Hatties big ideas für die schulische Praxis (Teil 2): Anregungen für einen gelungenen Unterrichtsverlauf

July 2, 2016 | Author: Juliane Esser | Category: N/A
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BILDUNG BEWEGT 23/2014 Entwickelt und erforscht (20.000-25.000 Zeichen)

Hatties „big ideas“ für die schulische Praxis (Teil 2): Anregungen für einen gelungenen Unterrichtsverlauf Dieter Höfer, Ulrich Steffens In seinem 2012 erschienenen Buch „Visible Learning for Teachers – Maximizing impact on learning“ entwickelt John Hattie Leitlinien für ein praxisorientiertes Lehrerhandeln auf der Basis seiner pädagogischen Konzeption. Er entfaltet seinen Ansatz vor dem Hintergrund der grundlegenden Einsichten („big ideas“), die er bereits 2009 in „Visible Learning“ beschrieben hat. Standen in Teil 1 von Hatties „big ideas“ (BILDUNG BEWEGT 22/2013) die Lehrpersonen und deren Selbstverständnis im Zentrum der Betrachtung, nimmt Teil 2 die Planung und Durchführung einer Unterrichtsstunde in den Blick und beschreibt die Lehr- und Lernprozesse, die nach Hattie während des Unterrichts ablaufen.

Die Unterrichtsstunde: Denkentwicklung und Lernprozesse Unterricht ist ein komplexer Vorgang, der Lehrerinnen und Lehrern vielfältige Fähigkeiten abverlangt. Sie müssen die Entwicklung ihrer Schülerinnen und Schüler durch die verschiedenen Stadien ihrer Lernprozesse hindurch begleiten, diese verstehen und unterstützen. Dies geschieht nach Hattie auf vier verschiedenen Ebenen, die sich teilweise überlagern:    

Leistungsfähigkeit („capability“), Aufnahmevermögen („capacity“), Lernbeschleunigung („catalyst“) und Kompetenz („competence“).

Bei der Entwicklung der Denkleistungen orientiert sich Hattie an dem Denkmodell des Schweizer Entwicklungspsychologogen Jean Piaget. Er unterscheidet vier universelle Grundstadien der Denkentwicklung, die nacheinander durchlaufen werden:    

die sensomotorische Phase (0-2 Jahre), die präoperationale Phase (2-7 Jahre), die konkret-operationale Phase (7-12 Jahre) und die formal-operationale Phase (ab 12 Jahren).

Bezogen auf die unterrichtlichen Interventionsmöglichkeiten ergeben sich nach Hattie aus Piagets Konzeption vor allem drei wesentliche, den Entwicklungsprozess des Denkens vorantreibende Elemente: 1. Das Denken entwickelt sich als Antwort auf Herausforderungen („challenge“) und Ungleichgewichte („disequilibrium“). Dies bedeutet, dass die Lernintervention einen kognitiven Konflikt („cognitive conflict“) auslösen muss, um wirksam zu sein. 2. Der Verstand zeigt die Fähigkeit, zu wachsen. Die Kontrolle über die eigenen Denkprozesse wird bewusst übernommen. Dies bedeutet, dass die Lerninterventionen es den Lernenden ermöglichen, über ihre eigenen Lernprozesse nachzudenken.

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3. Die kognitive Entwicklung ist ein sozialer Prozess, eine qualitativ hochwertige Diskussion unter Gleichaltrigen, moderiert von einer Lehrkraft. Das heißt, dass die Lerninterventionen zum Aufbau sozialer Beziehungen beitragen müssen. Wichtig für Lehrpersonen ist es, den Schülerinnen und Schülern Lernstrategien zu vermitteln, die es ermöglichen, sowohl eine angemessene Kenntnis an Wissen („surface“) als auch ein Verständnis der dahinter liegenden, komplexen Zusammenhänge („deep“) aufzubauen. Der hierbei zu gehende Weg führt von einer Idee zu mehreren Ideen, dann zu einer Verbindung dieser Ideen und schließlich zu einem Verstehen der erweiterten Wechselbeziehungen zwischen den Ideen.

