungsformen Die Mehrheit der fünf Millionen Menschen mit Behinderung, die einen Assistenzbedarf haben, wohnt zu Hause. Circa 700.000 Menschen sind in Spezialeinrichtungen und Heimen für Menschen

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Vgl. Schubert, Klaus et al. (2008),S.215ff; Schmid, Josef (2002), S.141f; Frenzel, Britta (2003),S.44 CSG=Contribution Sociale Généralisée; CRDS=Contribution au Remboursement de la Dette Sociale; Vgl. CLEISS (Hrsg.) [Stand: 30.07.2010]; Schubert, Klaus et al. (2008), S.224 38 Vgl. Schubert, Klaus et al. (2008), S.215; Neumann, Wolfgang (2002); Veil, Mechthild (2004), S.9 [Stand: 24.07.2010]; Ministère de la jeunesse et des solidarités actives (Hrsg.) [Stand: 06.11.2010] 39 Vgl. Fondation Pasteur Eugène Bersier (Hrsg.) [Stand: 06.11.2010] 40 Vgl. Fondation de France (Hrsg.) [Stand: 07.09.2010] 41 Vgl. Czysz, Armin/ Joosten, Angela [Stand: 06.11.2010] 42 Anm.: Diese Logik steht im Gegensatz zum deutschen System. Dort wird die Privilegierung von Caritas und Diakonie gerade aus der nachweisbaren Bindung an die Kirchen abgeleitet. 43 Anm.: Beispiele: Evangelische Fondation Chandos, Fondation Adèle de Glaubitz, Fondation Sonnenhof im Nordelsass und Saint Andre im Südelsass bei Colmar, Fondation John Bost und Arche Jean Vanier Assoziation, die aus 30 Vereinen und 100-150 Wohnheimen besteht. 37

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Frankreich mit Behinderung untergebracht.44 Grundsätzlich verbringen französische Schulkinder viel Zeit in öffentlichen Bildungseinrichtungen. Ganztagsunterricht und das tägliche Angebot eines warmen Mittagessens sind selbstverständlich.45 Familienpolitik ist eine Kombination aus umfassenden finanziellen Leistungen und Kinderbetreuungsanrechten. Eltern können aus einer Bandbreite von staatlich geförderten außerfamiliären Betreuungsangeboten entsprechend ihrer Lebenssituation auswählen. Hierbei wird besonders die Wahlfreiheit der Mutter gefördert. Sie soll entscheiden können, ob sie ins Erwerbsleben zurückkehrt oder sich auf die Kindererziehung konzentriert und kein eigenes Einkommen erwirtschaftet.46 Die Unterstützungsleistungen aus dem nahen Umfeld wurden bei der HID Studie als wichtig eingestuft. Zwei Drittel der zuhause lebenden Menschen mit Behinderung gaben an, dass sie Hilfe aus der Verwandtschaft, von Freundinnen und Freunden oder aus der Nachbarschaft erhalten. Durch die Umfrage wurde erkenntlich, dass das familiäre Umfeld und die soziale Herkunft einen starken Einfluss auf die Zukunft eines Menschen mit Behinderung haben. So hat sich gezeigt, dass ein Kind mit Behinderung aus einer Arbeiterfamilie dreimal häufiger in einer Institution lebt, als ein Kind einer wohlhabenden Familie und, dass soziale Vereinsamung von Menschen mit Behinderung, die in Heimen leben, achtmal häufiger auftrat, als bei jenen, die im Familienumfeld untergebracht sind.47 10. Bildungsbereich Das zentralstaatlich organisierte Schulsystem

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kennt die Ganztagsschule als Regelschule. Dies gilt auch für die 20% Privatschulen.48 Die Schulphase beginnt mit der Vorschulerziehung (Ecole Maternelle), die vom vierten bis zum sechsten Lebensjahr angeboten wird. Sie ist kostenfrei und nicht verpflichtend. Darauf folgt die Grundschule (Ecole Elementaire), die in Lernzyklen unterteilt ist und den Schülerinnen und Schülern dadurch eine individuelle Zeiteinteilung im eigenen Lernrhythmus ohne Diskriminierungserlebnisse ermöglicht. Es folgen der Sekundarbereich (College) und das Gymnasium (Lycée). Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht wurde 1882 beschlossen. Seit 1967 besteht Schulpflicht bis zum 16. Lebensjahr. 1975 wurde die Erziehung und Bildung für Menschen mit Behinderung zu einer obligatorischen nationalen Aufgabe, die durch das zentrale Gesetz von 2005 konkretisiert wurde.49 Trotz Schulpflicht gibt es eine erhebliche Anzahl von Kindern die keine Schule besuchen. Dies ist unter anderem auf eine hohe Rate der zu Hause beschulter Kinder (circa 20.000) zurück zu führen.50 Schülerinnen und Schüler mit Assistenzbedarf besuchen normalerweise den Unterricht an Regelschulen. In der Grundschule gibt es phasenweise Integrationsklassen (CLIS), um besser vom konventionellen Schulgeschehen profitieren zu können. Des Weiteren gibt es den ‚angepassten Unterricht‘ (SEGPA) und ‚integrierte pädagogische Einheiten‘ (UPI) die in den letzten Jahren in einigen weiterführenden Schulen aufgebaut wurden. Diese Unterrichtseinheiten sind etabliert worden, um Kinder mit Behinderung im Anschluss an den CLIS Prozess der Grundschule

Anm.: In einer Studie über die Qualität gemeindenaher Wohnprojekte für Menschen mit Behinderung erreichte Frankreich 2,85 Punkte bei einem Höchstwert von 5,0 Punkten. Vgl. Europäische Komission (Hrsg.); Mormiche, Pierre (2000), S.2f. [Stand: 11.10.2010] 45 Vgl. Schultheis, Franz (1999), S.92 46 Anm.: Kinder werden aus historischen Gründen nicht nur als privates, sondern auch als öffentliches Gut betrachtet. Der Staat unterstützt öffentliche und private Kinderbetreuung, Krippenplätze, Vorschulen und die Beschäftigung von Tagesmüttern und anderen Betreuungspersonen. Vgl. Veil, Mechthild, S.32 [Stand: 25.09.2010]; Stern, Nadine (2007), S.118ff. 47 Vgl. Mormiche, Pierre (2000), S.3f. [Stand: 11.10.2010] 48 Anm.: Diese, zumeist unter katholischer Trägerschaft geleiteten Schulen, zählen eher zu jenen, die den Bedürfnissen von Kindern mit Behinderung gerecht werden. Vgl. Krause, Angelika (2010) 49 Vgl. Brockhaus (Hrsg.) (1911), S. 656f. [Stand: 07.09.2010]; Haensch, Günther/ Tümmers, Hans J. (1998), S.256ff; Ministère des Affaires étrangèreset européennes (Hrsg.) [Stand: 02.09.2010] 50 Vgl. Krause, Angelika (2010); Meunier, Marie-Lise (Hrsg.) [Stand: 07.09.2010] 44

Frankreich auch in weiterführenden Schulen fördern zu können.51 Ab Klasse acht kann mit einer Berufsausbildung begonnen werden, die – angepasst an die Bedürfnisse der Jugendlichen - den Übergang in das Berufsleben erleichtert. SEGPA Kurse werden von 92.000 Schülerinnen und Schülern an öffentlichen und von 4.000 an privaten Schulen besucht.52 Ziel dieses ‚angepassten Unterrichts‘ ist es, die Jugendlichen zu einer Facharbeiterlehre zu befähigen. Da die Lehrkräfte an den Regelschulen oftmals keine spezielle Ausbildung in Behindetenpädagogik haben, fehlt es im Schulalltag an Wissen über den Umgang mit Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung. Um diesem entgegen zu wirken, gibt es spezielle Wanderlehrkräfte. Sie sind spezialisiert auf dem Gebiet der Behindertenpädagogik und haben Beratungsfunktionen an Schulen und Kindergärten, in denen Kinder mit Behinderungen integriert sind. Dieses Inklusionspaket soll wegen Sparprogrammen zukünftig abgeschafft werden.53 Wenn der Schulbesuch in den Regelschulen aufgrund der Behinderung nicht möglich ist, werden sogenannte erzieherisch-medizinische Sonderschuleinrichtungen (IME, IMP oder IMPRO)54 angeboten, die zum Teil unter der Aufsicht des Gesundheitsministeriums arbeiten. Im Jahr 2008 lag die Integrationsrate von Kindern mit Behinderung bei 30%, 70% der Kinder wurden segregiert beschult.55 Weit verbreitet gilt heute die Devise, behinderte Kinder ins Regelschulsystem zu integrieren und nur in seltenen Fällen in die Sonderschule zu schicken.56 Bis ins Jahr 2005 fand in Frankreich wenig Inklusion statt. Erst durch die oben erwähnte gesetzliche Regelung wurden Kinder mit Behinderung in das Regelschulsystem eingegliedert, um eine weitreichende Chancengleichheit und soziale Heterogenität zu schaffen. Auf Grund fehlender Hilfsmittel und finanzieller

Ressourcen vollzieht sich der Wandel schleppend und der Zugang für Menschen mit Assistenzbedarf in Regelschulen bleibt schwierig. Noch häufig wechseln die Kinder nach der Grundschule auf eine Sonderschule.57 In Regelschulen verfügt das Lehrpersonal oftmals über unzureichende behindertenpädagogische Kompetenz. Es gibt gesetzlich zugesicherte Assistenzleistungen, um Kinder durch persönliche Begleitpersonen zu unterstützen. In der Realität ist die Assistenzleistung, unsicher geregelt. Die Bewilligung der Verträge ist zeitlich befristet und deren Finanzierung nicht langfristig gesichert. Oftmals begleiten Studierende oder Seniorinnen und Senioren die Kinder im Schulalltag, arbeiten sich für einige Monate ein und werden dann wieder ausgewechselt. Dieses Modell wird von den Betroffenen als unbefriedigend empfunden und von großen Elternvereinen heftig kritisiert.58 11. Perspektiven Das Gesundheitswesen ist, weltweit betrachtet, sehr leistungsstark. Im World Health Report 2000 nimmt Frankreich bei einem Vergleich von 191 Staaten den 1. Platz ein. Mit Blick auf die Leistungen lässt sich jedoch ein Trend zur Senkung des Sozialversicherungsschutzes erkennen. Im Jahr 2004 wurde ein Defizit von knapp 14 Milliarden Euro der sécurité sociale bekannt. Die Leistungen der staatlichen Pflichtversicherung wurden daraufhin deutlich zurückgefahren. Die Folgewirkungen zeigen sich an einem wachsenden Markt für Zusatzrenten. Ein immer größer werdender Teil der Gesundheitskosten wird von privaten Versicherungsunternehmen oder den Versicherungsvereinen übernommen. Diese Leistungen stehen nur den Haushalten offen, die dafür bezahlen können. Die Tendenz besteht, dass sich das System verstärkt dem Markt öffnen wird,

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CLIS=Classes d’Intégration Scolaire, SEGPA=Sections d’Enseignements Généraux et Professionnels Adaptés; UPI=Unités Pédagogiques d’Intégration; vgl. EACEA (Hrsg.) (2009), S.8 52 Vgl. Vitry, Daniel (Hrsg.), S.93 [Stand : 03.09.2010] 53 Vgl. CRAP (Hrsg.) [Stand: 20.09.2010] 54 IME=Instituts Médico-Educatifs, IMP=Intitituts Medico-Pédagogiques, IMPRO=Instituts Médico-Professionnels. Vgl. Directions Regionale et Départementales des Affaires Sanitaires et Sociales de Picardie (Hrsg.) [Stand: 02.09.2010]; French-Property (Hrsg.) [Stand: 02.09.2010] 55 Vgl. Markowetz, Reinhard (2009) 56 Vgl. Döbert; Hörner et al. (Hrsg.) (2010), S.252ff. 57 Vgl. Kolhoff et al. (2009), S.53; Schädler, Johannes et al. (2008), S.87 [Stand: 13.10.2010]; 58 Vgl. Krause, Angelika (2010) 45

Frankreich wodurch die bereits existierenden Ungleichheiten zunehmen werden.59 Wie in den meisten OECD Staaten, wird auch in Frankreich der demographische Wandel das soziale Sicherungssystem stark beanspruchen, da die Kosten für Gesundheitsfürsorge und Pflege für Menschen im Alter ansteigen werden. Im wissenschaftlichen Diskurs wird kritisch darauf hingewiesen, dass sich Frankreich hauptsächlich auf Familienförderungsmaßnahmen konzentriert hat und die Lebensphasen des höheren Alters vernachlässigt wurden.60 Vor allem die zunehmende Arbeitslosenquote wirft Fragen des sozialen Zusammenhaltes und der Solidarität auf. Eine zunehmend prekäre Realität entwickelt sich, da 19% der unter 25Jährigen unterhalb der Armutsgrenze leben.61 Die Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit ist eines der bedeutsamsten Themen. Sämtliche Budgetund Einsparungsmaßnahmen im sozialen Bereich treffen Menschen mit Behinderung mit besonderer Härte.62 Demonstrationen breiter Teile der Bevölkerung weisen darauf hin, dass diese Entwicklungen von Menschen mit Behinderung nicht klaglos hingenommen werden. Sozialwissenschaftliche Expertinnen und Experten verlangen eine Reformagenda, um Sparmaßnahmen und Defiziten in der Arbeitsmarktpolitik entgegenzutreten.63

FALLBEISPIEL AURELIE Aurelie hatte in ihrer frühen Kindheit eine Hirnhautentzündung. Sie ist geh- und hörbehindert und hat Sprach- und Sehbeeinträchtigungen. Frühe Kindheit Noch während sich Aurelie im Krankenhaus befindet wendet sich eine Mitarbeiterin der Frühförderstelle (C.A.M.S.P.)64 an sie und ihre Eltern um ihre Behinderungsart zu diagnostizieren und beratend zur Seite zu stehen. Dieser Einsatz wird von der Krankenkasse finanziert.65 Durch die interdisziplinäre Frühförderstelle erhalten Aurelie‘s Eltern erste Unterstützung bei der Suche nach einem geeigneten Krippenplatz. Die Eltern gehen beide arbeiten, Aurelie ist tagsüber in einer Krippe und wird zusätzlich in einer sonderpädagogischen Einrichtung für Kinder (S.A.F.E.P.) gefördert.66 Alle drei Einrichtungen stehen im Austausch untereinander und halten regelmäßig Rücksprache mit Aurelie‘s Eltern. Die sonderpädagogische Einrichtung wird von der Krankenkasse bezahlt. Gemeinsam mit Aurelie nehmen ihre Eltern an wöchentlichen Betreuungsterminen der Frühförderstelle teil. Dort kommen sie in Gruppenförderungsprogrammen mit anderen Eltern in Kontakt, die auch ein Kind mit Behinderung haben.67 Kindheit Seit ihrem dritten Geburtstag ist das Verwaltungsamt für Frühförderung und schulische Integration (S.S.E.F.I.S.) für Aurelie zuständig und wird es bis zu ihrer Volljährigkeit bleiben.68 Für Aurelie’s Eltern steht die Frage im Raum, ob sie in den Regelkindergarten oder in eine Sondervorschule (S.E.E.S.) gehen soll. Die Eltern entscheiden sich nach intensiven Beratungsgesprächen für den Kindergar-

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Vgl. Neumann,Wolfgang/Veil, Mechthild, S.2-8 [Stand: 06.11.2010]; Schubert, Klaus et al. (2008), S.227-233 Vgl. Neumann, Wolfgang / Veil, Mechthild, S.6 [Stand: 24.07.2010] 61 Vgl. Schubert, Klaus et al. (2008), S.234 62 Vgl. Kolhoff et al. (2009), S.54 63 Vgl. Baverez, Nicolas [Stand: 08.08.2010] 64 C.A.M.S.P.=Centre d’Action Médico-Sociale Précoce 65 Anm.: Der Einsatz wird von der Securité Sociale und dem Conseil General finanziert, Vgl. Association du C.A.M.S.P. du Doubs et de l’Aire Urbaine (Hrsg.) [Stand: 02.09.2010] 66 S.A.F.E.P.=Service d’Accompagnement Familial et d’Education Précoce; Vgl. Neumann, Wolfgang/ Veil, Mechthild, S.6 [Stand: 24.07.2010] 67 Vgl. Frenzel, Britta (2003), S.75ff. 68 S.S.E.F.I.S.=Service de Soutien à l’Education Familiale et à l’Intégration Scolaire; 60

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Frankreich ten in der Nähe. Aurelie erhält dort Unterstützung durch eine Assistentin (A.S.M.)69. Dieser Bedarf wurde vom Team des örtlichen Beratungszentrums für Behinderung (MDPH) festgestellt, das in ihrer Region für die rechtlichen Fragen und Beantragung von Assistenzleistungen zuständig ist.70 Die Assistenz wird von einer Studentin übernommen und für sechs Monate bewilligt. Danach beantragen ihre Eltern eine Verlängerung. Aurelie bekommt diese Unterstützung erneut und diesmal erhält sie für sechs Monate von einer Seniorin diese Assistenz. Dieser Personenwechsel geschieht mehrfach bis sie auf die Grundschule wechselt. Aurelies Eltern erhalten zusätzlich Unterstützungsleistungen für Zu Hause, welche vom Beratungszentrum für Behinderung für sie beantragt wurden und von den Versicherungen bezahlt werden.71 Schule Im Alter von sechs Jahren wird Aurelie in die Grundschule eingeschult. Die Eltern wollten Aurelie in ihrer Nähe haben und haben sich für die Schule entschieden, die fünf Minuten entfernt ist.72 Es ist eine Ganztagsschule und Aurelie verbringt die meiste Zeit des Tages mit ihren Freundinnen und Freunden. Die Fachkräfte des örtlichen Beratungszentrums, die Klassenlehrerin und Aurelie‘s Eltern besprechen gemeinsam die Aufstellung eines individuellen Stundenplans (P.P.S.).73 Es wird besprochen, welche Hilfsmittel Aurelie benötigt, um dem Schulgeschehen folgen zu können. Das Beratungszentrum übernimmt die Antragsstellung zur Beschaffung geeigneter Schulmaterialien und Hilfsmittel. Mit der Bewilligung der Assistenz gibt es Probleme, da das Budget ausgeschöpft sei. Die Eltern wenden sich an einen Elternverein und werden von dort unterstützt. Der Elternverein wendet sich an das zuständige Verwal-

tungsamt und fordert die Assistenzleistungen ein. Sie werden für weitere sechs Monate bewilligt. Aurelie hat das Gefühl, dass die Lehrerin nicht weiß, wie sie ihr den Lernstoff vermitteln soll. Die Lehrerin hat 23 Kinder in der Klasse und kann auf individuelle Bedürfnisse nicht entsprechend eingehen.74 Nach Rücksprache mit den Eltern erhält Aurelie zusätzliche Fördereinheiten (CLIS) und findet schnell Anschluss zu anderen Kindern. Freizeit Auf Anregungen des Beratungszentrums wird Aurelies in der nationalen Schulsportvereinigung angemeldet.75 Aurelie ist begeistert von ihrem neuen Hobby. Ihre Freundinnen und Freunde sind ebenfalls dort. Sie nimmt an Wettkämpfen teil und erhält viel Anerkennung. Jugend/ College und Ausbildung Aurelie wechselt im Alter von elf Jahren ins College. Um ihr den Übergang von der Grundschule in diese weiterführende Schule zu erleichtern, besucht sie dort den sonderpädagogischen Bereich (UPI) und ab Klasse acht den berufsbildenden Zweig (SEGPA), an dem sie die Ausbildung als Facharbeiterin in einer Bäckerei beginnt.76 Mit 17 Jahren schließt Aurelie ihre Ausbildung ab.77 Junges Erwachsenenalter/ Übergang ins Arbeitsleben Als Aurelie ihre Ausbildung beendet hat, sucht sie einen Betrieb, der sie übernimmt. Schnell bemerkt sie, dass nur wenige Stellen auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Sie wendet sich an das Beratungszentrum und erfährt dort, auf welche Familienzulagen sie noch Anspruch hat. Sie kann mit 20 Jahren - und nur in Ausnahmefällen ab 16 Jahren – eine Invalidenrente beziehen. Somit kann sie vorerst keine ausreichenden Gelder beziehen,

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S.E.E.S.=Service d’Education et d’Enseignement Spécialisé; A.S.M.=Assistantes Specialisees d’ecole Maternelle; Anm.: Diese Assistentinnen und Assistenten haben in der Regel keine Ausbildung. 70 MDPH=Maison Departementales des Personnes Handicapées 71 Vgl. Krause, Angelika (2010) 72 Vgl. Döbert, Hans et al. (2010), S.259 73 P.P.S=Projet Personalisé de Scolarisation. Vgl. Ministère de l’Éducation nationale 2010 (Hrsg.) 74 Vgl. BpB (Hrsg.) [Stand: 03.09.2010]; Living France (Hrsg.) [Stand: 03.09.2010] 75 Vgl. Fédération Française Handisport (Hrsg.) [Stand: 03.09.2010] 76 Vgl. EACEA (Hrsg.) (2009), S.8 [Stand: 03.09.2010] 77 Anm.: Aurelie wird bei Beschulung in CLIS, UPI, SEGPA als inkludiert gezählt, da sich diese Schulformen im Regelschulumfeld befinden. Vgl. Ministère de l’éducation nationale (Hrsg.) 47

Frankreich um unabhängig zu leben. Aurelie wohnt weiterhin bei ihren Eltern. Gleichzeitig sucht sie nach einer Teilzeitbeschäftigung. Ihr Hobby gibt ihr Kraft und schafft Ausgleich. Im Alter von 21 Jahren lernt Aurelie bei einem sportlichen Wettkampf Pascal kennen und verliebt sich in ihn. Nachdem sich die Beziehung der beiden gefestigt hat, beschließen sie, zusammen zu ziehen. Aurelie wendet sich an das Beratungszentrum und beantragt dort die Invalidenrente in Höhe von 700 Euro, die Personen mit einer bleibenden Invalidität von mindestens 80% erhalten.78 Zusätzlich beantragt sie Wohngeld. All dies wird ihr nach einer Wartezeit von sieben Monaten bewilligt.79 Pascal ist auch auf Arbeitssuche - bisher ohne Erfolg.80 Die Werkstatt für behinderte Menschen meldet sich bei Aurelie, nachdem sie zwei Jahre auf deren Warteliste stand. Es wurde ein Platz frei, der Aurelie zugewiesen wird. Sie nimmt diesen an und trägt somit selbst zu ihrem Einkommen bei. Erwachsenenalter Nachdem sich das Paar dazu entschlossen hatte, wird Aurelie im Alter von 31 Jahren schwanger. Gemeinsam suchen sie Rat beim Beratungszentrum. Es stellt Kontakt zum Elternverein für Eltern mit Behinderungen ADAPPH her. Dort nehmen sie an Fortbildungen und Workshops teil, knüpfen Kontakte und werden auf alles vorbereitet.81 Das Paar beschließt, miteinander den zivilen Solidaritätspakt PACS82 einzugehen, bei dem sich Paare gegenseitige materielle Hilfe leisten.83 Dadurch wird ihre Invalidenrente um 17% reduziert, im Ge-

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genzug erhalten sie steuerliche Vorteile. Aurelie geht bis Ende des siebten Monats regulär arbeiten und bekommt dann vorzeitige Wehen. Sie muss daraufhin ins Krankenhaus. Alle Kosten werden von der Universellen Basis- Krankenversicherung CMU84 übernommen, bei der Aurelie keinen Beitrag leisten muss, da ihr Gehalt und das ihres Partners unter dem Mindestsatz liegen.85 Aurelie gebärt einen Sohn Jean und teilt ihr Mutterglück mit Pascal. Nachdem Jean zwei Jahre alt ist und den Kindergarten besucht, geht Aurelie wieder zur Arbeit. Seniorinnenalter Nachdem Aurelie das 60. Lebensjahr erreicht hat, ist sie nicht länger berechtigt, die Invalidenrente zu beziehen. Ihr Unterstützungsbedarf nimmt stetig zu. Altersbedingte Beschwerden sorgen für neue Herausforderungen im Alltag. Ihr Sohn wohnt mittlerweile weiter entfernt und kommt nur am Wochenende. Aurelie beantragt ihre Altersrente.86 Als Pascal den Haushalt und seine Frau mit 82 Jahren nicht mehr alleine versorgen kann, sucht er Hilfe. Eine Sozialarbeiterin des Beratungszentrums und die Hausärztin füllen einen Antrag auf die ‚persönliche Hilfe zur Autonomie‘ (APA) aus. Aurelie gilt als pflegebedürftig. Das Geld für sie kommt aus der Sozialversicherung. Aurelie und Pascal erhalten dreimal die Woche Essen auf Rädern, was sie 75 Euro im Monat kostet.87 Die Unterstützungsleistungen nehmen mit zunehmendem Bedarf in den nächsten Jahren zu. Mit 73 Jahren erliegt Aurelie einem Schlaganfall.

Vgl. Allocation Adultes Handicapés (Hrsg.) [Stand: 04.09.2010] Anm.: Der Antrag wird beim Beratungszentrum eingereicht und von dort an sieben Kommissionen gesandt, unter anderem an die Kommission zum Schutz der Menschenrechte und der Autonomie der Menschen mit Behinderungen CDAPH=Commission des Droits et de l’Autonomie des Personnes Handicapées). Alle Kommissionen prüfen, ob die Voraussetzungen für Hilfeleistungen vorliegen. In der Regel werden die Hilfen gewährt. Vgl. Allocation Adultes Handicapés (Hrsg ) [Stand: 04.09.2010] 80 Vgl. WirtschaftsBlatt Digital GmbH (Hrsg.) [Stand: 04.09.2010] 81 ADAPPH=Association pour le Développement de l’Accompagnement à la Parentalité des Personnes Handicapées Vgl. Doctissimo (Hrsg.) [Stand: 04.09.2010] 82 Anm.: Der PACS wird beim Amtsgericht beantragt und verschafft ähnliche Vorteile, wie eine Ehe 83 Vgl. Französische Botschaft (Hrsg.), PACS [Stand: 04.09.2010] 84 Anm.: Die CMU wird nicht von allen Krankenhäusern akzeptiert, obwohl dies nicht rechtens ist. Vgl. Santé-médecine (Hrsg.)[Stand: 04.09.2010] 85 Vgl. Pratique.fr (Hrsg.) [Stand: 04.09.2010] 86 Anm.: Seit 1999 werden die Bezieherinnen und Bezieher von Invalidenrenten mit 60 Jahren an das Altersrentensystem verwiesen.Vgl. Stowczynski, Gerd [Stand: 04.09.2010] 87 APA=Allocation Personnalisée d’Autonomie; Vgl. Ditz, Rüdiger [Stand: 04.09.2010] 79

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SYNOPTISCHE DARSTELLUNG

FÜR

KOREA1

Gesamtbevölkerung

48 Millionen

Menschen mit Behinderung (1)

2009: 2,4 Millionen Menschen mit Behinderung registriert.

In der Verfassung verankert (2)

Ja, Artikel 34 (5).

Leitbild von Inklusion (3)

Entwicklungen durch internationale Bewegung im asiatischen Raum, mit Auswirkungen auf Regierungsebene durch Schaffung neuer Gesetzesgrundlagen und Zunahme von Barrierefreiheit. Entwicklungen im Schul- und Ausbildungswesen.

Explizite Rechte und Realität (4)

Wohlfahrtsgesetz (WPWDA), Antidiskriminierungsgesetz, Beschäftigungsförderungs- und Berufsausbildungsgesetz. Gesetzlich Regelungen werden nur von wenigen Menschen mit Behinderung wahrgenommen. Gründe hierfür sind Unkenntnis über gesetzliche Bestimmungen sowie ausgeprägte Stigmatisierung in der Gesellschaft.

Staatliche Sozialleistungen (5)

Fünfgliedriges Sozialversicherungsprogramm. Seit 2000 Gesetz zur Sicherung des minimalen Lebensstandards, vorübergehende Maßnahme gegen Arbeitslosigkeit.

Träger Sozialer Arbeit (6)

Ministerien haben Hauptverantwortung und delegieren an registrierte freie und private Träger. Auch nicht registrierte Träger bieten diverse soziale Dienstleistungen an.

Finanzierungsformen (7)

Sozialversicherung zahlen für Versicherte Leistungen, Matching Fund System über die Zentralregierung und Kommunen, staatliche Subventionen, Spendengelder und Privatvermögen.

Religion (8)

Buddhistisch (43%), evangelisch (34%), katholisch (21%), konfuzianisch (0,4%) und won-buddhistisch (0,2%), Andere schamanistisch und muslimisch.

Rolle der Kirche (8)

Gesellschaft wird nachhaltig beeinflusst durch alte Traditionen, die das religiöse- und Alltagsdenken bestimmen. Karikative und diakonische Einrichtungen setzen sich explizit für die Belange von Menschen mit Behinderungen ein.

Rolle informeller Versorgungsformen (9)

Stark ausgeprägter Familiensinn, der Wir-Gedanke bildet die zentrale Grundlage und stellt die Basis für soziale Sicherheit. Zunehmende Modernisierungen in der Gesellschaft bewirken eine Ablösung vom traditionellen Familiensystem.

Bildungsbereich (10)

Bemühungen werden vorgenommen, um die Separierung im Schulsystem zu reduzieren. Gesetzliche Regelungen werden neu erlassen. Auseinandersetzung mit Inklusion findet statt. Barrierefreie Beschulungsformen wurden initiiert.

Zukunftsperspektiven (11) Fortschritte im gesellschaftlichen Handeln werden deutlich, die in wenigen Jahren anwachsen konnte.

1

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Anm.: Die in Klammern gesetzten Zahlen geben die Kapitelnummer in jeweiliger Länderstudie an.

Ratifizierung der UNBehindertenrechtskonvention

Ja, seit dem Jahr 2008.

Monitoring-Stelle

Nationales Menschenrechtsinstitut von Korea.

Geschlecht und Behinderung

Frauen mit Behinderung werden häufig Opfer von sexuellem Missbrauch. Gesetzliche Lage schützt sie nicht ausreichend.

Besondere Stärken

Starker Zusammenhalt innerhalb der Familien. Alternative Formen der Beschulung sind vorhanden, die einen allgemeinen Schulabschluss ermöglichen.

