Es ist die Stunde der Revisionisten.

July 18, 2016 | Author: Lennart Steinmann | Category: N/A
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DIE

ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR

Der Traum von der Treue Für die Monogamie gibt es in der Natur kaum ein Vorbild – sagen Wissenschaftler. Deshalb ist es eine der größten Zivilisationsleistungen, dass dem Menschen Treue hin und wieder auch gelingt

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

Ganz schön alt

Sie sind oft unzufrieden, doch geht es vielen so gut wie nie zuvor: Die Macht der Alten in Deutschland Dossier Seite 17–19

WISSEN SEITE 37–39

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höne Sachen

Ein Topf, vier Stühle und 95 andere Dinge reichen zum Leben. Ein Designheft Magazin Seite 14

Der gute Schläger Titelbild: »Francesca da Rimini (1255-1285) und Paolo«, gemalt von William Dyce um 1837; Öl auf Leinwand; © National Gallery of Scotland, Edinburgh, Foto: bridgemanart.com

Liberalismus steht zur Stunde eher für Habsucht – und nicht für Generosität VON PETER SLOTERDIJK

Bei der Debatte über den Atomausstieg geht es jetzt darum, was er uns kostet. Aber was ist er uns wert? VON MARC BROST

Z

u den Lektionen des an politischen Lehrstücken überreichen Frühjahrs 2011 gehört die Einsicht, dass Banken und Parteien viel mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, als man ihnen üblicherweise zugesteht. Wie man Bankhäuser als Kapitalsammelstellen definiert, aus deren Fundus die Unternehmen sich nötige Mittel für neue Projekte besorgen, sollte man Parteien als Kollektoren für die psychopolitischen Kapitale begreifen, in denen die Populationen moderner Nationalstaaten ihre Optionen für die künftige Gemeinwesengestaltung deponieren: als Zornsammelstellen, als Furchtsammelstellen, als Hoffnungssammelstellen. Ist dies erst zugestanden, so versteht man, wie es eben nicht nur zum Phänomen des Bankenkrachs, sondern auch des Parteienkrachs kommen kann: Letzterer tritt ein, wenn eine Partei allzu lange die Pflege des psychopolitischen Eigenkapitals vernachlässigt und ihre Geschäfte nur noch mit Illusionspapieren betrieben hat.

Die Freien Demokraten haben ihr ideologisches Eigenkapital verspielt Dies lässt sich zur Stunde an der Implosion der deutschen Liberalen beobachten. Ohne Zweifel haben die Freien Demokraten ihr ideologisches Eigenkapital im Rausch eines spekulativen Jahrzehnts verspielt. Sie haben den psychopolitischen Markt nicht mehr verstanden und sich in gefährliche Derivatgeschäfte mit den Enttäuschungen der anderen gestürzt, ohne sich ernsthaft auf die Aufgabe einzulassen, die eignen Werte zeitgerecht zu aktualisieren. Zu spät hat die Geschäftsführung die Wende zu einem »mitfühlenden Liberalismus« dekretiert, als die Partei selbst schon zu einem Objekt des Mitgefühls durch Dritte geworden war. Eine verblüffte Öffentlichkeit lernt nun, dass nicht nur überschuldete Banken unter Rettungsschirme gestellt werden können. Auch notleidende Parteien melden mit einem Mal ihr Interesse an einem Bail-out-Verfahren durch das politische Gemeinwesen im Ganzen an. Vieles spricht dafür, dem Partner in der Krise die nötigen Hilfen zu gewähren. Für den politischen Liberalismus gilt die Maxime too important to fail, selbst wenn es für too big to fail nicht reicht. Die Hilfe ist aber an Bedingungen geknüpft, die künftig vom Klienten zu erfüllen sind. Sollte es je zu einer intellektuellen Regeneration des politischen Liberalismus kommen, sie müsste von der Erkenntnis ausgehen, dass Menschen nicht nur habenwollende, giergetriebene, süchtige und brauchende Wesen sind, die freie Bahn für ihre Mangelgefühle und ihren Machthunger fordern. Sie tragen ebenso das Potenzial zu gebenwollendem, großzügigem und souveränem Verhalten in sich. Dieser Hinweis war nie so wichtig wie gegenwärtig. Nie zuvor haben Begriffe wie »liberal« oder gar »neoliberal« eine so niederträchtige Konnotation angenommen wie

in den letzten Jahren. Noch nie war das liberale Denken, vor allem in unserem Land, so weit vom vornehmen Pol der menschlichen Möglichkeiten entfernt. Noch nie hat man die Freiheit so eng und so fatal mit der Besessenheit der Menschen von dem Gier-Stress in Verbindung gebracht. Aber was beweist das? Nichts anderes, als dass die Sache der Liberalität zu wichtig ist, als dass man sie den Liberalen allein überlassen dürfte. Diese Einschränkung betrifft nicht nur eine einzelne Partei. Die Sache des Realen und seiner Reform ist zu wichtig, als dass man sie Parteien überlassen könnte. So ist die Sorge um die kulturelle Tradition zu umfassend, als dass man sie bloß Konservativen anvertrauen dürfte. Die Frage nach der Bewahrung der Umwelt ist zu bedeutsam, als dass man sie nur ins Ressort der Grünen überweisen sollte. Die Suche nach sozialem Ausgleich ist zu anspruchsvoll, als dass man Sozialdemokraten und Linken die alleinige Verantwortung dafür übertragen könnte. Doch braucht jedes dieser elementaren Motive eine parteiliche Hauptstimme. Was die Verteidigung der Freiheit angeht, so ist sie ein Projekt, das nicht ohne Partei und nicht ohne Parteilichkeit auskommt. Wer von der Freiheit etwas erfahren hat, weiß, dass es weiterhin darum geht, die beiden primären Tyranneien zurückzudrängen, die von alters her das menschliche Dasein deformieren: diejenige, die das Gesicht eines Despoten trägt, und die anonyme, die sich als jeweils herrschende Form des Notwendigen aufzwingen möchte. Wir müssen uns mit der Tatsache zurechtfinden, dass uns die Wirklichkeit stets als ein umfassendes StressKonstrukt umgibt. Die bekennenden Realisten haben recht, wenn sie auf der Verpflichtung zum Wirklichkeitssinn bestehen. Die wahren Liberalen fügen den Möglichkeitssinn hinzu: Sie erinnern uns daran, dass wir nicht wissen können, was alles noch möglich wird, wenn Menschen Wege finden, sich aus den kollektiv verfertigten Zwangskonstruktionen zu lösen. Ebendarum ist die aktuelle Welt so grenzenlos erstaunlich. Illiberalen Rückschlägen zum Trotz vollziehen sich in ihr, wie nie zuvor, unzählige Infiltrationen aus dem anderen Zustand, aus der Loslösung, aus der Leichtigkeit des Seins – Infiltrationen, die in die Strukturen des Bestehenden erhöhte Freiheitsgrade tragen. Wir verteidigen die Sache der Freiheit, indem wir daran arbeiten, das Wort Liberalismus, das leider zur Stunde eher für ein Leben auf der Galeere der Habsucht steht, wieder zu einem Synonym für Generosität zu machen – und das Wort Liberalität zu einer Chiffre für die Sympathie mit allem, was Menschen von Despotien jeder Art emanzipiert. Der Autor ist Professor für Philosophie und Medientheorie und Rektor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Zuletzt erschien von ihm »Die nehmende Hand und die gebende Seite« (Suhrkamp) www.zeit.de/audio

E

s ist die Stunde der Revisionisten. Die Bilder der havarierten Atommeiler von Fukushima verschwinden allmählich von den Titelseiten, die Aufmerksamkeit der Medien nimmt ab. Damit ist die Gelegenheit günstig, Zweifel zu säen. Die Kernenergie sei eben doch unverzichtbar, heißt es nun wieder, und die Atomlobby führt dafür drei Gründe an: Geld, Moral und das Verhalten der anderen. Der Ausstieg koste zu viel. Atomstrom müsse dann importiert werden. Der deutsche Sonderweg sei verantwortungslos und gefährlich. Natürlich ist eine gewisse Portion Skepsis nicht schlecht. In der Außenpolitik etwa ist Deutschland jahrzehntelang gut damit gefahren, dass man vorsichtig und zurückhaltend agierte, dass nationale Alleingänge als falsch galten und man sich lieber einmal zu oft abstimmte, als andere zu verstimmen. Aber beim Ausstieg aus der Atomenergie? Beim Ausbau erneuerbarer Energien? Als die Regierung nach dem Atomunfall von Fukushima das vorläufige Aus für sieben deutsche Meiler beschloss und Zehntausende gegen die Kernenergie demonstrierten, war viel von Hysterie die Rede, von German angst. Nun macht sich die Atomlobby diese Angst zunutze – und behauptet, der Ausstieg werde uns ins Verderben stürzen.

Deutschland importiert Atomstrom? Das ist nur die halbe Wahrheit Dies ist die letzte Runde im Kampf um die Kernkraft in Deutschland, und wie ernst es mit dem Ende wirklich ist, zeigt schon, dass alles auf eine einzige Frage zuläuft: Überfordert uns die Abkehr von der Atomenergie? Die Frage suggeriert, dass ein Land ohne Kernkraft seine Zukunft verspielt; dass eine ganze Volkswirtschaft den Anschluss verliert; dass die Menschen stundenweise das Licht werden ausschalten müssen, weil Strom unfassbar teuer sein wird; und dass die Betriebe – und damit die Jobs – nach Osteuropa gehen, wo die Atommeiler groß und die Stromrechnungen klein sind. Es ist eine irritierende Frage, weil sie die Debatte seltsam verengt. Schließlich geht es nicht allein darum, was uns der Atomausstieg kosten könnte. Sondern darum, was er uns wert sein sollte. Man müsste also die Perspektive wechseln, aber das ist gar nicht so einfach, wenn die Atomfans weiter Ängste schüren. Es ist das letzte Mittel, das ihnen geblieben ist. Die vier großen Energiekonzerne handeln dabei aus geschäftlichem Kalkül: Atomstrom lässt sich günstig erzeugen und teuer verkaufen. Jeder zusätzliche Meiler am Netz maximiert ihren Gewinn. Die Hardliner in den Regierungsfraktionen wiederum handeln aus Überzeugung. Atomkraft war das letzte Alleinstellungsmerkmal der bürgerlichen Parteien. Und man legt die eigene Überzeugung nicht einfach so ab wie ein altes Jackett.

So wird getäuscht und getrickst, was das Zeug hält. Deutschland importiere jetzt Atomstrom aus den unsicheren Anlagen des Auslands, heißt es. Das stimmt zwar, war aber schon immer so. Zum vollständigen Bild gehört eben auch, dass wir gleichzeitig Strom aus den heimischen Kraftwerken und Windparks ausführen – in die Schweiz, in die Niederlande oder nach Polen. Und selbst wenn die abgeschalteten Atommeiler nicht wieder ans Netz gehen: Die maximale Leistungsfähigkeit unserer Kraftwerke wäre immer noch größer als der Bedarf. Am besten, man misst die Atomfans an ihren eigenen Zahlen und Prognosen. Als SchwarzGelb im vergangenen Herbst ein Gutachten zu den Folgen der Laufzeitverlängerung erstellen ließ, wurde nebenbei auch durchgerechnet, was beim vergleichsweise raschen Atomausstieg passieren würde. Das Resultat: geringfügig steigende Preise (weniger als ein Euro monatlich) und keine nennenswerten Auswirkungen aufs Wachstum. In der politischen Debatte blieben diese Zahlen unerwähnt, sie passten nicht zum Willen, die Meiler länger am Netz zu lassen. Da aber niemand aus Industrie und Politik damals am Gutachten zweifelte: Warum sollte man es jetzt tun? Reden wir lieber darüber, was uns der Atomausstieg wert sein sollte. Es wäre der Abschied von einer Technologie, die niemals ganz beherrschbar sein wird und deren Einsatz zu verheerenden Katastrophen führen kann. Es wäre das Ende von Kraftwerken, die nicht mal richtig versichert sind, weil kein Versicherer dieses Risiko übernehmen kann. Deswegen haftet am Ende der Staat – und das sind die Bürger. Es wäre der Beginn eines gewaltigen Umbaus des Landes. Interessant ist übrigens, dass im Augenblick kein einziger Betrieb wegen des Atomausstiegs mit Abwanderung droht. Es sind die Verbandsfunktionäre, die klagen. Die Unternehmer selbst sind viel zu klug, um nicht zu wissen, dass der ökologische Umbau der Gesellschaft – grüne Kraftwerke, Strom sparende Motoren, neue Erdkabel – große Chancen bietet. Umbau ist ein Wort, das Unternehmer lieben. Es ist die Chiffre für: Arbeit. Wettbewerb. Gewinn. Der Atomausstieg zwingt Deutschland in die Avantgarde der Zukunftstechnologie. Das kann im Extremfall auch nach hinten losgehen, dann nämlich, wenn die anderen Staaten Europas noch konsequenter auf Kernkraft setzen. Bislang aber hat deutsche Ingenieurskunst noch jedes Mal Nachahmer gefunden. Warum nicht diesmal auch? Deutschland wagt Zukunft. Das birgt Risiken, Garantien gibt es keine. Dennoch haben die Bürger ihre Entscheidung getroffen – trotz der Unwägbarkeiten des ökologischen Umbaus. German angst? Nennen wir es besser German cleverness. Siehe auch Politik Seite 6

Ein Leben im Glück: Besuch bei Carlo Pedersoli, der im Kino Bud Spencer war Feuilleton Seite 52

ZEIT ONLINE Seit 50 Jahren blickt der Mensch aus dem All auf die Erde: Eine historische Galerie Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/weltraum-bilder

PROMINENT IGNORIERT

Schokotraum Sofihya aus Namibia hat mit ihrer Hautfarbe die Kunden einer ostdeutschen Bäckereikette gegen sich aufgebracht. So weit ist das nicht überraschend – doch die Begründung lässt aufhorchen: Rassistisch sei es, dass Sofihyas Bild für eine Schokotraum geheißene Süßspeise warb. Nur kein Neid! Lasst euch trösten: In Namibia könnte eine ostdeutsche Sahneschnitte vielleicht auch groß rauskommen. F. D. Kleine Fotos v.o.n.u.: Image Source/mauritius; Linus Bill; Bud Spencer in »Die rechte und die linke Hand des Teufels«/Impress; Rietschel/ dapd; Andersen/StudioX (l.)

ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ABONNENTENSERVICE: Tel. 0180 - 52 52 909*, Fax 0180 - 52 52 908*, E-Mail: [email protected] **) 0,14 € /Min. aus dem deutschen Festnetz, max. 0,42 € /Min. aus dem deutschen Mobilfunknetz

PREISE IM AUSLAND: DKR 43,00/NOR 60,00/FIN 6,70/E 5,20/ Kanaren 5,40/F 5,20/NL 4,50/A 4,10/ CHF 7.30/I 5,20/GR 5,70/B 4,50/P 5,20/ L 4,50/HUF 1605,00

AUSGABE:

15

6 6 . J A H RG A N G www.zeit.de/audio

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Am Ende reich

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Leid der FDP

2 7. April 2011

POLITIK

DIE ZEIT No 15

Worte der Woche

D I E F D P N A C H W E S T E RW E L L E

Zehn Jahre lang war Guido Westerwelle Gesicht und Stimme der FDP. Nun versucht die Partei, sich neu aufzustellen, mit dem 38-jährigen Philipp Rösler an der Spitze – und vielen altbekannten Gesichtern dahinter (Seite 3). Auch Guido Westerwelle bleibt dem Land und der Regierung als Außenminister erhalten. Kann das gut gehen (Seite 4)? Und welche Fragen müsste eine liberale Partei heute eigentlich beantworten (diese Seite)?

»

Ich kann Ihnen sagen, dass mir diese Entscheidung einerseits sehr schwer-, andererseits aber auch leichtfällt.«

Guido Westerwelle, FDP-Vorsitzender,

zu seinem Rückzug vom Parteiamt

»Die FDP hat Guido Westerwelle viel zu verdanken.« Philipp Rösler, Bundesgesundheitsminister (FDP)

und designierter Nachfolger Westerwelles

»Die FDP implodiert.« Frank-Walter Steinmeier, Fraktionsvorsitzender

der SPD, zum Zustand der Liberalen

»Assad und seine Leute leben auf einem anderen Planeten.« Rafik Schami, deutschsyrischer Schriftsteller,

Der Geist von gestern

zum harten Vorgehen der syrischen Regierung gegen Demonstranten

»Mein E-Mail-Konto, mein Bankkonto und alle Personen, mit denen ich Kontakt habe, werden überwacht.«

Was vom Liberalismus übrig geblieben ist: Viel Vergangenheit und wenig Zukunft

Ai Weiwei, chinesischer Künstler und

G

Dissident, wenige Tage vor seiner Verhaftung durch die chinesischen Behörden

»Die Schändung eines heiligen Textes, auch des Korans, ist ein Akt extremer Intoleranz und Bigotterie.« Barack Obama, US-Präsident, nach den gewaltsamen Protesten in Afghanistan gegen die Koranverbrennung des radikalen Pastors Terry Jones

»Dafür haben wir trainiert.«

»Natürlich retten wir nicht jeden Monat Leben, wir arbeiten nicht im Krankenhaus. Wir entscheiden nur über Rocklängen.«

«

Carine Roitfeld über ihren Job als ehemalige

Chefredakteurin der französischen »Vogue«

ZEITSPIEGEL

Ausgezeichnet Andreas Sentker wurde mit dem Innovationspreis Gregor Mendel geehrt. Der Ressortleiter Wissen und Herausgeber des Magazins ZEIT Wissen ist der erste Journalist, der die Auszeichnung erhält. In der Begründung der Gregor Mendel Stiftung heißt es: »Durch sein journalistisches und publizistisches Werk hat Andreas Sentker eine neue Form des Dialogs zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft angestoßen.«

Illustration: OsterwaldersArtOffice Design & Illustration für DIE ZEIT/www.osterwaldersart.com

Yoshimi Hitosugi, Sprecher des japanischen AKW-Betreibers Tepco, auf die Frage, wie sich das Unternehmen auf mögliche Stromausfälle und Tsunamis vorbereitet habe

uido Westerwelle war nicht das Problem, sein Abgang auf Raten ist nicht die Lösung. Er hat die FDP geformt und hat doch das, was nun daraus geworden ist, so niemals gewollt. Wenn die FDP die Tragödie ihres Vorsitzenden nicht als ihre eigene begreift, ist sie dem Untergang geweiht. Ihre Gesundung durch das Wiedererstarken des bürgerrechtlichen Flügels bei gleichzeitiger Schärfung des wirtschaftsliberalen Profils und einer Reanimation des Genscherismus in der Außenpolitik ist schiere Illusion. Mit Rainer Brüderle und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gibt es keine Zukunft, Christian Lindner und Philipp Rösler können einem leidtun. Doch der Reihe nach. Das Land, in das Guido Westerwelle in den achtziger Jahren hineingewachsen ist, die Bonner Republik, kam ihm nicht zu Unrecht selbstzufrieden vor, statisch und langweilig. Und mitten darin sah er seine ewig mitregierende FDP, selbstzufrieden, statisch, langweilig, zudem ideologisch heruntergekommen, das Liberale war nur mehr eine Wohlfühlweise in der Wohlfühlrepublik. Dagegen setzte Westerwelle einen neuen scharfen Liberalismus, der nicht bloß eine Interessenvertretung sein sollte, sondern Weltanschauung, weit sollte die FDP sein, nicht eng. Er wollte seine Partei auf Trab bringen, damit sie Westdeutschland auf Trab bringt. Westerwelle war einer, der auszog, alle anderen das Fürchten zu lehren, ein tollkühner Geselle und Jungliberaler. Doch dann passierte etwas, womit er nicht gerechnet hatte: der Fall der Mauer. Mit dem 9. November 1989 trat das Land in die neue Phase der Globalisierung ein. Es begann nicht der Siegeszug eines neuen deutschen Nationalismus, sondern der eines neuen, von der FDP und von Westerwelle unabhängigen, eines sozusagen objektiven Liberalismus. Wenige haben das damals erkannt, einer hat es bis heute nicht gemerkt: Westerwelle. In Schüben hat sich die deutsche Wirklichkeit seit 1989 dynamisiert, mit dem ersten Kriegseintritt 1999, innenpolitisch mit der Agenda 2010 im Jahr 2003, vor allem aber im Alltag der Bürger: Während

Millionen Menschen eine atemberaubende Liberalisierung ihrer Lebens- und Arbeitswelt durchliefen, schrie Westerwelle das vermeintlich schlafende Land immer noch an, als sei es die Bonner Republik; später nannte er sie dann spätrömisch. Er sah den eigentlichen Weckruf für die Republik nicht im Jahr 1989, auch nicht im Jahr 1999 oder 2003, sondern im Jahr 2009, als endlich er – viele Jahre zu spät – an die Regierung kam. Westerwelle verkündete eine geistige Wende, die von den allermeisten Deutschen unter dem Druck der Globalisierung schon lange vollzogen war. Nichts ist älter als die Avantgarde von gestern. Westerwelle war schon lange aus der Wirklichkeit ausgetreten, bevor er in die Regierung eintrat. Irgendwie spürte er das auch, zunehmend verzweifelt versuchte er, die Menschen, denen er immer merkwürdiger erschien, doch noch zu erreichen, durch Verschärfung, Verengung und Verrohung des Liberalismus. Seit mindestens zehn Jahren zerstört Westerwelle nun schon aktiv sein Lebenswerk, er verhökerte die liberale Weltanschauungspartei und machte aus ihr eine Witzbude, einen Gierautomaten, ein Guidomobil. Die Übertreibung ist eine Folge der Verzweiflung und der Verdrängung der Wirklichkeit, aber nicht nur die Marotte eines einzelnen Mannes. Irgendwie, so dachten die Liberalen wohl, muss die FDP für den Sieg des Liberalismus in aller Welt belohnt werden. Doch weil Liberalisierung und Globalisierung in Deutschland von den Grünen (beim Thema militärische Intervention) und von der SPD (bei der Reform von Rente und Sozialstaat) durchgefochten wurden, blieb der FDP nur der Weg in die Regression. Sie wandte sich nicht mehr an die Mutigen, sondern an die angeblich Betrogenen, an jene, die sich von denen da unten und vom Staat ausgebeutet fühlten. Blind war und ist nicht nur der FDP-Vorsitzende, blind ist die ganze Partei dafür, dass die Globalisierung den Liberalismus nicht nur forciert, sondern auch fundamental infrage stellt. In der Wirtschafts-, der Rechts- und der Außenpolitik haben die Liberalen ihre existenziellen Probleme bislang ignoriert.

VON BERND ULRICH

Wirtschaftspolitik oder: Das Problem Brüderle Es ist leicht zu erklären, warum es eine Partei für die stumm leidende Natur geben muss (Grüne), es liegt auf der Hand, dass gerade in der Gobalisierung der einfache Arbeiter jemanden braucht, der ihn politisch schützt (SPD), und dass eine auseinanderdriftende Gesellschaft eine Partei für alle benötigt (CDU). Ganz unselbstverständlich ist es hingegen, dass Banken, Kapital und Wirtschaft eine parteiförmige Vertretung in einer Zeit brauchen, die ohnehin eine natürliche Hegemonie von Banken, Kapital und Wirtschaft mit sich bringt. Die FDP hat dieses moralisch-politische Problem nicht nur nicht gelöst, sie hat es sich nicht einmal vorgelegt. Rainer Brüderle, der Sachwalter des wirtschaftspolitischen Gestern, tut einfach so, als brauchte ihn der notleidende, gebeutelte und vom Staat umstellte Mittelstand noch. Welch ein Hohn! Als Mittelstand verstehen sich heute global agierende Familienunternehmen wie der Elektroriese Bosch oder der höchst erfolgreiche, international aufgestellte Maschinenbauer Trumpf oder auch Uli Hoeneß’ Familienbetrieb FC Bayern München. Brauchen die einen parlamentarischen Arm? Nein. Und weil sie den nicht brauchen, ist die FDP von der Partei der Wirtschaft zur Partei des Geizes und der Gier geworden. Mehr Brutto vom Netto, Steuersenkung, das sind die Parolen. Rainer Brüderle versuchte unmittelbar nach dem Beginn der Katastrophe von Fukushima, die entsetzten Deutschen vom raschen Atomausstieg abzubringen, indem er auf die dann steigenden Strompreise verwies. So sieht er die Menschen, als Portemonnaies mit Ohren. Rechtspolitik oder: Das Problem Leutheusser-Schnarrenberger Keinen Deut besser steht es hier. Die Ministerin verteidigt wie eh und je die Rechte des Einzelnen gegen den Staat, bei der Vorratsdatenspeicherung läuft sie zu großer Form auf. Zu der Tatsache jedoch, dass die Daten der Bürger durch Amazon, Google und Facebook heute viel eminenter gefährdet sind, dazu fällt ihr nichts ein. Die Justizministerin ist nicht die Erneuerin der liberalen Bürger-

rechtspolitik, sie ist ihre Museumswächterin. Genau wie der von ihr wenig geliebte Guido Westerwelle klemmt sie fest in ihrer eigenen Bonner Republik. Außenpolitik oder: Das Gespenst des Genscherismus Viele in der FDP glauben, mit einem renovierten Genscherismus könne man heute gute Außenpolitik machen. Der Genscherismus, das war geschicktes Taktieren einer nicht sehr mächtigen Mittelmacht zwischen großen Blöcken. Diese Politik erfüllte sich mit der deutschen Einheit. Danach wurde die Welt zu kompliziert, zu unübersichtlich, zu schnell – und Deutschland zu mächtig. Genscher trat ab, der Genscherismus nicht. Er blieb als Besserwisserei und nostalgische Sehnsucht, doch leitend für die Außenpolitik des Ministers Westerwelle konnte er nie werden. Stattdessen adoptierte die FDP ebenjenen Nationalpazifismus, den die Grünen unter dem Druck des Kosovo- und des Afghanistankrieges überwanden. Dem ungefährlichen und politisch zwingenden Libanoneinsatz der Bundesmarine verweigerte die damalige Oppositionspartei FDP 2006 ihre Zustimmung. Als Außenminister machte Westerwelle dann die Abrüstung amerikanischer Atomwaffen auf deutschem Boden zu seinem zentralen Anliegen. Aus diesem unreflektierten Nationalpazifismus heraus enthielt er sich schließlich in der Libyenfrage nicht nur im Sicherheitsrat, vielmehr fingen er und die FDP hernach an, die Interessen der Engländer und Franzosen in diesem Krieg zu denunzieren, was nun definitiv gegen die deutschen Interessen verstößt. So fand auch das kurze Aufflackern einer liberalen freiheitsbewegten Außenpolitik auf dem Tahrir-Platz sein rasches Ende (siehe auch Seite 4). Es gibt, kurzum, keine moderne liberale Außenpolitik. Christian Lindner und vielleicht auch Philipp Rösler sind davon überzeugt, dass ein zeitgemäßer Liberalismus möglich ist. Dagegen spricht, dass das Liberale heute entweder Alltag ist oder Ideologie. Aber vielleicht haben sie ja recht. Doch solange Guido Westerwelle, Rainer Brüderle und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger als Agenten des Gestern in ihren Ämtern sitzen, werden wir das nie erfahren.

POLITIK

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

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Merkels Liebling Wer ist der Mann, der die FDP retten soll? Philipp Rösler gilt als freundlich und verbindlich – und als Parteimensch durch und durch

F

Illustration: OsterwaldersArtOffice Design & Illustration für DIE ZEIT/www.osterwaldersart.com

ühren heißt entscheiden statt warten lautet die Überschrift. »Die heutige Politikergeneration ist oft mutlos«, das ist der erste, strenge Satz des Textes. Es folgt ein Plädoyer gegen das Konsensdenken und für knappe, strittige Abstimmungen – und die Klage, aus Angst vor langen Diskussionen werde in den Parteien oft gar nicht mehr entschieden, »frei nach dem Motto: Wer nichts macht, macht keine Fehler, wer keine Fehler macht, wird wiedergewählt«. Geschrieben hat das alles Philipp Rösler, heute 38, zweitjüngster Bundesminister; damals, im Jahr 2001, war er Generalsekretär der FDP in Niedersachsen. Es ging in dem Aufsatz unter anderem darum, warum Parteien anders geführt werden müssen als Unternehmen. In der Woche des Führungswechsels in der FDP ist das eine lustige Lektüre, schließlich haben diesmal die Jungen – Rösler, FDP-Generalsekretär Christian Lindner und Gesundheitsstaatssekretär Daniel Bahr – lange gezögert, und einige der Alten, Ehemalige wie der frühere Innenminister Gerhard Baum, haben gedrängt. Seit Anfang dieser Woche steht fest, dass Philipp Rösler, Bundesgesundheitsminister, Arzt, Vater von Zwillingen und Chef der niedersächsischen Liberalen, Mitte Mai zum Bundesvorsitzenden der schwächelnden FDP gewählt werden soll. Lange hat Rösler anders geplant. Noch am Abend der jüngsten Landtagswahlen, die Fernsehbilder aus Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz waren erst ein paar Stunden alt, schickte Rösler dazu eine SMS. Ob es wirklich denkbar sei, dass Westerwelle und Brüderle auf ihren Ministerposten bleiben, war die Frage. Antwort: »Alles wird so bleiben wie es ist. Jede Wette.« Das entsprach der Absprache zwischen Westerwelle und der jungen FDP-Troika: Führungswechsel ja, aber erst kurz vor der Bundestagswahl 2013. Lindner, Rösler und Bahr sollten mehr Einfluss auf die Innen- und Parteipolitik bekommen, aber in ihren alten Jobs. Dieser Deal war nach dem Wahlabend nicht mehr zu halten. Am vergangenen Wochenende hat Philipp Rösler deshalb doch noch zugegriffen. Mutlos kann

man ihn jetzt nicht mehr nennen. Was genau hat ihn umgestimmt? Der künftige Parteichef sitzt in einem Sushi-Restaurant in Berlin-Mitte, ein schlichtes Kellerlokal auf halber Strecke zwischen Parteizentrale und Gesundheitsministerium. Die Gerichte kosten weniger als zehn Euro, einen FDP-Treff stellt man sich schicker vor. Aber Rösler und seine Vertrauten essen häufig hier. Es ist Montagmittag, gerade hat das FDP-Präsidium die Weichen gestellt, am nächsten Tag wird Rösler als designierter Parteichef vor die Kameras treten. Entscheidend sei am Ende seine Frau Wiebke gewesen, sagt er. Sie stammt aus einer FDP-Familie, ihr Vater, Arzt wie sie, macht seit Jahrzehnten bei den Liberalen Politik. Es gibt Fotos von der sechsjährigen Wiebke, die dem damaligen Parteichef Hans-Dietrich Genscher Blumen überreicht. Später arbeitete sie als Partei-Pressesprecherin für ihren heutigen Mann. Es gibt also so etwas wie eine Röslersche Familien-Loyalität zur FDP.

In Niedersachsen hat er sich manchmal gelangweilt, heute träumt er von Ruhe Der designierte FDP-Chef selbst ist von einem SPDbegeisterten, alleinerziehenden Bundeswehroffizier erzogen worden. Auch er ist, darin ähnelt er Bahr und Lindner, ein Parteimensch durch und durch. Wenn er davon spricht, dass er mit 45 Jahren aus der Politik aussteigen wolle, oder auf offener Bühne unbeholfene Witze über die Hosenanzüge der Kanzlerin macht, wirkt er wie einer, der mit der Politik fremdelt, aber dieser Eindruck täuscht. Für viele Politiker ist die Parteiarbeit notwendiges Vehikel, um Sachthemen voranzutreiben, andere schätzen die Geborgenheit einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Rösler, Bahr und Lindner gehören zum seltenen Typ Mensch, den eine Diskussion über die strategische Ausrichtung ihrer Partei regelrecht elektrisiert. Das Regieren haben sie erst nach vielen Jahren prägender Oppositionsarbeit kennen gelernt. Mit fast rührender Ernsthaftigkeit können alle drei etwa über die Frage reden, was genau unter mitfühlendem Liberalismus zu verstehen sei.

Ein Sozialliberaler ist Philipp Rösler trotzdem nicht. Das unterscheidet ihn von Bahr und Lindner, die ihre Partei bei Gelegenheit gern für neue Koalitionen auf Landesebene öffnen würden, etwa mit der nordrhein-westfälischen SPD. Bahr hat als junger Abgeordneter die ersten Regierungsjahre von Angela Merkel als großkoalitionäre Kanzlerin in der Opposition mehr erlitten als erlebt, er duzt aus dieser Zeit viele Grüne und schaut mit großer Skepsis auf die Union. Rösler dagegen hat jahrelang eine gut funktionierende schwarz-gelbe Koalition in Niedersachsen erlebt, der CDU-Ministerpräsidenten David McAllister ist ein privater Freund. Er habe damals gelernt, dass sich Koalitionäre ihre jeweiligen Erfolge gönnen müssten, sagt Rösler heute. Das gelte auch für Berlin. Rösler steht auch nicht für einen inhaltlichen Schwenk zu einem linkeren, sozialliberalen Profil, für einen »Säuselliberalismus«, wie es Wirtschaftsminister Rainer Brüderle nennt. Rösler ist der erste FDP-Bundesminister in einem Sozialressort, und er hat Westerwelle zeitweise für die Verengung der FDP auf Wirtschaftsthemen kritisiert, einerseits. Aber andererseits hat er vor seinem Wechsel nach Berlin 2009 als Wirtschaftsminister in Niedersachsen auch erlebt, welches Potenzial für seine Partei auf diesem Feld liegt. Damals litt die CDU unter ihrem sozialdemokratischen Koalitionspartner in Berlin, Merkels Konjunkturpaketen sowie dem Verlust von Friedrich Merz. Rösler wurde von der CDU-Mittelstandsvereinigung regelrecht hofiert. Politiker wie den jungen FDP-Star mit klaren ordnungspolitischen Positionen wünsche man sich auch in der eigenen Partei, klagten die Christdemokraten damals. In diesen Monaten hat Rösler schneidige Reden über Staatskapitalismus und die mangelnde ordnungspolitische Substanz der Kanzlerin gehalten. Das kann er auch. Ein niedersächsischer Wirtschaftsminister verbringt viel Zeit mit Eröffnungen, Einweihungen und Empfängen aller Art, zwischen den Terminen liegen lange Fahrten durch den großen Flächenstaat. Deshalb hat sich Rösler in dieser Zeit manchmal auch gelangweilt. Später, als es in Berlin hoch herging und

VON ELISABETH NIEJAHR

die CSU täglich aufs Neue Röslers Gesundheitsreform infrage stellte, trauerte er diesen Zeiten gelegentlich nach. Hätte er als niedersächsischer FDP-Landesvorsitzender und Wirtschaftsminister den angeschlagenen Westerwelle nicht viel schneller und selbstverständlicher beerbt? Eher nicht, glaubt Rösler: Er wäre gehandelt worden, aber er hätte die Berliner Bundespolitik weniger gut verstanden, Angela Merkel und Horst Seehofer nicht aus der Nähe gekannt, den Job also schlechter gemacht.

