Familien und Autismus: Wie sieht die Realität in Familien mit Autisten wirklich aus?

November 3, 2016 | Author: Kathrin Böhm | Category: N/A
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1 Kantonsschule Ausserschwyz Gymnasium Fachmittelschule Maturaarbeit Oktober 2015 Familien und Autismus: Wie sieht die R...

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Kantonsschule Ausserschwyz Gymnasium | Fachmittelschule

Maturaarbeit Oktober 2015

Familien und Autismus: Wie sieht die Realität in Familien mit Autisten wirklich aus?

Autorin, Klasse

Franziska Rickenbach, S4E

Adresse

Fischerhöflirain 2, 8854 Siebnen

Betreuende Lehrperson

Karin Thiele

INHALTSVERZEICHNIS 1. VORWORT............................................................................................................................................ 4 2. ABSTRACT ............................................................................................................................................ 5 3. EINLEITUNG ......................................................................................................................................... 6 3.1. VORGEHEN........................................................................................................................... 7 3.2. VERGLEICHSKRITERIEN ........................................................................................................ 7 4. AUTISMUS: THEORETISCHE GRUNDLAGEN UND ERSCHEINUNGSFORMEN ....................................... 8 4.1 ALLGEMEIN ........................................................................................................................... 8 4.2. MERKMALE .......................................................................................................................... 8 4.3. FORMEN............................................................................................................................... 8 4.4. DAS ASPERGER-SYNDROM ................................................................................................ 10 4.4.1. ALLGEMEIN ........................................................................................................ 10 4.4.2. MERKMALE ........................................................................................................ 11 4.5. DAS KANNER-SYNDROM .................................................................................................... 12 4.5.1. ALLGEMEIN ........................................................................................................ 12 4.5.2. DESINTEGRATIVE STÖRUNG DES KINDESALTERS .............................................. 12 4.6. DIE AUFMERKSAMKEITSDEFIZIT-HYPERAKTIVITÄTSSTÖRUNG (ADHS) ............................. 13 4.6.1. ALLGEMEIN ........................................................................................................ 13 4.6.2. MERKMALE ........................................................................................................ 13 5. EIGENE UNTERSUCHUNGEN .............................................................................................................. 14 5.1. FAMILIENSITUATION BEI PASCAL ...................................................................................... 15 5.2. FAMILIENSITUATION BEI ALEXANDER ............................................................................... 17 5.3 FAMILIENSITUATION BEI MICHAEL ..................................................................................... 19 6. DISKUSSION ....................................................................................................................................... 21 6.1. VERGLEICH ZWISCHEN DEN FAMILIEN .............................................................................. 22 6.2. VERGLEICH MIT DER LITERATUR........................................................................................ 24 7. FAZIT .................................................................................................................................................. 26 8. SCHLUSSWORT .................................................................................................................................. 27 9. QUELLENVERZEICHNIS ....................................................................................................................... 28 9.1. LITERATUR ......................................................................................................................... 28 9.2. INTERNET ........................................................................................................................... 29 9.3. ABBILDUNGEN ................................................................................................................... 30

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10. ANHANG .......................................................................................................................................... 31 10.1. INTERVIEWFRAGEBOGEN ................................................................................................ 31 10.2. INTERVIEW MIT VATER VON PASCAL .............................................................................. 32 10.3. INTERVIEW MIT MUTTER VON PASCAL ........................................................................... 35 10.4. INTERVIEW MIT MUTTER VON ALEXANDER .................................................................... 39 10.5. INTERVIEW MIT MUTTER VON MICHAEL ........................................................................ 44 11. EIGENSTÄNDIGKEITSERKLÄRUNG.................................................................................................... 49

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1. VORWORT Als es Zeit war, mich mit der Themenwahl meiner Maturaarbeit auseinanderzusetzen, kamen viele verschiedene Bereiche in Frage. Mir war wichtig, dass ich über etwas schreiben konnte, worüber ich diskutieren und eigene Erfahrungen einbringen kann. Ich fühlte mich unter Druck gesetzt, als ich hörte, wie schnell und klar meine Mitschüler ihr Thema bereits gewählt hatten und auch ihre Betreuungslehrperson fanden. Ein Gespräch mit meiner Schwester verschaffte mir konkrete Ideen und diese formten sich so zu meiner Themenwahl. Ich hatte bereits im Sozialpraktikum im Sommer 2014 Erfahrungen mit dem AspergerSyndrom gemacht. Damals wurde ich spontan damit konfrontiert und musste in diesen zwei Wochen lernen, damit umzugehen. Dies stellte eine grosse Herausforderung für mich dar, zumal ich nicht wusste, was das Asperger-Syndrom überhaupt war. Zusammen mit meiner Gastmutter habe ich Vieles gelernt und versucht den Asperger-Syndrom Betroffenen Pascal* zu verstehen und mich in ihn hineinzuversetzen. Ich verbrachte viel Zeit mit meiner Gastmutter und wir sprachen sehr viel darüber, weshalb ich mich auch immer mehr für ihre eigenen Erfahrungen und Erlebnisse interessierte. Mir kam die Idee, den Spiess einmal umzudrehen. So würde nicht der Betroffene selber im Zentrum stehen, sondern sein Umfeld. Also alle diejenigen, die mit ihm zusammenleben, mit ihm arbeiten und zu tun haben. Man würde die ganze Geschichte mal aus einer anderen Perspektive betrachten können. Als ich noch mit zwei weiteren Asperger-Syndrom Betroffenen in Kontakt trat, war klar für mich, dass ich dies so verwirklichen möchte. An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen, um mich bei allen zu bedanken, die mich bei meiner Maturaarbeit unterstützt haben. Einen grossen Dank geht an Karin Thiele für die Arbeit als Betreuungslehrperson. Ausserdem möchte ich mich ganz speziell bei meiner Patentante Barbara Lembacher und meiner Schwester Melanie für ihre grosse Unterstützung bedanken. Ich danke auch allen, die am Korrekturlesen beteiligt waren. Des Weiteren möchte ich mich bei allen drei Familien bedanken, die sich die Zeit und Mühe genommen haben, mit mir über diese doch sehr persönlichen und intimen Erfahrungen zu sprechen. Ohne euch wäre das Entstehen meiner Arbeit nicht möglich gewesen. *Name geändert

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2. ABSTRACT In dieser Arbeit versuchte ich herauszufinden, was eine Familie eines Autisten empfindet, erlebt und wie sie mit der Krankheit Autismus umgeht. Dazu habe ich jeweils Eltern dreier verschiedener Autisten interviewt. Zwei davon sind Asperger-Syndrom Betroffene und einer ein Kanner-Syndrom Betroffener. Ich habe ihnen Fragen bezüglich des Ablaufes der Kindheit ihres autistischen Kindes, sowie auch zu persönlichen Erfahrungen gestellt. Ich erkannte überraschenderweise viele Gemeinsamkeit der drei Familien und erstellte sieben Bereiche, in denen diese gut zum Ausdruck gebracht werden konnten. Gleichzeitig wurden gewisse Unterschiede in Bezug auf die verschiedenen Autismusformen der drei Autisten ersichtlich. Anschliessend verglich ich einige Bereiche mit der Literatur und kam so zur Erkenntnis, dass die Realität in Familien mit Autisten durchaus anders aussieht als das, was in der Literatur teilweise verzeichnet ist. Oftmals scheint die Diagnose nicht eine „Lösung des Problems“ zu sein und trotz allen vorhandenen Büchern und Ratgebern für Eltern, müssen diese selber einen individuellen Weg zu einem gut funktionierenden Familienleben mit Autismus finden.

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3. EINLEITUNG Im Sommer 2014 machte ich die Bekanntschaft mit dem damals 15-jährigen Pascal, dem erst im Herbst 2013 die Diagnose des Asperger-Syndroms und der AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung gestellt wurde. Zu diesem Zeitpunkt habe ich mich intensiv mit diesem Thema auseinander gesetzt und habe mich gut darüber informiert mithilfe von Büchern und dem Internet. Ich habe festgestellt, dass es bereits viele Studien und autobiografische Bücher über Menschen mit Asperger-Syndrom gibt. Darin wird sehr detailliert dargestellt, wie ein solcher Mensch denkt, sich fühlt und verhält. Ich habe auch einige lange Gespräche mit Pascals Mutter geführt, in denen sie mir schilderte, wie sie als Mutter von vier Kindern damit zurechtkommt und wie sie gelernt hat mit dieser Krankheit umzugehen. Ich war berührt und fasziniert von ihren Erzählungen und stellte immer wieder Fragen dazu. Dies veranlasste mich dazu, aus der Sicht der Familie schreiben zu wollen und Fragen zu beantworten wie die folgenden: •

Wie erlebten die Eltern seine Kindheit? Gab es dort bereits Anzeichen für Symptome dieser Krankheit?



Welches Gefühl haben Eltern bei der Diagnosestellung? War es eine Erleichterung oder ein Schock?



Gibt es Personen in der Familie, die die Diagnose nicht für richtig halten bzw. nicht akzeptieren?



Welchen Belastungen sind Eltern und Geschwister im alltäglichen Leben ausgesetzt?



Wie sehen die Zukunftschancen aus?



Wie geht die Gesellschaft mit Autisten um? Ist sie tolerant?

Ich entschloss mich diesen und weiteren Fragen auf den Grund zu gehen und habe die Eltern von Pascal interviewt. Durch die Kontaktvermittlung meiner Patentante konnte ich eine weitere Mutter mit einem Asperger-Syndrom Betroffenen interviewen. Ich war überrascht, wie viele Ähnlichkeiten diese beiden Geschichten aufwiesen. Nachdem ich eine weitere Familie in meiner Nachbarschaft interviewt hatte, erkannte ich die vielen Gemeinsamkeiten der drei Familien in mehreren Bereichen, welche ich auf der folgenden Seite genauer erläutern werde.

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3.1. VORGEHEN Für meine Feldarbeit entschied ich mich für die Methode des Interviews. Da mein Thema eine durchaus persönliche und intime Angelegenheit ist, wollte ich auch auf eine persönliche Ebene gelangen, was ich mit individuellen Interviews erreichen konnte. Nach ihrer Durchführung,

zeigten

sich

unerwarteterweise

viele

Gemeinsamkeiten

aber

auch

Unterschiede in den drei Familien. Um diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu analysieren und strukturieren, werden unten sieben Bereiche angegeben, die für die Diskussion verwendet werden.

3.2. VERGLEICHSKRITERIEN Sehr überrascht war ich über die vielen Gemeinsamkeiten der Familien, zumal sie auch drei völlig verschiedene Leben führen und alle drei Autisten sich an verschiedenen Punkten ihres Lebens befinden. Mit Hilfe meiner Interviewfragen gelang es mir, sieben Bereiche zu erstellen, in welchen die Gemeinsamkeiten und auch die Unterschiede gut ersichtlich aufgezeigt werden können. Diese sind wie folgt: 1. Ereignisse in der Kindheit 2. Diagnose 3. Verhalten der Verwandtschaft/Freunde 4. Belastungen der Familie im alltäglichen Leben 5. Verbesserung/Verschlechterung der Krankheit 6. Zukunftschancen 7. Sicht der Gesellschaft

Im nächsten Kapitel werden die theoretischen Grundlagen des Autismus erläutert und es wird auf einzelne Erscheinungsformen dessen eingegangen. In einem weiteren Schritt werden meine eigenen Untersuchungen vorgestellt. Nach einer Diskussion über die Vergleiche zwischen den Familien folgen ein Vergleich mit der Literatur sowie ein Fazit.

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4. AUTISMUS: THEORETISCHE GRUNDLAGEN UND ERSCHEINUNGSFORMEN 4.1 ALLGEMEIN Der Begriff Autismus stammt aus dem Griechischen und bedeutet Rückzug in sich selbst. Autistische Menschen leiden an Wahrnehmungsstörungen, bei denen sie sich von der Aussenwelt abkapseln (Mediscope AG). Autismus gehört zu der Gruppe der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen; man spricht auch von Autismus-Spektrum-Störungen. Die Ausprägung dieser Krankheit kann stark variieren. Bei manchen Autisten ist ein normales Leben möglich, bei anderen braucht es eine lebenslange Unterstützung (Onmeda-Ärzteteam, 2014).

4.2. MERKMALE Meist werden Auffälligkeiten in drei Lebensbereichen sichtbar: •

Schwierigkeiten, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen



Begrenzte Interessen und Aktivitäten, stereotypes Verhalten



Beeinträchtigung der Sprachfähigkeit und mangelndes Interesse an Kommunikation

Diese Symptome treten meist während den ersten fünf Lebensjahren auf. Da sie sich durch die Entwicklung verändern können, muss eine bereits festgestellte Diagnose immer wieder kontrolliert werden. Die Symptome können im Erwachsenenalter in einer abgeschwächten Form erscheinen, doch sie bleiben ein Leben lang (Steindal, 2000).