LÄNDERSTUDIE KOREA

Dominique Heyberger

1. Statistik In Südkorea sammelt und evaluiert das Institut für Wissenschaft und Technologie (KIST) und das Ministerium für Wissenschaft und Technologie (MOST) statistische Daten über Sozialstruktur und Gesundheitsförderung. Die Gesamtbevölkerung beträgt circa 48 Millionen Menschen.1 Gemäß des Ministeriums für Arbeit war im Jahr 2009 bei 2,4 Millionen (circa. 4,9%) eine Behinderung registriert.2 Seit 1989 besteht für Menschen mit Behinderung eine Meldepflicht bei ihren entsprechenden Einwohnermeldeämtern. Nur wenige Betroffene kommen dieser Forderung nach.3 Dies erklärt den scheinbar geringen Anteil von 4,9%. Es kann davon ausgegangen werden, dass der tatsächlich Prozentsatz wesentlich höher liegt. Gemäß der Wirtschafts-und Sozialkommission der UN, einer inklusionsfördernden

1

2

3 4

5

6

Initiative der Vereinten Nationen, lebt in den asiatischen und pazifischen Regionen weltweit die größte Anzahl der Menschen mit Behinderung.4 Als Formen der Behinderung werden in Anlehnung an die Klassifikation der WHO anerkannt: Intellektuelle Behinderung, Sehbeeinträchtigung, Hörbeeinträchtigung und physische Beeinträchtigung.5 Während die WHO Menschen mit Alkoholsucht, Drogensucht und seelisch kranke Menschen nicht zu der Statistik von Menschen mit Behinderung zählt, werden diese je nach Ermessen des medizinischen Gutachtens als Behinderungsformen mit aufgenommen.6 2. Verfassung Korea wurde in den Jahren von 1910-1945 von Japan besetzt und 1945 in Süd- und Nordkorea

KIST=Korean Institut of Science and Technology; MOST=Ministry of Science and Technology; Vgl.Institut für Wissenschaft und Technologie, In: Korean Culture and Information Service, Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus (Hrsg.) (2009), S.8 und 89 Vgl. Ministerium für Gesundheit und Soziales (Hrsg.): http://stat.mw.go.kr/stat/content/content_view.jsp?menu_code=MN02040000 [Stand: 30.09.2010] Vgl. Kim, Han Ho (2010), S.14 Anm.: Diese Kommission unterstützt seit 1993 durch Fünfjahrespläne Aktionen auf politischer Ebene. Vgl. Economic and Social Commission for Asia and the Pacific (ESCAP): [Stand: 1.10.2010] Vgl. Kwon, Hyunsoo (2005), S.63; Ministerium für Arbeit (노동부 / 한국장애인고용촉진공단고용개발원), Statistik für Menschen mit Behinderung (장애인통계), 2008 S. 34-39; Rhie, Suk-Jeong (2003), S.34 Vgl. Kim, Han Ho (2010), S.15 53

Korea unterteilt.7 Noch in den 1950er Jahren wurde Südkorea als Entwicklungsland bezeichnet. In den letzten 30 Jahren konnte in der ökonomischen Entwicklung ein stetiger Anstieg verzeichnet werden.8 Im HDI Ranking befindet sich Südkorea auf Platz 26 von 182 und zählt zu den Hochentwickelten Ländern mit der Kategorie „Very High Human Development“.9 Die Verfassung von 1948 wurde auf Grund politischer Unruhen bis 1987 insgesamt neunmal geändert. Sie ist ein bedeutender Wegweiser in Richtung einer vollständigen Demokratisierung. Zu den grundlegenden Bestimmungen der Verfassung gehören die Souveränität des Volkes, die Gewaltenteilung, die Verfolgung des Ziels einer demokratischen Wiedervereinigung mit Nordkorea und die Verpflichtung des Staates, für das öffentliche Wohl zu sorgen. In Artikel 10 wird allen Bürgerinnen und Bürgern das Recht auf ein menschenwürdiges Leben garantiert und ihnen das Recht zugestanden‚ ‚nach Glück zu streben‘. Der Staat verpflichtet sich dazu, die Unverletzlichkeit der Menschenrechte zu garantieren. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und es wird keine politische, ökonomische, soziale oder kulturelle Diskriminierung geduldet aufgrund von Geschlecht, Religion und sozialem Status. In Artikel 34 (5) wird beschrieben, dass diejenigen, die nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt auf Grund von einer körperlichen Behinderung, Krankheit oder Alter zu bestreiten, auf verfassungsrechtliche Weise durch den Staat geschützt sind.10 3. Leitbild ‚Inklusion‘ Die Fachdebatte über Inklusion ist im Vergleich

7

zu anderen Ländern noch jung. Seit der Einführung des Sonderschulgesetzes (SEPA) im Jahre 1977 wurde das Sonderschulwesen ausgebaut.11 Im Jahr 1994 wurde durch die Überarbeitung des Gesetzes ein erster Grundstein für die Inklusion gelegt. Im Jahr 2007 wurde das SEPA durch das ‚Gesetz über die Sonderpädagogik für Menschen mit Behinderungen und Ähnliches‘ ersetzt.12 Bis zum jetzigen Zeitpunkt werden Kinder mit Behinderung zwar noch überwiegend segregiert beschult, durch das neue Gesetz hat sich jedoch eine neue Ära für pädagogische Fachdiskurse eröffnet.13 Eine wichtige Stellung nimmt hierbei das von der Regierung eingerichtete Koreanische Institut für Sonderschulerziehung (KISE) ein.14 Bedeutenden Einfluss auf die Politik für eine Inklusion haben die engagierten Empfehlungen‚ die von den Regierungen der asiatischen und pazifischen Regionen erarbeitet wurden. Die Regierung Südkoreas hat mittlerweile den dritten Fünfjahresaktionsplan herausgebracht. 2007 wurde die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) unterschrieben und 2008 ratifiziert.15 Das im Jahr 2001 gegründete Nationale Menschenrechtsinstitut von Korea wurde für das Monitoring der UNBRK beauftragt.16 In der Fachliteratur gilt die koreanische Bevölkerung als wenig behindertenfreundlich. Seitens der Politik und Medien wird verstärkt über die Rechte und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung informiert, um breite Bevölkerungskreise zu sensibilisieren. Expertinnen und Experten sprechen sich in Fachartikeln für einen solchen Top-Down Ansatz der Regierung aus und

Vgl. Nam, Hyun-Wook (1990), S.2 Vgl. OECD (Hrsg.) [Stand: 26.08.2010] 9 Vgl. United Nations (Hrsg.), Human Development Report 2009, S.180ff. [Stand: 06.11.2010] 10 Vgl. Korean Culture and Information Service Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus (Hrsg.) (2005), S.29f; Tschentscher, Axel [Stand: 19.09.2010] 11 SEPA=Special Education Promotion Act; Vgl. Kwon, Hyunsoo (2005), S.59ff. 12 Vgl. Act on the Special Education for Individuals with Disabilities and the Like; Kwon, Hyunsoo (2005), S.61; Lee, Ick-Seop, S.4 [Stand: 27.09.2010] 13 Vgl. Kwon, Hyunsoo (2005), S.59ff. 14 KISE=Korean Institute for Special Education; Anm.: 2002 erhielten Lehrkräfte ein Intensivtraining über Sonderschulerziehung. Vgl. Korean Institute for Special Education (KISE) (Hrsg.) [Stand: 01.10.2010] 15 Vgl. United Nation , Economic for Social Commission for Asia and Pacific (ESCAP) (Hrsg.), S.26; United Nations (ESCAP) (Hrsg.) [Stand: 1.10.2010]; United Nations (Hrsg.), Treaty Collection [Stand: 27.09.2010] 16 Vgl. Nohyun, Kwak [Stand: 27.09.2010]; Republic of Korea (Hrsg.) [Stand: 7.10.2010]; Korean Culture and Information Service Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus (Hrsg.) (2009), S.49 8

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Korea begründen ihn mit den allgegenwärtigen hierarchischen Strukturen. Diese gründen in der traditionell konfuzianischen Lehre, die das Denken und Handeln der koreanischen Bevölkerung nachhaltig geprägt haben.17 Die „Independent living“ Bewegung, die 2001 begann, möchte diese Verantwortung nicht nur der Regierung überlassen, sondern als Betroffene mehr Einfluss nehmen. Sie wird durch acht Parlamentsabgeordnete, die selbst eine Behinderung haben, unterstützt.18 4. Rechte Das Wohlfahrtsgesetz für Menschen mit Behinderung (WPWDA) wurde 1981 erlassen und 1989 überarbeitet. Es ist das bedeutendste Gesetz für Menschen mit Behinderung. Es regelt in 80 Artikeln die Umsetzung der Grundrechte, die Rechtsgrundlagen der medizinischen, sozialen und beruflichen Rehabilitation und die Bestimmungen zur Registrierung.19 Ein weiteres entscheidendes Gesetz ist das Antidiskriminierungsgesetz aus dem Jahr 2007. Es bestärkt das Verbot der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung in allen Bereichen des Lebens.20 Das Beschäftigungsförderungs- und Berufsausbildungsgesetz für Menschen mit Behinderungen wurde 1991 erlassen und 2000 überarbeitet. Es hat dazu geführt, dass nationale Agenturen zur Arbeitsförderung (KEAD) errichtet wurden, bei denen Menschen mit Behinderung Unterstützung bei der Arbeitsvermittlung und Hilfsmittel für den Arbeitsplatz erhalten.21 Im Jahr 2010 wurde eine Behindertenquote von 3% bei Beschäftigten der Privatwirtschaft und dem öffentlichen Bereich festgelegt.22 Der dritte Fünfjahresplan zur Unterstützung von Menschen mit

Behinderung aus dem Jahr 2008 beinhaltet konkrete Maßnahmen wie den Ausbau von Unterstützungsprogrammen, die Schaffung barrierefreier öffentlicher Einrichtungen, den Aufbau weiterer Wohlfahrtszentren, die Förderung von Ausbildungsstätten und die finanzielle Unterstützung von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern zur Schaffung barrierefreier Arbeitsplätze.23

Es gibt viele Gesetze für Menschen mit Behinderung, die im Alltag keine erkennbare Wirkung zeigen. Ursachen hierfür sind vor allem die Unkenntnis dieser Rechts- und Leistungsansprüche und eine Stigmatisierung durch die Gesellschaft, die es den Betroffenen erschwert, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen.24 Menschen mit Behinderung werden Gefühle, Bedürfnisse und Teilhabe abgesprochen, viele verzichten auf Leistungsansprüche, um ihre Behinderung geheim zu halten. Frauen mit Behinderung sind zusätzlich gefährdet, da sexuelle Übergriffe wie selbstverständlich hingenommen werden und in Institutionen und Familien wenig Aufmerksamkeit erregen.25 Von staatlicher Seite besteht ein Defizit an Sozialleistungen, um den medizinischen, psychiatrischen, pädagogischen und therapeutischen Bereich zufriedenstellend abdecken zu können. Die Arbeitsund Ausbildungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung sind gering. Die Barrierefreiheit ist bisher nicht weitreichend umgesetzt.26 5. Sozialleistungen Die Wohlfahrtsentwicklung in Südkorea hatte ihre Anfänge im Jahre 1961. Das Versprechen zur

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Vgl. Republic of Korea (Hrsg.), Statistics of Korea [Stand: 30.09.2010]; Hyunsoo, Kwon (2005), S.65 Vgl. Kwon, Ji-Young [Stand: 04.10.2010]; Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben [Stand: 07.10.2010] 19 WPWDA=Welfare for Person with Disabilities Act; Vgl. Ministry of Health and Welfare Republic of Korea [Stand: 27.09.2010] 20 Disability Discrimination and Remedies Act; Vgl. Lee, Ick-Seop [Stand: 27.09.2010] 21 KEAD=Korean Employment Agency for the Disabled (KEAD) [Stand: 30.09.2010] Act Employment Promotion and Vocational of Persons with Disability Act; Vgl. Korean Employment Agency for the Disabled (Hrsg.), Work together Happy together, [Stand: 30.09.2010] 22 Vgl. United Nations, Economic for Social Commission for Asia and Pacific (ESCAP) (Hrsg.), S.26 23 Vgl. Korean Culture and Information Service Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus (Hrsg.)(2005), S.91f.; Vgl. Ministerium für Gesundheit und Soziales (Hrsg.) [Stand: 30.09.2010] 24 Vgl. Kim, Han Ho (2010), S.9ff; Hyunsoo, Kwon (2005), S.62 25 Vgl. Asian Correspondent (Hrsg.) [Stand: 01.10.2010] 26 Vgl. Kim, Han Ho (2010), S.11 und S.15; Kwon, Ji-young [Stand: 4.10.2010] 18

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Korea Bekämpfung der Armut wurde durch die militärische Regierung (auch Park-Regierung genannt), die 1961 durch einen Militärputsch an die Macht kam, angekündigt. Sie hatte sich das wirtschaftliche Wachstum zum höchsten Ziel gesetzt und versuchte, die Industrialisierung anzukurbeln. Die meisten Versprechungen zum Aufbau eines Wohlfahrtssystems wurden nicht umgesetzt und Ende der 1960er Jahre stagnierte die Sozialpolitik, während sich die wirtschaftliche Lage rapide entwickelte. 27 Nach und nach wurden Versicherungen eingeführt, die zusammen ein umfassendes Sozialversicherungssystem aus Arbeitsunfallversicherung (1964), Krankenversicherung (seit 1977), staatlicher Rente (seit 1988), Arbeitslosenversicherung (seit 1995) und Pflegeversicherung (2008) ergeben. Das Rentenversicherungssystem bezog anfangs Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer größerer Firmen mit ein. Es wurde 1992 auf die Belegschaft kleinerer Firmen ausgeweitet. Seit 1999 existiert ein Rentenversicherungssystem für Beschäftigte und Selbständige in der Landwirtschaft. Die Lebenserwartung hat sich seit 1960 stark erhöht. Während 1960 knapp 3% der Bevölkerung älter als 65 Jahre wurden, waren es 2002 knapp 8%. Folgerichtig wurde 2008 die Pflegeversicherung für Menschen ab 65 Jahren eingeführt.28 Seit der Wirtschaftskrise im Jahr 1997 und den damit verbundenen Massenentlassungen wurde das soziale Unterstützungssystem ausgeweitet. Es entstand erstmals ein Sozialhilfesystem, welches mit dem Gesetz zur Sicherung des minimalen Lebensstandards im Jahr 1999 rechtlich verankert wurde und im Jahr 2000 in Kraft trat. Dieses Gesetz bietet Menschen zwischen 18 und 65 Jahren, die nicht erwerbstätig sind, eine Unterstützung und zielt darauf ab, die Selbsthilfe der Arbeitsfähigen unter ihnen zu fördern. Ein weiteres Programm, das gegen Arbeitslosigkeit vom Ministerium für Selbstverwal-

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tung eingeführt wurde, ist das ‚Öffentliche Arbeiten‘. Anfangs schloss es Menschen mit Behinderung aus. Seit 1998 sind sie mit einbezogen.29 6. Träger der Sozialen Arbeit Das Programm ‚Öffentliche Arbeiten‘ obliegt den Ministerien, die die Kommunen mit der Durchführung beauftragen. In den Kommunalverwaltungen wurden für die begrenzten Arbeitsplätze des Programms Ausschüsse eingerichtet, die in monatlichen Sitzungen über Teilnahmevoraussetzungen, aktuelle Aktionen und die Höhe des Entgeltes beraten.30 Es existiert eine Vielzahl von Verbänden, die sich in Vereinen der freien und privaten Wohlfahrtspflege organisieren. Vor 1998 waren politische Aktivitäten von Vereinigungen durch zivilgesellschaftliche Organisationen wie Gewerkschaften von der Regierung untersagt und führten oftmals zu Entlassungen aus Arbeitsverhältnissen oder zu Verhaftungen. Seit 1998 können Gewerkschaften bei politischen Diskussionen legal mitwirken, was unter anderem durch den gewerkschaftlichen Beratungsausschuss der OECD und ILO forciert wurde. Nach der Aufhebung des Verbots politischer Beiträge für Gewerkschaften fordern seit 1998 Frauenorganisationen, politisch aktiv werden zu können.31 Die Anzahl der Behindertenverbände ist zwischen 2000 und 2003 von fünf auf fünfzehn angewachsen. Die verschiedenen Verbände bieten unterschiedliche soziale Dienstleitungen an.32 Es entstehen an vielen Orten Zentren der Independent Living Bewegung, die sich mehrheitlich privat finanzieren.33 2007 existieren 45 Elternvereine, die auf ehrenamtlicher Basis rechtliche Hilfen anbieten und Sensibilisierungskampagnen durchführen.34

Vgl. Shim, Seong-Jie (2001), S.1 und 83 Vgl. Park, Susie (2008), S.176; Jung, Jae-Hoon (2010) 29 Vgl. Park, Susie (2008), S.185f. 30 Anm.: Im Jahr 1998 wurden als ‚öffentliche Arbeiten‘ beispielsweise Müll-Recyclingsmaßnahmen des Ministeriums für Umwelt und Autobahn-Renovierungsmaßnahmen des Ministeriums für Aufbau und Transport durchgeführt. Vgl. Park, Susie (2008), S.185 31 Vgl. Schubert (1999), S.503ff 32 Vgl. Ministerium für Gesundheit und Soziales (Hrsg.) [Stand: 03.10.2010]; Jung, Jae-Hoon (2010) 33 Vgl. Kwon, Ji-Young [Stand: 04.10.2010] 34 Ministerium für Gesundheit und Soziales (Hrsg.) [Stand: 30.09.2010] 28

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Korea 7. Finanzierungsformen Die einzelnen Sozialversicherungen übernehmen die Leistungen für jene Personen, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und Beiträge abgeführt haben. Beschäftige in den Maßnahmen der ‚Öffentlichen Arbeit‘ gelten als Tagelöhnerinnen und Tagelöhner. Sie sind nicht in die Sozialversicherung eingebunden.35 Diese Maßnahmen werden zu einer Hälfte von der Zentralregierung und zur anderen Hälfte von der Kommunalverwaltung nach dem Matching-Fund System finanziert. Diese Form dient der komplementären Finanzierung kultureller Institutionen und NGOs. Die Auslobung öffentlicher Mittel wird untrennbar mit dem Einwerben privater Mittel in einer bestimmten Höhe verbunden. Es hat zum Ziel, die private Finanzierung von Kultur anzukurbeln und gleichzeitig die öffentliche Hand zu entlasten.36 NGOs, die soziale Dienstleistungen anbieten, werden vom Staat in der Regel zu 50% bezuschusst. Die übrigen Ausgaben decken sie durch Spendengelder und Privatvermögen. Diese staatlichen Zuschüsse an NGOs haben sich von 1992 bis 2006 vervierfacht. Das seit 2000 etablierte Sozialhilfesystem befreit die Hilfsbedürftigen von Bezahlung sozialer Dienste. Personen und Familien, die keine Sozialhilfe beziehen, bezahlen für diverse soziale Leistungen für sich und ihre Angehörigen. Die Kosten sind häufig zu hoch, so dass durchschnittlich verdienende Familien Angebote sozialer Dienstleistungen oftmals nicht in Anspruch nehmen können.37 2007 wurden knapp 4 Milliarden Won (circa 2,5 Millionen Euro) an staatlichen Leistungen in barrierefreie Maßnahmen investiert. Diese Leistungen sind seit 1998 stetig angestiegen. Menschen mit Behinderung, die erwerbstätig sind, können am meisten von staatlichen Unterstützungsleistungen profitieren, da diese vor allem über Lohnzuschüsse ausgeführt werden. Im Jahr 2008 betrug der Gesamt-

etat für Hilfsmittel für Menschen mit Behinderung 3,2 Milliarden Won (circa 2 Millionen Euro).38 8. Kirche und religiöse Motivation Im heutigen Südkorea gibt es zeitgleich nebeneinander die alte Tradition, sämtliche Weltreligionen und viele neu entstandene religiöse Gemeinschaften aus dem In- und Ausland. Die genaue Zahl all dieser Gemeinschaften ist unbekannt. Die Religionen, die die Menschen am nachhaltigsten beeinflussen, sind der Konfuzianismus, der Schamanismus, der Buddhismus und das Christentum. Bedeutend ist, dass der Konfuzianismus und Buddhismus in der Vergangenheit zu Staatsreligionen erhoben wurden und eine vom Staat verordnete Lebensweise erwartet wurde.39 Religiöse und politische Funktionen waren eng miteinander gekoppelt. Ende der 1960er Jahre haben die Industrialisierung und der gesellschaftliche Wandel ein beträchtliches Maß an Angst und innerer Entwurzelung bei der Bevölkerung ausgelöst. Die alte koreanische Tradition hat durch die neue westliche Zivilisation einen kulturellen Schock erfahren.40 Viele Menschen suchten Trost in den Religionen. Das Wirken von christlichen Theologinnen und Theologen bot den Menschen in dieser Zeit der Orientierungslosigkeit ein Angebot von Gemeinschaftsleben. Die christlichen Religionen wirkten als Mittlerinnen zwischen den westlichen Kulturen und dem traditionell geprägten Korea. Die Bedeutung der alten Traditionen nahm ab und die Zahl der neuen Glaubensgemeinschaften stieg an.41 Die Vermischung neuer moderner Gedanken mit der alten Tradition ist das Charakteristikum für die multikulturelle und multireligiöse Situation des heutigen Südkorea. Eine Erhebung des Korea National Statistical Office aus dem Jahr 2005 zeigt, dass sich die Zugehörigkeit zu verschiedenen Religionen wie folgt verteilt: Die Hälfte der Bevölkerung praktiziert aktiv eine Religion. Innerhalb dieser religiös

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Vgl. Park, Susie (2008), S.187 Vgl. Görsch, Markus (2001), S.170 37 Vgl. Jung, Jae-Hoon (2010); Kim, Han Ho (2010), S.32 38 Vgl. Ministerium für Gesundheit und Soziales (Hrsg.) [Stand: 19.11.2010]; Ministerium für Arbeit, 2008 Statistik für Menschen mit Behinderung, S.110, 116, 127, 130, 145 (Üb. von You, Eun Cho) 39 Vgl. Korean Culture and Information Service Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus (Hrsg.) (2009), S.188; Kim, Han Ho (2010), S.14 40 Vgl. An, Byong-Ro, S.6 [Stand: 06.11.2010] 41 Korean Culture and Information Service, Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus (Hrsg.) (2005), S.161 36

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Korea aktiven Gruppen dominieren der Buddhismus mit 43%, der Protestantismus mit 34% und der Katholizismus mit 21%. Der Konfuzianismus, WonBuddhismus, Schamanismus und Islam werden insgesamt von 2% praktiziert. Ungeachtet der geringen Anzahl derer, die als aktiv Gläubige den alten Traditionen zuzurechnen sind, bestimmt die alte Tradition bis heute das religiöse Denken. Dieses durchzieht alle koreanischen Gemeinden und führt in den verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten zu einer jeweils spezifischen Religiosität. Es gilt als vorbildlich koreanisch, beim Philosophieren buddhistisch oder taoistisch, im familiären Umgang und moralischen Verhalten konfuzianistisch und bei Gefahr schamanistisch zu fühlen.42 Tief verwurzelt ist der Glaube daran, dass denjenigen, die Gutes tun, im nächsten Leben Gutes widerfahren und denjenigen, die Schlechtes tun, im nächsten Leben Schlechtes widerfahren wird. Hieraus resultiert eine Sichtweise, wonach Menschen mit Behinderung und deren Familien selbst die Verantwortung für ihr Schicksal tragen. In Korea existieren Einrichtungen der Caritas und Diakonie, die sich für die Belange von Menschen mit Behinderungen einsetzen. Sie engagieren sich für die Gleichstellung und die medizinische, pädagogische und soziale Versorgung. Es gibt auch buddhistische Organisationen, die soziale Dienstleistungen anbieten, wie zum Beispiel das Chogweong oder das Cheontaegong. Analysen zur Bedeutung der Diakonie in Südkorea weisen darauf hin, dass zum aktuellen Zeitpunkt das diakonische Handeln im Vordergrund stehe und seelsorgerische Tätigkeiten der kirchlich geprägten Vereine eher gering seien.43 9. Informelle Versorgungsformen Der ‚Wir Gedanke‘ bildet eine zentrale Grundlage des gesamten familiären Systems. So bedeutet der Erfolg eines Familienmitgliedes gleichzeitig Erfolg für die ganze Familie, da die einzelne Per-

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son durch die Unterstützung der Familie soweit gekommen ist. Die stark ausgeprägte Solidarität zwischen den Familienmitgliedern und die Gruppenorientierung, die die Familie als Schicksalsgemeinschaft vor das Individuum stellt, sind hierfür verantwortlich. Die Familie stellt die Basis für soziale Sicherheit dar. Der Begriff Familie (‚Ka‘ auf Koreanisch) ist nach wie vor von traditionellen konfuzianischen Werten geprägt. Im Verwandtschaftssystem besteht ein Unterschied zwischen den mütterlichen und väterlichen Verwandten. So werden mehr Personen von väterlicher als von mütterlicher Seite zur Verwandtschaft hinzugezählt. Die Ordnung durch Gehorsam gegenüber den Älteren durchzieht alle zwischenmenschlichen Beziehungen. Traditionelle Rollenverteilungen zwischen den Geschlechtern fordern den Gehorsam der Ehefrau gegenüber dem Ehemann und schreiben dem Mann die Zuständigkeit für das Finanzielle und der Frau die Zuständigkeit für die Haushaltstätigkeit und die Beziehungspflege zu. ‚Ka‘ schließt den Wohnraum, die lebenden Familienmitglieder inklusive der Verwandtschaft, die verstorbenen Vorfahren und die zukünftigen Nachkommen mit ein. ‚Ka‘ bildet eine geschlossene soziale Einheit. Die Familie ist mehr als die primäre soziale Gruppe, sie stellt eine zu erfüllende Bedingung dar, die es für sich selbst und für andere Familienmitglieder zu erhalten gilt. Die Anzahl und die Größe der Mehrgenerationenhäuser nehmen, bedingt durch wirtschaftliche Veränderungen, ab. Der Rückgang findet vor allem auf dem Land statt, dort trifft die Zunahme der Eingenerationenhaushalte vor allem die ältere Generation, die nach der Abwanderung der Kinder alleine in den Dörfern zurück blieb.44 Von den im Jahr 2005 registrierten Menschen mit Behinderung lebten knapp 98% zu Hause und 2% in einer Institution.45 Die weit verbreitete negative Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderung löst bei den betroffenen Familien zusätzlichen Druck und Schuldgefühle aus.46 Aufgrund fehlender staatlicher Absicherung sind Familien

Vgl. Korean Culture and Information Service (Hrsg.) (2005), S.161-189; An, Byong-Ro [Stand: 06.11.2010] Vgl. Kim, Han Ho (2010), S.41, 62 und 237; Caritas Corea [Stand: 03.10.2010]; Jung, Jae-Hoon (2010) 44 Vgl. Kim, Anna (2001), S.95ff; Jung, Young-Tae; Shin, Dong –Myeon, S. 276 [Stand: 03.10.2010] 45 Vgl. Ministerium für Arbeit 2008, S.33, 39 und 47 (Üb. von You, Eun Cho) 46 Anm.: Die Schuldgefühle gründen im Glauben, dass ein Mensch mit Behinderung eine Bestrafung für die ganze Familie sei. Kindern mit Behinderung wird oftmals der Umgang mit anderen verboten und es wird versucht, die eigene Umgebung vor Menschen mit Behinderung zu schützen. Kim, Han Ho (2010), S.29 43

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Korea oftmals auf sich alleine gestellt.47 Die zunehmende Modernisierung der Gesellschaft und die damit einhergehende Ablösung von der traditionellen Lebensweise bewirkt, dass die Kleinfamilie innerfamiliäre Schwierigkeiten und finanzielle Belastungen zunehmend alleine bewältigen muss. Dies führt zu einer steigenden Isolation von Familien mit behinderten Angehörigen.48 10. Bildungsbereich Nach Artikel 31 des Schulgesetzes von 1948 haben alle Schülerinnen und Schüler das Recht auf einen gleichberechtigten Zugang zur Bildung, unabhängig von ihren Fähigkeiten und Situationen, in denen sie sich befinden. Vor der Grundschule besuchen einige Kinder den Kindergarten. Er ist kostenpflichtig. Seit 1999 können einkommensschwachen Familien für ihr fünfjähriges Kind die Kosten erlassen werden. Seit 2004 gibt es darüber hinaus Zuschüsse für jüngere Kinder.49 Mit acht Jahren beginnt die Grundschule.50 Das Bildungswesen umfasst insgesamt sechs Jahre Grundschule, drei Jahre Mittelschule, drei Jahre Oberschule und vier Jahre Hochschule. Der Besuch der Grund- und Mittelschule ist Pflicht und kostenfrei konzipiert.51 Abschlusszeugnisse der Oberschule sind Zugangsvoraussetzungen für eine Hochschule. Die Aufnahme in eine Hochschule setzt das Bestehen einer einheitlichen staatlichen Qualifikationsprüfung mit anschließendem Eintrittsexamen der Hochschule voraus. Private Institute, die bei der Vorbereitung helfen, werden zunehmend in Anspruch genommen. Bei den Universitäten gibt es große Unterschiede im Ansehen der einzelnen Universitäten. Staatliche Rankings spielen eine große Rolle. Je höher das Ansehen der Hochschule, desto größer die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Im Jahre 1890 wurden durch westliche Missiona-

rinnen und Missionare die ersten schulischen Programme für Kinder mit Behinderungen umgesetzt. Zuvor haben Kinder mit Behinderung ausschließlich durch ihre Eltern Erziehung und Bildung erfahren. Seit dem Schulgesetz des Jahres 1948 wurden Kinder mit Behinderungen hauptsächlich in privaten Sonderschulen unterrichtet.52 Heutzutage gibt es drei unterschiedliche Beschulungsformen, in denen Kinder und Jugendliche mit Behinderung unterrichtet werden: Sonderschulen, Sonderschulklassen in Regelschulen und Unterricht in Regelschulklassen. Im Jahr 2007 erhielten 66.000 Schülerinnen und Schüler mit Behinderung eine gezielte Förderung. 23.000 von ihnen besuchten eine Sonderschule und 43.000 wurden in speziellen Klassen an regulären allgemeinbildenden Schulen unterrichtet. Wie viele davon mit Unterstützung in den regulären Unterricht inkludiert wurden, ist nicht bekannt. Seit 2007 existieren 144 Sonderschulen für Kinder mit Behinderung. Darunter waren 89 Schulen für Kinder mit verlangsamter geistiger Entwicklung, 18 für Kinder mit körperlichen Behinderungen, zwölf für Kinder mit Sehbehinderungen und sieben für Kinder mit einer psychischen Erkrankung. Laut dem Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus wachsen das Bewusstsein für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung und somit auch die Integrations- Bemühungen an allgemeinen Schulen. Dies bedeutet eine Zunahme an sonderpädagogogisch geschultem Personal an Regelschulen. Zudem möchte die Regierung den Bau von Schulen in Krankenhäusern fördern, damit Kinder mit chronischen Gesundheitsproblemen regelmäßig beschult werden. Ein Bildungsangebot von 16 Stunden am Tag, welches über den offenen Universitätssender und den Fernsehsender KNOU-TV angeboten wird, ermöglicht eine landesweite Beschulung via

