Flucht als religionspädagogische Herausforderung

October 4, 2016 | Author: Eleonora Schuler | Category: N/A
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Flucht als religionspädagogische Herausforderung

Die aktuellen Ereignisse um die Flüchtlinge, stellen auch die Religionspädagogik vor die Herausforderung, wie mit diesem Thema in Schule, Gemeinde oder in der Erwachsenenbildung umzugehen ist. Insbesondere eine Religionspädagogik, die sich auch als Handlungswissenschaft und als eine Wissenschaft, die Theorie und Praxis reflektiert und aufeinander bezieht (Kaufmann, 2010; Schweitzer, 2010; Boschki, 2008), kann sich dieser Herausforderung nicht entziehen Menschen fliehen aus sehr unterschiedlichen Gründen. Die UNHCR stellt fest, dass derzeit fast 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind (Stand: Ende 2014), vor Kriegen, Konflikten und Verfolgungen. „Dies ist die höchste Zahl, die jemals von UNHCR verzeichnet wurde, und sie wächst rasant“ wie der statistische Jahresbericht der UNHCR Global Trends belegt“ (UNHCR, 2014, 2015). Der massive Anstieg wurde vor allem durch den Krieg in Syrien verursacht. 7,6 Millionen Syrer sind Binnenvertriebene, Flüchtlinge im eigenen Land, und knapp 3,9 Millionen suchten Schutz in den Nachbarländern (ebd.). Aber auch in vielen anderen Ländern kam es zu tausendfachem Flüchtlingselend. Allein in den letzten fünf Jahren sind mindestens 15 neue Konflikte ausgebrochen oder wieder entflammt. Darunter Syrien, Irak, Südsudan, Zentralafrikanische Republik, Burundi, Jemen, Ukraine und Myanmar“ (ebd.) Und die meisten Flüchtlinge kommen aus armen Ländern und vor allem aus Ländern mit hohem muslimischem Anteil.

Hauptfluchtgründe für Flucht und Vertreibung Kriege und Konflikte Aktuell sind Kriege und Konflikte in den Hauptherkunftsländern wie Syrien, Irak, Afghanistan und Somalia die Hauptursache für Flucht. Dabei führen diese humanitären Katastrophen zu Zerstörung von Lebensraum, Armut und Hunger. Folglich müssen Menschen fliehen, entweder innerhalb des Herkunftslandes („Binnenflüchtlinge“) oder ins Ausland. Auch eine aktuelle Studie scheint dies für den Fall der syrischen Flüchtlingen zu bestätigen: Danach spielt die Angst vor dem Assad-Regime eine viel größere Roll als die vor dem selbsternannten Islamischen Staat. Wirtschaftliche Gründe führen nur sehr wenige Menschen als Motivation an. Diskriminierung und Verfolgung Menschen fliehen, weil sie wegen ihrer Religion, ethnischer Zugehörigkeit, politischer Gesinnung oder sexueller Präferenz diskriminiert werden. Ein Teil der Flüchtlinge in Deutschland musste fliehen, weil sie aus religiösen Gründen (wie Yesiden im Irak; Roma und Sinti aus den Balkanstaaten, die dort massiv diskriminiert werden; oder den Muslimen in Myanmar, die vor gewalttätigen Buddhisten fliehen müssen). Klimawandel als Fluchtursache

Hierbei spricht man von Umweltmigration oder Klimaflucht. Menschen müssen in Folge von Naturkatastrophen, wie Stürmen, Lawinen usw. ihre Heimat verlassen. Auch der Anstieg des Meerespiegels kann, wie in Bangladesch, ein Grund für Flucht sein.

Wirtschaftsflucht Menschen fliehen, weil sie der wirtschaftlichen Not entfliehen wollen. Oft können sie ihre Familien und sich selbst nicht oder nur unzureichend ernähren oder werden ökonomisch ausgebeutet. Tagtäglich laufen Bilder und Nachrichten über die Bildschirme. Es ist das politische Thema, welches heftig diskutiert wird und jeder hat eine Meinung – zu mindestens sollte er es haben. Und Rechtspopulisten bekommen bei Landtagswahlen Stimmenzuwächse. Auch in der Schule und im Unterricht ist das Thema angekommen. Die Frage ist: Wie damit umgehen? Auch wenn einige der Flüchtlinge zurück in ihre Heimat zurückkehren müssen, wird die Eingliederung und Ausbildung von Flüchtlingskindern und Jugendlichen, die hier bleiben bzw. bleiben müssen, eine Herausforderung für den Schulalltag werden. Folgendes sollte selbstverständlich sein: Nicht nur die religiösen Texte selbst (s.u.) sondern auch die autobiographischen Erzählungen von Flüchtlingen und Einheimischen lassen sich im Kontext der „narrativen Religionsdidaktik“ in den Unterricht einbauen, um zum einen die Autobiographie zu würdigen, aber auch zu erforschen und zu erkennen dass nicht nur die religiösen Texte gelesen und verstanden werden können bzw. etwas zu sagen haben, sondern die individuelle Geschichte eines jeden Menschen Gelegenheit bietet, miteinander über Religion ins Gespräch zu kommen (Gennerich, 2012). Für die einheimischen Schüler und Schülerinnen stellt sich die Frage, wie diese auf diesen Umstand vorbereitet werden können, wie sie darauf reagieren und es verarbeiten können und vor allem – im Kontext des Islamischen Religionsunterrichtes (IRU), aber auch in der Gemeindearbeit, was sagt ihre eigene Religion, vor allem der Koran, zu Flucht und Vertreibung.