4.3. FORMEN Es wird zwischen drei Formen von Autismus unterschieden: •

High-Functioning Autismus: Asperger-Syndrom (AS)



Low-Functioning Autismus: Frühkindlicher Autismus (auch Kanner-Syndrom genannt)



Atypischer Autismus

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Das Asperger-Syndrom und das Kanner-Syndrom werden in den nächsten Kapiteln noch ausführlich definiert. Das Kanner-Syndrom unterscheidet sich vom Asperger-Syndrom insofern, dass bereits ab dem 10.-12. Lebensmonat erste Auffälligkeiten sichtbar werden. Beim Asperger-Syndrom geschieht dies meist ab dem 3. Lebensjahr. Zudem erkennt man oft eine stark eingeschränkte Sprachfähigkeit und eine geistige Behinderung bei Menschen mit Kanner-Syndrom, welches ein „Aspie“ (wie sie sich selber gern nennen) nicht (Attwood und Gray, 1999) hat. Der atypische Autismus erfüllt nicht alle Kriterien des Autismus-Spektrums und kann deshalb nicht einem oben genannten Typen zugeordnet werden. Da betroffene Menschen trotzdem in gewissen Bereichen auf Hilfe und Unterstützung im Alltag angewiesen sind, spricht man auch von autistischen Zügen (Autismus deutsche Schweiz, 2007).

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4.4. DAS ASPERGER-SYNDROM 4.4.1. ALLGEMEIN Das Asperger-Syndrom wurde 1944 vom Wiener Kinderarzt Hans Asperger beschrieben. Es gehört zur Gruppe der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (Onmeda-Ärzteteam, 2014). „Menschen mit Asperger haben Mühe Wahrnehmungsinformationen zu deuten und zu filtern. Deshalb können sie sich nur schwer in sozialen Situationen zurechtfinden. Die Auswirkungen […] können Beziehungen zur Umwelt, die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft und die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen.“ (Schneebeli, 2009, S.6 in Anlehnung an Preissmann, 2007, S.11f.). Das Asperger-Syndrom ist oft „unsichtbar“ und die Umwelt nimmt die Betroffenen als „normale“ Menschen wahr. Es ist nicht heilbar, denn es ist genetisch veranlagt. Jedoch können Betroffene mit Hilfe einer verhaltenstherapeutischen Massnahme ihre Defizite verringern (Onmeda-Ärzteteam, 2014). Die Symptome können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. „Es gibt Personen, die als Genies durch ihre Intelligenz und Kreativität als Mathematiker, Wissenschaftler, Künstler oder Musiker unser Leben prägen. Man nimmt an, dass u.a. Einstein, Mozart oder Bill Gates solche „Savants“ sind. So nennt man autistische Personen mit einseitigen, verblüffend gut ausgebildeten Fähigkeiten (Inselbegabung).“(Schneebeli, 2009, S.8 in Anlehnung an Willey, 2003, S.16ff.)

Abbildung 1: Einstein, Mozart, Bill Gates.

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4.4.2. MERKMALE Die folgenden Merkmale stammen von Attwood (2005, S.14ff.): •

Menschen

mit

Asperger

haben

Mühe

mit

der

verbalen

und

nonverbalen

Kommunikation. Dies macht sich bemerkbar durch die Vermeidung des Blickkontakts, das Verwenden von förmlichen oder altklugen Ausdrucksweisen, das Sprechen in einer unangemessenen Lautstärke und die geringe Fähigkeit die Mimiken anderer zu lesen. Ausserdem weisen sie wenig Verständnis für Ironie, Sarkasmus oder Zweideutigkeit auf. •

Oftmals besitzen sie eine ausgeprägte Intelligenz in einem gewissen Bereich (oft im Zusammenhang mit Zahlen und Formeln).



Sie weisen einen markanten Mangel an Empathie und „Theory of Mind- Fähigkeiten“ auf und betrachten eine Lage eher aus einer sachlichen Perspektive. Dies hat u.a. mit der verminderten Anzahl ihrer Spiegelneuronen zu tun, denn mit diesen kann ein Mensch Gefühle des Gegenübers empfinden und nachahmen (Onmeda-Ärztete, 2014).

Weitere Merkmale von „Autismus deutsche Schweiz“ (2007): •

Ihr soziales Verhalten ist beeinträchtigt, z.B. dadurch, dass sie wenig bis gar kein Interesse an Gleichaltrigen aufzeigen oder einen ungeschickten Umgang mit ihnen pflegen. Sie haben auch Mühe, die Ansichten anderer Menschen zu verstehen oder zu erkennen.



Sie haben sehr eingeschränkte und einseitige Interessen, auf die sie sich extrem fokussieren können. Gemäss Autismus deutsche Schweiz nehmen diese viel Zeit in Anspruch und werden repetitiv ausgeübt. Auffällig dabei ist der bevorzugte technische oder sachbezogene Charakter. Routinen und Rituale sind sehr wichtig und geben ihnen Halt im Alltag. Deshalb haben sie oftmals Schwierigkeiten, Veränderungen in der Umwelt vorauszusehen und zu akzeptieren (Gunti, 2009).

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4.5. DAS KANNER-SYNDROM 4.5.1. ALLGEMEIN Leo Kanner nahm den Begriff „Autismus“ des Schweizer Psychiaters Eugen Bleuler auf und fasste ihn eng. Dies entspricht dem heutigen frühkindlichen Autismus, auch als KannerSyndrom bekannt, bei dem die Symptome bis vor dem dritten Lebensjahr vorhanden sein müssen. Betroffene zeigen Auffälligkeiten in den Bereichen Wahrnehmung, Kognition, Sprache, Intelligenz und Motorik, in welcher sie nicht altersentsprechend entwickelt sind. „Damit zusammenhängend liegt der Intelligenzquotient (IQ) oftmals unter dem Durchschnitt, hinreichend bis zu einer geistigen Behinderung. Besonders die Sprachentwicklung ist durch extreme Verzögerung bis zu fehlender verbaler Sprache auffällig. Für diese Kinder sind Kommunikationshilfen wie Gesten, Gebärdensprache oder der Gebrauch von Bildern äusserst wichtig.“ (Fachstelle für Autismushilfe Ostschweiz)

4.5.2. DESINTEGRATIVE STÖRUNG DES KINDESALTERS Diese Form vom frühkindlichen Autismus wurde bei Michael diagnostiziert. „Die desintegrative Störung des Kindesalters ist durch den Verlust erworbener Fähigkeiten gekennzeichnet. Zuvor durchliefen die Heranwachsenden eine normale Entwicklung der Kommunikation, des Spiels und des Anpassungsverhalten. Ab dem zweiten Lebensjahr kommt es zu einem Abbau der Fertigkeiten und Fähigkeiten.“ (Wissen, 2011). Wissen beschreibt folgende Merkmale: 

Es kommt zu einem Verlust der Spielfähigkeit.



Es folgt der Abbau der Sprachfähigkeit, welches eine Kommunikation erschwert.



Es kommt zu einer Rückbildung der motorischen Fähigkeiten.



Die Betroffenen weisen ein einförmiges Verhalten auf und es können motorische Stereotypen auftreten.



Betroffene Kinder zeigen kein Interesse an der Umwelt, was vor allem Jungen betrifft.

Dieser Prozess dauert meist zwei Jahre und stagniert danach auf dem verbliebenen Niveau. Zu dieser Störung gibt es keine Therapie (Wissen, 2011).

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4.6. DIE AUFMERKSAMKEITSDEFIZITHYPERAKTIVITÄTSSTÖRUNG (ADHS) 4.6.1. ALLGEMEIN Ein Frankfurter Arzt beschrieb 1845 erstmals die Zeichen der AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung, abgekürzt ADHS (Mediscope AG). Diese psychische Störung gehört zu den häufigsten bei Kinder und Jugendliche, wobei auch hier Jungen öfters betroffen sind als Mädchen. Es beginnt bereits im Kindesalter und die Betroffenen sind je nach Typ in den Bereichen Aufmerksamkeit und Impulsivität beeinträchtigt und besitzen eine „ausgeprägte körperliche Unruhe“ (Döpfner, Frölich, Wolff Metternich, 2007, S.11)

4.6.2. MERKMALE Nach der internationalen Klassifikation (ICD-10) ist eine definitive Diagnose gesichert, wenn mindestens in zwei der drei Bereichen Symptome auftreten (Mediscope AG): 

Aufmerksamkeitsstörung:

Ablenkbarkeit,

mangelnde

Geduld

für

Genauigkeit,

wiederholtes Abbrechen und Aufnehmen von mehreren Tätigkeiten, Schwierigkeiten in Bezug auf Einhaltung von Regeln, Mühe mit Strukturen 

Fehlende oder mangelnde Impulskontrolle: Handeln ohne nachzudenken, Ungeduld, unangemessene Lautstärke beim Sprechen, schlechte Integration in Gruppen (Aussenseiterposition), aggressives Verhalten, Wutausbrüche, hohe Reizbarkeit, geringe Frustrationstoleranz (Döpfner et al, 2007, S.11)



Hyperaktivität:

Bewegungsdrang,

Unfähigkeit

ruhig

zu

sitzen,

Drang

nach

Beschäftigung, Mühe mit Stille Eine Behandlung dieser Störung erfolgt meist durch ergotherapeutische Verfahren oder durch das Medikament Methylphenidat, welches jedoch viele Nebenwirkungen aufweist (Mediscope AG).

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5. EIGENE UNTERSUCHUNGEN Da mich die Erzählungen meiner Gastmutter sehr interessierten, begann ich sie in meinem Sozialpraktikum und später auch bei Telefonaten immer mehr über Pascal und ihre Erlebnisse mit ihm auszufragen. Im Sommer dieses Jahres führte ich mit ihr und ihrem Mann (separat), und zwei weiteren Müttern von autistischen Kindern jeweils ein Interview durch. Die nachfolgenden Beschreibungen zeigen die Situationen auf, in denen sich die Familien befanden oder immer noch befinden und was sie für Erfahrungen in Bezug auf Autismus gesammelt haben. Um die Privatsphären der Betroffenen zu schützen, habe ich ihre Namen geändert.

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5.1. FAMILIENSITUATION BEI PASCAL Als ich im Sommer 2014 zum ersten Mal Pascal traf, wusste ich nicht Bescheid über seine Krankheit und bemerkte auch nichts Auffälliges. Er verhalte sich wie ein normaler 15-jähriger Junge, dachte ich zu Beginn, als ich die ersten Streitereien mit seiner Mutter miterlebte. In diesen ging es meistens darum, dass er am Abend noch länger wach bleiben wollte, weil er noch in einem Buch vertieft war. Auch als er sich weigerte an den Esstisch zu sitzen und mit der Familie zu essen, wunderte ich mich nicht sonderlich und ordnete dieses Verhalten der Pubertät und der damit möglich verbundene Distanzierung der Familie zu. Doch eines Tages, als wir alle am Esstisch sassen und auf das Essen warteten, schnappte er sich ein Heft das auf der Küchenablage lag, und begann wieder zu lesen. Als meine Gastmutter ihm Essen schöpfen wollte, weigerte er sich vehement das Heft wegzulegen. Sie begann ihn zu schelten und wollte ihm das Heft wegnehmen - ohne Erfolg. Nun versuchte die ganze Familie (Mutter, Vater, 2 Brüder, 1 Schwester) auf ihn einzureden und es entstand eine hitzige Auseinandersetzung, bis Pascal aus der Küche stürmte. Dieses Ereignis warf verschiedene Fragen bei mir auf und nach dem Essen, als meine Gastmutter und ich alleine in der Küche waren, sprach ich sie darauf an. Da klärte sich mich über Pascal auf und erzählte mir, dass er das Asperger-Syndrom in Kombination mit ADHS habe. Ich hatte keine Ahnung, was das war. Sie überreichte mir ein paar Bücher, damit ich mich darüber informieren konnte, und versicherte mir, sie werde in den nächsten Tagen noch mehr erzählen, was sie dann auch tat. Diesen Sommer besuchte ich die Familie, um nochmals in Form eines Interviews mit den Eltern über Pascal und ihre Erlebnisse zu sprechen. Pascal war bereits als kleiner Junge in seiner eigenen Welt, hat oft nicht zugehört und war sehr unruhig. Als Autist nimmt er Geräusche anders wahr und spricht oft in einer unangemessenen Lautstärke. Früher war er oft am Rande des Geschehens und beobachtete viel. Im Kindergarten fand er kein Interesse an Gemeinschaftsspielen, hatte keine Freunde und benahm sich eigenartig. Die Eltern bemerkten, dass Pascal fasziniert vom Lesen war und ständig ein Heft oder Buch in der Hand hielt. Diese Faszination verwandelte sich immer mehr zu einer Obsession. Er vernachlässigte den Schlaf, seine Ämtchen im Haushalt und anstatt mit seinen Mitschülern zu spielen, verbrachte er die Zeit mit lesen. Auch war er nicht sonderlich an Gleichaltrigen und Freundschaften interessiert. Ausserdem hat Pascal enorm Mühe mit Spontanität und braucht eine klare Struktur und Ordnung in seinem Leben. Dies war u.a. in der Schule erkennbar, denn laut seinem Vater hatte er immer grosse Mühe sich an einen neuen Lehrer anzupassen. Rituale spielen auch heute noch eine wichtige Rolle in seinem Alltag und die ganze Familie muss sich daran halten.