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Anm.: Ist eine behinderte Person in der Familie, so leisten oft Geschwister, Onkels, Tanten und Cousinen finanzielle Zuschüsse, um die finanzielle Lage der Familie zu sichern. Vgl. Ministerium für Arbeit 2008, S. 149ff, S.160 und 165 (Üb. von You, Eun Cho) 48 Vgl. Kim, Han Ho (2010), S.10, 20 und 29 49 Vgl. Kwon, Hyunsoo (2005), S.59f; Korean Culture and Information Service Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus (Hrsg.) (2005), S.98 und (2009) S.124; 50 Anm.: Kinder in Europa sind bei ihrer Geburt 0 Jahre, in Südkorea ein Jahr alt. Alle Menschen bekommen immer am 1. Januar ein weiteres Lebensjahr hinzugerechnet. You, Eun Cho (03.08.2010) 51 Vgl. Korean Culture and Information Service Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus (Hrsg.) (2009), S.124; Kim, Anna (2001), S.90f. 59

Korea Internet, Kabelfernsehen, Radio, Video- und Audioaufnahmen. Durch Online-Kurse wird die Teilnahme der Studierenden überprüft. Studierende, die die vorgeschriebene Anzahl der Punkte erreichen, absolvieren den gleichen Abschluss wie an allgemeinen Hochschulen. Die Einrichtung eines staatlichen Instituts für Sonderschulen im Jahr 1994, das für die Forschung auf dem Gebiet der Bildung in Sonderschulen verantwortlich ist, soll zur Qualitätssteigerung der Bildungsangebote und der Sensibilisierung für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung beitragen.53

UN-BRK, steht im Zusammenhang mit der weiteren Demokratisierung der Gesellschaft. Staatliche Angebote und steigendes Selbstbewusstsein der Menschen bewirkten, dass Eltern behinderter Kinder und Betroffene zunehmend Hilfen in Anspruch nahmen.56

11. Perspektiven Noch heute befindet sich die Gesellschaft in einem Anpassungsprozess, der in zweifacher Weise erschwert wird. Einerseits durch die Probleme, die durch die Teilung des Landes bestehen, andererseits durch den radikalen gesellschaftlichen Wandel auf Grund des raschen industriellen Aufstiegs und der Urbanisierung. Erfolge werden in den Berichterstattungen der ‚Fünf-Jahres- Pläne‘ dargelegt. Entsprechend dieser Quellen wurden die staatlichen Zuschüsse für Vereine für behinderte Menschen erhöht. Besonders für Frauen mit Behinderung konnten Verbesserungen erreicht werden. So wurden im Jahr 2001 elf Beratungsstellen und drei Notunterkünfte für Frauen mit Behinderung eingerichtet, die sexuellen Missbrauch erlebt haben.54 Zusätzlich wurde Kampagnenarbeit geplant, die auf die sexuelle Gewalt gegen Frauen mit Behinderung aufmerksam machen und den Schutz gegen diese Übergriffe verstärken sollen.55 Der kontinuierliche Anstieg des staatlichen Budgets für Sozialleistungen und Bildung für Menschen mit Behinderung weist auf eine Priorisierung dieser Bereiche von Seiten der Regierung hin. Fortschritte im gesellschaftlichen Handeln werden unter anderem durch die „Independent living“ Bewegung deutlich, die in wenigen Jahren angewachsen ist. Die Einrichtung der Menschenrechtskommission, mit dem expliziten Auftrag des Monitorings der

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Vgl. Kwon, Hyunsoo (2005), S.60 Vgl. Korean Culture and Information Service Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus (Hrsg.) (2009), S.129 54 Anm.: Frauen können dort bis zu neun Monaten leben. Anschließend müssen sie wieder zu ihren Familien oder in die Institutionen zurück. Die Täterinnen und Täter werden mit sechs Monaten Gefängnis bestraft. Vgl. Asian Correspondent (Hrsg.) [Stand: 01.10.2010] und Ji-young, Kwon [Stand: 04.10.2010] 55 Vgl. Ministerium für Gesundheit und Soziales (Hrsg.) [Stand: 30.09.2010] 56 Vgl. Schubert, Gunter (1999), S.506; RI Korea (Hrsg.) [Stand: 07.10.2010]; Kim, Han Ho (2010) S.19f. 53

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Korea

FALLBEISPIEL NA-YOUNG Na-Young hatte in ihrer frühen Kindheit eine Hirnhautentzündung. Sie ist geh- und hörbehindert und hat Sprach- und Sehbeeinträchtigungen. Frühe Kindheit Noch während Na-Young im Krankenhaus ist, versammelt sich die ganze Familie, um die Lage der Familie zu besprechen. Ihre Eltern erhalten von vielen Familienmitgliedern finanzielle Unterstützung, um das Krankenhaus zu bezahlen. Die Sozialversicherung des Vaters übernimmt ebenfalls einen Anteil der entstandenen Kosten.57 Von der Familie bekommen Na-Youngs Eltern die Zusicherung, dass sie ihnen helfen werden, wodurch sich Na-Youngs Eltern unterstützt und abgesichert fühlen. Na-Young verbringt viel Zeit mit Ihrer Familie. Ihre Eltern gehen selten mit ihr weg, da sie sich große Sorgen darüber machen, was die Nachbarn über ihre Tochter und die Familie denken. Sie haben das Gefühl, dass sie weniger respektiert werden von den Menschen in ihrem Umfeld, die Na-Young kennengelernt haben.58 Dass die Familie Ansprüche auf staatliche Leistungen hätte, wissen sie nicht. Na-Youngs ganze Familie fragt sich immer wieder, wer für die Behinderung von Na-Young die Verantwortung trägt und was sie falsch gemacht haben. Kindheit Da es wenige Angebote zur Frühförderung gibt und es nicht üblich ist, dass Kinder mit Behinderung in einen Kindergarten gehen, verbringt NaYoung sehr viel Zeit in ihrer Familie.59 Durch die Cousinen, die oft bei Na-Young zu Besuch sind, fühlt sie sich unterhalten. Schule Im Alter von acht Jahren soll Na-Young in die Grundschule eingeschult werden. In der staatli-

chen Sonderschule, die sich in ihrem Dorf befindet, an der Na-Young einen kostenfreien Platz bekommen würde, sind alle Plätze belegt und die nächste Sonderschule ist weit entfernt. Daraufhin überlegt Na-Youngs Familie, sie auf eine allgemeine Schule zu schicken. Der Wunsch der Eltern wird von den Lehrerinnen und Lehrern zurück gewiesen. Als Begründung wird angeführt, dass die Eltern der anderen Kinder diesen Kontakt nicht für ihre Kinder wünschen und sie keine Möglichkeit sehen, Na-Young in der Klasse zu fördern.60 Somit bleibt Na-Young vorerst zu Hause. Ihr Vater macht sich Gedanken darüber, wie sie diesen Schulplatzmangel lösen können. Gemeinsam mit seiner Familie trifft er die Entscheidung, sich einen Arbeitsplatz in Seoul zu suchen. Er verspricht sich dadurch einen Schulplatz für seine Tochter. Die Großfamilie unterstützt Na-Young und die Mutter, während der Vater auf Arbeits- und Wohnungssuche ist. Es dauert einige Zeit, bis Na-Young und ihre Mutter nach Seoul ziehen können. Na-Young wird mit neun Jahren an einer Regelschule angenommen. Da Na-Youngs Eltern bisher keine Registrierung beim Amt vorgenommen haben, erhält Na-Young keine Assistenz. Ihre Eltern hoffen darauf, dass Na-Young den Anforderungen in der Schule gewachsen ist. Da Na-Young schlechte Noten erhält, sind ihre Eltern besorgt und enttäuscht von ihrer Tochter. Na-Young macht das traurig und sie weiß nicht, wie sie ihre Eltern stolz machen kann. Sie fühlt sich einsam und vermisst ihre Cousinen. Sie hat keine Freundinnen und Freunde gefunden und möchte wieder zu ihrer Familie nach Hause.61 Die Lehrerin der Schule wendet sich an die Eltern und informiert sie über einen Elternverein. Na-Youngs Eltern nehmen Kontakt auf. Sie haben großen Redebedarf und viele Fragen, die sie dort beantwortet bekommen. Sie sind sich unsicher, ob sie ihre Tochter als behindert registrieren lassen sollen, da sie die

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Anm.: Die Krankenkassen übernehmen nicht die vollen Kosten. Die Betroffen müssen in der Regel 30 bis 55 % der Kosten selbst tragen. Vgl. Radio Korea International (Hrsg.) [Stand 03.10.2010] 58 Vgl. Kim, Han Ho (2010), S.10 59 Anm.: Integrative Kindergärten scheitern häufig an der Ablehnung der Eltern von nichtbehinderten Kindern. Vgl. Kim, Han Ho (2010), S.241 60 Anm.: An den Sonderschulen haben rund 70% der Lehrkräfte eine Sonderpädagogikausbildung. An den allgemeinen Schulen fehlt es an Fachkräften für Kinder mit Behinderung. Vgl. Kim, Han Ho (2010), S.25 61 Anm.: Es ist selten, dass behinderte und nicht behinderte Menschen Kontakt haben. Es kommt zu Gegendemonstrationen wenn Behinderteneinrichtungen gebaut werden. Vgl.Kim, Han Ho (2010), S.32 61

Korea Sorge haben, dass Na-Young dadurch weniger Chancen für ihre Zukunft haben würde.62 Sie tun es trotzdem, damit Na-Young Unterstützung in der Schule erhält. Seither sind Na-Youngs Leistungen in der Schule besser geworden. Sie besucht in der Oberschule den landwirtschaftlichen Zweig und schließt mit 19 Jahren die landwirtschaftliche Oberschule ab. Freizeit Damit Na-Young nicht die ganze Zeit alleine ist, haben ihre Eltern entschieden, den Rat des Elternvereins anzunehmen und ihre Tochter in den Behindertensportjugendverein zu schicken. Die Kosten sind allerdings für Na-Youngs Eltern zu hoch und sie kann nur eine Zeitlang daran teilnehmen. Dort lernt sie Chong kennen, den sie ab sofort öfters trifft. Seit ihrer Erfahrung im Sportverein ist Na-Young sehr an den Korean Paralympic interessiert. Übergang ins Arbeitsleben und junges Erwachsenenalter Na-Young hat erfahren, dass es Berufe gibt, für die speziell Menschen mit Behinderung ausgebildet werden. Doch diese interessieren Na-Young nicht. Sie sucht eine Anstellung im Bereich der Landwirtschaft, aber ohne Erfolg.63 Daraufhin wendet sie sich an die Arbeitsvermittlung und hofft auf eine vorübergehende Beschäftigungsmöglichkeit. Da Na-Young die Paralympics regelmäßig verfolgt, wird sie auf die gesponserten Abilympics aufmerksam, die im Olympiastadion in Soeul stattfinden. Sie möchte unbedingt an diesem Berufswettbewerb für Menschen mit Behinderung teilnehmen und erzählt ihren Eltern und Chong davon. Sie lässt sich für den Blumengesteck-Wettbewerb registrieren und trainiert intensiv.64 Na-Youngs Eltern möchten zu ihrer Familie zurückziehen, da es den Großeltern schlecht geht und sie sich in der Großstadt nie wohl gefühlt

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haben. Na-Young möchte nicht mehr von Chong weg und erklärt ihren Eltern, dass sie in der Stadt bleiben möchte. Na-Youngs Eltern akzeptieren die Entscheidung ihrer Tochter nicht, denn sie wissen nicht, wie sie in der Stadt alleine leben soll. Da Na-Youngs Eltern den Umzug vorbereiten, sucht Na-Young nach einer Möglichkeit, in der Stadt zu bleiben. Da Chong auch keine Anstellung hat, kann Na-Young nicht mit ihm zusammen ziehen. Er wohnt bei seinen Eltern. Sie wenden sich an den Elternverein und erfahren dort von Pflegeheimen. Sie werden auch darüber informiert, dass diese entweder zu teuer oder nicht angemeldet und extrem unsicher sind.65 Somit zieht Na-Young mit ihren Eltern zurück in ihr Herkunftsdorf. Da sie Chong nicht mehr sieht, ist Na-Young sehr verzweifelt. Nach langem Drängen reisen ihre Eltern mit ihr nach Soeul, damit sie an den Abilympics teilnehmen kann. Sie gewinnt keinen Preis, wird bei dieser Gelegenheit aber von einer Firma angeworben, die sie einstellen möchte. Das Gehalt würde ihr aber nicht ausreichen, um in einem gemeldeten Heim zu leben, und sie traut sich nicht zu, alleine zu wohnen. Chong erzählt Na-Young von den „Independent Living“ Center, in denen man mit anderen Menschen mit Behinderung zusammen wohnt und sich gegenseitig unterstützt. Leider ist dort zu diesem Zeitpunkt kein Platz frei. Na-Young bleibt bei ihren Eltern auf dem Land. Erwachsenenalter Alle ihre Cousinen haben mittlerweile eine Familie gegründet. Na-Young fühlt sich oft einsam, durch regelmäßigen Kontakt über das Internet bleibt sie mit Chong verbunden. Ab und an kann sie durch die ‚Öffentliche Arbeit‘- Programme vorrübergehende Arbeit finden. Sie verdient nicht viel und kann ihrer Familie nur wenig Geld beisteuern. Als Na-Young auf die 40 zugeht und ihre Eltern an Kraft verlieren, macht sich ihre Familie Gedanken,

Anm.: Seit 1988 besteht in Korea Meldepflicht auf den Einwohnermeldeämtern für Menschen mit Behinderung. Nur wenige Menschen kommen dieser Aufforderung nach. Vgl. Kim, Han Ho (2010) S.13f. 63 Anm.: Menschen mit Behinderung stehen nur ein kleines Angebot an Arbeitsstellen zur Verfügung. Vgl. Kim, Han Ho (2010), S.17 64 Vgl. Korea Employment Agency for the Disabled (Hrsg.), 8th International Abilympics Seoul 2011 [Stand: 07.10.2010] 65 Anm.: Es existieren illegale Pflegeheime, die einen niedrigen Preis verlangen. In Wirklichkeit werden nach Einzug soziale Leistungen eingezogen, Missbrauch und Misshandlungen sind dort nicht ungewöhnlich. Die Bewohner und Bewohnerinnen sind oft hilflos ausgeliefert. Vgl. Ji-young, Kwon [Stand: 04.10.2010] 62

Korea wo Na-Young zukünftig wohnen soll, wenn die Eltern zu schwach werden. Na-Youngs Traum, irgendwann eine gemeinsame Zukunft mit Chong zu haben, wird immer unwahrscheinlicher. Eines Tages erzählt Chong, dass er erfahren habe, dass es eine Möglichkeit gebe, in ein „Independent Living“ Center zu ziehen. Na-Young nimmt all ihren Mut zusammen und konfrontiert ihre Familie mit ihrer Entscheidung. Trotz der Widersprüche und Vorwürfe der Familie nutzt Na-Young diese Gelegenheit. Sie trifft sich mit Chong und sie beziehen das Center. Na-Young findet es schwierig, ohne ihre Familie zu leben und ist zugleich dankbar über diese Chance. Ihre Familie hilft ihr, die Kosten für das Center zu bezahlen. Durch die Hilfe der anderen Menschen im Center,

ergibt sich immer wieder eine Arbeitsmöglichkeit. Zusätzlich beantragt Na-Young staatliche Lohnzuschüsse, da ihr Gehalt unter dem Durchschnittseinkommen liegt. Seniorinnenalter Als Na-Young älter wird nimmt ihr Pflegebedarf zu. Sie fühlt sich mit der zunehmend erschwerten Bewältigung ihrer Aufgaben im „Independent Living“ Center überfordert. Mit fast 60 Jahren zieht Na-Young zu ihrer Nichte zurück aufs Land. Sie muss hierfür auch Chong verlassen, der vorerst weiterhin dort wohnen bleibt. Als Na-Young im Alter von 65 Jahren einen Schlaganfall bekommt, stirbt sie bald darauf.

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64

SYNOPTISCHE DARSTELLUNG

FÜR

RUMÄNIEN1

Gesamtbevölkerung

21,5 Millionen

Menschen mit Behinderung (1)

2010: 687.000 Menschen mit Behinderung registriert.

In der Verfassung verankert (2)

Ja, Artikel 46/1991 und Artikel 50/2003.

Leitbild von Inklusion (3)

Ratifizierung europäischer Übereinkommen, staatliche Aktionspläne wurden erstellt. Geeignete Stellen auf dem Arbeitsmarkt sollen geschaffen werden.

Explizite Rechte und Realität (4)

Viele gesonderte Gesetzestexte, schwierig durchschaubar für Betroffene. Umsetzung gestaltet sich schwierig, da Ansprechpersonen fehlen, die Betroffene und deren Angehörige informieren.

Staatliche Sozialleistungen (5)

Sozialversicherungssystem nicht ausreichend ausgebaut. Aus wirtschaftlichen Gründen unterfinanziert. Minimale Existenzsicherung wird versucht zu gewährleisten.

Träger Sozialer Arbeit (6)

Es existieren öffentliche Träger. Der Großteil praktischer Hilfen wird von kirchlichen Trägern und NGO’s aus Westeuropa geleistet.

Finanzierungsformen (7)

Mittel aus Staats- oder Gemeindehaushalten, Spenden, eigene Einnahmen, Sponsoren oder Sachspenden aus dem In- und Ausland.

Religion (8)

Orthodoxe Glaubensgemeinschaft (87%), katholisch (5%), evangelisch (3%), andere (4,8%), keine (0,2%).

Rolle der Kirche (8)

Große Bedeutung der Kirche in der Behindertenhilfe und im sozialen Bereich.

Rolle informeller Versorgungsformen (9)

Herkunftsfamilie gilt als Absicherung bei Pflegebedürftigkeit.

Bildungsbereich (10)

Schulpflicht für alle Kinder. Dem Bericht der Regierung zufolge besuchen fast alle Kinder mit Behinderung eine Sonderschule. Mangelnde Informationsvermittlung über zustehende Rechte und Widerwillen von Lehrern und Lehrerinnen bewirken Ausschluss aus Bildung und Befreiung von Schulpflicht.

Zukunftsperspektiven (11) Keine Aussichten auf zunehmende Barrierefreiheit und Existenzsicherung in allen Bereichen des Lebens in naher Zukunft ersichtlich. Stigmatisierung innerhalb der Gesellschaft weiterhin stark. Ratifizierung der UNBehindertenrechtskonvention

Nein.

Monitoring-Stelle

Keine.

Geschlecht und Behinderung

Überwiegend sind die Mütter zuständig für die Versorgung und Pflege des/ der Angehörigen mit Behinderung, dadurch Prekarisierung.

Besondere Stärken

Starker Zusammenhalt in der Familie. Es bestehen explizite nationale Gesetze für Menschen mit Behinderung.

1

Anm.: Die in Klammern gesetzten Zahlen geben die Kapitelnummer in jeweiliger Länderstudie an. 65

LÄNDERSTUDIE RUMÄNIEN

Edith Stein-Stan

1. Statistik In Rumänien erheben, sammeln und evaluieren das Nationale Statistik Institute, das Arbeits- und Familienministerium und die Nationale Behörde für Menschen mit Behinderung (ANPH) Informationen zu Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt. Gemeinsam mit den Daten von EUROSTAT geben sie einen guten Überblick über die Formen und die Häufigkeit von Behinderungen. Nach einer Volkszählung aus dem Jahr 2002 umfasste die Gesamtbevölkerung 21 Millionen Menschen. Gemäß den aktuellen Berechnungen von ANPH aus dem Jahr 2010 sind davon 627.000 Erwachsene und 60.000 Kinder als behindert registriert.1 Nach dem Mental Disability Report muss in Betracht gezogen werden, dass es eine nicht unerhebliche Anzahl von Menschen gibt, die keine Papiere haben und nicht statistisch erfasst wurden. Laut einer Studie von Unicef aus dem Jahr 2005 betrifft dies mehrere tausend Kinder mit Behinderung.2 In den offiziellen Publikationen des Landes wird zwischen folgenden Formen der Behinderung differenziert: physische, somatische, Hör-, Seh-, geistige, psychische und Mehrfachbehinderung. Diese Klassifikationen, wie auch die Definition von Behinderung, sind an die internationale Klassifikation der WHO angelehnt. Im Gegensatz zu WHO gelten HIV / Aids und seltene Krankheiten auch als eine Form von Behinderung.3 2. Verfassung Vor der Revolution 1989 war die Staatsform in Rumänien eine Diktatur. 1990 wurde die Demo-

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2

3

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5 6 7

66

kratie eingeführt. Die 1991 verabschiedete Verfassung wurde 2004 überarbeitet. Gemäß Artikel 1 ist Rumänien ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat, in dem die Würde des Menschen, die freie Entwicklung der Persönlichkeit, die Gerechtigkeit und der politische Pluralismus höchste Werte darstellen und garantiert sind. Artikel 46/1991 schreibt den ‚Schutz der Personen mit Behinderungen‘ fest. Durch Artikel 50/2003, der die nationale Verantwortung bei der Umsetzung von Chancengleichheit, Prävention und Behandlung regelt, soll gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen tatsächlich am Leben der Gemeinschaft aktiv teilnehmen können.4 In der Skala des Human Development Index (HDI) aus dem Jahr 2009 nimmt Rumänien mit Platz 63 von 182 Ländern eine Position im Mittelfeld ein. Es zählt zur Kategorie ‚High Human Development‘.5 3. Leitbild ‚Inklusion‘ Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wurde 2007 unterschrieben und bis heute nicht ratifiziert.6 2005 hat Rumänien in Brüssel die gemeinsame Erklärung der sozialen Inklusion unterschrieben. Seit diesem Zeitpunkt liegt die Hauptverantwortung für die Förderung und Evaluation der Inklusion beim Ministerium für Arbeit, Familie und Soziale Sicherung. Die europäische Sozialcharta aus dem Jahr 1996 wurde 1999 ratifiziert. Der Artikel 15 der Sozialcharta regelt das Recht von Menschen mit Behinderung auf Eigenständigkeit, soziale Eingliederung und Teilhabe am Leben der Gemeinschaft.7

Vgl. ANPH=Autoritatea Nationala pentru Persoanele cu Handicap, Date statistice la 31 martie 2010 [Stand: 09.09.2010] Anm.: Der Staat ist verpflichtet, Kindern Papiere auszustellen, indem die Herkunftsfamilie des Kindes ausfindig gemacht wird oder das Kind in staatlicher Obhut verbleibt. In diesem Fall wird der Heimleiter oder die Heimleiterin durch richterlichen Beschluss Vormund des Kindes. Vgl. Disability rights international: Hidden Suffering, S.1f. [Stand: 09.09.2010]; Vgl. Palcu, Ana-Maria Vgl. Autoritatea Nationala pentru Persoanele cu Handicap, Date statistice la 31 martie 2010 [Stand: 09.09.2010]; Autoritatea Nationala pentru Persoanele cu Handicap, Date statistice la data de 31 decembrie 2009,Tabela 6 [Stand: 09.09.2010] Vgl. Döbert, Hans et al., S. 601ff.; Parlament Rumänien [Stand: 24.08.2010]; Parliament of Romania (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] Vgl. United Nations (Hrsg.), S.180f. [Stand: 30.11.2010] Vgl. UN (Hrsg.) [Stand: 13.10.2010]; Vgl. Dobos, Ionela [Stand: 02.09.2010] Vgl. Ministerul Muncii, Familiei s.P.S. (Hrsg.), S. 8 [Stand: 09.09.2010]; Guvernul Romaniei (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010]; Pro-Inclusive (Hrsg.) [Stand: 02.09.2010]; Council of Europe (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010]

Rumänien In den letzten Jahren hat die Regierung eine Reihe von strategischen Programmen umgesetzt, um Armut und Ausgrenzung zu reduzieren. Es wurden Aktionspläne (2006-2013) zur sozialen Inklusion von Menschen mit Behinderung erstellt mit dem Ziel, für sie die uneingeschränkte Ausübung von Menschenrechten und Grundfreiheiten sicherzustellen. Große Anstrengungen richteten sich auf die Schaffung und Entwicklung sozialer Dienste. Das System sollte mit Hilfe eines Netzwerkes die Menschen, die nicht in Behinderteneinrichtungen leben, unterstützen, damit sie so selbständig wie möglich leben können. Weitere Ziele waren die Unterstützung der Familien von Menschen mit Behinderung und die Schaffung geeigneter Stellen auf dem Arbeitsmarkt. Die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt nahm daraufhin zu.8 Nationale Experten und Expertinnen weisen darauf hin, dass die geplanten Maßnahmen in der Praxis nur in geringem Umfang umgesetzt werden.9 Die soziale Integration der Menschen mit Behinderungen wird von der ANPH im Jahr 2008 als niedrig eingestuft. Als Gründe werden die Vorurteile der Gesellschaft und die mangelnden Ausbildungsmöglichkeiten genannt. Daraus resultiert eine geringe Beschäftigungsquote. Im Jahr 2008 befanden sich knapp 26.000 der 625.000 erwachsenen Menschen mit Behinderung in einem Beschäftigungsverhältnis. Um die Lebenssituation der Menschen mit Behinderung zu verbessern, hat die ANPH einen weiteren Aktionsplan entwickelt. In den Jahren 2009 bis 2012 sollen Einzelprojekte unterstützt werden, die zur Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderung beitragen.10 4. Rechte Im Jahr 2006 wurde ein Behindertengesetz erlas-

sen, das alle Rechte umfasst, die für Menschen mit Behinderung relevant sind. Es besteht aus 103 Artikeln und deckt die verschiedensten Bereiche im Leben von Menschen mit Behinderung ab. Gemäß Artikel 6 haben Menschen mit Behinderung ein Recht auf: Schutz der Gesundheit (Prävention, Behandlung und Rehabilitation), Bildung, Besetzung und Anpassung des Arbeitsplatzes, Umschulung, soziale Unterstützung, soziale Dienste, Wohnbereich, Verkehr, Zugang zur Umwelt, Informations- und Kommunikationstechnologien, Freizeit, Sport, Kultur, Tourismus, Rechtshilfe und steuerliche Begünstigungen.11 Laut Expertinnen und Experten vor Ort gibt es Probleme bei der Umsetzung. Es mangelt an Ansprechpersonen, die die Betroffenen und ihre Angehörigen über ihre Rechte aufklären und informieren.12 Es gibt in den Institutionen engagiertes aber unzureichend ausgebildetes Fachpersonal, hierzu zählen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie Heilpädagoginnen und Heilpädagogen. Es fehlt ihnen an Weiterbildungsmöglichkeiten, Fortbildungen und Fachliteratur zur Behindertenpädagogik in rumänischer Sprache. Die Verpflichtung, Ansprechpersonen zur Verfügung zu stellen, liegt im Verantwortungsbereich der kommunalen Sozialabteilungen, die dieser Aufgabe nicht nachkommen können.13 Die Umsetzungsprobleme reichen tief in den Alltag hinein. Zur Realisierung des Gesetzes 448/2006 fehle es unter anderem an Schulen, Arbeitsplätzen, sozialen Unterstützungseinrichtungen, geeigneten Wohnbereichen und Barrierrefreiheit auf allen Ebenen der Rechtsbeihilfe.14 Ebenfalls noch nicht der neuen Gesetzeslage angepasst sind die Konditionen in einigen Heimen und medizinischen Institutionen. Einzelfallberichte über an Betten gefesselte Kinder zeigen auf, dass

8

Anm.: Während im Jahr 2006 16.200 Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt tätig waren, waren es im Jahr 2010 laut einer Statistik 29 050. Vgl. Ministerul Muncii, Familiei s. P. S. (2) (Hrsg.), S. 6ff.[Stand: 09.09.2010]; Vgl. Pro-Inclusiv (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 9 Vgl. Autoritatea Nationala pentru Persoanele cu Handicap (Hrsg.) Date statistice la 31 martie 2010 [09.09.2010]; Gebhardt, Walter (2010) 10 Vgl. Mihai, Diana [Stand: 09.09.2010] 11 Vgl. Guvernul Romaniei: Gesetz 448/2006 [Stand: 09.09.2010], Gebhardt, Walter (2010) 12 Vgl. Disability Rights International (Hrsg.): Hidden Suffering, S.21 [Stand: 09.09.2010] 13 Vgl. Palcu, Ana-Maria (2010) 14 Vgl. Palcu, Ana-Maria (2010); Gebhardt, Walter (2010) 67

Rumänien vor allem Kinder mit Behinderungen betroffen sind. Einige von ihnen besitzen keine Papiere, oftmals wurden sie anonym in den jeweiligen Heimen abgegeben.15 Der Umgang mit Problemen in Zusammenhang mit der Minderheitengruppe der Roma gehört zu den am schwersten zu lösenden Problemen. Deren Lebenslagen sind gekennzeichnet durch Arbeitslosigkeit, Analphabetismus und Diskriminierungen. Oftmals fehlt ihnen der Zugang zu sauberem Trinkwasser und Lebensmitteln sowie geeignetem Wohnraum. Dadurch entstehen Zustände von absoluter Armut verbunden mit existenziellen Entbehrungen. Einige Behinderungsformen entstehen als Folgewirkung der Unterernährung.16 5. Sozialleistungen Dem sozialen Sicherungssystem steht noch ein langer Reformprozess bevor. Ziel des Prozesses ist es, durch ein Gleichgewicht zwischen Staat, Solidarität und Eigenverantwortung eine Grundsicherung für alle Menschen zu gewährleisten. Bislang sind die verschiedenen Säulen dieses Systems stark unterfinanziert. Die bisher erreichten, schwankenden und oft zu kleinen Reformschritte, wie zum Beispiel im Bereich der Altersrenten, haben bislang nicht zur Etablierung eines anerkannten und transparenten Systems beigetragen. Angesichts der angespannten Wirtschaftslage ist für die kommenden zehn bis fünfzehn Jahre eine langsame Verbesserung des Wohlfahrtsniveaus zu erwarten.17 Das Gesundheitswesen finanziert sich aus festgesetzten Beiträgen. Arbeitgeber sowie Arbeitgeberin und Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin

