Je höher das Einkommen eines Bürgers ist, desto eher ist er steuerpflichtig.

April 26, 2016 | Author: Götz Dieter | Category: N/A
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Das Erst-Recht-Argument, argumentum a fortiori

1. Die vier Formen des Erst-Rechtschlusses Jedes Erst-Recht-Argument basiert auf einem steigerungsfähigen Begriff und einer mit Hilfe dieses Begriffs gebildeten komparativen Rechtsregel. Diese kann in vier verschiedenen Formen auftreten:

1. In je höherem Maße das steigerungsfähige Merkmal gegeben ist, desto eher tritt die Rechtsfolge ein (argumentum a minore ad maius). 2. In je geringerem Maße das steigerungsfähige Merkmal gegeben ist, desto eher tritt die Rechtsfolge nicht ein (argumentum a majore ad minus). 3. In je höherem Maße das steigerungsfähige Merkmal gegeben ist, desto eher tritt die Rechtsfolge nicht ein (argumentum a minore ad maius). 4. In je geringerem Maße das steigerungsfähige Merkmal gegeben ist, desto eher tritt die Rechtsfolge ein (argumentum a majore ad minus).

Satz 1 und 2 sowie Satz 3 und 4 bedeuten dasselbe, welche der jeweils gleichbedeutenden Formeln man anwendet, hängt davon ab, ob im zu entscheidenden Fall das Merkmal in höherem Maße gegeben ist, als im Ausgangsfall oder in geringerem Maße. Die Sätze 1 und 4 sind anwendbar, wenn das steigerungsfähige Merkmal die Rechtsfolge begründen soll, die Sätze 2 und 3 sind anwendbar, wenn das steigerungsfähige Merkmal die Rechtsfolge begrenzen soll. Das Argument geht aus von einem Satz, in dem das steigerungsfähige Merkmal in einem bestimmten Grade vorkommt oder in den es hineininterpretiert worden ist. Wir nennen diesen Satz im Folgenden den Ausgangssatz. Kommt das steigerungsfähige Merkmal im Ausgangssatz expressis verbis vor, so ist es eine Frage der Interpretation, ob es eine rechtsfolgenbegründende oder eine rechtsfolgenbegrenzende Funktion hat oder auch beide Funktionen. Wenn das steigerungsfähige Merkmal im Ausgangssatz tatsächlich vorkommt, so ist die Argumentation in der Praxis sehr einfach, wie folgendes Beispiel zeigt. Wir gehen von der folgenden komparativen Regel aus: Je höher das Einkommen eines Bürgers ist, desto eher ist er steuerpflichtig. Nehmen wir nun folgenden

Ausgangssatz:

Wer ein Jahreseinkommen von 24.000 Euro hat, ledig ist und keine Unterhaltspflichten hat, ist steuerpflichtig. Komparative Regel: Je höher das Einkommen eines Bürgers ist, desto eher ist er steuerpflichtig. Konsequenz: Wer ein Einkommen von 30.000 Euro im Jahr hat, ledig ist und keine Unterhaltspflichten hat, ist steuerpflichtig. Dies ist ein argumentum a minore ad maius. Nehmen wir nun folgenden Ausgangssatz: Wer ein Einkommen von 10.000 Euro im Jahr hat, ist nicht steuerpflichtig. Komparative Regel: Je niedriger das Einkommen ist, desto eher ist der Bürger nicht steuerpflichtig. Konsequenz: Wer ein Einkommen von 7.000 Euro im Jahr hat, ist nicht steuerpflichtig. Dies ist ein argumentum a majore ad minus. Der Erstrecht-Schluss ist zwingend, wenn er von einem steigerungsfähigen Merkmal ausgeht, das in einem positiv gültigen Rechtssatz expressis verbis vorkommt. Wird das steigerungsfähige Merkmal in den Ausgangssatz erst hineininterpretiert, so ist das ErstrechtArgument nicht zwingend. Zunächst ist diese Interpretation selbst prinzipiell angreifbar. Nach § 250 StGB wird bestraft, wer bei einem Raube den Tod eines Menschen „mindestens fahrlässig“ verursacht. Daraus ergibt sich ein Erstrecht-Argument für den Fall, dass der Täter den Tod vorsätzlich verursacht hat. Die Ausdrucksweise des Gesetzes „mindestens fahrlässig“, setzt einen steigerbaren Begriff voraus. Dieser kann nur in dem Grad des Verschuldens des Täters am Tod des Opfers bestehen. Also ist auf den § 250 StGB das folgende komparative Gesetz anwendbar: Je größer die Schuld des Täters am Tod des Opfers ist, desto eher wird er nach § 250 StGB bestraft. Wenn der Täter den Tod bei dem Raube vorsätzlich verursacht hat, ist sein Verschulden daran größer, als wenn er ihn fahrlässig verursacht hat, der steigerungsfähige Begriff „mindestens fahrlässig“ ist also bei Vorsatz in stärkerem Maße erfüllt als bei Fahrlässigkeit, deshalb ist § 250 StGB unmittelbar auch auf den Fall anwendbar, in dem der Räuber den Tod eines Menschen vorsätzlich verursacht hat. Das Problem des Erst-Recht-Arguments besteht darin, die komparative Regel zu ermitteln, zu formulieren und aus dem Ausgangsrechtssatz zu begründen. Leider wird dies bei Anwendung dieser Schlussform sehr oft vernachlässigt, weil man sich auf die intuitive Plausibilität des Erst-Recht-Schlusses verlässt. Das ist ein methodischer Fehler, denn ohne die theoretische Grundlage der komparativen Regel kann der Erst-Recht-Schluss weder begründet noch

kritisiert werden. Dann kann es geschehen, dass ein Erst-Recht-Argument, das aus einem plausiblen Ausgangssatz abgeleitet wird, in die Irre führt. Hierfür ein Beispiel:

2. Diskussion eines Erst-Rechtarguments Es wird empfohlen, sich mit der Lehre von der Teilnahme an fremder Selbstgefährdung in den Grundzügen vertraut zu machen. Der Angeklagte, ein Polizeibeamter, hatte seine Dienstpistole auf dem Armaturenbrett seines Wagens abgelegt. Von dort nahm seine Beifahrerin die Waffe weg und erschoss sich sofort damit. Der Besitzer einer Schusswaffe ist verpflichtet, diese stets so zu verwahren, dass kein anderer auf sie Zugriff hat. Diese Sorgfaltspflicht hatte der Angeklagte verletzt. Da er wusste, dass seine Beifahrerin depressiv und suizidgefährdet war, war ihr Tod infolge seiner Sorgfaltspflichtverletzung für ihn auch vorhersehbar. Demgemäß hat das Instanzgericht ihn wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Der BGH hob das Urteil mit folgender Begründung auf: „Wer mit Gehilfenvorsatz den Tod eines Selbstmörders mitverursacht, kann nicht bestraft werden, weil der Selbstmord keine Straftat ist.“ Damit aber verbiete es sich „aus Gründen der Gerechtigkeit, denjenigen zu bestrafen, der nur fahrlässig eine Ursache für den Tod eines Selbstmörders setzt.“1 Roxin, der das Argument des BGH offenbar als Erstrechtschluss versteht, führt diesen Schluss wie folgt weiter: „Ist nämlich die Bewirkung vorsätzlicher Selbsttötung … straflos, so folgt aus dem vom BGH in der neusten Freitod-Entscheidung mit Recht hergestellten Wertungszusammenhang mit derselben zwingenden Logik, dass auch die Mitwirkung bei vorsätzlicher Selbstgefährdung straflos sein muss; denn wenn nicht einmal die vorsätzliche Herbeiführung der Rechtsgutsverletzung vom Schutzzweck der Tötungsnorm gedeckt wird, kann es die Beteiligung an einer Selbstgefährdung, die im Hinblick auf den Erfolg in der Regel nur Fahrlässigkeit begründet, erst recht nicht sein.“ 2 Dieser Erstrecht-Schluss von der Straflosigkeit der Beteiligung an einer Selbsttötung auf die Straflosigkeit einer Beteiligung an einer Selbstgefährdung hat sich in der Strafrechtswissenschaft zunächst durchgesetzt. Seit dem unterscheidet man zwischen der Beteiligung an einer Selbstgefährdung, die per se straflos ist und der einverständlichen Fremdgefährdung, deren Straflosigkeit an weitere Bedingungen geknüpft werden kann.3 Inzwischen wird die Tragfähigkeit der Unterscheidung zwischen Beihilfe zur Selbstgefährdung und einverständlicher Fremdgefährdung bestritten 4, also auch der oben