Auch seine Musik hat sich geändert – von Udo Jürgens zu Grönemeyer Unbestreitbar hat Philipp Rösler in seinem ersten Berliner Jahr viel gelernt. Er ist nicht mehr der Mann, der Horst Seehofer während der Koalitionsverhandlungen keck zurief, er habe früher ja alle drei Jahre eine Jahrhundertreform gemacht, aber diese Zeiten seien vorbei. Sogar sein Musikgeschmack hat sich geändert. Damals war auf der Abspielliste seines iPods ausschließlich Udo Jürgens, inzwischen dominiert dort Herbert Grönemeyer, Titel wie Wäre ich einfach nur feige oder auch Erzähl mir von morgen. Bei Gesprächen mit Philipp Rösler kommt meistens irgendwann der Punkt, an dem er Filmchen oder Bilder auf seinem iPod zeigt. Er hat alle Abstimmungen über seine Gesundheitsgesetze von der Regierungsbank aus gefilmt. Ein anderer Mitschnitt zeigt Mitarbeiter des Ministeriums, die verkleidet als Blues Brothers für ihren Chef ein Ständchen bringen. Auf einem Bild sitzen seine Töchter auf Ministerstühlen im Kabinettssaal in Berlin. Am Tag, als Westerwelle seinen Rückzug ankündigte, war Rösler bei seinen Kindern in Hannover. Die Entscheidung fiel am Sonntagnachmittag in einem Gespräch in Westerwelles Wohnung, Bahr und Lindner waren anwesend, Rösler wurde zugeschaltet, mit Verspätung, weil er vorher seine kleinen Zwillingstöchter noch schnell zu Freunden bringen musste. Seine Frau will in dieser Woche eine Facharztprüfung bestehen und musste lernen; Rösler war für die Kleinen zuständig und hatte die Babysitter kurzfristig organisiert. Westerwelle hatte

dafür wenig Verständnis, was wiederum Rösler beim Sushi den Kopf schütteln lässt. Der Vorgang ist deswegen erzählenswert, weil er einen Unterschied zwischen alter und neuer Führung markiert: In der FDP gilt Rösler auch deshalb als geeignet für den Spitzenjob, weil er ein Familienmensch ist. In jedem Gespräch über ihn wird dieses Argument genannt. Nah dran am normalen Leben sei der Philipp, heißt es dann. In jedem Fall dürfte genau die Lebenssituation, die Rösler angeblich – unter anderem – für den Spitzenjob qualifiziert, komplizierter werden. Man kann das dialektisch oder auch verlogen finden: Erst bekommt Rösler das Amt auch, weil er Vater ist; demnächst wird dieses Amt dafür sorgen, dass er seine Kinder noch seltener sieht. Parteileben findet am Wochenende statt, Merkels Koalitionsrunden oft an Sonntagabenden. Es ist ohnehin eine Besonderheit des FDP-Vorsitzenden, dass jede seiner Stärken auch wie eine Schwäche scheint, seine Nähe zu Merkel beispielsweise. Bei seinen Ministerkollegen steht Rösler unter Streberverdacht, weil die Kanzlerin ihn häufiger als andere lobt. Das ist in einer Koalition nicht nur ein Vorteil. Stärke und Schwäche zugleich ist auch seine viel beschriebene Freundlichkeit. Sie verschafft Sympathien und erhöht den Druck, Durchsetzungskraft durch Taten zu beweisen. Chance und Problem ist auch die Misere der Partei, die nach einer neuen Umfrage nur noch drei Prozent der Wählerstimmen gewinnen würde, ein Fünftel des Ergebnisses bei der Bundestagswahl. »Das diszipliniert enorm«, sagt einer aus dem FDP-Präsidium. »Der Partei bleibt gar nichts anderes übrig, als den neuen Vorsitzenden zu stützen.« Zum Thema Loyalität hat Rösler übrigens in seinem Aufsatz von 2001 schon das Entscheidende geschrieben: In Parteien gebe es »keine strikte Trennung von Führenden und Geführten«, schrieb er damals, »genau genommen gehören zu einer Partei nur Menschen mit Führungsanspruch«. Daran wird ihn die FDP noch oft erinnern. www.zeit.de/audio

Liberale Museumsstücke: Lambsdorffs Stock, Genschers Pullover, Scheels gelber Wagen. Und das Guidomobil

W

ie konnte es so weit kommen? Wie konnte es so weit kommen, dass nach einem heftigen Machtkampf der alte Chef ausgetauscht und der neue gleich eingemauert wird? Wie, dass nach einem Generationenwechsel vor allem altes Personal ins Auge sticht? Wie, dass ein lange überfälliger Neustart damit endet, dass sich nur wenig ändert, alle Beteiligten aber beschädigt sind? Nun, es konnte so weit kommen, weil drei junge Männer ganz anders sein wollten als Guido Westerwelle – und damit Guido Westerwelle retteten. Es konnte so weit kommen, weil kein Liberaler im politischen Überlebenskampf so abgezockt agiert wie Rainer Brüderle. Und es konnte so weit kommen, weil in den entscheidenden Momenten die liberale Binnenlogik stärker war als der nüchterne Blick auf das Notwendige. 38, 32, 34 – das sind die Maße des neuen Machtkerns der FDP. Philipp Rösler, Christian Lindner und Daniel Bahr, drei Männer in den Dreißigern, haben dafür gesorgt, dass sich Westerwelle vom Amt des FDP-Vorsitzenden zurückzieht und Rösler ihm folgt, als Parteichef wie als Vizekanzler. Sie verstehen sich als Teamspieler, sie gelten als »junge Milde«, sie wollen den internen Umgang wie die Außenwirkung der Liberalen durch einen neuen Stil prägen, einen, der anders

Nicht so laut, nicht so kalt Wie die FDP einmal neu starten wollte – und dabei doch recht alt aussieht VON PETER DAUSEND

ist als der von Westerwelle. Nicht so laut, nicht so kalt, nicht so machtbesessen. In einer Mischung aus Dankbarkeit, Unerfahrenheit und wohl auch Angst vor der großen Herausforderung, die FDP mit all ihrer Jugend allein aus der Existenzkrise führen zu müssen, schreckten sie davor zurück, Westerwelle aus dem Amt des Außenministers zu drängen. Er bleibt. Und als Folge davon bleiben auch Wirtschaftsminister Rainer Brüderle, Entwicklungsminister Dirk Niebel, ja selbst die heftig attackierte Fraktionsvorsitzende Birgit Homburger in ihren Ämtern. Der neue Parteichef ist noch nicht im Amt, aber schon doppelt eingemauert: im Gesundheitsministerium, dem notorischen Popularitätsverhinderungamt. Und am Kabinettstisch von dem Personal, das die Liberalen in die Existenzkrise geführt hat. Die Aufgabe für das neue Führungstrio ist immens: Ein liberaler Neustart muss in einer Koalition gelingen, die durch die Atomwende nun rotgrüne Pfade beschreitet, in einer Regierung, für die die schwarz-gelbe Identitätsaufladung des vergangenen Herbstes längst zur Hypothek geworden ist. Und der Neustart muss just zu jener Zeit gelingen, da die Grünen weit in die traditionellen bürgerlichen Wählermilieus vorgestoßen sind. Um diese Mammutaufgabe mit Aussicht auf Erfolg anpacken zu können, müsste der neue Parteichef so

stark wie möglich gestellt werden, also mit dem Identitätskern der FDP, der Wirtschaftskompetenz, verschmelzen – und Brüderle beerben. Doch der Erblasser spielt da nicht mit. Unter Wirtschaftsliberalen kursiert ein Sprechzettel der Jungliberalen (JuLi) vom 27. März, dem Abend der Landtagswahlen von Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Unter dem Stichwort »Botschaften, personell« steht da: »Rainer Brüderle und Conny Pieper können nicht mehr Partei-Vize werden.« Und: »Rainer Brüderle muss auch die Konsequenz als Wirtschaftsminister ziehen.« Von den Wirtschaftsliberalen wird dies als Beleg für eine konzertierte Aktion von Westerwelle und dem Ex-JuLi-Chef Bahr mit dem Ziel gewertet, Brüderle loszuwerden. Diese Lesart, vom verhinderten Opfer fleißig befeuert, ist in der FDP weit verbreitet – und macht Brüderle unantastbar. Er wird damit zu einer Symbolfigur überhöht, die weit über seine Person hinausweist. Also bleibt Brüderle im Wirtschaftsministerium. Und die Hauptstreitfrage der Liberalen bleibt ungeklärt: Was ist schuld an unserem Niedergang? Dass die FDP ihr Wahlversprechen – Steuersenkung – bis heute nicht umgesetzt hat, wie Brüderle meint? Oder dass sie zu lange an einem längst unrealistischen Ziel festhielt, wozu Rösler tendiert? Es wird schwer, aus einer Krise zu finden, über deren Ursachen zwi-

schen zwei zentralen Akteuren, dem neuen Chef und dem alten Minister, weiter gestritten wird. Notdürftig wird dieser Streit erst mal mit freidemokratischer Binnenlogik zwangsberuhigt. Das neue Machttrio RöLiBa (Rösler/Lindner/Bahr) findet nun gute Gründe, warum Brüderle Wirtschaftsminister bleiben darf. Weil niemand so sehr das liberale Kernmilieu aus kleingewerblichem Mittelstand und Handwerk verkörpere. Weil er zu einer Symbolfigur für den klassischen Wirtschaftsliberalismus geworden sei. Weil der 65-Jährige ihre Jugendlichkeit ausbalanciere, was angesichts des Durchschnittsalters der FDP-Wähler von mehr als 50 Jahren dringend geboten sei. Und auch für den Verbleib von Birgit Homburger im Fraktionsvorsitz gibt es nun plötzlich »gute Gründe«. Die 93 Abgeordneten schätzten ihre Arbeit sehr. Die kleine Wahlverliererin von Baden-Württemberg, so heißt es, könne man ja kaum fortjagen, wenn der große aus Rheinland-Pfalz bleibe. Und Dirk Niebel? Hat der Entwicklungshilfeminister nicht mutig angepackt, was seine Vorgängerin elf Jahre lang hat liegen lassen? Jede Menge guter Gründe, warum der Aufbruch der Liberalen erst einmal misslungen ist. Nach Westerwelle: Analysen und Kommentare zur FDP www.zeit.de/fdp

4 7. April 2011

POLITIK

DIE ZEIT No 15

Der steinerne Gast

E

Illustration: OsterwaldersArtOffice Design & Illustration für DIE ZEIT/www.osterwaldersart.com

s gibt Solidaritätsadressen, die bei näherer Betrachtung von Schmähungen kaum zu unterscheiden sind. Guido Westerwelle hat sie nach seinem Sturz zu erdulden: Es gebe »historische Beispiele«, ruft der zaudernde Vatermörder Christian Lindner ihm zum Abschied hinterher, »wie man Großes leisten kann in einem Staatsamt, auch wenn man nicht Parteivorsitzender« sei. So soll das Paradox übersprungen werden, dass Westerwelle zwar nicht mehr gut genug ist, die FDP zu repräsentieren – wohl aber die Bundesrepublik Deutschland. Das historische Vorbild Genscher, auf den Lindner anspielt, ist den Liberalen dieser Tage überraschend schnell bei der Hand, um Westerwelles Verbleib im Amt zu rechtfertigen. Mit dem Vergleich tut man ihm und sich keinen Gefallen: Der Außenminister Hans-Dietrich Genscher hatte elf Jahre Entspannungspolitik vorzuweisen, die KSZE-Schlussakte mit ausgehandelt und jenes ostpolitische Netzwerk aufgebaut, das dann mithalf, die deutsche Einheit zu verwirklichen, als er 1985 die Parteiführung abgab. Sein Rückzug als Parteichef war der Preis, den Genscher für den Coup des Koalitionswechsels von 1982 zu zahlen hatte. Seine historische Leistung war es, die Kontinuität der Ostpolitik von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl garantiert zu haben. Seine außenpolitische Bilanz stand nie infrage, und für Kohl blieb er koalitionspolitisch unabdingbar. Darum musste er Minister – und Vizekanzler – bleiben. Merkel aber braucht den um Parteivorsitz und Vizekanzlerschaft reduzierten Westerwelle jetzt eigentlich nicht mehr. Er darf trotzdem Minister bleiben – als der steinerne Gast am Kabinettstisch. Deutschland könnte einen handlungsfähigen liberalen Außenminister gut gebrauchen in diesen Zeiten. Das zeigte sich erst vergangene Woche wieder, als Westerwelle nach China reiste, um in Peking eine von Deutschland bezahlte Ausstellung über die Kunst der Aufklärung zu eröffnen. Dort sagte er den schönen Satz: »Die Freiheit der Kunst ist die schönste Tochter der Aufklärung.« Aber sein Freiheitslied tönte blechern, weil er zuvor hingenommen hatte, dass der Sinologe Tilmann Spengler aus der deutschen Delegation gestrichen wurde, weil er eine Laudatio auf den inhaftierten Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo gehalten hatte. Damit nicht genug: Kurz nach Westerwelles Abreise wurde der Künstler Ai Weiwei verhaftet, der soeben angekündigt hatte, wegen der Repression in China in Deutschland ein Atelier zu eröffnen. Noch eine gezielte Demütigung Deutschlands und damit auch ein beißender Kommentar zum Gewicht »wertegebundener« (Westerwelle) Außenpolitik. Erst zurück in Berlin, protestierte Westerwelle gegen Ai Weiweis Verhaftung. Die chinesischen Freunde, mit denen zusammen Deutschland sich soeben in der Libyen-Frage im UN-Sicherheitsrat enthalten hatte, betreiben eiskalt den Gesichtsver-

lust des »strategischen Partners« (Westerwelle). Willkommen in der multilateralen Welt. Guido Westerwelle bleibt Außenminister? Man kann es auch so sagen: Außenminister, das ist nun das, was ihm bleibt. Dabei hatte er das Amt gewollt, weil er glaubte, dass es sich für den FDP-Parteichef so gehört. Er wollte jenes Haus für die Partei zurückerobern, das einst ihre Bastion gewesen war, geprägt durch mehr als drei Jahrzehnte liberaler Außenpolitik von Scheel über Genscher bis Kinkel. Nun hat die Partei ihn entsorgt, und das Amt verwandelt sich in eine Art politisches Abklingbecken, in dem Westerwelle einstweilen zwischenlagert. Das ist eigentlich gemeint, wenn die Parteifreunde sagen, er solle sich »voll auf sein Amt konzentrieren«. Als Westerwelle vor zehn Jahren Wolfgang Gerhardt als FDPChef beiseiteschob, durfte der noch eine Weile Fraktionsvorsitzender bleiben, bevor er zur Friedrich-Naumann-Stiftung weitergereicht wurde. Soll das Amt jetzt Westerwelles Naumann-Stiftung werden, mit fast 7000 Beamten der größte Thinktank der Welt?

Warum aus dem Außenminister Guido Westerwelle kein Hans-Dietrich Genscher mehr werden wird VON JÖRG LAU

Die Diplomaten haben noch jeden Chef zum Glänzen gebracht, bisher Für die deutschen Diplomaten in der Welt und am Werderschen Markt in Berlin liegt in Westerwelles Konzentration aufs Amt eine gewisse Drohung, auch wenn sie das unter professioneller Loyalität verbergen. Die unterdrückte Enttäuschung über den zurechtgestutzten Chef wird nicht ohne Folgen bleiben. Als Parteichef und Vizekanzler brachte Westerwelle Gewicht mit. Doch bald wurde den Diplomaten klar, dass sie einen Innenpolitiker bekommen hatten, für den das Außenamt immer eine abgeleitete Funktion behalten würde. Was Westerwelle über Hartz IV dachte, wusste bald jeder. Zur Euro-Krise sind maßgebliche Gedanken nicht überliefert. Der Deal des Apparats mit Westerwelle hätte sein können: Du kannst von uns Glaubwürdigkeit und Seriosität bekommen – wenn du dich beraten lässt. Kaum anzunehmen, dass das so noch möglich ist. Mit seinem Gewicht in der Koalition hätte er ein mächtiger Verstärker für die deutsche Diplomatie werden können. Nun aber drohen zwei Jahre Westerwelle unplugged. Das Amt hat bisher noch jeden Chef zum Glänzen gebracht, nicht nur Selbstläufer wie Genscher und Fischer, sogar bekennende Anticharismatiker wie Kinkel und Steinmeier. Bei Westerwelle hat es erstmals nicht funktioniert. Und das ist merkwürdig: Kein Außenminister war je so unbeliebt, obwohl seine ganze Außenpolitik auf Popularität zielte. Westerwelle hat für ein konkretes Abzugsdatum aus Afghanistan gekämpft, für die Abrüstung der letzten US-Atomraketen in Deutschland, für einen Sitz im UN-Sicherheitsrat und gegen eine Beteiligung Deutschlands an der Libyen-Intervention. Die Anfänge dieser Politik reichen zurück in Westerwelles Oppositionszeit, als er 2006 gegen den Einsatz der deutschen Marine vor dem Libanon stritt, wo unter

Der Außenminister ist nicht mehr gut genug, um die FDP zu repräsentieren – wohl aber die Bundesrepublik Deutschland

UN-Mandat (Unifil) verhindert werden sollte, dass Hisbollah weiter mit Waffen gegen Israel versorgt werden konnte. Es zeichnet sich eine Art »deutscher Nationalismus« (Financial Times) ab: Deutschland hält sich raus und zieht sich raus, wo immer es geht, im Zweifel auch auf die Gefahr hin, Freundschaften und Bündnisse zu gefährden, die bisher gerade für liberale und konservative Außenpolitiker als unverzichtbar galten. Es ist nicht so, dass Guido Westerwelle außenpolitisch keine Linie hat. Die Weigerung des Oppositionspolitikers, deutsche Matrosen zum Abfangen von Waffenlieferungen nach Nahost zu schicken, selbst als die Israelis das wollten, war ein Vorspiel seiner jüngsten Außenpolitik im Amt. Aus demselben Geist hat er sich nun früh gegen eine Flugverbotszone in Libyen ausgesprochen. Es hat ihn nicht irritiert, dass Aufständische und die Nachbarn wochenlang danach verlangten. Dass sich die engsten Verbündeten unter dem Eindruck von Gadhafis Radikalisierung von Skeptikern zu Interventionisten zu wandeln begannen, hat er offenbar nicht kommen sehen. Die Gefahr einer Isolierung zu erkennen, die Kanzlerin davor zu warnen und Gegenstrategien zu ersinnen wäre aber die Aufgabe eines Chefdiplomaten gewesen. Es gab durchaus, wie deutsche Diplomaten hinter vorgehaltener Hand berichten, Signale der treibenden Mächte Frankreich, USA und Großbritannien, dass man militärische Zurückhaltung der Deutschen akzeptiert hätte im Gegenzug für eine Jastimme. Westerwelle behauptet aber weiterhin, Deutschland hätte sich den Forderungen nach militärischer Beteiligung nicht entziehen können und wäre auf eine »schiefe Ebene« gekommen. Mindestens so wichtig war eine innenpolitische Erwägung: Durch die Enthaltung sollte eine Debatte über einen weiteren deutschen Militäreinsatz verhindert werden – kurz vor den Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Die Debatte wurde verhindert, das Wahlkampfkalkül ist dennoch nicht aufgegangen. Und der außenpolitische Preis könnte hoch ausfallen. Dabei schien Westerwelle im Februar endlich Tritt in seiner Funktion zu fassen. Beherzt ergriff er das Freiheitsthema, das ihm der arabische Frühling frei Haus lieferte. Doch schnell wurde klar, dass bald mehr vom deutschen Außenminister gefordert sein würde als Kaffeetrinken mit Bloggern in Tunis und touristische Abstecher auf den Tahrir-Platz in Kairo. Die Lage in Libyen eskalierte. Als Amerikaner und Franzosen sich angesichts des drohenden Falls von Bengasi entschlossen, den Diktator Gadhafi nicht gewähren zu lassen, kam es zur Kollision des Westerwelleschen Freiheitspathos mit seiner absoluten Entschiedenheit, sich rauszuhalten. Er nötigte seine Beamten wider ihren Ratschlag, sich bei der Abstimmung über die Libyen-Resolution im Sicherheitsrat zu enthalten. Im Oktober erst hatte er es als ersten großen Erfolg seiner Amtszeit gefeiert, dass Deutschland den nicht ständigen Sitz im Weltsicher-

heitsrat erlangt hatte. »Warum wolltet ihr eigentlich unbedingt hier hinein? Um euch zu enthalten?« – Solchen Hohn müssen sich die deutschen Diplomaten nun anhören. Deutschland verhält sich neutral angesichts der größten Freiheitsbewegung seit 1989? Westerwelles lautes Insistieren, der »Diktator Gadhafi« (Westerwelle) müsse weg, macht die Sache nicht besser. Am vergangenen Freitag stand der deutsche Außenminister mit seinem chinesischen Kollegen Yang Jiechi gemeinsam vor der Presse. »Die libysche Situation kann nicht durch militärische Mittel gelöst werden«, sagte er und verlangte eine »diplomatische Lösung«. Wie dieser Anspruch, ausgerechnet von Peking aus formuliert, wohl auf Franzosen, Briten, Amerikaner, Belgier und Schweden wirkt, die ihre Piloten über Libyen einsetzen, um Gadhafi in Schach zu halten? Die Vorstellung, dass sie am Ende den Deutschen das Verhandeln überlassen werden, ist abwegig.

Das Auswärtige Amt ist heute so marginal wie zuletzt unter Kinkel Im Koalitionsvertrag haben sich Union und FDP zur »Idee des Westens als Grundlage und seiner Institutionen als Plattform deutscher Außenpolitik« bekannt. Der Westen müsse »zu mehr Geschlossenheit finden, um seine Interessen durchzusetzen und gemeinsame Werte zu bewahren«. Außenpolitiker der Union fragen sich unterdessen murrend, ob dieses Ziel noch gilt. Sie halten ihren Unmut gegen Westerwelle nur mühsam zurück, um den angeschlagenen Koalitionspartner nicht noch mehr in die Krise zu treiben. Und mancher tröstet sich damit, dass Westerwelles Sturz als Innenpolitiker eine weitere Verlagerung der Außenpolitik ins Kanzleramt mit sich bringen wird. Im Machtgefüge der Regierung ist das Auswärtige Amt heute so marginal wie zuletzt zu den Tagen Klaus Kinkels, der von 1992 bis 1998 das Ressort führte. Der Unterschied: Damals konnte Deutschland sich das leisten. Die Einheit musste gestaltet werden, das Land war erst einmal mit sich selbst und der Beruhigung der Nachbarn angesichts seiner Größe beschäftigt. Die Welt der asymmetrischen Kriege und humanitären Interventionen, der Währungskrisen, der amerikanischen Überdehnung und des Aufstiegs der Nichtwestler ist dagegen eine außenpolitische Dauerherausforderung für das größte Land Europas. Es kommt darauf an, was in Berlin gedacht und entschieden wird – für Brüssel, Bengasi und Kundus. Europa muss eine Haltung zum Aufstieg Chinas und anderer Nichtdemokratien finden, jenseits von Kotau und Überheblichkeit. Und den demokratischen Wandel in Arabien begleiten. Gute Themen für Liberale, eigentlich. Aber in beiden Fällen ist keine Enthaltung möglich. Außenpolitik ist heute Stresstest. Dass Deutschland ihn mit einem entmachteten Außenminister bestehen kann, ist schwer vorstellbar.

Bislang sind acht Gedichte erschienen. Zu Anfang ließ Jan Wagner in »Giersch« ein unzerstörbares Unkraut immer wieder überall entspringen, Marion Poschmann schrieb von den »zwei Körpern der Kanzlerin«, und Monika Rinck ließ die Lyrikerinnen die Streitkräfte übernehmen. In der darauffolgenden Ausgabe und kurz nach dem Beginn der Intervention in Libyen erschien von Rinck auch die »Runde Welt«. Hendrik Rost reagierte auf den Reaktorunfall in Japan mit einer »Notiz an das Neugeborene«. Danach befasste sich Nora Bossong in »Stationiert« noch einmal mit dem Krieg, in der letzten Ausgabe Michael Lentz und Herbert Hindringer mit dem Bundestag. DZ

Männlicher werden

Foto: Stephan Floss für DIE ZEIT

Tag eins bei der Freiwilligenarmee Bundeswehr: Wer rückt da ein in die Kaserne? Ein Ortstermin bei den Pionieren in Gera VON DAGMAR ROSENFELD Den jungen Männern in der Pionierkaserne Gera te verpflichtet, und da ist die Einsatzwahrgeht es gleich zu Anfang an die Wäsche. Vor zwei scheinlichkeit hoch. »Das will ich ja, das macht Stunden haben sie ihren Wehrdienst angetreten. doch den Beruf des Soldaten aus«, sagt Manuel. Freiwillig. Jetzt sitzen sie im Schulungsraum und Der Junge mit den erstaunlich blauen Augen hören angespannt zu, was ein Obergefreiter von und dem breitbeinigen Gang, der in der Reihe einem Blatt Papier abliest. Der hatte zuvor ange- vor Manuel sitzt und eigentlich keine Fragen kündigt, es gehe um eine wichtige, nicht mehr beantworten wollte, sagt jetzt doch was: »Solrückgängig zu machende Entscheidung. »Zwei dat, das ist ein besonderer Beruf.« Was ist so beUnterhemden, Viertelarm, weiß«, liest er vor, sonders? »Du sitzt nicht am Schreibtisch rum »drei Unterhemden, ohne Arm, weiß; fünf Slips, und machst jeden Tag die gleichen langweiligen weiß. Alles Feinripp. Ein Schlafanzug, blau, nicht Sachen. Hier trainierst du und kämpfst.« Also Feinripp.« Pause. »Wollen Sie die Wäsche oder ist er hier, weil er in den Kampf will? »Ja, und einmalig 25,56 Euro?« Bedeutungsschwere Pau- wegen dem Geld.« Der Sold ist ordentlich. Wenn der Freiwillige se. »Diese Entscheidung liegt ganz allein bei IhWehrdienst endlich gesetzlich geregelt ist, liegt nen.« Alle nehmen die Wäsche. der Verdienst bei bis zu 1146 Was an diesem 4. April Euro monatlich, steuerfrei. mit einer profanen Frage beDer Blauäugige, ebenfalls ginnt, ist für die Bundeswehr 18 Jahre, erzählt jetzt, dass ein historischer Moment: Es er Deutschrusse ist, die Beist ihr Tag eins als Freiwilrufsschule geschmissen hat, ligenarmee. Die Wehrpflicht sehr zum Missfallen seiner ist Vergangenheit. Viele in Eltern. Und dass seine Mutder Bundeswehr und Politik ter heute beim Abschied gehaben diesen Tag gefürchtet. weint habe, aus Angst um Die Angst vor leeren Kaserihn. Denn wie Manuel hat nenhöfen, vor einer Armee, auch er sich für 23 Monate die zum sozialen Auffangverpflichtet, und auch er becken oder gar zum Spiel- Die Augen links: Die kommt nach der Grundausfeld für die Generation Freiwilligen Manuel Dreier, bildung nach Bruchsal zum Egoshooter verkommt, be- Jan Ludorf und Jehad El Sayed ABC-Abwehrregiment. Eine gleitete die Diskussion um (v.li.) mit Vorgesetztem Einheit, die 2012 in das die Bundeswehrreform. Bange fragte man sich, wie viele Freiwillige wohl Kosovo und nach Afghanistan geht. Ein »gut bezahltes Abenteuer«, sagt der Junge mit der kommen werden. traurigen Mutter. Und vor allem, wer da kommt. In Gera sind vor allem Haupt- und RealschüZu Wochenbeginn sind deutschlandweit 1494 Freiwillige in die Kasernen eingerückt. Wie ler eingerückt. Die meisten sind hier, weil sie etlange sie dienen wollen, konnten sie selbst ent- was erleben und Geld verdienen wollen. Vom scheiden – bis zu 23 Monate sind möglich. Zum Dienst am Vaterland, vom Beitrag zum GemeinVergleich: Im April des Vorjahres traten 16 140 wesen, dem »Ehrendienst«, wie VerteidigungsWehrpflichtige ihren Dienst an. Womit die Fra- minister Thomas de Maizière (CDU) sagt – von ge, wie viele kommen werden, beantwortet ist: zu all den hehren Werten der Bundeswehr ist keine wenige. Im Verteidigungsministerium gibt man Rede. Sind vielleicht nicht nur zu wenige gekomsich dennoch entspannt. »Wir haben damit ge- men, sondern auch die Falschen? Zumindest die rechnet«, heißt es. Und Bilanz könne ohnehin Kompanieführung in Gera glaubt, dass die Freiwilligen motivierter sind als ihre wehrpflichtigen erst am Jahresende gezogen werden. Bleibt also die Frage, wer gekommen ist. Einer Vorgänger. Die Bundeswehr hat ohnehin keine der 1494 ist Manuel Dreier. Er ist 18 Jahre alt große Wahl. Bisher hat sie 40 Prozent ihres Perund schon ein ganzer Kerl: stämmig, mit kurz sonals aus den Wehrpflichtigen rekrutieren köngeschorenen Haaren und Footballer-Kreuz. Seine nen. Nun muss sie auf die hoffen, die freiwillig Lehre als Fleischer hat er nach zwei Jahren abge- kommen. Und die hoffen wiederum auf die brochen – er sagt »unterbrochen« –, weil er »un- Bundeswehr. So wie Jehad El Sayed, Sohn libanebedingt« zur Bundeswehr wollte. In seiner Fami- sischer Flüchtlinge, 17 Jahre jung. Er möchte lie gebe es eine Menge Soldaten, schon sein Opa später eine Ausbildung bei der Bundeswehr mahabe damals im Krieg gegen Frankreich ge- chen. »Draußen«, wie er die zivile Welt nennt, kämpft. Sie alle haben ihm von der tollen Kame- hat er mit seinem Hauptschulabschluss kaum radschaft erzählt. »Das ist wie in meiner Football- Chancen, hier aber werden Leute gesucht. Mannschaft, wenn wir auf dem Feld sind, könAuch Jan Ludorf hofft auf die Armee. Er ist 17, nen wir nur gewinnen, wenn wir zusammenhal- zierlich und hat feine Gesichtszüge. Er habe sich für ten«, sagt Manuel. Und wenn er ins Feld muss, in sechs Monate verpflichtet, weil er etwas Wichtiges den Einsatz? Schließlich hat er sich für 23 Mona- lernen wolle, sagt er. »Männlicher zu werden.«

Eine Schachpartie RESIGN RESIGN T. S. Eliot

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April ist der brutalste Gegner schlägt Foto: Laura J. Gerlach

Seit dem 10. März versuchen wir im Politikteil der ZEIT, Politik von einer anderen Seite und auf andere Art wahrzunehmen. Elf Lyrikerinnen und Lyriker verfassen eigens für die ZEIT Gedichte, sie zeigen uns ihre Sicht auf die Politik. Mal schreiben die Lyriker unabhängig von den Ereignissen, mal gehen sie direkt auf politische Erlebnisse ein. Diesmal hat Nora Bossong am Tag vor dem Rücktritt Westerwelles den FDP-General Christian Lindner nach Köln begleitet.

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

POESIE NO: 5

POLITIK & LYRIK

Regen in die übersonnten Felder klart auf klart ab formt Türme aus den Bauern die noch nicht geopfert sind vom Rand her knarrt der alte Karren Freiheit längst leckgeschlagen ein Wrack aus nachfürstlicher Zeit fürsorglich ließ man es verfallen was kann es noch vorwärts seitwärts einen Rösselsprung ein Patt zwischen die Linien treiben Feldersterben zieht durch seine Reihen keiner regt sich jeder schiebt den andern wer will schon König ohne Spielbrett sein Nora Bossong

NORA BOSSONG, geboren 1982 in Bremen. Studium der Kulturwissenschaften, Philosophie und Literatur in Berlin, Leipzig und Rom. Zuletzt erschienen ihr Roman »Webers Protokoll« (FVA 2009) und ihr Gedichtband »Sommer vor den Mauern« (Hanser 2011). Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kunstpreis Literatur 2011 der Akademie der Künste

6 7. April 2011

POLITIK

DIE ZEIT No 15

Wie sage ich es meiner Partei? Foto (Ausschnitt): Marcus Hoehn/laif

Die Regierung lässt die Sicherheit der Kernkraftwerke prüfen. Dabei sucht sie nur einen Vorwand für den Ausstieg VON FRITZ VORHOLZ

Eine Bauruine: Infolge der Wiedervereinigung ging das AKW Stendal nie ans Netz

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ruthähne und Atomkraftwerke. Nichts ist den beiden gemein – außer einer Kleinigkeit. Solange die nuklearen Stromfabriken Tag für Tag zuverlässig Strom erzeugen, wiegen sich ihre Anhänger im Glauben an einen langen, störungsfreien Betrieb. Ebenso wie Truthähne sich täglich sicherer fühlen, weil sie stets von freundlichen Menschen gefüttert werden. Dabei rückt ihre persönliche Katastrophe, die Schlachtung, immer näher. Die Geschichte vom abrupten Ende des Federviehs ist die besonders tragische Variante eines Überraschungsschocks, dem all jene ausgesetzt sind, die auf der Grundlage von Wissen aus der Vergangenheit die Zukunft glauben erkennen zu können. In seinem Buch Der Schwarze Schwan nennt der Bestsellerautor Nassim Nicholas Taleb solch rückwärts gerichtetes Lernen »bestenfalls irrelevant, schlimmstenfalls furchtbar irreführend«. Zu Opfern solcher Irreführung sind Union und FDP durch die Explosion im japanischen Atomkraftwerk Fukushima geworden. Sie ließ die Begeisterung der Regierungsparteien für die Kernenergie binnen weniger Stunden verdampfen und das bis vor Kurzem noch Undenkbare näher rücken: einen Atomausstieg nach rot-grünem Strickmuster, womöglich ein bisschen schneller. Der von der Bundesregierung angeordnete Stresstest für die Meiler und die von ihr einberufene Ethikkommission dienen laut Drehbuch des Kanzleramtes in erster Linie dazu, die schwarzgelbe Gefolgschaft auf die abrupte Kehrtwende einzuschwören – inklusive des freidemokratischen Wirtschaftsministers Rainer Brüderle, der aus seiner Sympathie für die Kernenergie nach wie vor keinen Hehl macht, und Michael Fuchs, des noch zögernden Vizes der Unionsfraktion. Die neue Nachdenklichkeit und die Suche nach weisem Rat erweisen sich allerdings heute schon als Bluff. Während die Kommissionen mit ihren Beratungen gerade erst anfangen, existiert schon eine Vereinbarung der Partei- und Fraktionsspitzen von Union und FDP, der zufolge der Weiterbetrieb der sieben per Moratorium abgeschalteten Altmeiler plus des Pannenreaktors Krümmel ausgeschlossen wird. Nur »formell« sei das noch nicht beschlossen, sagt ein Unionsparlamentarier, der an dem Vorgang beteiligt ist.

