G. Lämmermann Hochzeitsnacht und Traualtar 1 Die Ehe im Wandel ihrer Geschichte

July 18, 2016 | Author: Gerd Holzmann | Category: N/A
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1 G. Lämmermann Hochzeitsnacht und Traualtar1 Die Ehe im Wandel ihrer Geschichte Nach liebgewordener Gewohnheit rechnen wir zu den Institutionen, die sich gegenwärtig in der Krise befinden, auch - und vor allem - die Ehe. Denn die Zahl der Scheidungen steigt und die der Eheschließungen sinkt (so in den 44 Jahren zwischen 1950 und 1994 um ca 50%2); in den Großstädten geraten die Verheirateten in die Gefahr, tendenziell zu einer Minderheit zu werden. “Nur 60 Prozent der Bevölkerung in der BRD ... war Ende der siebziger Jahre von der gesellschaftlichen Notwendigkeit der Ehe überzeugt”3 Und: jeder 5. Mord geschieht in einer Ehe. Angesichts dieser Tendenz wird nicht wenigen “die einheitliche Ehensform ... immer zweifelhafter”4 (R. Herzog). Andere stemmen sich vehement gegen diese Trends, nicht zuletzt die EKD. In ihrer Stellungnahme zum Familienrecht erklärte sie, sie wolle zwar nichteheliche Lebensgemeinschaften nicht diffamieren, sie könne sie aber auch nicht gutheißen. Die eigentliche Aufgabe der Kirche sei es vielmehr, die Ehe als Verheißung Gottes zu bekunden. In diesem Zusammenhang spricht die EKD gar von einem casus confessionis, also einem Bekenntnisfall. M. Josuttis hat im Blick auf solche Äußerungen gefragt, ob nicht vielleicht “die Kirche mit der Ehe verheiratet”5 sei; die Ehe sei jedenfalls innerkirchlich “zur positiven Norm geworden ... und in Einzelaussagen beinahe in die Nähe eines Glaubensartikels gerückt”6. Tatsächlich ist vor allem für viele Christen die Ehe das Ideal einer geglückten Lebensgemeinschaft schlechthin. Auch weniger religiöse Menschen schätzen - wie die Meinungsbefragung zeigt -

die Ehe hoch; selbst 71% der Unverheirateten können “sich

vorstellen, daß sie einmal heiraten werden”7. Im Allgemeinen gilt uns die exklusiv monogame, lebenslang geschlossene und von Staat wie Kirche abgesegnete Ehe als die selbstverständlichste aller Formen einer Gemeinschaft von Mann und Frau. Selbst noch die 1

Der Vortrag wurde im Rahmen einer Vortragsreihe über die Ehe gehalten. Anlaß dazu waren kirchliche Auseinandersetzungen, die durch die Entlassung des Leiters einer Erwachsenenbildungseinrichtung durch die Kirchenleitung wegen “ehewidrigen Verhaltens”, ausgelöst wurden. 2 Vgl. Statistisches Jahrbuch 1996, S. 71 3 R. Köcher, Einstellungen zu Ehe und Familie, 1985, S. 134 4 Zit. Nach Helle, Kulturanthropologische Synopse der Ehe, in: H. Bogenberger u.a. (Hg.), Kontinuität und Wandel der Ehe, S. 26 5 M. Josuttis, Gottes Liebe und Lebenslust: Beziehungsstörungen zwischen Religion und Sexualität, 1994, S. 50 6 A.a.O., S. 53 7 Köcher, a.a.O., S. A22

2 nicht-eheliche Gemeinschaft wird vom Volksmund unter die Kategorie “Ehe” gebracht; sie gilt als “wilde Ehe” - nicht, weil es in ihr besonders wild und animalisch zuginge, sondern weil sie von der Norm des Üblichen abweicht, sozusagen Wildwuchs ist. Fassen wir unser landläufiges Eheverständnis zusammen, so besagt es etwa folgendes: (1.) Ehen entspringen aus Liebesbeziehungen, normal ist also die Liebesheirat. (2.) Meinen wir, daß die uneingeschränkte Möglichkeit, eine Ehe eingehen zu können, ein Grundrecht ist. (3.) Sagt unser Allgemeinverständnis, daß niemand zum Heiraten gezwungen werden darf. (4.) meinen wir, daß Ehen monogam zu sein haben. (5.) Sollen Ehen prinzipiell auf Lebenszeit geschlossen sein; Scheidungen gelten - selbst in ihrer überzufälligen Häufung - als systemwidrige Unfälle. (6.) Gilt die Ehe vorrangig als eine Privatangelegenheit. Aus diesem Grund hat es unverzeihlich lange gedauert, bis die Vergewaltigung in der Ehe endlich strafbar wurde - und es gibt weiterhin darüber Streit, ob hier das Strafrecht nicht in die Privatsphäre eindringt. Diese gängigen Vorstellungen von Ehe gelten uns als natürlich oder zumindest doch als christlich; Abweichungen davon erscheinen demgegenüber als degenerierter Kultur- und Sittenverfall. Doch der Blick in unsere Geschichte und über die Grenzen unserer Kultur hinweg zeigt, daß die Selbstverständlichkeit unserer Vorstellung gar nicht so selbstverständlich ist, sondern “letztlich eben doch zeitbedingtes Ehemuster”8. Wer neugierig in die Geschichte der Ehe hinein fragt, der muß sich zunächst die Unterscheidung zwischen Ideen und einer geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit vergegenwärtigen. So gab es z.B. natürlich von Beginn des Christentums an ein wörtliches Verständnis des jesuanischen Scheidungsverbots. Und dennoch gab es durchgängig - trotz Verboten und Tabuisierungen - die Ehescheidung auch im christlichen Abendland. Geändert haben sich nur die jeweiligen Hürden und die Gruppe der Scheidungsberechtigten. Im Judentum war die Scheidung noch ein sehr einfach zu handhabendes, heute als frauenfeindlich zu beurteilendes Recht jedes Mannes. Obwohl sich das Scheidungsverbot Jesu gegen diese Praxis richtete, erlaubten die Kirchenväter des 4. u. 5. Jahrhunderts dennoch problemlos allen Männern Scheidung und Wiederverheiratung9; im Hochmittelalter wurde dies zum adeligen Privileg. Bis sich das kirchliche Eherecht durchsetzte (also ab dem 10. Jahrhundert) wurden Scheidungen und Mehrfachehen weder als moralisches noch als soziales noch als juristisches 8

M. Wingen, Nichteheliche Lebensgemeinschaften, in: H. Bogenberger, a.a.O., S. 59 vgl. R. Weigand, Wie unauflöslich ist die Ehe? Kirchenrechtsgeschichtliche Aspekte einer aktuellen Problematik, in: A. Franz (Hg.), Glauben - Wissen - Handeln, 1994, S. 164 9