Für das Lernen motivieren und das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler beachten Die Lernenden befinden sich während einer Unterrichtsstunde nicht durchgehend in einem hochmotivierten Zustand. Die Lehrkraft steht daher vor der Aufgabe, Motivationsschwankungen wahrzunehmen und mit diesen während des Unterrichtsverlaufs umzugehen. Hattie verweist auf ein Motivationsmodell in vier Phasen („phases of motivation“), wobei es sich im Kern um ein gegliedertes Lernmodell handelt: 







„See the gap“: Zunächst geht es darum, den Abstand zu erkennen zwischen dem Ort, an dem sich der Lernende gerade befindet, und dem, zu dem er sich im Lernprozess hin entwickeln soll. „Goal-setting“: Wenn dem Lernenden genügend Informationen vorliegen, geht es darum, eine Zielsetzung vorzugeben und einen geeigneten Weg dorthin zu planen. „Strategies“: Wenn das Ziel und eine Planung vorliegen, gilt es, geeignete Strategien auszuwählen, anzuwenden und einzuleiten, um das gesetzte Ziel zu erreichen. „Close the gap“: Der im ersten Schritt erkannte Abstand zwischen der Ausgangslage und der im zweiten Schritt vorgenommenen Zielplanung sollte nun nicht mehr bestehen. Wenn der Lernende seine erfolgreiche Zielerreichung erkennt, ist er bereit für weitere, sich anschließende Lernprozesse und Entwicklungen.

Hattie macht darauf aufmerksam, dass die Lernenden mit konkreten und oft weitreichenden Vorannahmen darüber in den Unterricht kommen, wie die Welt funktioniert und wie sich Grundaussagen zu bestimmten Themen in dieses Vorannahmen einfügen („preconceptions“). Für Lehrerinnen und Lehrer ist es unverzichtbar, bei ihren thematischen Angeboten für den Unterricht diese Zusammenhänge zu erkennen und auf eine Anschlussfähigkeit ihrer inhaltlichen Angebote hinzuwirken. Ohne eine Verankerung des neu Erlernten in den bisherigen konzeptuellen Vorstellungen der Lernenden ist ein nachhaltiges Lernen nicht möglich. Die Lernenden sollen schrittweise die Kontrolle über ihre Lernprozesse bekommen und diese selbstgesteuert umsetzen. Hattie unterscheidet bei diesem Prozess drei Phasen der Kompetenzentwicklung, die sich teilweise überlagern: Anfänger („novice“), Fortgeschrittener („capable“) und umfassend Fachkundiger („proficient“). Die Phasen sind jeweils auf überschaubare thematische Zusammenhänge gerichtet. Erreicht ein Lernender in einem Themenfeld die höchste Entwicklungsstufe, ist es Aufgabe der

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Lehrkraft, mit schwierigeren Aufgabenstellungen einen neuen Lernprozess anzustoßen. Dabei beginnt der Lernende erneut als „Anfänger“ und durchläuft alle Stadien bis zum „Fachkundigen“.

Jeder Schüler lernt anders: Differenzierte Lernangebote ermöglichen Lernerfolg Die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen in einer Klasse machen es erforderlich, dass Lehrpersonen ihren Schülerinnen und Schüler differenzierte Lernangebote („differentiation“) zur Verfügung stellen. Sie bewirken, dass möglichst alle Schülerinnen und Schülern die Ziele der Unterrichtsstunde sinnerschließend und effizient erreichen. Die Heterogenität in den Klassen erfordert angemessene Formen der Differenzierung im Unterricht, bei der es folgende Fragen zu berücksichtigen gilt: Ist der Lernende ein Anfänger, ein Fortgeschrittener oder ein Fachkundiger? Wo liegen seine Stärken? Welche Form der Unterstützung benötigt er, um bestehende Lücken zu schließen und die gesteckten Ziele zu erreichen? Über welche Lernstrategien verfügt er bereits? Welche zusätzlichen benötigt er? Es ist die Aufgabe der Lehrkraft – je nach Stadium der individuellen Lernentwicklung – unterschiedliche Lernwege anzubieten, die es den Lernenden ermöglichen, den Erfolgskriterien der jeweiligen Lernprozesse zu entsprechen.