Ziel dieses Artikels, der auf dem Vortrag aufbaut und ihn ergänzt, wird der Frage nachgegangen, wie der Alltag in Konfrontation mit Pluralität und Diversität gestaltet werden kann. Zu fragen ist, welche Kompetenzen sollten Kinder- und Jugendlich aufweisen, damit ein friedliches Miteinander gelingen kann.

Narrative Theologie: Erzählungen und Geschichten als religionsdidaktisches Mittel Geschichten im Koran verstehen sich als „wahre Berichte“ (qassas) (s.a. 7:176; 12:2), um damit die Menschen zu belehren und ihnen getreu die Gegebenheiten wiedergeben. Es wird dabei gerne darauf hingewiesen, dass sie nicht einfach erfundene Geschichten (arab. hikaya) sind, sondern quasi als Protokoll der historischen Geschehnisse zu verstehen sind. Dies gilt vor allem für die Biographien der Propheten, wie Adam, Noah, Abraham, Jakob usw. Einige davon, wie von Adam, Josef, Moses und Jesus werden sehr ausführlich dargestellt. Daneben gibt es aber auch Geschichten im Koran, die sich während der Offenbarungszeit des Korans ereignet haben und die Thema einzelner Verse bzw. Suren sind: Himmelsreise des Propheten Muhammad, Auswanderung aus Mekka, Verteidigungsschlachten um Badr und Uhud usw.

Daneben gibt es Geschichten bzw. Ereignisse, die sich auf das Jenseits beziehen, wie die Erschaffung Adams, Hölle und Paradies, die Lage der Menschen, die in die Hölle bzw. ins Paradies kommen usw. Daneben gibt es auch Gleichnisse, die nicht unbedingt der Realität entsprechen müssen, die aber als Beispiele im Koran genannt werden, um Dinge genauer zu verdeutlichen, wie z.B. das Beispiel von einem Sklaven, der zwei Herren hat (39:29). Geschichten zu Propheten im Koran sollen vor allem verdeutlichen, dass alle Propheten die Menschen zu Gott gerufen und sie aufgerufen haben, rechtschaffene und gläubige Menschen zu sein. Experimente haben gezeigt, dass Kinder Geschichten aus heiligen Texten persönlich aneignen können – insbesondere wenn diese durch das Unterrichtsgespräch begleitet werden (HoegenRohls, 2005;ROOSE 2005). Elementare Verständnisvoraussetzungen für Geschichten sind schon bei Grundschulkindern vorhanden. Die Moral einer Geschichte können schon 6jährige erkennen, wenn sie gezielt darauf angesprochen werden (Johnson/Goldman, 1987). Aber erst im Jugendalter könne Themen stärker reflexiv bedacht und reflektiert werden. Harter, 1990. Besonders interessant wird es, wenn Jugendliche mit 14 versuchen die Hauptthemen der Geschichten zu erarbeiten und auf ihre eigene Biographie zu beziehen (Gennerich, 2012). Dabei sollte der Lebensbezug und der biographische Kontext des Lernenden im Fokus stehen und nicht die Verkündung, denn Religionsunterricht hat nicht die Verkündung zum Ziele, sondern die individuelle Bildung, die Lernende helfen soll, mündige Gläubige zu werden, die für sich selbst den Sinn erschlossen haben (Ceylan, 2010; Ucar, 2008) . Denn Religion wird erst als sinnvoll erkannt, wenn sie auf persönliche Bedürfnisse und Erlebnisse verwiesen werden kann. Somit bietet die Forderung Religion in der Lebensgeschichte zu begreifen (Schweitzer, 2004) die Möglichkeit einen persönlichen, individuell und biographisch bedeutsamen Bezug zur Religion zu erschließen. Entsprechend sollte Kinder und Jugendlichen Raum und Zeit gegeben werden, ihre eigenen Einsichten und Sichtweisen mit ins Spiel zu bringen. Kinder im Grundschulalter entwickeln schon ihre eigenen Interpretationen der Geschichten. Dabei stellt sich die Frage nach „Sachgemäßheit“ und „Kindgemäßheit“ (Schweitzer, 2006:16; Yavuzcan, 2010). „Lösungen kommen dann in den Blick, wenn beide Pole dieser Spannung berücksichtigt werden. Wenn religionspädagogisch kompetente Handlungsweisen weder in ohnehin nicht wirksamen Korrekturversuchen bestehen können noch einer bloßen Zurückhaltung gegenüber den spontanen Verstehensweisen der Kinder…“ (Schweitzer, 2006:16f). Auch koranische Geschichten (s.u.) sind immer wieder zu beziehen auf biographische Entwürfe und eigene Sinndeutungen. Flucht und Vertreibung im Koran Die Geschichten, die sich im Koran befinden und auf das Leben von wichtigen Männern und Frauen hinweisen, gehen nicht auf biographische Details ein, sondern möchten den Leser in ethischen und moralischen Dingen aufklären und sie im Glauben einweisen. Diese und andere Geschichten können jungen Menschen helfen ihre Empathie,- Urteils,- und Kooperationsfähigkeit auszubauen (Bredella, 2012). Nicht nur, dass die Geschichten im Koran oder in der Bibel Flucht, Leid und Vertreibung zum Gegenstand haben, uns betroffen haben, sondern wir – durch den aktuellen Lebensbezug – erkennen, dass die Geschichten in den heiligen Bücher aktuell sind. Denn oft berichten Kinder (z.B. Erzählungen aus der Bibel und ihrer Lieblingsgeschichte), dass diese nichts mit ihrem Leben zu tun haben, weil sie alt und fern seien (Hanisch, Bucher, S. 59f). Bei diesen Geschichten aber können sie empathisch nachempfingen, weil sie z.B. als Flüchtlingskind, ähnliches erlebt haben oder wir und die