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Die Diagnose folgte erst im Herbst 2013. Zu diesem Zeitpunkt war Pascal bereits vierzehn Jahre alt. ADHS wurde schon früher festgestellt. Es war eine Erleichterung und ein Schock zugleich: Erleichtert waren die Eltern darüber, endlich Gewissheit zu haben, dass nicht ihre Erziehung der Grund für Pascals aussergewöhnliches Verhalten war und zugleich darüber schockiert, da sie nichts über Autismus wussten und unklar war, was sie nun erwartete. Die Mehrheit der Verwandtschaft ist immer noch überzeugt, dass Pascals Eltern ihn „falsch“ erzogen haben. Es heisst, sie hätten ihn strenger erziehen müssen und sein Verhalten wäre die Konsequenz daraus. Da sich die vier Kinder untereinander oft streiten, kriegen die Eltern oftmals zu hören, sie hätten ihre Kinder nicht im Griff. Deshalb behielt die Familie auch gewisse Informationen über Pascal für sich, wie z.B. ein erneuter Schulwechsel. Nichtsdestotrotz sickerte diese Information durch und es wurde innerhalb der Verwandtschaft gelästert. Durch diese Krankheit ist die Familie auch sehr belastet. Es wird sehr oft gestritten und diskutiert. Oftmals beruht der Grund auf trivialen Aspekten. In vielen Fällen ist Pascals Verhalten oder er selbst für Auseinandersetzungen verantwortlich. Zudem nimmt er sich, bei allem war er tut, immer viel Zeit und lässt seine Familie oft warten. Pascal nimmt jedoch nicht wahr, dass sein Verhalten seiner Umwelt Mühe macht. Eine positive Entwicklung der Krankheit bemerkten seine Eltern, seit Pascal ein spezielles Internat besucht, welches u.a. auch auf Autisten spezialisiert ist. Dort erhält er die Unterstützung und Beratung, die er benötigt um sich selber besser kennenzulernen. Dadurch, dass Pascal nur am Wochenende zu Hause ist, hat seine Familie einen gewissen Freiraum und dies erlaubt es den Eltern auch, genügend Zeit mit ihren anderen drei Kindern zu verbringen. Pascal braucht Menschen um sich, die ihn verstehen und akzeptieren. Dies kann jedoch im Berufsleben zu Schwierigkeiten führen. Seine Mutter erwähnte bei der Frage von Pascals Zukunftschancen seinen Hang zum Perfektionismus und dass dieser ihm später eventuell im Wege stehen könnte. Zudem müsse er lernen, sich an Fristen und Zeiteinschränkungen zu halten. Beide Eltern zeigten sich jedoch zuversichtlich und meinten, dass Pascal auch dies, wenn auch mit ein paar Hindernissen mehr als andere in seinem Alter, schaffen werde. Heute sind die Eltern der Meinung, dass durch die Tatsache der Unsichtbarkeit des Asperger-Syndroms sich viele Menschen intolerant gegenüber Betroffenen verhalten und spüren das auch.

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5.2. FAMILIENSITUATION BEI ALEXANDER Als ich meiner Patentante von meiner Maturaarbeit erzählte, sagte sie mir, sie kenne eine Mutter mit einem autistischen Kind. Sie machte mir das Angebot, diese Mutter zu fragen, ob sie sich für meine Maturaarbeit und einem Interview zur Verfügung stellen würde. Ich war überrascht, als mir meine Patentante eine Zusage versicherte. Sie gab mir ihre Nummer und ich kontaktierte sie. Alexanders Mutter und ich trafen uns und sie erzählte mir Alexanders Geschichte und ihre Erlebnisse mit ihm. Von ihren Erzählungen fasziniert, entdeckte ich auch bereits gewisse Parallelen zwischen dem Verhalten von Alexander und Pascal. Leider durfte ich nicht mit Alexander sprechen, da für ihn das Asperger-Syndrom kein Thema mehr ist und er nicht gerne darüber spricht. Wenige Monate später trafen wir uns ein weiteres Mal und ich führte das Interview mit ihr durch. Alexander zeigte bereits im Säuglingsalter gewisse Symptome des Asperger-Syndroms auf. Beim Stillen wich er dem Blick seiner Mutter ständig aus und sobald sie ihn fixierte, blickte er weg. In der Spielgruppe nahm er nicht an den Gruppenspielen teil und den physischen Kontakt zu den anderen Kindern und auch z.T. zu seiner Mutter vermied er wenn immer möglich. Er zeigte eine sehr starke Geräuschempfindlichkeit auf und befand er sich an lauten Orten, fing er an zu schreien und hörte nicht auf zu weinen. Da wurde Alexanders Mutter bewusst, dass er die Welt anders wahrnimmt. Alexander hatte viele Alltagsrituale, die immer gleich ablaufen mussten. Zudem legte er sehr viel Wert auf die äussere Ordnung, wie z.B. seinen

korrekt

gestapelten

Kleidungen

oder

die

korrekte

Anordnung

seiner

Stofftiersammlung. Seine starke Konzentrationsfähigkeit, die er besass, konnte sich jedoch rapide in eine Fixierung umwandeln. Ausserdem war er ein sehr guter Beobachter. In der ersten Primarklasse wurde die Lage um einiges schwieriger und nach einer Abklärung auf Hochbegabung durfte er eine Klasse überspringen. Sein Verhalten hat sich jedoch nicht verbessert und mit sieben Jahren machte er eine Spieltherapie. Nach einer zweiten Abklärung bei einem anderen Psychiater, stellte der kinder- und jugendpsychiatrische Dienst die endgültige Diagnose. Diese empfand Alexanders Mutter ebenfalls als eine Mischung zwischen Erleichterung und Schock. Es war auch für sie (wie auch für Pascals Eltern) eine Erleichterung endlich zu wissen, dass nicht sie und ihre Erziehung schuld waren, sondern eine genetische Veranlagung verantwortlich für Alexanders Verhalten war. Da sie nun lange Zeit nur Vermutungen anstellen konnte, war es aber auch ernüchternd die Diagnose Schwarz auf Weiss zu sehen. Diese aber wiederum zu akzeptieren fiel ihr nicht schwer und sie war danach grosszügiger und toleranter im Umgang mit ihm.

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Die Verwandtschaft reagierte relativ unbeeindruckt nach der Diagnose und veränderte ihr Verhalten gegenüber Alexander nicht. Seine Mutter denkt zwar nicht, dass jemand ihr und „ihrer schlechten Erziehung“ die Schuld geben will doch sie vermutet, dass einige Verwandte das denken. Einzig die beiden Grossmütter von Alexander hatten grosse Mühe, die Diagnose zu akzeptieren und waren auch nicht gut darauf anzusprechen. In der Öffentlichkeit erhielt Alexanders Mutter mehrfache Bemerkungen darüber, dass sie ihren Sohn nicht im Griff hätte. Auch in dieser Familie herrschte ständig Streit, oftmals zwischen Alexander und seinem Bruder. Der Lärm- und Stresspegel zu Hause war enorm hoch und zwischen den zwei Brüdern gab es andauernd Spannungen. Glücklicherweise war die acht Jahre jüngere Schwester nie direkt involviert und bekam nicht viel davon mit. Gestärkt mit dem Wissen über

die

Krankheit,

pflegt

die

Familie

nun

einen

viel

offeneren

Umgang

mit

normabweichendem Verhalten. Die vielen gegenseitigen verbalen Verletzungen hat sie jedoch geschwächt. Nach der schlimmsten Phase zwischen zehn und fünfzehn Jahren, hat sich Alexanders Verhalten enorm verbessert. Alexanders Mutter nimmt an, dass dies der Reifung und der Vergrösserung seines Freundeskreises zugeschrieben werden kann. Die Streitereien wurden immer seltener und heute gibt es nur noch gelegentlich mühsame Phasen, in denen Alexander mit seiner Mutter endlos diskutieren kann, ohne dass ein Konsens entsteht. Aufgrund Alexanders Entwicklung von einem isolierten Jungen zu einem jungen, sozial gut integrierten Mann ist sich seine Mutter sicher, dass ihm viele Türen in der Zukunft offen stehen werden. Sie ist zuversichtlich, dass Alexander erfolgreich seinen Platz im Berufsleben findet. Trotz vermehrter Popularität des Themas Autismus in den letzten Jahren denkt Alexanders Mutter, dass viele Menschen stets zu fixiert auf die Norm sind und sich dementsprechend intolerant gegenüber dem normabweichenden Verhalten zeigen. Sie ist der Auffassung, dass die Gesellschaft diese Intoleranz aufgrund einer versteckten inneren Angst herrührt. Man will zur Mehrheit dazugehören und muss sich dafür von der Minderheit entfernen.

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5.3 FAMILIENSITUATION BEI MICHAEL Meine Betreuungslehrperson gab mir eine Maturaarbeit einer ehemaligen Schülerin aus dem Jahr 2002 als Hilfe ab. Als ich diese durchblätterte und den Namen Michael Germann las, realisierte ich, dass ich ihn und seine Familie kenne, denn sie wohnen ja im selben Quartier wie wir. Nicht sicher war ich mir darüber, ob ich mich auch an sie wenden und interviewen durfte, da ich befürchtete, dass die Ähnlichkeit mit der Arbeit von 2002 zu gross werden würde. Meine Betreuungslehrperson versicherte mir jedoch, dass dies kein Problem wäre und so nahm ich mir vor, sie zu kontaktieren. Der jüngste Sohn der Familie Germann hat eine andere Form des Autismus, nämlich die Form des frühkindlichen Autismus, auch Kanner-Syndrom genannt. Wiederum war ich mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war, denn die anderen beiden Autisten haben das Asperger-Syndrom. Ich holte mir erneut Hilfe bei meiner Betreuungslehrperson und sie erklärte mir, dass dies sogar nützlich sein kann, um einen guten Vergleich darstellen zu können. Nun war ich endlich von dieser Idee überzeugt und bat die Familie Germann um ein Interview. Gegen Ende der Sommerferien führte ich dann dieses mit der Mutter von Michael durch. Michael begann im Alter von zwei Jahren seine geliebten Spiele und Bilder zu zerstören und legte sein Fokus auf den Fernseher. Er reagierte nicht mehr auf die Rufe seiner Eltern, was diese sehr irritierten. Sein Sprachwortschatz verminderte sich und er wies eine starke Geräuschempfindlichkeit auf. Trotz vieler Untersuchungen im Kinderspital Zürich, konnten sich die Ärzte Michaels Verhalten nicht erklären. Seine Eltern schickten ihn für ein Jahr in eine Therapie und mit fünf Jahren bekam er einen Platz in einem Kindergarten für autistische Kinder in Urdorf, was ihm damals sehr geholfen hatte. Die Diagnose wurde bei Michael mit fünf Jahren in Urdorf gestellt. Die Mutter empfand grosse Erleichterung, denn nun konnten ihr Mann und sie sich über die Krankheit informieren und für mehr Unterstützung in Michaels Leben sorgen. Michaels Eltern finden es wichtig, dass Eltern aufgeklärt werden und sie so einen besseren Überblick der Situation erhalten. Die Verwandtschaft verhält sich normal gegenüber Michael und macht der Familie Germann keine Probleme. Einzig die Anzahl der Besuche zu Hause ist sehr tief, da viele Besucher das Verhalten von Michael als unangenehm empfinden. Die Mutter meint heute, dass Michael nun mal ein schwieriges Kind war und enorm viel Aufmerksamkeit von seinen Eltern beanspruchte. Diese Tatsache war für manche schwierig zu verstehen.