15

zahlen zu gleichen Anteilen 7% des Bruttolohnes ein. Auch Erwerbslose, Selbständige und Rentnerinnen und Rentner entrichten 7% ihres Monatseinkommens. Die Versicherten bekommen medizinisch indizierte Leistungen unabhängig der Höhe der von ihnen geleisteten Beitragszahlungen. Gemäß des Behindertengesetzes erhalten Personen, die ein Kind mit Behinderung erziehen, betreuen und pflegen, eine finanzielle Unterstützung von 150 bis 450 Ron (35 bis 105 Euro). Ein minimales Monatseinkommen liegt derzeit bei 600 Ron (140 Euro), ein durchschnittliches bei 800- 1000 Ron (200-250 Euro).18 Im europäischen Vergleich hat Rumänien das geringste Durchschnittseinkommen und die absolute Armutsgrenze ist die niedrigste in der gesamten Europäischen Union.19 Gemäß den gesetzlichen Vorgaben des Behindertengesetzes wird Menschen mit Behinderungen, die in staatlichen Wohnungen leben, zwar eine minimale Miete berechnet20, jedoch sind die Nebenkosten für Gas und Wasser nahezu so hoch, wie in anderen Ländern Europas.21 Im Sektor Kultur, Sport und Tourismus haben Menschen mit Behinderung freien Eintritt in Museen, Theater und Veranstaltungen für Kunst und Sport. Liegt eine Schwerbehinderung vor, erhält die Begleitperson die gleichen Vergünstigungen. Menschen mit Schwerbehinderung können kostenlos den öffentlichen Nah- und Regionalverkehr nutzen, genießen steuerliche Vorteile und erhalten Rechtshilfe.22 Erwachsene erhielten 2009 auf Antrag eine monatliche Vergütung von 202 Ron (48 Euro) bei Schwerbehinderung und 166 Ron (39 Euro) bei einer mittelschweren Behinderung. Je nach Grad der Behinderung können sie eine monatliche Ergänzung des Budgets von

Anm.: In einer Studie über die Qualität gemeindenaher Wohnprojekte für Menschen mit Behinderung erreichte Rumänien 0,55 Punkte bei einem Höchstwert von 5,0 Punkten Vgl. Europäische Komission (Hrsg.) (2003), S.2; Disability Rights International (Hrsg.): Hidden Suffering, S.11 [Stand: 09.09.2010] 16 Anm.: Gemäß den Klassifikationen der Weltbank wird von ‚absoluter Armut‘ gesprochen, wenn Menschen weniger als einen US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben. Vgl. Deutsches Institut für Armutsbekämpfung (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 17 Vgl. Busch, Klaus (2005), S.18-19 18 Vgl. Curierul National (Hrsg.), Artikel 12 (Kapitel2) Gesetz 448/2006 [Stand: 09.09.2010] 19 Vgl. Baum-Ciesig, Alexandra et al. (2008), S.386 20 Vgl. Guvernul României; Legea Nr. 448/2006 [Stand: 09.09.2010] 21 Vgl. Syndikalismus.TK (Hrsg.) [Stand: 13.10.2010] 22 Vgl. Guvernul României; Legea Nr. 448/2006 [Stand: 09.09.2010] 68

Rumänien 33/68/91Ron (8/16/21 Euro) beantragen.23 Erziehungsberechtigte von Kindern mit Behinderung erhalten die gleichen Beträge.24 Die gesellschaftliche Realität stellt sich so dar, dass es weiterer staatlicher Programme bedürfte, um Menschen mit Behinderungen einen minimal komfortablen Wohnraum, eine angemessene Assistenz und die Sicherung des Rechts auf Ausbildung zu garantieren und sie bei der Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit, der Selbstachtung und des Selbstvertrauens, zu unterstützen. Angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage, in der mehr als die Hälfte der gesamten Bevölkerung unter dem Existenzminimum lebt, sind internationale Hilfsprogramme erforderlich, um Inklusion zu ermöglichen.25 6. Träger Derzeit stehen den Menschen mit Behinderung 670 akkreditierte öffentliche, private, freie und kirchliche Anbieter sozialer Leistungen zur Verfügung, darunter auch Verbände und Stiftungen.26 Sie alle unterstehen der Aufsichtspflicht der Behörden und arbeiten gemäß den Vorgaben der Nationalen Behörde für Menschen mit Behinderung. Die öffentlichen Einrichtungen werden als allgemeine Soziale Dienste mit oder ohne Rechtsform gegründet und unterstehen den Kreis- oder Gemeinderäten.27 Ein Großteil der praktischen Hilfe vor Ort wird von kirchlichen und anderen NGOs aus Westeuropa getragen, vor allem aus Deutschland. Als soziale Dienste werden alle Maßnahmen und Aktionen definiert, die helfen, schwierige Lebenssituatio-

nen zu überwinden. Im Zusammenhang mit Menschen mit Behinderung stehen der Schutz der Personen, die individuelle Autonomie, die Verhinderung der sozialen Ausgrenzung und Förderung von Inklusion im Mittelpunkt.28 7. Finanzierungsformen Die finanzielle Verantwortung für die Bereitstellung sozialer Dienste ist im Jahr 1998 im Rahmen eines Gesetzes von der zentralen auf die lokale Ebene übertragen worden.29 Beim Zugang zu den sozialen Diensten bestehen große regionale Unterschiede. Der Zugang ist durch lokale Haushaltsrestriktionen und den Mangel an qualifiziertem Personal eingeschränkt. Die Kommunen kooperieren in der Bereitstellung der Leistungen eng mit lokalen NGOs, religiösen Einrichtungen und Einzelpersonen. Ebenfalls 1998 entwickelte die Regierung in Kooperation mit der Weltbank einen Sozialfonds, aus dem Mittel für die Arbeit von NGOs im Bereich sozialer Dienste bereitgestellt werden. 30 Die Finanzierung der öffentlichen Zentren für soziale Dienste liegt bei den Haushalten der jeweiligen Kreise und Gemeinden.31 Das Gesetz 448/2006 regelt die Organisation, Funktion und Finanzierung der Hilfeleistungen für Menschen mit Behinderung.32 Das Gesetz legea 47/200633 regelt die Soziale Arbeit.34 Das Ministerium für Arbeit, Soziale Solidarität und Familie (Ministerul Muncii, Solidaritatii Sociale si Familiei) ist die zentrale Behörde, die die Politik der sozialen Assistenz erarbeitet. Es bestimmt die nationale und lokale Strategie, ist für die Koordinierung und Durchführung zuständig und unterstützt die sozialen Programme finanziell. Die

23

Vgl. Guvernul României, Vergütungen laut Beschluss Nr.1665/ 2008 Vgl. Guvernul României: Legea Nr. 448/2006, Artikel 58 [Stand: 09.09.2010] 25 Vgl. Amici e.V. (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 26 Vgl. Ministerul Muncii, Familiei s. P. S. (Hrsg.): Registrul electronic unic al serviciilor sociale. Furnizori de servicii [Stand: 03.09.2010]; Anm.: Es waren keine Daten zugänglich über die Anzahl der Plätze bei den verschiedenen Trägern. 27 Vgl. Guvernul României: Legea Nr. 448/2006, Artikel 54 [Stand: 09.09.2010]; 28 Vgl. Primaria Cluj (Hrsg.) [Stand: 12.11.2010] 29 Vgl. Law of the local public finances 1998 30 Vgl. Baum-Ciesig, Alexandra et.al (2008), S.393 31 Vgl. Guvernul României, Legea Nr. 448/2006, Artikel 54 [Stand: 09.09.2010] 32 Vgl. Parlamentul României; Lege 47/2006 [Stand: 09.09.2010] 33 Vgl. Legea privind sistemul national de asistenat sociala 34 Vgl. Ministerul Muncii, Familiei si Protectiei Sociale (2006) (Hrsg.) [Stand: 30.11.2010] 24

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Rumänien öffentlichen Träger werden durch Mittel aus den Staats- oder Gemeindehaushalten35, durch Zuschüsse von den lokalen Rathäusern oder durch das Ministerium finanziert. Bedeutsam ist diesbezüglich das Gesetz 34/1998.36 Um ihre Arbeit zu finanzieren, bemühen sich die Träger zusätzlich um Spenden, eigene Einnahmen, Sponsoren oder Sachspenden aus dem In- und Ausland.37 Die Praxis zeigt, dass die von NGOs angebotenen Dienstleistungen hauptsächlich von internationalen Spenden finanziert werden.38 Als Problem werden darüber hinaus die Doppelung von Organisations- und Verwaltungsstrukturen und das Fehlen qualifizierter sozialer Fachkräfte benannt,39 was dazu führt, dass eine effektive Soziale Arbeit so gut wie unmöglich ist.40 8. Kirche und religiöse Motivation Die Religionszugehörigkeit der rumänischen Bevölkerung, verteilte sich im Jahr 2005 wie folgt: Die orthodoxe Kirche ist mit 87% die größte Glaubensgemeinschaft. 5% der Bevölkerung sind römisch-katholisch, 3% protestantisch. Circa 5% gehören anderen Glaubensgemeinschaften an, 0,2% bezeichnen sich als konfessionslos oder atheistisch41. Im Rahmen der EU-Integration Rumäniens wurde das Gesetz Nr. 489 verabschiedet, das Regelungen zur Gewährleistung der Menschenrechte enthält. Unter anderem werden die individuelle und kollektive Religionsfreiheit durch die Schaffung der notwendigen Rahmenbedingungen garantiert. Der Staat ist neutral in Bezug auf alle 18 anerkannten religiösen Konfes-

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sionen und bietet Garantien für ihre Unabhängigkeit. Die religiösen Gruppierungen werden vom Staat als soziale Partner für die Ausführung sozialer Dienste anerkannt.42 Vor dem Ende der Diktatur 1989 hat sich die orthodoxe Kirche ausschließlich auf ihre spirituelle Rolle beschränkt. Nach der Revolution hat sie in Rekordzeit die Verantwortung für das Angebot sozialer Dienstleistungen übernommen. So ist sie heutzutage in Bereichen tätig wie dem Schutz von Kinderechten, der Bekämpfung von Menschenhandel sowie der Inklusion von Menschen mit Behinderung, HIV infizierten Kindern und älteren Menschen. Sie stellt darüber hinaus religiöse Betreuung in Krankenhäusern, Gefängnissen, Kinderheimen und Einrichtungen für ältere Menschen zur Verfügung.43 Andere Glaubensgemeinschaften beklagen, dass der Staat nur den Bau der orthodoxen Kirchen unterstütze, anstatt die sozialen Aktivitäten und Einrichtungen der Kirchen.44 Christliche Kirchen haben Verbände gegründet wie die Asociatia Diaconia und Caritas Catolica Oradea. Sie dienen karitativen, religiös-sozialen und kulturellen Bildungszwecken und kümmern sich um benachteiligte Gruppierungen wie Straßenkinder, Menschen mit Behinderung und ältere Menschen.45 9. Informelle Versorgungsformen 2008 hat Inclusion Europe46 eine Studie über die

Vgl. Parlamentul României; LEGE 47/2006, Artikel 24 und 37(1) [Stand: 09.09.2010] Vgl. Ministerul Muncii, Familiei si Protectiei Sociale (1998) (Hrsg.) 37 Vgl. Parlamentul României; LEGE 47/2006, Artikel 41(1) [Stand: 09.09.2010] 38 Vgl. Scritube (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 39 Anm.: Dies bezieht sich vor allem auf staatliche Stellen, die unterfinanziert sind und unqualifiziertes Personal beschäftigen. Aufgrund des geringen Gehalts ist die Fluktuation enorm. Die Soziale Arbeit, die von NPO’s übernommen wird, ist von der des Staates zu unterscheiden. Dort findet man gut ausgebildetes Fachpersonal. Vgl. Palcu, Ana-Maria 40 Busch, Klaus (2005), S.18 41 Vgl. National Agency for Employment Romania (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 42 Vgl. Apador Ch (Hrsg.), S.12-16 [Stand: 09.09.2010] 43 Vgl. Formula AS (Hrsg.) [Stand: 03.09.2010] 44 Vgl. Apador Ch (Hrsg.), S.37 [Stand: 09.09.2010] 45 Vgl. Asociatia Diaconia (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010]; Caritas (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010];Caritas Catolica Oradea (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 46 Anm.: Inclusion Europe ist eine Non-Profit Organisation, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung einsetzt. Vgl. Inclusion Europe (Hrsg.) (2008) 36

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Rumänien informelle Versorgung von Menschen mit Behinderung durchgeführt. Die Studie zeigt, dass die Mehrheit der Menschen mit Behinderung in der Herkunftsfamilie leben und es fast ausschließlich die Mütter sind, die die Versorgung und Pflege übernehmen. In den meisten Fällen sind sie nicht gleichzeitig berufstätig, da eine unterstützende Infrastruktur fehlt. Dies verschärft die Existenzbedingungen dieser Familien. Sie erhalten wenig oder keine finanzielle Unterstützung für die Kosten, die zusätzlich anfallen.47 Circa 17.000 der insgesamt 687.000 als behindert registrierten Menschen werden in Einrichtungen betreut. Die überwiegende Mehrheit 670.000 lebt in ihren Familien.48 Laut Gesetz 448/2006 hat jeder Mensch mit einer schweren Behinderung das Recht auf eine persönliche Assistenz. Dies sind für gewöhnlich Mütter, die auf ihre Arbeitsstelle verzichten und sich beim Rathaus als Personalassistentinnen anstellen lassen.49 Disability Rights International weist darauf hin, dass Kinder mit Behinderung in ihren Familien besser versorgt werden, als Kinder in Einrichtungen und die Regierung noch nicht die nötigen Vorkehrungen getroffen hat, um die Wahrung der Menschenrechte in den Institutionen zu überwachen und Missbrauch in Heimen zu verhindern.50 Ein im Internet zugänglicher Bericht weist auf die Probleme von Familien mit behinderten Angehörigen hin: Ceausescu herrschte 24 Jahre diktatorisch, bis er im Dezember 1989 gestürzt wurde. In dieser Zeit wurden Menschen mit Behinderungen nicht beachtet, weder in unterstützenden Programmen, noch in Schulen, noch an Arbeitsplätzen. Sie tauchten unter in ihren Familien oder spezifischen Unterbringungsstätten und verschwanden aus der Öffentlichkeit. In der Gesellschaft betrachtet man sie nach über 20 Jahren Demokratie und umfassenden Gesetzen teilweise

noch immer als Strafe Gottes. Sie werden kaum in der Öffentlichkeit gesehen, weil sie keine Chance haben, sich darin zu bewegen.51 10. Bildungsbereich Seit 1990 ist die private und religiöse Erziehung auf allen Schulstufen anerkannt. Wichtige Prinzipien des Bildungsgesetzes von 2003 sind die Sicherstellung eines lebenslangen Zugangs zur Bildung, die Chancengleichheit gemäß individueller Bedürfnisse und hohe Qualität im Hinblick auf Unterrichtsmethoden und Bildungsinhalte.52 Die Pflichtschulzeit umfasst zehn Jahre.53 Die vorschulische Bildung (Invatamant prescolar) wird für Kinder von drei bis sechs Jahren in den Kindergärten (gradinite) angeboten. Es besteht keine Besuchspflicht. Das Schulsystem gliedert sich in Primar-, Sekundar-, Hochschul- und berufliche Bildung: Primarbildung (invatamant primar) Jahrgangsklassen 1-4. Darauf folgt die Sekundarstufe I, erste Stufe (gimnaziu) mit den Jahrgangsklassen 5-8. Bis zu dieser Klasse werden die Kinder gemeinsam beschult. Danach folgt Sekundarstufe I, zweite Stufe (invatamant obligatoriu) mit den Jahrgangsklassen 9-10. Danach schließt Sekundarstufe II mit den Jahrgangsklassen 11, 12 und 13 an. Zum Abschluss dieser Stufe gibt es die Abiturprüfung. Das Bestehen ermöglicht den Zugang zur Hochschulbildung. Schülerinnen und Schüler, die die Sekundarstufe II nicht besuchen, können den beruflichen Bildungszweig (invatamant postliceal) einschlagen. Der Besuch der öffentlichen Kindergärten ist kostenlos, ebenso der Besuch öffentlicher Schulen und die Bereitstellung der Schulbücher. Die Hochschulen sind berechtigt, Studiengebühren zu erheben. Dem Bericht der Regierung zufolge, besuchen fast alle Kinder mit Behinderung die für sie vorgesehene Sonderschule.54 Regelschulen sind zwar verpflichtet, Kinder mit Behinderung aufzunehmen oder einen 6-10 stündigen

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Vgl. Inclusion Europe (Hrsg.) (2008); Mihai, Diana [Stand: 09.09.2010] Vgl. Autoritatea Nationala pentru Persoanele cu Handicap [Stand: 12.11.2010] 49 Vgl. ANPH (Hrsg.) [Stand: 16.11.2010] 50 Vgl. Disability Rights International (Hrsg.), Hidden Suffering S.26 [Stand: 09.09.2010] 51 Vgl. Amici e.V. (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 52 Vgl. Dumbravenu, Laura, In: Döbert, Hans et al. (Hrsg.) (2010), S.602ff. 53 Vgl. Unopa (Hrsg.), S.4 [Stand: 09.09.2010] 54 Vgl. Dumbravenu, Laura, In: Döbert, H./Hörner, W.(Hrsg.)(2010), S.608ff. 48

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Rumänien Heimunterricht zu gewährleisten, die Umsetzung aber ist vom Willen einzelner Lehrkräfte sowie vom Kampfesgeist der Eltern abhängig. Der Mangel an der Informationsvermittlung zustehender Rechte bewirkt, dass viele Kinder mit Behinderung keine Schulbildung erhalten.55 Eine Studie aus dem Jahr 2005 zeigt, dass 28% der damals geschätzten 52.000 Kinder mit Behinderung Zugang zu Bildung hatten.56 11. Perspektiven Gemäß den Studien von Disability Rights International sind die Aussichten für Menschen mit Behinderung erschreckend schlecht.57 Bis heute wirken Elemente der Diktatur nach, wie etwa die starke Zentralisierung der Wirtschaft und deren Konzentrierung auf die Hauptstadt Bukarest, die aufgeblähte ineffiziente Staatsbürokratie und die Vetternwirtschaft und Korruption. Rumänien ist nach wie vor eines der ärmsten Länder Europas.58 Das bedeutet, dass die meisten Menschen mit Behinderung in nahezu allen Lebenssituationen auf das Äußerste eingeschränkt sind. Die Wenigsten leben in einer geeigneten Wohnsituation. In der Regel wohnen sie im ersten Stock oder in einer noch höheren Etage. Dies bedeutet für viele, dass sie nicht ohne fremde Hilfe in die Wohnung kommen oder sie verlassen können. Die Anlagen der Städte, Straßen, öffentliche Toiletten, Geschäfte, Bars, Restaurants, Theater, Kinos etc. sind schwer oder gar nicht zugänglich. In den Städten können sich Menschen mit Behinderung häufig nur mit Hilfe anderer Personen bewegen. Leben sie auf dem Land in kleinen Dörfern, gibt es noch mehr Einschränkungen. Aufgrund fehlender Möglichkeiten werden Kinder mit schwerer Behinderung von ihrer Schulpflicht befreit. Das bedeutet, dass sie kaum Entwicklungsmöglichkeiten und Chancen zum Aufbau einer eigenen Existenz bekommen. Sehr wenige Men-

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schen mit Behinderung haben eine Arbeitsstelle. Dies liegt einerseits an fehlenden Ausbildungsmöglichkeiten, andererseits an fehlenden Möglichkeiten zur Einrichtung behindertengerechter Arbeitsplätze. Die Einrichtung beispielsweise einer behindertengerechten Toilette am Arbeitsplatz übernimmt kaum eine Firma. Auch die Bewältigung des Weges zur Arbeitsstelle und zurück nach Hause ist nahezu unmöglich zu organisieren.59 In weiten Teilen der Bevölkerung wird Behinderung als Krankheit empfunden, vor der man die Augen verschließt. Viele junge Menschen leben isoliert bei ihren Angehörigen oder in Einrichtungen, die kaum Förder- oder Beschäftigungsmöglichkeiten bieten. Zwar gibt es vereinzelt Therapieangebote, aber der Alltag von Menschen mit Behinderung findet meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.60 Eine Umfrage von 2009 zeigt, dass in Rumänien Menschen mit HIV/ AIDS, sexuelle Minderheiten (Homosexuelle) und Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung zu den am meisten diskriminierten Gruppen gehören.61 Das größte Problem ist für die Menschen nicht die Behinderung, sondern die Mentalität der Gesellschaft.62

Vgl. Palcu, Ana-Maria (2010) Vgl. Foica, Nicoleta [Stand: 09.09.2010] 57 Vgl. Disability Rights International (Hrsg.), Hidden Suffering [Stand: 09.09.2010] 58 Vgl. Baum-Ciesig, Alexandra et al. (2010), S.201 59 Vgl. Amici e.V. (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 60 Vgl. KI-I – Kompetenznetzwerk (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 61 Vgl. Posta Medicala Ro. (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 62 Vgl. Mihai, Diana [Stand: 09.09.2010] 56

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Rumänien

FALLBEISPIEL ALINA Alina hatte in ihrer frühen Kindheit eine Hirnhautentzündung. Sie ist geh- und hörbehindert und hat Sprach- und Sehbeeinträchtigungen. Frühe Kindheit Alinas Eltern werden vom behandelnden Arzt über die Beeinträchtigungen Alinas63 informiert und nach der Behandlung aus dem Krankenhaus entlassen. Alinas Eltern fühlen sich mit ihren Gefühlen der Ungerechtigkeit und des Unverständnis alleine. Sie glauben, für die Behinderung ihres Kindes verantwortlich zu sein und sind hilflos.64 Die Nachbarn grüßen sie nicht mehr. Alinas Eltern streiten oft und machen sich Gedanken darüber, wie sie sich entlasten können. Sie entscheiden sich dafür, Informationen über ein Heim einzuholen. Alinas Eltern suchen eine Einrichtung in der nächst gelegenen Stadt aus, die sie sich finanziell leisten können. Beim Besichtigungstermin stoßen sie dort auf Situationen, mit denen sie nicht gerechnet hatten. Das Heim wirkt unwohnlich65 und einige Kinder haben offene Stellen, Dekubitus und Blessuren vom Liegen. Viele Kinder verletzen sich selbst, weil die Aufmerksamkeit und Liebe fehlt. Das Personal ist unterbesetzt und kann auf die Bedürfnisse der einzelnen Kinder nicht ausreichend eingehen.66 Alinas Eltern wussten nicht, dass es noch Einrichtungen gibt, in denen man solche Bedingungen vorfindet.67 Sie beschließen, Alina weiterhin bei sich zu behalten. Sie fühlen sich überfordert.68 Alinas Vater arbeitet täglich, während ihre Mutter für Alina sorgt. Ali-

nas Eltern haben keine Beratung. Sie wissen nicht, welche Rechte auf finanzielle Unterstützung ihnen zustehen.69 Sie beschließen, von, Tür zu Tür zu gehen, um Ratschläge einzuholen. Einige Nachbarinnen und Nachbarn reagieren abgeneigt70, manche bieten Ihre Hilfe an. Sie erhalten die Adresse einer Ärztin, die die Familie weitervermittelt zu weiteren Ärztinnen, Ärzten und Behörden. Es werden zahlreiche Dokumente verlangt und nach viel Zeit und Mühe wird die Behinderung in die Kategorie „Schwerbehinderung“ eingestuft (handicap accentuat).71 Alina erhält einen Behindertenausweis. Dieser ist zwölf Monate gültig. Er bedarf jedes Jahr neuer Untersuchungen und berechtigt zur Beantragung finanzieller Unterstützung.72 Kindheit (Vorschulische Bildung) Als Alina drei wird, möchten ihre Eltern einen Kindergartenplatz für ihre Tochter. Es ist sehr schwierig, für sie einen Platz zu finden. Sie wissen nicht, wie sie vorgehen können, da sie nicht wissen, dass Alina das Recht73 auf einen Kindergartenplatz hat. Sie fühlen sich allein gelassen.74 Von einer Nachbarin wird ihnen eine Tageseinrichtung für Kinder mit Sprach- und Hörbehinderung empfohlen. Dieser Kindergarten wurde eingerichtet mit der Absicht, Kindern eine sichere Zukunft zu ermöglichen.75 Schule Als Alina sieben wird, fragen sich ihre Eltern, in welche Schule ihre Tochter gehen soll. Die Familie weiß nicht, dass Alina laut Gesetz ein freier und gleichberechtigter Zugang zu allen regulären Bildungseinrichtungen zusteht.76 Eine reguläre

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Vgl. KI-I (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] Vgl. Chiscop, Cristian [Stand: 09.09.2010]; Suntmamica.ro (Hrsg.) [Stand 12.11.2010] 65 Vgl. Europäische Komission (Hrsg.) (2003), S.2 66 Vgl. Disability Rights International (Hrsg.), Hidden Suffering, S.7f. [Stand: 09.09.2010] 67 Vgl. Waleczek, Torben [Stand: 09.09.2010]; SpiegelTV (Hrsg.) [Stand: 29.11.2010] 68 Vgl. Platzer, Amanda [Stand: 09.09.2010] 69 Vgl. Ziarul, Copiilor (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 70 Vgl. Posta Medicala Ro. (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010]; Vgl. Stirile Pro Tv (Hrsg.) [Stand: 12.11.2010] 71 Vgl. Lacatus, Marius [Stand: 12.11.2010] 72 Anm.: Monatlich 284 Ron (ca. 66 Euro), vgl. Ziarul, Copiilor (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 73 Vgl. Art. 15, Gesetz 448/2006 74 Vgl. Ziarul, Copiilor (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 75 Vgl. Faclia (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 76 Vgl. Unopa (Hrsg.), S.7 [Stand: 09.09.2010] 64

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Rumänien Schule nimmt Alina nicht auf, die Lehrerinnen und Lehrer wissen nicht, wie sie die Lehrmethoden an die Anforderungen Alinas anpassen sollen. Alina geht in die Sonderschule.77 Dort ist alles reglementiert und Alina traut sich nicht, so oft zu malen und zu singen, wie sie gerne möchte.78 Mit zehn Jahren steht Alina eine Operation an den Beinen bevor. Die Eltern machen sich große Sorgen, vor allem, weil sie nicht wissen, wie sie die Ärztinnen und Ärzte bezahlen sollen. Obwohl der Aufenthalt im Krankenhaus kostenlos ist, sind finanzielle ‚Aufmerksamkeiten‘ für das Personal (inklusive Bestechungsgelder) wohl bekannt.79 Da ihre Eltern das nötige Geld nicht aufbringen können, wird Alina im Krankenhaus nicht viel Beachtung geschenkt.80 Jugend Alina absolviert die achte Klasse an der Sonderschule. Eine weiterführende Schule ist zu weit vom Elternhaus entfernt, so dass Alina keine Möglichkeit bekommt weiterhin eine Schule zu besuchen und deshalb zu Hause bleibt. Sie hat kaum Freundinnen und Freunden und wird oft verspottet. Alinas Mutter leidet sehr unter den Diskriminierungen, ihr Vater zeigt seine Gefühle nicht. Er trinkt viel und reagiert aggressiv gegenüber Alinas Mutter.81 Alina fühlt sich dafür verantwortlich. Ihre Mutter geht häufig in die Kirche. Gebete und die Gemeinschaft geben ihr Kraft und Hoffnung.

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Frühes Erwachsenenalter Als Alina achtzehn Jahre alt ist, würde sie gerne arbeiten gehen. Eine Stelle findet sie nicht.82 In ihrem Alter stehen ihr monatlich insgesamt 234 Ron (ca. 55 Euro) staatlicher Unterstützung zu.83 Ohne die Hilfe ihrer Familie könnte Alina sich nicht versorgen. Auch die Großmutter, die als Rentnerin nicht alleine zurechtkommt, wird von Alinas Eltern mitversorgt.84 Ihre Mutter hat mittlerweile eine Arbeitsstelle. Sie erhält ein minimales Gehalt von 600 Ron (140 Euro).85 Am Gottesdienst, den die Familie Sonntags besucht, kann Alina nicht teilnehmen, da die Kirchen für sie schwer zugänglich sind. Erwachsenenalter Als Bekannte der Eltern die Familie besuchen, verliebt sich Alina in deren Sohn Mihai. Er erwidert ihre Gefühle. Als die Beziehung fester wird, heiraten sie. Alina und Mihai haben beide keine Arbeitsstelle.86 Sie leben mit im Haus von Alinas Eltern. Mit 29 Jahren wird Alina schwanger. Sie bekommt eine Tochter und ist voller Freude. Nach der Geburt wird von der behandelnden Ärztin festgestellt, dass das Mädchen blind ist. Alina wird ermutigt, das Kind aufgrund der Behinderung abzugeben. Alina kennt die Schwierigkeiten, die auf sie zukommen, aber sie erlebt ihre Mutter und Mihai als Stütze, was ihr Rückhalt bietet.87 Alina und Mihai haben große finanzielle Schwierigkeiten. Mihais Eltern unterstützen ihren Sohn

Vgl. Chivu, Erika [Stand: 09.09.2010] Vgl. Foica, Nicoleta [Stand: 09.09.2010] 79 Vgl. Baum-Ciesig, Alexandra et al. (2008), S.223f. 80 Vgl. Realitate.net (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 81 Anm.: Häusliche Gewalt tritt alle 30 Sekunde auf. Vgl. Asociatia pentru Promovarea Femeii din Romania (APFR) (Hrsg.) [Stand: 12.11.2010]; PrWave (Hrsg.) 82 Vgl. Grigore, Anemary [Stand: 03.09.2010]; Baum-Ciesig, Alexandra et al. (2008), S.213 83 Vgl. Lacatus, Marius [Stand: 12.11.2010] 84 Vgl. Baum-Ciesig, Alexandra et al. (2008), S.214 85 Vgl. Capital Ro. (Hrsg.) [Stand: 09.09.2010] 86 Vgl. Foica, Nicoleta [Stand: 09.09.2010] 87 Vgl. Disability Rights International (Hrsg.): Hidden Suffering S. 1, [Stand: 09.09.2010]; Anm.: Circa 9.000 Babys werden in Rumänien jährlich nach der Geburt abgegeben. Die meisten haben keinen Namen und Identitätspapiere. Das Gesetz 272/ 2004 verbietet die Institutionalisierung von Kleinkindern (0-2 Jahren), dies gilt aber nicht für Kinder mit Schwerbehinderung. Kinder mit leichter oder keiner Behinderung werden häufig als schwerbehindert eingestuft, da dies die Institutionalisierung erleichtert. Auf Grund von Personalmangel können Kinder jahrelang ihre Betten nicht verlassen oder sind daran gefesselt. Viele könnten adoptiert oder in Pflegefamilien integriert werden, wenn sie Papiere hätten. Als Erwachsene werden sie später in psychiatrische Institutionen verlegt. Vgl. Disability Rights International (Hrsg.): Hidden Suffering, S.2ff. [Stand: 09.09.2010] 78

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Rumänien finanziell. Die ganze Familie samt den Großeltern hält zusammen, aber es reicht kaum.88 Alina’s Tochter Alexandra entwickelt sich gut. Sie geht auf eine Sonderschule für Kinder mit einer Sehbehinderung. Die Familie lebt die nächsten 20 Jahre zusammen in einem Haushalt. Alinas größte Ängste bestehen darin, was mit ihrer Tochter passiert, wenn sie und ihre Familie nicht mehr in der Lage sind, für sie zu sorgen. Sie hat Angst, dass sie und Alexandra in einer Psychiatrie89 untergebracht werden müssen.90

Senorinnenalter Im Alter von 61 Jahren erkrankt Alina an einer schweren Lungenentzündung. Als sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert, benötigt sie stationäre Behandlung. Im Krankenhaus fühlt sie sich nicht wohl. Alles wirkt dreckig und uralt. Sie zweifelt daran, dass ihr hier wirklich geholfen werden kann. Mihai besucht sie so oft es geht. Sie wird immer schwächer. Nach einem Monat erliegt Alina ihrer Erkrankung.