heimischen Kinder ähnliche Muster aus heute in den alten Geschichten (wieder) entdecken können, zumal viele Muslime (in der Schule oder in den Moscheevereinen) selber oder ihre Familien Migrationshintergründe haben.

Auswanderung – Flucht – Vertreibung im Koran Das Thema Flucht und Vertreibung begegnet uns im Koran unter sehr verschiedenen Facetten. Zum einen als selbstgewollte Migration, zum einen als Vertreibung oder als Zuflucht von Menschen, die unterdrückt werden, die selbst Schuld auf sich geladen haben oder weil sie sich einfach ein anderes, manchmal gottgefälliges Leben wünschen. Im Folgen werden anhand von einigen wenigen Beispielen Menschen ins Zentrum gestellt, die selbst Leid durch Flucht und Vertreibung erfuhren.

Die erste Flucht und Vertreibung: Adam und Eva Es gibt viele Fälle und Anlässe für Flucht und Vertreibung im Koran. Sogar die Geschichte der Menschheit beginnt mit der Vertreibung vom ersten Menschen: mit der Ausweisung von Adam und seiner Frau Eva aus dem Paradies. Nach koranischer Lesart wurde Adam als erster Mensch erschaffen: „Und (damals) als dein Herr zu den Engeln sagte: ""Ich werde auf der Erde einen Nachfolger (khaliefa) einsetzen""! Sie sagten: ""Willst du auf ihr jemand (vom Geschlecht der Menschen) einsetzen, der auf ihr Unheil anrichtet und Blut vergießt, wo wir (Engel) dir lobsingen und deine Heiligkeit preisen?"" Er sagte: ""Ich weiß (vieles), was ihr nicht wißt."(2:30). Die Aufgabe Adams ist es im Paradies zu leben, aber nicht von der verbotenen Frucht zu essen. "Und wir sagten: ""Adam! Verweile du und deine Gattin im Paradies, und eßt uneingeschränkt von seinen Früchten, wo ihr wollt! Aber naht euch nicht diesem Baum, sonst gehört ihr zu den Frevlern!""(2:35). Doch Adam und Eva lassen sich vom Satan verführen und verwirken ihr Recht und werden daraufhin vom Paradies ausgewiesen. Damit beginnt die erste Flucht des Menschen. „Geht (vom Paradies) hinunter (auf die Erde)! Ihr seid (künftig) einander feind. Und ihr sollt auf der Erde (euren) Aufenthalt haben, und Nutznießung auf eine (beschränkte) Zeit.""(2:36). Doch sie sehen ihre Fehler ein und Gott akzeptieret ihre Reue (2:37). Die Vertreibung aus dem Paradies ist somit eine andere, neue Möglichkeit den Bund mit Gott nochmals zu schließen und Frieden zu finden.