3 Problem angesehen; sie waren einfach normal10. Erst mit dem kirchlichen Recht wurde das dort anders, wo dieses Recht auch tatsächlich durchgesetzt werden konnte, nämlich auf dem Land und in den Städten - nicht aber auf den Burgen und Schlössern. Den normalen Bürgern wurde kirchenrechtlich nun zwar eine Trennung von Tisch und Bett zugebilligt, aber keinesfalls eine Wiederverheiratung. Geschiedene waren im Mittelalter zum zölibatären Leben verpflichtet - zumindest der Theorie nach. Denn die Ehe bestand - auch nach Trennung - kirchenrechtlich fort. Trotz seiner Kritik am sakramentalen Verständnis der Ehe lehnte auch Luther die Ehescheidung grundsätzlich ab. Im calvinistischen Bereich hingegen war - dem “nicht-sakramentalen Eheverständnis entsprechend - ... eine Scheidung prinzipiell möglich”11, weil sie wie die Ehe ganz als weltliches Ding galt. Gleichwohl wurden faktisch hohe Scheidungshindernisse aufgebaut - und zwar deshalb, weil die Ehe eben als Stand und göttliche Anordnung galt. Wenn eine konkrete Ehe diese Vorgabe nicht erfüllte, war sie scheidbar. Um das festzustellen, wurde die Ehe im Calvinismus zum bevorzugten Gegenstand der Kirchenzucht. Wenn man aber von der Geschichte der Scheidung und der Wiederverheiratung reden wollte, dann müßte man z.B die geänderten Lebenserwartungen bedenken. Im 18. Jahrhundert lag die generelle Lebenserwartung bei ca. 35 Jahren und eine durchschnittliche Ehe dauerte nur 5,5 Jahre; für den Anfang dieses Jahrhunderts hat man eine statistische Ehedauer von 17 Jahren errechnet12. Die Wahrscheinlichkeit einer Goldenen Hochzeit war also bis in dieses Jahrhundert hinein äußerst gering. Wir müßten weiter an die hohe Müttersterblichkeit denken und daran, daß ein älterer Mann am Ende seines Lebens mehrfach verheiratet war. Oftmals - wie in ländlichen Bereichen - noch vor Ende der Trauerzeit, nämlich meist bis zum Beginn der Ernte. Bauernehen waren ebensowenig Liebesehen wie die anderen. 1. Zur Geschichte der Ehe und ihrer Formen Die Ehe war im frühen Christentum alles andere als ein Ideal. Bekanntlich war es für Paulus besser, nicht verheiratet zu sein. Nur für jene, die in ihrer Schwachheit nicht keusch leben 10

Vgl. W. Selb, Zur Christianisierung des Eherechts, in: D. Simon (Hg.), Eherecht und Familiengut in Antike und Mittelalter, 1992, S. 12ff 11 H. Schilling, Frühneuzeitliche Formierung und Disziplinierung von Ehe, Familie und Erziehung im Spiegel calvinistischer Kirchenratsprotokolle, in: P.Prodi u.a., Glaube und Eid: Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit, 1993, S. 207 12 vgl. Kramer, Ehe war und wird anders, 1982, S. 110ff

4 könnten, sei die Ehe eine Hilfskonstruktion zur Eindämmung von Unzucht. Letzterem stimmte auch Luther zu; auch für ihn war die Ehe kein christliches Ideal, sondern ein von Gott eingesetztes Hilfsmittel gegen Ausschweifungen: “Und ist das etwas geringes, daß durch (die Ehe, G.L.) die Hurerei und Unkeuschheit unterbleibt und gewehret wird”13, heißt es bei ihm. Nicht als schlechtere Alternative, sondern als genau das gleiche “wie die Hurerei” selbst sah Tertullian Ende des 2. urchristlichen Jahrhunderts die Ehe an. Johannes Chrysostomos erklärte gar, “wo der Tod ist, da ist die Ehe, und wo keine Ehe, da ist auch kein Tod”14. Die Ehelosigkeit galt in der frühen Kirche offensichtlich also als Garant für ewiges Leben. Christliches Ideal war das asketisch-zölibatäre Leben und nicht die Ehe. Als schädlich für das Seelenheil galt dementsprechend auch - wie z.B. beim Heiligen Hieronymus - die allzu brennende Liebe für die eigene Frau. Die Warnung, sich gegenüber der Gattin nicht zu übermäßiger Liebe und Leidenschaft hinreißen zu lassen, durchzieht die gesamte seelsorgerliche Literatur seit Anbeginn an. Demgemäß sollten die ehelichen Pflichten auch nur “in natürlicher Stellung” und an den wenigen dafür vorgesehenen Tagen absolviert werden.15 Die Anzahl der Tabutage, an denen man auf ehelichen Verkehr verzichten mußte, wuchs. Sogenannte unnatürliche Stellungen galten als schwere Sünden mit entsprechenden Bußauflagen. Hinter dem Verbot der ehelichen Lust, Liebe und Leidenschaft stand theologisch die Angst, daß die Liebe zum Partner/Partnerin die Liebe zu Gott verdrängen könne. Und in der Tat machte - wie bereits die französische Schriftstellerin Madame de Stael auf ihrer Deutschlandreise 1810 durchaus bewundernd feststellte16 - die Erfindung der romantischen Liebe im 19. Jahrhundert diese teilweise zum Religionsersatz. Vorher jedoch heiratete man in der Regel keinesfalls zum Vergnügen. 1.1 Die “eheliche Treue” oder: Zum Monopol der Einehe

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Zit. Nach Beuys, Familienleben in Deutschland. Neue Bilder aus der deutschen Vergangenheit, 1980, S. 226 14 K. Deschner, Sexualität und Kirche - ein geschichtlicher Überblick, in: N. Kluge (Hg.), Handbuch der Sexualpädagogik, Bd. 1, Düsseldorf 1984, S. 194 15 Vgl. J.-L. Flandrin, Das Geschlechtsleben der Eheleute in der alten Gesellschaft, in: Ph. Ariès u.a., Die Maske des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, Frankfurt 1984, S. 148ff. 16 vgl. P. Borscheid, Geld und Liebe. Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Partnerwahl im 19. Jahrhundert, in: Borscheid/ Teuteberg (Hg.), Ehe, Liebe Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit, Münster, 1983, S. 117

5 Angesicht der Selbstverständlichkeit, die Ehe als Grundform partnerschaftlichen Lebens bei uns hat, irritiert, daß sich nicht in allen Sprachen tatsächlich auch ein Wort für das, was wir Ehe nennen, finden läßt. Offensichtlich ist das “Natürliche” nicht so natürlich wie unterstellt wird. In der hebräischen Bibel z.B. gibt es “keinen Terminus für ‘Ehe’ oder ‘Heiraten’.”17 Unzweifelhaft waren die alttestamentlichen “Ehen” zunächst nicht monogam, sondern polygam. Es gab bei den Erzvätern Haupt- und Nebenfrauen, und es gab bekanntlich die Leviratsehe, also die Verpflichtung, die Frau eines verstorbenen Bruders zu heiraten. In der Richterzeit noch “konnte jeder schlichte Bauer zwei Frauen haben”18. Erst spätere Zeiten setzten die Einehe als “normal” voraus. Von dieser Beobachtung ausgehend, könnte man fragen, ob es so etwas wie eine Evolution der Eheformen gibt, etwa dergestalt, daß sich aus der ursprünglichen Polygamie die Monogamie als eine höhere Kulturstufe entwickelte. Tatsächlich vertraten die Ethnologen des 19. Jahrhunderts eine derartige Auffassung19. Aufgrund der Beobachtung bei Naturvölkern und historischen Quellen meinte man, daß die Menschen ursprünglich in Promiskuität lebten. Das hatte mehrere Vorteile, z. B. daß sich in der Rivalität der Männer untereinander über die erstrebenswertesten Frauen die stärksten durchsetzten und so der Stamm lebensfähiger war. Zudem wurde die Bande unter den Stammesmitgliedern sexuell fundiert20. Drittens wurde die Aufzucht der Kinder so zu einer Gemeinschaftsaufgabe. Der Nachteil bestand nun aber darin, daß hier Vaterschaften nicht mehr eindeutig geklärt werden konnten. Weil nur die Mütter - nicht aber die Väter - gewiß waren, entwickelte sich auf dem Boden der Promiskuität - so behaupteten die Mutterrechtsforscher des 19. Jahrhunderts - eine matriarchalische Gesellschaft. Im Zuge der Patriarchalisierung erfolgte dann die zweite Entwicklung, nämlich hin zur Polygamie, die wir in der Regel mit Polygynie, Vielweiberei, identifizieren und seltener mit Polyandrie, der Vielmännerei. Tatsächlich gibt es aber auch polyandrische Eheformen, in denen in der Regel eine Frau mit mehreren Brüdern verheiratet ist. Wir finden solche Formen heute noch in Teilen Indiens, in Tibet, Polynesien oder Arabien.