1

BGHSt 24, 342 (343 f.). Roxin Zum Schutzzweck der Norm bei fahrlässigen Delikten, FS-Gallas (1973), 241 (246). 3 SK-Rudolphi Vor § 1 Rn. 81 a; Schönke/Schröder-Lenckner Vor § 32 Rn. 102; Kindhäuser AT 12/63 ff.; Wessels/Beulke AT Rn. 186; Otto AT § 6 Rn. 60; Kühl AT § 4 Rn. 88a. 4 Dach Die Beteiligung an vorsätzlicher Selbstgefährdung, NStZ 1985, 24 (25); Frisch Selbstgefährdung im Strafrecht, NStZ 1992, 1 (5); Otto Anm. zur Entscheidung des BayObLG vom 14.02.1997 – StRR 4/97, JZ 1997, 522 (523); ders. Eigenverantwortliche Selbstschädigung und -gefährdung sowie einverständliche Fremdschädigung und -gefährdung, FS-Tröndle (1989), 157 (172); vgl. NK-Puppe Vor § 13 Rn. 184 f.; dies. AT/1 6/3.

2

dargestellt Erstrecht-Schluss von Roxin.5 Da auch Roxin das komparative Gesetz nicht angibt, auf dem dieser Erstrecht-Schluss beruhen soll, sind wir auf Vermutungen angewiesen. Diese Regel könnte vielleicht wie folgt lauten: In je höherem Maße ein Beteiligter den Kausalverlauf zu einem Erfolg beherrscht, desto eher ist er dafür verantwortlich. In je geringerem Maße ein Beteiligter den Kausalverlauf zum Erfolg beherrscht, desto eher ist er nicht dafür verantwortlich. Nach dieser Regel ließe sich der Schluss des BGH von der Straflosigkeit der vorsätzlichen Beihilfe zur Selbsttötung auf die Straflosigkeit einer fahrlässigen Ermöglichung einer Selbsttötung wie folgt als argumentum a majore ad minus darstellen: Ausgangssatz: Einführung des komparativen Merkmals:

Komparative Regel:

Konsequenz:

Die vorsätzliche Beteiligung an einer fremden Selbstverletzung ist straflos. Wer sich fahrlässig an einer fremden Selbstverletzung beteiligt beherrscht den Kausalprozess weniger als der, der sich vorsätzlich daran beteiligt. In je geringerem Maße der Beteiligte den Kausalverlauf zum Erfolg beherrscht, desto eher bleibt er straflos. Wer sich fahrlässig an einer fremden Selbstverletzung beteiligt ist straflos.

Dies wäre die Interpretation des Arguments des BGH, die seiner Fortführung durch Roxin zugrunde liegt. Wenn unsere Interpretation der Argumentation von Roxin richtig ist, so lässt sie sich wie folgt vollständig darstellen: Ausgangssatz: Einführung des komparativen Merkmals:

Komparative Regel:

Konsequenz:

Wer sich fahrlässig an einer fremden Selbstverletzung beteiligt, ist straflos. Wer sich fahrlässig an einer fremden Selbstgefährdung beteiligt beherrscht den Eintritt des Erfolges weniger als der, der sich fahrlässig an einer fremden Selbstverletzung beteiligt. In je geringerem Maße der Beteiligte den Kausalverlauf zum Erfolg beherrscht, desto eher bleibt er straflos. Wer sich fahrlässig an einer fremden Selbstgefährdung beteiligt, ist straflos.