Freund Gottes: Abraham Abraham, arab. Ibrahim, ist nach koranischer Überlieferung eine der wichtigsten Propheten und gilt als der Begründer des monotheistischen Kults an der Kaaba in Mekka. Die 14. Sure ist nach ihm benannt und in rd. 25 Suren des Korans wird sein Name erwähnt. In der Sure 4, Vers 125 wird er als „Freund Gottes“ (Halil Allah) benannt. Nicht nur in den späteren längeren Suren aus der Zeit von Medina wird er in der mekkanischen Periode als Verkünder des monotheistischen Glaubens bezeichnet – auch gegen den Widerstand seines Vaters Azar (Sure 6:74, 21:52-58; 37:88-96). Als Strafe wird er von seinem Volk und seinem Herrscher Namrut ins Feuer geworfen. Durch ein Gotteswunder wird er vom Feuer bewahrt: „Wir sagten (als sie Abraham dem Feuer ausgesetzt hatten): „Feuer! Sei für Abraham kühl und

unschädlich“ (Sure 21, 69). Dieses Ereignis soll in Urfa stattgefunden haben unweit der syrisch-türkischen Grenze. Er bekommt auch Zuspruch: Lot, ein weiterer Prophet, schließt sich Abraham an. Die Gegner Abrahams und Lots verschwören sich gegen diese und wollen ihnen mit einer List schädigen: „Sie wollten eine List gegen ihn anwenden. Aber wir bewirkten, dass sie (selbst) es waren die meisten verloren“ (Sure 21, 69). Abraham muss mit Lot und seiner Familie fliehen. Doch wie aus dem Vers zu erkennen ist, ein Unrecht bleibt nicht ungesühnt. Diejenigen, die ihm Schaden wollten geraten selber zu Schaden. Abraham lässt sich nach traditioneller Überlieferung in Damaskus nieder und zudem werden ihm zwei Söhne geschenkt, Isaack und Jakob (Sure 21: 72).

Siebenschläfer (Ashab al-kahf) Nach christlicher Überlieferung hatten sich sieben junge Christen in der Zeit der Christenverfolgung unter Kaiser Decius (249-251) in einer Berghöhle nahe Ephesus Zuflucht gesucht. Sie wurden aber entdeckt und lebendig eingemauert. Diese Berghöhle soll sich in einer Berghöhle nahe dem türkischen Ephesus. Sie sollen 195 Jahre lang geschlafen haben. Auch im Koran wird die Geschichte dieser junger Menschen, die wegen ihres Glaubens verfolgt wurden und deswegen sich in eine Höhle zurückziehen, wiedergegeben (21, 9-26.): Sie währen sich gegen den Polytheismus und müssten in eine Höhle fliehen, damit sie nicht gesteinigt werden oder ihre Religion aufgeben müssen. Der genauere Ort oder der Zeitraum ist nicht ganz klar, auch ihre Namen werden nicht genannt. Sie fliehen vor dem Herrscher, der gläubige Menschen verfolgt. Die Soldaten verschließen die Tür. Wie lange sie geschlafen haben, wird folgendermaßen angegeben: „Und sie verweilten dreihundert Jahre in ihrer Höhle, und neuen dazu“ (21:25). Die koranischen Geschichten sollen – unabhängig davon wann und wo etwas passiert ist – dem Leser zeigen, dass Menschen, denen Unrecht geschieht nicht verzagen sollen, denn das Unrecht wird nie obsiegen und dejenigen, die sich für Gott und die Menschen einsetzen immer ihr Ziel erreichen werden (Yildirim, 1994; Sengül, 2002).

Moses und die Israeliten Moses (arab. Musa) hat einen besonderen Stellenwert im Koran und ist die am häufigsten namentlich genannte Person im Koran (137 Mal). Er tritt vor allem als Anführer der Israeliten auf, ist Empfänger der Thora und gilt auch als Vorbereiter und Wegbereiter des Propheten Muhammad. Seine besondere Stellung wird im Koran auch dadurch gewürdigt, dass er in den Prophetenworten als Kalimullah bezeichnet wird. Denn er sprach nicht durch Mittler (Engel) mit Gott sondern direkt (4:164; 7:143). Eine sehr wichtige Erzählung im Koran ist die Konfrontation Moses und Aarons (arab. Harun) mit dem Pharao und den Magiern (s. 7:103126; 20:59-78; 26:36-51). Obwohl der Pharao im Streitgespräch mit Moses und Aaron unterliegt und seine Magier sich vor Gott niederwerfen, ist er nicht einsichtig und möchte die Israeliten nicht ziehen lassen. Diese fliehen aber vor der Unterdrückung eines Tyrannen, der die Menschen versklavt und ihnen die freie Religionsausübung verwehrt. Schüler können hier ganz klar parallelen entdecken zu Menschen, die heute wegen Unterdrückung (z. B. aus Syrien fliehen müssen): „Und (damals) als wir euch von den Leuten Pharaos erretteten,