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Michael ist laut seiner Mutter ein sehr ruhiger und liebenswerter Mensch und Streitereien waren daher eine Seltenheit in der Familie Germann. Doch er forderte die ständige Aufmerksamkeit

seiner

Eltern.

Spätestens

nach

einem

Akt

seiner

motorischen

Ungeschicktheit erhält er sie. Ausserdem will er seine jeweilige Begleitperson nicht bei sich zu Hause haben und deshalb müssen seine Eltern abends zu ihm schauen und sich um ihn kümmern. Dies erschwert es ihnen, ihre Pläne für die Abende realisieren zu können und sie verlassen nur ungern das Haus. Den Schritt zur integrativen Schulung mit einer Heilpädagogin hat enorm zur Verbesserung der Krankheit geführt und es half Michael sehr, sich positiv zu entwickeln. Sein Verhalten weist viel weniger Auffälligkeiten von Autismus auf, da er integrativ aufgewachsen ist. Mit seiner heutigen stabilen Umwelt, hat er sein Leben im Griff. Michael und seine Eltern hatten einen steinigen Weg zu meistern in Bezug auf Schule und Berufsleben. Nun ist er seit mehreren Jahren beim Züriwerk (eine Behinderteninstitution) dabei und kommt an seinem Arbeitsplatz zusammen mit einer Begleitperson gut klar. Seine Mutter ist zuversichtlich, dass er viel erreichen wird, solange er von einer Begleitperson unterstützt wird. Auf die Frage nach der Toleranz und Umgang der Gesellschaft gegenüber Autisten erklärte Michaels Mutter, dass Autisten viel weniger Toleranz und Verständnis erfahren als z.B. geistig Behinderte oder Lernbehinderte. Bei ihnen ist viel mehr ersichtlich, wo der „Haken“ ist und man geht behutsam damit um. Bei Autisten hingegen ist dies viel komplexer und jeder kann

sich

enorm

individuell

entwickeln.

Beim

Kanner-Syndrom

kommen

die

unkontrollierbaren Bewegungen oder Geräusche und die verminderte Sprachfähigkeit dazu. Michaels Eltern erlebten schon viele verwunderte Blicke und unverschämtes Starren in der Öffentlichkeit.

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6. DISKUSSION Im folgenden Kapitel wird ein Vergleich zwischen den drei Familien in den bereits genannten sieben gemeinsamen Bereichen (siehe Kapitel 3.2.) aufgestellt. Zusätzlich werden die wesentlichen

Unterschiede

zwischen

Asperger-Syndrom

und

Kanner-Syndrom

berücksichtigt. In einem weiteren Schritt wird ein Vergleich mit der einschlägigen Literatur gezogen.

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6.1. VERGLEICH ZWISCHEN DEN FAMILIEN 1. Erlebnisse in der Kindheit Alle drei Autisten zeigten ihren Eltern zufolge eine starke Geräuschempfindlichkeit auf. Pascal

und

Alexander

waren

gute

Beobachter

und

bewiesen

eine

hohe

Konzentrationsfähigkeit, die sich oftmals zu einer Fokussierung entwickelte. Beide brauchen stets eine klare Struktur und legen viel Wert auf Rituale, da diese für Ordnung in ihrem Alltag sorgt. Sie waren nie gut sozial integriert, da sie beide wenig Interesse an Gruppenspiele zeigten und weil einerseits Pascals Interessen auf seinem Hobby, dem Lesen, beruhten und andererseits Alexander den physischen Kontakt möglichst vermied. Bei Michael war die Verminderung seines Sprachwortschatzes sehr ausdrucksstark zu beobachten. 2. Diagnose Für die Eltern von Pascal und Alexander war es einerseits eine Erleichterung, da sie nun Klarheit über das Verhalten ihres Kindes hatten und sich nicht mehr selber verantwortlich fühlen mussten. Andererseits war die Diagnose auch eine Art „Schock“, denn sie wussten nicht Bescheid über Autismus und hatten keine Vorstellung über die kommenden Konsequenzen. Bei Pascal war die Diagnosestellung ungewöhnlich spät, wohingegen das Asperger-Syndrom bei Alexander bereits im Kindesalter festgestellt wurde. Da beim KannerSyndrom prägnantere Symptome vorhanden sind, konnte Michaels Mutter viel früher handeln und erhielt so Informationen über seine Krankheit. Dadurch war sie auch enorm erleichtert, als sie die endgültige Diagnose erfuhr. 3. Verhalten der Verwandtschaft/Freunde Michaels Familie war die Einzige, die keine Probleme mit ihrer Verwandtschaft verzeichnete. Bei den anderen beiden Autisten bekamen die Eltern z.T. deutlich zu spüren, dass trotz eindeutiger Diagnose ihnen und einer „falschen“ Erziehung die Schuld gegeben wird oder wurde. Bei Pascal ist dies bis heute der Fall und verbunden mit vielen Lästereien, wohingegen

in

Alexanders

Familie

das

Thema

Autismus

überhaupt

nicht

mehr

angesprochen wird. 4. Belastungen der Familie im alltäglichen Leben Die Familien der Asperger-Syndrom Betroffenen erlebten viele Auseinandersetzungen und meist geschah dies unter den Kindern. In beiden Fällen sind die Autisten das älteste Kind und fixierten ihre jüngeren Brüder mit verbalen Verletzungen. Die Folge daraus ist eine enorme Erhöhung des Stress- und Lärmpegels. Anders sah dies bei Michael aus, da er den

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Beschreibungen seiner Mutter zufolge ein sehr ruhiger und liebenswerter Mensch ist. Doch bei ihm wird die Benötigung von viel Aufmerksamkeit den Eltern manchmal zum Verhängnis. 5. Verbesserung/Verschlechterung der Krankheit Bei allen drei Autisten konnte erfreulicherweise eine deutliche Verbesserung vermerkt werden und bei jedem aus einem anderen Grund. Bei Pascal kommt dies zum Vorschein, seit er in einem auf Autismus spezialisiertem Internat zur Schule geht. Bei Alexander war es der natürliche Prozess der Reifung und die vermehrte soziale Integration, welche bei ihm mit siebzehn Jahren einen positiven Wandel bewirkte. Das integrative Aufwachsen führte bei Michael dazu, dass sein Verhalten weniger Auffälligkeiten von Autismus aufwies. 6. Zukunftschancen Hier ist wichtig zu berücksichtigen, dass sich alle drei Autisten an verschiedenen Punkten im Leben befinden. Michael ist 25 Jahre alt und ist seit mehreren Jahren im Berufsleben tätig. Seiner Mutter zufolge, ist aber die Voraussetzung für seinen Erfolg eine permanente Unterstützung in Form einer Begleitperson. Auch bei Pascal ist die Unterstützung seiner Umwelt wichtig, damit er sich später in seiner Berufslehre wohlfühlen und richtig entfalten kann. Einzig seinen Hang zu Perfektionismus und die Schwierigkeit, Zeiteinschränkungen einzuhalten sind momentan noch grosse Stolpersteine. Da Alexander immer mehr soziale Beziehungen pflegt und oftmals ein Liebling von Lehrern ist, sieht seine Mutter keine Probleme auf seinem weiteren Weg als Chemiestudent. 7. Sicht der Gesellschaft Hier sind alle Eltern derselben Meinung. Da gewisse Formen des Autismus (u.a. auch Asperger-Syndrom) nicht von aussen erkennbar sind, verstehen viele Menschen bei normabweichendem Verhalten nicht wie sie damit umgehen sollen und reagieren mehrheitlich mit einer grossen Intoleranz. Alexanders Mutter vermutet hinter diesem Verhalten die versteckte innere Angst, nicht dazuzugehören. Beim Kanner-Syndrom wird jedoch eine vorhandene Behinderung sichtbar durch unkontrollierbare Bewegungen oder die verminderte Sprachfähigkeit des Betroffenen, in diesem Falle Michael.

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6.2. VERGLEICH MIT DER LITERATUR 1. Erlebnisse in der Kindheit Bei Alexander ist der Zeitpunkt der ersten Auffälligkeiten speziell. Den Erzählungen seiner Mutter zufolge, zeigte er diese bereits im Säuglingsalter. Doch dies deutet auf frühkindlichem Autismus hin. Man unterscheidet aber zwischen „Low-, Intermediate- und High-Functioning Autismus“ (HFM). Bis heute gibt es keine klare Differenzierung zwischen High-Functioning Autismus und dem Asperger-Syndrom, da die Grenzen z.T. verschwommen sind. Deshalb benutzt man sie teilweise als Synonyme (Leekam, Libby und Wing, 2000). Es gibt noch eine weitere Erklärung für das diagnostizierte Asperger-Syndrom. Es kann sein, dass sich im Säuglingsalter zuerst die Anzeichen von High-Functioning Autismus bemerkbar machten und diese danach im Kindesalter ein vergleichbares Funktionsniveau eines Aspergers erreichten. Bei Pascal deuteten die Anzeichen in seiner Kindheit fast eindeutig auf ADHS hin (Döpfner, et al, 2007, S.13ff.). Auch bei Michael wiesen alle Auffälligkeiten in der Kindheit auf das Kanner-Syndrom hin (Fachstelle für Autismushilfe Ostschweiz, 2004). 2. Diagnose Nur bei Pascal wurde die Diagnose ungewöhnlich spät, nämlich erst mit vierzehn Jahren gestellt. Eine Diagnose bei Aspergern erfolgt jedoch meist im Kindesalter, da zu dieser Zeit die soziale Integration stattfindet und daher Auffälligkeiten von Autismus vorhanden sein können

(Onmeda-Ärzteteam,

2014).

Die

Diagnose

könnte

aufgrund

des

bereits

diagnostizierten ADHS erst so spät gemacht worden sein, denn die Differenzierung der beiden Störungen ist oft sehr schwierig. 5. Verbesserung/Verschlechterung der Krankheit Die Symptome von Autismus generell sind häufig in der Pubertät am stärksten ausgeprägt und schwächen sich danach bis ins Erwachsenenalter immer mehr ab, wobei sie aber nie ganz verschwinden (Onmeda-Ärzteteam, 2014). Dies ist auch bei Alexander und Michael deutlich erkennbar, wohingegen Pascal noch mitten in der Entwicklung steckt. 7. Sicht der Gesellschaft In einem von Autismus deutsche Schweiz verfassten Buch, erzählen Asperger-Syndrom Betroffene u.a., wie sie von anderen behandelt werden. Matthias Fischer ist einer davon und erklärt, dass er immer Schwierigkeiten im Alltag hatte, da er sich anders fühlte als seine Mitmenschen. Er betont, dass die Menschen Autisten einfach so nehmen sollten, wie sie sind. Auch Liselotte Graf spricht das Thema Ausgrenzung im Zusammenhang mit Autismus

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an. Die Gesellschaft müsse endlich den Schritt der Integration von Autisten machen und aufhören, sie zu separieren. Die Bereiche 3, 4 und 6 habe ich bewusst weggelassen, da ein Vergleich mit der Literatur nicht möglich ist. Diese Bereiche handeln von persönliche Einstellungen, Erlebnissen und individuellen Zukunftsplänen, die auf keinen Fall voraussehbar sind und nicht auf klaren Fakten beruhen.

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7. FAZIT In meiner Arbeit versuchte ich herauszufinden, wie die Realität in Familien mit Autisten wirklich aussieht. Dazu habe ich drei Familien interviewt und die daraus ersichtlichen Gemeinsamkeiten in sieben Bereiche unterteilt. In der Diskussion ging ich auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Familien in den sieben Bereichen ein. Hier wurde auch der Unterschied zwischen dem AspergerSyndrom und des Kanner-Syndroms ersichtlich. Alle drei Familien hatten in der Kindheit sehr ähnliche Erlebnisse bezüglich der ersten Erscheinungen von Symptomen des Aspergeroder Kanner-Syndroms. Bei der Diagnosestellung können Unterschiede zwischen der Literatur und den Erfahrungsberichten der Eltern festgestellt werden. Bei allen drei Autisten konnte eine Verbesserung der Krankheit verzeichnet werden. Schliesslich sind sich alle drei Elternpaare einig, dass die Toleranzgrenze in der Gesellschaft gegenüber Autisten sehr tief angesetzt ist und ein Umgang mit ihnen normal oder nur sehr erschwert stattfindet. Meine Erkenntnis aus dieser Arbeit ist vor allem die Tatsache, dass jedes Thema eine Theorie und eine Praxis beinhaltet. Die Theorie braucht es um verstehen zu können, um was das es geht. Ausserdem enthält sie gewisse Ansätze für mögliche Anwendungen. Die Praxis kann sich aber enorm von diesen Ansätzen unterscheiden und oftmals muss eine eigene und individuelle Anwendung erlernt werden. So auch beim Thema Autismus. Die drei Familien können sich Tipps aus Büchern und Ratgebern für Eltern mit autistischen Kindern aneignen, doch schlussendlich müssen sie selber einen Weg zu einer funktionierenden Familie finden. Die Erfahrungen, die sie auf diesem Wege sammeln sind oftmals eine grosse Bereicherung und Belehrung. Mit dieser Arbeit wollte ich nicht nur meine eigenen Ziele verfolgen, sondern auch andere Menschen darauf aufmerksam machen und zeigen, dass es wichtig ist, sich beide Seiten anzusehen, die Seite der Betroffenen aber auch die Seite des sozialen Umfeldes des Betroffenen.