Ein solcher Erstrecht-Schluss ist aber nur dann gültig, wenn sich die beiden verglichenen Fälle durch nichts anderes unterscheiden, als dadurch, dass das steigerungsfähige Merkmal im zu entscheidenden Fall in schwächerem Maße ausgeprägt ist als im Ausgangssatz. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, so besteht die Gefahr, dass durch das Erstrecht-Argument ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden verglichenen Fällen überspielt und deshalb missachtet wird. Das argumentum a minore ad minus des BGH erfüllt diese Bedingung. Die 5

MüKo-Duttge § 15 Rn. 150; Zaczyk Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten (1993), 53, 185; NK-Puppe Vor § 13 Rn. 184; dies. AT/1 6/4; dies. Die Selbstgefährdung des Verletzten beim Fahrlässigkeitsdelikt, FS-Androulakis (2003), 555 (560 f.); Frisch Selbstgefährdung im Strafrecht, NStZ 1992, 1 (5).

fahrlässige Ermöglichung einer fremden Selbsttötung unterscheidet sich von der vorsätzlichen nur dadurch, dass der Täter den Erfolgseintritt in geringerem Maße beherrscht. Bei der Fortführung des Erstrechtschlusses durch Roxin aber bleibt ein Unterschied zwischen den verglichenen Fällen unbeachtet, auf den es für die Straflosigkeit der Beteiligung an fremder Selbsttötung und fremder Selbst-verletzung möglicherweise ankommen sollte. Wer sein eigenes Rechtsgutsobjekt bewusst preisgibt oder zerstört oder zerstören lässt, der betätigt seinen Willen, das Objekt los zu werden. Dadurch wird sein Recht, über dieses Objekt zu verfügen, nicht verletzt, sonder im Gegenteil ausgeübt. Wer sein Rechtsgutsobjekt nur gefährdet, will es in der Regel gerade nicht verlieren. Der Verlust des Rechtsgutsobjekts als Konsequenz der Gefährdung ist durch seine Entscheidung, das Rechtsgutsobjekt zu gefährden also nicht gedeckt. Dieser Unterschied steht einem Schluss von der Rechtmäßigkeit der Beteiligung an fremder Selbstverletzung auf die Rechtmäßigkeit der Beteiligung an fremder Selbstgefährdung entgegen. Es ist hier nicht der Ort, die materielle Rechtsfrage zu entscheiden, ob und inwieweit der Bürger davor geschützt werden soll, dass ihm eine Gefährdung seiner eigenen Rechtsgüter ermöglicht wird oder dass er, vergleichbar einer Anstiftung, dazu veranlasst wird, sich selbst in Gefahr zu begeben. Es war nur zu demonstrieren, welche Anforderungen ein gültiges argumentum a fortiori erfüllen muss. Es sind die folgenden:

1. Der Ausgangssatz enthält ein steigerungsfähiges Merkmal, dass in einem bestimmten Ausmaß erfüllt ist und die Rechtsfolge begründet, bzw. begrenzt. 2. Aus diesem steigerungsfähigen Merkmal lässt sich eine komparative Regel ableiten, wonach die Rechtsfolge um so eher eintritt, bzw. ausbleibt, in je höherem bzw. geringerem Grade das steigerungsfähige Merkmal erfüllt ist. 3. Der zu entscheidende Fall unterscheidet sich vom Ausgangssatz darin, dass in ihm das steigerungsfähige Merkmal in höherem, bzw. geringerem Grade gegen ist, als im Ausgangssatz. Der zu entscheidende Fall unterscheidet sich vom Ausgangsfall in keinem anderen entscheidungsrelevanten Merkmal.

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