während sie euch eine schlimme Qual auferlegten, indem sie eure Söhne abschlachteten und (nur) eure Frauen am Leben ließen! Darin lag für euch eine schwere Prüfung von seiten eures Herrn“ (2:49). Pharao ertrinkt mit seinen Soldaten im Meer (2:50; 28:40; 51:40). Nun heißt es für die Geflüchteten sich ein neues Leben aufzubauen.

Muhammad – der Flüchtling Die Auswanderung (arab. Hidschra) des Propheten Muhammad im Jahre 622 aus Mekka ist eines der zentralen Ereignisse im Leben des Propheten. Sie wird später zum Anhaltspunkt für die islamische Zeitrechnung unter dem zweiten Kalifen Umar. Diese Ausscheidung oder Loslösung von Mekka geschieht nicht freiwillig, sondern ist die Folge von jahrelanger Unterdrückung und Missachtung der ersten muslimischen Gemeinde. Denn wäre der Prophet nicht ausgewandert, wäre er wohl ermordert worden. Denn jahrelang hatten die Mekkaner die kleine Schar von Muslimen bedrängt, einige wurden getötet, andere wiederum wanderten nach Abbassinien zum christlichen Herrscher aus. Der Prophet selbst wird beschimpft, geschlagen und beschmutzt. Es ist eine beschwerliche Reise, die rd. 470 Kilometer und dauert 8 Tage. Dabei werden sie verfolgt und müssen in einer Höhle Zuflucht nehmen: “ Wenn ihr ihm nicht helft, so (wisset, daß) Allah ihm damals half, als die Ungläubigen ihn vertrieben haben -, wie sie da beide in der Höhle waren und er zu seinem Begleiter sagte: ""Sei nicht traurig; denn Allah ist mit uns."" Da ließ Allah Seinen Frieden auf ihn herab und stärkte ihn mit Heerscharen, die ihr nicht saht, und erniedrigte das Wort der Ungläubigen; und Allahs Wort allein ist das höchste. Und Allah ist Erhaben, Allweise (9:40). Doch auch dieses Ereignis gibt Grund zur Hoffnung: Denn durch Gottes Fügung wird dieses Ereignis positive psychologische und sozialpolitische Folgen haben. Denn die Bedrängten aus Mekka gründen eine multireligiöse Gesellschaft, die ihr Gemeinwesen vertraglich reguliert und sich dem göttlichen Wohlgefallen verpflichtet sieht. „In Medina war Muhammad gerufen, die politischen Probleme der aus verschiedenen Gruppen bestehenden Stadt zu lösen. Es gelang ihm, eine Gemeindeordnung zu schaffen, die auch die Muhadschirun, die »Fluchtgenossen«, und die Ansar, die medinensischen »Helfer«, einbezog und die zur Basis späterer islamischer Verwaltung wurde“ (Schimmel, 2002:13f)

Kompetenzen ausbilden Der Pisa-Schock von 2001 hat zu grundlegenden Diskussionen zur Bildung und Leistung im deutschen Bildungswesen geführt. Neben Verbesserung der Leistung im internationalen Vergleich steht die Frage im Raum, wie moderner, schülerorientierter Unterricht gestaltet werden kann. Kompetenzmodelle sollen dabei helfen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler auszubilden. Unter der Überschrift „Prozessbezogene Kompetenzen religiöser Bildung“ hat das Comenius Institut (EKD Texte Nr. 111, 2011) einen Rahmen für den evangelischen Religionsunterricht abgesteckt. Ähnliche Ansätze folgten auf katholischer Seite. Für den islamischen Religionsunterricht fehlt (noch) ein einheitlicher Katalog. Aber eine Kompetenz, nämlich, die Urteilskompetenz, scheint mir, neben der Empathie.- und Handlungskompetenz sehr zentral zu sein. „Urteile im weitesten Sinne sind alle Aussagen eines Individuums über Menschen und Sachen, die konstatierenden und/oder qualifizierenden