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8. SCHLUSSWORT Die Zeit zischen der Vereinbarung der Maturaarbeit und den Sommerferien verging sehr schnell und ehe ich es bemerkte, war es bereits Sommer und nur noch wenige Monate bis zur Abgabe der Arbeit. Diese Zeit bis zum Herbst war hart und verbunden mit intensiver Schreibarbeit. Ich war sehr lange unsicher, ob ich meinen Plan und meine Ideen auch wirklich

umsetzen

konnte.

Erst

nach

der

letzten

Besprechung

mit

meiner

Betreuungslehrperson war ich überzeugt. Das Schreiben der Theorie empfand ich anspruchsvoll, da ich viele Informationen hatte und diese paraphrasiert und verkürzt formulieren musste. Das Schreiben der Feldarbeit hingegen fiel mir leichter, da ich auch meine eigenen Erfahrungen miteinfliessen lassen konnte. Wenn ich nun auf meine Ziele zurückschaue stelle ich fest, dass ich trotz Nichteinhaltung meines Zeitplans fast alles erreicht habe, was ich wollte. Mein Plan war zwar auch Interviews mit Geschwistern oder Verwandten durchzuführen, doch dies klappte aufgrund von individuellen Wünschen der Eltern nicht. Da ich die Privatsphäre der Familien respektieren wollte, entschied ich nur die Eltern oder einen Elternteil zu interviewen. Diese Arbeit hat mich gelehrt, Prioritäten zu setzen und den Zeitaspekt mehr zu berücksichtigen.

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9. QUELLENVERZEICHNIS 9.1. LITERATUR Attwood, Tony. Aspergersyndrom: Das erfolgreiche Praxis-Handbuch für Eltern und Therapeuten. 3. Stuttgart: TRIAS, 2010. —. Asperger-Syndrom: Wie Sie und ihr Kind alle Chancen nutzen. Stuttgart: TRIAS, 2005. Autismus deutsche Schweiz. Die vielen Gesichter des Asperger-Syndroms: 9 Porträts. Autismus deutsche Schweiz, 2007. Döpfner, Manfred, Jan Frölich und Tanja Wolff Metternich. „Ratgeber ADHS: Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher zu Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen.“ Ratgeber Kinder- und Jugendpsychotherapie. Bd. I. Hogrefe, 2000. Leekam, Susan, et al. „Comparison of ICD-10 and Gillberg's Criteria for Asperger Syndrome.“ Autism: The International Journal of Research and Practice März 2000: 11-28. Preissmann, Christine. Psychotherapie bei Menschen mit Asperger-Syndrom: Konzepte für eine erfolgreiche Behandlung aus Betroffenen- und Therapeutensicht. Stuttgart: Kohlhammer, 2007. Schmidt, Peter. Der Junge vom Saturn: Wie ein autistisches Kind die Welt sieht. Ostfildern: Patmos, 2013. Schneebeli, Sandra. „Verstehen und Verstanden werden: Mein Leben mit dem AspergerSyndrom.“ Autismus deutsche Schweiz, 2009. Maturaarbeit an der Kantonsschule Freudenberg. Schnyder, Nadja. „Ein Leben mit Autismus.“ 2002. Maturaarbeit an der Kantonsschule Ausserschwyz. Simchen, Helga. ADS. Unkonzentriert, verträumt, zu langsam und viele Fehler im Diktat: Diagnostik, Therapie und Hilfen für das hypoaktive Kind. 8. Stuttgart: Kohlhammer, 2012. —. Die vielen Gesichter des ADS: Begleit- und Folgeerkrankungen richtig erkennen und behandeln. 3. Stuttgart: Kohlhammer, 2010.

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Steindal, Kari. Das Asperger-Syndrom: Wie man Personen mit Asperger-Syndrom und autistische Personen mit hohem Entwicklungsniveau versteht und wie man ihnen hilft. . Hamburg: Bundesverband Hilfe für das autistische Kind, Vereinigung zur Förderung autistischer Menschen, 2000. Willey, Liliane H. Ich bin Autistin - aber ich zeige es nicht. Freiburg im Breisgau: Herder, 2003.

9.2. INTERNET Attwood, Tony und Carol Gray. „Die Entdeckung von „Aspie”: Kriterien von Attwood und Gray.“ 1999. . [Abgerufen am 1. Oktober 2015] Fachstelle für Autismushilfe Ostschweiz. kein Datum. Atypischer Autismus: ICD-10-GM F84.1. . [Abgerufen am 13. September 2015] —. kein Datum. Frühkindlicher Autismus: ICD-10-GM F84.0. . [Abgerufen am 1. Oktober 2015] Gunti, Patrick. September 2009. Vom Umgang mit Autisten. . [Abgerufen am 3. Oktober 2015] Mediscope AG. kein Datum. Autismus (Asperger Autismus, Asperger-Syndrom, Autistische Störung, Kanner-Syndrom). . [Abgerufen am 13. September 2015] —. kein Datum. Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHD, ADHS, Hyperaktivität, Hyperaktivitätssyndrom, POS). . [Abgerufen am 1. Oktober 2015] Onmeda-Ärzteteam. 30. Oktober 2014. Autismus. . [Abgerufen am 4. Oktober 2015]

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—. 25. Juli 2014. Asperger-Syndrom. . [Abgerufen am 13. September 2015] Wissen, Vistano. 13. April 2011. Desintegrative Störung des Kindesalters. . [Abgerufen am 12. September 2015]

9.3. ABBILDUNGEN Titelseite: https://www.pinterest.com/vsmith623/project-df/

Abbildung Nr.1, S.10: Einstein: Mozart: Bill Gates:

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10. ANHANG 10.1. INTERVIEWFRAGEBOGEN An Eltern: 1. Wie haben Sie bemerkt, dass ihr Kind „anders“ ist? 2. Wie erlebten Sie seine Kindheit? Gab es dort bereits Anzeichen für Symptome dieser Krankheit? 3. Was haben Sie zuerst unternommen? 4. Wie fühlten Sie sich bei der Diagnosestellung? War es leicht die Diagnose zu akzeptieren? War es eine Erleichterung oder ein Schock? 5. Hat sich die Beziehung zu Ihrem Kind nach der Diagnose verändert? (Inwiefern?) Hat die Diagnose Sie persönlich verändert? 6. Welche stereotypischen Merkmale wurden an seinem Verhalten sichtbar? Welche Schwächen/ Stärken hat er? 7. Wie haben sich Verwandte/ Freunde gegenüber ihm und Ihnen verhalten? 8. Fühlen sich die Geschwister benachteiligt aufgrund verschiedener Erziehung/“Spezialbehandlung“? 9. Hat sich die Krankheit mit der Zeit verschlimmert/ verbessert? 10. Ist Ihnen alles auch schon mal über den Kopf gewachsen? Was wollten Sie dann am liebsten tun? 11. Welchen Einfluss hat diese Krankheit auf ihre Familie? Hat es sie gestärkt/ geschwächt? 12. Gibt es Personen in der Familie, die die Diagnose nicht für richtig halten bzw. nicht akzeptieren? 13. Welchen Belastungen sind Eltern und Geschwister im alltäglichen Leben ausgesetzt? 14. Was war Ihr schlimmstes Ereignis in Bezug auf ihr Kind und die Krankheit? (Welches ihr schönstes?) 15. Wie beurteilen Sie seine Zukunftschancen? 16. Kennen Sie gleich betroffene Eltern? 17. Wie geht die Gesellschaft mit Autisten um? Ist sie tolerant?

Alle Namen in den Interviews sind aus Rücksicht abgeändert.

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10.2. INTERVIEW MIT VATER VON PASCAL 1. Wie hast du bemerkt, dass Pascal(16) (Asperger-Syndrom, ADHS) „anders“ ist? Ja, schon als kleiner Junge war er sehr unruhig. Und man hat schnell gemerkt, dass er sehr gute Fähigkeiten im Bereich des Beobachtens besitzt. 2. Wie hast du seine Kindheit erlebt? Gab es dort bereits Anzeichen für Symptome dieser Krankheit? Er brauchte einfach sehr viel Bewegung. Dies war wohl ein Anzeichen für ADHS. 3. Was habt ihr zuerst unternommen? Wir haben mit unserem Hausarzt gesprochen. Der sagte uns, er selber war in seiner Kindheit auch sehr aktiv, das wäre also kein Problem. In der Schule hatte er dann wahnsinnig Mühe sich an einen neuen Lehrer anzupassen. Je länger er eine Bezugsperson kannte, desto einfacher war es für ihn. Er hat mehrmals die Schule gewechselt und war auch in der psychiatrischen Klinik, was alles nichts nützte. Nun ist er in einem speziellen Internat mit anderen Autisten und dies tut ihm wirklich gut und er lernt nun auch sich selber besser kennen. 4. Wie hast du dich gefühlt bei der Diagnosestellung? War es eine Erleichterung oder ein Schock? Ich bin zuerst erschrocken. Ich wusste nicht viel über das Thema Autismus, bis mir meine Frau davon erzählte. Dann wurde mir bewusst, dass Pascal ein Autist war. Es war natürlich auch eine Erleichterung. Nun war endlich die Gewissheit da, dass nicht wir und unsere „schlechte Erziehung“ der Grund für sein Verhalten waren. 5. Hat sich die Beziehung zu Pascal nach der Diagnose verändert? Ich denke nicht. 6. Welche stereotypischen Merkmale wurden an seinem Verhalten sichtbar? Ja, die waren sichtbar. Sobald etwas nicht nach Plan läuft und etwas kurzfristig abgeändert wurde, konnte er damit nicht umgehen. Wir haben auch bemerkt, dass er viel schneller denken als handeln kann. 7. Wie haben sich Verwandte/Freunde gegenüber ihm und dir verhalten? Ja der Gedanke ist immer noch da, dass wir ihn nicht genug streng erzogen haben.

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8. Fühlen sich die Geschwister (2 Brüder, 1 Schwester) benachteiligt aufgrund verschiedener Erziehung/“Spezialbehandlung“? Der jüngste Bruder merkt dies noch nicht, da er einfach noch zu jung ist. Aber bei den anderen ist sicherlich eine Rivalität da. 9. Hat sich die Krankheit verschlimmert/verbessert? Es hat sich schon verbessert, v.a. seit er in diesem speziellen Internat ist. Dort bekommt er die Hilfe und Unterstützung, die er benötigt. 10. Ist dir auch alles schon mal über den Kopf gewachsen? Als er in die psychiatrische Klinik kam, habe ich geweint. Dies war einen sehr schwierige Entscheidung, aber wir wussten nicht wie weiter. Es war eine harte Zeit und wir besuchten ihn oft. Er ist er auch eine grosse Unterstützung bei meiner Arbeit im Stall und es gibt wirklich immer viel zu tun. Dies dann alleine zu regeln war sehr anspruchsvoll. 11. Welchen Belastungen sind Eltern und Geschwister im alltäglichen Leben ausgesetzt? Wenn die ganze Familie an einem Tisch zusammenkommen will, wie beispielsweise zum Mittagessen. Da wartet man einfach sehr lange, bis er am Tisch sitzt. Doch langsam lernt er, sich an gewisse Regeln zu halten und an die Familie anzupassen. 12. Was war dein schlimmstes Ereignis in Bezug auf Pascal und die Krankheit? Als er seinem Bruder bei einem Streit einen Holzhammer nachgeworfen hat. Er hat erst später realisiert, dass er eine Grenze überschritt. Meine Frau konnte als Einzige ihn wieder beruhigen, indem sie ihn einfach ganz fest in den Armen hielt. Also ist er eher fixiert auf seine Mutter? Ja, das ist er. Aber das ist ja auch gut so, denn er braucht eine solche Bezugsperson. Und welches war dein schönstes Ereignis? Da gibt es viele. Ich finde es toll zu sehen, dass er trotz allem Erfolg hat. Obwohl er viel zu überwinden hat, läuft es gut. 15. Wie beurteilst du seine Zukunftschancen? Er wird sicher Erfolg haben in Bezug auf seine Berufslehre. Jedoch braucht er auch Menschen um sich, die ihn begreifen. Deshalb wird es auch schwierig werden, aber er wird es schaffen.