Derweil hat Jürgen Becker, der beamtete Staatssekretär in Norbert Röttgens Umweltministerium, im fernen Abu Dhabi einen Reporter wissen lassen, dass die acht abgeschalteten Atomkraftwerke »definitiv nicht wieder hochgefahren« und die übrigen neun »bis zum Ende des Jahrzehnts abgeschaltet werden«. Das Ministerium bezeichnete die Meldung zwar als »inkorrekt«; es ist jedoch schwer vorstellbar, dass Energiepolitik nach dem Moratorium wieder betrieben wird, als wäre nichts geschehen. In Angela Merkels Kanzleramt ist bereits ein »Zeitplan Beschleunigung Energiewende« entwickelt worden. Darin steht auch, wie sich das Aus für die ältesten Reaktoren herbeiführen ließe: entweder per Gesetz – oder durch »aufsichtliche Verfügung«. Letzteres bedeutet, RWE & Co zu so teuren Nachrüstungsmaßnahmen ihrer Reaktoren zu zwingen, dass sie das Interesse an den Anlagen verlieren. Wie das gehen könnte, haben Röttgens Fachleute schon wenige Stunden nach der Explosion in Japan penibel aufgeschrieben. In einem sechsseitigen Vermerk mit dem Aktenzeichen RS I 3 13042/9 heißt es, die geforderten Maßnahmen seien »kurzfristig umzusetzen«. Dazu gehört die Neuberechnung der Erdbebenauslegung ebenso wie der Schutz der Kernkraftwerke vor zufälligen oder terroristisch motivierten Flugzeugabstürzen. Vor allem aber gehört eine lange Liste von scheinbar kleinen Einzelmaßnahmen dazu: unter anderem die Verbunkerung von Notstromdieseln, Rohrleitungen und Brunnen, die Aufrüstung von Notstromsystemen für Notkühlsysteme und die Installation fester Einspeisepunkte für mobile Notstromaggregate. Jahrelang hatten Atomskeptiker derartige Sicherheitsmaßnahmen verlangt, vergebens. Nun dient die Liste aus dem Ministerium als Grundlage der Checks, denen die Reaktorsicherheitskommission (RSK) sämtliche Meiler in den kommenden sechs Wochen unterwerfen will. Aber steht das Ergebnis nicht schon fest? Lange vor Fukushima war bekannt, dass der Betrieb von Atomkraftwerken Überraschungen mit einem immensen Schadenpotenzial birgt. Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit hatte schon vor acht Jahren, nach den Terror-

angriffen auf das New Yorker World Trade Center, festgestellt, dass kaum ein deutsches Kernkraftwerk dem Absturz eines großen Verkehrsflugzeuges standhalten würde. Brunsbüttel, Isar 1, Philippsburg 1 und Biblis A seien sogar schon beim Aufprall eines kleinen Flugzeugs vom Typ A 320 gefährdet, heißt es in der Expertise. Es sei mit einer »frühen Aktivitätsfreisetzung« zu rechnen, deren Beherrschung »fraglich« sei. Soll aus Deutschlands Steckdosen Strom kommen, der dieses Risiko mit sich bringt?

Aus-, Ein-, Ausstieg Im Sommer 2000 vereinbarte die damals regierende rot-grüne Koalition mit den Stromkonzernen eine Begrenzung der bis dahin unbefristeten Betriebsgenehmigungen der Kernkraftwerke auf durchschnittlich 32 Jahre. Das Atomkraftwerk Stade ging daraufhin im Herbst 2003 vom Netz; der jüngste deutsche Meiler, Neckarwestheim 2, hätte im Jahr 2022 abgestellt werden müssen. Union und FDP sorgten im Herbst vergangenen Jahres für ein späteres Ende der Kernenergie. Die Laufzeit wurde um durchschnittlich zwölf Jahre verlängert. Neckarwestheim 2 müsste nun erst 2036 abgeschaltet werden. 2010 steuerte die Kernkraft knapp 23 Prozent zur Stromerzeugung bei. Nachdem die Regierung im März angeordnet hatte, sieben alte Anlagen zunächst vorübergehend abzuschalten, sind es noch rund 15 Prozent. VO Nicht einmal der damals amtierende SPDUmweltminister Sigmar Gabriel zog Konsequenzen aus der Studie, geschweige denn die neuen Ausstiegsparteien Union und FDP. Sie hatten dem rot-grünen Atomkonsens des Jahres 2000 stets widersprochen. Und noch im Herbst vergangenen Jahres krönten sie ihren atomfreundlichen Kurs mit einem Energiekonzept, das die

Laufzeit der deutschen Kernkraftwerke um durchschnittlich zwölf Jahre verlängert. Begründung: Ein zentraler Beitrag, Klimaschutz, Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit zu verwirklichen. Dieses Bekenntnis binnen weniger Wochen vergessen zu machen ist eine Herausforderung für Spezialisten. Und weil alte Expertise und betagte Dokumente schlecht als Begründung eines aktuellen Sinneswandels taugen, hat Merkel eine Ethikkommission gegründet und den bis in die Reihen der Grünen geachteten früheren Umweltminister Klaus Töpfer zu einem der Vorsitzenden gemacht. Töpfer, der schon vor einem Vierteljahrhundert eine Zukunft ohne Kernenergie »erfinden« wollte, sagt heute, es bestehe nun »zum ersten Mal die Chance, dieses Thema gesellschaftlich über alle Parteien hinweg streitfrei zu stellen«. Kein Thema ist mit so viel Expertise unterfüttert wie ausgerechnet der Streit ums Atom. Allein vier Enquete-Kommissionen des Bundestages beschäftigten sich damit in den vergangenen 30 Jahren, und immer kam dabei heraus, dass die Nuklearenergie verzichtbar ist, selbst für den Schutz der Erdatmosphäre. »Wer beim Klimaschutz von der Kernenergie redet, hat das Problem nicht verstanden«, sagte beispielsweise Bernd Schmidbauer (CDU), der Vorsitzende von einer der Kommissionen. Selbst die Gutachter, die die Bundesregierung vor einem Jahr in der Erwartung beauftragt hatte, mit ihrer Hilfe die Laufzeitverlängerung begründen zu können, haben die erhofften Ergebnisse nicht geliefert: Auf Wirtschaftswachstum und Jobs haben die zusätzlichen Meilerjahre kaum Einfluss. Strom für Haushalte wäre im Jahr 2030 pro Kilowattstunde ganze 0,2 Cent billiger. Und für den Klimaschutz ist Energieeffizienz wichtiger als Atomkraft. Gegen einen schnellen Ausstieg spricht vorerst nur eins: die Behauptung der Strombranche, Deutschland importiere seit Beginn des Moratoriums mehr Atomstrom aus Frankreich und Tschechien als zuvor. Strom aus vermeintlich weniger sicheren französischen und tschechischen Meilern statt aus deutschen – das wäre laut Merkel »un-

erwünscht« und womöglich das K.o. für einen beschleunigten Ausstieg. Tatsächlich sind Deutschlands Stromimporte aus Frankreich und Tschechien seit Beginn des Moratoriums »an einigen Tagen erheblich angestiegen«, bestätigt Felix Matthes, Fachmann des Öko-Instituts. Das Umweltministerium hatte ihn mit der Prüfung der Angelegenheit beauftragt. Allerdings hat Matthes auch festgestellt, dass Deutschland früher, ohne Atom-Moratorium, bereits ähnlich viel oder sogar mehr Strom

aus Frankreich und Tschechien importiert hat. Er hält es nun für möglich, dass sich die TöpferKommission zu der weisen Empfehlung durchringt, ab sofort nur auf so viele Meiler zu verzichten, wie ohne zusätzliche Atomstromimporte möglich ist. Wie viele das sind? Es könnten, sagt Matthes, sogar deutlich mehr als sieben sein.

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7. April 2011 DIE ZEIT No 15

7 Fotos (Ausschnitte): Jay Westcott/Polaris/StudioX (l.); Nasser Nasser/AP (o.); Youssef Boudlal/Reuters

Libyien

Hilfe für die Wehrlosen Ein Plädoyer für den Libyen-Krieg – und gegen seine Ausweitung

S

VON ANNE SLAUGHTER

ollte es eine Obama-Doktrin geben, blick auf Libyen ging es darum, dass die Völkerdann betrifft sie jedenfalls nicht die gemeinschaft im 21. Jahrhundert anders als im Anwendung von Gewalt. Dieser Prä- 20. Jahrhundert nicht mehr abseits stehen und sident ist zu pragmatisch und zu klug, zusehen wird, wie eine Regierung ihr eigenes um bei einem derart schwerwiegen- Volk abschlachtet. Für eine Nation wie Deutschden Problem in einer so komplexen Welt wie der land mit ihrer doppelten Geschichte von Völunseren eine einzige simple Regel anzuwenden. kermord und der daraus folgenden exemplariSoweit man überhaupt von einer Obama-Dok- schen Einbindung in die internationale Getrin im Sinne eines eindeutig formulierten meinschaft war dies eine Gelegenheit, zu zeigen, Standpunktes gegenüber anderen Nationen wie sie sich als permanentes Mitglied des Sichersprechen kann, geht es darin um Macht und heitsrates verhalten würde. Das Ergebnis war Führung. Im 21. Jahrhundert müssen Groß- nicht ermutigend. Jetzt aber läuft die Intervention schon seit mächte sich ihren Status dadurch verdienen, dass sie die Bereitschaft zeigen, »ihren Teil der zwei Wochen; Gadhafis Luftverteidigung und Verantwortung für eine globale Antwort auf viele seiner schweren Panzer wurden zerstört; die globale Herausforderungen zu schultern«. So Nato hat das Kommando von den USA überformulierte es Obama 2009 in seiner ersten nommen; die Kräfte der Opposition und GadRede vor der UN-Vollversammlung. Er fuhr hafis Armee scheinen sich bei den Gefechten am fort: »Nichts ist einfacher, als anderen die Schuld Boden einem Patt zu nähern. Was nun? In Libyen heißt die Antfür unsere Probleme zuzuschieben, wort: intensive diplomatische die Verantwortung für unsere EntBemühungen. Gewalt kann scheidungen und Taten aber zurück- A N N E S L A U G H T E R Kriege gewinnen, aber nicht zuweisen. Das kann jeder. Verantden Frieden. Diese nachhalwortung und Führung im 21. Jahrtige Lektion hat das US-Mihundert verlangen mehr.« litär in Irak und Afghanistan Den gleichen Ton schlug Obama gelernt. Der große preußiin seiner Rede an die amerikanische sche General und MilitärÖffentlichkeit an, als er die Entstratege Carl von Clausewitz scheidung für das Eingreifen in Lisagte einst, der Krieg sei eine byen begründete. »Hätten wir unter diesen Umständen Amerikas Füh- Die Princeton-Professorin bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Das rungsverantwortung und vor allem Anne Slaughter ist eine mag richtig sein, aber der unsere Verantwortung unseren Mit- der bekanntesten ExperKrieg kann erst dann enden, menschen gegenüber verweigert, tinnen für Völkerrecht. wenn die Politik wieder das dann wären wir uns selbst untreu Bis zum Februar leitete Sagen hat. geworden«, erklärte er. Diese globale sie den Planungsstab im Für Libyen gibt es keine Verantwortung liegt auch der Reso- US-Außenministerium militärische Lösung. Gadhafi lution 1973 des UN-Sicherheitsrats kann nicht gewinnen, gerade zugrunde, die »wiederholt, dass die libysche Regierung die Bevölkerung schützen weil er sich nur durch die Tyrannei, durch Brumuss«. Selbst eine Nation, die so klein ist wie talität und Einschüchterung an der Macht geQatar, begründet ihr Engagement für eine Flug- halten hat. Er ließ jeden umbringen, der sich verbotszone so: »Geografisch gesehen sind wir ihm in den Weg stellte, so wie er es für Bengasi ein kleines Land«, räumte General Mubarak al- angedroht hat und in Misurata und Tripolis Khayanin ein, Stabschef der Luftwaffe von Qa- nach der ersten Widerstandswelle zweifellos tar, »aber Führung bedeutet auch Verantwor- wahrgemacht hat. Aber das Mandat der Nato tung. Länder wie Saudi-Arabien und Ägypten zum Schutz der Zivilbevölkerung hat ihm seine haben ihre Führungsrolle in den letzten drei Werkzeuge größtenteils aus der Hand geschlaJahren vernachlässigt. Deshalb haben wir uns gen. Vielleicht kann er noch aufständische Städentschlossen, unsere Stimme zu erheben und te einkesseln, erobern kann er sie nicht. Für die Opposition sieht die militärische uns aktiv zu beteiligen. Wir werden sehen, ob Lage bisher nicht ermutigend aus. Wenn Gadhaandere unserem Beispiel folgen.« Das war ein Führungstest, den Deutschland fi sich tatsächlich nur auf Söldner und zwangsnicht bestanden hat, als es sich bei der Abstim- rekrutierte Soldaten stützen kann, die er mit mung über die Resolution 1973 der Stimme Drohungen gegen ihre Familien und ähnlichen enthielt. Dabei verlangt die Resolution von ih- Mitteln zum Kämpfen zwingt, dann sollte es ren Befürwortern keineswegs die Beteiligung am angesichts seiner schwindenden Geldvorräte Militäreinsatz. Die Doktrin der Schutzverant- und Glaubwürdigkeit zu Massendesertionen wortung (Responsibility to Protect) formuliert kommen, wie ja auch die Desertion aus seinem eher eine Rechtfertigung als eine Verpflichtung. inneren Machtzirkel immer weiter zunimmt. Die 2006 vom Sicherheitsrat verabschiedete Dann müssen die Rebellen sich den Weg in die Resolution stellt fest, dass alle Regierungen ihre Städte nicht freikämpfen, sondern sie nur einBevölkerung vor Völkermord, ethnischer Säu- kreisen und die Bewohner zum Aufstand aufberung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit rufen. So sah es jedenfalls am Anfang des Konund schweren und systematisch begangenen fliktes aus. Wenn es aber nicht so läuft, dann Kriegsverbrechen schützen müssen. Werden sie besteht die einzige Hoffnung auf Frieden in eidieser Verantwortung nicht gerecht, so ist die nem Handel: Gadhafi gibt die Macht auf und internationale Gemeinschaft zum Eingreifen verlässt das Land, und eine Art repräsentativer berechtigt, nicht jedoch verpflichtet. Im Hin- Rat, dem auch Gadhafi-Anhänger angehören,

vielleicht sogar ein Mitglied seiner Familie, leitet den Übergang zu einer neuen Regierung ein. An diesem Punkt darf »der Westen« nicht der Versuchung erliegen, die UN-Mission auszuweiten, um einen Regimewechsel zu erzwingen. Die Libyer selbst haben von Anbeginn erklärt, dass dies ihr Kampf ist, dass sie aber Hilfe benötigen, um ausgeglichene Bedingungen herzustellen. Sie haben recht. Die Revolutionen in Europa und Nord- und Südamerika haben gelehrt, dass der Weg zu einer liberalen Demokratie in aller Regel lang und steinig ist. Vieles wird scheitern. Und in diesem Fall müssen die Libyer unbedingt die Verantwortung für ihre Misserfolge übernehmen und daraus ebenso lernen wie aus ihren Erfolgen. Die USA waren erst bereit, für die Resolution 1973 zu stimmen, als bestimmte Kriterien erfüllt waren: ein Hilfsgesuch der libyschen Opposition und die Befürwortung einer Flugverbotszone durch die Arabische Liga. Jeder Zustimmungsschritt ist ein indirekter Hinweis auf das Ausmaß der Gräueltaten. Erst wenn das brutale Vorgehen einer Regierung das Gewissen der Region aufrüttelt, ist die regionale Organisation zum Handeln bereit. Fordert sie die UN zu Maßnahmen gegen eines ihrer Mitglieder auf, werden die Vereinten Nationen wahrscheinlich zustimmen. Verhält die regionale Organisation sich dagegen passiv, so werden die Nationen außerhalb der Region nur dann gegen den regionalen Konsens handeln, wenn die tatsächlichen oder angedrohten Verbrechen das Gewissen der Welt nachhaltig erschüttern. Das ist ein kaltes Kalkül, und traurigerweise wird es mit Sicherheit dazu führen, dass zahllose Gewalttaten von der internationalen Gemeinschaft weder beachtet noch bestraft werden. Aber es entkräftet das Argument, das Eingreifen in einem Land werde notwendig zum Eingreifen überall auf der Welt führen. Immer noch sitzen Menschen, die von ihrer Regierung mit Waffengewalt bedroht werden, am kürzeren Hebel. Bei all unserem Zögern, unseren Widersprüchen und Unsicherheiten war die Intervention in Libyen doch richtig. Ihr ist es zu verdanken, dass Zehntausende, vielleicht Hunderttausende Bürger von Bengasi noch leben. Das wiegt die Tausende, ja Millionen nicht auf, die auf der ganzen Welt sterben, ob im Kongo oder in Tschetschenien. Die Intervention bringt Libyen vielleicht nicht notwendig den Frieden. Wahrscheinlich werden sich in vielen künftigen Konflikten potenzielle Opfer häufiger als bisher auf das Konzept der Schutzverantwortung, auf die Responsibility to Protect, berufen. Aber die Intervention wird auch als Beispiel für kollektive Ausübung globaler Macht gelten, und zwar nicht nur im Namen des internationalen Friedens und der Sicherheit, wie in Kapitel VII der UN-Charta beschrieben, sondern auch im Namen der einzelnen Bürger gegen eine blutrünstige Regierung. Die Schutzverantwortung gehört unabdingbar zur Verantwortung einer globalen Führung. Aus dem Englischen von ELISABETH THIELICKE Krieg in Libyen: Aktuelle Berichte auf ZEIT ONLINE www.zeit.de/libyen

Libysche Rebellen mit zerstörten Militärfahrzeugen Gadhafis (oben) und auf der Suche nach Deckung während eines Gefechts

8 7. April 2011

POLITIK

DIE ZEIT No 15

Warschau m zweiten Frühling des polnisch-polnischen Krieges, als die Kirschbäume ihre Knospen austreiben, spricht endlich der Kardinal, weil er den Streit draußen auf der Straße nicht mehr ertragen kann. Hört auf mit der Trauer, sagt er, es reicht. Das Jahr ist um und der Friedhof kein Zuhause. Aber Jarosław Kaczyński kann nicht aufhören, will es nicht. Er hat seinen geliebten Zwillingsbruder verloren und seinen Glauben an ein Land, das mit sich und seinem Schmerz ins Reine kommen könnte. Kaczyński ist immer hier, in der Kathedrale des Heiligen Jan in Warschau, an jedem Zehnten eines Monats. Er hasst es, früh aufzustehen, aber an diesen Tagen kommt er schon am Morgen und betet für seinen toten Bruder. Am Abend zieht er vor die Tore des Präsidentenpalastes, wo die Menschen an seiner Seite schreien vor Trauer und Wut. Sie zünden Lichter an, sie halten Kreuze hoch. Einige beschimpfen den Präsidenten, andere beschimpfen die Beschimpfer. Jarosław Kaczyński ist immer dabei, im schwarzen Anzug, mit schwarzer Krawatte, die er seit dem Unglückstag pausenlos trägt, an dem der polnischpolnische Krieg begann. Am 10. April 2010 stürzt die polnische Tupolew 154 mit 96 Passagieren in Russland ab. Der Nebel ist dick wie Milch, als die Piloten zu landen versuchen. Die Maschine prallt mit dem Bauch nach oben auf und zerschellt. Tot sind: der polnische Präsident Lech Kaczyński und seine Frau Maria, Generäle, Politiker aller Parteien, Geistliche, Historiker, Vertreter von Opferverbänden. Sie wollten zum Gedenken nach Katyn, Russland, an den Ort von Polens gewaltigem Trauma. 1940 hatte Stalin in Katyn 20 000 polnische Offiziere exekutieren lassen. Die Leichen wurden verscharrt, die Schuld den Deutschen zugeschoben. Nun jährte sich der 70. Jahrestag, Präsident Lech Kaczyński wollte an diesem Ort seinen Wahlkampf beginnen. Seine Umfragewerte waren schwach, in wenigen Monaten schon standen die Präsidentschaftswahlen an. Premier Donald Tusk war schon vier Tage zuvor in Katyn gewesen, gemeinsam mit Wladimir Putin, die Bilder der beiden gingen um die Welt. Tusk und Kaczyński, sie kannten sich seit der Zeit des Untergrunds, als sie noch gemeinsam gegen die sozialistische Diktatur kämpften. Dann wurden sie zu Konkurrenten – und, als beide ganz oben angelangt waren, zu Gegnern. Sie stritten öffentlich darüber, wer wo was repräsentieren dürfe, sie demütigten sich. Verweigerte die Kanzlei des Premiers dem Präsidenten ein Flugzeug, buchte der Präsident eben eine private Fluglinie. Undenkbar, dass sie gemeinsam hinflogen. Das, was in Polen vor 1989 als gemeinsamer Widerstand gegen den Sozialismus begann, liegt längst in Trümmern. Die einstigen politischen Gefährten haben sich bis aufs Blut zerstritten, neue Parteien gegründet, sich hinter gegenseitigen Anschuldigungen verschanzt und ihre Vorstellungen, wie es mit dem Land weitergehen sollte, zu persönlichen Fehden gestrickt, die das Land gespaltet haben. In Polen konnte in den vergangenen Jahren ein Dinner mit der Frage gesprengt werden, mit wem man es denn halte: mit Tusk oder mit den Kaczyńskis. Einen Moment lang, als die Tupolew abgestürzt war, einte die Wucht des Unglücks das Land. Hoffnung kam auf. Die Menschen liefen zu Tausenden auf die Straßen, vor dem Präsidentschaftspalast legten sie Blumen ab, viele weinten. Pfadfinder stellten ein meterhohes Holzkreuz auf. Bis der neu gewählte Präsident, ein Tusk-Mann, es in eine nahe gelegene Kirche transportieren ließ. Der polnisch-polnische Krieg, jetzt

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Fotos: [M] Pawel Kula/epa/dpa (gr. Foto); Camera Press/Picture Press (2); ANP/action press; Eric Dessons/SIPA (kl. Fotos v.l.n.r.)

Ihm gehe es nur um die Wahrheit, erklärt Jarosław Kaczyński

ging er los. Auch Jarosław Kaczyński machte sich bald auf in seine Schlacht. Wann immer er über die Tragödie spricht, sagt Jarosław Kaczyński, es gehe ihm um Wahrheit. Prawda. Ein großes Wort, das keinen Frieden schafft. Unerfahrene Piloten. Ein katastrophaler Flughafen. Politischer Druck, rechtzeitig zu landen. Künstlicher Nebel. KGB. Bombe. Ein Magnet, der das Flugzeug abgelenkt hat. Ein Anschlag. Putins Handschrift. Das sind die Wahrheiten, die im polnisch-polnischen Krieg aufeinanderprallen. Als die Nachricht vom Tod seines Bruders Jarosław Kaczyński erreicht, wacht er im Krankenhaus am Bett seiner herzkranken Mutter. Dann fährt er in sein Büro in der Nowogrodzka-Straße, einige Parteikollegen sammeln sich um ihn. Kaczyński wirkt von allen am ruhigsten, erinnert sich Adam Bielan, der bis zum vergangenen Jahr zu Kaczyńskis Vertrauten gehörte. Kaczyński sagt fast nichts. Ärzte haben ihm noch im Krankenhaus Beruhigungsmittel gegeben.

glied der internationalen zivil-militärischen Kommission (MAK) unter russischer Federführung. Klich vertritt die polnische Seite. Oft hat er in seinem Leben Flugzeugunglücke untersucht, aber als er am Abend des Absturzes in Smolensk ankommt, erschrickt er. Er versucht, den Blick auf das Wrack zu heften, nicht auf die Toten. Da glaubt Edmund Klich noch, die Gründe für das Unglück ließen sich schnell klären. Wenige Tage später wird Klich plötzlich der Zugang zu den Aufzeichnungen im Tower verweigert. Militärische Dokumente werden nicht freigegeben, der Flugschreiber bleibt in Russland, das Wrack auch. Im Januar wird der Untersuchungsbericht veröffentlicht, die polnischen Anmerkungen werden kaum berücksichtigt. Russland sieht die Schuld bei den Piloten. Welche Rolle die Lotsen im Tower spielen, wird nicht untersucht. Klich sagt, eine Kette von Fehlentscheidungen habe zu dem Unglück geführt. Von beiden Seiten. Polen kündigt einen eigenen Bericht an. Die Veröffentlichung verschiebt sich ständig. In seinem Büro in Warschau stehen drei Modelle aus Metall auf dem Tisch, eine Lancaster, eine Speed Fire,

Der Krieg nach dem Tode Vor einem Jahr stürzte das Flugzeug des polnischen Präsidenten in Russland ab. Sein Zwillingsbruder will Sühne VON ALICE BOTA

Drei Stunden später fliegt Kaczyński gemeinsam mit Adam Bielan und einer kleinen Gruppe von Politikern nach Weißrussland, dann fährt er mit dem Auto weiter nach Smolensk, wo sein toter Bruder liegt. Das Angebot des Premiers, gemeinsam zu reisen, schlägt er aus. Er will schneller aufbrechen – und kommt später an: Ungewöhnlich lange Passkontrollen und Fahrer, die sehr langsam sind, halten die Reisenden auf, während die Kolonne des Premiers sie überholt. Es wird Donald Tusk sein, der die ersten Bilder der Tragödie bestimmt, nicht Jarosław Kaczyński. Auf dem Rückflug sagt Kaczyński leise: Jetzt ist mein Leben zu Ende.

Es ist nicht viel, was seitdem das Leben des Jarosław Kaczyński trägt. Die Mutter schwer krank, der Bruder tot. Geblieben sind ihm die Politik und das Gefühl, ein Unrecht sühnen zu müssen. Als das Flugzeug am 10. April 2010 abstürzt, schlägt auch die Stunde von Edmund Klich. Klich, Oberst im Ruhestand, macht sich auf den Weg nach Russland im Auftrag des polnischen Verteidigungsministers. Er soll klären, was geschah. Er wird Mit-

eine Iskra. Klich nimmt die Speed Fire und zeigt, wie die Tupolew 154 an zarten Birken hängen bleiben und kippen konnte. Vor ihm liegt ein Fachbuch, Sicherheit im Flugverkehr. Vor vielen Jahren hat er es mit einem Kollegen geschrieben. Es wird jetzt neu aufgelegt. Seit dem 10. April scheint sich ganz Polen für Flugsicherheit zu interessieren. Fragt man Edmund Klich, warum Menschen an Magneten und künstlichen Nebel glauben, erzählt er von seiner Familie. Lauter vernünftige Leute, sagt Klich, aber sein Cousin ist von einem Anschlag überzeugt. »Einige Menschen entziehen sich der Wahrheit«, sagt Klich. »Sie beklagen, dass sie nichts erfahren.« Nach dem Unglück habe die polnische Regierung Falschmeldungen nicht dementiert und kaum Informationen preisgegeben. Die Verschwörungstheorien wucherten. Als der Präsident Tage nach dem Unglück in der Königsgruft in Krakau beerdigt werden soll, ahnt Klich, was für eine politische Sprengkraft die Tragödie birgt. Menschen demonstrieren, weil sie finden, dass die Gruft nicht der richtige Ort für Lech Kaczyński ist. »Ich hatte auf Versöhnung gehofft«, sagt Klich. »Aber stattdessen wurde die Tragödie zu politischen Spielen missbraucht, wie ich es nie im Leben erwartet hätte.«

Abends legten Tusk und Putin Kränze nieder

Gedenkmesse für Präsident Lech Kaczyński

Jetzt ist mein Leben zu Ende, sagt Jarosław Kaczyński leise

Jarosław Kaczyński trauert in den ersten Wochen still. Er kandidiert für das verwaiste Präsidentenamt, wie es ihm seine Spindoktoren raten, zurückhaltend und demütig, denn Umfragen meinen, dass die Gesellschaft keinen aggressiven Wahlkampf will.

Die einen glauben an einen Unfall, die anderen an einen politischen Mord Es ist nicht schwer, Jarosław Kaczyński von der Strategie zu überzeugen. Er trauert, die kranke Mutter weiß nichts vom Tod ihres Sohnes Lech, Jarosław Kaczyński ist täglich bei ihr. Manchmal gibt er sich als Lech aus, damit die Mutter von der Nachricht verschont bleibt, bis sie wieder bei Kräften ist. Erst im Mai weiht Kaczyński sie ein. Während der Sohn um das Wohl der Mutter kämpft, erlebt Polen den Wahlkampf eines Abwesenden, geführt von dessen Beratern und Spindoktoren. Kaczyński holt viele Stimmen, aber verliert die Wahlen. »Er war nicht er selbst«, sagt einer seiner politischen Vertrauten, der sich nach den Wahlen von ihm abwandte. »Der Konflikt lag ihm schon immer mehr als der Ausgleich.« Ehemalige Weggefährten, die so denken, gibt es viele. Gut 20 Abgeordnete haben Kaczyńskis Partei verlassen, seitdem er die Tragödie zur Konfrontation nutzt. Jarosław Kaczyński ist davon überzeugt, der polnische Premier Tusk habe »Blut an seinen Händen kleben«. Ihm selbst, dem Machtmenschen, geht es längst nicht mehr um Macht. Die anstehenden Parlamentswahlen im Oktober dieses Jahres will er gewinnen, weil er glaubt, dass er so das Unglück aufklären kann, meint Kaczyńskis einstiger Vertraute. »Wir haben nichts aus dieser Tragödie gelernt«, sagt er. »Die Gesellschaft teilt sich in zwei Gruppen: in solche, die glauben, es sei ein Unfall gewesen, und solche, die meinen, Tusk und Putin hätten den Präsidenten umgebracht.« Die Toten sind nicht einmal ein halbes Jahr begraben, als die Stimmung kippt und es vor dem Präsidentenpalast zu Ausschreitungen kommt. Noch immer finden sich täglich zwei Dutzend grauhaarige Menschen vor dem Palast zusammen. Es ist ein klarer Abend Ende März dieses Jahres, die Demonstranten hören Radio, das sie an ein Megafon angeschlossen haben. Der nationalistisch-katholische Sender Radio Maria dröhnt vor den Fenstern des Präsidenten, der Moderator warnt, Fernsehen und Internet ruiniere die Kinder und lasse sie moralisch verkommen. Die älteren Frauen und Männer stellen ihre Holzkreuze auf und ihre Lichter, die von den Männern der Müllabfuhr später weggeräumt werden. Keiner der Grauhaarigen weiß, dass nur zweihundert Meter weiter in Warschaus Großem Theater ein Konzert für die Opfer von Smolensk beginnt. »Aus einem Herzen« heißt es. Das Fernsehen ist dabei. Polnische Stars treten auf, Politiker sind da, Prominente, vorn sitzen die Angehörigen der Opfer. Plötzlich fährt in der Mitte der Bühne eine gewaltige Birke mit abgerissenen Ästen hoch, das Symbol der Tragödie. Eine Zuschauerin fällt in Ohnmacht. Längst nicht alle Angehörigen der Opfer sind gekommen, vielleicht ein Drittel. Auch sie sind untereinander zerstritten. Die einen wollen Ruhe, die anderen bedienen Internetseiten, weil sie glauben, dass die Medien die Wahrheit nicht zulassen. In diesem zweiten Frühling des polnisch-polnischen Krieges sagt der Kardinal: Begeht diesen Tag in stiller Andacht. Betet. Aber wieder gehen Tausende in Warschau auf die Straße, vier Demonstrationen sind angemeldet, von morgens bis abends. Zur besten Sendezeit werden die Bilder konkurrieren. 90 Minuten Konzert gegen 16 Stunden Straßenproteste. Und irgendwo dazwischen Jarosław Kaczyński, einsam und stumm. www.zeit.de/audio

Polen vor einem Jahr

10. 4. 2010: Das Flugzeugwrack in Smolensk

Vor dem Präsidentenpalast in Warschau

Zwei Vettern brauchen einen Therapeuten Die Tragödie wird zum Streitfall: In Moskau fühlt man sich gekränkt von der polnischen Kritik an Russland

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FINNLAND

Flugzeugabsturzstelle

LETTLAND Ostsee

LITAUEN

POLEN Berlin

RUSSLAND

ESTLAND

SCHWEDEN

Moskau enn es einen Psychiater für zwischenstaatliche Beziehungskrisen gäbe, hätten Polen und Russland einen Stammplatz auf seiner Couch. Viele in der polnischen Elite sprechen Russisch, schätzen die russische Kultur, fürchten aber den Moskauer Staat und seinen Imperialismus. Vertreter der russischen Intelligenz bewundern die Kunst und den Freiheitsdrang der Polen – und beklagen ihren Hochmut. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde Polen zum engen Verbündeten der USA und zum Unterstützer der antirussischen Revolutionen in der Ukraine und in Georgien. Russland versuchte im Gegenzug, einen Keil zwischen Polen und seine europäischen Partner zu treiben. Aber das Unglück in Katyn veränderte vieles. Russland reagierte voller Mitgefühl, Wladi-

Katyn

Moskau Smolensk

WEISSRUSSLAND

Warschau UKRAINE

mir Putin umarmte den polnischen Premier Donald Tusk an der Absturzstelle. Für viele Polen zeigte Putin erstmals ein menschliches Antlitz. Als Russland nach dem Absturz der polnischen Präsidentenmaschine in Smolensk einen Untersuchungsbericht vorlegte, der alle Schuld auf der polnischen Seite suchte (siehe Artikel oben), kehrte es zu der Tradition des Misstrauens und der Giftigkeiten zurück. Dabei hatte Moskau schon Ende des vergangenen Jahrzehnts beschlossen, das polnisch-russische Verhältnis zu versachlichen. »Gerade der Krieg mit Georgien 2008 zeigte der russischen Führung, dass es in ihren Interessen liegt, die Beziehung zu Europa zu verbessern«, sagt Dmitrij Trenin, Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums. »Es tauchte die Perspektive eines neuen Kalten Krieges und der Isolation Russlands auf.« Zum 70. Jahrestag des Kriegs-

VON JOHANNES VOSWINKEL

ausbruchs verurteilte Ministerpräsident Putin auf der Westerplatte in Danzig den Ribbentrop-MolotowPakt für seinen »unmoralischen Charakter«. Bei der Gedenkveranstaltung in Katyn am 7. April vergangenen Jahres kniete er nieder und sprach von »Verbrechen eines totalitären Regimes«, für die es keine Rechtfertigungen gebe. Solche Worte hatte man von Putin nie zuvor gehört. Nach dem Flugzeugunglück strahlte das russische Staatsfernsehen zur Hauptsendezeit den Film Katyn von Andrzej Wajda aus, der zuvor keinen Verleiher für Russlands Kinos gefunden hatte. So rückte das Massaker, das vielen Russen bisher unbekannt war oder als Nebenepisode des Zweiten Weltkriegs erschien, erstmals ins russische Bewusstsein. Doch der selbstgerechte Zuschnitt des Untersuchungsberichts zeigt, dass der schwierige Prozess der historischen Aussöhnung scheitern könnte.