Durch die Augen der Lernenden unterrichten Lehrpersonen sind nach Hattie lernfähige Expertinnen und Experten („adaptive experts“), die wissen, wo ihre Schülerinnen und Schüler in ihrer Lernentwicklung stehen. Sie wissen, ob sie gerade lernen oder nicht und wohin die Lernwege als Nächstes führen sollen. Lehrerinnen und Lehrer wirken zudem darauf hin, ein Klassenklima zu erzeugen, das erfolgreiche Lernprozesse fördert und unterstützt. Als lernfähige Experten verfügen sie über ein hohes Maß an Empathie und sehen die Lernprozesse auch aus der Perspektive der Lernenden. Hattie betont, dass es ihm nicht um routiniertes Expertenwissen geht. Vielmehr fordert er eine pädagogische Expertise, die sich an die jeweilige Handlungssituation anpasst („adaptive expertise“). Lehrpersonen sind in der Lage, vielfältige Wege des Verstehens und vielfältige Formen des Interagierens zu vermitteln, wobei sie zugleich vielfältige Gelegenheiten zum Handeln eröffnen. Eine „kognitive Flexibilität“ der Lehrerinnen und Lehrer ist bei der Ausgestaltung unterschiedlicher Verstehenswege in hohem Maß erforderlich. Sie stellt ein wesentliches Kriterium für guten Unterricht dar und nimmt mit der Anzahl der gewählten Perspektiven, Fakten, zu berücksichtigenden Fähigkeiten, Vorgehensweisen und tiefgreifenden konzeptuellen Prinzipien zu. Bei den Interaktionswegen ist zu beachten, dass die Schülerinnen und Schüler auch darin unterrichtet werden, wie Lernprozesse strukturiert sind und erfolgreich vorangebracht werden können. Komplexes Denken und Argumentieren wird im Unterricht beispielsweise dadurch gefördert, indem durch herausfordernde Problemvorgaben, eine Verunsicherung über das bisher Gelernte bei den Schülerinnen und Schülern ausgelöst wird. Das Hervorrufen von Hindernissen, Widersprüchen und Konflikten sollte als grundlegendes Gestaltungsprinzip von Lernprozessen gesehen und demensprechend von den Lehrpersonen thematisiert werden. Hattie empfiehlt Lehrerinnen und Lehrern, die Lernprozesse in ihrer Klasse stets aus der Perspektive der Lernenden zu sehen („to see learning through the eyes of students“). Dabei gilt es, in einem dialogischen Prozess sicherzustellen, dass auch die Lernenden ihre Lehrpersonen mit all jenen Informationen versorgen, die diese benötigen, um den Unterricht sachgerecht planen und durchführen zu können.

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Umgang mit Fehlern im Unterricht Zum erfolgreichen Lernen gehören neben den Inhalten, Themen und Konzepten des Unterrichts auch die Veranschaulichung durch einprägsame Beispiele sowie vielfältige Gelegenheiten zum Üben und Umschreibungen und Wiederholungen, die das Behalten fördern. Bei jedem Lernen kommen Fehler vor. Für die Lernenden ist es wichtig, bei Fehlern umgehend eine Rückmeldung durch die Lehrkraft zu erhalten, um die Ursache zu verstehen und den Fehler zukünftig zu vermeiden. Hattie hebt drei Grundsätze besonders hervor: 1. Zum Lernen neuer Inhalte muss die Bedeutung des vorherigen Wissens erkannt werden. 2. Das Neue muss mit dem Vorhandenen stabil verbunden werden, sodass konzeptuelles Verstehen entsteht. 3. Es geht darum, ein Denken über das Denken zu verankern und zu nutzen: Solche Formen der metakognitiven Reflexion bilden die Grundalge einer gelingenden Selbstregulation im Zuge von Lernprozessen. Lehrende und Lernende verfügen über vielfältige Strategien des Lernens. Die Zielsetzung und Zweckbestimmung für das Lernen haben sich nach Hattie als wirkungsmächtige Faktoren für ein erfolgreiches Lernens erwiesen. Als besonders wirksame metakognitive Strategien nennt Hattie -