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16. Wie geht die Gesellschaft mit Autisten um? Sind sie tolerant? Sehr viele Menschen wissen gar nicht, was Autismus ist. Wenn man einen Menschen im Rollstuhl begegnet, wird schnell klar, dass da eine Behinderung vorliegt. Sie ist äusserlich ersichtlich. Bei Pascal sieht man von aussen nichts, denn bei ihm ist es eine geistige Behinderung und tritt unregelmässig auf. Mit dem kann die Gesellschaft nicht gut umgehen.

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10.3. INTERVIEW MIT MUTTER VON PASCAL 1. Wie hast du bemerkt, dass Pascal „anders“ ist? Er hat nie zugehört. Schon als kleiner Junge wollte er nie zuhören oder vielleicht konnte er nicht zuhören, weil er in seiner eigenen Welt war. Er hat auch immer wieder etwas ausprobiert wie zum Beispiel auf Dächer klettern. Ihm war gar nicht bewusst wie gefährlich dies sein kann. 2. Wie hast du seine Kindheit erlebt? Gab es dort bereits Anzeichen für Symptome dieser Krankheit? Begonnen hat es bereits im Kindergarten. Er ist dort oft unter den Tisch gekrochen, hat das Treppengeländer abgeleckt und wenn die Lehrerin ihn sprechen wollte, ging er weg. Er war dann auch oft am Rand und hatte die Rolle des Beobachters. Er war auch ein Einzelgänger. Er hat nicht wirklich an Gemeinschaftsspielen in der Schule oder in der Freizeit teilgenommen. Seine Priorität war das Lesen. Beim Lesen war er einfach in seiner eigenen Welt und man konnte ihn nur sehr schwer wieder da herausholen. Auch wenn er mal mit einem Schulkollegen abgemacht hat, spielte er nicht mit ihm, sondern las Comics. Er hat auch viele unberechenbare Streichs gespielt. Diese fielen besonders dann negativ auf, als wir Besuch bekamen oder auf Besuch waren. Er realisierte gar nicht, dass sein Verhalten unangebracht und unhöflich war. Er fand es einfach sehr lustig. 3. Wie hast du dich gefühlt bei der Diagnosestellung? War es leicht die Diagnose zu akzeptieren? War es eine Erleichterung oder ein Schock? Das war ganz schwierig, aber auch eine Erleichterung. Endlich hatten wir Klarheit darüber was es ist, denn wir wussten ja schon lange, dass etwas nicht stimmte. Zudem waren mein Mann und ich froh, dass nicht unsere Erziehung der Grund für sein Verhalten war, was immer noch viele behaupten. 4. Hat sich die Beziehung zu Pascal nach der Diagnose verändert? Ja, ein bisschen. Ich habe gelernt, wie ich ihn z.B. besser beruhigen kann, wenn er aufgebracht ist. Ich nehme ihn einfach in die Arme, halte ihn fest und führe ihn weg vom Geschehen, bis er sich wieder beruhigt hat. Ich habe auch meinem Mann erklärt, dass es nichts bringt wenn man ihn anschreit, denn das heizt ihn nur weiter an. 5. Welche stereotypischen Merkmale wurden an seinem Verhalten sichtbar? Welche Schwäche/Stärken hat er?

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Er hat wahnsinnig Mühe mit Spontanität. Er muss immer genug früh über etwas informiert werden, ansonsten geht gar nichts. Er braucht Vorbereitung, einen Plan, eine Struktur. Auch in der Schule hatte er Mühe sich an den Plänen seiner Lehrer anzupassen. Er wollte nicht, dass jemand bestimmt, was er tun muss. Er wollte die Freiheit haben, selber zu entscheiden, was er tun möchte. Wenn wir bei Verwandten auf Besuch waren, bat er immer um ein Buch, um zu lesen. Er wollte nie mit ihnen reden, weil er dies einfach nicht gut kann. Er war nie gut sozial integriert. Er hatte auch nie wirklich Freunde. Und gerade weil er nicht viel mit den anderen zu tun hatte, wurde er auch gemobbt. Er kam danach immer sehr wütend nach Hause und ich musste ihn beruhigen. Seinen Hang zu Perfektionismus macht mich manchmal rasend. Es kommt vor, dass er mich kritisiert weil ich z.B. im Haushalt meine Arbeit nicht perfekt erledigt habe. Doch ich habe nun mal keine Zeit übrig für Perfektionismus, was er jedoch nicht verstehen kann. Ich habe auch bemerkt, dass er von allen vier Kindern derjenige mit dem grössten Durchhaltevermögen ist. Wenn er an einer Arbeit sitzt, dann zieht er das auch durch. 6. Wie haben sich Verwandte/Freunde gegenüber ihm und dir verhalten? Sie denken immer noch, dass mein Mann und ich Pascal „falsch“ erzogen haben. Sie sagen uns dies zwar nicht ins Gesicht, aber wir erfahren dies durch andere Personen. Als Pascal wieder die Schule gewechselt hat (jetzt ist er in einem speziellen Internat mit anderen Kindern, die z.T. auch Asperger sind und dort kriegt er auch Hilfe und Beratung) hat die Verwandtschaft untereinander gelästert. Danach habe ich ihnen erklärt, dass sie bei Fragen auf uns zukommen können und wir ihnen diese gerne beantworten. Bis heute hat sich noch niemand gemeldet und gefragt. Bei unseren vier Kindern braucht es nicht viel, damit ein Streit ausbricht. Dann heisst es auch sehr schnell, dass wir unsere Kinder nicht im Griff haben. 7. Fühlen sich die Geschwister benachteiligt aufgrund verschiedener Erziehung/“Spezialbehandlung“? Ja, das denke ich schon. Vor allem Pascals Bruder (14) und seine Schwester (12) fühlen sich in gewissen Situationen benachteiligt. Sie kommen dann auch zu mir und sagen mir dies. Wir reden darüber und ich versuche ihnen die Situation zu erklären. Sie verstehen immer mehr und ich gebe ihnen auch Bücher, damit sie sich informieren können. Der Jüngste (8) versteht noch nicht was abläuft. 8. Hat sich die Krankheit verschlimmert/verbessert? Es hat sich erst verbessert, seit er in diesem Internat ist. Zu Beginn hatten wir alle Mühe damit. Mein Mann und ich mussten die Tatsache akzeptieren, dass er nur am Wochenende

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zu Hause war. Und Pascal war dort gezwungen, gewisse Aufgaben zu erledigen, wie z.B. Ämter. Er konnte nicht mehr nach Lust und Laune etwas tun, sondern musste sich anpassen und ihren Regeln folgen. Er hat dort auch Freunde gefunden, was uns sehr freut. 9. Ist dir alles auch schon mal über den Kopf gewachsen? Was wolltest du dann am liebsten tun? Ja klar, ich habe oft geweint. Die schlimmste Zeit war, als ich mit meinem jüngsten Sohn schwanger war. Da war Pascal in der 3.Klasse und ausser Kontrolle. Ich konnte nicht einmal in Ruhe eine Geschichte aus einem Buch ihm und seinem Bruder vorlesen, denn er hat sich andauernd beschwert und herumgeschrien. Ich musste ihn nach der Schule immer dazu zwingen, seine Hausaufgaben zu erledigen. Wenn ich dies nicht tat, verbrachte er viele Stunden draussen und kam erst wieder um 22 Uhr zurück. Und dies bis zur 6.Klasse! Mein Mann sagte mir, ich soll ihn einfach selber machen lassen. Doch da er die Hausaufgaben oftmals vernachlässigte, färbte dies wiederum auf mich ab und ich erhielt Kritik bezüglich meiner Erziehung. Das war echt mühsam. 10. Welchen Einfluss hat diese Krankheit auf deine Familie? Hat es sie gestärkt/geschwächt? Es hat uns gestärkt und geschwächt. Ich spreche nun viel mehr mit meinen Kindern über die Krankheit. Die Geschwister von Pascal versuchen es zu verstehen und zu akzeptieren. Doch es ist nicht immer einfach und es gibt auch viele schwierige Tage. Da kommt schon mal der Gedanke, wie es wäre ohne das Asperger-Syndrom und ADHS. Doch nun ist es einfach so und wir versuchen das Beste daraus zu machen. Dadurch, dass ich mich besser über diese Krankheit informierte, kann ich Pascal viel besser verstehen und kann nachvollziehen, was in ihm abläuft. 11. Welchen Belastungen sind Eltern und Geschwister im alltäglichen Leben ausgesetzt? Es gibt viel Streit unter den Kindern. Pascal kann sehr gut austeilen und die anderen können nicht immer alles einstecken. Dies macht uns allen ein wenig zu schaffen. Es kann auch schwierig werden, wenn er lesen will und man ihn sehr lange bitten muss damit er z.B. auf einen Familienausflug mitkommt. Letztens waren wir in der Badi und da musste er bestimmen, wo wir uns hinsetzen, damit er zufrieden sein Buch lesen kann. Und als wir wieder gingen, dauerte es eine Ewigkeit bis er auch im Auto sass. Er nimmt sich allgemein viel Zeit für alles. Ihn stört es nicht wenn andere deshalb auf ihn warten müssen.

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12. Was war dein schlimmstes Ereignis in Bezug auf Pascal und die Krankheit? Als sein Bruder 3 Tage im Spital lag, weil Pascal ihm einen Holzhammer hinterhergeworfen hatte. Er hat danach nicht mal kapiert, dass er etwas Schlimmes getan hatte. Er sagte nur, dass sein kleiner Bruder selbst schuld war. Das war ganz schlimm. Und welches war dein schönstes? Ich finde es sehr schön, wenn wir ohne zu streiten oder zu schreien zusammen als ganze Familie in Ruhe essen können. 13. Wie beurteilst du seine Zukunftschancen? Er macht momentan das 10. Schuljahr. Er schnupperte auch schon in einem Betrieb als Schlosser. Es gefiel ihm sehr und er hatte viel Spass. Auch der Chef dort war sehr zufrieden mit ihm. Ihm fiel aber auf, dass Pascal z.B. keine Pause machen wollte. Das ist typisch für ihn, da er gerne solange an seiner Arbeit sitzt, bis er sie beendet hat. Zudem braucht er mehr Zeit als er eigentlich zur Verfügung bekommt. Er muss noch lernen mit der Zeit umzugehen und sie gut nützen. Da bin ich aber zuversichtlich. 14. Kennt ihr gleich betroffene Eltern? Ja, Familien in der Nachbarschaft haben es z.T. noch schwieriger. Mein Mann und ich besuchen auch Sitzungen, in denen betroffene Eltern zusammenkommen. Da bemerkt man, dass auch jedes autistische Kind anders ist. Pascal geht zur Schule und erhält Noten und ein richtiges Zeugnis. Es gibt aber auch Autisten, die gar keine Noten haben. Sie erhalten lediglich Punkte und werden so eingestuft. Es gibt also auch Autisten mit stärker ausgeprägten Symptomen. 15. Wie geht die Gesellschaft mit Autisten um? Ist sie tolerant? Wenn die Menschen vom Asperger-Syndrom wissen, dann klappt auch die Zusammenarbeit mit Pascal. Doch wenn sie ahnungslos sind, haben beide Parteien viel Mühe sich gegenseitig zu verstehen und zu respektieren. Die Gesellschaft zeigt auch viel mehr Verständnis für Behinderungen oder Krankheiten, die sichtbar sind. Sobald dies nicht mehr der Fall ist können sie nicht damit umgehen und zeigen wenig Toleranz.