Russland lebt im Gefühl, die Untersuchung beispielhaft offen geführt zu haben. Die Proteste aus Polen klingen für Moskau beleidigend. Der russischen Führung könnte die Geduld ausgehen. »Wir geben und geben ihnen«, beschreibt Trenin die russische Wahrnehmung, »und sie sind ewig unzufrieden. Was sollen wir denn noch tun?« Seither hakt es in der Zusammenarbeit: Ein Brief der Bischöfe beider Länder, der dem Beispiel des Versöhnungsakts polnischer und deutscher Bischöfe 1965 folgen sollte, blieb ungeschrieben. Die vereinbarte Gründung zweier Zentren des Dialogs in Moskau und Warschau verzögert sich. Beide Seiten signalisieren, sie wollten die Annäherung fortsetzen. Aber sie warten ab: Der Jahrestag der Tragödie und die Veröffentlichung des polnischen Untersuchungsberichts müssen erst störungsfrei vorüberziehen.

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7. April 2011 DIE ZEIT No 15

Hauptstadt der Angst Der Gewählte gegen den Wahlfälscher: Entscheidung im Machtkampf in der Elfenbeinküste

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taras. Und dessen militärische Kommandos schlugen ebenso brutal zurück. Die moderne Fünf-Millionen-Metropole Abidjan verwandelte sich in eine Stadt der Angst. Niemand weiß, wie viele Menschen getötet wurden, landesweit sind über eine Millionen Bürger auf der Flucht, vielerorts herrschen Rechtlosigkeit und nackte Gewalt. Aus Douékoué, einer Stadt im Westen des Landes, wird ein Massaker gemeldet; es soll sich um Racheakte der Dozo handeln, traditioneller Jägerbünde, die in der Nachhut der siegreichen Rebellenverbände marodieren. In Libyen hat die Weltgemeinde doch auch eingegriffen, warum helft ihr uns nicht?, fragten viele Ivorer ver-

MALI

BURKINA FASO

ELFENBEINKÜSTE GUINEA

OuattaraHochburg Bouaké

Yamousoukro GHANA

Abidjan

LIBERIA San Pedro ZEIT-Grafik

Golf von Guinea

150 km

zweifelt. Selbst die Anhänger Ouattaras verloren das Vertrauen in die Kräfte, die bereits im Lande sind. Frankreich hat seine Opération Licorne auf 1600 Soldaten verstärkt, um französische Staatsbürger und Unternehmen zu schützen. Und die Truppe der Vereinten Nationen, die den fragilen Frieden seit dem Ende des ersten Bürgerkriegs überwacht, umfasst unterdessen 11 000 Mann – eine der größten Friedensmissionen, die sie je entsandt hat. In der Resolution

Morden fürs Paradies VON BARTHOLOMÄUS GRILL

1975, die der Weltsicherheitsrat vorige Woche einstimmig annahm, wurden die Blauhelme aufgefordert, ihr robustes Mandat voll auszuschöpfen. Gemeinsam mit den Franzosen griffen sie erstmals entschlossen in das Kampfgeschehen in Abidjan ein und zerstörten aus der Luft Stellungen und Waffenlager der Regierungstruppen. Und offenbar auch die Residenz von Laurent Gbagbo im Viertel Cocody. Am Dienstagabend hieß es, er habe sich mit seiner Familie in einem Kellerbunker unter den Trümmern verschanzt. Das Gelände wurde angeblich von Ouattaras Soldaten umstellt. Ebenfalls am Dienstagabend (kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe) teilt Gbagbos Generalstabschef Philippe Mangou mit, seine Truppe habe nach dem Bombardement der Franzosen und der Blauhelme die Kämpfe eingestellt und einen Waffenstillstand vorgeschlagen. Kurz darauf gibt ein Sprecher der UN-Truppen bekannt, dass drei Generale mit Emissären der Vereinten Nationen gerade die Bedingungen für eine Kapitulation aushandeln; sie fordern unter anderem ein sicheres Geleit für Ggagbo. In Paris verkündet Außenminister Alain Juppé vor der Nationalversammlung: »Wir stehen kurz davor, ihn von der Aufgabe der Macht zu überzeugen.« Und plötzlich keimt wieder Hoffnung auf in Abidjan, eine ganz leise, vorsichtige Hoffnung; die Menschen wollen noch nicht so recht an das Ende der Kampfhandlungen glauben. Und der Frieden im Lande wird schwerer zu gewinnen sein als die Entscheidungsschlacht um eine Großstadt. Denn jenseits der Manipulationen, durch die sich Gbagbo im Vorjahr den Wahlsieg erschwindelte, steht eines fest: Beinahe die Hälfte der Bürger haben dem starrsinnigen Autokraten ihre Stimme gegeben. Und sein Erzfeind Alassane Ouattara ist bislang nicht für diplomatisches Feingespür und versöhnliche Töne bekannt. Noch ist der Albtraum in Abidjan nicht ausgestanden. »Der Krieg ist vorbei«, sagt Ggabgos Außenminister Alcide Djedje in einem Interview der britischen BBC am Dienstagabend. Im Hintergrund sind Schüsse zu hören.

Eine Serie von Attentaten zeigt: Pakistan wird von einem blutigen Säuberungswahn im Stil der Taliban erfasst VON ULRICH LADURNER

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er nicht strenggläubiger Sunnit musste sterben, weil er gegen das sogenannte Blasist, hat in Pakistan kein Lebens- phemiegesetz Stellung bezogen hatte. Dieses ermögrecht. Das ist die Botschaft der licht, Angriffe auf den Koran mit lebenslanger Haft Attentäter, die vor wenigen Ta- und die Beleidigung des Propheten Mohammed mit gen in der Provinz Punjab mehr der Todesstrafe zu ahnden. Der Diktator, General als 40 Menschen töteten. Ihre Vergehen: Sie waren Ziaul-Haq, hatte es in den siebziger Jahren verabschiean den Sakhi-Sarwar-Schrein gepilgert, um dort zu det. Damals konnte er es nur kraft seiner diktatoribeten, zu singen und zu meditieren. Diese Men- schen Macht durchsetzen, heute scheint das Gesetz schen waren Sufis, Anhänger einer lebenszuge- mehrheitsfähig zu sein. Die böse Frucht des Despoten wandten Glaubensrichtung des Islams – in den kommt nach drei Jahrzehnten zur vollen Blüte. Augen ihrer Mörder Häretiker, die den Tod verNiemand scheint ein Rezept dafür zu haben, wie dient haben. Die Sufis sind nur die letzten in einer diese fatale Entwicklung aufzuhalten sein könnte. ganzen Reihe von Opfern einer Mordkampagne Als die Taliban 2008 das Swattal einnahmen und gegen jeden, der nicht nach den Kriterien der Ex- wenige Kilometer vor der Hauptstadt Islamabad tremisten lebt und handelt. Das letzte prominente gesichtet wurden, da schien ein Ruck durch das Land Opfer war Shabaz Bhatti, Minister für Religions- zu gehen. Die Armee eroberte das Swattal zurück, fragen und einziger Christ in der Regierung; weni- unter dem Applaus der Parteien und der Öffentlichge Wochen vor Bhattis Tod starb Salman Taseer, keit. Eine nationale Koalition gegen die Extremisten der liberale, säkulare Gouverneur der Provinz Pun- schien geschmiedet. Doch das war offenbar eine jab, im Kugelhagel eines Attentäters. PakisSchimäre. tan ist vom Säuberungswahn im Stil der Die Extremisten sind keine blutrünsTaliban erfasst – und es scheint kein tigen Außenseiter mehr. Die Frage ist, CHINA Halten mehr zu geben. warum es ihnen gelingt, so weit und Die Extremisten beschränken tief in die Herzen und Köpfe der AFGHAIslamabad sich längst nicht mehr auf die Pakistaner vorzudringen. LähNISTAN Punjab Grenzregionen zu Afghanistan. mende Angst, das ist gewiss eine IRAN Antwort darauf. Es braucht viel Sie greifen das Herz Pakistans an. PAKISTAN Der Punjab ist die bevölkerungsMut, sich den Mördern entgegenreichste, wichtigste Region Pakiszustellen. Isolation ist eine zweite INDIEN nd tans; der Sufismus ist die GlauAntwort. Pakistan ist nicht so von Oz isch ea er bensrichtung, der die Mehrheit der der Welt abgeschlossen wie Nordn korea oder Iran, aber viele Pakistaner Pakistaner angehören. 500 km fühlen sich trotzdem von mächtigen Überraschen sollte das niemanden. Jahr für Jahr veröffentlichen pakistanische wie Feinden umstellt und belagert – vom Erzfeind auch ausländische Forschungsinstitutionen detaillier- Indien, der keine Anstalten macht, Pakistan in der te Berichte über die ungehinderte Ausbreitung der Kaschmirfrage entgegenzukommen; von den USA, Taliban im Herzland Pakistans und die tödliche Be- die den Krieg gegen den Terror seit Jahren auf Pakisdrohung, die damit für den ganzen Staat einhergeht. tan ausgedehnt haben und nahezu täglich mit DrohUnd Jahr für Jahr nehmen der Rhythmus und die nen angreifen. Die Extremisten schüren die BelageIntensität der Schläge zu, die Pakistan an den Rand rungsängste. Sie verbreiten die These, dass die Feindes Abgrunds drängen. Das Schlimmste daran ist, de Pakistans das Land vernichten wollen, weil es der dass sich das Zentrum der Gesellschaft in die Rich- einzige muslimische Staat mit einer Atombombe sei. tung der Extremisten verschiebt. Der Mörder des Im Inneren sitzen die Gegner ebenfalls. Es reicht, Gouverneurs Salman Taseer war ein Elitesoldat. Er öffentlich Whisky zu trinken, wie Salam Taseer es wurde von vielen muslimischen Organisationen – tat, oder an Jesus zu glauben wie Shabaz Bhatti oder auch von Sufis – als Held gefeiert. Er fand sehr schnell Gott singend anzubeten wie die Sufis – schon ist man Anwälte, die ihn verteidigen wollten. Salman Taseer Todfeind Pakistans. I

ir kommen uns vor wie die verschütteten Bergarbeiter in Chile«, sagt ein Gesandter der deutschen Botschaft in Abidjan. Er und vier seiner Kollegen sind eingeschlossen, das Handy ist ihre letzte Verbindung zur Außenwelt. Sie hören den Geschützdonner, manchmal rumpeln Militärlaster vorbei, auf den Ladeflächen liegen Leichen. »Wir können die Kanzlei nicht mehr verlassen, draußen ist Krieg.« Es ist der Montagabend dieser dramatischen Woche. In Abidjan, der Wirtschaftsmetropole der Elfenbeinküste, hat gerade die Entscheidungsschlacht zwischen den Regierungssoldaten des selbst ernannten Staatschefs Laurent Gbagbo und den Rebellen des rechtmäßig gewählten Präsidenten Alassane Ouattara begonnen. Seit der umstrittenen Wahl im November des Vorjahres tobt der Machtkampf zwischen den beiden Männern, nun gipfelt er im zweiten Bürgerkrieg, der dieses einst blühende Land innerhalb von knapp zehn Jahren heimsucht. Vor zwei Wochen, nachdem alle diplomatischen Bemühungen gescheitert waren und die zunächst zögerliche Afrikanische Union Ouattara unwiderruflich als Präsidenten anerkannt hatte, gab er den Aufständischen aus dem Norden den Befehl zum Losschlagen. Sie waren für den Feldzug gut gerüstet und konnten in nur wenigen Tagen weite Teile der Elfenbeinküste erobern, darunter strategisch wichtige Orte wie die Hauptstadt Yamousoukro und den Seehafen San Pedro. Schließlich kesselten sie auch Abidjan ein, die letzte Hochburg des Wahlfälschers Gbagbo. Hier sollten sie zum ersten Mal auf massiven Widerstand seiner Armee und der Präsidentengarde stoßen. Hinzu kamen die Jeunes Patriotes, eine vieltausendköpfige Horde fanatischer Jungnationalisten, die vom ivorischen Fernsehen rund um die Uhr aufgehetzt wurden: Tut eure Pflicht! Rettet das Vaterland vor einer internationalen Verschwörung! Tötet die Invasoren! Sie taten ihre Pflicht und zogen mordend und plündernd durch Abidjan, getrieben vom Hass auf alle Fremden, Andersdenkenden und vermeintlichen Wähler Ouat-

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POLITIK

DIE ZEIT No 15

Fotos (Ausschnitte): Toby Selander für DIE ZEIT

10 7. April 2011

Der Präsidentschaftskandidat Nuhu Ribadu bei einer Wahlveranstaltung in Lagos

Ein Obama für Afrika Die Geschichte von Nuhu Ribadu, einem Geächteten, der Präsident Nigerias werden will

E

die nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Zweimal haben Unbekannte versucht, Ribadu umzubringen. »Aber ich habe keine Angst, ich kämpfe weiter!« In dieser Nacht wirkt er überhaupt nicht wie ein furchtloser Kämpfer. Eine Babanriga, ein Kaftan, wie man ihn in Nordnigeria trägt, umwallt seine hagere Gestalt. Aus den weiten Ärmeln ragen feingliedrige Hände, auf der Nase sitzt eine schwarze Regisseursbrille. Die weichen Gesichtszüge lassen ihn jungenhaft erscheinen.

Ribadu bringt Gouverneure, Beamte und Bosse hinter Gitter Mallam Nuhu Ribadu nennt sich ein »Kind der Unabhängigkeit«. Er kommt am 21. November 1960 auf die Welt, in jenem Jahr, als Nigeria das britische Kolonialregime abschüttelt. Nuhu wächst in einer wohlhabenden Großfamilie mit dreißig Geschwistern auf. Er wird erzogen im Geist eines liberalen, weltoffenen Islams und in den Traditionen seiner Volksgruppe, der Fulbe. Er hat sich in Erinnerung als kränkliches, rebellisches Kind mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, das Anwalt werden will. Er schließt das Jurastudium ab und tritt 1985 in dem Polizeidienst ein. Vor ihm liegt eine glanzvolle Beamtenlaufbahn. Mit 43 Jahren ist Ribadu das, was er sich als junger Mann erträumt hatte: ein top cop, ein Elitepolizist mit juristischem Sachverstand, unbestechlich, diszipliniert, kompromisslos. Solche Staatsdiener sind rar in Nigeria. Ribadu ist genau der

Oxford, Four Pillars Hotel, April 2009. Saftige Wiesen, auf denen Rennpferde grasen, blühende Kirschbäume, irgendwo dahinter die Türme und Giebel der weltberühmten Universität. Ribadu hat in England Exil gefunden und hält am St. Antony’s College Vorlesungen über Korruptionsbekämpfung. Als wir uns im Restaurant des Hotels treffen, blickt er sich unauffällig um; die Spitzel des nigerianischen Geheimdienstes sind ihm auch in Europa auf den Fersen. Nachdem er hastig ein Thunfischsteak hinuntergeschlungen hat, schwärmt er von dem Mann, den er am meisten bewundert: Barack Obama, den ersten schwarzen Präsidenten Amerikas. »Nigeria braucht einen Obama.« Kurze Pause. »Und wissen Sie, wer das ist?« Nuhu Ribadu wirft seinen stechenden Ermittlerblick über den Tisch. »It’s me.« Das bin ich. Er grübelt kurz, als wolle er den Gedanken wieder zurückholen. »Ich sage das hier zum ersten Mal öffentlich.« Ein vogelfreier Flüchtling will Präsident der größten schwarzen Nation werden! Ein afrikanischer Obama gar! Für ein Sekündchen lässt auch Ribadu jene Großmannssucht aufblitzen, die in Nigeria mit der Muttermilch eingesogen wird. Yes we can! Nichts ist unmöglich. Der Drachentöter ist wieder erwacht, er wirkt so kampflustig, als trüge er ein Kettenhemd

NIGER

AFRIKA BURKINA FASO

Lagos

unserem weltweiten Korruptionsindex an drittletzter Stelle. Nach vier Jahren Ribadu rückte es ins untere Mittelfeld auf«, lobt Eigen. Das Vertrauen der Investoren nahm wieder zu, die Börse in Lagos boomte. Allmählich wurde Nigeria nicht mehr als Hochrisikozone wahrgenommen, sondern als Schwellenland mit enormem Potenzial.

»Ich setze auf die Armen und Betrogenen. Das sind Millionen!« Doch dann ließ Ribadu den korrupten Ex-Gouverneur James Ibori ins Gefängnis werfen, einen der »unberührbaren« Paten der politischen Mafia. Diesmal war er dem Zentrum der Macht zu nahe gekommen. Er wurde vom Dienst suspendiert und zur Weiterbildung in die Provinz verbannt. Der fähigste Polizeioffizier der Republik musste Nachhilfeunterricht nehmen – ein schlechter Witz. Der öffentlichen Demütigung folgte die unehrenhafte Entlassung. Zugleich kratzten die ersten Presseberichte am Image des Volkshelden. Warum hat er nie im trüben Umfeld von Präsident Obasanjo ermittelt? Ließ er sich von seinem Dienstherrn als Geheimwaffe gegen politische Rivalen missbrauchen? Drei Jahre vergehen, ehe sich der Wind wieder zu Ribadus Gunsten dreht. Im Mai 2010 stirbt der todkranke Präsident Yar’Adua, sein Stellvertreter Goodluck Jonathan tritt die Nachfolge an. Ribadu wird rehabilitiert, schon im Juni kehrt er aus dem Exil zurück und tritt dem Action Congress of Nigeria

Abuja

BENIN

GHANA TOGO

Abuja insteigen. Tür zu. Losfahren. Alles muss ganz schnell gehen. »Ich will vor dem Hotel von niemandem erkannt werden«, sagt Nuhu Ribadu und drückt aufs Gas. »Sie sind hinter mir her.« Er deutet auf die geborstene Windschutzscheibe. Von drei Einschusstrichtern laufen Sprünge sternförmig über das Panzerglas. »Das war der letzte Mordanschlag.« Der silberfarbene Honda biegt in die achtspurige Stadtautobahn ein. Ribadu steuert seinen Dienstwagen selber. Einen Chauffeur hat er seit Monaten nicht mehr. Langsam gleitet das Fahrzeug durch die Straßen von Abuja. Der Aso-Felsen, das Wahrzeichen der Hauptstadt Nigerias, schimmert im Mondlicht. Um diese Zeit, kurz vor Mitternacht, ist nicht mehr viel Verkehr. Das beruhigt Ribadu. Doch jedes Mal, wenn er im Rückspiegel ein Fahrzeug herannahen sieht, beginnen sein Augen, nervös zu flackern. Es sei für ihn lebensgefährlich, Journalisten zu treffen, sagt er, aber er müsse seine Geschichte unbedingt loswerden. Es ist die Geschichte eines Mannes, der zu den höchsten Staatsbeamten Nigerias gehörte. Den die einfachen Leute bewunderten und die Reichen und Mächtigen hassten. Den die ausländische Presse als erfolgreichsten Korruptionsbekämpfer Afrikas rühmte. Und der im Zenit seiner Karriere in einen Abgrund stürzte. Nuhu Ribadu, vor Kurzem noch der gefürchtetste Strafverfolger im Lande, ist in dieser schwülen Novembernacht des Jahres 2008 selber ein Verfolgter, der sich fürchtet. Fast auf den Tag genau zwei Jahre später fahren wir wieder durch Abuja, und wieder sitzt Ribadu am Steuer. Diesmal ist allerdings helllichter Tag, die Mittagssonne knallt auf den Aso Rock. Im Prominentenviertel Minister’s Hill stoppt er an einer mit Wahlkampfschildern zugestellten Verkehrsinsel. Auf den Plakaten sieht man ein staatsmännisch lächelndes Gesicht, darunter steht »Ribadu for President«. Ein Verkehrspolizist winkt den schwarzen BMW durch und ruft hinterdrein: »Nuhu, du schaffst es!« Die Geschichte des Nuhu Ribadu ist nun eine ganz andere, eine, die wie ein Märchen klingt. Es handelt von einem Geächteten, der auszog, Präsident zu werden. Ribadu will die Wahlen am 16. April gewinnen und Nigeria vor sich selber retten: den selbsternannten »Giganten Afrikas«, der in Wirklichkeit wankt wie ein Koloss auf tönernen Füßen. Als achtgrößter Ölexporteur der Welt gehört Nigeria zu den reichsten Staaten des Kontinents, doch die Mehrheit seiner 158 Millionen Einwohner lebt in bitterer Armut. Es fördert jeden Tag zwei Millionen Barrel Rohöl, aber an seinen Tankstellen gibt es oft kein Benzin. Es leistet sich 96 Universitäten, aber in seinen Dörfern ist jeder zweite Erwachsene Analphabet. Seit fünf Jahrzehnten verprassen die herrschenden Eliten die Reichtümer des Landes. Insgesamt haben sie rund 380 Milliarden Dollar auf ausländischen Bankkonten gebunkert, schätzt Ribadu. Die systematische Plünderung liefert eine Erklärung für die Misere des Landes, für die Massenarmut, die verwahrlosten Schulen oder die Ruinen, die man Krankenhäuser nennt. Seine Heimat sei der »korrupteste, abgebrühteste, untüchtigste Landstrich unter der Sonne«, schrieb der Nationaldichter Chinua Achebe einmal. Er hält Nigeria für unregierbar. Und nun taucht plötzlich ein Mann auf, der dieses unregierbare Land regieren will! Bei unserer ersten Begegnung vor zweieinhalb Jahren ist Nuhu Ribadu allerdings noch sternenweit von dieser Vision entfernt. Abuja, November 2008, eine Villa im Belagerungszustand. Da sitzen sie spätabends im hell erleuchteten Wohnzimmer, Ribadu, seine Frau Zara und vier ihrer sechs Kinder, eine verstörte Familie,

VON BARTHOLOMÄUS GRILL

NIGERIA

KAMERUN Golf von Guinea

ZEIT-Grafik

300 km

Nigeria in Zahlen Einwohner: 158 Millionen (bevölkerungsreichstes Land Afrikas)

Ribadu begrüßt seinen Wahlkampfmanager Ade Atobatele in einem Fernsehstudio

Größte Stadt: Lagos mit über zehn Millionen Einwohnern, Hauptstadt ist Abuja (knapp zwei Millionen) Altersstruktur: 40,8 % sind unter 15 Jahre alt

Mobiltelefon und Netz – Ribadu setzt seine Botschaften über alle Kanäle ab

durchschnittliche Lebenserwartung: 47,5 Jahre

Saubermann, den der Reformpräsident Olusegun Obasanjo sucht. Der beauftragt ihn 2004 mit der Leitung der Economic and Financial Crimes Commission (EFCC), einer mit allen Gesetzesvollmachten ausgestatteten Antikorruptionsbehörde. Dieser Job wird Ribadu weit über die Grenzen seines Landes hinaus berühmt machen – und beinahe vernichten. Über tausend Ermittlungsverfahren leitet der forsche EFCC-Chef ein, 270 schließt er erfolgreich ab. Er sprengt kriminelle Syndikate, konfisziert unterschlagene Gelder in Milliardenhöhe, überführt hochrangige Politiker, Beamte und Gouverneure der Bestechlichkeit. Mit dem Erfolg nimmt die Zahl seiner Feinde zu. Ribadus Stern sinkt, als sein Schutzpatron Obasanjo nach zwei Amtszeiten abtreten muss. Unter dem neuen Präsidenten Umaru Yar’Adua fällt er bald in Ungnade. Er weiß zu viel über die Machenschaften der Mächtigen. Es ist schon weit nach Mitternacht, der Strom fällt zum dritten Mal aus. »In Nigeria funktioniert nichts mehr. Wir brauchen einen radikalen Neubeginn und einen ehrlichen Führer.« Wer das sein könnte, sagt er in dieser Nacht noch nicht. Er selber vielleicht? Ausgeschlossen. Ribadu bereitete gerade seine Flucht ins Ausland vor. Monatelang wird er nicht mehr erreichbar sein, das Gerücht geht um, er sei ermordet worden.

Pro-Kopf-Einkommen: 2400 US-Dollar (ca. 1690 Euro) Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze: 70 Prozent Ölproduktion: 2211 Millionen Barrel pro Tag; größter afrikanischer Ölexporteur ZEIT-Grafik/Quelle: CIA World Fact Book

unter dem Kaftan. Aber stürzt er sich da nicht in eine aussichtslose Mission? Der Korruptionsbekämpfer Ribadu hat das staatliche Räuberwesen herausgefordert, wie könnten es dessen Nutznießer jemals zulassen, dass er es als Präsident zerschlägt? Solche Fragen verscheucht er wie lästige Moskitos. »Was immer ich im Leben anpacke, ich scheitere nie«, sagt er mit einem Selbstbewusstsein, das Riesen umwirft. Oder sind es nur Windmühlen, gegen die ein nigerianischer Don Quijote anreitet? Flughafen Berlin-Tegel, Juli 2009. Am Morgen steigt Nuhu Ribadu aus einem Flieger der Hungarian Air, an diesem regnerischen Sommertag trägt er eine fliederfarbene Babanriga. Er war in Budapest beim Großinvestor und Multimilliardär George Soros. Man darf vermuten, dass es um Finanzhilfe für seinen Wahlkampf ging. In der Bundeshauptstadt besucht Ribadu einen alten Freund: Peter Eigen, den Gründer der globalen Antikorruptionsbewegung Transparency International. »Nigeria stand auf

(ACN) bei, dem Wahlbündnis von jüngeren Reformern. Im Januar wird er zum Präsidentschaftskandidaten gekürt. Er hat ein wichtiges Zwischenziel erreicht. Aber kann er es ganz nach oben schaffen? Abuja, November 2010, Wahlkampfzentrale des ACN. Computer, Kopiergeräte, Mobiliar, alles nagelneu. An den Wänden frisch gedruckte Poster: Ribadu for President! Draußen im Hof steht eine Flotte himmelblau gespritzter Lautsprecherwagen. Im Vorzimmer des Kandidaten drängeln sich Marktfrauen, Studenten, Arbeitslose, Überläufer aus anderen Parteien. Sie wollen ihrem Hoffnungsträger helfen und die Fahne mit dem Besen schwingen – das Symbol des ACN. »Zeit fürs Großreinemachen«, sagt ein Funktionär. Ribadu weiß, dass ihm die Auguren keine Chance geben, doch das irritiert ihn nicht. »Obama traute auch keiner den Sieg zu.« Im Unterschied zu seinem Leitbild aus Amerika fehlt ihm so ziemlich alles, was man für einen Wahlsieg in einem großen, komplizierten, chaotischen Land braucht: Charisma, taktische Raffinesse, politische Erfahrung, starke Seilschaften, Medienmacht und verdammt viel Geld. Die Leitartikler halten ihn für ein einfältiges Greenhorn. »Die Schildkröte Ribadu versucht, den Elefanten Jonathan herauszufordern«, spottet einer. »Ich bin der Gladiator«, trompetet Ribadu. »Nichts und niemand kann mich aufhalten!« Es klingt

wie naiver Trotz. Man könnte schon verzagen, wenn man sich die logistischen Herausforderungen eines Urnengangs in Nigeria vor Augen hält: 120 001 Wahllokale, 73,5 Millionen Stimmberechtigte, Tausende von »Geisterurnen« und 1,3 Millionen Phantomwähler, die nach Hochrechnungen von Ribadus Beratern im Wählerverzeichnis stehen – Tote, Kinder, Mehrfachwähler, Prominente wie Mike Tyson oder Oprah Winfrey. Freie und faire Wahlen? Ein Heer von Fälschern könnte dafür sorgen, dass Jonathan an der Macht bleibt. Der Herausforderer wischt alle Einwände vom Tisch. »Ich will ein neues Nigeria. Ich setze auf die Armen und Betrogenen, auf die Frauen und die Jungen und die aufstrebende Mittelschicht. Das sind Millionen von Menschen.« Ribadu kommt! Die Studenten erwarten aufgeregt ihre Lichtgestalt. Der Funke ist übergesprungen, jedenfalls hier, im Zuba College, vierzig Kilometer vor Abuja. Kirchenstill ist es, als Ribadu sein Wahlprogramm abspult. Kampf der Korruption. Schaffung von Arbeitsplätzen. Bessere Gesundheitsversorgung. Freie Bildung für alle und so weiter. »It’s possible – es ist möglich, ihr müsst nur an mich glauben.« Knackige Parolen. Doch Ribadu spricht ziemlich schlapp für einen, der Afrikas Obama sein will. Die Rückfahrt in die Hauptstadt führt am Zuma Rock vorbei, einem gewaltigen Felsmonolithen, der sich schroff aus der Ebene erhebt. Ein Fluch lastet auf dem Berg, der Volksmund erzählt, dass viele Leute, die ihn besteigen wollten, nie wieder zurückgekehrt seien. Ribadu telefoniert. Washington. London. Lagos. Er will einen gigantischen Berg erobern, der Aufstieg ist noch lang und gefährlich. Und man weiß in Nigeria nie, ob man unterwegs verschwindet. Aber der Muslim Nuhu Ribadu vertraut auf den Segen Allahs und auf seinen eigenen Ruhm als Korruptionsbekämpfer. Und auf eine Geheimwaffe: die modernen Kommunikationstechnologien. »Ich nutze sie wie Barack Obama.« Über Mobiltelefone und das Internet sind unterdessen auch in Nigeria die hintersten Winkel erreichbar. Ribadus Statements kann man auf YouTube sehen, über Facebook und Twitter laufen Graswurzelkampagnen seiner Anhänger, sein IT-Stab versendet täglich fünf Millionen SMS. »Die Demokratie in Afrika hat eine neue Dimension, das haben die Volksaufstände in Arabien gezeigt. Wir führen die erste elektronische Wahlschlacht auf unserem Kontinent«, schwärmt Ribadu. Dann spricht er wieder über die große Demütigung. Der skandalöse Sturz wühlt bis heute in seiner Seele. Sitzt die Kränkung so tief, dass sie nur noch durch das höchste Staatsamt geheilt werden kann? Hat dieser manchmal so verletzlich wirkende Mann tatsächlich das Zeug, den schwierigsten Staat Afrikas zu lenken? Wird er den Versuchungen der Macht widerstehen? Einmal sagt er im Scherz: »Trau keinem Nigerianer.« Man ist gewarnt. Lagos Island, März 2011. Hunderttausend Menschen haben sich auf dem Tafawa Balewa Square versammelt. Der Paradeplatz wird von gewaltigen Betontribünen gerahmt, über dem Hauptportal thronen pompöse Skulpturen von Schimmeln und Adlern, den Wappentieren der Republik. Man fühlt sich wie in einem modernen Colosseum, und da rollt auch schon der Wagenkorso des Gladiators herein. Er schwingt den Besen wie ein Schwert, schüttelt tausend Hände und steigt auf die Bühne, um seine Botschaft zu verkünden: »Yes we can!« Am Ende ruft er die Broom Revolution aus, die Revolution der Besen. Orkanartiger Jubel. Der Kandidat strahlt. So siegesgewiss hat man ihn noch nie gesehen. Ribadu ist bis auf die Haut durchnässt, als wir im Hotel ankommen. Er bezieht die Suite 919. Streift seine Sandalen ab. Wirft eine frische Babanriga über. Betet. Ruht. Auf den Schreibtisch liegt seine Nachtlektüre: Audacity of Hope von Barack Obama. Hoffnung wagen.

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7. April 2011 DIE ZEIT No 15

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Alles schmerzt

Foto: privat

Stromknappheit, Wahlkampf und Shopping. Dritter Teil des japanischen Tagebuchs VON SONOKO HIGAYA

Sonoko Higaya, 31, ist Buchhalterin in Sapporo. Sie hat in einem der Erdbebengebiete studiert und schreibt zum dritten Mal für die ZEIT über die Ereignisse in ihrer Heimat

Sapporo 31. März: Schlechte Nachrichten für Raucher Morgens ruft ein Freund aus Miyagi an, einer vom Tsunami zerstörten Provinz. Er will ein Evakuierungszentrum besuchen und soll Zigaretten und Alkohol mitbringen. »Könntest du in Sapporo einen Karton Marlboro besorgen?«, fragt er mich. »Hier bekommt man sie nirgendwo.« In meiner Nachbarschaft gibt es zwei Kioske, bei denen man bis vor Kurzem problemlos Zigaretten kaufen konnte. Nun sind die Regale fast leer. Japan Tobacco hat gestern aufgehört, Zigaretten auszuliefern, weswegen die Raucher schnell die Restbestände aufgekauft haben. Ich kaufe hier eine Schachtel, dort eine. Ich fühle mich so wie vergangene Woche, als ich verzweifelt nach Batterien gesucht habe und keine fand. Ist es schon so weit, dass wir die einfachsten Dinge nicht mehr kaufen können? Sapporo liegt nicht im Katastrophengebiet, das Leben hier läuft auf den ersten Blick normal. Trotzdem sickert auch hier die Angst durch, die Angst nach der Katastrophe. 1. April: Wahlkampf in Eniwa Mein Bekannter Daisuke tritt bei den lokalen Wahlen nächste Woche als Kandidat der Demokraten an. Er lebt in Eniwa, einer Nachbarstadt von Sapporo. »Kannst du mir beim Wahlkampf helfen?«, fragt er mich, und ich sage Ja. Zusammen mit zwei anderen Helfern fahren wir in seinem kleinen Honda durch jede noch so schmale Straße in Eniwa, wir kurbeln die Fenster herunter, und er ruft über seinen Lautsprecher: »Nicht mehr als dreißig Schüler pro Klasse!« oder »Umschalten auf erneuerbare Energien!« Ich kenne Daisuke seit der Schulzeit, ich weiß, dass er Kernenergie immer für ein notwendiges Übel gehalten hat. »Hast du deine Meinung wegen Fukushima geändert?«, frage ich ihn. »Ja«, sagt er. Daisuke findet nicht, dass man das Kernkraftwerk bei uns in der Nähe sofort abschalten sollte. Aber Sapporo er sagt, dass er die Sicherheitsstandards erhöhen und die erneuerbaren Energien ausbauen wolle, falls er gewählt wird.

aber bei dem weiten Transport von hier nach Tokyo würde zu viel Energie verloren gehen. 3. April: Endlich wieder shoppen Meine Freunde in Tokyo rufen mich an: »Wir gehen nachher in den Park, um Kirschblüten anzuschauen.« Das ist eine wichtige Tradition, die wir Hanami nennen: Die Japaner glauben, dass die Blüten unsere Ästhetik repräsentieren. Aber der Gouverneur von Tokyo ermahnt alle Feierfreudigen per Fernsehansprache zu Selbstbeherrschung: »Denkt daran, auf wie viele Dinge die Menschen während des Zweiten Weltkriegs verzichten mussten!« Andererseits kritisieren Zeitungen und Politiker, dass die Wirtschaft leide, wenn sich die Käufer zu sehr selbst zurücknehmen. Vielleicht haben sie ja recht. In den letzten drei Wochen habe ich mich nie danach gefühlt, aber heute will ich shoppen gehen. Mit ein paar Freunden fahre ich in die Innenstadt und kaufe mir einen Schal. Danach führen wir in einem Café ein seltsames Gespräch über Geld: wie viel wir besitzen, wie viel wir für Mode ausgeben. Ich glaube, es ist im Grunde ein Gespräch über unsere Zukunft und wie viel wir sicherheitshalber beiseitelegen. Wer weiß schon, was aus der japanischen Wirtschaft wird, vielleicht droht eine Inflation? Vielleicht werde ich bald bereuen, Geld für so etwas Unwichtiges wie einen Schal ausgegeben zu haben.