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Vgl. Baum-Ciesig, Alexandra et al. (2008), S. 87 Anm.: Die Unterbringung in einer Psychiatrie erfolgt unabhängig der Formen von Behinderung. 90 Anm.: Es gibt keine andere Möglichkeiten für Menschen mit Behinderung, wenn niemand mehr da ist, um für sie zu sorgen. Vgl. Disability Rights International (Hrsg.); Hidden Suffering, S. 23, [Stand: 09.09.2010] 89

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SYNOPTISCHE DARSTELLUNG

FÜR

TANSANIA1

Gesamtbevölkerung

44 Millionen

Menschen mit Behinderung (1)

2008: 2,4 Millionen Menschen mit Behinderung.

In der Verfassung verankert (2)

Ja, Teil 2, Artikel 9 a, e, f, g, h.

Leitbild von Inklusion (3)

Da Armut und Behinderung in unmittelbarem Zusammenhang stehen, wird durch Projekte versucht, die Armut zu bekämpfen. (Pilotprojekt mit Setzung von Prioritäten gestartet)

Explizite Rechte und Realität (4)

Explizite Rechte auf internationaler Ebene wie nationaler Ebene (z. B. Quotenregelung). Gesetze nicht auf Mehrzahl der Bevölkerung anwendbar, da diese unterhalb der Armutsgrenze leben.

Staatliche Sozialleistungen (5)

Minimale formale Absicherung, welche nur dem reichen Teil der Bevölkerung zugänglich ist.

Träger Sozialer Arbeit (6)

Überwiegend internationale Organisationen. Freie und private Träger.

Finanzierungsformen (7)

Hauptsächlich internationale Investoren (Weltbank, IWF, Spendengelder, Stiftungen,...)

Religion (8)

Katholisch (25%), evangelisch (und anglikanisch sowie Afrika-InlandKirche) (25%), muslimisch (30%), Naturreligionen (20%)

Rolle der Kirche (8)

Arbeit an der Basis ermöglicht Einfluss auf die Bevölkerung.

Rolle informeller Versorgungsformen (9)

Die Familie stellt das soziale Sicherungsnetz dar.

Bildungsbereich (10)

Schulrecht für alle, hauptsächlich in Regelschulen. Barrierefreiheit und Zugang oftmals nicht gewährleistet.

Zukunftsperspektiven (11) Belange von Menschen mit Behinderung werden stärker fokussiert. Problem von Armut und Abhängigkeit von internationalen Organisationen bleibt weiterhin bestehen. Ratifizierung der UNBehindertenrechtskonvention

Ja, seit dem Jahr 2009.

Monitoring-Stelle

Keine.

Geschlecht und Behinderung

Frauen und Mädchen mit Behinderungen werden doppelt diskriminiert. Höheres Risiko von Gewalt, Verletzung, Missbrauch, Verwahrlosung, Vernachlässigung, Misshandlung oder Ausbeutung betroffen zu sein.

Besondere Stärken

Starker Familienzusammenhalt, bei dem Probleme vom ganzen Familiensystem getragen werden. Der Mensch wird nicht über das Stigma „Behinderung“ wahrgenommen, sondern über seine Fähigkeiten.

1

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Anm.: Die in Klammern gesetzten Zahlen geben die Kapitelnummer in jeweiliger Länderstudie an.

LÄNDERSTUDIE TANSANIA

Claudia Hettenkofer

1. Statistik In Tansania erhebt, sammelt und evaluiert das Tanzania - National Bureau of Statistics (NBS) Informationen zu Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt. 1 Die vom NBS erhobenen Daten geben einen Überblick über die Formen und die Häufigkeit von Behinderungen.2 Weitere Datenerhebungen und -analysen liegen von internationalen Organisationen, wie zum Beispiel der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds3 (IWF), der Unesco und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor. Im Jahr 2010 umfasst die Gesamtbevölkerung von Tansania 44 Millionen Menschen.4 Nach Schätzungen der WHO haben knapp vier Millionen Menschen eine Behinderung.5 Gemäß einer nationalen Studie des Gesundheitsministeriums und des NBS aus dem Jahr 2008 geht die Regierung von 2,4 Millionen aus.6 Die Studie ergab, dass 50% der Kinder mit Behinderung mit dieser geboren wurden oder diese während ihres ersten Lebensjahres erworben haben. Weitere 30% der Kinder erwarben ihre Behinderung im Laufe ihrer ersten fünf Lebensjahre. In nationalen Publikationen über die Differenzie-

rungen von Behinderungsformen (Census 2002, National Policy on disability) werden folgende Behinderungsformen aufgelistet: Sehbehindert, hörbehindert, geistig behindert und körperbehindert.7 Diese Formen, wie auch die Definition von Behinderung, sind an die internationale Klassifikation der WHO angelehnt.8 Abweichend hiervon ist, dass der Albinismus auch als eine Form der Behinderung verstanden wird.9 Ausdrücke wie ‚Sprachbehinderter‘ und ‚Lernbehinderter‘ kommen im Suaheli10 nicht vor. Wenn jedoch erhebliche Sprach- und Lerndefizite vorliegen, werden diese anderen Behinderungsformen untergeordnet. Massive Defizite im Bereich des Lernens werden als geistige Behinderung verstanden.11 Menschen mit einer geistigen Behinderung haben kein Wahlrecht und eine autonome Lebensführung wird ihnen in der Regel nicht zugetraut.12 2. Verfassung Kurz nachdem Tansania die Unabhängigkeit von Großbritannien in den 1960er Jahren erreicht hat, wurden Tanganjika und Sansibar zusammengeführt und bildeten im Jahr 1964 die Nation von Tansania. Die Einparteienherrschaft wurde im Jahre 1995 mit den ersten demokratischen

1

National Bureau of Statistics (Hrsg.) [Stand: 08.09.2010] National Bureau of Statistics (Hrsg.), United Republic of Tanzania [Stand: 08.09.2010]; United Nations Development Programme (UNDP) [Stand: 08.09.2010]; Weltbank Statistiken [Stand: 08.09.2010]; IWF Statistiken [Stand: 08.09.2010] 3 IWF=Internationaler Währungsfond 4 Vgl. Auswärtiges Amt Tansania (Hrsg) [Stand: 08.09.2010] Anm.: Im Jahr 2002 wurde von einer Gesamtbevölkerung von 34,5 Millionen ausgegangen. Die Ursachen für diese unterschiedlichen Angaben konnten nicht erhoben werden. Vgl. National Bureau of Statistics (Hrsg.), Statistics for development [Stand: 11.10.2010]. 5 Vgl. Inclusive Tanzania (Hrsg.), Statistics [Stand: 08.09.2010]; WHO (Hrsg.) [Stand: 08.09.2010] 6 Vgl. Tanzania Network (Hrsg.), S.1; Anm.: Bei dieser Studie wurden in 7025 Haushalten in 26 Regionen Tansanias und Sansibars Interviews durchgeführt. 7 Vgl. Müller-Mbwilo, Angela (2009), S.55ff.; Ministry of labour, youth development and sports (Hrsg.), S. 3 [Stand: 08.09.2010] 8 Vgl.WHO (Hrsg.), ICIDH [Stand: 16.09.2010]; Rutachwamagyo, Kaganzi, S.5f. [Stand: 26.09.2010] 9 Anm.:„(…) die meisten Personen aus dem Westen sehen Albinismus nicht als ein Problem an, weil Menschen mit Albinismus in ihrem Land nicht die gleichen Schwierigkeiten erleben.“ Vgl.Müller-Mbwilo, Angela (2008), S.58 10 Anm.: In Tansania existieren über 100 Sprachen. Die Amtssprache ist Suaheli. Auswärtiges Amt (Hrsg.), Tansania [Stand: 08.09.2010] 11 Vgl. Müller-Mbwilo, Angela (2008), S.57 12 Vgl. Müller-Mbwilo, Angela (2008), S.106; Verfassung Kapitel 1, Teil 1, Artikel 5, Absatz 2b:„(2) Parliament may enact a law imposing conditions restricting a citizen from exercising the right to vote by reason of any of the following grounds […]: (b) being mentally infirm;” 2

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Tansania Wahlen beendet. Sansibar besitzt einen semi-autonomen Status, das heißt, Gesetze und Verfassung können teilweise abweichen.13 In der Präambel der Verfassung Tansanias, die seit 1977 besteht, steht in der aktuellsten Fassung von 1998 geschrieben, dass das Land ein demokratischer, sozialistischer und säkularer Staat ist.14 Ziel der Verfassung ist, den Aufbau der Vereinigten Republik zu einer Nation aus gleichen und freien Individuen, die ‚Freiheit, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Eintracht‘ genießen, zu gewährleisten. Sie verpflichtet die Staatsgewalt mit all ihren Vertreterinnen und Vertretern die grundlegenden politischen Richtlinien und Programme dahingehend zu lenken, dass die Würde des Menschen und andere Menschenrechte respektiert und geschätzt werden. Das bedeutet, dass jede Person, die arbeiten kann auch arbeitet und davon ihren Lebensunterhalt bestreiten kann, die Menschenwürde gewahrt wird und mit dem Geist der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte übereinstimmt. Die Regierung und all ihre Vertreterinnen und Vertreter stellen gleiche Möglichkeiten für alle Bürgerinnen und Bürger bereit, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Stammeszugehörigkeit, Religionszugehörigkeit, Lebenssituation. Jede Form der Ungerechtigkeit, Einschüchterung, Diskriminierung, Korruption, Unterdrückung oder Bevorzugung soll unterbunden werden.15 Entsprechend der Verfassung müssen allen Menschen mit Behinderung in Tansania, die gleichen Rechte und Möglichkeiten gewährt werden.16 In der Verfassung wird in Teil II Artikel 11 explizit das Recht auf Erziehung und Bildung für Menschen mit Behinderung benannt.17 In der Skala des Human Development Index (HDI) aus dem Jahr 2009 nimmt Tansania Platz 151 von 182 Ländern ein. Es zählt zu den Entwicklungsländern mit der Kategorie ‚Medium Human Development‘.18

13

3. Leitbild ‚Inklusion‘ Tansania hat die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2009 ratifiziert.19 Behinderung wird gemäß Inclusive Tanzania, einem 2006 gegründeten Zusammenschluss von mehr als vierzehn Organisationen, die sich für Menschen mit Behinderung einsetzen, als Folge von Armut wahrgenommen. Menschen mit Behinderung, die in Armut leben, sind gefangen in einem Teufelskreis. Behinderung schränkt den Zugang zu Bildung und Arbeit ein und führt zu wirtschaftlicher und sozialer Exklusion. Diese Faktoren bringen Menschen mit Behinderung in die Lage, unter den Ärmsten der Armen zu leben. Das Konzept einer inklusiven Entwicklung in Tansania basiert auf einem menschenrechtlichen Ansatz, der besagt, dass Entwicklungsziele nicht ohne die Einbeziehung von Menschen mit Behinderung verwirklicht werden können.20 Inclusive Tansania setzt sich für die inklusive Bildung und politische Teilhabe von Menschen mit Behinderung ein. Diese beiden Themenfelder wurden als Priorität ausgewählt, um eine inklusive Entwicklung in Tansania voranzubringen. Zu den festgesetzten Zielen des Pilotprojektes zählen, unter anderem, eine höhere Einschreibung von Kindern mit Behinderung an Schulen, die Verwirklichung des Wahlrechtes für Menschen mit Behinderung und eine Förderung des gesellschaftlichen Bewusstseins über die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung. Strategische Vorgehensweisen umfassen unter anderem öffentliche Kampagnen über Inklusion, Beratungssitzungen mit Regierungsvertreterinnen und -vertretern, Workshops zur inklusiven Bildung und politischen Teilhabe von Menschen mit Behinderung, Erstellen von Materialien zur Interessensvertretung, Öffentlichkeitsarbeit in allgemeinzugänglichen Medien, Lobbyarbeit für inklusive Regierungspolitik und Weiteres.21 Inclusive Tansania wird vom Austrian

Vgl. The Central Intelligence Agency (Hrsg.) [Stand: 08.09.2010] Vgl. United Republic of Tanzania (Hrsg.), Constitution of Tanzania, S.18 [Stand: 08.09.2010] 15 Vgl. Verfassung Teil II 9 16 Vgl. United Republic of Tanzania (Hrsg.), Constitution of Tanzania, S.18 [Stand: 08.09.2010] S.18f. 17 Vgl. The Law Reform Commission of Tanzania (Hrsg.),[Stand: 18.07.2010] 18 Vgl. UNDP (Hrsg.), HDI Report 2009, S.180ff [Stand: 30.11.2010]; United Nations Development Programme (Hrsg.), Statistics [Stand: 15.09.2010] 19 Vgl. United Nations (Hrsg.), enable: [Stand: 14.09.2010] 20 Vgl. Inclusive Tanzania (Hrsg.), Development [Stand: 14.09.2010] 21 Vgl. Abel, Anania (2010) 14

80

Tansania Ludwig Boltzmann Institute on Human Rights begleitet und von NGOs finanziert.22

den als bemitleidenswert, abhängig und als nicht integrierbarer Teil der Gesellschaft angesehen.28

4. Rechte Die Verfassung verbietet Diskriminierungen gegenüber Menschen mit Behinderung.23 Darüber hinaus hat die Regierung von Tansania diverse rechtsverbindliche internationale Menschenrechtsverträge unterschrieben, die die Rechte von Menschen mit Behinderung fördern und schützen. Hierzu zählen zum Beispiel die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 194824, die Kinderrechtskonvention von 1991, die Afrikanische Charta der Rechte und des Wohlergehens des Kindes von 2003 und der Bildungspolitik von 1996.25 Des Weiteren hat Tansania eine Anzahl von Gesetzen, Richtlinien und Standards bezüglich Menschen mit Behinderungen angenommen und umgesetzt, wie zum Beispiel: Berufsbildungsgesetze, die den rechtlichen Rahmen für die Umsetzung eines flexiblen Bildungs- und Ausbildungssystems schaffen und Beschäftigungs- und Arbeitsgesetze, die eine Quotenregelung enthalten. Diese sehen vor, dass 2% der Arbeitsstellen in Unternehmen mit mehr als 50 Arbeitsnehmerinnen und Arbeitnehmern mit Menschen mit Behinderung besetzt werden müssen und direkte und indirekte Diskriminierungen in allen Bereichen der Beschäftigungspolitik verbieten. Die Umsetzung all dieser garantierten Rechte wird durch die Tatsache erschwert, dass - ähnlich wie in anderen Entwicklungsländern - die Mehrzahl der Menschen mit Behinderung unterhalb der Armutsgrenze leben.26 In Tansania gehören Menschen mit Behinderung zu den ärmsten, am wenigsten gebildeten und am stärksten stigmatisierten Mitgliedern der Bevölkerung.27 Ihre Inklusion wird dadurch erschwert, dass ihnen im alltäglichen Leben häufig mit Vorurteilen und negativen Haltungen begegnet wird. Sie wer-

5. Sozialleistungen In Tansania gibt es für alle Menschen eine minimale formale Absicherung in Form von Alters-, Invaliditäts-, Arbeitsunfall-, Arbeitslosen-, Mutterschaft-, Kranken- und Lebensversicherung. Zudem gibt es eine Hinterbliebenenpension. Im Jahr 2003 wurde von der Regierung veröffentlicht, dass 85% der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (871 000 Personen) in das soziale Versicherungsnetz einbezogen seien. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung des Jahres 2002 sind dies circa 2,5 Prozent. Menschen ohne finanzielle Ressourcen können am sozialen Sicherungssystem nur bedingt teilhaben. Menschen der reichen Oberschicht haben Zugang zu zusätzlichen privaten Versicherungen, die individuell ihren Bedürfnissen entsprechen.29 NGOs konnten sich noch nicht so weit etablieren, als dass sie die Lücke der staatlichen Sicherungssysteme schließen können. Aus diesem Grund kommt informellen Sicherungsstrukturen auf der Basis von Selbsthilfe und familiärer und nachbarschaftlicher Hilfe eine bedeutende Rolle in der sozialen Absicherung der Bevölkerungsmehrheit zu. Das bezieht sich auf alle Lebensphasen. Selbst die Rente, die Beamte und Beamtinnen erhalten, ist in der Regel so niedrig, dass sie zum Bestreiten des Lebensunterhalts nicht genügt. 30 Ein vorrangiges Ziel staatlicher Maßnahmen stellt die Versorgung mit sauberem Trinkwasser, die Entsorgung des Wassers und der Zugang zu sanitären Einrichtungen dar. Das Fehlen dieser Maßnahmen hat folgenschwere Konsequenzen auf den gesundheitlichen Zustand der Bevölkerung. Ist die Wasserversorgung gewährleistet, lässt sich der Lebensstandard deutlich verbessern. In den letzten Jahren hat sich die Lage für

22

Vgl. United Nations Development Programme (Hrsg.) [Stand: 14.09.2010] Vgl. Inclusive Tanzania (Hrsg.), Development [Stand: 14.09.2010] 24 Vgl. Ministry of labour, youth development and sports (Hrsg.), S.15 [Stand: 15.09.2010] 25 Vgl. Inclusive Tanzania (Hrsg.), Education [Stand: 14.09.2010] 26 Vgl. Inclusive Tanzania (Hrsg.), Development [Stand: 14.09.2010] 27 Vgl. Pruisken, Andreas/ Miller, Ursula, S.28 [Stand: 14.09.2010]; Inclusive Tanzania (Hrsg.), Development [Stand: 14.09.2010] 28 Vgl. Inclusive Tanzania (Hrsg.), Statistics [Stand: 08.09.2010] 29 Vgl. Ministry of labour, youth, development and sports (Hrsg.), S.7ff [Stand: 15.09.2010] 30 Vgl. Lingenberg, K. In: Hirschfeld, Noreen (2009), S.65 23

81

Tansania die städtische Bevölkerung und vereinzelt auch in dörflichen Teilen verbessert. Die Situation in den meisten Gegenden auf dem Land ist weiterhin durch konstante Unterversorgung gekennzeichnet.31 Ein wichtiges Element staatlicher Sozialleistungen ist der ‚Village Health Service‘. Dieses Konzept wurde 1994 unter dem Begriff Community-Based-Rehabilitation (CBR) eingeführt, um die Menschen in den Dörfern zu erreichen. Hierbei stellt die Inklusion von Menschen mit Behinderung ein wichtiges Ziel dar. Jeweils zwei ‚Health Worker‘ sind in den kleinen Dörfern tätig. Sie leisten Präventions- und Aufklärungsarbeit.32 Häufig gehen sie von Tür zu Tür und beraten die Menschen individuell. Ein Netz von Krankenstationen, deren circa 30 Betten meist überbelegt sind, stellt eine einfache medizinische Grundversorgung für die verarmte ländliche Bevölkerung sicher.33 6. Träger der Sozialen Arbeit Staatliche Träger Sozialer Arbeit sind das Bildungsministerium (MOEC)34, das Wissenschaftsministerium (MoSTH)35 und das Kanzlerbüro (Prime Minister’s Office) mit seiner Abteilung für regionale und lokale Behörden.36 Angebote des Gesundheitswesens, wie die Krankenstationen in den Bezirken, sind meist in staatlicher oder kirchlicher Hand.37 Neben den staatlichen Trägern Sozialer Arbeit 38 nehmen nationale und internationale NGOs39, Stiftungen und kirchliche Träger einen breiten Raum ein.40 Bei den internationalen

31

NGO’s, die sich für Menschen mit Behinderung einsetzen, handelt es sich häufig um Projekt- und Öffentlichkeitsarbeit.41 Den Verbänden von Menschen mit Behinderung (DPO und PDO)42 wird seitens der Behindertenbewegung eine bedeutende Rolle zugeschrieben. Diese nehmen im Sinne der Lobbyarbeit regelmäßig an Diskussionen über Themen, die Menschen mit Behinderung betreffen, teil. Sie organisieren sich in Dachorganisationen wie der Shivyawata, der sechs DPO’s angehören.43 Im Gesundheitswesen und Bildungsbereich werden soziale Einrichtungen zunehmend privatisiert. Dies betrifft vor allem jene, die teure Gerätschaften benötigen (Fachpraxen und Labore). Die Privatisierung der Bereiche führt dazu, dass sich die Qualität der Ausbildungen und Behandlungen verbessert. Diese Angebote sind für den ärmeren Großteil der Bevölkerung nicht zugänglich, da sie diese nicht finanzieren können.44 7. Finanzierungsformen Die finanziellen Herausforderungen des sozialen Sektors kann der Staat nur mit Hilfe privater Investoren stemmen.45 Die Steuereinnahmen, die im eigenen Land erzielt werden, erreichen weniger als 18% der Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes.46 Tansania zählt heute zu den Ländern Afrikas, die am stärksten von der Hilfe von außerhalb abhängig sind.47 Für Mitglieder der Versicherungssysteme gibt es gemäß der International Labour Organization (ILO)48 ein dreistufi-

Vgl. Müller-Mbwilo, Angela (2008), S.46 Vgl. Comprehensive Community Based Rehablitation (Hrsg.) [Stand: 15.09.2010] 33 Vgl. Müller-Mbwilo, Angela (2008), S.47ff. 34 MOEC=Ministry of Education and Culture 35 MoSTH=Ministry of Science, Technology and Higher Education 36 Vgl. The Government of the United Republic of Tanzania (Hrsg.), Water [Stand: 18.07.2010] 37 Vgl. Müller-Mbwilo, Angela (2008), S.48 38 Vgl. The Government of the United Republic of Tanzania (Hrsg.), Water [Stand: 18.07.2010] 39 Vgl. Müller-Mbwilo, Angela (2008), S.48ff; Inclusive Tanzania (Hrsg.), About us [Stand: 15.09.2010] 40 Vgl. Müller-Mbwilo, Angela (2008), S.47ff. 41 Vgl. ZDF (Hrsg.), Der Fluch der guten Tat [Stand: 05.08.2010] 42 DPO=Disabled People Organization; PDO=Prodisability organizations 43 Vgl. International Labour Organization (Hrsg.), Inclusion, S.3 [Stand: 16.09.2010] 44 Vgl. Müller-Mbwilo, Angela (2008), S.46f. 45 Vgl. The Government of the United Republic of Tanzania (Hrsg.), Water [Stand: 18.07.2010] 46 Vgl. Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.) [Stand: 21.07.2010] 47 Vgl. United Nations development Programme (Hrsg.), Statistik [Stand: 15.09.2010] 48 Vgl. International Labour Organization (Hrsg.), About ILO [Stand: 15.09.2010] 32

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Tansania ges System, das auf individuelle Bedürfnisse reagieren kann. Dieses ist einkommensabhängig und soll der Bevölkerung einen allgemeinen Schutz bieten. Die erste Stufe wird von der Regierung finanziert und bietet jenen Personen Schutz, die nicht im Stande sind, selbst für ihre soziale Sicherung Geld aufzubringen (zum Beispiel kranke, behinderte, ältere Menschen). Stufe zwei ist für Menschen geeignet, die einen finanziellen Beitrag leisten können (hierzu sind sie gesetzlich verpflichtet). Die dritte Stufe wird aus individuellen privaten Versicherungssystemen zusammengestellt. Dieses System wurde eingeführt, um die staatlichen Ausgaben für Sozialhilfe zu reduzieren.49 8. Kirche und religiöse Motivation Zusätzlich zum Staat, den privaten und internationalen Trägern, spielen die Kirchen eine bedeutende Rolle bei der Versorgung und der Bereitstellung von Angeboten im Sozialwesen. Die kirchlich und religiös ausgerichtete Soziale Arbeit setzt sich engagiert für eine Verbesserung von Lebenssituationen von Menschen mit Behinderung ein.50 Durch den Einfluss der Missionare und Missionarinnen wurde eine sonderpädagogische Förderung der Menschen mit Behinderung eingeführt.51 Die Zugehörigkeit zu verschiedenen Religionen verteilte sich im Jahr 2009 wie folgt: 50% der Bevölkerung gehörten christlichen Kirchen an. Hiervon die Hälfte der katholischen Kirche, die andere Hälfte verteilt sich auf die Evangelisch Lutherische Kirche (Evangelical Lutheral Church Tansania - ELCT), die Anglikanische Kirche und die Afrika-Inland-Kirche (AICT). 30 % der Bevölkerung gelten als muslimisch und 20% als Anhängerinnen und Anhänger von Naturreligionen.52 Die Kirchen haben aufgrund ihrer Arbeit an der

Basis wichtige Möglichkeiten der Unterstützung der Bevölkerung.53 Darüber hinaus nehmen sie Einfluss auf das Bildungs- und Gesundheitssystem, da sie häufig die Trägerschaft von Einrichtungen übernehmen. Die ELCT54 hat beispielsweise viele Erste-Hilfe-Stationen, Krankenhäuser, Kinderheime und weitere diakonische Einrichtungen sowie Blinden- und Gehörlosen Schulen.55 Hinsichtlich der religiösen Motivation im Umgang mit Menschen mit Behinderung ist ein Phänomen hervorstechend. Für manche religiösen Gruppierungen gelten Albinos als Glücksbringer, die magische Kräfte verbreiten. Dies kann so weit führen, dass Albinos (von ihren Eltern oder nach Entführung) verkauft und von sogenannten „Zauberdoktoren“ getötet und in einzelne Körperteile zerstückelt werden. Einzelne Körperteile der Albinos werden als Amulett am Körper getragen, um unter anderem den Fischfang zu fördern oder zu Ruhm und Reichtum zu verhelfen. Mittlerweile haben sich Banden organisiert, die durch den Verkauf von Körperteilen bis zu 60 000 US Dollar einnehmen. Seit 2007 wurden mindestens 53 Albinos getötet.56 9. Informelle Versorgungsformen Die klassische Familienform in Tansania ist die Großfamilie. Sie umfasst neben den Eltern und Kindern, Onkel und Tanten auch enge Freundschaften. Die Familienstrukturen variieren bei längerer Abwesenheit des Vaters oder der Mutter aufgrund von Arbeitssuche. Onkel und Tanten sind für die Kinder wie Mutter und Vater. In Tansania ist jeder Mensch Teil dieses Systems. Hat ein Mitglied dieses Systems ein Problem, so hat dies die ganze Gemeinschaft. Die Großfamilie ist zugleich zuständig für die Erziehung und Bildung der Kinder. Jede(r) Erwachsene ist somit Vorbild. Ein Mensch mit Behinderung in einer Großfamilie wird als gleichberechtigtes Mitglied anerkannt

49

Vgl. Ministry of labour, youth, development and sports (Hrsg.), S.iii.5. [Stand: 15.09.2010] Vgl. Müller-Mbwilo, Angela (2008), S.47 51 Vgl. Müller-Mbwilo, Angela (2008) S.78 52 Vgl. Allianz-Mission e. V. (Hrsg.) [Stand: 15.09.2010] 53 Vgl. Frieder, Ludwig (1995), S.7 54 Anm.: ELCT ist die Evangelical Lutheran Church in Tanzania, viele Schulen sind in ihrer Trägerschaft, siehe auch ELCT [Stand: 28.07.2010] 55 Vgl. Kees, Reinhard [Stand: 28.07.2010] 56 Vgl. Hennefarth, Florian [Stand: 16.09.2010] 50

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Tansania und vom Grundsatz weder bevorzugt noch benachteiligt. Menschen, die eine Behinderung haben, werden von ihrer Familie nicht über das Stigma ‚Behinderung‘ wahrgenommen. Personen erhalten soziale Anerkennung über ihre Fertigkeiten, die sie befähigen, in der Gemeinschaft zu handeln.57 Immense Probleme in der Versorgung von Kindern und alten Menschen werden heutzutage durch die hohe Aidssterblichkeit erzeugt. Es gibt immer mehr Familien, in denen sich die Großeltern um ihre Enkel kümmern oder umgekehrt, da die mittlere Generation an Aids verstorben ist. In Städten funktioniert das System der traditionellen Großfamilien immer weniger, weil häufig nur ein kleiner Teil der Familie in der Stadt wohnt. Die anderen Familienmitglieder leben hingegen fernab auf dem Land. Durch unzureichende Kommunikations- und Transportmöglichkeiten wird eine Kommunikation erschwert.58 10. Bildungsbereich Laut der Verfassung haben alle Menschen das Recht auf Erziehung und Bildung. Die Bedingungen der Beschulung sind abhängig von der Trägerschaft und dem Ort der Schulen (privat oder staatlich, Stadt oder Land). Eine reguläre Schulklasse besteht, je nach Region, aus 50-100 Schülerinnen und Schülern. Das Bildungssystem ist geprägt durch die Briten und ähnelt dem angelsächsischen Schulsystem aus Vorschule, Primarstufe und Sekundarstufe. 59 Die institutionelle Bildung von Menschen mit Behinderung fand ab Mitte des 20. Jahrhunderts statt. Anfangs war es so, dass Kinder mit einer Behinderung in eine wohnortnahe Grundschule eingeschult wurden, ohne sonderpädagogische Förderung. Viele Kinder verließen diese Schule wieder, da sie den Anforderungen nicht gewachsen waren. Heutzutage werden sonderpädagogische Angebote hauptsächlich im Primarbereich durchgeführt. Diese Angebote sind sowohl integrativer, als auch segregierender Art. Die Beschulung von Kindern mit einer Behinderung ist eher eine Ausnahme.60 Derzeit existieren drei Arten von integrativen