eine Neustrukturierung des Unterrichtsmaterials (d = 0.85), sinnvolle Schlussfolgerungen aus Erfolgen und Misserfolgen zu ziehen (d = 0.70) und eigenständiges Lernen und ein Überprüfen dieses Lernens zu organisieren (d = 0.62).

In manchen Fällen kann es dabei erforderlich sein, dass die Lernenden – um neue und komplexe Lernstrategien anwenden zu können – bislang verwendete, aber weniger wirksame Verfahren „verlernen“ müssen („unlearning“). Lehrpersonen sollten ihren Planungen eine Art „Umkehr-Design“ („backward design“) zugrunde legen, indem sie von den gewünschten Ergebnissen her einen Lernprozess entwerfen und mit Materialien und Zwischenüberschriften hinterlegen, die ein Erreichen der definierten Erfolgskriterien ermöglichen.

Bewusste Lernpraxis, Konzentration und Beharrlichkeit Erfolgreiches Lernen erfordert nach Hattie vor allem zwei Fähigkeiten: bewusste Lernpraxis und Konzentration. Er macht nachdrücklich darauf aufmerksam, dass Lernen nicht ununterbrochen Spaß machen kann. Vielmehr ergeben sich für jeden Lernenden längere Phasen einer notwendigen, aber eben nicht immer angenehmen harten Arbeit, bis es gelingt, eine bestimmte Fähigkeit mit hinreichender Geschwindigkeit, Sicherheit und Effektivität auszuführen. Erfolgreiches Lernen erfordert von den Schülerinnen und Schülerinnen die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Selbstbeurteilung sowie zu sachgerechten Reaktionen. Hattie verweist in diesem Zusammenhang auf die häufig unterschätzte Bedeutung von Konzentration („concentration“) und Beharrlichkeit („persistence“). Gerade für Anfänger ist es von entscheidender Bedeutung, dass es während des aktiven Lernprozesses wenig Ablenkung von den Inhalten und den Erschließungsmethoden gibt. Dies sicherzustellen, ist eine fortlaufende Aufgabe der unterrichtenden Lehrpersonen.