To h

4. April: Schulen als Evakuierungszentren Ich fahre nachmittags wieder nach Eniwa, um Daisuke bei seinem Wahlkampf zu helfen. Wieder fahren wir mit dem Auto durch die Stadt, ich rufe ab und zu seinen Namen. »Es scheint, als hätten die Menschen dieses Mal weniger Interesse als bei den letzten Wahlen«, sagt ein anderer Helfer, der im Gegensatz zu mir schon lange dabei ist. Er glaubt, es liege an der Kälte: Viele Menschen wollten ihre Häuser nicht verlassen, um sich die Kandidaten anzuschauen. »Mir geht es ehrlich gesagt so, dass ich wegen der Krisensituation kaum an die regionalen Wahlen denHokkaido ken kann«, entgegne ich. Eniwa »Natürlich, das ist ein anderer Hauptgrund«, sagt er. Ich komme erst um J A PA N zehn Uhr abends wieder u ok nach Hause und schaue 2. April: Wer soll fern. Die meisten Sender Tokyo mit Strom Sendai Kesennuma 200 km versorgen? spielen inzwischen wieder MIYAGI ZEIT-Grafik FUKUSHIMA Früher habe ich mir zum ihr normales Programm, Thema Energieversorgung nur beim öffentlich-rechtHonshu nicht viele Gedanken gemacht, lichen NHK läuft eine SpezialTokyo aber seit Fukushima mache ich sendung über die Grundschulen mir große Sorgen. Im Internet versuche in den Krisengebieten, die von Tsunaich, mich schlau zu machen. Meine Familie, mi und Erdbeben zerstört wurden. In Japan meine Freunde, das ganze Land will Energie beginnt heute das neue Schuljahr, aber die meissparen. Aber wenn man liest, wie in Japan Ener- ten Schulen in den Krisengebieten werden als gie verschwendet wird, könnte einem schlecht Evakuierungszentren genutzt oder wurden zerwerden: Tepco und die anderen Energiefirmen stört. Deswegen können die Kinder dort nicht haben in den vergangenen Jahren aggressiv für zur Schule gehen. Häuser geworben, in denen mit Strom geheizt wird. Diese Technik ist zwar günstig, aber der 5. April: Schmerzhafte negative Gedanken Verbrauch ist enorm. Im Großraum Tokyo ist Morgens gehe ich zum Arzt, weil ich seit fünf der Energieverbrauch in den letzten drei Jahren Wochen ein Magengeschwür habe und neue daher um zwei Millionen Kilowatt gestiegen – Medikamente brauche. Wegen des Geschwürs das ist die Leistung von zwei Kernkraftwerken. kann ich weder Alkohol noch Koffein zu mir Im Großraum Tokyo geht nun die Angst nehmen. In diesen stressigen Zeiten ist das für vor Stromknappheit um, denn die Menschen mich eine echte Belastung. Seit dem Beben dort bekamen ihren Strom vor dem Unfall am 11. März kommen die Schmerzen jedes von dem beschädigten Kernkraftwerk in Fu- Mal wieder, wenn ich über die Katastrophe kushima. Die Regierung schätzt, dass ihnen nachdenke. Ich bekomme Schmerzen, wenn im Sommer eine Versorgungslücke von 8,5 ich fernsehe oder Nachrichten lese. Ich beMillionen Kilowatt droht. (Zum Vergleich: komme Schmerzen, wenn ich an etwas NegaDeutschlands größtes Kernkraftwerk Brok- tives denke. Wenn ich mich mit Freunden in Sapporo dorf hat eine Leistung von 1,4 Millionen Kilowatt.) Woher soll der Strom für Tokyo kom- treffe, muss ich an meine Freunde in den Erdmen? Die Kraftwerke in der Nachbarregion, bebengebieten denken. Wenn ich im Superin Tohoku, werden für den Wiederaufbau ge- markt Gemüse kaufe, muss ich an die Bauern in braucht, denn Tohoku liegt im Tsunami- den Tsunami-Gebieten denken. Wenn ich Fisch gebiet. Die im Westen können nicht liefern, sehe, muss ich an die verstrahlten Fische rund weil sie Wechselstrom mit der falschen Fre- um Fukushima denken. Vielleicht bin ich zu quenz produzieren. Als einzige mögliche empfindlich. Vielleicht aber auch nicht. Stromlieferanten bleiben daher nur die Kraftwerke bei uns auf der Nordinsel Hokkaido – Aus dem Englischen von KHUÊ PHAM

12 7. April 2011

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DIE ZEIT No 15

Der Computer kann verletzen wie eine Waffe

»Die Schmähungen sind wie ein Tattoo«

DIE ZEIT: Herr Gasser, Sie haben den Begriff der »Digital Natives« geprägt, der jungen Generation, die mit dem Internet aufwächst. Wie waren Sie denn als Junge? Urs Gasser: Ich war strebsam und zerbrechlich, beim Fußball nicht der Robusteste. An meiner Grundschule wurde ich deswegen von einer Bande von Jugendlichen gehänselt und sogar angegriffen. Einmal haben sie mein Fahrrad demoliert und in den Fluss geworfen. ZEIT: Sie wurden gemobbt? Gasser: Ja, und das war sehr schlimm. Ich wurde oft krank und bin zu Hause geblieben. Es war schwierig, meinen Eltern zu erklären, was auf dem Schulweg geschah, da es quasi unsichtbar war. ZEIT: Stellen Sie sich vor, es hätte damals schon Websites gegeben, auf denen Schüler anonym über andere Schüler herziehen können.

Gasser: Nun, einerseits hätte es die strafrechtliche siert darauf, dass die Opfer identifiziert werden Verfolgung der Bande an meiner Schule einfacher können. Das sind gezielte Äußerungen, die ein gegemacht, weil es dadurch mehr Indizien gegeben zieltes Publikum erreichen sollen, und das lebt nicht 5000 Kilometer entfernt, sondern hätte. Andererseits hätte es mir den im direkten Umfeld des Opfers. Wechsel von meiner alten Schule Sonst wäre das Ganze ja witzlos. an die neue erschwert: Dieser Schul- U R S G A S S E R ZEIT: Die Kommentare auf Hetzwechsel war wie ein Neuanfang, seiten sind zum Teil sehr aggressiv aber heutzutage wäre das nicht so und beleidigend. Beleidigender als möglich. Wenn man auf Websites Pöbeleien auf dem Pausenhof, oder? mit Kommentaren bloßgestellt Gasser: Vielleicht kompensieren die wird, begleitet es einen die gesamte Jugendlichen beim Posten im InterSchulzeit. Es ist wie ein Tattoo. net rhetorisch, dass der körperliche ZEIT: Wie wichtig ist die Identität Kontakt wegfällt, das Herumbalgen. im Netz für junge Schüler? ZEIT: Und wann schlägt CyberGasser: Sie trennen nicht zwischen Online und Offline, Schulhof und Urs Gasser, 38, ist Direk- mobbing in echte Gewalt um? Gasser: Aggressive Inhalte – Videos, Internet verschränken sich. Unter- tor des Berkman Center Rap-Songs, Kommentare – können suchungen zeigen, dass die Opfer an der Harvard-Univerzu einer Art Aufladung führen, die von Cybermobbing auch Opfer von sität und auf Internetforsich bei entsprechender Disposition Mobbing im echten Leben sind. schung spezialisiert. Er in echter Gewalt entladen kann. Und dass 80 Prozent der Cyber- schrieb mit an dem Buch Aber die Aggressionsforschung geht mobbing-Opfer die Täter persön- »Generation Internet« auch davon aus, dass es keine direkte lich kennen. Kausalität gibt. ZEIT: Das Hauptproblem bei den ZEIT: Können Jugendliche denn einschätzen, was Lästerseiten ist also gar nicht die Anonymität? Gasser: Genau. Die Anonymität im Netz reduziert sie mit Hetzkommentaren bei anderen anrichten? zwar die Hemmschwelle, aber Cybermobbing ba- Gasser: Jugendliche denken nicht immer sorgfältig

Mail aus: PEKING

Mail aus: ALGIER

Mail aus: HELSINKI

Von: [email protected] Betreff: Wenn das Atmen nicht wäre

Von: [email protected] Betreff: Platz der Märtyrer

Von: [email protected] Betreff: Wahlen nach Zahlen

Von Chinesen umgeben zu sein bedeutet: Tag für Tag Gesundheitstipps zu bekommen, bis man sich schon vom Zuhören so gesund fühlt wie ein frisch gepflückter Apfel. Wäre die Luft nicht so schlecht, ich würde 120 werden, meine Glieder wären biegsam wie Bambus, meine Haut wäre weiß und glatt wie die einer Perle. So wurde mir das zumindest versprochen. Gesundheit ist in China eine tagesfüllende Angelegenheit, manche Rentner sind von morgens bis abends damit beschäftigt. Sie werfen die Hüfte gegen Baumstämme wie eine Pandadame in der Hitze, das sei gut fürs Qi. Sie laufen laut klatschend straßauf und -ab, das weckt die Lebensgeister. Sie schlagen mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte, bis die Kuppen schmerzen, das lindert den Stress und hilft bei Depression. Sie nicken und nicken, das mache die Haut weiß und schön. Allerorten hat die Regierung Geräte aufstellen lassen, Spielplätze fürs Volk, dort trainiert man Gesundheit und langes Leben. Rentner halten ein Schwätzchen und reiben nebenher den Rücken am Plastik wie Rehe im Frühling, das massiert die Druckpunkte hintenrum. Auf Gesundheitstipps abonniert ist in China übrigens jeder. Kettenraucher, Menschen, denen der Kopf auf den Bartresen zu fallen droht, Alte und Junge. Peking ist so gesund. Wenn man nur das Atmen einstellen könnte ...

So wie Azzad aussieht, möchte man keinen Streit mit ihm. Er hat neun Jahre Kampf gegen islamistischen Terror in den Berggegenden Algeriens hinter sich. Er erzählt von bitterkalten Nächten, Schusswunden und abgeschnittenen Köpfen und davon, dass er nur umgerechnet 170 Euro Monatsgehalt bekam – bis er 2003 entlassen wurde. Warum? »Ich hatte mich krank gemeldet.« Nach einem Vierteljahr pausenlosen Einsatzes. Eine Menschentraube hat sich gebildet, jeder will von seinem Schicksal erzählen. »Für das hier bekomme ich keinen Dinar«, sagt ein hagerer Mann und zieht sein Hemd hoch, die Narben tun schon beim Hinsehen weh. »Unsere Witwen bekommen 4500 Dinar pro Monat«, das sind 45 Euro, »aber die ehemaligen Terroristen fahren in dicken Autos durch die Stadt«. Die Männer haben sich auf dem Platz der Märtyrer versammelt. Die Entlassenen wollen eine Rente, die anderen eine Prämie. Sie harren seit zwei Tagen aus; nachts schlafen sie auf Pappen. Hinter dem Platz erhebt sich die Kasbah, vor ihm strahlt das Meer, aber ringsum ist Einsatzpolizei aufgebaut, bewaffnet und in der Überzahl. In den Seitenstraßen deutsche Unimogs, Wasserwerfer, Panzerwagen. »Eure Kollegen, oder?« Azzad wehrt ab: »Ach was, alles Bullen.«

Zur Lösung gewisser Generationenfragen im deutschen Politikgehege nur mal so eine Idee aus Finnland. Hier haben alle Politiker Nummern. Sie tragen T-Shirts mit ihrer Nummer. Sie lassen sich mit Nummern in der Zeitung abdrucken. Werbeposter von ihnen und ihren Nummern fahren auf Bussen herum. Fragt man die finnischen Politiker, was das soll, gucken sie erstaunt. Die Nummer, sagen sie, schreiben die Leute demnächst, wenn’s so weit ist, auf ihre Wahlzettel. Je nachdem, wie viele Wähler eine Nummer bekommt, zieht der zur Nummer zugehörige Politiker ins Parlament ein. Oder eben nicht. Wieso läppische Kreuzchen machen, wenn es Zahlen gibt? Sagt man: In Deutschland legen die Parteien fest, wer in den Bundestag gewählt werden kann, gucken die finnischen Politiker noch mal erstaunt. Ach so?, sagen sie dann. Sie sind höfliche Menschen, sie wollen nicht sagen, dass sie das mindestens komisch finden. Tun sie aber. Jetzt könnte man einwenden: Das ist aber ein Nachteil, dass man sich die Nummern (immerhin dreistellig) merken muss. Darauf ließe sich entgegnen, dass der Vorteil darin besteht, dass man sie sich merken KANN. Der Werbemöglichkeiten sind schließlich viele. Auf Schuhsohlen beispielsweise ist hier in Finnland noch niemand gekommen.

Schüler beleidigen andere auf Lästerseiten im Internet, alles anonym, manchmal bis zur Eskalation. Ein Junge, der offline schlichten wollte, wurde zusammengeschlagen, in Berlin verabredeten sich 20 Jugendliche zu einer Schlägerei nach gegenseitigen Beleidigungen im Netz. In Frankfurt ermittelt die Staatsanwaltschaft, die Politik wird tätig – und lässt die Pöbelwebsites indizieren. Hilft das?

darüber nach, was sie tun und was gefährlich ist. Ihr Frontalkortex ist noch nicht voll ausgeprägt, deshalb ist ihre Risikoanalyse und -bewertung nicht so wie bei Erwachsenen. Daher sind wahrscheinlich viele Hetzkommentare spontan und unüberlegt dahingeschrieben. ZEIT: Und die Opfer wehren sich, indem sie zurückschreiben. Gasser: Ja, das ist ein interessanter Befund: Opfer von Cybermobbing werden überdurchschnittlich häufig zu Tätern, die dann andere mobben. Sie haben gelernt, wie solche Attacken funktionieren, und schlagen in einer Art Blitzableiter-Handlung zurück. Sie spiegeln die Aggression und geben sie an andere weiter, um sich nicht länger schwach zu fühlen. Ich kann die Motivation aus eigener Erfahrung nachvollziehen. ZEIT: Welche Folgen hat Cybermobbing für die Opfer? Gasser: Sie bleiben der Schule öfter fern und haben schlechtere Schulnoten. Sie weisen häufig depressive Symptome auf und leiden unter Einsamkeit, Angst oder Scham. Neue Studien behaupten auch, dass sie häufiger Suizidgedanken haben, das ist schon sehr ernst zu nehmen.

ZEIT: Die Symptome von Cybermobbing klingen ähnlich wie die, unter denen Sie als Kind zu leiden hatten. Gasser: Ich glaube, dass Cybermobbing keine quantitative Steigerung von Mobbing ist, sondern es nur sichtbarer macht im Vergleich zu früher. Aber natürlich gibt es nun internetspezifische Faktoren, die es verstärken: Es vergrößert die Angriffsfläche auf das Opfer, weil im Netz ja persönliche Daten und Fotos vorhanden sind. Es ist mehr Material da, mit dem man angegriffen werden kann. ZEIT: Was bringt es denn, Lästerseiten auf den Index zu setzen, wie es in Deutschland kürzlich geschehen ist? Gasser: Für die betroffenen Täter und Opfer hat es einen geringen Effekt. Es kann sein, dass potenzielle Täter die Seite schwieriger finden, weil sie nicht mehr über eine Suchmaschine abrufbar ist und Websites normalerweise darüber aufgerufen werden. Die Indizierung ist vor allem ein gesellschaftliches Signal. Politik, Lehrer, Eltern und Schüler müssen sich jetzt mit diesem Thema beschäftigen, was wichtig ist. Aber die Seite an sich besteht weiter. Die Fragen stellte KHUÊ PHAM

AUS DER WELT

Ein demokratischer Meteorit schlägt ein Sie ist erst Mitte dreißig, die studierte Philo»Zu den Bildern von Kairos Tahrir-Platz login Yoani Sánchez. Und doch zählte das nach Mubaraks Rücktritt, Yoani, hast du geamerikanische US-Magazin Time die Kuba- schrieben, der Sueskanal und die Karibik seinerin schon 2008 zu den hundert einfluss- en keine so entfernten Orte ...« reichsten Frauen der Welt. Ihr oppositionel»Geschichte und Kultur haben in Kuba les Blog ist mit Preisen ausgezeichnet und als und Nordafrika sehr unterschiedliche Welten Buch nachgedruckt worden (auf Deutsch: geschaffen. Nun stellt sich beiden eine SchickCuba Libre, erschienen bei Heyne). Das hat salsfrage, für die ökonomische und anthroihr Umfeld bisher kaum verändert; allein der pologische Vergleiche überhaupt keine Bealte, öltriefende, sowjetische Fahrstuhl – ei- deutung haben. Sie lautet: Wie lange können ner der Alltagshelden ihrer Einträge – ist ei- Menschen ohne Freiheit aushalten? In Libynem neuen, russischen Lift gewichen. Sán- en, Kairo, Kuba haben charismatische Herrchez’ digitaler Kosmos dagegen erweitert scher sich selbst und ihre Völker glauben gesich seit Wochen unaufhörlich. macht, dass kostenlose GesundDehnt sich bis in ungeahnte araheitsfürsorge und Bildung auf bische Räume aus. ewig Macht sichern und niemand »Mir erscheint es«, sagt sie auf sie infrage stellt. Doch nun hat dem Balkon ihrer Wohnung mit sich eine Generation vernetzt, für Blick auf Havanna, »als ob ein die solche symbolischen ErrunMeteorit voll demokratischer genschaften keine Geschenke Partikel die Erde getroffen hat. mehr sind. Keine Gaben, die ewiSie verbreiten sich mit rasender gen, nie hinterfragten Dank verGeschwindigkeit über die verlangen.« bliebenen Diktaturen. Jahrhun»Und was planst du in dieser derte hat es bis zum Ende der Lage?« Sklaverei gedauert. Dann wich »Meine Zukunft hat schon beder Kolonialismus zurück. Doch gonnen. Ich bastele an einer ZeiChristian was er hinterließ, starb nur langtung. Sie wird nicht um jeden Preis Schmidt-Häuer sam und unter fortdauernden ein oppositionelles Pamphlet sein, berichtet heute Schmerzen. Und nun ist es so, als das die Missbräuche der Diktatur aus Kuba ob ein einziger Einschlag zur Ausanprangert ...« – »...sondern?« – löschung der totalitären Saurier »Es soll eine richtige Zeitung sein führt. Niemand kann sagen, was mit Lesestoff für jedermann und dem folgt. Aber ich glaube jetzt, über alle Aspekte unseres Lebens, dass ich und mein Blog es überleben und ohne Rücksicht darauf, wie unbequem oder beschreiben werden.« bedrohlich sie sind. Vorerst wird sie den PlaWird sie dann von ihrem 14. Stock aus neten keinen einzigen Baum kosten, weil wir beobachten können, wie das Meer wieder sie ins Netz stellen. Wir haben schon das von Schiffen befahren wird? Seit sie hier Team, die Technik und das All, das die Zenwohnt, schließt ein vollkommen leeres Blau sur nicht erreicht ...« Havannas Uferstraße ein. Rund um die Insel »Das Regime, das dich bisher schon übergilt die Schifffahrts-Verbotszone, weil das wacht und bedrängt, wird das zulassen?« – lockende Ufer und die propagandistischen »Wir brauchen dafür nicht die Erlaubnis der Sirenen Floridas nur 145 Kilometer nörd- Regierung, wir brauchen nur Verzicht und lich von diesem Wasser liegen. Kühl weht Glaubwürdigkeit. Verzicht auf verbale Geder Wind von dort. Sánchez wickelt sich walt und persönliche Attacken. Glaubwürdigfröstelnd in eine zweite, an der Seite auf- keit, weil niemand von uns Rückendeckung gerissene Bluse. Das war das Werk der hat durch ›institutionales Prestige‹, MainStaatssicherheit. Auf dem Weg zu einer De- stream-Medien und hegemoniale Monopole. monstration hatten Geheimdienstler die Meine Hoffnung ist, dass wir so zur NeuforBloggerin im November 2009 in ein Auto mierung einer Nation beitragen können, in gezerrt, geprügelt und am Rande der Stadt der alle Kubaner Platz finden und zu Wort auf die Straße geworfen. kommen können.«

Illustration: Arife Aksoy für DIE ZEIT; kl. Foto: Daniel Ammann

Warum machen sich Schüler gegenseitig im Netz nieder? Der Internetforscher Urs Gasser kennt Mobbing aus eigener Erfahrung – und erklärt, was heute schlimmer ist als früher

POLITIK

Ich bin traurig

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

13

Helmut Schmidt zum Tod der ehemaligen ZEIT-Verlegerin Hilde von Lang

Fotos: Chris Pohlert/dpa; Werner Bartsch (kl.)

E

rst in der Mitte ihres Lebens view zu den Funktionen der Herausgeber stieß Hilde von Lang 1969 geäußert, das waren damals Marion Dönzur ZEIT. Etwas präziser ge- hoff, Theo Sommer und ich: »Der Heraussagt: Nachdem sie bis dahin geber hat nicht die publizistische LeiJournalistin gewesen war, trat tung, ... aber er ist Berater und steht gegensie gegen ein sehr geringes über dem Verleger für die politische Linie in Gehalt in das Verlagsgeschäft der Verantwortung.« Dafür waren die allwöchentlichen, freiein. In der damaligen Männergesellschaft der ZEIT muss sie eine Ausnahmeerscheinung tags stattfindenden »Käsekonferenzen« von gewesen sein. Aber ihr gelang alsbald der Auf- hoher Bedeutung (es gab allerdings nicht bau eines formidablen Stellenanzeigen-Ge- nur Käsebrote!). Wir waren dabei weniger schäftes, das sich vor allem durch eine Fülle als ein Dutzend Leute. Ob es um die Ausvon akademischen Annoncen auszeichnet. Sie gabe von gestern ging, um ein aktuelles liteerkämpfte sich ihr eigenes Recht in der Kun- rarisches Problem oder um ein außenpolitidenwerbung, in der Kundenpflege, und sie sches Dilemma – jedenfalls sagte Gerd Buerwies sich als eine erfolgreiche Kauffrau. Sie cerius seine Meinung, ebenso der Chefwurde Prokuristin, später Generalbevoll- redakteur Theo Sommer und Hilde von Lang, auch die jeweils zugemächtigte und schließlich von ladenen Ressortchefs und 1985 bis 1999 GeschäftsfühNACHRUF desgleichen die beiden darerin und Verlegerin. Im Laufe maligen Herausgeber. Jedes dieser drei Jahrzehnte hat sich Mal hat jeder etwas dazugeunter ihrer umsichtigen Leilernt. Leider ist diese wuntung die Auflage der ZEIT dervolle Übung nach Bucerivon einigen 300 000 auf über us’ Tod eingeschlafen. eine halbe Million vermehrt. Hilde von Lang war die Sie hat den Übergang von Lebensgefährtin von Gerd den Schreibmaschinen zu den Bucerius. Sie wurde auch seiComputern und zugleich den ne Testamentsvollstreckerin. Wechsel von der Setzerei zur Hilde von Lang Den Verkauf des Zeitverlages Elektronik bewältigt. Dazu * 12. 10. 1925 an die Holtzbrinck-Gruppe kamen das Magazin, vielfälti† 3. 4. 2011 hatte er selbst noch eingeleige Ergänzungen des Inhalts tet, Hilde hat ihn vollzogen. der ZEIT und auch Modernisierungen des Layouts. Bei alledem ging sie Den weitaus größten Teil seines Vermögens keine ungewissen geschäftlichen Risiken ein. hat Bucerius aber an die gemeinnützige ZEITHochfliegende intellektuelle Fantasien waren Stiftung vermacht – wie ein geborener Hamihr verdächtig. Zugleich aber war ihr die Un- burger. Er hat Verlag und Stiftung rechtlich abhängigkeit der Redaktion unantastbar. und sachlich vollständig voneinander geEbenso wie der Eigentümer Gerd Bucerius trennt. Zugleich hat er aber durch Berufunwar sie von der verfassungspolitischen Not- gen von Kuratoren für eine persönliche Verwendigkeit von Meinungs- und Pressefreiheit bindung gesorgt: Marion Dönhoff, Hilde von überzeugt – beide waren Liberale im alther- Lang, Theo Sommer und mich hat er in das gebrachten Sinn dieses Wortes. Selbstver- Kuratorium der Stiftung berufen. Auf diese ständlich schloss das liberale Prinzip die Of- Weise sind Hilde und ich insgesamt über ein fenheit für Meinungsvielfalt ein – auch im Vierteljahrhundert Kollegen gewesen. Wenngleich befreundet, waren wir nie per Du miteigenen Blatt. Vier Jahre lang haben Hilde von Lang einander, sondern immer per Sie – aber man und ich als gleichberechtigte Geschäftsfüh- konnte sich aufeinander verlassen. Jetzt ist rer den Verlag geleitet. Als ich vor längerer Hilde im Alter von 85 Jahren gestorben. Ich Zeit 75 wurde, hat sie sich in einem Inter- bin traurig.

Hilde von Lang (Zweite von links) mit Theo Sommer, Gerd Bucerius, Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt (von links) vor 25 Jahren bei der Feier zum 40-jährigen Bestehen der ZEIT

14 7. April 2011

DIE ZEIT No 15

POLITIK

MEINUNG

ZEITGEIST

Arabisches Wunder Krieg den Palästen, nicht dem Westen – ein ermutigendes Omen

JOSEF JOFFE:

Foto: Mathias Bothor/photoselection

Der Hund, der nächtens nicht gebellt hat, ist ein Sherlock-Holmes-Klassiker. Wie »kurios«, grübelt der größte aller Detektive in Silver Blaze, liegt doch das Bellen in der Natur des Tieres. Also die Perspektive wechseln: Der augenfällige Verdächtige kann es nicht gewesen sein; den kannte der Hund nicht und hätte deshalb angeschlagen. Holmes hätte auch mit Blick auf die arabischen Revolutionen neu nachgedacht. Denn das Erwartbare ist ausgeblieben. Es fehlten die Hassparolen auf Amerika und Israel; die übliche Verbrennung ihrer Flaggen fand nicht statt. »Zum ersten Mal«, notiert der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun, »haben sich arabische Demonstranten weder gegen den Westen noch gegen Israel gewandt« (siehe seinen Beitrag im Feuilleton). Die Überraschung ist umso größer, als gerade in den Aufstandsländern der Antisemitismus die wütendsten Orgien gefeiert hat. Nicht »Israelkritik«, sondern das europäische Original mit Ritualmordlegende und Weltverschwörung. Im Spiel war die klassische Ablenkungsstrategie. Je versteinerter das Regime, desto heftiger der offiziell geschürte Hass auf Amerika und Israel: Die sind schuld an eurem Unglück; keine Reformen, solange der Feind nicht besiegt ist. Das hat die Tyrannen und die Unterdrückten jahrzehntelang zusammengeschweißt. »Beschäft’ge stets die schwindlichten Gemüter / Mit fremdem Zwist«, heißt es schon bei Shakespeare. Mit den Regimen wackelt auch ein beliebter Glaubenssatz im Westen: dass alle Probleme der Region wie von Zauberhand verschwänden, wenn endlich das palästinensische gelöst würde. Die berüchtigte »arabische Straße« in Kairo, Damaskus, Amman, Tunis und Bengasi hat aber nicht für Palästina demonstriert – noch ein Hund, der hätte bellen müssen. Die Rebellen kämpfen für Freiheit in Ägypten, Syrien, Libyen, nicht in Palästina. Die Israelis haben das noch nicht erkannt; für sie galt der Satz »Mubarak gut, Masse böse«, weil er der Garant des Friedens war. Wenn aber die

HEUTE: 5.4.2011

Deutung

Fotos: [M] Thomas Peter/Reuters

Der ausgestreckte Arm mit einem ebensolchen Zeigefinger, das ist eine bewährte Geste der Staatskunst. Wer so richtlinienkompetent die Luft durchbohrt, der signalisiert nicht nur Orientierung, sondern leadership: Vorne ist, wo ich hinzeige. Um wie viel eindrucksvoller dieselbe Geste ausfällt, wenn sie nicht bloß mit der Hand, sondern mit technischem Gerät ausgeführt wird, das hat die Bundeskanzlerin, die sich einer Knieoperation unterziehen musste, jetzt bei einem Empfang in ihrem Amtssitz demonstriert. Wo die Krücke hinzeigt, da geht’s lang, Widerspruch zwecklos. Natürlich ist das auch eine – medizinisch indizierte – Antwort auf die Implosion der Koalition: Wenn auf meine Fingerzeige niemand mehr reagiert, rüste ich halt auf, wird sich Angela Merkel gedacht haben – die Gehhilfe als Bedeutungsprothese und Machtdemonstration. Die Republik geht am Stock? Von wegen! Alle Krücken fliegen hoch! WFG

Links und einsam

BERLINER BÜHNE

Wer braucht eigentlich noch die Linke? Die jüngsten Wahlen haben gezeigt: Keiner Weil seine Partei nur Bruderkampf kann, ist sie so ähnlich verarmt wie die FDP. Die Linke hat bloß noch ein Thema: die Eigentumsfrage. Was als »Kommunismus«-Debatte bizarre Formen angenommen hatte, enthielt eben doch einen wahren Kern: Die Systemfrage ist es, die die Linke letztlich von der SPD unterscheidet, ihr Distinktionsmerkmal, ihre Existenzberechtigung. Aber der nackte Materialismus, das lernt auch die FDP gerade, passt nicht mehr in die Landschaft, hat vielleicht noch nie gepasst. Als die Bürger in Stuttgart für mehr Beteiligung auf die Straße gingen, wollte die Linke darüber reden, wem die Parkbäume gehören. Aus Fukushima hat die Linke gefolgert, dass Atomenergie nicht in Privatbesitz sein darf (wie hieß es in der DDR: »Kernkraft in Arbeiterhand ist sicher«). Die Verkäuferin bei Schlecker, so findet die Linke, braucht keine Frauenquote – das ist was für Studienrätinnen –, sondern gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Und so weiter. Aber die Verkäuferin bei Schlecker will womöglich mehr von ihrem Leben als nur gleichen Lohn. Acht Stunden sind kein Tag. Wer nur die Systemfrage stellen will, kann in den Parlamenten nicht mitmachen. Sein politischer Aktivismus ist zur Folgenlosigkeit verdammt; die Gegenwart bleibt immer öde, leuchten tut es erst hinter dem Horizont. Wer Bürgerbeteiligung will, braucht auch keine Kümmerer-Partei, als die sich die Linke in Ostdeutschland gern präsentiert. Wer seine Wähler am liebsten als Opfer des Neoliberalismus sieht, kann mit einer umtriebigen Zivilgesell-

Nun wird auch die Linke grün. Angesichts der niederschmetternden Wahlergebnisse in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg verlegen sich einige ihrer Strategen sogar darauf, die Grünen als »Atom-Partei« zu verteufeln, weil sie sich mit dem Ausstieg viel länger hätten Zeit lassen wollen als die Linke. Die will am sofortigsten von allen aussteigen. Die West-Ausdehnung der Linkspartei ist gestoppt. Wie groß die Verzweiflung jetzt ist, das lässt sich an dem Gerücht ablesen, die Rückkehr von Oskar Lafontaine stehe unmittelbar bevor. Zwar glaubt niemand wirklich daran. Aber der Name des saarländischen Fraktionschefs kündet von den goldenen Zeiten, als man sich um das Kerngeschäft der Linkspartei kümmern konnte: den Bruderkampf gegen die Sozialdemokratie. Etwas Besseres als eine rot-grüne Regierung, die Arbeitsmarktreformen in Angriff nahm und deutsche Soldaten auf den Balkan schickte, konnte der Linken nicht passieren. Tausende von Mitgliedern verließen die SPD, aus Wut und Enttäuschung. Das ging so lange gut, wie es keinen Lagerwahlkampf gab. Das war schon in Hamburg anders und in Baden-Württemberg erst recht. »Rechts« und »Links« sind wieder da, diesmal als Schwarz-Gelb und Grün-Rot. Jetzt zeigt sich: Die Linke ist nichts ohne eine regierende SPD; aber wo die SPD regiert, braucht der Wähler keine Linke mehr. Das ist die selbstzerstörerische Dialektik im Leben Oskar Lafontaines: Er hat so viel Kraft auf den Erzfeind SPD verwandt, dass sein eigener Verein nun kurz vor dem Ausbluten steht.

Josef Joffe ist Herausgeber der ZEIT

Revolution so ausgeht, wie sie zu verheißen scheint (ein großes Wenn), dann ist auch hier der Perspektivwechsel fällig. Dann könnte sich der Hass der »Straße« als Machtinstrument der Tyrannen entpuppen, dann könnten die Israelis zum ersten Mal aufatmen und Sicherheit nicht nur mit gefletschten Zähnen suchen. Oder in der Besatzung. Das zentrale Dogma der Nahostpolitik könnte sich in sein Gegenteil verkehren. Nicht die 60 Kilometer zwischen Jaffa und Jericho sind die Mutter aller Konflikte, sondern Despotismus und Dysfunktionalität vom Maghreb bis zum Maschrek. Das jedenfalls signalisiert die Jasmin-Revolution. Setzen sich die Demokraten durch, wird sicherlich kein Liebesfest ein Jahrhundert der Feindschaft ablösen. Aber legitime Herrschaft braucht keine Feindbilder, erst recht nicht, wenn sie bringt, was fehlt: Teilhabe, Bildung, Wachstum, Chancen. Engelskreis statt Teufelskreis – das ist die Verheißung des Arabischen Frühlings. Ob es gut ausgehen wird? Die Geschichte der Revolutionen seit 1789 schreit nicht gerade »Ja!«. Aber die Hunde, die nicht gebellt haben, sagen uns stumm und doch sehr deutlich, welcher Seite der Westen und Israel helfen müssen.