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TRE, Bd. IX, S. 311 Kramer, a.a.O., S. 135 19 Vgl. Teuteberg, Zur Genese und Entwicklung historisch-sozialwissenschaftlicher Familienforschung in Deutschland, in: P. Borscheid/ H.J. Teuteberg, a.a.O., S. 44ff 20 vgl. D. La Chapelle, Geheiligtes Land - geheiligte Sexualität. Über die Wechselwirkung zwischen unserer Einstellung zur Erde und unserer Leiblichkeit, 1990, S. 13ff 18

6 Bevölkerungsstatistisch gesehen haben sich Polyandrien vor allen Dingen in Zeiten extremen Frauenmangels entwickelt. Häufiger ist die Polygynie, also die Ehe eines Mannes mit mehreren Frauen. Wir finden sie vor allen Dingen dort, wo ausschließlich Feldwirtschaft betrieben wurde. Insofern waren Ehefrauen eben billige Arbeitskräfte. In promiskuitiven matriarchalischen Gesellschaften konnte jedoch “die Vaterschaft eines Neugeborenen oder (Kindes, G.L.) ... nicht eindeutig festgestellt werden”21; dies wurde in den landbesitzenden, patrilinearen Gesellschaften aus Erbgründen ein absolutes Muß. Nicht die Ethik, sondern Erbrechtsfragen sind der eigentliche Motor in der Entwicklung der Eheformen. Bekanntlich ist die Polygamie - zumindest theoretisch - in der islamischen Welt verbreitet. Zu den sicher wichtigsten Errungenschaften Mohammeds ist die Einschränkung der Polygamie auf vier Frauen zu rechnen; in vorislamischer Zeit war die Anzahl der Frauen offensichtlich unbegrenzt; zugleich hatten sie zwar viele Pflichten, aber wenig Rechte; durch den Koran wird die Gleichbehandlung aller Ehefrauen zur Pflicht. Polygamien - so hat z. B. Albert Schweizer aufgrund seiner Beobachtungen in Afrika festgestellt - entwickeln sich überall dort, wo Nahrung knapp ist und deshalb Kinder lange gestillt werden müssen: Um einerseits den Arbeitsausfall zu kompensieren und andererseits die - ebenfalls für die Arbeit notwendige - Nachkommenschaft zu sichern, war die Vielweiberei die durch die Umstände bedingte optimale Form der Ehe. Zudem war sie - vor Erfindung des Rentensystems - eine mögliche Form der Witwenversorgung. Historisch gesehen - so behaupteten die Ethnologen des 19. Jahrhunderts - hätte es die Polygamie bis ins frühe Mittelalter hinein auch in Europa gegeben. Erst in der weiteren Kulturentwicklung monopolisierte sich die Einehe als Ideal und dann letztendlich auch als soziale Wirklichkeit heraus. Gegen diese evolutionistische Auffassung steht diametral eine andere Rekonstruktion. Sie geht zurück auf romantische Vorstellungen und auf das Ideal natürlicher Ursprünglichkeit, wie es z. B. von Rousseau entwickelt wurde. Angenommen wird hier, daß die nun als “edel” bezeichneten Wilden22 in einer Ur-Monogamie gelebt hätten. Diese Ursprünglichkeit sei - wie alles andere auch - im Zuge der Kulturentwicklung zerstört worden; insofern seien Promiskuität und Polygamie Verfallserscheinungen. Beide Interpretationsmuster gelten in ihrer Einseitigkeit heute als nicht mehr haltbar. Wahrscheinlich kann man bei der Ehe überhaupt nicht von einer Entwicklungslogik sprechen. Offensichtlich existierten und existieren auch heute noch Promiskuität, Polygamie und 21 22

H.J. Helle, a.a.O., S. 22 Vgl. Teuteberg, a.a.O., S. 27f

7 Monogamie nebeneinander; sie sind sozusagen gleichursprünglich und allgemein menschlich. Allerdings dominiert weltweit gesehen die Monogamie eindeutig. Ein Blick auf die europäische Kulturgeschichte ergibt folgendes Bild von der Normativität der Ehe: Im antiken Griechenland hatte die Ehe einen hohen Stellenwert; der “berühmte Gesetzgeber Solon erwog einst sogar, eine Ehepflicht einzuführen”23. Dies widerspricht nicht der Tatsache, daß Homosexualität im alten Griechenland durchaus goutiert wurde. Denn offensichtlich war der Hauptzweck der Ehe das Zeugen und Aufziehen von Kindern, nicht aber die Liebesbeziehung. Diese konnte man vielmehr eher außerhalb der Ehe - und als Mann vor allem bei Männern - finden. Überall dort, wo wir eine hohe kulturelle Akzeptanz der Homosexualität finden, schreitet diese mit einer Geringschätzung der Ehe ein. Und umgekehrt: je mehr die Ehe hypostasiert ist, um so grausamer ist die Verfolgung homoerotischer Beziehungen. Was nun die promiskuitive Grundeinstellung der Antike betrifft, so läßt diese sich sehr gut an ihren Göttersagen und z.B. an den Darstellungen auf Vasen und anderen Gefäßen belegen. Zwar zeigen diese nicht die griechische Wirklichkeit die dort dargestellten lustvollen Leidenschaften konnten sich nur wenige leisten - aber sie zeigen doch das generelle Ideal, das man auf die Göttern projizierte oder das man - im Rahmen der üblichen Tempelprostitution - an heiligen Orten vollzog. In Rom bestand kein öffentliches Interesse an der Eheschließung; sie war vielmehr ein privates Abkommen zwischen einem Vater und einem potentiellen Ehemann. Durch die Verheiratung ging die Frau aus der Bevormundung des ersten in die des zweiten über. Römische Frauen hatten keinen eigenen Rechtsanspruch, sie galten vielmehr - neben Kindern und Vieh - als Eigentum ihres Mannes bzw. vorher ihres Vaters. Deshalb konnte man sie - in früher römischer Zeit - auch kaufen und verkaufen. Solche Kaufehen gab es z.B. im angelsächsischen Bereich sicher noch bis zum Beginn der Kreuzzüge24. Das Bild der Ehe änderte sich in der Kaiserzeit sukzessive. Reliefs zeigen uns sehr häufig Ehepaare, die augenscheinlich relativ gleichberechtigt waren. Offensichtlich waren aber nur wenige Römer geneigt, solche festen Verbindungen einzugehen, so daß die Kaiser gelegentlich über Zwangsehen nachdachten. Auf drei unterschiedliche Weisen konnte in Rom die Eheschließung vollzogen werden: 1. durch den privaten bilateralen Vertrag, 2. durch eine öffentliche Zeremonie, die aber weder staatlich noch rechtlich war, und 3. bei höheren 23

Häberle, Die Sexualität des Menschen. Handbuch und Atlas, 2.Aufl., Berlin u.a., 1985, S. 148 24 Vgl. G.R. Taylor, Kulturgeschichte der Sexualität, 1977, S.