57

Maßnahmen. 1. Es gibt nach wie vor die sogenannte „Vollintegration“, bei der Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung die Grundschule in ihrer Nähe besuchen und dort keine spezielle Förderung durch sonderpädagogische Fachkräfte erfahren. 2. Es gibt an manchen Grundschulen sogenannte ‚special units‘ (Sonderschulklassen), in denen Schülerinnen und Schüler mit einer bestimmten Behinderungsform (zum Beispiel Seh-, Hör-, Sprachbehinderung) von sonderpädagogischen Fachkräften unterrichtet werden. In gemeinsamen Pausen können alle Kinder (mit und ohne Behinderung) zusammen spielen. Schwierig ist oftmals die Erreichbarkeit dieser Klassen, da diese nicht immer in der Nähe des jeweiligen Wohnorts des Kindes angesiedelt sind. Die Kinder müssen zum Teil lange Fußwege zurücklegen, um in die Schule zu gelangen. 3. Manche Kinder gehen auf eine wohnortnahe Grundschule und werden zusätzlich und kontinuierlich von „fahrenden“ sonderpädagogischen Fachkräften beschult, welche ihnen bedarfsorientiertes Unterrichtsmaterial (zum Beispiel in Brailleschrift) zur Verfügung stellen. Die fahrenden Fachkräfte beraten die Lehrerinnen und Lehrer der Grundschulen bezüglich unterstützender Maßnahmen und bei Bedarf werden Gespräche mit den Eltern geführt. Neben den integrativen Maßnahmen lassen sich auch segregierende finden. Hierzu zählen insbesondere die Internatssonderschulen.61 11. Perspektiven Die Chance der Berücksichtigung der Belange von Menschen mit Behinderung wird stark von den internationalen Richtlinien beeinflusst, denen sich Tansania verpflichtet hat. Angestoßen durch die Ratifizierung der UN-BRK setzt die Regierung ihren Fokus verstärkt auf die Belange von Men-

Vgl. Michel-Biegel, 2002, S. 7f., Kisanji, 1995a, 5f. In: Müller-Mbwilo, S.42 Vgl. Müller-Mbwilo, Angela (2008), S.46 59 Vgl. The Law Reform Commission of Tanzania (Hrsg.) [Stand: 18.07.2010] 60 Vgl. Tanzania Network (Hrsg.) (2010), S.8f. 61 Vgl. Müller-Mbwilo, Angela (2008), S.75ff 58

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Tansania schen mit Behinderung, um das Hauptziel, die Reduktion von Armut, zu erreichen. 2010 sollen nationale Richtlinien erlassen und verabschiedet werden, die sich den Artikeln der UN-BRK anpassen.62 Zur Umsetzung der inklusiven Bildung, die bereits 2005 in dem „National Strategy of Growth and Reduction of Poverty“ als Ziel formuliert wurde, sollen Lehrerinnen und Lehrer eine sonderpädagogische Weiterbildung erhalten. Zudem soll ein besseres System für Schulbusse aufgebaut werden, damit der Schulweg der Kinder mit einer Behinderung nicht mehr als ein Hindernis gilt. Dies soll auch auf den Sekundarschulbereich ausgeweitet werden.63 Menschen mit Behinderung sollen künftig aktiv in die Gestaltung und die Diskussionen mit einbezogen werden, da sie bisher nur peripher daran beteiligt waren. Im Parlament werden erste Schritte ersichtlich. Aktuell sind drei Abgeordnetenplätze mit sogenannten ‚special seats‘ für Menschen mit Behinderung vorbehalten. Des Weiteren wurden Aufklärungen über die Rechte von Menschen mit Behinderung via Massenmedien transportiert.64 Wirtschaftswissenschaftler des afrikanischen Kontinents weisen darauf hin, dass Behörden auf lokaler und regionaler Ebene noch enger mit NGO’s und Privatunternehmen zusammenarbeiten müssen, um die Lage von Menschen mit und ohne Behinderung künftig zu verbessern.65 Hinsichtlich der Umsetzung der Millenniumziele der UN66 weisen kritische Beobachterinnen und Beobachter darauf hin, dass die Ziele für Entwicklungsländer wie Tansania absichtlich zu hoch gesteckt wurden, mit der Erwartung diese nicht zu erreichen, damit das Land weiterhin in den Genuss von Entwicklungshilfen gelangen kann. Hierdurch blieben Entwicklungsländer wie Tansania weiterhin in

Abhängigkeit von externen Geldgeberinnen und Geldgebern.67

62

Vgl. Tanzania Network (Hrsg.) (2010), S.8f. Vgl. Müller-Mbwilo, Angela (2008), S.78f. 64 Vgl. Tanzania Network (Hrsg.) (2010), S.8f. 65 Vgl.Müller-Mbwilo, Angela (2008), S.51 66 Anm.: Die Vereinten Nationen haben im Jahr 2000 acht Millenniums-Entwicklungsziele für Entwicklungsländer aufgestellt, die es bis zum Jahr 2015 zu erreichen gilt. Die Ziele wurden im Jahr 2001 initiiert von einer Arbeitssgruppe der UN, der Weltbank und OECD. In ersten Bilanzen zeichnet sich ab, dass diese nicht bis zum besagten Zeitpunkt erreicht werden können. Beispielhafte Projekte, wie die Millenniumsdörfer (u.a. in Mbola/ Tansania), werden von privaten Investoren und NGO’s organisiert. Diese setzen sich zum Ziel, die ausgesuchten Dörfer nachhaltig zu fördern, um aufzuzeigen, dass die Millenniumsziele bis 2015 zu erreichen wären, wenn man diese Projekte auf alle Gebiete übertragen würde. Vgl. UN Millennium Development Goals [Stand: 22.09.2010]; Welthungerhilfe (Hrsg.) [Stand: 22.09.2010] 67 Vgl. ZDF (Hrsg.) [Stand: 05.08.2010] 63

85

Tansania

FALLBEISPIEL BANUELIA Frühe Kindheit68 Banuelia kommt durch eine Hausgeburt in einem Dorf 80km entfernt von Dar-es-Salaam, in einer Lehmhütte69 zur Welt, da die Eltern keine Möglichkeit haben, ins nächstgelegene Krankenhaus zu gelangen. In ihrer frühen Kindheit bekommt Banuelia, als 2-jähriges Mädchen, plötzlich hohes Fieber und wird dadurch schwerst gehbeeinträchtigt. Als ihre Eltern sie in das 80km entfernte Krankenhaus bringen, da es keine Ärzte im Dorf gibt, sind ihre Beine bereits deformiert. Die behandelnde Ärztin teilt den Eltern mit, dass ihre Tochter Banuelia an Polio70 erkrankt sei.71 Banuelias Beine werden für ein halbes Jahr in Gips gelegt. Als sie schließlich das Krankenhaus wieder verlassen kann, bringen sie ihre Eltern zu ihrer Großmutter. Banuelias Eltern fragen sich, was sie falsch gemacht haben, weil eines ihrer Kinder behindert ist. Sie können mit diesen Schuldgefühlen und der Scham gegenüber ihrem Dorf nicht umgehen. Die Eltern glauben, dass es sich um ein höheres Zeichen handelt, um eine Strafe für eigenes Fehlverhalten oder das der Vorfahren.

lernt Banuelia mit Krücken zu laufen. Sie würde gerne in die drei Kilometer entfernte PrimarySchool eingeschult werden. Ihre Eltern sprechen sich vehement dagegen aus, da sie die Behinderung ihrer Tochter möglichst geheim halten wollen.72 Sie denken, dass Banuelia oder der ganzen Familie etwas zustoßen könnte. Sie denken nicht an die Zukunft Banuelias, wenn sie ohne Schulbildung aufwächst. Ihr ist es erlaubt, den Gottesdienst zu besuchen. Sie erlebt auf dem Weg zur Kirche oft die Verspottung anderer Kinder. Als sie eines Tages wieder zur Kirche geht, bemerkt Banuelia, dass sie antriebslos und sehr erschöpft ist, sie bricht schließlich auf dem Weg zusammen. Die Großmutter versucht, Hilfe zu holen, doch sie findet lediglich jemanden, der sie und Banuelia ins Krankenhaus bringen kann. Ihr wird im Krankenhaus mitgeteilt, dass sie an Hypothyreose73 erkrankt sei, die durch Jodmangel auf Grund von Unterversorgung ausgelöst wurde. Der Arzt diagnostiziert zudem eine Entwicklungsverzögerung, ebenfalls ausgelöst durch den Jodmangel. Sie ist nun zu ihrer körperlichen Beeinträchtigung auch noch intellektuell leicht beeinträchtigt und hat Schwierigkeiten mit der Aussprache.

Kindheit Banuelias Großmutter macht, soweit es irgendwie geht, krankengymnastische Übungen mit Banuelia, um ihren Bewegungsapparat zu fördern. Als das Mädchen zehn Jahre alt ist, wird sie erneut ins Krankenhaus gebracht. Nach einer Operation

Schule Als Banuelia 12 Jahre alt ist, kommt eine Sozialarbeiterin eines Behindertenprojektes aus Dares-Salaam, in ihr Dorf. Bei einer Dorfversammlung klärt sie über die Rechte von Menschen mit Behinderung auf. Banuelia möchte gerne auf eine

68

Anm.: Bei der Konstruktion des Fallbeispiels wurde bewusst eine andere Erkrankung als Hirnhautentzündung gewählt. Ein Kind, das an ihr erkrankt wäre, würde diese aufgrund der mangelhaften medizinischen Versorgung in Tansania wahrscheinlich nicht überleben. 69 Anm.: Das Bewohnen einer Lehmhütte sagt etwas über die finanzielle Lage der Familie aus. Wohnt man also in einer Lehmhütte, bedeutet das, dass die Familie über kein oder nur über ein geringes Einkommen verfügt. Wenn man in einer Zementhütte wohnt, bedeutet das, dass die Familie besser gestellt ist durch höheres Einkommen. Wohnt man in einer Lehmhütte, bedeutet das zusätzlich, dass man über keinen Strom- und Wasseranschluss verfügt. Der Besitz von Tieren oder auch von eigenem Land kann sich positiv auf die Einkommenssituation auswirken. 70 Vgl. WHO (Hrsg.), Polio [Stand: 05.08.2010] 71 Anm.: Wäre Banuelia in Europa geboren worden, hätte ihre Mutter sie als Kleinkind zu einem Arzt gebracht. Der Arzt hätte ihr eine Flüssigkeit auf einen Zuckerwürfel geträufelt und ihn Banuelia in den Mund gesteckt. Sie hätte keine Polio bekommen. 72 Anm.: Frauen und Mädchen mit Behinderungen sind innerhalb und außerhalb des Hauses von Gewalt, Verletzung oder Missbrauch, Verwahrlosung oder Vernachlässigung, Misshandlung oder Ausbeutung bedroht. Sie werden doppelt diskriminiert aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Behinderung. Vgl. Inclusive Tanzania (Hrsg.) [Stand: 14.09.2010] 73 Vgl. Wehner, Jürgen [Stand: 14.09.2010] 86

Tansania Schule gehen. Die Sozialarbeiterin nimmt auf Wunsch Banuelias Kontakt zu den örtlichen Schulen auf und vermittelt. Diese raten ihr jedoch, aufgrund des erhöhten Alters der Großmutter und der Beeinträchtigungen Banuelias, ab, da es keinen Transport zur drei Kilometer entfernten Schule gibt und die Großmutter dies nicht mehr, wegen ihres gesundheitlichen Zustands, alleine stemmen kann. Banuelia möchte unbedingt in eine Schule. Ob sie in das weit entfernte Heim in Dar-es-Salaam will? Sie ist unsicher. Die Großmutter spricht sich dagegen aus, weil sie denkt, sie könne die Kosten für die Unterbringung im Internat nicht tragen. Die Sozialarbeiterin will die Eltern mit ins Boot holen und rät ihnen und der Großmutter eine Unterbringung im Internat. Kurz darauf bekommt Banuelia einen Platz im Internat in Dar-es-Salaam, jedoch können die Eltern sowie die Großmutter die Kosten dafür nicht aufbringen. Ihre Lehrerin sucht deshalb den Kontakt zur Diakonie.

Frühes Erwachsenenalter Leider sind ihre Zeugnisnoten nicht gut. Banuelia weiß nicht, wie es weitergehen soll. Sie geht im Alter von 20 Jahren zurück in ihr Heimatdorf. Mehrmals spricht Banuelia mit einer Mitarbeiterin des Internats über ihre Zukunft. Das Behindertenzentrum vermittelt sie an eine Schneidermeisterin. Die Kosten für die Ausbildung und die Nähmaschine übernimmt erneut die Diakonie. Mit Erfolg schließt Banuelia die Ausbildung drei Jahre später ab und findet einen Job in einer kleinen Näherei.

Paar ist glücklich, beide gehen ihrer Arbeit nach und Banuelia wird schwanger. Ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sie das Leben nun zu Dritt meistern können, beschließt das Paar, das Kind zu bekommen und Banuelia gebärt ein kleines Mädchen mit Namen Mwasiti. Banuelia kann nun nicht mehr arbeiten gehen und ist zunehmend auf die Hilfe ihres Mannes angewiesen. Kabila ist für die Beschaffung der Lebenshaltungskosten weitestgehend alleine verantwortlich. Als Banuelia 33 Jahre alt ist, wird die Situation zunehmend schwieriger für die beiden, da Banuelia die Aufgaben im Haushalt nicht mehr alleine bewältigen kann. Sie bitten die Großeltern um Unterstützung, doch leider sagen beide Elternpaare ab. Eine Haushaltshilfe können sie sich nicht leisten. Banuelia beschließt, sich mit ihrem Kind auf die Straße zu setzen und um Almosen zu bitten. Das junge Paar ist zunehmend belastet. Fast täglich kommt es zu Streitigkeiten. Banuelia weiß nicht, wie sie den nächsten Tag überstehen soll. Kabila wird alles zu viel und er beschließt, sich von Banuelia und seiner Tochter zu trennen. Banuelia steht nun alleine mit ihrer Tochter da. Sie sieht keinen anderen Ausweg mehr, als sich zu prostituieren. Sie wird ein weiteres Mal schwanger. In dieser Zeit kann sie keiner Arbeit nachgehen. Banuelia weiß nicht, wie sie die nächsten Wochen und Monate überleben soll. Erneut bittet sie ihre Eltern um Unterstützung, die Großmutter ist bereits verstorben. Die Eltern können ihr nicht helfen. Banuelia erfährt Hilfe von ihren Nachbarinnen und Nachbarn, die sie täglich mit Essen versorgen und ihr auch ab und an das Kind abnehmen. Als Banuelia das zweite Kind gebärt, geht sie wieder der Prostitution nach. Sie infiziert sie sich mit dem HI-Virus74. Dies wird bei einer Untersuchung festgestellt, als sie von einer Mitarbeiterin des gemeindenahen Rehabilitationsprogrammes (CCBRT)75 aufgesucht und untersucht wird.

Erwachsenenalter Als 24-jährige verliebt sich Banuelia in ihren Arbeitskollegen Kabila. Die Beziehung zu ihm wird von Tag zu Tag gefestigter und so beschließt das junge Paar nach drei Jahren, zu heiraten. Das

Seniorinnenalter Als Banuelia älter wird, nimmt ihr Bedarf an Hilfeleistungen immer mehr zu. Aids ist mittlerweile ausgebrochen und sie ist sehr geschwächt, einerseits durch das Virus und andererseits durch

Jugend Sieben Jahre lang trägt die Diakonie die Kosten für die Internatsunterbringung. Der Anfang ist schwer, nur während der großen Ferien darf Banuelia nach Hause. Sie schließt neue Freundschaften, was zu Beginn nicht einfach war.

74

Anm.: 2007 trugen etwa 1,6 Millionen Menschen das Virus in sich. Vgl. Index Mundi (Hrsg.), HIV/ AIDS [Stand: 03.12.2010] 75 CCBRT=Comprehensive Community Based Rehabilitation for Tanzania 87

Tansania ihre körperliche Behinderung. Sie ist nun rund um die Uhr auf die Hilfe anderer angewiesen. Eine Mitarbeiterin des „Village Health Service“76 sucht sie auf. Gemeinsam überlegen sie, was für Banuelia das Beste wäre. Eine ihrer beiden Töchter ist mittlerweile aus dem Haus. In regelmäßigen Abständen besucht sie ihre Mutter und hilft ihr,

wo sie nur kann. Die andere Tochter lebt noch bei Banuelia, um sich um ihre Mutter zu kümmern. Das gibt Banuelia Kraft und sie weiß, dass sie nicht ganz alleine ist. Banuelia verstirbt im Alter von 44 Jahren an den Folgen von Aids und der unzureichenden medizinischen Versorgung.77

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76

Grundlegender Baustein des Gesundheitswesens ist der „Village Health Service“. In jedem Dorf gibt es zwei ‚‘Health Worker‘, die nach einem kurzen Training präventiv arbeiten. Oftmals gehen sie von Haus zu Haus, um Familien individuell zu beraten. 77 Vgl. Index Mundi [Stand: 14.09.2010] 88

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89

SYNOPTISCHE DARSTELLUNG

FÜR

NIEDERLANDE1

Gesamtbevölkerung

16,6 Millionen

Menschen mit Behinderung (1)

2004: ca. 1,1 Millionen (beeinträchtigende Behinderungen) 2006: ca. 2,5 - 3 Millionen (einschließlich leichter Behinderungen)

In der Verfassung verankert (2)

Artikel 1: Diskriminierungsverbot. Behinderung wird nicht explizit erwähnt, ist aber mit eingeschlossen.

Leitbild von Inklusion (3)

Ziel der Inklusionspolitik ist die gleichwertige Teilhabe am Gesellschaftlichen Leben in allen Bereichen (Arbeit, Freizeit). Großen Stellenwert hat der Gedanke von Autonomie und Selbstbestimmung.

Explizite Rechte und Realität (4)

Recht auf Gleichbehandlung, Recht auf Arbeit, Unterstützung bei Erwerbsminderung, teils speziell auf Menschen mit Behinderung zugeschnitten

Staatliche Sozialleistungen (5)

Garantie von Sozialstaatlichkeit und Grundsicherung über die Verfassung. Recht auf Grundsicherung. Finanzielle Förderung für Pflege behinderter Kinder im Haushalt und nötige Hilfsmittel. Pflege und Betreuung über ein eigenes Versicherungssystem organisiert. Personengebundenes Budget möglich.

Träger Sozialer Arbeit (6)

Träger sind vor allem freie und private Organisationen. Der Staat setzt den Rahmen für die Behindertenpolitik und deren Finanzie-rung.

Finanzierungsformen (7)

Sozialversicherungen (Erwerbsunfähigkeitsrente, Krankenversicherung) und staatliche Mittel (Grundsicherung)

Religion (8)

Katholisch (29%), Evangelisch (19%), Muslime (5%), Andere (4%), keine Kirchenzugehörigkeit (42%)

Rolle der Kirche (8)

Kirchen führen Projekte für Behinderte durch. Beratungseinrichtungen sind teils kirchlich organisiert.

Rolle informeller Versorgungsformen (9)

Bedeutung der Familie in der Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung groß. Angehörigen- und Betroffenenorganisationen sind wichtige Stütze des Versorgungsnetzwerks

Bildungsbereich (10)

Inklusive Kindertagesstätten. Schulpflicht für alle Kinder, Wahlfreiheit für Inklusion in Regelschulen oder Spezialschulbesuch. Finanzielle Unterstützung für Hilfsmittel/-personal zur Inklusion.

Zukunftsperspektiven (11) Inklusion hat hohen Stellenwert in der Gesellschaft. Behinderung ist dennoch Armutsrisiko. In den nächsten Jahren droht Sozialabbau. Ratifizierung der UNBehindertenrechtskonvention

Unterschrift zum Text am 30.03.2007 Formale Ratifizierung steht noch aus.

Monitoring-Stelle

1) Kommission für Gleichbehandlung (Commissie Gelijke Behande-ling - CGB) – Diskriminierung/Inklusion allgemein 2) Rat für Menschen mit chronischer Krankheit/ Behinderung (Chronisch zieken en Gehandicapten Raad – CG-Raad)

1

90

Anm.: Die in Klammern gesetzten Zahlen geben die Kapitelnummer in jeweiliger Länderstudie an.

Geschlecht und Behinderung

Männer mit Behinderung sind in höherem Maß erwerbstätig, als Frauen (Zahlen aus 1999: 74% zu 47%). Im Kindesalter mehr be-hinderte Jungen als Mädchen, im Senior/innenenalter umgekehrt

Besondere Stärken

Hoher Stellenwert von Autonomie und Selbstbestimmung in der Gesellschaft. Gut ausgebautes Versorgungssystem. Personengebundenes Budget als Instrument für Inklusion hat Vorbildfunktion für andere Länder.

LÄNDERSTUDIE NIEDERLANDE 1. Menschen mit Behinderungen in den Niederlanden (Statistik) In den Niederlanden lebten Ende September 2010 nach Information des Zentralbüros für Statistik 16.636.637 Menschen1. Aktuelle Zahlen zur Anzahl von Menschen mit Behinderung liegen dort nicht vor. Der Rat für Menschen mit chronischer Krankheit oder Behinderung (Chronisch zieken en Gehandicapten Raad Nederland - CGRaad2) hat Informationen aus verschiedenen Erhebungen des Sociaal en Cultureel Planbureau (SCP) der Regierung zusammengetragen und liefert 2010 folgende Zahlen für Personen mit3 Geistiger Behinderung: 112.000 Personen (~0,7%, Stand 2001); Davon mit: mittlerer bis schwerer geistiger Behinderung: 57.000 Personen (~0,36%, Stand 2001) Körperlicher Behinderung: 1,7 Millionen Personen (~10%, Stand 01.01.2006); Davon mit: - Schwerer körperlicher Behinderung: 560.000 Personen (~3,4%, Stand 01.01.2006)

1 2

3 4 5 6

Tobias Zinser - Visueller Behinderung: 432.000 Personen (~2,6%, Stand 01.01.2006) - Hörbehinderung: 359.000 Personen (~2,2%, Stand 01.01.2006) Mehrfachbehinderungen sind in dieser Aufstellung nicht berücksichtigt. Die Prozentzahlen beziehen sich auf die Gesamtbevölkerungszahl des jeweiligen Vorjahres4. Werden leichte Behinderungen und chronische Krankheiten berücksichtigt, liegt die Gesamtzahl der Betroffenen zwischen 2,5 und 3 Millionen (~15% der Bevölkerung)5. Unter Kindern und Jugendliche liegt der Anteil bei ca. 3,5%6. 2. Werden in der Verfassung Aussagen zum sozialen Bereich getroffen? Die niederländische Verfassung hat ihren Ursprung im Jahr 1815, als die konstitutionelle Monarchie als Staatsform festgelegt wurde. 1848 wurde als Modell eine parlamentarische Monarchie festgelegt. Der Originaltext der Verfassung wurde im Jahr 1983 in weiten Teilen überarbeitet

Vgl. Centraal Bureau voon de Statistiek 2009b Der CG-Raad ist eine NGO, in der sich verschiedene Organisationen der Behindertenhilfe organisieren, um politische und gesellschaftliche Veränderungen einzufordern: http://www.cg-raad.nl/index.php Vgl. CG-Raad 2010 Vgl. Centraal Bureau voon de Statistiek 2009b Vgl. Ministerie van Volksgezondheit, Welzjin en Sport 2004b Vgl. CG-Raad 2010:23 91

Niederlande und neu formuliert7. Der Verfassung wurde ein Grundrechtekatalog vorangestellt. Artikel 1 des sogenannten „Grundgesetzes“ verbietet jegliche Form von Diskriminierung. Behinderung wird nicht als Begriff aufgeführt, das entsprechende Diskriminierungsverbot fällt aber unter die Bezeichnung „aus anderen Gründen“. Auch wurden 1983 erstmals soziale Grundrechte in den Gesetzestext aufgenommen8, beispielsweise Artikel 20, in dem das Recht auf Sozialhilfe für Niederländer festgeschrieben wurde, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können. Wohlstand soll angemessen verteilt, Arbeitsplätze gesichert werden. Die Pflicht zur Ausarbeitung von Sozialgesetzen wird festgeschrieben (Sozialstaatlichkeit). In Artikel 22 wird die Regierung verpflichtet, eine öffentliche Gesundheitsfürsorge zu garantieren. Die genannten Verfassungsartikel haben jedoch nur auffordernden Charakter und sind keine einklagbaren Grundrechte. Es gibt zudem in den Niederlanden keine Verfassungsgerichtsbarkeit, die vorliegende Gesetze auf die Vereinbarkeit mit der Verfassung hin überprüft und über verbindliche Interpretationen das Verfassungsrecht weiter entwickelt.9 3. Welches Leitbild von Inklusion besteht? Die Niederlande haben den Text der UN-Behindertenrechtskonvention am 30.03.2007 unterzeichnet. Die formale Ratifizierung steht jedoch noch aus10. Die niederländische Politik orientiert sich jedoch bereits seit langem am Grundgedanken der Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderung. Ziel vieler Gesetze ist es, qualitativ hochwertige Unterstützung für Menschen mit Behinderung anzubieten, die es ihnen möglich machen soll, vollwertiges Mitglied in der Gesellschaft zu sein11. Das Gesundheitsministerium sprach sich 200412, basierend auf der Verfassung und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, klar für das Recht auf Gleichbehandlung

7

für alle Menschen in den Niederlanden aus. Dies umfasse die freie Wahl von Wohnort und Arbeitsstelle, sowie die Freizeitgestaltung. Selbstbestimmung und Unabhängigkeit für Menschen mit Behinderung zu ermöglichen, wird als gesamtgesellschaftliche Aufgabe beschrieben. Dies umfasse vor allem die Abschaffung von physischen, sozialen und Informationsbarrieren. Der Regierung komme eine Vorbildfunktion zu, wenngleich die Durchführung einer „Inklusionspolitik“ die Motivation aller Beteiligten erfordert13. Gleichbehandlung alleine sei noch keine Inklusionspolitik, wenn Menschen mit Behinderung nicht am öffentlichen Leben teilnehmen könnten. Entsprechend wurden Gesetze erlassen, die eine Teilnahme am normalen Arbeitsleben, in der Schulausbildung und am sozialen Leben ermöglichen sollen. Neuere Ansätze zur Finanzierung von Pflege- und Betreuungsmaßnahmen wie das personengebundene Budget (PGB, vgl. Punkt 5) zielen auf größtmögliche Selbstbestimmung, aber auch Eigenverantwortung bei der Verwendung staatlicher Sozialleistungen ab. Diese Haltung ist auch in Einrichtungen bestimmend, die mit Menschen mit Behinderung arbeiten14. Das Ziel einer weitestgehenden „Normalisierung“ der Lebensverhältnisse, Gleichberechtigung und die Garantie der Teilhabe an allen gesellschaftlichen Aktivitäten wird als sehr wichtig betrachtet. 4. Welche expliziten Rechte haben hilfebedürftige Menschen? Recht auf Gleichbehandlung Seit 01.12.2003 gilt in den Niederlanden das „Recht auf Gleichbehandlung von chronisch erkrankten und behinderten Menschen“ (Wet Gelijke Behandeling op grond van handicap of chronische ziekte, WGBH/CZ), das jegliche Diskriminierung der betreffenden Personen in allen Lebensbereichen untersagt15.

Vgl. Kortmann 2001 Vgl. Ministerium für Inneres und Königreichsbeziehungen 2002 9 Vgl. Lepzsy 1999 10 Vgl. UN Enable 2010 11 Vgl. SCP 2002 12 Vgl. Ministerie van Volksgezondheit, Welzjin en Sport 2004a 13 Vgl. Ministerie van Volksgezondheit, Welzjin en Sport 2004b 14 Vgl. Appel und Schaars 2006 15 Vgl. CGB 2010 8

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Niederlande Recht auf Arbeit In Artikel 19 des niederländischen Grundgesetzes wird der Staat verpflichtet, allen Niederländern das Recht auf einen angemessenen Arbeitsplatz zu garantieren. Dies schließt auch Menschen mit Behinderung ein. Gefördert werden soll die berufliche Integration von Menschen mit Behinderung über das „Reintegrationsgesetz“16 in neuester Fassung vom 29.12.2005 (Wet op de (re)integratie arbeidsgehandicapten, REA). Arbeitgeber, die einen behinderten Arbeitnehmer beschäftigen oder ihm einen geeigneten Arbeitsplatz zuweisen, können daraus entstehende Mehrkosten erstattet bekommen17. Auch die Finanzierung von Hilfsmitteln zum Erhalt bzw. zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der betreffenden Person können gewährt werden. Für Menschen mit Behinderung wird durch das „Gesetz über geschützte Beschäftigung“ (seit 01.01.1998 in Kraft) (Wet Sociale Werkvoorziening - WSW)18 garantiert, dass die Kommunen Arbeitsplätze für Menschen zur Verfügung stellen, die keiner gewöhnlichen Arbeit nachgehen können. Die Kommunen erhalten für die Einrichtung dieser „beschützenden Arbeitsplätze“ Zuschüsse ausbezahlt. Im Jahr 2008 bestanden 89.817 dieser Arbeitsplätze19. 20, 21

Invalidität und Erwerbsminderung Seit dem 01.01.2006 ist das reformierte „Gesetz über Arbeit und Einkommen entsprechend der Arbeitsfähigkeit“ (Wet Werk en Inkomen naar Arbeidsvermogen, WIA) in Kraft22. Leistungen nach diesem Gesetz erhält, wer zu mindestens 35% erwerbsgemindert ist. Bei geringerer Erwerbsminderung liegt der Fokus der „Regelungen zur Wie-

deraufnahme von Arbeit von Personen mit teilweiser Minderung der Erwerbsfähigkeit“ (Regeling Werkhervatting Gedeeltelijk Arbeidsgehandicapten, WGA) auf beruflicher Rehabilitation, die über finanzielle Anreize für Arbeitgeber und -nehmer gefördert werden soll. Dauer und Höhe des Leistungsbezugs richten sich nach Grad der Erwerbsminderung und Alter der betreffenden Person23. Im Gesetz zur Hilfe für arbeitsunfähige junge Behinderte (Wet arbeidsongeschiktheidsvoorziening jonggehandicapten, Wajong) ist eine Mindestleistung für behinderte junge Menschen vorgesehen. Diese kann ab dem 17. Lebensjahr bei einer dauerhaften Erwerbsminderung von mindestens 25% beantragt werden und endet erst mit dem vollendeten 65. Lebensjahr. Auch Schüler/innen und Studierende haben bei späterem Eintritt einer entsprechenden Erwerbsminderung bis zum 30. Lebensjahr Anspruch auf Leistungen nach dem Wajong. Bei vollständiger und dauerhafter Erwerbsunfähigkeit gelten die „Regelungen zur Einkommenssicherung für vollständig erwerbsunfähige Menschen“ (Regeling Inkomensvoorziening Volledig Arbeidsonge schikten, IVA). Diese garantieren ein Mindesteinkommen. Für alle drei Gesetze gilt, dass gegen die Erwerbsminderungseinstufung beim zuständigen Träger (Durchführungsinstitut für Arbeitnehmersozialversicherungen - Uitvoeringsinstituut Werknemersverzekeringen, UWV) Widerspruch eingelegt und vor dem Bezirksgericht gegen die Entscheidung geklagt werden kann24. Im Jahr 2009 erhielten ca. 795.000 Niederländer/innen Leistungen aufgrund von Erwerbsminderung25.