VON MARIAM LAU

schaft nichts anfangen. Es ist keineswegs nur die West-Ausdehnung, die gestoppt ist. Auch in Sachsen-Anhalt, wo man eigentlich auf einen fabelhaften Start ins Super-Wahljahr gehofft hatte, musste die Linke Verluste hinnehmen. Eine parteiinterne Erklärung dafür lautet, die Klientel der Partei – die working poor – hätten die Linke gewählt in der Hoffnung auf kurzfristige Sozialgewinne, die man dann nicht liefern konnte. Seither schmilzt das zweistellige Plateau, an das man sich bei der Linken gewöhnt hat, auf bundesweit ungemütliche acht Prozent, Tendenz weiter fallend. In ihrer Verzweiflung war die Linke in BadenWürttemberg darauf verfallen, sich selbst als unverzichtbar für einen Politikwechsel anzupreisen. Wer Rot-Grün wolle, wer »den Mappus weghaben« wolle, der müsse die Linke wählen. Dann zeigte sich: Wer Grün-Rot wollte, wählte eben Rot oder Grün, die Linke war überflüssig. In dieser Lage, in der nichts Geringeres als ihre Existenz auf dem Spiel steht, wollen einige Parteistrategen sich auf die Konkurrenz zu den Grünen kaprizieren. Die Grünen seien die Latte-macchiato-Partei. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann werde schon bald von der schroffen Realität entzaubert. Das mag sein. Nur wird es den Charme des Selbermachens, wie er von grüner Kommunalpolitik verströmt wird, oder den Erfolg in Sachen Atomwende nicht ungeschehen machen. Der gemeinsam gerettete Fluss, die intelligente Verkehrsführung, eine lebendige Innenstadt – eine Zivilgesellschaft, die so etwas gemeinsam ins Werk setzt, braucht keine Linkspartei mehr.

Pink ist das neue Grau Kein Feindbild, nirgends: Was ist bloß los mit den Windmachern der CSU? Wenn man schon nicht mehr weiß, wer man selbst ist, und wenn ja, wie viele, dann braucht man als moderner Mensch wenigstens ein ordentliches Feindbild. Doch unter den Trümmern von Fukushima werden derzeit ganze Weltbilder begraben. Merkels einst kernige schwarz-gelbe AusputzerTruppe (»Durchregieren!«) präsentiert sich als vergrübelter Haufen von Stuhlkreis-Nachbarn. Wind ist das neue Atom, die Schwarzen sind die neuen Grünen und Pink das neue Grau. Jedenfalls in der CSU. Die Landesgruppe der Christsozialen im Bundestag, der früher Männer wie Michael Glos und Hans-Peter Friedrich vorsaßen, die die Welt zuverlässig sortierten (CSU großartig, Trittin schlimm, Sozis immer noch besser als Rita Süssmuth), wird nun von einer Frau regiert, Gerda Hasselfeldt. Sitzt da, knallbonbonfarben gewandet, lächelt wie ein Schmunzelhase, redet freundlich über die FDP und milde über die Grünen. Wo sind bloß die Beißreflexe geblieben? Die gesetzlich garantierten Reststrommengen, die der CSU noch für Guttenberg zustanden, müssen nach Abschaltung von Isar I auf die letzte arbeitsfähige Windmaschine übertragen werden, auf Söder II. Die deutsche Rating-Agentur Wähler and Poors hat sich unterdessen entschieden, die schwarz-gelbe Koalition auf Triple B herabzustufen. Zur Begründung hieß es, diese habe sich als nicht ansatzweise grundlastfähig erwiesen. Alles Weitere regelt ein Moratorium, natürlich streng ergebnisoffen. Über die Berufung einer Ethikkommission wird noch verhandelt. TINA HILDEBRANDT

S

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Die FDP versucht nach den verlorenen Landtagswahlen einen Neubeginn. Der Parteivorsitz wird wechseln, soviel ist sicher. Aber wie entwickelt sich die Partei programmatisch? Welche Themen werden sie antreiben, welche Ziele werden sich die Liberalen setzen?

In Europa längst etabliert, werden die Grünen auch in Lateinamerika zum Machtfaktor. Sie mischen mit, in kommunalen Parlamenten wie auf Landesebene. In Kolumbien und Brasilien feierten sogar grüne Präsidentschaftskandidaten erste Achtungserfolge

Wenn Eliot Paulina Sumner singt, schwingt immer ein bisschen Sting mit. Aber mit »I Blame Coco« hat die Tochter des Popstars ihre eigene Band, ein eigenes Album, ihren eigenen Erfolg. Zu Recht, wie sie im ZEIT ONLINE Rekorder zeigt. Ein Video

Viele Frauen wünschen sich eine natürliche Geburt, doch in Krankenhäusern bekommen sie sie kaum noch. Der maximale Einsatz von Medizintechnik ist Alltag geworden. Und Mütter sehen an Schwangerschaft und Geburt oft nur noch das Risiko

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MEINUNG

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

15

WIDERSPRUCH

Sicher ist nichts Die Endlagerung des Atommülls ist ungeklärt VON MICHAEL ZDRENKA DAMALS: 25.4.1997

Deckung

Fotos: Paul J. Richards/AFP/Getty Images (o.); Fabrice Coffrini/AFP/Getty Images

Ja, das ist das Privileg der Supermacht, mit allerlei Stöckchen und Rohren in der Gegend herumzufuchteln, wie es ihr gefällt – und alle Welt muss in Deckung gehen. Der damalige japanische Ministerpräsident Ryutaro Hashimoto findet sogar noch die Kraft für ein Lächeln, während ihm Bill Clinton beinahe seine Krücke über den Schädel zieht. Ohne böse Absicht, selbstredend, der US-Präsident ist einfach nur so begeistert, was da alles blüht in seinem rose garden. Hey, schau nur, da drüben, siehst du diese Knospe?, wird Clinton jubiliert haben, und der kluge Japaner ist rasch abgetaucht, um außer Schlagweite zu gelangen. Clinton hatte da seinen Skandal schon hinter sich, der Ministerpräsident seinen noch vor sich, bei dem er sich nicht mehr wegducken konnte, und wie es heute mit dem Abtauchen und Lächeln der japanischen Politik bestellt ist, das wollen wir hier lieber gar nicht erörtern, dies ist ja eine heitere Rubrik. WFG

Wenn wir damals gewusst hätten, was wir heute wissen Israel bemüht sich um die Aufklärung möglicher Kriegsverbrechen während des Gazakrieges – Hamas nicht Wir wissen heute weitaus mehr über das, was richts aufgetaucht sind, stellen nicht in Abrede, dass während des Gazakrieges 2008/09 geschehen Zivilisten ums Leben gekommen sind. Ich bedaure, ist, als wir zur Entstehungszeit des Goldstone- dass diese Beweise unserer UntersuchungskommisBerichts wussten. Ich habe damals die Unter- sion nicht zur Verfügung standen. Sie hätten die suchungskommission des UN-Menschen- Umstände erhellen können, unter denen Zivilisten rechtsrats geleitet, und wenn ich gewusst hätte, attackiert wurden. Das hätte wohl auch unsere Bewas ich heute weiß, wäre der Goldstone-Be- wertungen über Vorsatz und das Vorliegen von richt, den ich Ende 2009 vorgestellt habe, ein Kriegsverbrechen beeinflusst. völlig anderes Dokument geworden. Wir konnten wegen Israels mangelnder KoopeDem Abschlussbericht des UN-Komitees un- rationsbereitschaft nicht abschließend klären, wie abhängiger Experten zufolge, das unter dem Vor- viele der getöteten Palästinenser Zivilisten und wie sitz der New Yorker Richterin Mary McGowan viele Kämpfer waren. Die Zahlen des israelischen Davis unsere Untersuchungen fortgesetzt hat, hat Militärs fallen ähnlich aus wie diejenigen, die HaIsrael große Anstrengungen unternommen, um mas vor Kurzem bekannt gegeben hat (obwohl die rund 400 Fälle von mutmaßlichem Fehlver- Hamas gute Gründe hätte, bei der Zahl der Kämphalten während der Operationen in Gaza auf- fer zu übertreiben). zuklären. Die Autoritäten in Gaza (also die HaWie gesagt, ich hätte die Kooperation der Israelis mas) hingegen haben »keinerlei Untersuchungen begrüßt. Es lag nicht in der Absicht des Goldstonezu den auf die Israelis abgefeuerten Raketen und Berichts, vorgefasste Urteile über Israel zu bestätigen. Mörsergranaten eingeleitet«. Ich habe vielmehr darauf gedrängt, dass das ursprüngIn unserem Bericht haben wir Beweise für liche Mandat des UN-Menschenrechtsrats, der für mutmaßliche Kriegsverbrechen und Verbrechen seine Israel-kritische Haltung bekannt ist, geändert gegen die Menschlichkeit aufgeführt, die von wurde. Ich habe immer betont, dass Israel wie jede beiden Seiten begangen wurden, von Israel wie andere Nation das Recht und die Pflicht hat, sich und von Hamas. Dass Hamas diese Verbrechen vor- seine Bevölkerung gegen innere und äußere Aggressätzlich begangen hat, steht außer Frage – soren zu verteidigen. Viel zu selten wird anerkannt, schließlich waren ihre Raketen absichtlich und dass mit dem Goldstone-Bericht erstmals illegale willkürlich auf israelische ZiviTerror-Akte von Hamas untersucht listen gerichtet. und von den Vereinten Nationen RICHARD Der Vorwurf, Israel habe vor- G O L D S T O N E verurteilt wurden. Ich hatte gehofft, sätzlich Zivilisten beschossen, dass unsere Untersuchung des Gazaentstand in einer Situation, in der Konflikts eine neue Ära einläuten es tote und verletzte Zivilisten gab würde, eine Ära der Unparteilichkeit sowie eine Beweislage, die für im traditionell Israel-kritischen UNunsere UntersuchungskommisMenschenrechtsrat. sion keine anderen logischen Manch einer hat moniert, unser Schlüsse zuließ. Einige der im Vorgehen entspreche nicht juristischen Standards. Um es deutlich zu Goldstone-Bericht aufgeführten sagen: Unsere Mission war nie juFälle, bei denen es um das Fehlristisch oder quasijuristisch. Wir verhalten einzelner Soldaten geht, war Verfassungsrichter wurden sowohl vom israelischen in Südafrika und haben keine individuellen Straftaten Militär als auch vom UN-Ko- Chefankläger des in Israel, Gaza oder im Westjordanmitee unabhängiger Experten Jugoslawien-Tribunals. land untersucht. Wir haben lediglich bestätigt. Doch die jüngeren 2009 leitete er die Empfehlungen gegeben auf GrundUntersuchungsergebnisse zeigen UN-Ermittlungen zum lage der Indizien, die uns vorlagen auch, dass es keine offizielle israe- Gazakrieg – die leider keine Informationen der lische Politik gab, gezielt Zivilisisraelischen Behörden umfassten. ten anzugreifen. Unsere wichtigste Empfehlung lauIm Goldstone-Bericht ging es beispielsweise tete, jede der Kriegsparteien solle die in unserem Beum den folgenschweren Angriff auf die Familie richt erwähnten Vorfälle in einem transparenten al-Simouni, bei dem 29 Angehörige in ihrem Haus Verfahren untersuchen. McGowan Davis kommt zu getötet wurden. Offenbar ging die Bombardierung dem Schluss, dass Israel dies getan habe. Hamas hinauf eine Fehleinschätzung eines israelischen Be- gegen habe nichts dergleichen unternommen. fehlshabers zurück, der ein Satellitenfoto falsch Gelegentlich wurde kritisiert, es sei absurd geinterpretiert hatte. Gegen den israelischen Offizier, wesen, von Hamas Aufklärung zu erwarten, von der den Luftangriff befahl, wird ermittelt. Dass es einer Organisation also, die sich die Zerstörung des so lange dauert, ist frustrierend. Doch wenigstens israelischen Staates zum Ziel gesetzt hat. Mag sein, ist ein angemessenes Verfahren in Gang gekom- dass diese Hoffnung unrealistisch war. Ich hoffte, men. Ich bin überzeugt, dass Israel, sollte der Of- Hamas würde die Vorwürfe aufklären, wenn Israel fizier tatsächlich fahrlässig gehandelt haben, die mit gutem Beispiel voranginge. Zumindest hatte richtigen Maßnahmen ergreifen wird. Ich habe ich gehofft, dass Hamas angesichts der Erkenntnis, immer gesagt, der Sinn solcher Untersuchungen dass ihre eigenen Leute Verbrechen begangen hatbesteht darin, diejenigen zur Rechenschaft zu ten, ihre Angriffe einstellen würde. Das ist leider ziehen, die gegen das Recht verstoßen haben, nicht nicht geschehen. Auf den Süden Israels sind Hundarin, schwierige militärische Entscheidungen im derte Raketen und Mörsergranaten niedergegangen. Rückblick zu beurteilen. Dass durch den Beschuss vergleichsweise wenige Dass Israel den Vorwürfen nachgeht, begrüße Israelis getötet wurden, mindert nicht die Schwere ich. Zugleich teile ich die Sorge, die auch in dem des Verbrechens. Der UN-Menschenrechtsrat sollMcGowan-Davis-Bericht anklingt, dass bisher nur te diese abscheulichen Taten aufs Schärfste verwenige der israelischen Ermittlungen abgeschlos- urteilen. Der Menschenrechtsrat sollte auch die sen wurden. Ich glaube zudem, dass die Aufklä- unentschuldbare und kaltblütige Ermordung eines rung öffentlich stattfinden sollte. Die Beweise der jungen israelischen Paares und seiner drei kleinen Israelis, die seit der Veröffentlichung unseres Be- Kinder in ihren Betten verurteilen.

Dennoch – ich glaube weiterhin, dass das internationale Recht durchgesetzt und auf langwierige Gewaltkonflikte angewandt werden sollte. Der Goldstone-Bericht hat zu zahlreichen politischen Veränderungen geführt, zum Beispiel zu neuen Regeln für die israelischen Streitkräfte bei Häuserkämpfen und zu Einschränkungen beim Einsatz von weißem Phosphor in zivil bewohnten Gegenden. Die Palästinensische Autonomiebehörde hat eine unabhängige Untersuchungskommission eingesetzt, die den Vorwürfen von Menschenrechtsverletzungen nachgehen soll – Ermordung, Folter, widerrechtliche Verhaftung vor allem von Hamas-Angehörigen durch Fatah-Leute im Westjordanland. Die meisten der Vorwürfe haben sich bei näherer

VON RICHARD GOLDSTONE

Untersuchung bestätigt. Leider hat Hamas in Gaza keine vergleichbaren Schritte unternommen. Mit anderen Worten: Das Kriegsvölkerrecht gilt ebenso für nicht staatliche Akteure wie Hamas wie für reguläre Streitkräfte. Dass nicht staatliche Akteure diese Prinzipien respektieren und Verstöße geahndet werden, ist eine der wichtigsten Herausforderungen für das Kriegsvölkerrecht. Nur wenn wir von allen am Konflikt beteiligten Parteien die Einhaltung dieser Standards verlangen, können wir Zivilisten schützen, die unverschuldet in kriegerische Konflikte geraten. Aus dem Englischen von LUISA SEELING © Washington Post-Bloomberg-dapd

ZEIT-Leser Christoph Barthe schreibt in seinem Widerspruch Trotz Fukushima (ZEIT Nr. 14/11), über die Endlagerfrage werde viel Unsinn geschrieben. Allerdings. Zum Beispiel, dass erstens die Menge hoch radioaktiven Abfalls sehr gering sei und dass man zweitens diesen Abfall in geeigneten Gesteinsschichten endlagern könne. Zu der ersten Behauptung ist zu sagen, dass es nicht auf die Menge radioaktiven Abfalls ankommt, sondern auf die Giftigkeit dieser Menge. In der letzten Ausgabe der ZEIT war erst nachzulesen, dass, laut Holger Strohm, ein Teelöffelchen Plutonium (Halbwertszeit 24 000 Jahre) ausreichen würde, um ganz Europa zu vergiften. Ferner: Warum wird hier die Sicht ohne Not auf hoch radioaktive Abfälle eingeschränkt? Mittel und schwach radioaktive Abfälle müssen ebenso sicher verwahrt werden wie hoch radioaktive. Da zieht dann das Argument mit den ach so geringen Mengen nicht mehr – ganze abgeschaltete Kernkraftwerke müssen »entsorgt« werden. Auf die zweite These ist zu erwidern, dass es nicht reicht, dass man »erwarten« kann, dass die Gesteinsschichten, die seit Millionen Jahren dichtgehalten haben (haben sie das?), das auch weitere Millionen Jahre tun; man muss es schon genau wissen. Zu den »simplen geologischen Erkenntnissen« gehört im Übrigen auch, dass es so etwas wie Verwerfungen geben kann, durch die sich Gesteinsschichten verschieben können. Die abgesoffene Asse zeigt anschaulich, was solche Probleme bedeuten. Ferner müssen Endlager (es existiert weltweit sprechenderweise nicht ein einziges) sowohl zum Schutz der Bevölkerung als auch zur Verhinderung von Terrorakten (Bau einer »schmutzigen« Bombe) für die nächsten Jahrhunderttausende streng bewacht werden. Ob das gelingen kann? Dass das Risiko einer radioaktiven Verstrahlung »gering« ist, ist der alte Schnack der Atomlobbyisten und hat mit der Realität, wie wir derzeit sehen, nichts zu tun. All das spricht gegen die Kernenergie – auch schon vor Fukushima. Michael Zdrenka, lebt in Dalby in Dänemark Jede Woche erscheint an dieser Stelle ein »Widerspruch« gegen einen Artikel aus dem politischen Ressort der ZEIT, verfasst von einem Redakteur, einem Politiker – oder einem ZEIT-Leser. Wer widersprechen will, schickt seine Replik (maximal 2000 Zeichen) an [email protected] Die Redaktion behält sich Auswahl und Kürzungen vor

TITEL

IN DER ZEIT FDP Die Partei hat den

Liberalismus vergessen

Foto: Thomas Biebricher für DIE ZEIT

3

4

Finanzminister der Rebellen

VON

BERND ULRICH

VON MARK SCHIERITZ

Schafft Gesundheitsminister Philipp Rösler einen Neubeginn für seine Partei? VON E. NIEJAHR

Wirtschaftspolitik Regieren wär

eine prima Alternative 24 Ölmarkt Libyen ist nur eine kleine

Aufbruch mit alter Garde

Macht

VON PETER DAUSEND

Förderung im Wattenmeer

Außenminister ohne Parteivorsitz: Was bleibt von Guido Westerwelle?

VON CHRISTIAN TENBROCK

25

Politische Lyrik »Eine Schach-

partie«

nah

Rebellen lernen Marktwirtschaft 6

27 Weltwirtschaft Können wir

dem Aufschwung trauen? 28 Uranabbau Schmutziges Geschäft

in Afrika

Atompolitik Das Moratorium

Libyen Wie weiter nach der militärischen Intervention? Polen Ein Jahr nach dem Flugzeugunglück von Smolensk/ Die russische Lesart der Katastrophe VON ALICE BOTA UND JOHANNES VOSWINKEL

9

Elfenbeinküste Der Macht-

kampf zwischen altem und neuem Präsidenten VON B. GRILL

32 EnBW Scheitern die grün-roten

das rote Metall keine

58 Theater »Bengal Tiger at the

Bagdad Zoo«

Museumsführer Nr. 98 Die Kunsthalle in Mannheim 62 Geistesgeschichte Die Karriere

des Romanisten Hans Robert Jauss VON HANS ULRICH GUMBRECHT

63 Theater »Draußen vor der Tür«

in Hamburg

64 GLAU BE N & ZW EIF E LN Erinnerungskultur Das Internet

kennt weder Vergeben noch Vergessen VON K. POLKE-MAJEWSKI

Entwicklungspolitik Krieg und Armut hängen eng zusammen

REISEN 65

Fred Langhammer?

Stromsparen und Kirschblütenfest

VON THOMAS JAHN

VON SONOKO HIGAYA

12 Aus der Welt Foto: Toma Babovic/laif

37 Bildung Viele Analphabeten,

keine Debatte

VON JULIAN HANS

Vor 50 Jahren flog der Russe Jurij Gagarin als erster Mensch ins All. Als Weltstar kehrte der Kosmonaut zurück. Mit 34 Jahren verunglückte er tödlich – und wurde als Held der Sowjetunion an der Kremlmauer bestattet GESCHICHTE S. 22

14 Zeitgeist

Die Realität des Treue-Ideals

Vorwürfe gegen Israel zurücknehme Widerspruch Es gibt keine

DOSSIER 17 Gesellschaft Die Alten in

Deutschland werden mächtiger – den Jüngeren wehren sich

VON ELISABETH VON THADDEN

39 »Monogamie ist unnatürlich«

– Interview mit zwei Untreueforschern 40 Kernenergie Plutonium als

Ein Test

VON CHRISTIANE GREFE

69 Literatur Wie DDR-Bürger

illegal in die Sowjetunion reisten VON CHRISTOPH DIECKMANN

70 Magnet/Frisch vom Markt

CHANCEN 71

unerlässlich

VON B. WETEKAMP

73 Studium Der erste Lehramts-

heikler Brennstoff in Reaktoren

studiengang für Chinesisch

VON HANS SCHUH

VON LISA SRIKIOW

42 Wissenschaft Ein TÜV für

Messdaten

VON DIRK ASENDORPF

zwei Kinder den Umbruch in Tunesien erlebten VON F. DACHSEL

VON PETER WAGNER

unter www.zeit.de/audio

VON INGE KUTTER

Jobsuche Wie man verdeckte

Stellen findet

VON C. SCHRÖDER

Klärt das auf! VON HANNO RAUTERBERG

Vorige Woche wurde in Peking die Ausstellung »Kunst der Aufklärung« eröffnet – bestückt von deutschen Museen. Dass kurz darauf der Künstler Ai Weiwei verhaftet wurde, wirft jetzt neue Fragen auf FEUILLETON SEITE 51

in der Revolte keine Rolle spielt

21 Mittelalter Die große

Salier-Ausstellung in Speyer

VON TAHAR BEN JELLOUN

VON SVEN BEHRISCH

Salzburg Ausgeladener Festredner

Zeitmaschine

VON F. ZAIMOGLU

22 Raumfahrt Jurij Gagarin,

der erste Mensch im All VON JULIAN HANS

Früher informiert!

FEUILLETON 49 Arabien Warum der Islamismus

51

China Ai Weiweis Verhaftung

Anzeigen in dieser Ausgabe Link-Tipps (Seite 42), Spielpläne (Seite 43), Museen und Galerien (Seite 60), Bildungsangebote und Stellenmarkt (ab Seite 74)

90 ZEIT DE R LESE R

VON SABINE RÜCKERT

GESCHICHTE

www.zeit.de/kirgisistan

das Deutschlandstipendium 75 Beratung Hilfe für Entlassene

47 KINDERZEIT Revolution statt Mathe Wie

Brüchige Demokratie Vergangenen Juni brachen in Kirgisistan Pogrome aus. Es traf die usbekische Minderheit. Heute laviert das karge und arme Bergland zwischen Demokratie und Autoritarismus. Eine Reportage aus der Stadt Osch

Die so gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im »Premiumbereich« von ZEIT ONLINE

Förderung Verwirrung um

Schiffsverkehrs

Strafprozess als Lehrstück über Geld und blinden Feminismus

Gebühren Was ist uns Bildung wert? VON JAN-MARTIN WIARDA

72 Schule Bibliotheken sind

41 Infografik Die Abgase des

VON SUSANNE GASCHKE

20 WOCHE NSCH AU Kachelmann Der Mannheimer

Die Utopie der Treue in Literatur und Philosophie Historisch waren Liebespaare selten frei in ihrer Wahl

15 Gaza-Krieg Warum ich die VON RICHARD GOLDSTONE

Verantwortungsvoll reisen Südafrika – Mit Fair Trade auf der Garden Route VON W. GEHRMANN

VON ULRICH GREINER

VON M. LAU

sichere Endlagerung für Atombrennstäbe VON MICHAEL ZDRENKA

Foto: Frederic J. Brown/Coll. AFP/Getty Images

38

Die Linke Noch eine grüne

Partei in Deutschland

»Mein Vater hatte den sechsten Sinn«: Der Eichmann-Ankläger Gabriel Bach über seine jüdische Familie, die den Nazis in letzter Minute entkam

67 Die Gütesiegel der Ökohotels –

VON STEFANIE SCHRAMM

VON HELMUT SCHMIDT VON JOSEF JOFFE

VON MARTIN SPIEWAK

Psychologie

13 Nachruf Zum Tode von Hilde

Held des Himmels

»Träume von Häusern handeln von einem selbst«: Der Musiker Dave Grohl träumt von geheimnisvollen Räumen

Plüss über die Verantwortung der Urlauber

WISSEN

Internet Wie gefährlich sind

von Lang

Fleischlos genießen: Dieses Jahr dreht sich der Kochwettbewerb um die vegetarische Küche

66 Tourismuskritikerin Christine

VON C. SCHMIDT-HÄUER

anonyme Lästerseiten? Ein Gespräch mit dem Netzforscher Urs Gasser

VON PETER KÜMMEL

Kino David O. Russells »The Fighter« VON CHRISTOF SIEMES

VON M. ROHWETTER

36 Was bewegt ... den Unternehmer

VON TUVIA TENENBOM

59 Kunstmarkt Art Cologne

Telekom Der Preis für Ruhe in

der Spitzelaffäre

VON ALEXANDER CAMMANN

56 Diskothek

VON M. ROEDER

VON OTTMAR EDENHOFER

7. APRIL 2011

Sachbuch Suelette Dreyfus/Julian Assange »Underground – Die Geschichte der frühen Hacker-Elite« VON IJOMA MANGOLD

34 Kupfer Spekulanten entdecken 35 Energie Die ganze Wende oder

15

55 KrimiZEIT-Bestenliste

Eigentümer

10 Nigeria Der Wahlkampf des 11 Japanisches Tagebuch Zwischen

Sager«

VON DIETMAR H. LAMPARTER

33 Boehringer Fragen an den

VON E. FALCKE

Sachbuch »Ja-Sager oder Nein-

Umbaupläne an den Finanzen?

VON ULRICH LADURNER

Hoffnungsträgers Nuhu Ribadu

»Kriegsbraut«

macht Ökokleidung ohne Kompromisse VON HILTRUD BONTRUP

Pakistan Die Islamisten auf dem

Vormarsch

VON C. WIEDEMANN

30 Mode Die Designerin Julia Starp

VON ANNE-MARIE SLAUGHTER

8

54 Roman Dirk Kurbjuweit

VON K. BUND

willigen Wehrdienstleistenden

Belletristik Peter Handke »Der große Fall« VON THOMAS E. SCHMIDT

über eine Blattreform am Abgrund

VON FRITZ VORHOLZ

7

Stuttgart 21 Der neue Bahn-

Bundeswehr Die ersten frei-

der Regierung ist Augenwischerei

53

26 »Focus« Der Chefredakteur spricht

VON NORA BOSSONG

VON DAGMAR ROSENFELD

VON RONALD DÜKER

VON MICHAEL THUMANN

hof vor dem Aus?

VON JÖRG LAU

5

Mann, der Bud Spencer war

23 Libyen Ein Besuch beim

AUSGABE:

Foto: Silvio Knezevic

2

52 Legende Carlo Pedersoli – der

Foto: Vyacheslav Oseledko/AFP/Getty Images

WIRTSCHAFT

POLITIK

Als ZEIT-Autor Mark Schieritz hörte, wer in der libyschen Übergangsregierung von Bengasi jetzt für die Finanzen zuständig ist, fuhr er los, um den Mann wiederzutreffen, den er während des Studiums in London kennengelernt hatte. Ali Tarhouni, Professor aus Seattle, hat nun irgendwie die Kriegswirtschaft in Gang zu halten und Vorbereitungen zu treffen für die Zeit nach Gadhafi. Das Foto zeigt Schieritz, der sich an das Geräusch von Maschinengewehr-Salven erst gewöhnen musste, vor einem zerschossenen Panzer WIRTSCHAFT S. 23

16

Thema: Der Traum von Treue

RUBRIKEN 2 24 42 53

und die Folgen

62

Ein Besuch in Ai Weiweis Künstlerdorf VON ANGELA KÖCKRITZ

63 89

Worte der Woche Macher und Märkte Stimmt’s?/Erforscht & erfunden Wir raten zu/Gedicht Impressum Wörterbericht/Das Letzte LESE R BR I E F E

Die aktuellen Themen der ZEIT schon am Mittwoch im ZEIT-Brief, dem kostenlosen Newsletter www.zeit.de/brief

»EINE STUNDE ZEIT«

Das Wochenmagazin von radioeins und der ZEIT, präsentiert von Katrin Bauerfeind und Anja Goerz: Am Freitag 18–19 Uhr auf radioeins vom rbb (in Berlin auf 95,8 MHz) und www.radioeins.de

DOSSIER

WOCHENSCHAU

GESCHICHTE

Kachelmann: Der Strafprozess als feministisches Lehrstück S. 20

Jurij Gagarin – der erste Mensch im All S. 22

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

17

D

er gestrige Tag hat mir sechs Stunden gebracht. Heute kommen noch einmal sechs Stunden hinzu. Auch morgen werden mir sechs Stunden geschenkt. Mit jedem Tag, den wir leben, werden wir älter – und zugleich verlängert sich unser Leben. Es ist zwar möglich, dass wir morgen von einem Bus überfahren werden, aber statistisch betrachtet, gewinnen wir unaufhaltsam Lebenszeit hinzu: zweieinhalb Jahre pro Jahrzehnt, drei Monate pro Jahr, sechs Stunden pro Tag. Dieser Trend hält seit anderthalb Jahrhunderten an, ungebrochen – dank medizinischen Fortschritts, abnehmender Kindersterblichkeit, zunehmenden Wohlstands. Und wer weiß, was geschieht, wenn erst die Mensch-Maschine-Grenze überschritten wird und das Handy uns ins Ohr flüstert, was unser Gehirn vergessen hat? Künftige Generationen könnten nahezu unsterblich werden. Heute geborene Kinder werden mit hoher Wahrscheinlichkeit hundert Jahre alt. »Wir erleben gerade den größten Triumph der modernen Zivilisation«, sagt James Vaupel, Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock. So euphorisch kann man über ein Thema reden, das die wenigsten Menschen mögen: das Altern. Viele Altersforscher, ob Statistiker, Psychologen oder Mediziner, neigen zu einer hoffnungsvollen, neugierigen Sicht, wenn es um ihr Thema geht. Wer aber gerade darum kämpft, dass der demente Vater ein Zimmer in einem Pflegeheim bekommt, der kann diesen Optimismus kaum nachempfinden.