8 Ständen durch eine ausgedehnte Feierlichkeit, bei der auch ein Priester anwesend sein mußte. Unstandesgemäße Ehen waren den Höhergestellten per Gesetz verboten25; dafür war ihnen das Konkubinat gesetzlich erlaubt. Bei den Germanen finden wir drei bis vier Eheformen: die Raubehe, die Muntehe, die Friedelehe und die Kebsehe. Die germanische Raubehe währte noch lange in die christliche Zeit hinein; wenn etwa im 13. und 14. Jahrhundert die Stadt- und Landrechte durchgängig Raubehen verurteilen, dann mag das zu dieser Zeit noch ein relevantes Phänomen gewesen sein26. Die Sakramentalisierung der Ehe war u.a. auch gegen diese anhaltende Tradition der germanischen Raubehe gerichtet27. Raubehen gab es zwar auch in Rom; im germanischen Bereich aber scheinen sie wohl eine durchaus legitime Form gewesen zu sein. In der Muntehe schlossen zwei Sippen einen Vertrag, in dem die Übergabemodalitäten der Braut an den Bräutigam geregelt und der sogenannte Muntschatz, so etwas wie der Brautpreis, festgelegt wurde28. Die Zustimmung der Frau war hierbei nicht vorgesehen, sie war bloßes Objekt des Rechtsgeschäfts, das sie von der Munt des Vaters in die des Mannes überführte. Dieses germanische ”truve-Verfahren” findet sich - z.B. im reformierten Emden - in protestantischen Eheordnungen des 17. Jahrhunderts wieder. Die Muntehe war relativ exklusiv; eine zweite Muntehe durfte nicht geschlossen werden; wohl aber eine der beiden anderen: Die Friedelehe beruhte auf der freien Übereinkunft eines Mannes und einer Frau als selbständige Partner. Statt der Zahlung an die Sippe wurde hier eine Morgengabe als Brautschatz an die Frau übergeben, diese Morgengabe war so etwas wie eine Rentenversicherung. Zwar hatte die Ehefrau in der Friedelehe güter- und erbrechtliche Ansprüche. Die waren aber offensichtlich schwierig durchzusetzen, vor allem, wenn zusätzlich eine Muntehe vorlag. Gültig wurden diese “vertragslosen” Ehen ganz einfach: nämlich durch Vollzug des Geschlechtsakts; danach galt die Frau als “Genossin” des Mannes. Diese Ehen waren sehr leicht auflösbar. Gleiches galt auch für die im Grunde lebenslang geschlossene Kebsehe. Sie war die Beziehung zwischen einem freien Germanen und einer unfreien Frau, also einer Sklavin. Raubehen konnten zu Kebsehen werden. In der

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Vgl. Schneider, Nichtkonventionelle Lebensformen. Entstehung, Entwicklung, Konsequenzen, 1998, S. 68 26 Vgl. C. Opitz, Frauenalltag im Mittelalter, Biographien des 13. und 14. Jahrhunderts, 1985, S. 89 27 Vgl. Teuteberg, a.a.O., S. 22 28 Vgl. H. Kretschmer, Ehe und Familie. Die Entwicklung von Ehe und Familie im Laufe der Geschichte, 1988, S. 13f; N.F. Schneider u.a., a.a.O., S. 69

9 Regel bestanden mehrere Kebs- und Friedelehen nebeneinander, so daß man sagen kann, die Germanen lebten wohl eher in einer Polygyndrie. Auch im christlichen Abendland war es mit der “ehelichen Treue” nicht allzuweit her. Außereheliche Beziehungen galten bis weit in die Neuzeit hinein auch in der öffentlichen Meinung durchaus als normal, und sie waren zumindest bis zum 17. Jahrhundert im Adel ein allgemeines Ideal. Die Ehe jedenfalls wurde nicht als der Ort für Lust und Sinnlichkeit angesehen. Auch das Bürgertum erlaubte sich sexuelle Nebentätigkeiten. Das zeigt der anhaltende Kampf der Obrigkeiten gegen Freudenhäuser, die im Mittelalter - neben den bekannten Badestuben - noch ganz unproblematisch zum Bild einer Stadt gehörten29. Der monogame Schein trügt natürlich auch in bezug auf unsere Gegenwart. Durch die Erhöhung der Scheidungsrate und der Scheidungsfrequenzen auf der einen und durch die allgemeine gesellschaftliche Akzeptierung von vorehelichen und gelegentlich auch außerehelichen sexuellen Beziehungen ergibt sich faktisch das Bild von zeitlich gestückelter Polygamie bzw. Promiskuität. Alle sexualwissenschaftlichen Untersuchungen zeigen, daß ein tatsächliches monogames Verhalten eher die seltene Ausnahme als die Regel ist30. Unter dem Begriff der offenen Ehe versucht man eine theoretische Konstruktion für nichtmonogame Eheformen. Neben diese offenen Ehen treten bei uns die Ehen auf Zeit. In der islamischen Welt gibt es eine solche Institution einer Ehe auf Zeit. Weil dort der außereheliche Geschlechtsverkehr bei Androhung von Todesstrafe verboten ist, gibt es die Möglichkeit eines wechselseitigen Versprechens auf Zeit, daß dem Imam gegenüber kundgetan werden kann. Bei uns ist die Ehe auf Zeit zwar faktisch längst vorhanden, juristisch allerdings ist sie noch nicht abgesichert. 1.2 Die Liebesheirat - eine romantische Fiktion Für die Ehe war bis in unsere Zeit die Liebe keine notwendige Bedingung. Mindestens bis zum 18. Jahrhundert gab es jedenfalls die von uns so favorisierte reine Liebesheirat nicht und selbst danach war sie mehr ein Ideal und eine Fiktion als eine Wirklichkeit; nur sehr wenige konnten sich - schon aus Geldgründen - den Luxus einer Liebesheirat jenseits familiärer Macht- und Finanzinteressen leisten. Anhand von Autobiographien und Statistiken läßt sich zeigen, daß sachliche Kriterien für die Partnerwahl noch im 19. Jahrhundert aus-

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Vgl. N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd.1, 1969, S. 242f Vgl. V. Sommer, Die Wissenschaft vom außerehelichen Sex, in: H. Albertz (Hg.), Die zehn Gebote, Bd. 7, 1987, S. 71 30

10 schlaggebend waren.31. Ehen hatten - über das Mittelalter hinaus bis in die Neuzeit hinein primär ökonomische oder politische Funktionen.32 Feudale Ehen wurden deshalb “mit der gleichen Umsicht, strategischen Planung und gegebenenfalls todesmutiger Tapferkeit vorbereitet .... wie eine militärische Kampagne”33. Und “für den Bürger” war “die Eheschließung eine singuläre Chance zum großen wirtschaftlichen Coup”34. Diese Motive waren durchaus nicht verdächtig und anrüchig - im Gegenteil. Dementsprechend verstand man unter Liebe etwas ganz anderes als wir. Liebe konkretisierte sich in Vertragstreue und im Erfüllen vertraglicher Pflichten. Die Zustimmung der Frau zur Ehe erfolgte dabei nicht aus Liebe, sondern “aus Gehorsam gegen den Willen ihrer Eltern”35. Eheschließungen dokumentierten Zwangsehen und keine Liebesheirat. Das galt besonders für die Eheverfahren nach dem germanischen Muntrecht, das weit in die christliche Welt hinein weiterwirkte. Ohne die Zustimmung der Eltern konnten selbst Erwachsene nicht heiraten. Wo Liebe nicht konstitutiv ist, kann auch Sexualität nicht monopolisiert werden, selbst dann nicht, wenn die Kirchenlehre in der Ehe den einzig legitimen Ort dazu sieht, aber zugleich diese zur lustfreien Zone erklärt.. Generell gilt, daß in “allen Gesellschaften und fast zu allen Zeiten (außer der unseren)” ein Unterschied “zwischen der Liebe in der Ehe und der Liebe außerhalb der Ehe”36 gemacht wurde. Sexuelle Befriedigung konnte vom Mittelalter bis zur Neuzeit durchaus vielfältig außerhalb der Ehe gefunden werden, ohne daß dies als besonders anstößig galt: etwa durch Vergewaltigungen37 und Entführungen, die in der Tradition der gemanischen Raubehen durchaus nicht als so kriminell gelten wie bei uns. Oder durch Prostituierte oder durch gelegentliche Abenteuer mit verheirateten oder unverheirateten Personen; auch dieses galt der mittelalterlichen Welt durchaus nicht als anstößig. Obwohl theoretisch eine schwere Sünde “scheint die Bestrafung von Ehebrechern ... sehr lax gehandhabt worden zu sein”38. Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts setzte - auch infolge der Reformation - “ein unermüdlicher Kampf gegen Prostitution, Konkubinat,