16

Vgl. MISSOC 2007 Vgl. EASPD 2007 18 Vgl. European Employment Observatory 2010 19 Vgl. CG-Raad 2010:47 20 Vgl. MISSOC 2007 21 Vgl. Ministerie van Social Zaken en Werkgelegenheid 2010 22 Zuvor galt das „Invaliditätssicherungsgesetz“ (Wet op de arbeidsongeschiktheidsverzekering, WAO), nach dem auch heute noch übergangsweise Leistungen weiter ausbezahlt werden.. 23 Vgl. Europäische Kommission 2010 24 Eine Auflistung der aktuellen Zahlen über anerkannte Erwerbsminderungen findet sich unter: http://www.uwv.nl/Images/Kwantitatieve%20informatie%20eerste%20acht%20maanden%202010%201.0_tcm26 -256241.pdf 25 Vgl. CG-Raad 2010:48 17

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Niederlande 5. Welche staatlichen Sozialleistungen gibt es? Der niederländische Staat garantiert finanzielle Unterstützung für jede Person ab 18 Jahren, die nicht in der Lage ist, die erforderlichen Lebenshaltungskosten für sich und ihre/seine Familie aufzubringen26 (Gesetz über Arbeit und Sozialhilfe – Wet Werk en Bijstand, WWB). Sie wird als letzte Möglichkeit gewährt, wenn kein Anrecht auf andere Leistungen besteht. Die Höhe der Sozialhilfe beträgt 50% des Nettomindestlohns (2006: 588,13 Euro) für Alleinstehende, 70% für Alleinerziehende und 100% für Paare und Familien. Erhält eine Person andere Leistungen, beispielsweise aufgrund von Erwerbsminderung, die den Mindestbedarf nicht decken, erfolgt eine Aufstockung nach dem Gesetz über Ergänzungsleistungen (Toeslagenwet, TW) auf 100% des Mindestlohns für Paare, 90% für Alleinerziehende und 70% für Alleinstehende. Somit ist die Mindestsicherung für Menschen mit Behinderungen garantiert, auch wenn sie andere Leistungen in Anspruch nehmen. In den Niederlanden besteht ein Rechtsanspruch auf monatliches Kindergeld als Unterstützungsleistung für Familien. Für Kinder mit Behinderung gibt es seit dem 01.01.1995 zusätzlich zum Kindergeld eine weitere finanzielle Unterstützung (für Kinder unter 6 Jahren: 62,47 Euro, für Kinder ab 6 Jahren 75,96 Euro – Stand 200727). Personen, die ein behindertes Kind zu Hause pflegen, haben Anspruch auf Leistungen zur Hilfe zu den Kosten für den Unterhalt, die von der Sozialversicherungsbank (SVB) bezahlt werden (tegemoetkoming onderhoudskosten thuiswonende gehandicapte kinderen, TOG). Über das seit 2006 geltende Gesetz zur Sozialen Unterstützung (Wet maatschappelijke ondersteuning - Wmo) können benötigte Hilfsmittel für den Haushalt (z.B. Rollstühle) beantragt werden28. Weitere Sozialleistungen sind die Krankenversi-

26

Vgl. MISSOC 2007 Vgl. MISSOC 2007 28 Vgl. Niederländische Regierung 2010b 29 Vgl. CG-Raad 2010:43 30 Vgl. Rothenburg 2009 27

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cherung und die Absicherung für schwere Pflegefälle („Allgemeines Gesetz über besondere Krankheitskosten“, AWBZ). Diese soll alle Gesundheitsrisiken abdecken, die nicht durch die normale Krankenversicherung abgedeckt sind (z.B. längere Klinikaufenthalte, Leistungen bei Behinderung, psychischer Erkrankung oder chronischer Krankheit). Die Leistungen nach dem AWBZ können entweder als Sachleistungen, die über den Leistungsanbieter abgerechnet werden, oder in Form von Geldleistungen als Personengebundenes Budget (PGB) in Anspruch genommen werden. Eine Kombination von Sach- und Geldleistungen ist möglich. Ende 2009 erhielten knapp 208.000 Personen mit Behinderung Leistungen des AWBZ29. Die Sachleistungen können in Form von häuslicher, teilstationärer oder stationärer Pflege erbracht werden. Auch Pflegeausstattung kann bis zu 26 Wochen bereit gestellt werden. Im stationären Bereich umfassen die Leistungen auch Rehabilitationsmaßnahmen, Physio- und Beschäftigungstherapie. Für stationäre Aufenthalte wird eine einkommensabhängige Kostenbeteiligung eingefordert. Das Personengebundene Budget (PGB): Das PGB existiert in den Niederlanden seit 1995 und wurde seitdem ständig weiterentwickelt. Die Niederlande waren damit nach Schweden das zweite Land, das ein PGB gesetzlich einführte30. Zu Beginn war dieses unbegrenzt, inzwischen wird es über Regelsätze berechnet. Bis 2003 wurden vier Arten des PGB unterschieden: für Pflege und Versorgung (PGB VV), für Menschen mit geistiger Behinderung (PGB VG), für Menschen mit psychischer Erkrankung (PGB GZ), sowie für Menschen mit schwerer körperlicher Behinderung (PGB LG). Seit 2003 gibt es das Recht auf ein PGB für alle Menschen, die einen Unterstützungsbedarf von länger als drei Monaten haben. Ziel ist es, die Wahlfreiheit der betroffenen Personen hinsichtlich der in Anspruch genommenen Leistungen zu garantieren. Menschen mit Behinderung gelten als „Kunden“, die sich über ihr Budget Hilfen einkaufen können. Im Jahr

Niederlande 2010 wurden von der Regierung für das Programm knapp 2 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, was allerdings nicht ausreichte, alle beantragten PGBs zu finanzieren. Es kommt daher zu Wartelisten, auf die sich interessierte Personen eintragen können. Die Sätze sollen zudem im Jahr 2011 um 3% reduziert werden31. Zuletzt verfügten knapp 120.000 Niederländer/innen über ein persönliches Budget32. Wer Leistungen des PGB in Anspruch nehmen möchte, beantragt dieses über sogenannte Zentren für Pflegeindikation (Centrum Indicatiestelling Zorg - CIZ), die vom Kostenträger unabhängig sind33. Der genaue Leistungsbedarf wird von diesen ermittelt. Mögliche Leistungsbereiche sind seit 2003 anstelle der oben genannten Formen des PGB34: - Haushaltshilfen (z.B. Putzen, Waschen) - Persönliche Versorgung (z.B. Aufstehen, Duschen, Anziehen, Essen) - Gesundheitspflege (z.B. Medikamentenumgang, Wundversorgung) - Unterstützende Begleitung (z.B. Förderung und Erhalt von Selbstständigkeit) - Aktivierende Begleitung (z.B. Gespräche, Training sozialer Kompetenzen) - Kurzzeitunterbringung (z.B. am Wochenende) Für jeden Bereich wird der Umfang nötiger Hilfen in Stunden festgelegt. Aus der Anzahl der Stunden multipliziert mit den entsprechenden Stundensätzen ergibt sich die Höhe des individuellen PGB. Es kann daher von wenigen tausend Euro bis hin zu einhundert tausend Euro pro Jahr betragen. Die Entscheidung über Anspruch und Höhe des PGB trifft das Versorgungsamt (Zorgkantoor) anhand des Vorschlags des CIZ. Über das Ergebnis erhält die Person einen rechtsgültigen Bescheid. Die Bewilligung des PGB ist unabhängig von Vermögen und Einkommen der Person und richtet sich allein nach dem Bedarf auf-

grund der Behinderung. Von den Betroffenen wird eine einkommensabhängige Eigenbeteiligung gefordert, die je nach Leistungsbereich variiert: Für Haushaltshilfen beträgt sie 60%, für persönliche Versorgung 33%, für unterstützende Begleitung 27% und für Pflege 20% des berechneten Budgets35. Die Maximalhöhe der Eigenbeteiligung beträgt 15% des Jahreseinkommens abzüglich einer Pauschale von ca. 1850 Euro36. Der Mindesteigenanteil liegt bei ca. 200 Euro, der Maximalbeitrag bei knapp 3000 Euro. Von Minderjährigen wird keine Eigenleistung eingefordert. Der Restbetrag wird, je nach Höhe des Gesamtbudgets, jährlich, halbjährlich, vierteljährlich oder monatlich direkt auf das Konto der Person überwiesen. Es wird somit selbst verwaltet. Das PGB zählt nicht als Einkommen. Steuern und Sozialabgaben müssen davon nicht bezahlt werden. Von ihrem PGB kann die Person Hilfen nach Bedarf einkaufen und somit selbst über die Leistungen bestimmen. Die Leistungen können von Dienstleistern oder privat sozialversicherungspflichtig angestellten Personen erbracht werden (Arbeitgeber/in-Arbeitnehmer/in-Verhältnis). In diesen Fällen werden Leistungserbringer sozialversicherungspflichtig über einen schriftlichen Vertrag angestellt. Das Entgelt kann individuell zwischen PGB-Nehmer und Leistungserbringern ausgehandelt werden. Als Alternative besteht die Möglichkeit der Leistungserbringung durch Familien- oder Haushaltsangehörige. Hier besteht kein Arbeitsverhältnis, aber die Bezahlung ist für den Leistungserbringer sozialversicherungs- und einkommenssteuerpflichtig. Alle beschäftigten Personen sind über die Sozialversicherungsbank (SVB) gegen Ausfälle (z.B. wegen Krankheit) versichert, sodass der PGB-Empfänger in diesem Fall keine doppelten Kosten tragen muss. Acht Wochen nach Ende der Zahlungsperiode muss der PGB-Empfänger einen Nachweis über

31

Vgl. SVB 2010 Vgl. Zorgvisie 2010 33 Vgl. Niederländische Regierung 2010 34 Vgl. Wacker et al. 2009, S.44 35 Vgl. Pro Saldo 2010 36 Vgl. Der Paritätische Wohlfahrtsverband 2005, S.9. 32

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Niederlande die Verwendung der Mittel bei der Pflegeverwaltung einreichen. Über 1,5% des PGB kann frei verfügt werden, es muss kein Nachweis erbracht werden. Werden die übrigen Mittel nicht ausgeschöpft, muss das Geld zurückgezahlt werden. Nur ein Betrag von 10% des jährlichen PGBs kann ins Folgejahr übernommen werden. 6. Wer sind die Träger und Trägerinnen Sozialer Arbeit? Zuständig für Behindertenpolitik ist in den Niederlanden das Ministerium für Gesundheit, Gemeinwohl und Sport (VWS). Es ist zur Kooperation mit anderen Ministerien (z.B. Bildung, Wohnungsbau) aufgefordert, um Richtlinien der Politik für Menschen mit Behinderung auszuarbeiten und umzusetzen37. In vielen Bereichen sind die Kommunen mit der Umsetzung und finanziellen Subventionierung der Inklusionsmaßnahmen vor Ort beauftragt. Die praktische Durchführung erfolgt jedoch in großen Teilen über private und zivilgesellschaftliche Initiativen und Organisationen, was auch gesetzlich festgeschrieben ist38. Insbesondere die pflegerischen Leistungen in der Behindertenhilfe werden durch private Dienstleister erbracht. Diese haben sich in Dachorganisationen wie der Vereniging Gehandicaptenzorg Nederland (VGN) zusammen geschlossen39. Den Betroffenen steht von staatlicher Seite die Organisation MEE (früher: Sozialpädagogische Dienste - SPD) als niedrigschwelliges Angebot zur Verfügung. Diese bietet Beratung bei der Auswahl der Leistungsanbieter und in den Bereichen Bildung, Wohnraum, Arbeit, Einkommen, Transport oder Freizeitaktivitäten40. Auch Betroffenenund Angehörigenorganisationen bieten Beratung an (vgl. Punkt 9). Der Großteil der Menschen mit körperlicher Behinderung lebt selbstständig, während im Bereich geistiger Behinderung der Anteil an betreuten

37

Wohnformen höher ist. Hier beziffert das Sociaal en Cultureel Planbureau für 2001 die Verteilung auf Wohnformen wie folgt41: 40% leben mit ihren Familien, 20% unterstützt in eigenständigen Wohnformen und 40% in stationären Wohneinrichtungen. Im Jahr 2003 wurden in den Niederlanden 56.309 Plätze in stationären und ambulanten Wohnformen für Menschen mit geistiger Behinderung angeboten42. Im Bereich Tagesbetreuung standen 17.486 (geistige Behinderung) bzw. 2.156 (körperliche Behinderung) Plätze zur Verfügung. Rechtsträger kleinerer Wohneinrichtungen sind oftmals Stiftungen, die zum Teil über Angehörigenvereine getragen werden, während größere Einrichtungen vom Staat finanziert werden. Um handlungsfähiger zu sein schließen sich viele Stiftungen regional in Dachverbänden zusammen. Im Bereich Arbeit versucht der Staat, die Inklusion von Menschen mit Behinderung über Refinanzierungsmöglichkeiten in den privaten Sektor zu verlagern. Dies führt zu Modellen wie den sogenannten „Pflege-Bauernhöfen“, auf denen Menschen mit Behinderung befristet arbeiten können43. Die Finanzierung der Integrationsarbeit erfolgt über die AWBZ (vgl. Punkt 7) in Form von Sachleistungen oder über das personengebundene Budget44. 7. Welche Finanzierungsformen kennt das jeweilige System? Die Finanzierung der Sozialleistungen erfolgt in den Niederlanden zum einen über Versicherungssysteme, zum anderen über Steuermittel. Als Versicherungen bestehen in den Niederlanden erstens die allgemeine Volksversicherung (Altersrente, Hinterbliebenenrente, Kindergeld – Zuständig: Sozialversicherungsbank), zweitens die Arbeitnehmerversicherung (Arbeitslosen- und Erwerbsunfähigkeitsversicherung) und drittens

Vgl. Ministerie van Volksgezondheit, Welzjin en Sport 2004b Vgl. Europäische Kommission 2010 39 Vgl. VGN 2010 40 Vgl. Duberatz 2009, Ministerie van Volksgezondheit, Welzjin en Sport 2004a; Internetpräsenz: http://www.mee.nl/ 41 Vgl. SCP 2002 42 Vgl. Ministerie van Volksgezondheit, Welzjin en Sport 2010 43 Vgl. FiBL 2006:7 44 Nähere Informationen auf der Internetpräsenz http://www.landbouwzorg.nl/index.php Informationen sind unter http://www.landbouwzorg.nl/index.php?pagid=164 auch auf Englisch, Deutsch und Französisch verfügbar. 38

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Niederlande die Krankenversicherung, die auch die Finanzierung pflegerischer Hilfen umfasst45. Grundlage für die Finanzierung pflegerischer Hilfen für Menschen mit Behinderung ist das „Allgemeine Gesetz über besondere Krankheitskosten“ (AWBZ) vom 14. Dezember 1967 (vgl. Punkt 5). Es handelt sich um eine soziale Volksversicherung zu der alle Arbeitnehmer/innen entsprechend ihrem Einkommen Beiträge leisten. Im Jahr 2008 wurden über das AWBZ für Sachleistungen und PGBs Leistungen in Höhe von 21,26 Milliarden Euro erbracht46. Andere Sozialleistungen, wie Unterstützungsmittel im Haushalt für Menschen mit Behinderung, Zuschüsse zu beschützenden Werkstätten oder Arbeitsplätzen, Beitragsübernahme für Kindertagesstätten, ergänzende Mindestsicherung (Sozialhilfe) werden aus Steuermitteln finanziert. 8. Welche Rolle spielt die Kirche bei der sozialen Versorgung? In den Niederlanden gehören 29% der Bevölkerung der römisch-katholischen Kirche an, 19% sind Protestanten (meist Calvinistisch), 5% Muslime, 4% gehören anderen Religionsgemeinschaften an. 42% der Niederländer/innen bezeichnen sich als „keiner Kirche zugehörig“47. Die christlichen Kirchen waren Anfang des 20. Jahrhunderts neben sozialistischen und liberalen Kräften stark für das politische und gesellschaftliche System der Niederlande prägend. Beispielsweise gab es konfessionell gebundene Parteien und Gewerkschaften48. Die Gesellschaft war in

vielen Bereichen eng nach konfessionellen Zugehörigkeiten strukturiert49. Heute hat dieser „Konfessionalismus“ seinen Einfluss auf die Politik weitestgehend verloren, jedoch sind kirchliche Organisationen weiterhin im sozialen Bereich aktiv50. Für die protestantischen Kirchen führt die Organisation Kirche in Aktion (Kerk in Actie) soziale Projekte weltweit und auch in den Niederlanden durch51. Auch in der Frage der Inklusion behinderter Menschen sind die Kirchen aktiv. Im Oktober 2003 veranstaltete die Interkirchliche Kommission zur Integration von Behinderten in den Niederlanden (Interkerkelijke Commissie Integratie Gehandicapten - ICIG) in Zusammenarbeit mit EDAN (Ecumenical Disability Advocates Network) des Ökumenisches Rates der Kirchen einen europäischen Kongress über die Rolle von Menschen mit Behinderung in den Kirchen und der Theologie52. In der Schlusserklärung wurde der Paradigmenwechsel hin zu einer inklusiven Theologie gefordert53, der auch zu mehr Beteiligung von Menschen mit Behinderungen auf allen hierarchischen Ebenen der Kirche führen soll. Die Inklusion behinderter Menschen in das Gemeindeleben wird über die ökumenische Plattform “Samen Geloven? – Gewoon Doen” (Zusammen glauben? – Es einfach machen) aktiv vorangetrieben54. Informationen zu barrierefreien Kirchenzugängen bietet “kom beter binnen” (Komm besser rein)55. “Ker en WMO” (Kirche und Wmo) gibt ehrenamtlich tätigen Christen Informationen, wie sie sich aktiv an der Umsetzung des Gesetzes zur Sozialen Unterstützung beteiligen können56. Auch Angehörigenorganisationen für

45

Vgl. Niederländische Botschaft 2010 Vgl. Centraal Bureau voor de Statstiek 2008 47 Vgl. Auswärtiges Amt 2010 48 Vgl. Van der Laan 1997:127 49 Vgl. Schutte 2004:169 50 Beispielsweise werden konfessionell gebundene Seelsorger entsandt, die im Dienst des Staates in Altersheimen, Krankenhäusern oder der Strafgefangenenhilfe tätig sind. Vgl. z.B. http://www.dji.nl/Organisatie/Locaties/Landelijke-diensten/Dienst-Geestelijke-Verzorging/Organisatie/ 51 Nähere Informationen unter http://www.kerkinactie.nl/ 52 Nähere Informationen unter http://www.kerkenhandicap.nl/index.htm 53 Vgl. Kerkenhandicap 2010 54 Informationen unter http://www.sggd.nl; Inklusives Material zu Gemeindepädagogik und Liturgie wird dort zur Verfügung gestellt: http://www.sggd.nl/index.php?option=com_content&task=view&id=10&Itemid=11 55 Informationen über barrierefreie Kirchenzugänge können unter http://www.kombeterbinnen.nl/index.php abgerufen werden. 56 Vgl. http://www.kerkenwmo.nl/ 46

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Niederlande Menschen mit Behinderung haben teils einen religiösen Hintergrund und berufen sich in ihrer Arbeit auf christliche Grundsätze57. 9. Welche Bedeutung haben informelle Versorgungsformen wie z.B. Familien? 58 Ziel der niederländischen Inklusionspolitik ist es, Familien mit behinderten Kindern die notwendige Unterstützung anzubieten, damit sich die betroffenen Personen möglichst so entwickeln können, dass ihnen später ein unabhängiges Leben möglich ist. Insbesondere bis zur Volljährigkeit kommt der Familie eine wichtige Rolle zu. Oftmals behält sie diese auch im Erwachsenenalter. Im Bereich körperlicher Behinderung lebt ein Großteil der betreffenden Personen eigenständig. Unter den Menschen mit geistiger Behinderung lebt ein höherer Anteil von Personen (40%) mit Familienangehörigen zusammen. Dies ist meist der Fall, wenn es sich um weniger schwerwiegende Einschränkungen handelt. Viele Eltern äußern das Bedürfnis, ihren Kindern mit Behinderung ein eigenständiges Leben zu ermöglichen, sehen aber oftmals die Möglichkeiten hierzu als nicht ausreichend an. Ein Hinweis auf die soziale Integration behinderter Menschen ist die Mitgliedschaft in Vereinen. Nach Angaben des Sociaal en Cultureel Planbureau liegt der Anteil von Menschen mit geistiger Behinderung, die in einem Verein oder Club sind, bei knapp 50%. Allerdings handelt es sich meist um Vereinigungen, die vor allem von betroffenen Personen genutzt werden. Der Anteil an Menschen mit geistiger Behinderung, die informelle Unterstützung aus der Nachbarschaft (außerhalb der Familie) bekommen, liegt mit 25% höher als derjenige von Personen, die professionelle Pflegeleistungen im Haushalt einsetzen. Vereine von Eltern und Angehörigen und auch Betroffenen haben in den Niederlanden eine lange Tradition. Gemeinsam treten sie als politische Interessensvertretung der betroffenen Men-

57

schen auf und bieten darüber hinaus anderen Angehörigen und Menschen mit Behinderung Beratung und Unterstützung an. Beispiele hierfür sind der Verein „Per Saldo“59, in dem Menschen mit Behinderung Beratung hinsichtlich des personengebundenen Budgets anbieten, oder die Angehörigen-Vereinigung „Naar Keuze“60, in der sich Familienangehörige von Empfängern des personengebundenen Budgets organisiert haben. 2008 waren 178 Betroffenenorganisationen registriert61. 10. Wie ist der Bildungsbereich ausgestaltet?62 Der Bildungsbereich in den Niederlanden ist stark auf die Inklusion gehandicapter Personen ausgerichtet. Bereits in den ersten Jahren begegnen sich Menschen mit und ohne Behinderung. Im Bereich der Kindertagesstätten (Alter: 6 Wochen bis 13 Jahre) gibt es viele Einrichtungen, die auch Kinder mit Behinderung aufnehmen (kinderopvang plus) und hierfür zusätzliches heilpädagogisch ausgebildetes Personal anstellen. Teilweise arbeiten auch Mitarbeitende mit Handicap in diesen Einrichtungen. Die Kosten für die Kindertagesstätte können von Arbeitgebern oder der Gemeinde (begrenzte Anzahl) bezuschusst bzw. übernommen werden. Für den Primärbereich des Schulsystems (4-12 Jahre), in dem Kindergarten und Grundschule in Form von Ganztagesschulen zusammengefasst wurden, haben Eltern die Wahlfreiheit, ob sie ihr Kind auf eine reguläre Schule (basisonderwijs) oder eine Spezialschule für Menschen mit Behinderung (speciaal onderwijs) schicken. Spezialschulen gibt es für die Bereiche Sehbehinderung, Gehörbehinderung, körperliche/ geistige Behinderung und für Kinder mit psychischen Störungen/ Entwicklungsverzögerungen. Ziel der Schulpolitik ist es jedoch, die Integration von Kindern mit Behinderung in den regulären Schulen wei-

Siehe zum Beispiel: http://www.philadelphiasupport.nl/home, www.ditkoningskind.nl, www.helpendehanden.nl, www.opwegmetdeander.nl 58 Vgl. SCB 2002 59 Nähere Informationen unter http://www.pgb.nl/persaldo 60 Übersetzung: „Nach freier Wahl“. Nähere Informationen unter http://www.naar-keuze.nl/Home; weitere Vereinigungen unter http://www.naar-keuze.nl/Links/Ouderverenigingen 61 Vgl. CG-Raad 2010: 49 62 Vgl. Brandt 2003 98

Niederlande testgehend möglich zu machen. Im Jahr 2002 besuchten die Hälfte der betroffenen Kinder zumindest für einige Jahre den Regelschulbetrieb63. Am 01.08.2003 trat das Gesetz über finanzielle Förderhilfen für die Schulausbildung (leerlinggebonden financiering) in Kraft. Auf Antrag können Eltern für ihr Kind über die regionale Kommission zur Indikation (Centrum Indicatiestelling Zorg, CIZ) finanzielle Unterstützung beantragen. Ist ein Schulbesuch unter regulären Bedingungen für das Kind nicht möglich, genehmigt diese finanzielle Hilfe. Diese werden der betreffenden regulären oder Spezialschule zur Verfügung gestellt, um Lehrassistenten und nötige Hilfsmittel für den Unterricht zu bezahlen. Der Einsatz der Mittel erfolgt nach einem Handlungsplan, den Schule und Eltern gemeinsam ausarbeiten. Den Eltern soll es durch das Programm ermöglicht werden die Schulart für ihr Kind frei zu wählen. Auch der Transport zur Schule muss bei entsprechender Indikation von den Gemeinden kostenlos angeboten werden. Dieselben Fördermöglichkeiten bestehen für die Sekundarstufe. Das Studieren wird Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung in den Niederlanden durch verschiedene Maßnahmen ermöglicht. Zum Beispiel haben sie über einen längeren Zeitraum ein Anrecht auf Studienfinanzierung. Zur Unterstützung haben die meisten Universitäten spezielle Behindertenbeauftragte, die für Beratung und Unterstützung zur Verfügung stehen. Auch die Begleitung durch individuelle Ansprechpartner, sowie ein Antrag auf unterstützende Lehrmittel sind möglich. Für Studierende mit Behinderung gibt es eine Website mit hilfreichen Informationen zum Studium in den Niederlanden64. Für berufstätige Menschen mit Behinderung, die ihrer bisherigen Arbeit nicht mehr nachgehen können, besteht die Möglichkeit, finanzielle Hilfen für eine Zu- oder Umschulung zu erhalten. Grundlage ist das Gesetz „Wet op de (Re-)integratie Arbeidsgehandicapter“ (REA). Es besteht die Möglichkeit, Umschulungsmaßnahmen speziell für Menschen mit Behinderung zu besuchen,

die von den fünf Arbeitsintegrationszentren (arbeidsintegratie-centras) angeboten werden. 11. Welche Perspektiven haben Menschen mit Behinderung? Das niederländische System zielt sehr stark auf die Inklusion von Menschen mit Behinderung ab. Beginnend mit der frühkindlichen Bildung bestehen rechtliche Ansprüche auf Unterstützung beim Bemühen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Menschen mit Behinderung soll es weitestgehend ermöglicht werden, ihr Leben autonom und selbstbestimmt zu gestalten. Zugleich werden mit Spezialschulen und beschützenden Werkstätten Alternativen für Menschen mit Behinderung angeboten, die sich dieser Herausforderung nicht gewachsen fühlen. Mit ihren Ansätzen werden die Niederlande innerhalb Europas immer wieder als beispielhaft bezeichnet, und die Politik des Landes hat eine Vorbildfunktion über die Grenzen hinweg65. Allerdings sieht das Soziale und Kulturelle Planungsbüro66 noch große Herausforderungen für das System. Beispielsweise leben nahezu alle Menschen mit geistiger Behinderung von einem sehr geringen Einkommen, lediglich 38% der Menschen mit Behinderung sind erwerbstätig, 23% der Menschen mit körperlicher Behinderung können aus finanziellen Gründen nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Bis zu 40% der Menschen mit geistiger Behinderung äußerten das Bedürfnis, mehr auszugehen, und bezeichneten mangelnde soziale Kontakte als Hindernis. Schlussfolgernd wird im Bericht formuliert, dass die Fortschritte in den Niederlanden als positiv zu bewerten sind. Dennoch seien die Niederlande noch nicht ausreichend offen für Menschen mit Behinderung. Als problematisch könnte sich die Absicht der Regierung erweisen, Sozialleistungen zurückzufahren beziehungsweise Höchstgrenzen für die jährlichen Ausgaben festzulegen, wie es aktuell beim personengebundenen Budget praktiziert wird67. Einem Teil der Betroffenen wird über Wartelisten zumindest zeitweise ihr Wahlrecht über die gewünschte Lebensgestaltung genommen.