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Lerner- und sachbezogenes Feedback befördert guten Unterricht In seinen Publikationen geht John Hattie immer wieder auf die herausragende Bedeutung ein, die einem lernerbezogenen, sachbezogenen, häufigen Feedback zukommt. Diese Feedback-Form dient dem Zweck, die Lücke zwischen der Lernausgangslage und dem jeweiligen Ziel eines Lernprozesses zu schließen. Die Evidenz der Wirksamkeit hat Hattie in seiner Studie „Visible Learning“ eindrucksvoll herausgearbeitet, wo ein durchschnittliches Effektmaß von d = 0.79 berichtet wird. Damit zählt das formative Feedback zu den wirksamsten Interventionen beim Unterrichten. Hattie schlägt vor, dieses Feedback im Unterricht als Antwort auf drei Fragengruppen zu verstehen: 1. „Where am I going?“ Wohin bewege ich mich in meinem Lernprozess? Was sind dabei meine Ziele? 2. „How am I going?“ Wie komme ich voran? Welchen Fortschritt kann ich hinsichtlich meiner Ziele erkennen? 3. „Where to go next?“ Wohin bewegt sich mein Lernprozess im nächstfolgenden Teilschritt? Was ist zu veranlassen, damit sich ein noch besseres Vorankommen ergeben kann? Die Schlüsselkomponenten der ersten Frage („Where am I going?“) hängen eng zusammen mit den Lernintentionen der Unterrichtseinheit, ihren Zielen, der Klarheit der Wegbeschreibung zu diesen Zielen, der Herausforderung und der Motivation der Aufgaben sowie dem Engagement und der Leistungsbereitschaft der Lernenden. Der Schlüssel liegt nicht allein bei der Lehrkraft; auch die Lernenden müssen mit dem angestrebten Lernprozess einverstanden und motiviert sein, den unterrichtlichen Lernprozess mitzugestalten. Hinsichtlich der zweiten Frage („How am I going?“) geht es darum, die Schülerinnen und Schüler zu motivieren, an der Klärung und der Übernahme der Lernintentionen und der Erfolgskriterien aktiv mitzuwirken, die Diskussionen in der Klasse voranzubringen und ein Feedback zu geben, das die Lernenden auf ihrem Weg voranbringt, indem es sie aktiviert. Die Bestimmung des nächsten Lernschritts („Where to go next?“) zielt auf die Fähigkeit, die jeweils richtigen Lernstrategien auszuwählen – oder sie gegebenenfalls neu zu erlenen –, um zu einem tieferen, komplexeren Verständnis der gerade zu bearbeitenden Aufgabe zu kommen. Die Schülerinnen und Schüler sollen dazu ermutigt werden, ihre eigenen Fragen und Antworten einzubringen, zu diskutieren und kritisch zu reflektieren.

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Das Feedback-Modell nach Hattie

Aufgabe, Prozess, Selbstregulierung – Elemente eines wirksamen Feedbacks Lehrpersonen sollen es als eine Kernaufgaben ansehen, ihren Schülerinnen und Schülern regelmäßig Feedback zu geben. Die dabei zu berücksichtigenden Ebenen sind   

die Aufgabe („task – where am I going?“), der Prozess („process – how am I going?“) und die Selbstregulierung und Weiterarbeit („self-regulation – where to go next?”).

Auf der Ebene der Aufgabe und des Produkts geht es um eine informative inhaltliche Rückmeldung, oft mit einer Aussage dazu, ob ein Produkt als falsch oder als richtig eingestuft wird und woran sich dies zeigt. Auf der Prozess-Ebene handelt es sich um die Einschätzung der Vorgehensweise und der dabei verwendeten Verfahren. Auf der Ebene der Selbst-Regulierung erfolgt die Überwachung der eigenen Lernschritte und -prozesse. Hattie macht darauf aufmerksam, dass Feedback-Aussagen des Lobes, gerichtet an die Persönlichkeit der Lernenden, durchaus ihre Bedeutung für die Motivation haben, aber von den zuvor angesprochenen Ebenen eines formativen Feedbacks unterschieden und auch getrennt davon verwendet werden sollten. Von besonderer Bedeutung ist es, dass Feedback-Äußerungen auch tatsächlich den einzelnen Schüler und die einzelne Schülerin erreichen. Bei Formen des Feedbacks, die sich eher an die ganze Klasse richten, kann nicht sichergestellt werden, ob die einzelnen Lernenden dies auch tatsächlich auf sich selbst und ihren Lernprozess beziehen können. Entscheidend sind daher die Häufigkeit und die Qualität des Feedbacks, das den einzelnen Lernenden konkret weiterhilft, indem es ihnen Orientierung und Unterstützung bietet.