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Vgl. Borscheid, a.a.O. S. 127f Vgl. P. von Matt, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, 1989, S. 67ff 33 Matt, a.a.O., S. 67 34 Matt, a.a.O., S. 68 35 Borscheid, a.a.O., S. 120 36 Aries, Die unauflösliche Ehe, in: Ders. u.a., die Maske des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, Frankfurt, 1984, S. 165 37 Vgl. dazu z.B. Opitz, a.a.O., S. 180ff 38 Weigand, a.a.O., S. 188 32

11 Ehebruch, aber auch gegen Vergewaltigung, Sodomie und Homosexualität”39 ein. Noch bis ins 18. Jahrhundert maß sich zumindest der Adel40 diese Formen vagabundierender Sexualität an. Diese Entdifferenzierung von Sexualität und Ehe war schon deshalb sinnvoll, weil zwar alle Menschen sexuelle Bedürfnissse haben, aber bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht alle auch ehefähig waren. Für viele Eltern war es ökonomisch nicht erstrebenswert, alle ihre Kinder unter die Haube zu bringen, da sich ihr Hab und Gut durch die notwendige permanente Erbteilung auflösen würde. Die ökonomische Einheit Haus und Hof zwang die Ehe unter ihr Primat.

Durch die Legitimität nichtehelicher Sexualität erschien die

Begrenzung der Ehemöglichkeiten41 für den einzelnen weniger fragwürdig und inhuman. Dem Eheunfähigen blieb in seiner Armut so wenigstens der Spaß. Und wenn der Erstgeborene und Hofbesitzer schon ohne Liebe (zwangs-)heiraten mußte, dann konnte er 39

R.v. Dülmen (Hg.), Entstehung des frühneuzeitlichen Europa 1550-1648 (Fischer Weltgeschichte Bd. 24), 1982, S. 202 40 Vgl. Flandrin, a.a.O., S. 160 41 Als eheunfähige galten Personen, denen entweder die Ehefähigkeit von vornherein abgesprochen wurde oder deren Ehefähigkeit durch Behörden erst festgestellt werden mußte. In den deutschen Ländern und Städten waren die Meßlatten der Ehefähigkeit sehr hoch gehängt. Die Eheunfähigkeitserklärung war eine sozialpolitische Maßnahme, um den Pöbel aus dem Land zu jagen und so das Armutsproblem in andere Regionen zu exportieren. Zugleich war sie ein Mittel der Geburtenkontrolle, denn uneheliche Schwangerschaften wurden hart bestraft. Wer kein Vermögen und keine Wohnung hatte, durfte generell nicht heiraten. Ebenfalls generell von der Heirat ausgeschlossen waren Soldaten und zunftmäßige Handwerksgesellen, zudem große Teile des zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufkommenden Industrieproletariats. Für Hamburg z.B. ist belegt, daß 55% der Arbeiter keine Wohnung vorzuweisen hatten und deshalb auch nicht heiraten durften (vgl. Kramer, a.a.O., S. 107), fast alle Tagelöhner, Knechte und Mägde hatten die Ehefähigkeit nicht. Selbst die Bauern brauchten - zumindest bis ins 18. Jahrhundert zur Heirat die Erlaubnis des Landesherren, der diese teuer verkaufte oder seinerseits das Recht auf die “erste Nacht” (jus prima nocte) einforderte. Heiratserlaubnisse brauchten auch Adelige, die unstandesgemäß eine sogenannte “Ehe zur linken Hand” eingehen wollten. Denn unstandesgemäße Ehen waren bei Strafe verboten. Und das wurde für den Landadel zum Problem, als ein Großteil von ihm proletarisiert wurde. So finden sich Akten, die dokumentieren, daß adelige Tagelöhner nicht die Tochter eines unadeligen Tagelöhners so einfach ehelichen konnten. Gleiches galt für Adelige, die ins Bürgertum abgewandert waren. Für das späte Mittelalter gilt, daß “nicht einmal die Hälfte der jungen Männer ... die Aussicht hatten, je heiraten zu können”(A. Hege, Die Entwicklung des lutherischen Eheverständnisses, in: G. Gaßmann (Hg.), Ehe - Institution im Wandel. Zum evangelischen Eheverständnis heute, 1979, S. 22). In den ländlichen Gebieten, wo erbrechtlich nicht die Realteilung, sondern das sogenannte “Anerbenrecht” herrschte, konnte faktisch nur der Hoferbe heiraten(R.-E. Mohrmann, Die Stellung der Frau im bäuerlichen Ehe- und Erbrecht. Ein historisch-volkskundlicher Vergleich, in: Zeits. f. Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 40 Jg., 1992, S. 255).

12 diese Last ganz legitim z.B. mit den Mägden kompensieren. Trotz kirchlicher Verbote war die voreheliche Sexualität weit verbreitet, nicht zuletzt auch deshalb, weil das Heiratsalter zwischen dem 16.42 und 19.43 Jahrhundert durchgängig bei ca. 30 Jahren (Männer) bzw. 26 Jahren (Frauen) lag. Überhaupt ging es bei Verheiratungen selten um persönliche Wünsche. Ein Gewinn war es, als diese zwar noch nicht positiv, wohl aber negativ ins Spiel kamen: “Der Ablehnungsgrund, sich nicht lieben zu können”44 fand zunehmend beim Aushandeln von Heiraten Beachtung. Dieses Motiv taucht im Laufe des 12. Jahrhunderts - nicht zuletzt unter kirchlichem Einfluß - auf. Das kirchliche Ehemodell sah in der Ehe nämlich eine personale Partnerschaft zwischen zwei Menschen, die für sich noch einmal die Urbeziehung Christus Kirche abbildeten. Das Verhältnis zwischen Kirche und Christus galt als Modell für eheliche Treue45. Mit diesem Verständnis stand die Kirche in Opposition zum traditionellen Eheverständnis. Hier war die Ehe - ökonomisch - ein Geschäft und - juristisch - ein Vertrag zwischen zwei Familien. Bei diesem Geschäft hatten die beiden Betroffenen von allen am wenigsten zu sagen. Im 12. Jahrhundert bildete sich nun ein Widerspruchsrecht aus, das etwas später auch vor Gericht durchaus eingeklagt werden konnte. In den Gerichtsprotokollen der Zeit spiegelt sich dieser Vorgang gut wider. In ihnen ist allerdings auch dokumentiert, daß die Feststellung, man könne jemanden nicht lieben, keinesfalls Ausdruck überbordender Emotionalität46 ist. Motivationell waren nicht Gefühle, sondern Geschäftsinteressen (z.B. Aufstiegsneigungen, Standesdünkel u.ä.) ausschlaggebend. Wo von Liebe noch nicht gesprochen werden kann, gibt es auch keine gleichberechtigte Partnerschaft. Vielmehr war entsprechend dem Modell der Muntehe - die Macht des Ehemanns absolut; ihm allein waren “Entscheidungsbefugnisse und Kontrollpflicht über seine Frau aufgegeben, die gestützt wurden durch Züchtigungsrecht und Verfügungsgewalt über Leib, Leben und Eigentum der Ehefrau”47. Und der Mord an der eigenen Ehefrau war durchaus nicht strafbar, also von Liebe wohl keine Spur. 42