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Vgl. SCP 2002 http://www.handicap-studie.nl/ 65 Vgl. Ministerie van Volksgezondheit, Welzjin en Sport 2004b, S.4 66 Vgl. SCP 2002 67 Vgl. SVB 2010 64

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Niederlande

FALLBEISPIEL RUBEN Frühe Kindheit Kurz nach Rubens Geburt in Utrecht teilen die Ärzte im Krankenhaus den Eltern mit, dass ihr Sohn Träger des Down-Syndroms ist. Nach einem Moment der Verunsicherung wenden sich die Eltern an eine Vereinigung von Angehörigen von Menschen mit Behinderung, um sich zu informieren, wie sie ihrem Sohn ein möglichst normales Leben ermöglich können. Sie erfahren, dass sie das Recht auf staatliche Unterstützung haben. Für die ersten zwei Lebensjahre entscheidet sich die Mutter, ihren Sohn zu Hause zu betreuen. Die Familie erhält hierfür von der Sozialversicherungsbank (SVB) zusätzliche finanzielle Leistungen nach dem Gesetz zur Beihilfe zu Unterhaltskosten für Kinder mit Behinderung, die zu Hause leben (TOG)68. Von diesem Geld kann sich die Familie stundenweise eine pädagogische Fachkraft leisten, die Maßnahmen der Frühforderung durchführt. Als Ruben drei Jahre alt wird, melden ihn seine Eltern in einer Kindertagesstätte an. Dies ermöglicht es der Mutter, wieder berufstätig zu sein, was die finanzielle Situation der Familie verbessert. Die Eltern entscheiden sich für eine inklusive Tagesstätte (kinderopvang plus). Ruben soll von Beginn an in das gesellschaftliche Leben integriert werden. Die Finanzierung der Tagesstätte wird von der Kommune übernommen, da Rubens Eltern nur ein niedriges Einkommen haben69. Die Nachbarn der Familie, deren Tochter Ana ebenfalls eine geistige Behinderung hat, bekommen keine Unterstützung von der Kommune. Daher übernimmt der Betrieb, in dem Anas Eltern arbeiten, 75% der Kosten, sodass sich die Familie die Kindertagesstätte für Ana leisten kann70. Der Betrieb kann diese Ausgaben als Betriebs-

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kosten anrechnen lassen und möchte darüber hinaus sein soziales Engagement zeigen. Ruben verbringt zwei Jahre in der Tagesstätte, in der ihn geschultes Fachpersonal gezielt fördert. Schule Mit fünf Jahren ist es für Ruben möglich, in den Primarbereich71 des Schulsystems zu wechseln. Seine Eltern diskutieren, ob er eine Spezialschule für Kinder mit Behinderung (speciaal onderwijs) besuchen oder auf eine Regelschule gehen soll72. Sein Vater befürchtet, dass die Ansprüche in der Regelschule für Ruben zu hoch sein könnten, seine Mutter möchte ihn nicht von seinen Altersgenossen absondern. Wiederum holen sie sich Rat bei der Angehörigenvereinigung und erfahren, dass es die Möglichkeit gibt, finanzielle Förderhilfen für die Schulausbildung zu beantragen. Sie suchen daraufhin das regionale Zentrum für Pflegeindikation auf (Centrum Indicatiestelling Zorg, CIZ)73, wo eine interdisziplinäre Fachgruppe Rubens Unterstützungsbedarf beurteilt. Diese kommt zum Schluss, dass Ruben aufgrund des Down-Syndroms eine Regelschule nur mit Unterstützung besuchen kann. Er erhält darum Leistungen nach dem Gesetz über finanzielle Förderhilfen für die Schulausbildung (leerlinggebonden financiering)74. Ruben soll auf eine Schule, die dafür bekannt ist, Kinder mit Down-Syndrom gut zu integrieren. In einem Gespräch entscheiden Rubens Eltern und die Schulleitung, wie das zur Verfügung gestellte Geld sinnvoll eingesetzt werden kann. Für Ruben und einen weiteren Jungen mit Down-Syndrom wird eine Klassenassistentin eingestellt, die beide stundenweise im Unterricht begleitet. Auch wird Lehrmaterial angeschafft, mit

Vgl. MISSOC 2007; Das Geld wird zusätzlich zum regulären Kindergeld bezahlt, beide werden nicht als Einkommen gewertet und sind steuerfrei. 69 Vgl. Brandt 2003 70 Die Finanzierung von Kindertagesstätten über die Gemeinde ist begrenzt und vor allem für sozial schwache Familien reserviert. Für die anderen Familien bleibt nur die Möglichkeit der Finanzierung über ihre/n Arbeitgeber/in oder die Eigenfinanzierung. 71 Der Primärbereich umfasst das Alter von 4-12 Jahren In ihm wurden Kindergarten und die frühere Grundschule zusammengelegt. 72 Die Entscheidung für eine Regel-/ Spezialschule ist den Eltern frei überlassen. Die finanziellen Förderhilfen werden für beide Schulformen ausbezahlt. 73 Eine zentrale Seite der regionalen Büros findet sich unter: http://www.ciz.nl/ 74 Vgl. Brandt 2003 100

Niederlande dem Kinder mit Down-Syndrom besser lernen. Ruben besucht die Primärstufe bis zum Alter von 12 Jahren. Er hat unter seinen Klassenkamerad/innen mehrere Freundschaften, auch mit Kindern ohne Behinderung. Ana, die eine Spezialschule für Kinder mit geistiger Behinderung besucht, trifft er täglich im Kleinbus zur Schule. Der Transport zur Schule wird beiden aufgrund ihrer Behinderung von der Gemeinde bezahlt. Freizeit Ruben ist ein großer Fußballfan. Im Alter von 8 Jahren fragen ihn Klassenkameraden, ob er nicht mit in den Fußball-Club möchte. Er findet sich dort sehr gut ins Team ein und hat großen Spaß am Training. Zwar sind seine fußballerischen Qualitäten nicht besonders herausragend, dennoch setzt ihn der Trainer bei Spielen immer wieder ein, wenn diese bereits sicher gewonnen sind. Dadurch hat Ruben das Gefühl, dazu zu gehören. Einmal wird seine Mannschaft sogar Regionalmeister und Ruben feiert diesen Erfolg mit großer Freude. Jugend, Ausbildung und Übergang ins Arbeitsleben Im Anschluss an die Primarstufe besucht Ruben vier Jahre die Sekundarstufe. Trotz verschiedener Schwierigkeiten gelingen ihm durch die spezielle Förderung große Lernfortschritte. Im Alter von 16 Jahren zeigt sich jedoch, dass Ruben die Sekundarstufe auch mit gezielter Förderung nicht abschließen wird. Gemeinsam mit seinen Eltern entscheidet er sich dafür, eine Berufsausbildung zu beginnen. Im Betrieb von Anas Eltern gibt es im Schreinereibereich zwei Ausbildungsplätze für Menschen mit Behinderung. Der Betrieb hat diese über das Gesetz zur (Re)integration von Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben (Wet op de (re)integratie arbeidsgehandicapten)75 eingerichtet und bekommt anfallende Mehrkosten vom Staat erstattet. Ruben und Ana erhalten die

beiden Plätze und arbeiten in derselben Abteilung. Nach kurzer Zeit sind sie ein Paar und denken über ein gemeinsames Leben nach. Junges Erwachsenenalter Mit 17 Jahren beantragen Rubens Eltern für ihn Leistungen aufgrund von Erwerbsminderung. Die Einstufung erfolgt über das Durchführungsinstitut für Arbeitnehmersozialversicherungen (Uitvoering Werknemersverzekeringen, UWV76). Da Ruben aufgrund des nur schwach ausgeprägten DownSyndroms geringere Einschränkungen hat als andere Betroffene, wird seine Erwerbsminderung auf 25% eingeschätzt. Ruben erhält zukünftig Leistungen nach dem Gesetz zur Hilfe für arbeitsunfähige junge Behinderte (Wajong77). Mit 19 Jahren beenden Ruben und Ana ihre Ausbildung und werden aufgrund der guten Erfahrungen im Anschluss weiter in der Schreinerei des Betriebs angestellt. Zwar liegt der Lohn unter der gesetzlich garantierten Mindestsicherung. Zusammen mit den Leistungen wegen Erwerbsminderung erreicht Ruben aber ein ausreichendes Einkommen und ist nicht auf weitere staatliche Leistungen angewiesen. Mit 20 Jahren teilt Ruben seinen Eltern mit, dass er sich wünscht, in eine gemeinsame Wohnung mit Ana zu ziehen. Er möchte ein selbstständiges Leben führen, wie es allen anderen Menschen möglich ist. Da das junge Paar aber weiß, dass es im Alltag auf Unterstützung angewiesen sein wird, entschließen sie sich, das „personengebundene Budget“ zu nutzen. Ruben stellt beim zuständigen Zentrum für Pflegeindikation (Centrum Indicatiestelling Zorg, CIZ) einen entsprechenden Antrag. Dieses erhebt den Unterstützungsbedarf, der bei Ruben vor allem in den Bereichen „Haushaltshilfen“ und „Unterstützender Begleitung“ festgestellt wird. Der ihm zustehende Betrag wird anhand des Unterstützungsbedarfs und von Stundensätzen berechnet78. Da Ruben den Antrag im Oktober stellt, ist das jährlich von der Regierung zur Verfügung gestellte Geld für „personengebundene Budgets“

75

Vgl. MISSOC 2007 Siehe http://www.uwv.nl/index.aspx 77 Vgk. MISSOC 2007 78 Das personengebundene Budget wird einkommensunabhängig ausbezahlt. Das Geld kann auch für Pflegebereiche verwendet werden, für die im Gutachten kein Bedarf festgestellt wurde. Die Entscheidung liegt bei der Person, der das Geld zur Verfügung gestellt wird. 76

101

Niederlande jedoch bereits aufgebraucht79. Ruben wird, ebenso wie Ana, auf eine Warteliste gesetzt. Beide könnten in der Übergangszeit Sachleistungen nach dem Pflegegesetz (AWBZ) erhalten, verzichten aber darauf. Ab Juni des folgenden Jahres erhält Ruben endlich sein „personengebundenes Budget“. Inzwischen haben er und Ana mit Unterstützung einer Betroffenenorganisation eine günstige Mietwohnung gefunden, in die sie nun einziehen. Die Wohnung finanzieren sie sich mit ihren Gehältern aus der Schreinerei-Tätigkeit. Erwachsenenalter Ruben und Ana leben gemeinsam als Paar in ihrer eigenen Wohnung. Über das personengebundene Budget kaufen sie sich die notwendige Unterstützung durch pädagogische und pflegerische Fachkräfte ein. Sie nehmen organisierte Pflegedienste in Anspruch oder stellen einzelne Fachkräfte sozialversicherungspflichtig über einen Arbeitsvertrag an80. Zu Beginn lassen sie sich von ihren Eltern bei Abschluss der Verträge beraten, mit zunehmendem Alter haben sie genug Erfahrung, um dies allein zu tun. Manchmal lassen sie sich von einer Betroffenenorganisation beraten. Beide zahlen eine geringe Eigenbeteiligung, und finanzieren die Restkosten aus ihrem Budget, über das sie frei verfügen können. Immer halbjährlich81 muss Ruben eine Abrechnung der Ausgaben abgeben, um nachzuweisen, wie er sein personengebundenes Budget eingesetzt hat. Dies ist für ihn jedes Mal ein großer Aufwand, der ihn an seine Grenzen bringt. Viele der auszufüllenden Papiere versteht er nicht. Ohne die Unterstützung des Beratungsdienstes MEE82 würde er an dieser Aufgabe scheitern. Als Ruben und Ana 40 Jahre alt sind, teilt ihnen der neue Betriebschef mit, dass er aufgrund einer Wirtschaftskrise nur noch einen Arbeitsplatz für

79

Menschen mit Behinderung finanzieren wird. Nach Rücksprache mit ihrer Betroffenenorganisation beschließen beide, dass Ana weiter arbeiten wird. Ruben wird arbeitslos und erhält bald zusätzlich zu seinen Leistungen nach dem Wajong eine Aufstockung nach dem Gesetz über Ergänzungsleistungen (Toeslagenwet, TW)83, sodass Ruben und Ana zumindest eine Mindestsicherung erhalten und ihre Wohnung weiter finanzieren können. Dennoch müssen sie die nächsten drei Jahre sehr genau auf das Geld achten und können sich nur schwer neue Anschaffungen leisten. Ruben findet keinen Arbeitsplatz, da die Einstellung von Menschen mit Behinderung in Krisenzeiten nur von wenigen Betrieben vorgenommen wird. Erst als sich die Situation in den Niederlanden bessert, wird er von seinem alten Betrieb wieder eingestellt. Seniorenalter Ruben arbeitet bis zum 53. Lebensjahr in der Schreinerei. Dann wird die Arbeit für ihn altersund behinderungsbedingt zu belastend. Er lässt seine Erwerbsminderung neu feststellen und wird als dauerhaft erwerbsunfähig eingestuft. Er erhält nun Leistungen nach den Regelungen zur Einkommenssicherung für vollständig erwerbsunfähige Menschen (IVA)84. Diese werden ihm bis zur Rente ausbezahlt. Ruben engagiert sich in den folgenden Jahren in der Betroffenenorganisation85 und berät Menschen mit Behinderung, die ein personengebundenes Budget beantragen möchten. Ana und Ruben erhalten ab dem 65. Lebensjahr eine geringe Rente, die sich aus ihrer bisherigen Arbeitstätigkeit berechnet. Da sie mit beiden Renten unter dem Mindesteinkommen liegen, erhalten sie ergänzend Sozialhilfe. Das personengebundene Budget erhalten sie weiterhin. Ruben stirbt kurz darauf im Alter von 68 Jahren.

Die Mittel, die in den Niederlanden für personengebundene Budgets zur Verfügung stehen, sind jährlich begrenzt. Vgl. SVB 2010 80 Vgl. Niederländische Regierung 2010 81 Der Abrechnungszeitraum richtet sich nach der Höhe des Budgets und kann von monatlich bis jährlich variieren. Vgl. CG-Raad 2010 82 Siehe http://www.mee.nl/ und Duberatz 2009 - es handelt sich im einen staatlich organisierten Beratungsdienst für Menschen mit Behinderung (früher Sozialpädagogischer Dienst). 83 Vgl. MISSOC 2007 84 Vgl. MISSOC 2007 85 In den Niederlanden gibt es zahlreiche Betroffenenorganisationen, in denen Menschen mit Behinderung einander gegenseitig Beratung und Unterstützung anbieten. 102

Niederlande Quellenverzeichnis Appel M und Schaars WK: Anleitung zur Selbstständigkeit – Wie Menschen mit geistiger Behinderung Verantwortung für sich übernehmen. 3. Auflage. Weinheim und München 2006. Auswärtiges Amt: Niederlande: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Nodes_Uebersichtsseiten/Niederlande_node.html [Stand: 05.12.2010] Brandt R: Zur Situation der schulischen Integration gehandicapter und lernbeeinträchtigter Kinder in den Niederlanden. EBook. Hildesheim 2003. Centraal Bureau voon de Statistiek: Gezondheid en zorg in ciifers 2009. Den Haag/Heerlen 2009a. http://www.cbs.nl/NR/rdonlyres/CC6F3071-309A-4D3C-B42B-2772F4C3F464/0/2009c156pub.pdf [Stand: 14.11.2010] Centraal Bureau voon de Statistiek: Population and population dynamics; month, quarter and year. Den Haag/Heerlen 2009b. http://statline.cbs.nl/StatWeb/publication/?DM=SLEN&PA=37943eng&D1=09&D2=16,33,50,67,84,101,118,133,135,152,169,186,203,220,237,250-266&LA=EN&HDR=T&STB=G1&CHARTTYPE=1&VW=T [Stand: 14.11.2010] CGB – Commissie Gelijke Behandeling: Wet gelijke behandeling op grond van handicap of chronische ziekte (WGBH/CZ). http://www.cgb.nl/artikel/wet-gelijke-behandeling-op-grond-van-handicap-chronische-ziekte-wgbhcz [Stand: 24.11.2010] CG-Raad: Feiten en cijfers chronisch zieken en gehandicapten. Utrecht 2010. [Zur Verfügung gestellt auf E-Mail-Anfrage] DUBERATZ M: Das personengebundene Budget für Menschen mit Behinderungen – Evaluation der Umsetzung am Beispiel der Stadt Schwerin. In: Wismarer Diskussionspapiere 02/2009. http://www.wi.hs-wismar.de/~wdp/2009/0902_Duberatz.pdf [Stand: 14.11.2020] Der Paritätische Wohlfahrtsverband: Das Persönliche Budget in den Niederlanden. Mainz 2005. EASPD: An international comparison of methods of financing employment for disadvantaged people. Brüssel 2007. http://www.easpd.eu/LinkClick.aspx?fileticket=30633366354C4D6E6C66553D&tabid=4954&stats=false [Stand: 24.11.2010] Europäische Kommission: Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit: Koordinierung der Systeme sozialer Sicherheit. http://ec.europa.eu/employment_social/social_security_schemes/national_schemes_summaries/ nld/2_04_de.htm [Stand: 24.11.2010] European Employment Observatory: Gesetz über geschützte Beschäftigung. http://www.eu-employmentobservatory.net/ersep/NL_D/00804972.asp [Stand: 24.11.2010] FiLB Deutschland e.V.: Schaffung von Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderung in landwirtschaftlichen Betrieben. Frankfurt 2006. http://www.oekolandbau.de/fileadmin/redaktion/dokumente/erzeuger/projekt_arbeitsplaetze.pdf [Stand: 24.11.2010] Kerkenhandicap: Statement – For a change. http://www.kerkenhandicap.nl/statement.htm [Stand:2512.2010] Kortmann CAJM: Constitutioneel recht. 4.Auflage, Deventer 2001. Lepszy N: Das politische System der Niederlande. In: Ismayr W (Hrsg.): Die politischen Systeme Westeuropas. 2. Auflage, Opladen 1999. S.331-65. Ministerie van Social Zaken en Werkgelegenheid: A short Survey of Social Security in the Netherlands. Januar 2010. http://docs.minszw.nl/pdf/135/2010/135_2010_1_25528.pdf [Stand: 25.11.2010] Ministerie van Volksgezondheit, Welzjin en Sport: Nationale Atlas Volksgezondheit. Version vom 23. September 2010. http://www.zorgatlas.nl [Stand: 24.11.2010] Ministerie van Volksgezondheit, Welzjin en Sport: People with disability in the Netherlands – the government’s health and welfare policy. Den Haag 2004a. http://english.minvws.nl/en/folders/zzoude_directies/dgb/2005/factsheet-the-governmentshealth-and-wellfare-policy.asp [Stand: 24.11.2010] Ministerie van Volksgezondheit, Welzjin en Sport: Equal treatment in practice – vision and measures for people with disabilities, make it happen! Ohne Ort 2004b. http://english.minvws.nl/en/reports/zzoude_directies/dgb/2004/equal-treatmentin-practice.asp [Stand: 25.11.2010] Ministerium für Inneres und Königreichsangelgenheiten: Die Verfassung des Königreichs der Niederlande 2002. Ohne Ort 2002. http://www.minbuza.nl/dsresource?objectid=buzabeheer:32755&type=pdf [Stand: 24.11.2010]

103

Niederlande MISSOC: Soziale Sicherheit in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, im Europäischen Wirtschaftsraum und in der Schweiz - Vergleichende Tabellen Teil 5: Luxemburg, Ungarn, Malta, Niederlande. Ohne Ort. 1. Januar 2007. http://ec.europa.eu/employment_social/missoc/2007/tables_part_5_de.pdf [Stand: 24.11.2010] Niederländische Botschaft: Soziale Sicherheit. 2010. http://bln.niederlandeweb.de/de/content/community/Soziales/sozial/start_html/viewHTML [Stand: 25.11.2010] Niederländische Regierung: Hoe krijg ik een persoonsgebonden budget (pgb)? http://www.rijksoverheid.nl/onderwerpen/persoonsgebonden-budget/vraag-en-antwoord/hoe-krijg-ik-een-persoonsgebonden-budget-pgb.html#anker-pgb-voor-awbz-voorzieningen [Stand: 14.11.2010] Niederländische Regierung: Wet maatschappelijke ondersteuning (Wmo). 2010b. http://www.rijksoverheid.nl/onderwerpen/wet-maatschappelijke-ondersteuning-wmo [Stand: 24.11.2010] Niederländische Regierung: Wat is de Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten (AWBZ) en wie is daarvoor verzekerd? 2010a. http://www.rijksoverheid.nl/onderwerpen/algemene-wet-bijzondere-ziektekosten-awbz/vraag-en-antwoord/wat-is-dealgemene-wet-bijzondere-ziektekosten-awbz-en-wie-is-daarvoor-verzekerd.html [Stand: 14.11.2010] Per Saldo: The composition of your budget. http://www.pgb.nl/persaldo/over-per-saldo/takingcontrol/?waxtrapp=ketvrMsHcwOhcPjBCaBA [Stand: 14.11.2010] Rothenburg EM: Das persönliche Budget – Eine Einführung in Grundlagen, Verfahren und Leistungserbringung. Weinheim und München 2008. UN Enable: Convention and Optional Protocol Signatures and Ratifications. http://www.un.org/disabilities/default.asp?id=475 [Stand: 24.11.2010] Van der Laan G: Soziale Arbeit in den Niederlanden. In: Puhl R und Maas U (Hrsg.): Soziale Arbeit in Europa – Organisationsstrukturen, Arbeitsfelder und Methoden im Vergleich. Weinheim und München 1997. S.125-142. SCP – Sociaal en Cultureel Planbureau: Rapportage gehandicapten 2002. Den Haag Juli 2002. http://www.scp.nl/dsresource?objectid=21082&type=org [Stand: 24.11.2020] Schutte GJ: Eine Calvinistische Nation? Mythos und Wirklichkeit. In: Wielenga F und Taute I (Hrsg.): Länderbericht Niederlande. Geschichte – Wirtschaft – Gesellschaft. Bonn 2004. S.131-187. SVB: Servicebericht PGB. Oktober 2010. http://www.svb.nl/Images/Servicebericht%20%23%2020%20(okt%202010).pdf [Stand: 14.11.2010] VGN – Vereniging Gehandicaptenzorg Nederland: Over de VGN. http://www.vgn.nl/overdevgn [Stand: 28.11.2010] Wacker E, Wansing G, Shäfers M: Personenbezogene Unterstützung und Lebensqualität – Teilhabe mit einempersönlichen Budget. 2.Auflage, Wiesbaden 2009. Zorgvisie: Klink stopt uitgave persoonsgebonden budget. 25.06.2020. http://www.zorgvisie.nl/Financien/Klink-stopt-uitgavepersoonsgebonden-budget.htm [Stand: 14.11.2010]

104

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

AACD

Associação de Asisstenência de Crianças e Deficiênciente (Verein zur Unterstützung von Kindern und Menschen mit Behinderungen)

A.S.M.

Assistantes Specialisees d’ecole Maternelle (Assistent/Assistentin im Kindergarten für Kinder mit Behinderung)

A.A.H.

Allocation aux adultes handicaps (Beihilfe für Erwachsene mit Behinderung)

AWBZ

Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten (Allgemeines Gesetz über besondere Krankheitskosten)

ADAPPH

Association pour le Développement de l’Accompagnement à la Parentalité des Personnes Handicapées (Elternverein für Eltern mit Behinderung)

AWO

Arbeiterwohlfahrt

BGG

Behindertengleichstellungsgesetz

BIP

Bruttoinlandsprodukt

ADS

Anti-Diskriminierungsstelle des Bundes

BMAS

Bundesministerium für Arbeit und Soziales

AEEH

L’allocation d’éducation de l’enfant handicapé (Zuwendungen für Kinder mit Behinderung)

Bzw.

Beziehungsweise

AGG AICT

AIDS

Allgemeines Gleichstellungsgesetz CAF

Caisses d’allocations familiales (Familienbeihilfen)

CBR

Community-Based-Rehabilitation (gemeindenahe Rehabilitation)

CCBRT

Comprehensive Community Based Rehabilitation for Tanzania (umfassende gemeindenahe Rehabilitation für Tansania)

CDAPH

Commission des Droits et de l’Autonomie des Personnes Handicapées (Kommission für die Rechte und Autonomie der Menschen mit Behinderung)

CERVAC

Centro de Reabilitação e Valorização da Criança (Rehabilitationszentrum)

African Inland Church Tanzania (Afrika-Inland-Kirche) Acquired Immune Deficiency Syndrome

A.N.P.H

Autoritatea Nationala pentru Persoanele cu Handicap (Nationale Behörde für Menschen mit Behinderung)

APA

Allocation Personnalisée d’Autonomie (persönliche Hilfe zur Autonomie)

APAE

Associação dos país e amigos dos excepcionais (Verein der Eltern und Freunde der Außergewöhnlichen)

APP

C.A.M.S.P. Centre d’Action Médico-Sociale Précoce (Frühförderstelle)

L’allocation de présence parentale (Finanzielle Unterstützung für pflegende Eltern)

CFE-CGC Confédération Francaise de l’Encadrement et Confédération Générale des Cadres (Gewerkschaft, die Bundesvereinigung der Professionellen) 105

Abkürzungsverzeichnis CIZ

CLIS

Classes d’intégration scolaire (Integrationsklassen)

CMU

Couverture de maladie universelle (Krankenversicherung)

CNBB

Conferencia Nacional dos Bispos do Brasil (Nationale Konferenz der brasilianischen Bischöfe)

CONADE

Conselho Nacional dos Direitos da Pessoa Portadora de Deficiência (Beratungsgremium)

etc.

Et cetera (und so weiter)

ELCT

Evangelical Lutheral Church Tanzania (Evangelisch-lutherische Kirche Tansania)

ESCAP

Economic for Social Commission for Asia and Pacific (Wirtschafts-und Sozialkommission für Asien und den Pazifik)

EU

European Union (Europäische Union)

EUROSTATStatistisches Amt der Europäischen Union FGV

Fundação Getúlio Vargas (Stiftung)

Coordenadoria Nacional para integração da Pessoa Portadora de Deficiência (Koordinierungsstelle für die Integration für Menschen mit Behinderungen)

FNDS

Fundo nacional de Assistência social (Nationaler Fond der Sozialen Arbeit)

GdB

Grad der Behinderung

CRDS

Contribution au Remboursement de la Dette Sociale (Steuern)

GG

Grundgesetz

GTZ CSG

Contribution Sociale Généralisée (Steuern)

Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit

HDI Destatis

Statistisches Bundesamt Deutschland

Human Development Index (Index der Menschlichen Entwicklung)

HID DPO

Disabled People Organisations (Organisationen von Menschen mit Behinderung)

Handicaps-Incapacités-Dépendance (Beeinträchtigung-BehinderungAbhängigkeit)

HIV

Humane Immundefizienz-Virus

IAF

Institut für Angewandte Forschung

IBGE

Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (Statistisches Bundesamt Brasilien)

ICIG

Interkerkelijke Commissie Integratie Gehandicapten (Interkirchliche Kommission zur Integration von Behinderten in den Niederlanden)

CORDE

DREES

106

Centrum Indicatiestelling Zorg (Zentren für Pflegeindikation) (Ministerium für Gesundheit, Gemeinwohl und Sport)

Direction de la recherche, des études, de l’évaluations et des statistiques (Direktion für Forschung, Evaluation und Statistik)

DWW

Diakonisches Werk Württemberg

EDAN

Ecumenical Disability Advocates Network

ESAT

Etablissement et Service d’Aide par le Travail (Werkstatt für behinderte Menschen)

Abkürzungsverzeichnis ILO

International Labour Organization (Internationale Arbeitsorganisation)

INSEE

Institut National de la Statistique et des Études Économiques (Institut für Statistik und Ökonomische Studien)

MDS

Ministério do Desenvolvimento Social e Combate à Fome (Ministerium für soziale Entwicklung und dem Kampf gegen Hunger)

MOEC

Ministry of Education and Culture (Ministerium für Bildung und Kultur)

IME

Instituts Médico-Educatifs (medizinische und pädagogische Sonderschule)

MOST

Ministry of Science and Technology (Ministerium für Wissenschaft und Technologie)

IMP

Instituts Médico-Pédagogiques (Sonderschule mit Pflege und Erziehung)

MoSTH

Ministry of Science, Technology and Higher Education (Ministerium für Wissenschaft Technologie und Höherer Bildung)

IMPRO

Instituts Médico-professionnels (Sonderschule zur beruflichen Bildung für Jugendliche mit Behinderung)

MPS

Ministerio previdência social (Ministerium für Soziale Fürsorge)

MSA

Mutualité sociale agricole (Landwirtschaftliche Sozialversicherung)

NBS

National Bureau of Statistics (Statistisches Bundesamt Tansania)

NGO

Non-Government-Organization (Nichtregierungsorganisation)

OECD

Organisation for Economic Co-operation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)

PGB

Persoonsgebonden Budget (Personengebundenes Budget)

I.P.I.

IVA

Imposto sobre Produtos Industrializados (Steuer auf industrialisierte Produkte) Regeling Inkomensvoorziening Volledig Arbeidsonge schikten (Regelungen zur Einkommenssicherung für vollständig erwerbsunfähige Menschen)

IWF

Internationaler Währungsfonds

KEAD

Korean Employment Agency for the Disabled (Agenturen zur Arbeitsförderung in Korea)

KISE

Korean Institute for Special Education (Koreanische Institute für Sonderschulerziehung)

PDO

Pro-Disability Organisations (Organisationen für Menschen mit Behinderung)

KIST

Korean Institute of Science and Technology (Institut für Wissenschaft und Technologie)

PISA

Programme for International Student Assessment (Programm zur internationalen Schülerbewertung)

LDB

Lei de Diretrizes e Bases da Educação (Bildungsgesetz)

P.P.S.

Projet Personalisé de Scolarisation (individueller Stundenplan)

MDPH

Maison departemantes des personnes handicapees (Häuser der Menschen mit Behinderung)

REA

Wet op de (re)integratie arbeidsgehandicapten (Gesetz über die (Re)Integration von Arbeitsbehinderten) 107

Abkürzungsverzeichnis RMI

Revenu Minimum d`Insertion (Mindestleistungen)

S.A.F.E.P.

Service d’Accompagnement Familial et d’Education Précoce (sonderpädagogische Einrichtung für Kinder)

SCP

Sociaal en Cultureel Planbureau (Soziales und kulturelles Planungsbüro)

Tegemoetkoming onderhoudskosten thuiswonende gehandicapte kinderen (Unterstützung zu Unterhaltskosten von zu hause wohnenden behinderten Kindern)

TW

Toeslagenwet (Gesetz über Ergänzungsleistungen)

UN

United Nations (Vereinte Nationen)

SDH

Secretaria dos direitos Humanos (Sekretariat für Menschenrechte)

UN-BRK

United Nations Behindertenrechtskonvention

SEAS

Secretaria de Estado da Assistência Social (Sozialministerium)

UNDP

United Nation Development Programme

S.E.E.S

Service d’Education et d’Enseignement Spécialisé (Sondervorschule)

UPI

Unités Pédagogiques d’Intégration (integrierte pädagogische Einheiten im Regelschulsystem)

SEPA

Special Education Promotion Act (koreanisches Schulgesetz von 1977)

SEGPA

SENAC

Sections d’enseignements généraux et professionnels adaptés (angepasster Unterricht im Regelschulsystem) Serviço Nacional de Aprendizagem Comercial (Aus- und Weiterbildungszentrum)

SENAI

Serviço Nacional de Aprendizagem Industrial (Aus- und Weiterbildungszentrum)

SGB

Sozialgesetzbuch

SNDP

Subsecretaria Nacional de Promoção dos Direitos da Pessoa com Deficiência (nationalen Unterbehörde zur Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderungen)

S.S.E.F.I.S. Service de Soutien à l’Education Familiale et à l’Intégration Scolaire (Verwaltungsamt für Frühförderung und schulische Integration) SUAS

108

TOG

Sistema Único de Assistência Social (Sozialhilfesystem)

URIOPSS Union Régionale Interfédérale des Organismes Privés Sanitaires et Sociaux (Dachverband für Vereine im sozialen Bereich) UWV

Uitvoeringsinstituut Werknemersverzekeringen (Durchführungsinstitut für Arbeitnehmersozialversicherungen)

Vgl.

Vergleiche

VWS

Ministerie van Volksgezondheid, Welzijn en Sport (Ministerium für Gesundheit, Wohlbefinden und Sport)

Wajong

Wet arbeidsongeschiktheids-voorziening jonggehandicapten (Gesetz zur Hilfe für arbeitsunfähige junge Behinderte)

WfbM

Werkstatt für behinderte Menschen

WGA

Regeling Werkhervatting Gedeeltelijk Arbeidsgehandicapten (Regelungen zur Wiederaufnahme von Arbeit von Personen mit teilweiser Minderung der Erwerbsfähigkeit)

Abkürzungsverzeichnis WGBH/CZ Wet Gelijke Behandeling op grond van handicap of chronische ziekte (Gesetz über Gleichbehandlung von chronisch erkrankten und behinderten Menschen) WHO

World Health Organisation (Weltgesundheitsorganisation)

WIA

Wet Werk en Inkomen naar Arbeidsvermogen (Gesetz über Arbeit und Einkommen entsprechend der Arbeitsfähigkeit)

WMO

Wet maatschappelijke ondersteuning (Gesetz zur Sozialen Unterstützung)

WPWDA

Welfare for Person with Disabilities Act (Wohlfahrtsgesetz für Menschen mit Behinderung in Korea)

WSW

Wet Sociale Werkvoorziening (Gesetz über geschützte Beschäftigung)

WWB

Wet Werk en Bijstand (Gesetz über Arbeit und Sozialhilfe)

109

Notizen

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Notizen

111

Notizen

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