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Fehlerfreundliches Unterrichtsklima ist für Feedback-Kultur grundlegend Ein „fehlerfreundliches Unterrichten“ ist im Zusammenhang der hier dargestellten Feedback-Kultur von großer Bedeutung. Fehler sollen dabei als Lerngelegenheiten gesehen werden. Formen der Beschämung oder Bloßstellung sind auf jeden Fall zu vermeiden. Was für den Umgang zwischen Lehrenden und Lernenden gilt, sollte genauso für offene kollegiale Diskussionen gelten. Auch hier bilden Fehler, die beim Unterrichten geschehen, Gelegenheiten zum Lernen und zur Fehlervermeidung bei der Weiterarbeit. Schülerinnen und Schüler sollten darin unterwiesen werden, die formativen Einschätzungen ihrer Leistungen im Zuge des unterrichtlichen Feedbacks so zu nutzen, dass sie ihre Lernprozesse selbstständig weiterführen, bei Bedarf korrigieren und ihre Lernergebnisse verbessern können. Feedback als häufige und schnelle Rückmeldung zum Lernverlauf („rapid formative assessment“) zählt nach Hattie zu den wirkungsvollsten Verfahren, um die Unterrichtsqualität zu erhöhen und die Schülerleistungen zu verbessern. Für erfolgreiche Lernprozesse sind nach Hattie fünf Kriterien grundlegend:     

Effektives Feedback wird allen Lernenden regelmäßig gegeben. Die Schülerinnen und Schüler sind aktiv in ihren eigenen Lernprozess eingebunden. Die Unterrichtsaktivitäten stellen Antworten auf die Einschätzung der individuellen Lernprozesse dar. Die Lernenden sind in der Lage, sachgerechte Selbsteinschätzungen zu entwickeln. Der Einfluss des Feedbacks auf die Motivation und die Selbsteinschätzung der Lernenden wird angemessen berücksichtigt.

In bestimmten Phasen des Lernprozesses kann es nach Hattie notwendig sein, für die Lernenden unterstützende „Leitplanken“ im Unterricht zu setzen, um den Lernprozess insgesamt zu stabilisieren („scaffolding“) und in die gewünschte Richtung zu lenken. Die Leitplanken müssen aber rechtzeitig wieder aus dem Prozess herausgenommen werden, wenn ihre Aufgabe erfüllt ist oder Orientierungshilfen nicht mehr erforderlich sind.

Der Unterrichtsverlauf aus Sicht der Lernenden: Das Peer-Feedback Hattie schlägt vor, die Lernenden nach den Wirkungen des gegebenen Feedbacks zu fragen. Interessant erscheint hierbei, dass bis zu 80 % des gesamten Feedbacks in Lerngruppen durch die Schülerinnen und Schüler untereinander gegeben wird („peer feedback“). Daher ist es wichtig, an der Qualität und Akzeptanz dieser Rückmeldungen aktiv zu arbeiten. Hattie unterscheidet mit Blick auf das angesprochene Peer-Feedback drei Ebenen solcher Rückmeldungen:   

Feedback auf der Aufgabenebene: Was ist falsch/richtig? Was wurde gut/falsch gemacht? Feedback auf der Prozessebene: Welche Strategien wurden verwendet? Wie wird eine richtige/falsche Antwort erklärt? Feedback auf der Ebene der Selbstregulierung: Wie kann die Arbeit durch den Lernenden selbst kontrolliert werden? Wie können die vorliegenden Informationen ausgewertet werden? Wie kann das Lernen reflektiert werden?

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Lehrpersonen, die mit dem hier entwickelten Feedback-Modell unterrichten, achten dabei auf folgende Aspekte:     

Ihnen ist es ein Anliegen, wie die Lernenden das Feedback aufnehmen und verarbeiten. Sie wissen, dass die Lernenden ein Feedback zu ihrem Vorankommen einem korrigierenden Feedback vorziehen. Sie wissen, dass die Lernenden mehr auf Feedback achten, wenn sie an herausfordernden Zielen arbeiten. Sie unterrichten bewusst die Lernenden dahingehend, Feedback nachzufragen und zu verstehen. Sie kennen den Wert des Peer-Feedbacks und zeigen den Lernenden, wie sie ihren Mitschülerinnen und Mitschülern ein angemessenes Feedback geben können. Das Feedback soll in erster Linie auf die Aufgabe, nicht auf den Lernenden bezogen sein. Es soll fokussiert, spezifisch und klar sein.