Vgl. v. Dülmen, a.a.O., S. 200 Vgl. H-G. Haupt/ P. Marschalck (Hg), Städtische Bevökerungsentwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Soziale und demoskopische Aspekte der Urbanisierung, 1994, S. 162, u. 202f 44 Luhmann, Liebe als Passion: zur Codierung von Intimität, 1982, S. 163 45 Diese Vorstellung von der Ehe wurde dann im Pietismus protestantisch umformiert; vgl. Josuttis, a.a.O., 36f 46 Vgl. Opitz, a.a.O., S. 97 47 Vgl. Opitz, a.a.O., S. 115 43

13 Wie wir wissen, heiratete auch Martin Luther - entgegen romantisierender Stilisierung zum Vorreiter eines typisch protestantischen Eheverständnisses erklärt - durchaus nicht aus Liebe48. In einer Einladung zum Hochzeitsessen schrieb Luther 1525: “So hat Gott es gewollt und bewirkt. Ich bin ja nicht verliebt und in Hitze, aber ich liebe meine Frau.”49 Nicht verliebt sein, aber seine Frau “lieben” - das galt weder Luther noch seinen Zeitgenossen als ein Widerspruch. Für Luther beruhte die Ehe nicht auf emotionaler Neigung oder sexueller Anziehung. Das Ideal war die Liebe ohne Lust: “Aber nun ist die Liebe auch nicht mehr rein”, wenn die Gatten am anderen die eigene Lust suchen, “das fälscht diese Liebe”50. “Eheliche Liebe war in der ersten Linie nicht erotisch gemeint, sondern mehr eine Pflichttugend in einem christlichen Haushalt.”51. Denn die Ehe ist für Luther ein von Gott gegebener Stand wie andere Stände. Zu den Pflichten des Ehestandes zählt nicht die partnerschaftliche, persönliche Liebe, sondern objektiv durch Gottes Anordnung gegebene Verhaltensweisen. So gehört es zu den Pflichten der Männer, daß sie “die Weiber regieren”52, zu denen der Frauen, daß “des Weibes Wille, wie Gott saget, dem Manne unterworfen sei und der ... ihr Herr sei”53. Die standesgemäße Rolle der Frau ist nicht die der erotisch Liebenden, sondern “die einer domestizierten Mutter”54. Zweifellos hat die Reformation die Frauen aufgewertet, aber eben nur in ihrer innerfamiliären Funktion55.

48

Das Führen einer gott- und d.h.

Vgl. H-M. Gutmann, Der Mann, das Chaos und die Ordnung. Martin Luthers Ehe im Kontext des gesellschaftlichen Umbruchs, in: M. Josuttis, u.a. (Hg.), Ehe-Bruch im Pfarrhaus, 1990, S. 61. Sowenig wie Liebe und Sexualität gehörten für Luther weder Treue noch Monogamie zur Ehe. Was die Treue betrifft so finden wir bei Luther z. B. den Hinweis, daß wenn die ehelichen Pflichten durch “ein halsstarrig Weib” verweigert werden, der Seitensprung legitim sei. Gleiches gilt für die Frauen, die zu ihrem Mann sagen können: “Lieber Mann, du hast mich um meinen jungen Leib betrogen, vergönne mir, daß ich mit deinem Bruder oder besten Freund eine heimliche Ehe habe.”(Zit. nach Beuys, a.a.O., S. 227) Und hinsichtlich der Forderung nach absoluter Monogamie konstatierte Luther, daß es besser sei, eine Bigamie oder Polygamie einzugehen als sich scheiden zu lassen; hier beruft sich Luther auf das Alte Testament (Vgl. W. Molinski, Theologie der Ehe in der Geschichte, S. 150f). 49 Zit. nach B. Beuys, a.a.O., S. 219 50 Luther, Vom ehlichen Leben und andere Schriften über die Ehe (Reclam-Ausg.), 1978, S. 5 51 H.J. Teuteberg, a.a.O., S. 31 52 M. Luther, a.a.O., S. 67 53 Luther, a.a.O., S. 70 54 Gutmann, a.a.O., S. 73 55 vgl. H. Fischer, Ehe, Eros und das Recht zu reden, in: M.E. Müller (Hg.), Eheglück und Liebesjoch. Bilder von Liebe, Ehe und Familie in der Literatur des 15. u. 16. Jahrhunderts, Weinheim u.a., 1988, S. 208

14 ordnungsgemäßen Ehe war ein Element rationaler Lebensführung56. Zur Gottgemäßheit der Ehe gehörte übrigens auch, daß sie nach reformatorischer wie katholischer Vorstellung auf der freien Zustimmung beider Partner beruht. Wenn Luther gegen die zeitgenössischen Zwangsehen57 polemisierte, dann nicht, weil er ein Liebesideal propagieren, sondern die Ehe als gottgewollte Institution legitimieren wollte. Ob

ökonomisch

bedingt

oder

standestheologisch

legitimiert,

eheliche

Partnerschaftlichkeit folgt nicht den Prinzipien von Lust und Liebe, sondern sie ist als gelungene Arbeitsteilung in einer Wirtschaftsgemeinschaft vorzustellen. Vor allem für die mittelalterlichen Ehen galt grundsätzlich dasselbe wie für die frühgeschichtlich polygamen: sie waren Zwangsgemeinschaften im Überlebenskampf. Erotik war dazu weder vorgesehen noch brauchbar. Noch Jean Paul schrieb deshalb: “Die Ehe wird nicht glücklicher durch Liebe - oft das Gegenteil”58. Lustvolle Liebe sollte in der als Stand und später als Institution interpretierten Ehe nicht aufkommen - und - so muß man sagen - sie hatte wohl kaum Zeit noch Raum, um gelebt zu werden. Denn wie sollte das auch geschehen bei einer Arbeitszeit von 15 bis 16 Stunden an 7 Tagen in der Woche? Deshalb ist es kein Wunder, daß z.B. im 19. Jahrhundert “ in den Bauernehen der Kuß”59 gänzlich fremd war. Generell kann man sagen, die Zärtlichkeit in der Ehe ist - historisch betrachtet - erst eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. 2. Eheschließung - wie heiratete man? Sowohl kirchliche wie auch standesamtliche Trauungen sind relativ neue Phänomene. Bekanntlich ist die staatliche Eheschließung in Europa erstmals durch Napoleon eingeführt worden. Innerhalb Deutschlands wurde sie dann in Preußen im Zuge des Kulturkampfes durchgesetzt und der kirchlichen Trauung ihre Rechtsverbindlichkeit genommen. Das entsprach auch dem reformatorischen Verständnis von der Ehe als einer weltlichen Angelegenheit. Dementsprechend gab es schon im 16./17. Jahrhundert in den Niederlanden und England “eine von kirchlichen Einflüssen freie Zivilehe”60. Das hatte Tradition: Ehen wurden im Mittelalter ,wenn nicht direkt im Bett, dann in den Wirtshäusern, nicht jedoch am Traualtar geschlossen. Beides bleibt für das gemeine Volk eine Möglichkeit, die später als 56

Vgl. Schilling, a.a.O., S. 232 Vgl. Luther, a.a.O., S. 55ff 58 Zit. Nach Borscheid, a.a.O., S. 114 59 H. Kramer, a.a.O., S. 118 60 Schilling, a.a.O., S. 201 57