Charakter haben" (Weinbrenner, 1997:74). Über etwas zu urteilen heißt, es zu teilen oder: ein Urteil fällen, einschätzen, ein Urteil sprechen, wenn man z.B. über ein Sachverhalt urteilt. Urteilen ist scheinbar nicht unabhängig von einem Maß: um etwas einschätzen zu können, muss ein Maßstab das Urteilen über einen Gegenstand leiten. Urteil ohne ein Vor-Urteil ist nicht möglich! Lernende werden sich in der Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht klar, wo sie selbst stehen, was ihre Werte sind, was sie tolerieren (können), welche Maßstäbe sie selbst haben und was die anderen mitbringen (s.u.). Deswegen sollte das nicht nur aus der konfliktorientierten Perspektive betrachtet werden, sondern kann eine Gelegenheit bieten die Spannung „Einheimische“ und „Flüchtlinge“ konstruktiv und produktiv zu verarbeiten, ohne Probleme klein zu reden. Interreligiöses und interkulturelles Lernen kann dabei Perspektiven eröffnen und Kindern helfen (Auernheimer, 2012, 2013). Die Schulung der Handlungskompetenz wiederum kann Grundlage dafür sein, ins Gespräch zu kommen und zu klären, wie wir mit (ethisch, religiös, weltanschaulich etc.) anderen Menschen umgehen, wie es aber ethisch bzw. religiös und politisch angebracht wäre, in Zeit von Fremdenhass, Islamophobie und Rechtspopulismus eine gemeinsame friedfertige Grundlage (in Schule, Gemeinde, Kommunen etc.) zu schaffen.

Ausblick Die koranischen Geschichten und viele andere Geschichten, die auch ihre Entsprechung in der Bibel und im Alten Testament bieten, sollen natürlich nicht nur Betroffenheit erzeugen, dass wäre zu wenig und ist auch nicht die Absicht des Korans, denn er möchte u.a. zum Nachdenken anregen, zum Forschen über die Gründe auffordern und Mut machen: „All dies haben Wir erläutert in dieser) gesegneten göttlichen Schrift, die Wir dir offenbart haben (o Muhammad), auf daß die Menschen über ihre nachsinnen mögen und daß jene, die mit Einsicht versehen sind, sie sich zu Herzen nehmen mögen.“ (38/29) und „Wahrlich, in der Schöpfung der Himmel und der Erde und in der Aufeinanderfolgen von Nacht und Tag sind fürwahr Botschaften für alle die, mit Einsicht versehen sind (ulil al-bab)“ (3:190). Denn Jakob (arab. Yakub) verliert nie die Hoffnung, obwohl der Sohn (arab. Yusuf) totgesagt ist, die Israeliten können sich einfach ausruhen nach ihrer Flucht, sondern bleiben aufgefordert ein gottgefälliges Leben zu führen (s. 2:49ff), Muhammad spendet seinem Gefährten (Abu Bakr) Trost (9:40). Daraus leiten wir für uns ab, beständig uns für das Gute einzusetzen, geduldig zu sein, Trost zu schenken usw. Aus den koranischen Geschichten erkennen Lernende, dass es keine Schande ist zu fliehen, denn der Koran weist ausdrücklich auf die göttliche Erlaubnis hin: „Das gewährte Gott ihnen und sprach: "Ich lasse kein Werk unbelohnt, das irgendeiner von euch, Mann oder Frau - die einen stammen ja von den anderen - vollbracht hat. Diejenigen, die ausgewandert sind, aus ihren Häusern vertrieben wurden, Schaden erlitten haben auf Meinem Weg, gekämpft haben und im Gefecht gefallen sind, die spreche Ich von ihren sonst begangenen üblen Taten frei und führe sie in Paradiesgärten, unterhalb derer Flüsse fließen." Das ist ihre Belohnung von Gott. Gott gewährt die allerschönste Belohnung“ (3:195). Flüchtlinge sorgen aber auch für Unruhe und Sorge, um die eigene Existenz. Dies thematisiert der Koran und spricht den Eiheimischen Mut zu. In der Sure Hidschra/Exodus heisst es (40:9): „Und jene, die vor ihnen in der Stadt wohnten und im Glauben (beharrten), lieben jene, die bei ihnen Zuflucht suchten, und finden in ihrer Brust keinen Wunsch nach dem, was ihnen gegeben ward, sondern sehen (die Flüchtlinge gern) vor sich selber bevorzugt, auch