Das Ende der Unterrichtsstunde John Hattie weist nachdrücklich darauf hin, dass der Unterricht mit dem Ende der Stunde keineswegs abschlossen ist. Es kommt vielmehr darauf an, die während der letzten Unterrichtsstunde stattgefundenen Lernprozesse gemeinsam mit den Lernenden zu reflektieren, ohne dabei jedoch in nachträgliche Rechtfertigungen zu verfallen, wie Hattie dies oft beobachtet hat. Gegenstand der Reflexion ist eine Analyse darüber, wie die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler vorangekommen sind, oder aber – mit Blick auf die Lehrkraft –, welche Wirkungen das Unterrichtshandeln auf die Lernenden gehabt hat. Der Unterricht sollte so gestaltet sein, dass sich alle Schülerinnen und Schüler eingeladen fühlen, an Lernprozessen auf der Grundlage von Respekt, Vertrauen und Optimismus teilzunehmen. Hinzu kommt die Kontrollfrage, ob die Planung der Unterrichtsstunde so angelegt war, dass alle Schülerinnen und Schüler zu effizientem Lernen eingeladen wurden.

Zusammenfassung: Das Hattiesche Idealbild von Lehrenden und Lernenden Die von Hattie beschriebene Lehrkraft verfügt über Wärme, Vertrauen, Empathie und die Fähigkeit, positive menschliche Beziehungen aufbauen zu können. Den Lernenden gegenüber zeigt sie Offenheit und Fairness sowie die Fähigkeit zum Dialog und zur Zusammenarbeit. Die Lehrpersonen holen sich aktiv Rückmeldungen dazu ein, -

inwieweit es ihnen gelungen ist, einen Wandel hin zu einem besseren Lernen zu bewirken, welches Maß an Inspiration sie vermitteln konnten und ob sie ihre Leidenschaft für ihr Fach an die Lernenden weitergeben konnten.

Die Schülerinnen und Schüler diskutieren untereinander das beabsichtigte Lernen und die ihnen zugeordneten Erfolgskriterien. Dabei überprüfen sie, ob die Lernenden in der Lage sind, die Lernziele und Erfolgskriterien angemessen zu formulieren, ob sie die Erfolgskriterien erfüllen können und diese für hinreichend herausfordernd halten. Hattie geht es darum, dass die Lehrerinnen und Lehrer genau diese Informationen verwenden, wenn sie daran gehen, die nächste Lehr-/Lerneinheit zu konzipieren.

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Zudem sollten Lehrpersonen im Unterricht Gelegenheiten für ein formatives und summatives Verständnis des Lernens schaffen und diese Analysen zur Planung ihrer Entscheidungen zum künftigen Lernen und Unterrichten in der jeweiligen Klasse nutzen. Auch hier unterstreicht Hattie sein generelles Anliegen, das Lehrende ihren Unterricht stets aus der (Lern-)Perspektive ihrer Schülerinnen und Schüler reflektieren sollten: Demnach endet jede Unterrichtseinheit damit, dass die Lehrpersonen den Lernertrag aus der Sicht der Lernenden und vor dem Hintergrund der beabsichtigten Lernintentionen reflektieren und Schlussfolgerungen für den weiteren Unterrichtsverlauf ableiten.

Literatur Hattie, John A. C.: Visible Learning: A Synthesis of Over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. London, New York 2012. Hattie, John A. C.: Visible Learning for Teachers. Maximizing Impact on Learning. London, New York 2009 Jean: Piaget: Das Wachsen des logischen Denkens von der Kindheit bis zur Pubertät, 1958

Vorschau auf Teil 3: In der nächsten Ausgabe werden Grundlagen der Hattieschen Konzeption erläutert. Eine wesentliche Rolle spielen dabei Fragen des Gesamtsystems, die Schulleitung und das Modell des Wandels.

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