Es gibt auch noch die andere Art, auf das Alter zu blicken, die apokalyptische Sicht. Sie geht von einer unauflösbaren Konkurrenz zwischen Älteren und Jüngeren aus, spricht vom »Krieg der Generationen«, vom bevorstehenden »Aufstand der Jungen«. Die Älteren würden sich auf Kosten der Jüngeren ein schönes Leben machen. Von »Seniorenlawine« ist dann die Rede, von »Ausbeutung«. Meist sind es Publizisten, Ökonomen oder jüngere Politiker, die sich die alternde Gesellschaft als Gerontokratie ausmalen – und damit die Wut der Älteren auf sich ziehen. Produktiv ist das nicht. Das Drohen mit einer demografischen Katastrophe hat schon viel zu lange verhindert, dass wir uns ernsthaft miteinander auseinandersetzen, über die Generationengrenzen hinweg. Wir müssen diese Diskussion führen, denn unsere Gesellschaft wird bald anders aussehen, als wir sie kannten. Die Älteren werden darin mehr Macht haben als heute: politische Macht, wirtschaftliche Macht, kulturelle Macht. Entscheidend ist aber: Sind die Älteren bereit, mit ihrem wachsenden Einfluss auch die entsprechende Verantwortung zu übernehmen? Von wem sprechen wir eigentlich, wenn wir »Ältere« sagen? In manchen Branchen gelten Arbeitnehmer schon mit vierzig Jahren als »älter«. »Alt« war man nach allgemeinem Verständnis lange Zeit, wenn man aus dem Erwerbsleben ausgeschieden war. Diese Wahrnehmung verschiebt sich gerade: Heute werden 70-jährige Pensionäre, die sich bester Gesundheit erfreuen, noch als »junge Alte« bezeichnet. Die sprachliche Grenze für die Zuschreibung »alt« liegt inzwischen jenseits der 75. Weil fast alle Veröffentlichungen, die das Altern und die Macht der Älteren in den Mittelpunkt

Deutschland wird dominiert von Menschen über 60. Ihnen geht es gut, sie haben Macht und beklagen sich trotzdem. Warum? VON SUSANNE GASCHKE

Mehr Lebenszeit Die Lebenserwartung Neugeborener in Deutschland* Jahr

Frauen

Männer

1871

38

36

1891

44

41

1910

51

47

1924

58

56

1932

63

60

1949

68

65

1960

72

67

1970

74

67

1980

77

70

1990

79

73

2000

81

75

2009

83

77

*von 1949 bis 1980 nur Westdeutschland ZEIT-Grafik/Quelle: Statistisches Bundesamt

stellen, heftige Reaktionen auslösen, hier ein Wort zu mir selbst: Ich bin 44 Jahre alt. Seit etwa vier Jahren bin ich so weitsichtig, dass ich ohne Brille fast nichts mehr lesen kann – was mich nicht daran hindert, die Brille dauernd zu vergessen und dann im Restaurant auszuflippen, wenn ich die Speisekarte nicht entziffern kann. Meine 19-jährige Tochter ist vor Kurzem von zu Hause ausgezogen, was mich stärker getroffen hat, als ich es erwartet hatte. Und es hat mich auch schon einmal ein Personalentwickler darüber aufgeklärt, dass Menschen in meinem Alter sich bemühen müssten, geistig flexibel zu bleiben. All dies – körperliche Beeinträchtigung, Auszug des jüngsten Kindes, Zweifel an der eigenen Leistungsfähigkeit durch Menschen in der Umgebung – sind, aus der Sicht der Altersforscher, Merkmale dafür, dass ein Mensch in eine andere Lebensphase wechselt, das Leben der Älteren. Natürlich fühle ich mich nicht besonders alt. Doch auch das ist typisch: Die meisten Älteren nehmen sich ungefähr neun Jahre jünger wahr, als sie sind. Ich habe – soll das heißen – keinen Grund, alte Menschen mit jenem »herzlosen Hochmut« zu betrachten, den die 69-jährige Schriftstellerin Monika Maron in den Augen von 35-Jährigen aufblitzen sah. Die Zukunft hat eine harte, statistische Seite, die demografische Entwicklung, und eine soziale, weichere Seite: die Software des Zusammenlebens, die Gepflogenheiten des Umgangs in einer Gesellschaft mit relativ vielen Älteren und relativ wenigen Jüngeren. Dazu gehören auch vernünftige Vereinbarungen für die Verteilung des Geldes. Die statistische Seite ist, falls sich in nächster Zeit keine Kriege oder Katastrophen ereignen, gut

Illustration: Smetek für DIE ZEIT/www.smetek.de

Entspann dich, Alter! berechenbar. Sie wird bestimmt durch zwei Trends: die steigende Lebenserwartung und die in Deutschland seit den siebziger Jahren ständig sinkende Geburtenrate. 1970 machten die Jungen fast ein Drittel der Bevölkerung aus, nur 13 Prozent waren über 65. Heute gibt es bereits weniger Junge (19 Prozent) als Ältere und Alte (21 Prozent). Im Jahr 2030 werden ungefähr 29 Prozent der Menschen älter als 65 Jahre sein, knapp 17 Prozent jünger als 20. Kinder auf der Straße werden ein Hingucker sein. Wer schon heute einen Blick ins Jahr 2030 werfen will, der muss nach Bad Sassendorf zwischen Münster- und Sauerland fahren, in die demografisch älteste Gemeinde in Nordrhein-Westfalen. Dort ist jetzt schon jeder dritte Einwohner älter als 65. Und Bad Sassendorf ist ein Beispiel für eine missglückte Organisation des Zusammenlebens von Alt und Jung. Die Kleinstadt hat sich ganz auf die Bedürfnisse Älterer eingestellt – ohne sich mit den sozialen Nebenwirkungen abzugeben. Dass im Stadtzentrum für viel Geld Bordsteine und Barrieren entfernt wurden, damit Rollstühle und Rollatoren freie Bahn haben, kommt immerhin auch Fahrradfahrern und Paaren mit Kinderwagen zugute. Von denen finden sich hier nur nicht mehr allzu viele: Es hat ein Verdrängungswettbewerb zugunsten der Älteren eingesetzt. Fünf Senioreneinrichtungen gibt es in Zentrumsnähe, und ständig wächst die Zahl der teuren Komfortwohnungen für Alte. Günstige Mieten und erschwingliches Bauland findet man nur noch am Stadtrand. »Ballspielen verboten« steht auf einem Schild am Rande eines Vorstadt-Spielplatzes. War solches Denken nicht in Fortsetzung auf S. 18

18 7. April 2011

DOSSIER

DIE ZEIT No 15

Die Hundertjährigen Alter, das mindestens die Hälfte eines Geburtsjahrgangs erreichen wird* Geburtsjahrgang 2000

Alter 99

2001

100

2002

100

2003

100

2004

101

2005

101

2006

101

2007

102

*Annahme: Gesundheitliche Bedingungen verbessern sich weiter wie bisher, Zahlen für Deutschland gesamt, Männer und Frauen ZEIT-Grafik/Quelle: Berechnungen des MPIDR

Verformte Pyramide Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland 1910 Illustration: Smetek für DIE ZEIT/www.smetek.de

Alter in Jahren 100 95

Männer

Frauen

90 85 80 75 70 65 60 55 50 45 40

Fortsetzung von S. 17

den siebziger Jahren unter dem Einfluss der Rappelkiste untergegangen, und zu Recht? Immerhin gibt es hier draußen am Rande der Kleinstadt überhaupt noch Spielplätze – Zentrum und Kurpark seien mittlerweile nämlich spielplatzfrei, klagen die Mütter im Neubaugebiet. Der letzte Kindergarten in der Innenstadt, die von Altenheimen umzingelte »Tummelecke«, soll im kommenden Jahr schließen. Auch die Grundschule ist weit draußen. Die einzige weiterführende Schule in Bad Sassendorf wird wohl bald aufgelöst, es fehlen die Schüler. Das unglücklichste Symbol falsch verstandener Altenfreundlichkeit ist der Brunnen in der Fußgängerzone, in dem im Sommer Kinder planschen dürfen. Doch zwischen 12 und 15 Uhr werden die Fontänen abgestellt, damit das Kindergeschrei nicht die Mittagsruhe der Anwohner stört. In Bad Sassendorf gibt es reichlich Speisekarten mit Seniorentellern, extrabreite Seniorenparkplätze vor Supermärkten und Schwimmbädern, ein prächtiges Freizeitangebot für Ältere – »aber nur zehn Kita-Plätze für unter Dreijährige. In einer Stadt mit 12 000 Einwohnern!«. Darüber beklagt sich, ausgerechnet, der Seniorenbeauftragte der Stadt, Kai-Uwe Groll, der ein Seniorenzentrum leitet. Er ist davon überzeugt, dass die einseitige Ausrichtung weder Alt noch Jung guttut. Er sagt: »Es muss doch ein Zusammenspiel geben.« Zu viel Altenfreundlichkeit liegt nur scheinbar im Interesse der Älteren. Das Kunststück der Zukunft wird ja nicht in der Konstruktion pfiffiger Treppenlifte bestehen, sondern darin, einen Mix der Generationen hinzubekommen: darin, die Jungen zu den Alten zu locken und die Alten auch für Junge zu interessieren, die nicht ihre eigenen Kinder oder Enkel sind. Wer heute 70 Jahre alt ist, ist so fit wie ein 60Jähriger vor einem halben Jahrhundert. Das sagen Deutschlands Altersforscher übereinstimmend. Wer gesund und guten Mutes bleiben will, kann dies durch Sport und richtige Ernährung befördern – vor allem aber durch aktive Anteilnahme an den Belangen seiner Familie, der Nachbarschaft und der Umwelt. Das Gefühl, trotz fortgeschrittener Jahre »eingebunden« zu sein in den Gang der Dinge, ist wesentlich für das geistige und seelische Wohlbefinden. Alte Menschen mögen spontan erfreut sein über Parkplätze, Barrierefreiheit, Mittagsruhe. Sie mögen ihre Macht als sogenannte Premiumkonsumenten genießen. Aber wenn es ganz still geworden ist in ihrem liebevoll gestalteten Stadtzentrum, dann werden sie merken, wohin sie gezogen sind: in ein teuer bezahltes Altenreservat. Wer nicht im Ghetto leben will – ich zum Beispiel will es ausdrücklich nicht –, wird Konflikte auf sich nehmen müssen, die Mühsal von Kompromissen: Kinder und Ältere haben verschiedene Bedürfnisse. Die Zauberformel heißt Rücksichtnahme. Es spricht nichts dagegen, dass Kinder mittags mal ruhig sind. Es spricht alles dagegen, dass sie sich in ihrer eigenen Stadt wie Außerirdische fühlen. Woher rührt eigentlich die Sturheit, die wir in Fragen der Rücksichtnahme bei vielen Älteren, aber natürlich niemals bei uns selbst ausmachen? Existiert er überhaupt, der Altersstarrsinn, oder ist das eine typisch altenfeindliche Unterstellung? Es gibt jedenfalls Themen, deren bloße Erwähnung zu so reflexhaften Protesten vieler Älterer führt,

35 30 25 20 15 10 5 0 1000 800 600 400 200

0

0

200 400 600 800 1000

Tausend Personen

Tausend Personen

1950 Alter in Jahren 100 95

Männer

Frauen

90 85 80 75

dass ein vernünftiges Gespräch zwischen den Generationen nicht mehr möglich ist. Diese Erfahrung machte im vergangenen Jahr der Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete KlausPeter Hesse von der CDU, 43 Jahre alt. Hesse ist Verkehrsexperte seiner Partei und setzte sich für barrierefreie Busse ein und für längeres Ampelgrün, damit auch langsamere Fußgänger und Kinder sicher über die Straße kommen. Das macht ihn noch nicht der Altenfeindlichkeit verdächtig. Aber dann drückte Hesse aus Versehen einen Reflexknopf: Er nahm die Wörter »Führerschein« und »Senioren« in den Mund – in einem Satz. Schon klar: Niemand möchte pauschal eine Kompetenz abgesprochen bekommen, bloß weil er ein bestimmtes Lebensalter erreicht hat. Reaktions- und Sehvermögen lassen mit den Jahren nach, aber nicht bei allen Menschen gleich schnell. Die allgemeine Behauptung, Ältere seien schlechte Autofahrer, ist deshalb verletzend.

70

Im Straßenverkehr gehören die älteren Autofahrer zur Risikogruppe

65 60 55 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1000 800 600 400 200

0

0

200 400 600 800 1000

Tausend Personen

Tausend Personen

2009 Alter in Jahren 100 95

Männer

Frauen

90 85

Frauenüberschuss

80 75 70 65 60 55 50 45 40 35 Männerüberschuss

30 25 20 15 10 5 0

1000 800 600 400 200

0

0

Tausend Personen ZEIT-Grafik/Quelle: Statistisches Bundesamt

200 400 600 800 1000

Tausend Personen

Aber Hesse pauschalisierte nicht. Er hatte in seiner Stadt Beobachtungen gemacht, mehr nicht: Im Frühjahr vergangenen Jahres hatte ein 73-jähriger Autofahrer beim Ausparken einen 4-Jährigen übersehen und überrollt. Der Junge starb. Im Jahr zuvor war eine 83-jährige Frau mit ihrem Rover rückwärts in ein Restaurant gerast und hatte eine Radfahrerin mit sich gerissen, die am Kopf schwer verletzt wurde. Im vornehmen Hamburger Stadtteil Blankenese setzte ein 78-jähriger Mann seinen Mercedes durch die Fensterfront eines Lokals und tötete eine Frau, die gerade in der Speisekarte las. Hamburger Rettungswagenfahrer machen fast täglich die Erfahrung, dass ältere Autofahrer Blaulicht und Martinshorn nicht wahrnehmen. Das Thema ließ Hesse nicht mehr los. War es bloßer Anekdotenstoff, eine Sammlung von schlimmen Zufällen – oder gab es hier ein ernsthaftes Problem? Der Verkehrsexperte studierte die Hamburger Unfallstatistiken und stieß auf eine deutlich gestiegene Zahl von »Seniorenunfällen« in den vergangenen Jahren. Die Befunde des Statistischen Bundesamtes sprachen dieselbe Sprache: Die größte Risikogruppe unter den Autofahrern sind zwar immer noch die 18- bis 24-Jährigen – allerdings hat sich die Zahl der »Hauptverursacher von Unfällen mit Personenschaden« in jener Altersgruppe seit 1980 fast halbiert. Bei den Fahrern über 65 hat sie sich verdreifacht. In zwei von drei Fällen tragen Autofahrer über 65, die in einen Unfall verwickelt sind, die Hauptschuld. Also schlug Hesse vor: Ältere Autofahrer, die sich nicht mehr sicher fühlen und freiwillig auf ihren Führerschein verzichten, sollen zum Ausgleich ein Jahr lang kostenlos mit Bussen und Bahnen fahren dürfen. »Ich wollte den Leuten nichts vorschreiben und nichts wegnehmen«, sagt der Abgeordnete. Trotzdem schlug eine Welle der Empörung über ihm zusammen. Wo auch immer er im Hamburger Bürgerschaftswahlkampf auftauchte, bekam er von Rentnern genau dies zu hören: »Sie sind also der, der uns den Führerschein wegnehmen will!« Das Hamburger Abendblatt druckte genüsslich Leserbrief um Leserbrief, fast alle von erbosten Alten.

Wohlgemerkt: Hesse hatte keinen Fahrtüchtigkeitstest gefordert, wie er in Großbritannien und Italien für Autofahrer vom 70. Lebensjahr an vorgeschrieben ist, kein Gesundheitszeugnis, nichts Verbindliches. Er wollte Jahreskarten für den Hamburger Nahverkehr verschenken, Karten, die Schüler und Studenten selbst bezahlen müssen. Es schien so, als wolle sein Publikum ihn missverstehen – und die, die ihn verstanden, waren oft empört darüber, dass es das kostenlose Ticket nur für ein Jahr geben sollte und nicht für immer. Das Verstörende, findet Hesse heute, sei aber gar nicht der Ärger der Älteren, sondern die Angst der Jüngeren vor diesem Zorn, ihr vorauseilender Gehorsam. Kaum war sein Vorschlag in der Welt, da gab es heftige Proteste aus der Partei. CDU-Kollegen nannten die Aktion »nicht wahlkampfförderlich«, auch das Bürgermeisterbüro meldete sich irritiert. Sogar Hesses eigene Mutter, Jahrgang 1936, riet ihm: »Lass die Finger von den Senioren, das schadet unserer Partei.« Woher rührt nur die Entrüstung bei den Reflexthemen, warum werden Politiker jedes Mal panisch? Genau genommen, sind die Älteren doch gar kein grauer Block mit einheitlichen Interessen. Sie sind so vielfältig wie die ganze Bevölkerung: klug oder dumm, gut oder schlecht gebildet, arm oder reich, politisch links oder rechts, vom Arbeitsleben deprimiert oder zukunftsfroh. Sie haben Enkel oder nicht, sind Leistungssportler oder hinfällig. Sie wählen meist, was sie immer gewählt haben: ganz unterschiedliche Parteien. Und da sie weit zahlreicher als die Jüngeren zur Wahl gehen, müssen sie auch keineswegs befürchten, dass ihr Votum unter den Tisch fällt. Woher also dieses einvernehmliche Gefühl des Beleidigtseins, wann immer es um die Rente geht, um die Zumutbarkeit von diesem und jenem? Hat all dies wirklich mit der Sorge zu tun, die materielle Lebensgrundlage werde sich verschlechtern – jetzt, da man nicht mehr viel dagegen tun kann? Die Regierung sprach immerhin vor zwei Jahren eine gesetzliche Garantie für die Renten aus, gesenkt werden dürfen sie nicht.

Fast nichts regt die Alten so auf wie die Rente mit 67 Aber vielleicht geht es in Wahrheit auch gar nicht ums Materielle. Vielleicht ist es der Schmerz, nicht mehr im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen, der ein Phantomleiden herbeiführt: die Furcht vor dem sozialen Abstieg. Vielleicht ist unsere Gesellschaft so sehr auf Arbeit fixiert, dass sie jedem »Unproduktiven« das Gefühl gibt, überflüssig zu sein. Vielleicht leiden Paare, die fern von ihren Söhnen, Töchtern und Enkeln alt werden, unter ihrer Einsamkeit. Vielleicht zerren die Gebrechen des Älterwerdens viel stärker an den Nerven als die kleine Zumutung, Speisekarten nicht mehr mühelos lesen zu können. Die Generation der Älteren, die demnächst in den Ruhestand geht, ist frei, sich zu entscheiden. Sie kann auf den deutschen Produktivitätswahn pfeifen und sich mit einem guten Buch in den Garten zurückziehen. Oder sie gesteht sich ein, dass Ruhestand eben doch kein Urlaub ist, und sucht sich Beschäftigung – in Familie, Verein, Partei oder Beruf. Dass Rentner diese Wahl haben, ist ein Grund für gute, nicht für schlechte Laune.

Die etwas Jüngeren – wir – werden diese Freiheit nicht mehr haben. Zum Teil ist das unsere eigene Schuld, weil wir, die wir den geburtenstarken Jahrgängen angehören, zu wenige Kinder bekommen haben. Aber wir müssen auch die Renten für die – glücklicherweise! – gesunde und langlebige Elterngeneration aufbringen. Es ist ja die Gruppe der aktuell Beschäftigten, die mit ihren Beiträgen die Altersversorgung finanziert: Im Augenblick kommen 27 Millionen sozialversicherungspflichtige Beitragszahler für 20 Millionen Rentner auf. Die Vorstellung von der Rente als einer Art Sparvertrag, in den man einzahlt, um dann ein garantiertes Ergebnis zu erzielen, ist zwar weit verbreitet, aber falsch. Wir investieren nicht, wir nehmen, was übrig bleibt. Meine Generation wird im Schnitt länger arbeiten müssen als bis zum 65. Lebensjahr. Die »Rente mit 67« betrifft uns, keinen einzigen Ruheständler von heute. Sie soll bis 2029 (!) wirksam werden und ist nur eine vorsichtige – nach Meinung vieler Experten noch viel zu zaghafte – Annäherung an die neue Wirklichkeit, an die steigende Lebenserwartung und den Geburtenrückgang. Es hilft uns nicht, wenn ausgerechnet diejenigen über das Rentendilemma klagen, die gar keinen Nachteil erleiden. Aber sie hören nicht auf zu klagen. Deshalb ist die Diskussion über die Verlängerung der Lebensarbeitszeit ein so frustrierendes Beispiel dafür, dass der Dialog zwischen den Generationen nicht funktioniert: Politiker von SPD und CDU berichten übereinstimmend, dass es (außer dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan) nur eines gebe, was die Älteren in Ortsvereinen und Ortsverbänden auf die Palme bringe – die Rente mit 67. Einer, der sich darüber nicht beschwert, ist der ehemalige Vizekanzler und heutige Bundestagsabgeordnete Franz Müntefering von der SPD. Er ist 71, ein Mann im Rentenalter. Seine Partei, die für die Politik der »Agenda 2010« und die »Rente mit 67« bei der letzten Bundestagswahl hart bestraft wurde, ist gerade dabei, ihre politische Linie beim Thema Lebensarbeitszeit aufzuweichen. Müntefering hat sich vorgenommen, eine neue Debatte über den Sinn der gewonnenen Jahre anzustoßen. Es sei im Interesse der Älteren, neugierig und lernfähig zu bleiben, sagt er, im Interesse der Gesellschaft auch: »Demokratie kennt keinen Schaukelstuhl. Solange der Kopf klar ist, ist man mitverantwortlich.« Müntefering weiß, dass manche alte Menschen zu krank oder zu traurig sind, um teilzunehmen am gesellschaftlichen Leben. Er weiß, dass manche Renten so niedrig sind, dass es keinerlei Kürzungsspielraum mehr gibt. Müntefering ist keiner von denen, die in neoliberalen Fantasien schwelgen oder Junge lustvoll gegen Alte ausspielen. Trotzdem sagt er diese beiden Sätze: »Wenn man ehrlich ist, muss man die in den vergangenen Jahren vermiedenen Senkungen nachholen. Das heißt: Die Renten können vorerst nur langsamer steigen als die Löhne.« Könnte er so etwas auf einer Sitzung in einem SPD-Ortsverein aussprechen, ohne gleich in Stücke gerissen zu werden? Gehört die (dank der Rentengarantie bloß noch theoretische) Rentensenkung nicht ins Museum der Horrorthemen? »Die Frage ist immer: Ist man mutig genug, es richtig zu sagen?«, glaubt Müntefering. »Wenn man etwas Schweres

DOSSIER

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Die grauen Engel

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laudia Rutt hat einen großen Plan. Wenn das, was sie sich vorgenommen hat, tatsächlich funktioniert, wird es bald eine Organisation geben, die im Namen älterer Menschen auch politische Entscheidungen beeinflussen will. Noch sieht es so aus, als sei die 50-jährige Claudia Rutt eine Einzelkämpferin mit großen Ideen und einem kleinen Büro in Bonn, aber sie hat einen der mächtigsten Verbündeten, den man in Deutschland haben kann – den ADAC. Seit fast einem Jahr baut Claudia Rutt einen Verein auf, der den sperrigen Namen Generationen Netzwerk für Deutschland (GND) trägt. Im GND soll sich die »Generation 50 plus« organisieren, jene Menschen, die in wenigen Jahren den Großteil der deutschen Bevölkerung ausmachen werden. Der Verein will sie miteinander in Kontakt bringen, ihnen Beratung in allen Lebenslagen bieten und ihnen eine starke Stimme geben. »Der GND soll auch Anlaufstelle sein für Menschen, die noch in der Mitte des Lebens stehen«, sagt Claudia Rutt. »Die neben ihrer Berufstätigkeit oft einer Doppelbelastung ausgesetzt sind, weil ihre Kinder gerade aus dem Haus und die Eltern inzwischen so alt sind, dass sie Hilfe benötigen.« Das klingt einleuchtend. Und das Projekt wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn die Idee dafür von Claudia Rutt selbst stammen würde. Aber die Idee stammt aus der Führungsetage des ADAC. Seit knapp vier Jahren investiert der zweitgrößte Automobilklub der Welt in einen neuen Verein, der mit Straßenverkehr nichts zu tun hat. Der ADAC treibt die Gründung eines eigenen Verbandes für ältere Menschen voran. Warum nur? In der Münchner ADAC-Geschäftsstelle sprechen sie wolkig von »gesellschaftlicher Verantwortung«, von der »wichtigen Aufgabe, eine Solidargemeinschaft für ältere

Menschen zu schaffen«. Der Verein sei eine »logische Ergänzung zum ADAC«, sagt Peter Meyer, der Präsident des ADAC. Formal ist der neue Verein selbstständig, aber in den Aufsichtsgremien des GND sitzen lauter Leute, die auch dem ADAC-Präsidium angehören. Gründungsmitglied des GND ist der ADAC, vertreten durch seinen Präsidenten. Wer verstehen will, warum der ADAC in eine Lobby für ältere Menschen investiert, muss sich die Mitgliederzahlen des Automobilclubs anschauen. 17,2 Millionen Menschen sind dort organisiert, vielleicht werden es demnächst 20 Millionen sein, doch in wenigen Jahren werden die Zahlen aufgrund der demografischen Entwicklung sinken. Auch deshalb versucht der ADAC seit einiger Zeit, neue Geschäftsfelder zu betreten. Vorbild für das, was der ADAC vorhat, ist die mächtige American Association of Retired Persons (AARP), der größte Seniorenverband der Welt. 40 Millionen Mitglieder hat er nach eigenen Angaben, die Hälfte von ihnen sind Rentner. Es gibt AARP-Büros in allen 50 US-Bundesstaaten. Das Blatt für die Mitglieder, The Magazine, ist mit 20 Millionen Exemplaren die auflagenstärkste Zeitschrift der Welt. Die AARP kämpfte dafür, dass Amerikaner über dem 65. Lebensjahr gesetzlich krankenversichert werden und in allen Bundesstaaten das Zwangsrentenalter abgeschafft wurde. Im Jahr 2003 half der Verband dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush dabei, eine umfangreiche Gesundheitsreform mit staatlichen Zuschüssen für Medikamente durchzuführen. Später wurde verhindert, dass Bush die Sozialversicherung privatisierte – die Rentnerlobby blockierte mit. Die Organisation ist auch wirtschaftlich erfolgreich. Ihre Tochterunternehmen vermitteln Kredite und Anteile von Investmentfonds, ge-

Fortsetzung von S. 18

tun will, dann kann man sicher nicht pflaumenweich reden.« Münteferings Genossin, die ehemalige SPDSozialpolitikerin Ulrike Mascher, hat ihre Antwort schon lange formuliert. »Wer die Rentengarantie infrage stellt, muss damit rechnen, bei der Bundestagswahl abgestraft zu werden«, sagte sie 2009. Mascher ist die Vorsitzende eines Lobbyverbandes, der mehr Mitglieder hat als CDU und SPD zusammen, 1,5 Millionen Menschen. Dessen Zentrale in München-Schwabing sieht so harmlos aus wie die Filiale einer Bausparkasse, aber wenn man Mascher nach der Macht ihres Verbandes fragt, dann sagt sie: »Die Rentner haben wir alle schon, nun kommen die anderen auch.« VdK heißt die Organisation, ursprünglich: Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands. Was der ADAC für Deutschlands Autofahrer ist, das ist der VdK für Deutschlands Rentner.

Die jetzige Generation 50 plus ist die reichste, die es je in Deutschland gab Allein im vergangenen Jahr kamen beim VdK 150 000 Neue dazu. Bald wird der Verband so groß sein wie die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Und mindestens so schlagkräftig: Zu einer Demonstration gegen drohende Kürzungen durch die Agenda 2010 kamen im Jahr 2004 fast 30 000 Menschen nach München – die größte Rentnerdemo in der Geschichte der Bundesrepublik. »Wenn wir etwas wollen, dann geht es sofort um Millionen«, sagt die 72-jährige VdK-Präsidentin – und hat keinerlei Sorge, dass irgendwer diesen Satz maßlos finden könnte. Aus ihrer Zeit als Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales – in den Jahren 1998 bis 2002 – kennt sie noch die richtigen Leute. Damals brachte ihre Regierung allerdings auch manche Gesetzgebung auf den Weg, die Maschers Verband heute bekämpft. Ulrike Mascher ist ziemlich gut darin, Einzelinteressen als Gemeinwohl zu verkaufen. Wird sie bei der Bundeskanzlerin vorstellig, darf sie auf Gehör hoffen. So war es auch bei ihrer Kampagne gegen Altersarmut. Dieses Thema entdeckte die VdK-Präsidentin vor drei Jahren und brachte es mit Plakaten, Flugblättern und Veranstaltungen auf die Tagesordnung der Politik. Mit Absicht stellte der VdK dabei eine Verbindung zur Kinderarmut her. »Die armen Kinder von heute sind ja die armen Rentner von morgen«, sagt Mascher. Ein leerer Satz. Tatsächlich werden aus benachteiligten Kindern nur dann benachteiligte Ältere, wenn dem Staat das Geld oder der Wille fehlt, sie zu fördern. Mascher trifft sich oft mit führenden Leuten im Bundesministerium für Soziales, und ihre Gespräche zahlen sich aus: Schon in diesem Monat wird eine neue Regierungskommission zusammenkommen, die sich nicht der Kinder-, sondern allein der Altersarmut widmet. Das ist, im Sinne der Interessenvertretung, legitim, aber es hat auch eine Komponente von Wahnwitz. Denn Altersarmut kommt in Deutschland weit seltener vor als in anderen Industrienationen. Das haben Wirtschaftswunder und Sozialstaat erreicht. Nur zweieinhalb Pro-

zent der 20 Millionen Rentner beziehen Grundsicherung, Sozialhilfe für Ältere. Ihre finanzielle Situation zu verbessern ist ein ehrenhaftes Anliegen – sie aber zu einem Sinnbild für die trostlose Lage einer ganzen Generation zu stilisieren ist grotesk. Tatsächlich ist die Generation 50 plus die reichste Generation von Älteren, die es in Deutschland je gegeben hat. Den über 50Jährigen gehört ein Nettovermögen von etwa zwei Billionen Euro. Jährlich geben sie, so das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, rund 500 Milliarden Euro für Konsumgüter und Dienstleistungen aus – das entspricht der Hälfte der deutschen Kaufkraft. 80 Prozent aller Neuwagen in Deutschland werden von Menschen gekauft, die älter sind als 50. Rund 80 Prozent aller Kreuzfahrten werden von ihnen gebucht. 18 Milliarden Euro geben sie fürs Reisen aus, das sind knapp 50 Prozent der Jahresumsätze in der Tourismusbranche. Dass auch VdK-Mitglieder nicht mehr auf jeden Cent schauen müssen, erfährt der Verband schmerzhaft am Beispiel seiner eigenen Mittelklassehotels. Dort konnten Mitglieder zu günstigen Preisen einfachen Urlaub machen – in der Rhön, im Bayerischen Wald. Inzwischen muss der VdK viele seiner Häuser verkaufen, die Gäste bleiben aus. Ein Einzelzimmer für 37 Euro pro Nacht (mit Frühstück) im VdK-Hotel bei Berchtesgaden ist offenbar weniger attraktiv als Entspannung in der Toskana oder Wellness auf Mallorca. Den Autoren des Sechsten Altenberichts der Bundesregierung aus dem Dezember 2010, der sich mit »Altersbildern« beschäftigt, ist der Reichtum vieler Älterer geradezu unheimlich: Beschwörend weisen sie darauf hin, das Alter sei zwar nicht gleichzusetzen mit »Verfall, Krankheit und Abseitsstehen«, aber eben auch nicht mit »Vergnügungssucht und Kreuzfahrten auf Luxuslinern«. Ihr Wohlstand verschafft den Älteren Einfluss. Komfort. Unabhängigkeit. Aber er bringt ihnen auch Neid. Die reichen Alten ziehen den Unmut von Jüngeren auf sich, die mehrfach finanziell belastet sind – die gleichzeitig Kinder versorgen, sich im Beruf etablieren müssen und die Rentenbeiträge zahlen. Unter den Jüngeren sind viele, die sich durch die Drohkulisse einer apokalyptischen Rentnermacht angesprochen fühlen. Wenn die Älteren sie von pauschalen RobinHood-Fantasien – den Alten nehmen, den Jungen geben – abbringen wollen, dann müssen sie selbst das Thema wenden: Eine Debatte über Solidarität muss daraus werden. Schon heute schießt der Staat jährlich 80 Milliarden Euro – der gesamte Bundeshaushalt umfasst 307 Milliarden Euro – zu, um die Renten bezahlen zu können. Was läge näher, als wohlhabende Alte an dieser Kraftanstrengung stärker zu beteiligen, indem man große Vermögen höher besteuert? Diese Diskussion sollten die ziemlich gesunden, gebildeten und materiell gut ausgestatteten 70-Jährigen selbst anstoßen, laut und deutlich, und möglichst schnell. Es liegt in ihrer Macht. Mitarbeit: ANITA BLASBERG, ANNA KEMPER, ROLAND KIRBACH, HENNING SUSSEBACH, STEFAN WILLEKE

VON FRIEDERIKE SCHRÖTER

währen den Mitgliedern Rabatte bei Versicherungen, Reisen, Hotels und Mietwagen. Ähnliche Angebote soll es auch beim deutschen GND geben. Zunächst will Claudia Rutt Telefonberatungen anbieten und den Verein im Internet stark machen. 48 Euro soll die Mitgliedschaft im Jahr kosten – kaum mehr, als der ADAC für seine Pannenhilfe verlangt. Das Prinzip ähnelt dem der »Gelben Engel« des Automobil-Clubs: Ganz gleich, ob man arbeitslos geworden ist, Rat bei Geldanlagen sucht oder sich mit der Frage plagt, warum die eigenen Kinder nie anrufen: Man wählt die Telefonnummer, die im Flur an der Pinnwand hängt. Schon meldet sich ein »Grauer Engel« – und erklärt, beruhigt, vermittelt. Außerdem will Rutt ein landesweites Freiwilligennetzwerk gründen. In etwa hundert Büros in Deutschland sollen Menschen miteinander in Kontakt kommen, um sich gegenseitig Fähigkeiten zu vermitteln. Dem GND soll gelingen, was dem VdK und andere Organisationen, die älteren Menschen als Lobby dienen, noch nicht geschafft haben: persönliche Lebenshilfe mit politischer Schlagkraft verbinden. Der neue Club, so heißt es in einer Präsentation des GND, solle »Deutschlands größtes Netzwerk zur Wahrung und Förderung der Interessen der Menschen 50 Plus« sein. Beim ADAC in München wartet Michael Ramstetter, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit und Chefredakteur des Magazins ADAC Motorwelt, schon auf den Tag, an dem er in der Mitgliederzeitschrift, in Radio, Fernsehen und Internet von der neuen Initiative berichten kann. »Wenn der GND an den Start geht, werden wir anfangen zu trommeln«, sagt Ramstetter. In wenigen Monaten soll die Mitgliederwerbung beginnen. Am Anfang rechnet man mit 50 000 Mitgliedern, später mit jährlich 100 000 Neuaufnahmen.

Im Sinkflug Entwicklung der Geburten in Deutschland seit 1950 Geburtenstärkster Jahrgang, 1964 1 357 304

1,4 Mio. 1950 1 116 701

ab 1990 Gesamtdeutschland 906 000

1,0

2009 665 126

0,8

0,6 1950

1960

ZEIT-Grafik/Quelle: Statistisches Bundesamt

1970

1980

1990

2000

09

Illustration: Smetek für DIE ZEIT/www.smetek.de

In aller Stille baut der ADAC einen Lobbyverband für ältere Menschen auf

W CHENSCHAU

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Eine Woche zum Kugeln Wie schön, wenn man die Woche voller Energie beginnen kann, und dieses Gefühl auch durch die Nachrichtenlage gestützt wird! Sonntag meldet die Deutsche Presse-Agentur: »Rätselraten um fehlende Brennelementekugeln aus

Jülich.« Es geht um 2285 radioaktive Kugeln, von denen die NRW-Landesregierung gerade nicht weiß, wo sie sind. Nun, das kann passieren. Muss man eben suchen. Brennelemente zerfallen ja nicht so schnell, man wird sie wiederfinden.

Montag meldet dpa, sich auf die Rheinische Post berufend: »Brennelemente aus Jülich in Asse gebracht.« Gut zu wissen, auch wenn das kein gutes Deutsch ist. Stunden später bringt dpa den Bundesumweltminister: »Röttgen will Klarheit

über Jülicher Atom-Kugeln«. Noch eine Stunde später, dpa aus Jülich: »Wir vermissen keine Brennelemente.« Am Dienstag die Atomaufsicht, laut dpa: »Brennelementkugeln lagern in Jülich.« Bleibt es dabei? Oder geht das so weiter? Wär doch

was fürs Fernsehen, jede Woche neu, die erste deutsche Nuklear-Karaoke-Soap nach dem Erfolg aus Japan: DSDS – Deutschland sucht die Strahlekugeln. Und die Quote wird in Millijülich gemessen!