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10.4. INTERVIEW MIT MUTTER VON ALEXANDER 1. Wie hast du bemerkt, dass Alexander(20) (Asperger-Syndrom) „anders“ ist? Als Baby beim Stillen ist er meinem Blick ständig ausgewichen. Sobald ich ihn fixiert habe, blickte er sofort weg. Das war das Erste Ereignis, welches mich irritierte. Und wirklich aufgefallen ist es mir in der Spielgruppe, als er sich konsequent weigerte bei Gruppenspielen mitzumachen und auch die anderen Kinder nicht an den Händen fassen wollte. Auch die extremen Geräuschempfindlichkeiten sind mir damals aufgefallen. Wenn wir an einem lauten Ort waren, ging das nicht. Er fing an zu schreien, hörte nicht mehr auf zu weinen und da habe ich auch gemerkt, dass dies ein aussergewöhnliches Verhalten ist. Da wurde mir auch bewusst, dass er die Welt anders wahrnimmt. 2. Wie hast du seine Kindheit erlebt? Gab es dort bereits Anzeichen für Symptome dieser Krankheit? Die sensorische Überempfindlichkeiten zeigte er bereits im Säuglingsalter auf, als er Blickkontakt vermied oder dann im frühen Kindheitsalter wollte er mir nicht die Hand geben beim Spazieren und mochte allgemein den physischen Kontakt nicht. Die sozialen Auffälligkeiten sind mir erst aufgefallen, als er vier oder fünf Jahre alt war. 3. Was hast du zuerst unternommen? Ich habe nichts unternommen. Ich habe ihn so akzeptiert wie er war. Es wurde dann schwieriger in der ersten Klasse. Zu dieser Zeit haben wir ihn abklären lassen auf Hochbegabung und er hat danach eine Klasse übersprungen. Es wurde jedoch nie besser mit seinem Verhalten. Mit sieben Jahren hat er eine Spieltherapie gemacht. Danach gab es nochmals eine Abklärung bei einem anderen Psychiater und zuletzt die Diagnose beim kinder- und jugendpsychiatrischen Dienst. 4. Wie hast du dich bei der Diagnosestellung gefühlt? War es eine Erleichterung oder ein Schock? Eine Mischung zwischen Schock und Erleichterung. Obwohl ich bereits erahnte was es war, war es doch ein „Schock“ die Diagnosestellung Schwarz auf Weiss zu sehen. Es war auch eine Erleichterung zu wissen, dass sein Verhalten nicht aufgrund schlechter Erziehung basiert sondern wirklich genetisch veranlagt ist. War es schwierig für dich die Diagnose zu akzeptieren?

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Es war nicht schwierig die Diagnose zu akzeptieren. Später habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie es gewesen wäre, wenn ich die Diagnose nicht erhalten hätte. Ich würde aber durchaus sagen, dass ich mich danach toleranter und grosszügiger verhalten habe. Da wurde mir auch bewusst, dass er sich nicht einfach nur quer stellt weil er etwas nicht will, sondern weil er es nicht kann. 5. Hat sich die Beziehung zu Alexander nach der Diagnose verändert? Ich denke ich bin einfach grosszügiger geworden und habe ihm mehr Raum gegeben. 6.Gab es stereotypische Merkmale, die an seinem Verhalten sichtbar wurden? Ja, die gab es. Es gab gewisse Alltagsrituale, die immer gleich ablaufen mussten. Er wollte zum Beispiel immer genau gleich umarmt werden zum Abschied und wenn ihn irgendetwas störte, musste dies solange wiederholt werden, bis es für ihn stimmte. Er besass auch eine Stofftiersammlung, die in ganz bestimmter Weise angeordnet war. Auch seine Kleidung musste ganz klar gestapelt sein. Niemand durfte seine Sachen benutzen und ganz speziell nicht aus seiner Tasse trinken. Er legte einfach sehr viel Wert auf die äussere Ordnung. Welche Schwächen/Stärken hat er? Er konnte sich gut mit sich selber beschäftigen, welches eine Stärke und eine Schwäche zugleich war. Er besass eine gute Konzentration, doch dies kippte dann schnell und wurde oft zur Fixierung. Zudem ist er ein sehr guter Beobachter. Zu seinen Schwächen gehören seine Intoleranz gegenüber Dinge, die ihm nicht passen und die daraus folgende Egozentrik. 7. Wie haben sich Verwandte/Freunde gegenüber ihm und dir verhalten? Relativ unbeeindruckt. Die Diagnose hat keine Veränderung in Bezug auf das Verhalten ausgelöst. Gab es Menschen, die dir und deiner „schlechten Erziehung“ die Schuld gaben? In meiner Verwandtschaft nicht. Vielleicht gedacht, aber gesagt hat das niemand. Anders war das in der Öffentlichkeit. Dort habe ich mir schon mehrere Bemerkungen in diese Richtung anhören müssen. 8. Fühlen sich die Geschwister (1 Schwester, 1 Bruder) benachteiligt aufgrund verschiedener Erziehung/“Spezialbehandlung“? Meine Tochter nicht, sie ist 8 Jahre jünger und war da fein raus. Aber mein anderer Sohn, welcher knapp 2 Jahre jünger war, hat sich ganz klar benachteiligt gefühlt. Wie hast du versucht ihm trotzdem gerecht zu werden? 40

Das konnte ich nicht, denn es war eine wirklich harte Zeit. Die beiden stritten sich ständig. Ich war immer damit beschäftigt, die beiden auseinanderzuhalten. Ich war total überfordert. Er hatte es sehr schwierig, da er auch ständig von Alexander einstecken musste, denn er war sehr direkt und zeigte nicht viel Empathie. 9. Hat sich die Krankheit verschlimmert/verbessert? Eindeutig verbessert. Richtig spürbar wurde es im Alter von 17 Jahren. Gab es da ein spezielles Ereignis, welches zur Verbesserung führte? Nein. Ich denke es hatte mit seiner Reifung zu tun und dass er vermehrt Freunde fand zu dieser Zeit. Die schlimmste Zeit war zwischen 10 und 15 Jahren. Danach hat es sich gebessert. 10. Ist dir alles auch schon mal über den Kopf gewachsen? Was wolltest du dann am liebsten tun? Ja sicher. Es gab Phasen da habe ich mir wirklich gedacht, dass er fremdplatziert werden sollte. Mein Mann hat mich dann gestoppt und erklärt, dass dies keine Option wäre. Ich war phasenweise mit den Nerven völlig am Ende. Half dein Mann dir also dich wieder zu beruhigen? Er war dazumal viel auf Auslandsreisen und nicht viel zu Hause. Daher musste ich die Erziehung regeln. Was hast du unternommen, um dich zu beruhigen und herunterzufahren? Ich hatte keine Zeit zum Luft holen, ich habe es einfach durchgezogen. Zu dieser Zeit habe ich zwei halbe Tage in der Woche gearbeitet und das war für mich wie Luft holen. Ab und zu bin ich alleine verreist an einem Wochenende oder ich ging mit einer Freundin zusammen in die Ferien. Manchmal ist auch mein Mann mit unseren Kindern verreist und ich blieb zu Hause und hatte so meinen Freiraum. 11. Welchen Einfluss hat diese Krankheit auf deine Familie? Der Lärmpegel war recht hoch und es gab permanenten Stress und Spannung. Hat es sie gestärkt/geschwächt? Es hat uns gestärkt und geschwächt. Zumal hat diese Krankheit dazu geführt, dass wir heute viel mehr Toleranz gegenüber nicht der Norm entsprechenden Verhalten aufweisen. Die vielen gegenseitigen verbalen Verletzungen in der Familie haben uns jedoch geschwächt.

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12. Gibt es Personen in der Familie, die die Diagnose nicht für richtig halten bzw. nicht akzeptieren? Heute ist dies gar kein Thema mehr bei uns. Wir sprechen dieses Thema auch nicht mehr an, weil Alexander das nicht möchte und wir dies respektieren. Und früher? Früher waren die beiden Grossmütter von Alexander nicht so willig dies zu akzeptieren und hatten einen Tunnelblick in dieser Angelegenheit. Aber auch zu dieser Zeit war es nicht wirklich ein grosses Thema. Mein Vater war derjenige, der es von Beginn an akzeptiert hat und diese Krankheit auch als Realität wahrnahm. 13. Welchen Belastungen sind Eltern und Geschwister im alltäglichen Leben ausgesetzt? Es war eine ständige Belastung. Sobald die beiden Brüder aneinandergerieten, fing das Geschrei an. Es hat sich aber enorm verbessert. Nur noch manchmal hat er seine mühsamen Phasen, in welchen ich mit ihm endlos diskutieren muss. Dabei gibt es nie einen Konsens. 14. Was war dein schlimmstes Ereignis in Bezug auf Alexander und die Krankheit? Als ich ihn verprügelt habe. Da habe ich mir wirklich gedacht es geht nicht mehr weiter, ich hatte so einen Hass auf ihn. Das war wirklich ein Tiefpunkt. Und welches dein schönstes? Da gab es viele. Obwohl er nicht wirklich Zuneigung ausdrücken kann, gab es Momente, in denen ich merkte, dass doch Liebe da ist und er sie manchmal zeigt. 15. Wie beurteilst du seine Zukunftschancen? Ich habe erlebt wie er von einem sehr isolierten Kind zu einem jungen Mann wurde, der sich gut mit Lehrern, Freunden und seiner Freundin versteht. Ich weiss nicht was die Zukunft bringt, aber es ist vieles möglich. Er hat gerade sein Chemiestudium begonnen und ich habe nicht Angst, dass er später Probleme im Beruf haben wird. 16. Kennst du gleich betroffene Eltern? Ja, kenne ich. Durch eine Freundin habe ich eine andere Mutter kennen gelernt, die eine Tochter mit einem sehr stark ausgeprägten Asperger-Syndrom hat. Sie spricht überhaupt nicht mit fremden Menschen und die Mutter ist am Verzweifeln. Eine sehr schwierige Situation.

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Erkennst du Unterschiede zwischen Jungs und Mädchen mit Asperger-Syndrom? Ja, ich kenne nicht viele Mädchen mit Asperger-Syndrom. Ich habe aber bemerkt, dass sich Mädchen mehr Mühe geben, sich anzupassen. Sie wollen dazugehören. Jungs hingegen haben ihren eigenen Kopf und wollen sich auch durchsetzen. 17. Wie geht die Gesellschaft mit Autisten um? Ist sie tolerant? Das wurde ja ein grosses Thema in den letzten Jahren. Nichtsdestotrotz sind viele Menschen noch zu normorientiert und dementsprechend auch intolerant, wenn jemand dieser Norm nicht entspricht. Ich denke aber diese Abwehr der Gesellschaft basiert auf einer versteckten

eigenen

Angst.

Man

will

dazugehören

und

entfernt

sich

vor

dem

Normabweichenden.

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10.5. INTERVIEW MIT MUTTER VON MICHAEL 1. Wie hast du bemerkt, dass Michael (Kanner-Syndrom) „anders“ ist? Als er zwei Jahre alt war, dachte ich er kommt in die Trotzphase. Doch dann bemerkte ich, dass er seine Spiele zerstörte und seine heiss geliebten Bilder zerriss. Er wollte nur noch fernsehen. Er reagierte auch nicht mehr auf unsere Rufe, drehte nicht mal den Kopf zu uns. Ich konnte mir sein Verhalten überhaupt nicht erklären. 2. Wie hast du seine Kindheit erlebt? Gab es dort bereits Anzeichen für Symptome dieser Krankheit? Er hörte auf zu spielen und sein Sprachwortschatz verminderte sich. Er benannte die Gegenstände nicht mehr, sondern zeigte nur noch darauf. Er zeigte auch eine sehr starke Geräuschempfindlichkeit auf. Bei lauten Tönen reagierte er nicht, doch bei sehr leisen drehte er den Kopf und versuchte das Geräusch zu orten. 3. Was habt ihr zuerst unternommen? Wir haben ein bis zwei Monate gewartet und ihn beobachtet. Danach besuchten wir einen Kinderarzt und dieser war genauso ratlos wie wir. Er ordnete eine Untersuchung im Abteil Gehörbildung im Kinderspital Zürich an und fünf Monate später wurde diese durchgeführt. Einer akustischen Anweisung zufolge musste er einen Würfel in eine Büchse werfen. Es klappte überhaupt nicht. Der Test wurde wiederholt mit demselben Ergebnis. Danach wurden wir in die Abteilung Wachstum und Entwicklung navigiert. Dort wurde sein Spielverhalten untersucht, ohne Erfolg. Wir wurden wieder weitergeschickt in die Abteilung Neurologie. Er erhielt eine Narkose und wurde ausführlich untersucht. Die Ärzte kamen zum Schluss, dass nichts Auffälliges vorhanden war. Aufgrund des verminderten Sprachwortschatzes vermuteten sie jedoch etwas in Richtung Autismus. Ich habe mich sofort darüber informiert und bei den Ärzten erkundigt, ob es Beratungsstellen und Therapeuten gibt. Diese sagten mir es gäbe keine und bei allfälligen Fragen sollte ich sie telefonisch kontaktieren. Eine Woche später hatte Michael schreckliche Schreiattacken. Ich wusste nicht was tun und telefonierte nach Zürich ins Kinderspital. Sie machten mich auf einen Elternverein für autistische Kinder aufmerksam. Mein Mann und ich haben danach entschieden, uns an diesen zu wenden. Michael besuchte ein Jahr lang eine Therapie. Ich musste immer dabei sein, sonst wäre er abgehauen. Mit 5 Jahren wurde es langsam Zeit für den Kindergarten und wir haben uns nach einem geeigneten Ort umgeschaut. Die Therapeutin gab uns eine Liste von heilpädagogischen Kindergärten. Wir besuchten zuerst einen Kindergarten in Freienbach, welcher uns jedoch