wenn sie selbst in Dürftigkeit sind. Und wer vor seiner eignen Habsucht bewahrt ist - das sind die Erfolgreichen.“ Menschen, die flüchten sind nicht (nur) Bittsteller, sondern verfügen über ein reiches Humankapital. Neben Sprache, Ausbildung usw. ist es vor allem ihr religiöser und kultureller Reichtum, den sie ja vor allem durch die Flucht bewahren wollen, wenn z.B: Yeziden, Sunniten, Schiiten vor der IS fliehen, fliehen sie, um ihre ethnische bzw. religiöse Identität zu bewahren. Religions-pädagogisch folgt daraus: Diese Menschen nicht nur als „Nehmer“ sondern auch als „Geber“ zu verstehen. Menschen (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) sollten sich offen halten und bereit sein von den Flüchtlingen zu lernen: Kultur, Sprache, Religion. Religion versichert nicht nur, sondern verunsichert auch. „Religionsunterricht als fördernde Begleitung beläßt die Kinder nicht in einer Sicherheit (Geborgenheit), wenn Gott und Alltag längst innerlich auseinanderfallen. Sie stürzt sie aber auch nicht in Konflikte, die sie weder verstehen, noch seelisch verarbeiten können (…) ein begleitender Religionsunterricht regt zugleich an, führt weiter und vertieft.“ (Schweitzer et all, 1995:95). So kann vielleicht von der Religionspädagogik etwas mehr als nur „Unterricht“ ausgehen, sondern kann auch therapeutische Elemente entwickeln: „Ein Unterricht, der hilft, die erzieherischen Defizite zu Hause, in der Moschee und in der Gesellschaft insgesamt zu kompensieren und einer, der Führung übernimmt“ (Behr, 2008:53f). Somit kann das Thema „Flucht und Flüchtling“ Gelegenheit bieten, die religiöse Kompetenz, also die Fähigkeit aus der eigenen religiösen Tradition heraus im pluralen Kontext mit Menschen, die ethnisch/religiös/weltanschaulich/kulturell anders sind und eine eigene Erfahrung mitbringen (z.B. Flüchtlinge) friedlich und respektvoll umzugehen, gemeinsam zu lernen und gesellschaftlich Verantwortung übernehmen zu können. Nur eine Religionspädagogik, die sich auf die Pluralität, aber auch der Kritik an Religion, Religionsunterricht, Konfessionen usw. einstellt, kann Lernende ansprechen und für religiöse Themen gewinnen (Engler u.a., 2012). Daraus folgt auch eine Herausforderung für die Gemeindearbeit in den Moscheen: Diese ist in der Regel eher internen Zwecken gewidmet: der Unterhalt der Moschee, die Versorgung der Muslime in der Moschee, Kermesse, um die Kasse aufzubessern usw. Imame nehmen hierbei eine Schlüsselposition ein, weil sie eine große Autorität und Respekt in der Gemeinde genießen (Ceylan, 2010). Das Thema „Flucht und Flüchtlinge“ kann eine Gelegenheit bieten – auch für die Muslime – aus einer fatalistischen Haltung, in die sie aufgrund von Islamophobie und Ausgrenzung gedrängt werden, auszusteigen und zu zeigen, welches sozialpolitisches Entwicklungspotenzial der Islam bietet. Zumal die Hilfe für Bedürftige, Menschen auf der Reise usw. ein koranisches Urthema ist: „Die Frömmigkeit besteht nicht darin, daß ihr euch (beim Gebet) mit dem Gesicht nach Osten oder Westen wendet. Sie besteht vielmehr darin, daß man an Allah, den jüngsten Tag, die Engel, die Schrift und die Propheten glaubt und sein Geld - mag es einem noch so lieb sein den Verwandten, den Waisen, den Armen, dem, der unterwegs ist, den Bettlern und für (den Loskauf von) Sklaven hergibt, das Gebet (salaat) verrichtet und die Almosensteuer (zakaat) bezahlt. Und (Frömmigkeit zeigen) diejenigen, die, wenn sie eine Verpflichtung eingegangen haben, sie erfüllen, und die in Not und Ungemach und in Kriegszeiten geduldig sind. Sie (allein) sind wahrhaftig und gottesfürchtig“ (2:177).

Gesellschaftliche Pluralisierungs, und Individualisierungtendenzen in religiöser und gesellschaftlichem Bereich stellen eine große Herausforderung für Individuen dar, die sie manchmal durch Gleichgültigkeit bzw. Abkehr vom Religiösem (Pickel, 2011) beantworten oder in Extremismus verfallen (Peters, 2011). Es gilt eine „Kultur der Ambiguität“ (Bauer, 2011) auch im islamischen Kulturkreis verloren gegangen ist, um auch eine theologische Gelassenheit und Flexibilität zurückzugewinnen, die hilft gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen aufgrund von Migrations,- und Fluchtbewegungen mit einem tragbarens Konzept zu begegnen.