15 sogenannte “heimliche Ehen” kirchlich verfolgt wurden. Und aus beidem resultierten viele Ehefeststellungsklagen vor Gericht. Die kirchliche Trauung setzte sich erst zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert langsam durch, und noch im 17. Jahrhundert finden wir - vor allem im Adel - noch Alternativen zu ihr, so daß man sagen kann: vor dem 10./12. Jahrhundert gab es eine kirchliche Trauung in der uns bekannten Form überhaupt nicht und bis zum Ende des 16. Jahrhunderts gab es - in stetig abnehmender Zahl - auch ganz andere Formen der Eheschließung. Dabei muß man zwischen der Lebenswelt des Adels, der des aufkommenden Bürgertums, bzw. vorher der Patrizier und Großkaufleute und den unterständischen armen Bevölkerungsschichten unterscheiden. Jede dieser sozialen Gruppen hatte - wie wir sehen werden - andere Eheschließungsrituale, andere Treuevorstellungen und andere Ehemotive. Die privaten nichtkirchlichen Ehemodelle des Bürgertums gehen bis in die Zeit des römischen Reiches zurück. Geheiratet wird im Hause im Rahmen einer beschränkten Öffentlichkeit aus Nachbarn und Familienmitgliedern. Ehen wurden durch Vollzug in der Hochzeitsnacht rechtsgültig geschlossen: “Die letzte Etappe der Eheschließung war erreicht, wenn man die Brautleute zu Bett geleitete, ein Ritual, das öffentlich, feierlich und unter dem Beifall der Anwesenden begangen wurde, die so die Gültigkeit des Ereignisses bekundeten.”61 Übertriebene Schamhaftigkeit kannte man dabei nicht. Letztendlicher Eheschluß war dann die Übergabe der Brautgabe am Morgen nach der Hochzeitsnacht, seither bekanntlich “Morgengabe” genannt62. Eine andere Art der öffentlichen Proklamation einer Ehe bestand in manchen Gebieten darin, daß sich Mann und Frau nach vollzogener Hochzeitsnacht durch die Familie und Freunde im Bett überraschen ließen; auch damit war die Ehe öffentlich proklamiert und justifiziert. “Ist das Bett beschritten, ist das Recht erstritten”63, hieß es. Zusätzliche standesamtliche Beurkundungen oder die Einträge in Kirchenbüchern waren nicht vorgesehen. Der Überraschung der Brautleute im Brautbett folgte dann eine zumeist drei Tage währende Feierlichkeit. Ein kirchliches Moment bekamen diese Hochzeiten nur dadurch, daß entweder im Rahmen der Feierlichkeiten ein Gottesdienst besucht wurde oder daß bei der Überraschung im Brautbett ein Priester einbezogen wurde, der das Brautbett und die Brautleute segnete.64 Allerdings war der Priester anfänglich nicht als Amtsperson gerufen worden. Er 61

Ph. Ariès, a.a.O., S. 178 vgl. Schröter, “Wo zwei zusammen kommen in rechter Ehe”: Sozio- und psychogenetische Studien über Eheschließungsvorgänge vom 12. und 13. Jahrhundert, 1985, S. 90 63 Zit. Nach Elias, a.a.O., S. 243 64 Vgl. Ariès, a.a.O., S. 192 62

16 war zunächst vielmehr nur einer der Zeugen, dessen zusätzliche Segnung man zwar gerne annahm, durch die aber die Verheiratung keine andere - und schon gar keine kirchliche Qualität bekam. Diese Situation ist kennzeichnend für die Zeit etwa vom 9. bis zum 12. Jahrhundert. Im 12. Jahrhundert fängt man dann an, in das häusliche Hochzeitszeremoniell einen kirchlichen Trauritus zu integrieren. Aber dieser fand entweder im Haus der Brautleute selbst oder vor - und nicht in - der Kirche statt. Erst im 13. Jahrhundert wird dann der Kirchenraum zum Ort der Verheiratung. Das heißt aber noch nicht, daß damit die private Eheschließung durch die kirchliche vollständig abgelöst wurde. Vielmehr besuchte man nach vollzogener Hochzeitsnacht einen Gottesdienst, die Brautmesse65. Verheiratungen im Adel vollzogen sich - wie in den höheren Ständen Roms - in einem festlichen Rahmen; (sie waren ja auch Siegesfeiern nach einer friedlichen Schlacht). Wie dort Priester, so nahmen hier hohe geistliche Würdenträger teil, ohne daß dadurch die Verheiratung zu einem kirchlichen Akt wurde. Vielmehr waren die Bischöfe als Mitglieder des Adels geladen. Mit der Zeit kopierte dann auch das Bürgertum, vor allem das Großbürgertum, die adeligen Institutionen der feierlichen Vermählung. In den weniger gehobenen bürgerlichen Kreisen der Kaufleute, Gelehrten und Beamten vollzog sich die private Eheschließung etwa folgendermaßen: Der Bräutigam wurde durch einen männlichen Verwandten der Braut - meistens dem Onkel - in das Haus seiner zukünftigen Schwiegereltern geladen. Dort wurde ihm vom Onkel oder vom Vater eine Glas Wein gereicht, aus dem er trank. Er reichte das Glas an seine Zukünftige mit den Worten “zum Zeichen des Ehebundes” weiter, die ebenfalls einen Schluck Wein nahm. Durch diesen einfachen Akt galt die Ehe als besiegelt.66 Bei den niedrigen Ständen und auf dem Lande hingegen war die Hochzeit weniger förmlich und feierlich. Hier existierten zwei Modelle der Eheschließung nebeneinander und gingen ineinander über. Im 13. bis 15. Jahrhundert konnten Ehen erstens durch privates oder öffentliches Verlöbnis - z. B. in einem Wirtshaus - geschlossen werden. Festgelegte Formulare gab es nicht. Weil es nun kein formelles Verfahren der Eheschließung gab, konnte es zu Mißverständnissen und in deren Folge zu gerichtlichen Auseinandersetzungen kommen. 65

Noch Anfang des 16. Jahrhunderts lesen wir in einer Autobiographie: “Am Sonntag ... han ich, Michael von Ehenhein, Ritter, mit Margaretha, geb. von Kollenn, elichen Beischaft zu Kitzingen, und morgens frue mit ir zu kirchen gangen mit meinem Herrn und gueten Freunden” (zit. nach: H.J. Bachorski, Der selektive Blick. Zur Reflexion von Liebe und Ehe in Autobiographien des Spätmittelaters, in: M.E. Müller, a.a.O., S. 25). 66 Ariès, a.a.O., S. 189

17 Eine Großzahl der Ehegerichtsverfahren in diesem Zeitraum waren nämlich keine Ehescheidungsverfahren, sondern Verfahren zur Feststellung einer gültigen Ehe. Die Protokolle dieser Eheprozesse lassen uns diese Art der Verheiratung erahnen67. Ein zweites Verfahren war die schon genannte Vermählung durch Vollzug des Geschlechtsverkehrs. Noch im 17. Jahrhundert finden sich Belege68 für das Modell der Eheschließung durch Vollzug69, nämlich einmal dort, wo sich das germanische truve-Verfahren durchgehalten hat, und zum anderen dort, wo als Opposition gegen die kirchliche Eheschließung bzw. gegen ein kirchliches Eheverbot eine “heimliche Ehe” geschlossen wurde. Die Frage, ob ein Verkehr stattgefunden hatte, wurde zum entscheidenden Kriterium für die gerichtliche Feststellung einer Ehe 70. Man kann sagen: Die Eheschließung durch Vollzug war das vorkirchliche Grundmodell der Trauung in (eigentlich) allen Ständen. Nicht der Altar, sondern die Hochzeitsnacht stand im Zentrum der Vermählung. Dementsprechend diente das kirchliche Verbot vorehelicher Sexualität der Durchsetzung des alternativen Modells der kirchlichen Trauung71. Und die jetzt aufkommende offizielle Verlobung nebst Aufgebot hatte den Sinn einer öffentlichen Kontrolle. Ein Verlöbnis vor der Ehe war bis ins 16. Jahrhundert hinein unbekannt.72 Wie kommt es zur Verkirchlichung der Eheschließung zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert? Ursprünglich hatte die Kirche kein Interesse an der Ehe, denn weder im Alten noch im Neuen Testament fanden sich “Berichte über religiöse Zeremonien bei der Eheschließung” und Jesus “ hat keine genuine Lehre von der Ehe entfaltet”73. Die Urgemeinde bewegte nicht die Frage der Ehe, sondern die der Naherwartung. Erst angesichts der Notwendigkeit, sich doch länger in dieser Welt einzurichten, wurde die Frage nach einer “christlichen” Ehe laut. In der Theologie des 12. Jahrhunderts gab es dementsprechend zwei konträre Tendenzen: die eine betonte das asketisch-mönchische Ideal, die andere versuchte eine Theologisierung der Ehe, und dies aus zwei Gründen: (1.) Vordergründig, um durch die Sakramentalisierung und der damit verbundenen Monopolisierung einer lebenszeitlangen 67