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sehr enttäuschte. Die einzige Schule die noch in Frage kam war die Stiftung Kinder und Autismus in Urdorf. Wir haben uns beworben und Michael bekam den letzten verfügbaren Platz. Eine sehr gute und erfahrene Heilpädagogin arbeitete mit den Kindern zusammen und zusätzlich bekamen sie eine Begleitperson zur Verfügung gestellt. Nach einem Jahr wurde es Zeit für die erste Primarklasse, doch niemand wollte oder konnte ihn aufnehmen. Dann ergab sich eine Gelegenheit, in die zweite Klasse einzusteigen, da genug Platz vorhanden war und weil er bereits in Urdorf das Schreiben und Lesen gelernt hatte, durfte er dort einsteigen. Er ging dann einen Tag zur Schule und der Rest der Woche war er in Urdorf. Nach einem Jahr sagte uns diese Schule sie könnten diese vielen Einzelstunden mit Michael nicht mehr finanzieren. Die Heilpädagogin bot uns aber an, unabhängig von der Schule in Urdorf, in seiner Primarschule Einzelstunden mit ihm abzuhalten. Wir nahmen dieses Angebot an und es lief super. Später erhielten wir ein Telefon vom zuständigen Amt in Schwyz. Unser Arrangement mit der Heilpädagogin gefiel ihnen gar nicht, da es auch um die Frage der Finanzierung ging. Danach hat es vier Monate gedauert, bis sie auch für ihre Arbeit bezahlt wurde. Ende sechste Klasse gab es dann eine Sitzung mit den Lehrern von Michael, dem Rektor der Mittelpunktschule Siebnen und einer Vertretung des kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes. Diese war zufrieden mit Michaels Entwicklung, meinte aber auch dass wir eine Institution suchen müssten, da in der Sekundarschule keine Begleitung vorhanden wäre. Der Rektor war aber der Meinung es könnte durchaus funktionieren, wenn es einen Lehrer gäbe, der Michael in seine Klasse aufnimmt. Ein Lehrer war bereit dazu, Michael hatte auch die Probezeit von drei Monaten gut überstanden und schloss die 3. Sekundarstufe mit 14 Jahren ab. Danach versuchten wir ihn ins Gymnasium zu schicken. Die Kantonsschule Nuolen reagierte auf unsere Anfrage sehr distanziert und war der Meinung er bräuchte noch mehr Zeit und er wäre nicht bereit für die allgemeine Aufnahmeprüfung. In Einsiedeln versicherten sie uns, dass er keine Aufnahmeprüfung machen muss, wenn er begleitet wird und eine Probezeit von einigen Monaten bestehen würde, wäre er herzlich willkommen. Nach zwei Jahren teilte uns die Begleitperson mit, dass der Lernstoff für Michael zu intensiv war und er nicht mehr mithalten konnte. Er war sehr interessiert im Bereich der Mechanik und wir begannen eine Alternative zu suchen. Es bot sich eine Gelegenheit für ein 10. Schuljahr im Toggenburg. Wir organisierten eine neue Begleitperson und er wohnte dort zusammen mit anderen Autisten in einer WG auf Wunsch der Schule. Dies klappte nicht so gut, da in der WG keine Begleitperson anwesend war und er alleine nicht zurechtkam. Wir baten die Leitung darum, dass Michael jeden Tag nach Hause kommen darf und wir uns auch um den Transport kümmern würden. Sie waren damit nicht einverstanden und wir haben schlussendlich das Ganze nach insgesamt fünf Wochen abgebrochen. Er war danach völlig orientierungslos und war zu Hause sehr unruhig.

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Da realisierten wir, dass er immer etwas Stabiles und Vertrautes in seinem Leben braucht. Im Toggenburg waren die Wohnsituation, Begleitperson und die Arbeitssituation neu für ihn und er konnte damit nicht umgehen. Deshalb beschlossen wir ihn in einer Werkstatt in Jona arbeiten zu lassen. Wir haben auch eine Begleitperson organisiert, die damals noch vom Kanton bezahlt wurde, da Michael zu diesem Zeitpunkt noch nicht 18 Jahre alt war. Eine Zeit lang lief auch das sehr gut, bis sie uns in einem Gespräch mitteilten, dass Michael gegen einen Mitarbeiter handgreiflich geworden sei. Wir waren sehr überrascht und haben später herausgefunden, dass die Werkstatt bereits seit drei Monaten, ohne unser Wissen oder Einverständnis, die Begleitperson für Michael entlassen hatte! Als die Vorfälle sich dann häuften, wurde Michael entlassen. Danach war er rund um die Uhr zu Hause und in keiner guten Verfassung. Wir entschieden uns, selber eine Begleitperson anzustellen, sodass er eine konstante Unterstützung hat, die nicht von seinem Arbeitsplatz abhängig arbeitete. Als wir jemanden fanden, stellten wir einen Antrag zur Finanzierung dieser Begleitperson an die IV. Sie weigerten sich dies zu übernehmen und dieser Streit dauerte über drei Jahre. Am Ende bekamen wir dann Recht zugesprochen. In dieser Zeit fand Michael einen Arbeitsplatz über das Züriwerk (eine Behinderteninstitution). Anfangs war eine Anstellung aufgrund der Finanzierung nicht möglich, doch nach drei Jahren klappte es. 4. Wie hast du dich gefühlt bei der Diagnosestellung? War es eine Erleichterung oder ein Schock? Die Diagnose erhielt er mit fünf Jahren, als wir nach Urdorf gingen. Ich war froh, denn ich finde es eine schlechte Idee den Eltern zu verschweigen, wie die Situation aussieht. So tappten wir nicht mehr im Dunkeln und konnten uns über das Thema informieren und uns richtig verhalten. 5. Welche stereotypischen Merkmale wurden an seinem Verhalten sichtbar? Menschen mit Autismus verarbeiten das, was sie von der Umwelt aufnehmen anders. Sie funktionieren in visueller, auditiver und taktiler Hinsicht anders als die „normalen“ Menschen. Er kann z.B. in eine Brennnessel stehen und verspürt kein Schmerz. Sie fixieren sich auch sehr auf Details und hören meistens viel zu viele Geräusche, welche sie nicht ausschalten können und daraus entwickelt sich das spezifische Verhalten. Welche Schwäche/Stärken hat er? Wenn er etwas unbedingt wollte, war er blitzschnell und ich hatte keine Chance. Und das schon als kleines Kind. Seine sensorischen Empfindlichkeiten verblüfften mich immer wieder. Mir fiel einmal eine dünne Nadel auf einen hellen Teppich und aus Angst, dass Michael (damals noch sehr klein) versehentlich darauf treten und sich verletzen würde, habe ich

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lange nach dieser Nadel gesucht und habe sie nicht gefunden. Michael schlief zu diesem Zeitpunkt und als er erwachte, kam er zu mir, bückte sich und gab mir die Nadel in die Hand. 6. Wie haben sich Verwandte/Freunde gegenüber ihm und dir verhalten? Wir haben zwar keine Probleme, doch wir haben sehr wenig Besuch bei uns zu Hause. Wir haben einfach ein schwieriges Kind und das ist vielen unangenehm. 7. Fühlen sich die Geschwister benachteiligt aufgrund verschiedener Erziehung/“Spezialbehandlung“? Eigentlich nicht. Die Kinderpsychologin riet uns aber, unsere älteren Kinder nicht als Babysitter einzusetzen sondern von aussen Hilfe holen. Ich war froh um diesen Rat, denn ich hätte wirklich meinen ältesten Sohn für das eingesetzt. Denn wir hatten Angst, wenn wir jemanden von aussen hineinbeziehen, wird sie es vielleicht nicht verstehen, nicht wissen wie damit umgehen oder denken, dass wir alles falsch machen. Eine interne Person hingegen kennt alles und man muss ihr nicht alles erklären und er wird nicht etwas hinterfragen. Ausserdem sollten wir ab und zu mit unseren Kindern einzeln entweder mit mir oder mit meinem Mann etwas unternehmen, sodass sie sich nicht ausgeschlossen fühlen. Das taten wir dann auch. Heute helfen Michaels Geschwister oft und unternehmen viel mit ihm. 8. Hat sich die Krankheit verschlimmert/verbessert? Es hat ihm sehr geholfen, dass er durch die Heilpädagogin integrativ unterrichtet wurde. Sein Verhalten ist viel weniger auffällig und autistisch, durch das, dass er integrativ aufgewachsen ist. Nun hat er sein Leben auch im Griff, da er nun eine stabile Umwelt hat. 9. Ist dir alles auch schon mal über den Kopf gewachsen? Ja, klar. Vor allem als es darum ging, ihm einen Arbeitsplatz zu suchen. Das war schon hart. Mein Mann und ich haben beide gearbeitet und Michael war den ganzen Tag zu Hause. Die heilpädagogische Schule und der Kanton hatten sich ausgeklinkt und wir mussten auf eigene Faust Hilfe suchen. In solchen Momenten, wo man als Eltern mit der Situation überfordert ist, kommt die Frage auf, ob man ihn in eine Psychiatrie geben will. Ich wollte dies aber auf keinen Fall. Klar gibt es ganz extreme Fälle, in denen es keine andere Lösung mehr gibt. Doch ich finde diese Lösung schadet den Betroffenen eher als dass sie hilft. 10. Welchen Einfluss hat diese Krankheit auf deine Familie? Michael ist ein sehr ruhiger und liebenswerter Mensch und daher gab es auch nie viel Streit unter den Geschwistern und auch mit uns. Doch weil er seine Begleitperson nicht bei uns zu Hause haben will, müssen wir ihn am Abend nach der Arbeit beschäftigen. Dadurch wird es

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auch relativ schwierig, wenn mein Mann und ich Pläne für den Abend haben. Doch momentan bin ich einfach froh, dass er eine Arbeit hat, denn das gibt ihm eine Struktur. 11. Welchen Belastungen sind Eltern und Geschwister im alltäglichen Leben ausgesetzt? Er braucht sehr viel Aufmerksamkeit. Wenn er die nicht hat, kommt die motorische Ungeschicktheit zum Vorschein. Denn durch dieses Verhalten lenkt er alle Aufmerksamkeit wieder auf sich. 12. Wie beurteilst du seine Zukunftschancen? Heute ist er immer noch im Züriwerk und hat mittlerweile drei Mal den Arbeitsplatz gewechselt. Ich denke solange er eine gute Begleitperson hat, wird er alles erreichen können, was er will. Ein Thema in den nächsten Jahren wird noch sein, dass er in einer eigenen Wohnung leben kann. 13. Kennt ihr gleich betroffene Eltern? Wir haben eine Mutter eines autistischen Sohnes über das SRF kennengelernt. Er ist mittlerweile 20 Jahre alt und spricht fliessend Französisch, Deutsch und Englisch und lernt nun auch Chinesisch, obwohl viele behaupteten er wird nie normal sprechen können. Sie sprach uns Mut zu und gab uns den Rat einfach an der Sache dranzubleiben und nicht auf die Ärzte zu hören, denn diese wüssten nichts darüber. Diese Mutter vermittelte uns einen weiteren Kontakt zu einer anderen Mutter mit einem autistischen Kind aus der Familie Knie. Sie hatte sehr gute Beziehungen zu guten Ärzten und stellte uns einem bekannten Kinderpsychologen in Zürich vor. Dieser gestand uns nicht viel über Autismus zu wissen, aber dass er sich bemühen wird zu helfen. Er sagte uns wir sollten Michael möglichst fördern und entwickeln lassen. 14. Wie geht die Gesellschaft mit Autisten um? Ist sie tolerant? Wir haben gemerkt, dass die Arbeitgeber von Michael gegenüber autistischen Menschen sehr intolerant waren. Bei geistig Behinderten oder Lernbehinderten können sie die Lage besser abschätzen und gehen behutsam vor. Doch bei Autismus tappen viele Menschen im Dunkeln, sie können sein Verhalten nicht richtig einordnen und verstehen nicht was in ihm abläuft. Auch wenn sie komische Geräusche von sich geben und nicht richtig sprechen oder unkontrollierbare Bewegungen machen, starren viele Menschen einfach nur.

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11. EIGENSTÄNDIGKEITSERKLÄRUNG Ich erkläre hiermit, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und nur unter Benutzung der angegeben Quellen verfasst habe und ich auf eine eventuelle Mithilfe Dritter in der Arbeit ausdrücklich hinweise.

Siebnen, 19.10.15

Franziska Rickenbach

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