Literatur: Auernheimer, Georg: Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität, 2013. Auernheimer, Georg: Einführung in die interkulturelle Pädagogik, 2012 Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität, 2011. Behr, Harun: Bildungstheoretisches Nachdenken als Grundlage für eine islamische Religionsdidaktik, in: Lamya Kaddor (Hg.): Islamische Erziehungs, und Bildungslehre, ,und, 2008, S. 49-65. Boschki, Reinhold: Einführung in die Religionspädagogik, 2008 Bredella, Lothar: Narratives und interkulturelles Verstehen. Zur Entwicklung von Empathie,Urteils,- und Kooperationsfähigkeit, 2012 Bukow, Wolf-Dietrich: Islam und Bildung, 2003. Ceylan, Rauf: Zwischen Tradition und Innovation: Nur Memorieren und Rezitieren? Zur Bedeutung des Analysierens und Reflektierens, in: Ucar/Bergmann (Hg.): IRU in Deutschland, 2010, S. 249-257. Ceylan, Rauf: Die Prediger des Islam. Imame – wer sie sind und was sie wirklich wollen, 2010 Englert, Rudolf, Ulrich Schwab, Friedrich Schweitzer, Hans-Georg Ziebertz: Welche Religionspädagogik ist pluralitätsfähig?, 2012. Gennerich, Carsten: Narrative Religionsdidaktik: Ansätze, empirische Grundlagen und Entwicklungsperspektiven, in Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 11 (2012), HJ. 1, S. 226-247. Hoegen-Rohls, Christina, „Das hat eine Bedeutung!“ Viertklässler finden den verlorenen Sohn (Lk 15,11–32), in: Büttner, Gerhard /Schreiner, Martin (Hg.), „Man hat immer ein Stück Gott in sich“. Mit Kindern biblische Geschichten deuten, Stuttgart, 2005, S. 106-121. Kaufmann, Jocahim: Religionspädagogik: Eine Einführung, 2010 Ohnson, Don F. und Goldman, Susan R.: Children’s recognition and use of rules of moral conduct in stories, in: American Journal of Psychology 100 (1987), H. 2, S. 205-224. Peters, Till Hagen, Islamismus bei Jugendlichen in empirischen Studien. Ein narratives Review, Bremen. 2012 Pickel, Gert: Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche, Wiesbaden, 2011 Roose, Hanna, „So was gibt’s vielleicht, wenn’s um die Todesstrafe geht“. Siebtklässler lesen ie Schilderung des Endgerichts aus der Offenbarung des Johannes, in: Büttner, Gerhard /Schreiner, Martin (Hg.), „Man hat immer ein Stück Gott in sich“. Mit Kindern biblische eschichten deuten, Stuttgart, 2005, S. 229-242. Schweitzer, Friedrich: Religionspädagogik, 2006.

Schweitzer, Friedrich, Karl Ernst Nipkow, Gabriele Faust-Siehl, Bernd Krupka: Religionsunterricht und Entwicklungspsychologie. Elementarisierung in der Praxis, Gütersloh, 1995. Schimmel. Anne-Marie: Muhammad, 2002. Sengül, Idris: Kissa, in: Islam Ansiklopedisi, Bd. 25, 2002, S. 498-501 UNHCR, Flucht und Asyl. Informatios- und Unterrichtsmaterial für Schule, Material für Schule, Studium und Fortbildung, 2015 (www.unhcr.de/.../15_07_15_UNHCR_Flucht-undAsyl_online.pdf) UNHCR, Statistiken und Zahlen (2014), in: http://www.unhcr.de/service/zahlen-undstatistiken.html Ucar, Bülent: Was kann und sollte Islamische Religionspädagogik in der staatlichen Schule leisten?, in: CIBEDO-Beiträge zum Gespräch zwischen Christen und Muslimen, 2008, S. 2480. Weinbrenner, Peter: Politische Urteilsbildung als Ziel und Inhalt des Politikunterrichtes, in Kuhn/Weißeno, 1, 1997, S. 73-94 Yavuzcan, Ismail Hakki: Urteilskompetenz im Islamischen Religionsunterricht: eine globale Herausforderung, in: Mizrap Polat (Hrsg.): Religion im Zeitalter der Globalisierung. Mit besonderem Fokus auf Kollektivität und Bildung im Islam, Peter Lang Edition, 2014, S.111130. Yavuzcan, Ismail Hakki: Kindertheologie oder altersgerechtes Lernen? Einführende Gedanken im Kontext des Islamischen Religionsunterrichtes, in: Bülent Ucar und Danja Bergmann (Hrsg.): Islamischer Religionsunterricht in Deutschland. Fachdidaktische Konzeptionen: Ausgangslage, Erwartungen und Ziele, Universitätsverlag Osnabrück, 2010, S. 223-232. Yildirim, Suat: Kur’an-i Kerim’de Kissalar, in: Yeni Ümit Dergisi, Jhr. 7, Nr. 25, 1994.

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