M. Schröter, a.a.O., S. 216f Vgl. Elias a.a.O. 69 Vgl. Schilling, a.a.O., S. 202f 70 vgl. a.a.O., S. 224f 71 Vgl. Schilling, a.a.O., S. 203; Weigand, a.a.O., S. 165ff 72 Vgl. Kramer, a.a.O., S. 118; anders: Weigand, a.a.O., S. 163ff. Der Widerspruch erklärt sich möglicherweise aus dem Unterschied zwischen sozialer Wirklichkeit und kanonischem Recht. 73 a.a.O., S. 235 68

18 monogamen Ehe die sexuellen Ausschweifungen der gemeinen Leute einzudämmen. (2.) Das Eheverständnis und die Trauung wurden zum Mittel im politischen Machtkampf der Kirche74 gegen die weltliche Herrschaft. Die Privatehe (s.o.) war Ausdruck der Autonomie des Adels, der sich von der Kirche nicht in die eigenen Angelegenheiten hineinreden lassen wollte. Die Kirche ihrerseits hatte ein Interesse daran, gerade diesen Bereich autarker Selbstregulierung unter kirchliche Obhut zu bringen. Das geschah zum einen dadurch, daß sie ihre Beteiligung an der privaten Eheschließung ausdehnte und letztendlich eben die Trauung in den Kirchenraum zog, und zum anderen dadurch, daß sie die Ehe zum Sakrament erklärte. Durch die Sakramentalisierung bekommt die Ehe dann eine bisher unbekannte Qualität, nämlich ihre grundsätzliche Unauflösbarkeit. Die Privatehen des Mittelalters hingegen waren Zweckverbindungen und konnten deshalb, wenn der Zweck erreicht war oder nicht erreicht werden konnte, auch problemfrei aufgelöst werden. Die soziale Anerkennung der Vorstellung einer unauflöslichen Ehe akzeptierte zunächst die Landbevölkerung75, weil sie hier bereits aus ökonomischen Gründen gefordert war76. Polygamie mußte man sich in der frühbürgerlichen Gesellschaft erst einmal leisten können - so, wie sich die ursprünglichen polygamen Gesellschaften der Frühgeschichte die Monogamie leisten können mußten. Der Adel und zunächst auch das Bürgertum setzten jedoch der kirchlichen lebenslangen Ehe erheblichen Widerstand entgegen. Während der Adel bei seinen privaten Vertragsehen blieb, nahmen im Bürgertum (und in der unterständischen Bevölkerung) die sogenannten “geheimen Ehen” zu77. Wie verbreitet diese Form der Eheschließung war, zeigt, daß von 200 für Augsburg im Jahre 1350 belegten Eheverfahren 100 “das Ziel hatten, eine gültige Ehe auf Grund einer geheimen Eheschließung bestätigt zu bekommen”78; nur 15 davon wurden positiv entschieden, weil nur Ehe sein kann, was vor dem Altar geschlossen wurde. Die Opfer dieses Kampfes gegen die “heimliche Ehe” waren natürlich die Frauen. Heimliche Ehen wurden übrigens häufig von Priestern eingegangen. Erst im 18. Jahrhundert hat sich das Monopol der kirchlichen Trauung durchgesetzt79. Dann aber auch nicht gänzlich, denn es tauchte eine Folgeform der “heimlichen Ehe” auf: die “wilde Ehe”. Wilde Ehen waren im Industrie- und Landproletariat oft die einzige - allerdings illegale - Form der 74

vgl. Schröter, a.a.O., S 321ff Vgl. Ariès, S. 191 76 Vgl. a.a.O., S. 186 77 Vgl a.a.O., S. 172 78 Weigand, a.a.O., S. 173 79 Vgl. R.v. Dülmen, Gesellschaft der frühen Neuzeit. Kulturelles Handeln und soziale Prozesse, 1993, S. 216 75

19 Familiengründung. Die Verfolgung dieser wilden Ehen dokumentieren zahlreiche kirchliche und staatliche Akten. Die Monopolisierung der lebenslangen, monogamen Ehe ist so primär sozial- und kirchenpolitisch bedingt und weniger die Folge stringenten theologischen Denkens. Überblickt man die Geschichte der Ehe zwischen Kirche und Ehe, so muß man feststellen: (1.) durchzieht sie eine grundsätzliche Ambivalenz: einerseits plädierte die Kirche im Kampf gegen Raub- und Zwangsehen für das Prinzip wechselseitiger personaler Anerkennung und damit implizit für das Individualitäts- und Liebesprinzip in der Ehe. Andererseits bereitete sie über den Gedanken der Ehe als Stand die Institutionalisierung der Ehe vor. Insofern ist die Ehe ein Anwendungsfall des - zumindest für den Protestantismus charakteristischen Widerspruchs zwischen Individuum und Institution der

Skala

dieses

Widerspruchs

lassen

sich

die

unterschiedlichen

80

. Auf

“christlichen”

Eheauffassungen einzeichnen. Im Bauch der These vom Ehestand wuchs die Antithese von der Individualisierung persönlicher Beziehungen. (2.) zeigt die Geschichte, daß das “christliche Eheverständnis” immer schon primär von außertheologischen, nämlich sozialen und politischen Motiven und von nichtchristlichen Traditionselementen geprägt wurde. Nicht zuletzt Machtinteressen spielten dabei eine große Rolle. Dies dürfte implizit auch heute der Fall sein, insofern man sein Überleben als Institution nicht zuletzt an die Zukunftchancen der Institution Ehe anknüpft. (3.) Zeigt der historische Rekurs ein gerütteltes Maß an Heuchelei, denn stets galt “quod licet Juvi, non licet bovi”. (4.) weisen die unterschiedlichen kirchlichen und nicht-kirchlichen Ehemodelle auf einen Pluralisierungsprozeß, dem man sich nicht entziehen kann. Durch die Monopolisierung eines historischen Modells zu einem überzeitlichen Theologumenon klinkt sich die Kirche aus dem Diskurs der Moderne aus, statt diesen kritisch-konstruktiv aufzunehmen. (5.) hat sich ergeben, daß die Ehe der Kirche mit der Ehe im Grunde nicht mehr als eine (allerdings tausendjährige) Episode ist. Ohne Not könnte die Kirche sich wieder scheiden lassen und die Ehe als das nehmen, was sie nach gesamtreformatorischer Sicht war: ein weltlich Ding. Als solches kann und muß sie dann allerdings unter Gottes Segen gestellt werden. Nur sollte man aufhören, mit dieser Gabe Gottes Gesellschaftspolitik machen zu wollen.

80

vgl. G. Lämmermann, Der Pfarrer - elementarer Repräsentant von Subjektivität? Zum Widerspruch von Individuum und Institution, in: ZEE 35 (1991), S. 21-33.

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