Kachelmanns Frauen 50 000 Euro für medienwirksame Bekenntnisse und ein blinder Feminismus: Der Mannheimer Strafprozess als gesellschaftliches Lehrstück VON SABINE RÜCKERT

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Fotos [M]: dpa (2); Natalie Nollert/dapd/AP (v.l.n.r.)

enn ein Krokodil einen besonders mächtigen Brocken verschluckt, dann presst es ihm das Wasser aus den Augen – die sogenannten Krokodilstränen. Auch die Zeugin Viola S., eine der vielen Exgeliebten des Wettermoderators Jörg Kachelmann, vergießt vor dem Landgericht Mannheim Tränen. Die Diplom-Kauffrau Viola S. hatte am 29. April 2010 – nachdem ihr klar geworden war, dass der wegen angeblicher Vergewaltigung einer anderen Frau festgenommene TV-Meteorologe Kachelmann einen ganzen Harem unterhielt – die Titelseite der Illustrierten Bunte geschmückt und im Heftinnern unter dem Decknamen Isabella ihren ehemaligen Liebhaber nach Kräften schlechtgemacht. Sie habe ihm »blind vertraut«, hieß es dort und: »Er hat mein Leben zerstört.« Die Fotos des zehn Seiten umfassenden Berichts zeigten eine junge Frau, onduliert im Look der Arztromane aus den fünfziger Jahren und mit leidender Miene. Allerdings ist jetzt, zwei Tage vor ihrem Zeugenauftritt in Mannheim, herausgekommen, dass Viola S. für die Darbietung ihres Intimlebens den Brocken von 50 000 Euro geschluckt hat. Vielleicht mag deshalb kaum einer im Saal mitweinen. Auch die Richter der 5. Großen Strafkammer sehen unbeeindruckt aus, einer rügt die »Respektlosigkeit« der Frau, die – um ihre Zeugenrolle wissend – vorher noch »zur Presse marschiert« sei. Viola S. will sich herausreden, sie habe keine Erfahrung mit den Medien gehabt, sie habe noch nie zuvor ein Interview gegeben. Weder habe sie den Hintergrund der Ablichtungen ausgesucht noch die Inszenierung bestimmt. »Ja, Sie haben sich auch nicht hingesetzt und sich auch nicht fotografieren lassen«, fährt Kachelmanns Verteidiger Johann Schwenn sarkastisch dazwischen. Sie habe Kachelmann jahrelang geglaubt und vertraut, fährt die Zeugin fort, sie habe seine Söhne in Kanada gekannt und mit einer Heirat gerechnet, dann aber plötzlich Dinge erfahren müssen, »die mich umgehauen haben«. Angesichts dieser Katastrophe seien ihr »ganz, ganz viele Gedanken durch den Kopf gegangen« und »ganz, ganz viele Gefühle« auf sie eingestürzt. Die Abrechnung in der Bunten nennt sie »meine Art, mit der Sache umzugehen«. Fast ein Jahr vor ihrem öffentlichen Auftritt vor Gericht, am 1. April 2010, hat die Zeugin Viola S. eine Aussage bei der Polizei gemacht, in der sie die Beziehung zu »Jörg« deutlich weniger innig und vertrauensvoll schildert. Dort steht, sie habe »permanent versucht, in sein Leben reinzukommen«, habe aber immer draußen gestanden. Er habe zwar oft geäußert, »dass er mit mir zusammen sein will, in letzter Konsequenz habe ich aber gemerkt, dass dies nicht

der Fall ist«. Auch dass der mit der Logistik Wünschen. Fabulierten von der großen Liebe, obseiner vielen Amouren zeitweise überforderte wohl die meisten ihn doch bloß ein paar Mal im Kachelmann zu faustdicken Lügen griff, wusste Jahr zu Gesicht bekamen. Manche hofften auf die Zeugin, die ihm laut der Bunten doch »blind bessere Zeiten, manche schickten ihm scharfe vertraut« haben will. Selbstporträts, andere versuchten es mit bitteren Im Dezember 2003 hatte er das gemeinsame Vorwürfen. Alle wurden von dem Fernsehstar mit Weihnachtsfest mit Viola S. per E-Mail abgesagt, durchsichtigen Schwindeleien, inhaltsarmen SMS angeblich weil er sich dringend einer Sexualthe- und oberflächlichen E-Mails abgespeist und fierapie in den USA unterziehen müsste. Später er- berten vor sich hin – dem nächsten Treffen entfuhr Viola S. von Kachelmann selbst, dass das gegen. Für keine hatte er wirklich Zeit. Keine war Humbug war. Im Sommer 2004 ersann Kachel- wirklich zufrieden. Aber die meisten spielten mit. mann kurz vor dem gemeinsamen Sommerurlaub Kachelmanns Methoden mögen verwerflich gemit Viola eine schwere genetische Erkrankung, wesen sein – undurchschaubar waren sie nicht. die dringend behandelt werden müsse. Vor ge- Deshalb verrät der Kachelmann-Prozess nicht nur planten Ferienreisen oder Feiertagen sei Jörg oft viel über den Lebenswandel einer Bildschirmfigur, überraschend von heftigen Übeln heimgesucht sondern auch über die weibliche Bereitschaft zum worden, berichtete Viola S. der Polizei. Um die Selbstbetrug. Eine allerdings hat Verständnis für all das: Frau auf Abstand zu halten, machte Kachelmann ihr sogar einmal vor, er leide an Krebs, man habe Alice Schwarzer. Für Bild kommentiert die 69-jähetwas »in seinem Magen gefunden«, Viola solle rige Feministin das Geschehen vor dem Landihn ziehen lassen, er müsse »jetzt alleine kämpfen«. gericht Mannheim, ohne selbst in nennenswertem Alles Unfug, erfuhr sie später. Und als er im Feb- Umfang am Prozess teilzunehmen. Das hindert sie ruar 2010 in einer E-Mail aus nicht, im Massenblatt Stimmung Kanada wieder einmal behauptegegen den Angeklagten zu machen te, eine schwere psychische Erund blindlings Partei für jene krankung auszubrüten, war für Exgeliebte Claudia Simone D. zu Frau S. auch das bloß eine weitere ergreifen, die ihn im Februar 2010 Ausrede, »um mich nicht sehen wegen Vergewaltigung angezeigt hat und deren Glaubwürdigkeit zu müssen«. Sieben Jahre soll die Bezievon Anfang an äußerst zweifelhaft hung gewährt haben inklusive war. In privaten E-Mails hat einer zweijährigen Unterbre- Angeklagter Kachelmann, Schwarzer dem angeblichen Opfer chung, nach welcher sie ihm im Alice Schwarzer von schon zu Prozessbeginn Mut zuJanuar 2007 gesagt haben will, »Bild« (l.), Zeugin Viola S. gesprochen (»Bleiben Sie stark!«) dass sie seine Lügen satthabe. und es zu sich nach Köln eingeUnd nun plötzlich der Vorwurf laden (»vielleicht würde Ihnen das des missbrauchten Vertrauens. Viola S. ist eine ja sogar Spaß machen? Bitte geben Sie mir ein intelligente Frau von 32 Jahren, die jedenfalls Zeichen ...«). Dort sollte D. nach dem Prozess das medienerfahren genug war, um als Einzige unter Manuskript von Schwarzers geplantem Kachelden in der Bunten lästernden Kachelmann-Ge- mann-Buch vor der Veröffentlichung gegenlesen. liebten beim Burda-Verlag die Rekordsumme In den Medien beklagt Schwarzer Kachelmanns von 50 000 Euro herauszuschlagen. Soll man Verlogenheit und wirft ihm vor, er habe etliche glauben, dass sie all die Jahre nichts von der Be- Heiratsversprechen gegeben und nicht gehalten. schaffenheit des Mannes gemerkt hat, mit dem Wir hören richtig: Heiratsversprechen! Ist sie da zusammen war? Und all die anderen Frau- das nun übrig geblieben vom Feminismus? Ist en, die sich gegen Geld öffentlich als Kachel- das nun die Frauengeneration, die Alice mann-Geschädigte vorstellten und den Wetter- Schwarzer sich ausgemalt hat und für die sie moderator mit Dreck bewarfen – sind sie Opfer gekämpft haben will? dieses Mannes? Oder sind sie bloß ihrer eigenen Autonomie ist die zentrale Idee der Moderne. Verblendung aufgesessen? Der Mensch bestimmt sich selbst. Alles läuft daRichtig ist, dass Kachelmann Frauen belogen rauf zu – ganz besonders im Leben der Frauen. und ausgenutzt hat. Er gaukelte ihnen große Sie fordern Handlungsfreiheit. Sie wollen selbst Gefühle und eine gemeinsame Zukunft vor, er entscheiden, ob und wann sie ein Kind bekomerfüllte seine Schwüre nie, sondern löste Ver- men, ob sie sich an einen Mann binden oder nicht. sprechen mit weiteren Versprechen ein. Solche Sie streben in die Vorstandsetagen der UnternehMänner gibt es. Bleibt die Frage, warum viele men. Sie wollen Posten. Sie wollen das Sagen dieser angeblich modernen selbstbewussten Ge- haben in der Politik und den Universitäten. Sie liebten sich so lange so behandeln ließen. Nicht wollen mehr Geld, ihre Meinung äußern, unwenige richteten ihr Leben nach Kachelmann aus. abhängig sein, sich durchsetzen, die Welt der Einige zogen seinetwegen um. Wieder andere Männer umkrempeln und – sie besser machen. nahmen Geld von ihm. Warteten. Erbettelten Zu- Und das alles völlig zu Recht. Aber Selbstbestimmung bedeutet auch, Versammenkünfte. Machten sich klein. Unterwarfen sich seinem Terminkalender, seinen sexuellen antwortung für das eigene Leben zu tragen – für

das, was einem widerfährt, und für das, was man sich gefallen lässt. Selbstbestimmung ist das Gegenteil von Selbstbetrug. Wollen die Frauen auf der einen Seite Menschen führen und sich gleichzeitig in Liebesdingen benehmen wie die kleinen Kinder, die noch das Abwegigste glauben, was man ihnen vorsetzt? Die aus allen Wolken fallen, weil einer sie anlügt, und dann zu Illustrierten laufen, um sich dort öffentlich selbst zu therapieren? Wer will solche Frauen ernst nehmen? Alice Schwarzer tut es. Aus der munteren Vorkämpferin der Frauenbewegung ist eine böse Großmutter geworden, die sich mit Personen solidarisiert, die würdelos handeln und die ihre intimsten Erlebnisse zu Geld machen. Früher wollten Feministinnen vom Schlage Schwarzers die Frau aus der Knechtschaft der Ehe befreit sehen, heute bejammern sie, dass Kachelmann sein Eheversprechen nicht hält. Aber womöglich sind die beleidigten Exgeliebten ohnehin nur die Werkzeuge ganz anderer Interessen. Das jedenfalls vermutet Kachelmanns Verteidigung. Während der vier Monate, die der Moderator 2010 in Untersuchungshaft saß, versuchte sein Teilhaber Frank-Bernhard Werner nämlich, ihn aus der gemeinsamen Wetterfirma Meteomedia zu drängen. Als Jörg Kachelmann sich weigerte, das Feld zu räumen, hat es in der Firma Überlegungen gegeben, ihn mithilfe der Presse zu erledigen. Er sollte in der Öffentlichkeit als psychisch defektes Monstrum dargestellt werden. Das legt eine E-Mail seines Geschäftspartners nahe, die dieser an weitere Firmenmitglieder geschrieben hatte und die nun in öffentlicher Hauptverhandlung verlesen wurde. Darin heißt es, man habe »sich bereits ein paar Gedanken über einen ›nuklearen Erstschlag‹« gegen Kachelmann gemacht: »Wir werden bar jeder Hemmung intern wie extern aufgrund jk’s multiplen Fehlverhaltens den Bruch der Firma mit ihm bekannt geben (vielleicht mit dem freundlichen Hinweis: ›wenn er wieder gesund ist ...‹) und mit einschlägigen Artikeln in Blick, Bild, Bunte, Stern weitere unappetitliche Details seines kruden Privatlebens streuen, die auch dem treuesten jk-Anhänger die Unzumutbarkeit der weiteren Zusammenarbeit klarmachen.« Ob dieser Vernichtungsplan verwirklicht worden ist, dürfte das Landgericht demnächst beschäftigen. Werner wird womöglich als Zeuge aussagen müssen. Die aufgezählten Blätter haben jedenfalls gegen Kachelmann geschrieben. Sollte sich zuletzt herausstellen, dass tatsächlich feindliche Machenschaften in der eigenen Firma hinter der medialen Schmähkampagne gegen den Angeklagten stecken, dann hätten sich einige von Kachelmanns Frauen ein weiteres Mal zum Narren halten lassen. Jörg Kachelmann hat übrigens am 9. März geheiratet.

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GESCHICHTE Abb.: Domschatz im Historisches Museum der Pfalz Speyer 2011 (o.); Staats- und Universitätsbibliothek, Bremen

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Himmelsheld: Vor 50 Jahren flog Jurij Gagarin als erster Mensch ins All S. 22

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Kampf der Kaiser Eine brillante Schau in Speyer erzählt die dramatische Geschichte der Salier, die von 1024 bis 1125 die deutschen Könige und Kaiser stellten VON SVEN BEHRISCH

Aus dem Speyerer Domschatz: Die Grabkrone des ersten Salierherrschers Konrad II.

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nerhörtes ereignet sich am 12. Februar des Jahres 1111. Der Salierkönig Heinrich V. ist nach Rom gereist, um sich zum Kaiser krönen zu lassen. Er hat mit Papst Paschalis II. einen Kompromiss ausgehandelt, um den seit mehr als einem halben Jahrhundert schwelenden Investiturstreit zu beenden, der das Heilige Römische Reich beinahe zu zerreißen droht. Entbrannt ist der Konflikt 1071 zwischen Heinrichs Vater, Heinrich IV., und Papst Gregor VII. über die Frage, ob weltliche Fürsten auch weiterhin das Recht haben sollen, Bischöfe einzusetzen. Nun scheint endlich eine Lösung in Sicht: Der König, so haben sich Heinrich V. und der Papst geeinigt, soll künftig keine Personen mehr in geistliche Ämtern erheben dürfen. Dafür verpflichtet sich der Papst, dem Reich sämtliche Territorien zurückzugeben, über welche die mächtigen Bischöfe als geistliche Fürsten verfügten. Doch als der Kompromiss in Rom verlesen wird, bricht lauter Tumult los: Die Bischöfe sehen sich unversehens ihrer weltlichen Macht beraubt und protestieren. Heinrich setzt daraufhin den Papst gefangen und zwingt diesen, ihn zum Kaiser zu krönen – unter seinen, Heinrichs, Bedingungen. Sie lauten: Alles bleibt beim Alten! Es ist der Anfang vom Ende seiner Herrschaft. Und damit auch der Anfang vom Ende der Salierzeit. Das Historische Museum der Pfalz in Speyer widmet dieser Dynastie, die vier Kaiser hervorbrachte und das später so genannte Heilige Römische Reich in einer seiner schwersten Krisenzeiten beherrschte, nun eine große Schau. Den Auftakt bilden die Ereignisse in Rom. Um die Brisanz der Geschehnisse zu verdeutlichen, die damals ganz Europa erschütterten, flimmert von einem Monitor im ersten Raum der Ausstellung das vertraute Gesicht von heute-Moderator Claus Kleber, der aus dem ZDF-Studio die Brandmeldung verliest: Die Kirche verzichtet auf weltlichen Besitz! Der Papst wurde gefangen genommen! Welche Konflikte hinter diesen Ereignissen standen, das entfalten die Ausstellungsmacher in den nachfolgenden Räumen. Schließlich ging es nicht um die Frage allein, wer befugt ist, Bischöfe zu ernennen. Es ging um das Verhältnis von Kirche und Staat. Es ging um Macht und Einfluss. Und es ging, seitens der Kirche, um eine grundsätzliche Neuorientierung. Eine Welle der geistlich-religiösen Erneuerung rollte von der Jahrtausendwende an durchs Reich. Die Kirche drängte auf Reformen: Die Geistlichkeit, lautet ihr Wille, solle zu ihren eigentlichen

Werten zurückfinden, zu Verzicht und Demut. Im Gegensatz zur bombastischen Mannheimer Der päpstliche Ruf nach Rückbesinnung hatte Staufer-Schau von 2010 vermeiden es die Speyerer dabei nicht nur auf den Klerus Einfluss – er be- unter Museumsleiter Alexander Koch – der gerade wegte die Massen. Lang gepflegte Koalitionen zum Direktor des Deutschen Historischen Musezerbrachen. Die Beschwörung einer kollektiven ums in Berlin bestellt wurde –, eine Materialschlacht Höllenfahrt brachte manchen Landesfürsten da- zu veranstalten. Statt sich in die Gefahr zu begeben, zu, seine Loyalität zum König aufzukündigen unter der Überfülle thematisch zu kollabieren, konund damit den Herrscher als ungläubig und un- zentriert man sich in Speyer klug auf besonders glaubwürdig dastehen zu lassen. aussagekräftige Episoden, die im Kleinen das große Die Salierzeit, die mitten in diese turbulenten Weltgeschehen spiegeln. Statt alles erzählen zu Jahrzehnte fiel, währte nicht lange. 1024 begann wollen, bietet die Schau ausgewählte Themen. sie überhaus verheißungsvoll. In diesem Jahr endeNeben der Rolle der Kirche ist dies vor allem das te die Epoche der Ottonenkaiser. Der erste Salier, Erstarken der Städte im Hochmittelalter und der Konrad II., kam auf den Thron und führte das wachsende Einfluss der Klöster. Inspiriert durch den Reich dem Höhepunkt seiner Macht und Aus- Orden von Cluny, der in Frankreich ein strenges, dehnung entgegen. Doch nur hundert Jahre später, asketisches Regime etablierte, kam es auch hier1125, endete die Herrschaft der zulande zu zahlreichen NeugründunSalier im Desaster, mit Heingen. Hierzu gehört das Kloster Hirsau rich V. Diese einhundert Jahre im Schwarzwald, von dem heute nur waren ein einziger Kampf: gegen noch die Ruine kündet. In Speyer ist die Fürsten, gegen die Kirche eine aufgeschlagene Handschrift der und, im Fall Heinrichs V., auch Constitutiones Hirsaugienses zu sehen gegen den eigenen Vater. Diesen – ein Dokument, das die neue Ord– Heinrich IV. – hatte er mitnung bezeugt, zu der die Mönche sich hilfe rebellischer Fürsten gefanverpflichteten. Das politisch wichtigsgen genommen, um ihn vom te Merkmal der Hirsauer Regeln liegt Thron zu stoßen. Der Brief in dem Prinzip der Selbstinvestitur, Heinrichs IV. aus der Haft, den also der Ernennung des Abtes durch die Ausstellung zeigt, ist ein erdas Kloster selbst, sogar dem Bischof schütterndes Dokument der Verwar jede Einmischung verboten. Doch nicht nur die administrative zweiflung. Inständig appelliert Geistliche und weltliche »der im ganzen Erdkreis hei- Macht: Bildnis des Salier- Struktur, auch die Details des klöstermatlose Vater an das geliebte kaisers Heinrich III. lichen Lebens sind in den ConstituKind«, ihn freizulassen, um nicht tiones aufs Genaueste geregelt. Habe, noch alles schlimmer zu machen. so liest man darin, ein Mönch in der »Sieh, dass die Zwietracht unser Reich verheert [...]. Nacht Nasenbluten, unternehme er nichts, als den Das Kirchenschisma ist entstanden, die Welt ist Abt zu wecken. Dieser habe dem Blutenden dann überall uneinig, der Klerus mit dem Volk, der Pöbel ein Glas Wasser zu bringen. Eng einher gingen auch das Aufkommen der mit dem Adel.« Die Frühzeit der salischen Herrschaft behan- neuen alten Religiosität und der Aufstieg der delt die Speyerer Schau nur stichpunktartig. Kein Städte. Eindrücklich zeigt dies die Geschichte Wort und kein Bild finden sich etwa von dem Speyers selbst: Passenderweise feiern in diesem berühmten »Gang nach Canossa« aus dem Jahr Jahr die Weihe des Speyerer Doms 1061 ebenso 1077: In Canossa hatte Papst Gregor VII. den wie die Verleihung von Privilegien an die Stadt Kirchenbann gelöst, den er infolge des Investitur- im Jahr 1111 runde Jubiläen. Mit dem Eklat von streits über Heinrich IV. verhängt hatte. Nur auf Rom aus demselben Jahr gibt es also gleich drei einem der unvermeidlichen Touchscreens kann Anlässe, das Salierjahr auszurufen. Wieso ausman sich mit Heinrich IV. interaktiv über die Al- gerechnet Speyer die letzte Ruhestätte sämtlicher pen klicken. Der Verzicht ist einerseits schade, Salierkaiser wurde, ist indes historisch nicht abweil Canossa wie wenige andere Ereignisse der schließend geklärt. Der Frankfurter Historiker deutschen Geschichte die nationale Mythenbil- Caspar Ehlers zitiert in seinem Beitrag zum vordung beflügelt hat. Andererseits war der späterhin züglichen Katalog den Speyerer Bischof Walther viel diskutierte »Gang« erst 2006 das Thema einer (1006–1031), der den Ort wenig respektvoll als vaccina, als Kuhdorf bezeichnete. Doch obwohl spektakulären Ausstellung in Paderborn.

er sie nachweislich nur ein einziges Mal besuchte, förderte Konrad II. die Stadt nachhaltig. Besonders gilt dies für den Bau des Doms, der heute neben den Kathedralen in Mainz und Worms zu einem der bedeutendsten Bauwerke der Romanik am Rhein zählt. Die Ausstellung im Museum der Pfalz befindet sich in Sichtweite der mächtigen Kirche und zeigt auch einige der liturgischen Gerätschaften, die bei der Weihe zur Anwendung kamen. Von Bedeutung für die damalige Zeit war die Domweihe insofern, als sie einen Akt der Reinigung (durchaus auch im Geiste der Kirchenreformer) darstellte: So wie die Absolution durch den Papst und die Reinigung von Sünden für die Legitimität des Kaisers entscheidend war, so musste auch der Kirchenraum spirituell gesäubert werden, um funktionsfähig zu sein. Daher der kleine, schmucklose Eimer aus Eisen, in den der Schwamm getaucht wurde, um die Kirchenwände mit Weihwasser zu benetzen. Daher auch der Kamm aus Elfenbein, mit dem sich der Bischof durchs Haar fuhr, um, so der Regelkatalog, »die krausen Gedanken auszubürsten«. Die neuen Rechte, die Speyer fünfzig Jahre später erhielt, und das neue Selbstbewusstsein, das die Stadt nun an den Tag legte, brachte die Kirche allerdings auch in Bedrängnis. Kaiser Heinrich V. befreite die Bürger der Stadt im Jahr 1111 von einem Teil ihrer Abgaben – zulasten des Bischofs. Schlimmer noch für den Bischof aber war der Anlass des Privilegs. Die Speyerer verpflichteten sich nämlich, regelmäßig des Todestags des exkommunizierten Heinrich IV. zu gedenken; der Kaiser hatte seinen Vater inzwischen rehabilitiert. Und wie eine Ohrfeige schließlich muss es den Kirchenfürsten getroffen haben, dass Heinrich die Rechte der Bürgerschaft auch noch in goldenen Lettern über dem Westportal des Doms anbringen ließ. Sie sind leider nicht erhalten. Stattdessen sieht man in der Ausstellung den Stolz des Speyerer Stadtarchivs: eine Urkunde des Stauferkaisers Friedrich Barbarossa, deren rotes, fast faustgroßes Kaisersiegel die Privilegien eindrucksvoll bestätigt. Doch gezeigt wird auch, was sich die Bürger von ihren Sonderrechten kaufen konnten. Es ist ernüchternd. Karge, kaum verzierte Tongefäße, primitive Wetzsteine und andere eher schlichte Haushaltswaren. Alle Herrschergeschichte wird klein, sobald sie vom Volk erzählt. Die Ausstellung »Die Salier. Macht im Wandel« ist vom 10. April bis 30. Oktober 2011 im Historischen Museum der Pfalz in Speyer zu sehen. Der Katalog (Edition Minerva), 2 Bde., kostet 39,90 Euro

Zeitmaschine Ein Ausflug in die Vergangenheit – diese Woche mit FERIDUN ZAIMOGLU Die erste Frau und der erste Mann auf der Erde rüttelten mich wach. Es brannte ein Feuer hinter ihnen, und ich bekam Angst vor den flackernden Schatten am Fels der Grotte. Die Menschen schlank, sie standen aufrecht, sie hatten ihre Blößen mit Fell bedeckt. Er wandte sich ab, drückte die Handkanten aneinander, tauchte die Hände in eine Lache am Boden, sah zu mir herüber. Ich tat es ihm gleich, trank klares kaltes Wasser. Ich sagte: Könnt ihr mich verstehen? Sie wichen vor mir zurück – ich hatte, um das unentwegte Prasseln zu übertönen, in rauen Lauten gesprochen. Die Frau stimmte einen leisen Singsang an, und da ich schweigend verhielt, kamen sie näher. Er zeichnete mit dem spitzen Ende eines Steins auf einem Streifen Balg, es waren Bilder ihrer ersten Stunden auf dieser Welt. Zwei Menschen brachen kopfüber durch die Wolken, sie fielen ins Meer und trieben ans Land. Und auch wenn sie sich nicht auskannten im neuen Ödland, sie wussten, wie man Schneisen in die Wildnis trieb. Ich lauschte dem Regen, starrte auf den bemalten Balg. Täuschten sie mich, trieben sie ein übles Spiel mit mir? Der Mann reichte mir den Stein, und ich versuchte mich in einer einfachen Zeichnung der Zeitmaschine, in plumpen Bildern meiner Reise in den Anbeginn der Geschichte. Sie schlug mir auf die Hand, ging zum Feuer, kam zurück und legte mir einen Spieß mit Fleischstücken vor die Füße. Sie schauten mir beim Kauen und Schlucken zu, sagten kein Wort. Ich wunderte mich: Diese ersten Menschen waren keine affenähnlichen Zwitter. Ein Schatten löste sich von der Felswand. Ihr Kind, das erste Kind auf der Erde, zupfte an meinem Hosenbein; sein Vater und seine Mutter hatten braune Augen, es hatte strahlend blaue Augen, wie konnte das sein? Es warf fünf kleine Muscheln in die Luft, fing sie einzeln auf. Ich spielte mit und war aber ungeschickt. Wenn meine Frist verstrich, würde ich vor ihren Augen verblassen und verschwinden. Plötzlich erstarrte die Frau, stieß schöne leise Laute aus, der Mann half mir auf und zog mich in die Nähe der brennenden Scheite. Im Schein des Feuers betrachtete er meinen Oberkörper, er rief das Kind, zog ihm das Fell hoch. Sie versuchten, mir in anmutigen Gebärden etwas zu erklären, ich verstand sie nicht. Da aber entblößten der erste Mann und die erste Frau ihre Leibesmitte: Sie hatten keinen Bauchnabel. Der Autor ist Schriftsteller und lebt in Kiel. Sein jüngster Roman »Hinterland« erschien 2009 im Verlag Kiepenheuer & Witsch (448 S., 19,95 €)

ZEITLÄUFTE

laus Töpfer soll nun den Weizsäcker machen. Wir erinnern uns: 1985, zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, brachte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker von der CDU den Parteifreunden und konservativen Mitbürgern auf seine silbersanfte Art bei, dass es zwischen 1933 und 1945 irgendwie nicht rund gelaufen ist in Deutschland, dass es nicht nur schändlich war, Juden und Behinderte umzubringen, sondern dass es auch ganz und gar nicht in Ordnung ging, Polen und Russen, Zigeuner und Homosexuelle zu ermorden. Und dass folglich der Tag der deutschen Kapitulation durchaus der Tag der deutschen Befreiung war. Eine »mutige Rede« nannten das die Konservativen und nickten die Sache ab. So viel zur Vergangenheit. Jetzt also die Zukunft. Jetzt muss Klaus Töpfer ran, Kanzler Kohls zweiter Umweltminister. Er soll den lieben CDU-Parteigenossen und -Wählern beibringen, was seit über dreißig Jahren in jeder Anti-AKW-Fibel steht (und seit ca. 14 Tagen auch in der FAZ). Gar nicht so einfach. Aber am Schluss werden sie alle nicken: Ein mutiger Mann! B.E.

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GESCHICHTE

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

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Held des Himmels

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chneller noch, als Jurij Gagarin in seiner engen Kapsel die Erde umkreist, fliegt die Nachricht vom ersten Menschen im All um die Welt. Am 12. April 1961 um 10.02 Uhr unterbricht das Moskauer Radio sein Programm, und eine vertraute Stimme spricht: »Achtung, Achtung! Hier sind alle Rundfunkstationen der Sowjetunion. Wir verlesen eine Mitteilung der Nachrichtenagentur Tass.« Es ist die Stimme von Jurij Lewitan; er hat die Menschen in der Sowjetunion durch den Zweiten Weltkrieg begleitet, die Kapitulation Hitlerdeutschlands verkündet und 1953 den Tod Josef Stalins. Die Meldung, die Lewitan jetzt vorträgt, bedeutet den größten Triumph des Landes seit dem Sieg über den Faschismus: »Am 12. April 1961 ist von der Sowjetunion aus zum ersten Mal ein Raumschiff mit einem Menschen an Bord auf die Reise um die Erde geschickt worden. Der Pilot des Sputniks Wostok ist der Bürger der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Fliegermajor Jurij Alexejewitsch Gagarin.« Der Kosmonaut habe den Eintritt in die Erdumlaufbahn gut überstanden und fühle sich wohl. Alle Systeme arbeiteten normal. Zu diesem Zeitpunkt fliegt Jurij Gagarin schon seit einer Dreiviertelstunde mit einer Geschwindigkeit von acht Kilometern pro Sekunde in 200 Kilometer Höhe. Um 9.07 Uhr hat die erste Stufe der Wostok-Rakete gezündet und die Kapsel an ihrer Spitze mit einer Schubkraft von 20 Millionen PS in den Himmel getragen. Gagarin sitzt eingezwängt in einer Kugel von gut zwei Meter Durchmesser und berichtet über Funk an die Bodenstation. Die Steuerung erfolgt automatisch. Westliche Medien werden später spotten, Gagarin sei in seiner Kapsel nur als menschliche Nutzlast mitgeflogen – er sei nicht mehr gewesen als der Baron von Münchhausen auf seiner Kanonenkugel. Für die Ingenieure der sowjetischen Bewusstseinsindustrie aber bricht eine neue Ära an: das kosmische Zeitalter. Gagarins Flug hat in ihren Augen eine Wende herbeigeführt wie vor ihm nur Kopernikus und Kolumbus. Ghostwriter legen dem Kosmonauten denn auch später die Sätze in den Mund: »Als ich die westliche Hemisphäre überflog, musste ich an Kolumbus denken. Unter Mühen und Strapazen hatte er die Neue Welt entdeckt. Ich las darüber in einem Buch von Stefan Zweig.«

Für Nikita Chruschtschow wird ein Märchen wahr

Fotos [M]: Luis Castan\u0303eda/Photoshot (l.); Hulton Getty/ddp

Tatsächlich stellte der bemannte Raumflug die sowjetischen Raumfahrtingenieure vor eine gewaltige Herausforderung. Dass sie einen Flugkörper auf eine Erdumlaufbahn schießen können, hatten sie mit dem Satelliten Sputnik 1 im Herbst 1957 bewiesen. Aber wie schafft man es, dass ein Mensch an Bord den Flug überlebt? Und vor allem: Wie bringt man ihn heil zurück? Neunzig Minuten dauert Gagarins Reise um die Erdkugel. Schließlich schaltet sich das Bremstriebwerk ein, und der Sinkflug beginnt. Zunächst läuft alles wie geplant. Dann aber sieht es einen bangen Moment lang so aus, als würde die Mission doch noch schiefgehen: Beim Eintritt in die Erdatmosphäre koppelt sich die Gerätesektion nicht wie geplant ab. Zehn Minuten lang baumelt sie an einem Kabelstrang, die Kapsel gerät ins Trudeln – bis die Leine endlich reißt. Der Zwischenfall bringt die Landekapsel so weit von ihrer Bahn ab, dass sie viele Kilometer nördlich von dem berechneten Ziel zur Erde geht. In sieben Kilometer Höhe wird der Schleudersitz ausgelöst. Gagarin und sein Fluggerät schweben getrennt an Fallschirmen zur Erde – ein Umstand, der bis zum Beginn der Perestrojka unter Gorbatschow ein Geheimnis bleiben wird. Zeigt er doch, dass das Problem der Landung noch nicht gelöst ist. Um 10.55 Uhr, nach 108 Minuten Flug, hat Gagarin südwestlich der Stadt Engels bei Saratow an der Wolga wieder den festen Boden eines Kolchosackers unter den Füßen. Gestartet war er als Oberstleutnant, aber was der Sprecher Lewitan im Radio verkündet hat, ist korrekt: Noch im Sputnik ist Gagarin auf Anweisung von Kremlchef Nikita Chruschtschow zum Major befördert worden.

Chruschtschow hat allen Grund, dem ersten Kosmonauten dankbar zu sein. Er erkennt, wie wertvoll der Triumph ist, die USA im Wettlauf um den »ersten Menschen im All« geschlagen zu haben. Neben der Großen Oktoberrevolution und dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gegen die Deutschen wird der Kosmos-Kult als dritter Propaganda-Pfeiler bis zum Ende der Sowjetunion dazu beitragen, das System zu stützen. Eine Stütze, die dringend gebraucht wird. Chruschtschow hat zwar mit seiner Geheimrede auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 die Entstalinisierung begonnen und damit eine Tauwetterperiode eingeleitet, noch aber ist nicht klar, was die UdSSR nach Terror, Weltkrieg und Personenkult zusammenhalten soll. Die Aufstände 1953 in der Tschechoslowakei und der DDR, 1956 in Polen und Ungarn haben gezeigt, dass sich die Fliehkräfte im Ostblock verstärken. Der Triumph im Kosmos liefert endlich den notwendigen Schub, um dem ins Schlingern geratenen sozialistischen Experiment neuen Schwung zu verleihen. Fortan wird keine Gelegenheit ausgelassen, die Leistungsfähigkeit der sowjetischen Wissenschaft zu feiern und den Heldenmut ihrer Kosmonauten zu bejubeln. »Der Wunschtraum von der Erstürmung des Kosmos ist wirklich der allergrößte der größten Wünsche des Menschen«, sagt Chruschtschow in seiner Rede beim Festakt für Gagarin auf dem Roten Platz. »Wir sind stolz, dass diesen Wunschtraum, dieses Märchen sowjetische Menschen Wirklichkeit haben werden lassen.« Die Zeit, da manche mit Geringschätzung auf das Land geschaut hätten, sei vorbei. Was der futuristische Dichter Wladimir Majakowski geschrieben habe, bekomme nun eine neue Bedeutung: »Beneidet mich, ich bin ein Bürger der Sowjetunion.« Die Botschaft ist klar: Zum ersten Mal in seiner Geschichte ist Russland dem Westen technisch überlegen; es ist ein Triumph des sozialistischen Gesellschaftsmodells. Wenn aber der Mensch nach den Sternen greift, dann ist nichts mehr unmöglich. Der Entwurf zum neuen Parteiprogramm der KPdSU, der wenig später veröffentlicht wird, verspricht denn auch die Erfüllung eines weiteren großen Wunschtraums: Statt wie unter Stalin Etappenziele in Fünfjahrplänen auszugeben, soll nun der Aufbau des Kommunismus in zwanzig Jahren abgeschlossen sein. Die Partei beruft sich nicht mehr allein auf die Oktoberrevolution, sondern gleichzeitig auf die »wissenschaftlich-technische Revolution«, welche die Sowjetunion im vergangenen Jahrzehnt erlebt habe. So wie die Revolution von 1917 ein neues Zeitalter eingeleitet habe, so markiere der Flug ins All den Beginn der »kosmischen Ära der Menschheit«. Wieder gehe die Sowjetunion voran, verkündet Chruschtschow: »Sozialismus und Kommunismus – das ist das hoffnungsvolle Kosmodrom [der Weltraumbahnhof ], von dem aus die Menschheit die Weiten des Weltalls stürmt und stürmen wird.« Dass ausgerechnet Jurij Gagarin zum Helden dieser neuen Ära wird, liegt nicht an seiner Ausbildung. Allein Fitness und Herkunft waren ausschlaggebend bei der Auswahl eines geeigneten Kandidaten für den ersten bemannten Flug ins Weltall. Der Kosmonaut sollte die Rakete und ihre Kapsel ja nicht steuern. Er musste lediglich den Belastungen, die mit dem Flug ver-

Das 1964 errichtete Denkmal für die Pioniere der Weltraumfahrt am Moskauer Kosmonautenmuseum

Vor fünfzig Jahren flog der russische Kosmonaut Jurij Gagarin als erster Mensch ins All. Die Propaganda jubilierte: Der Erfolg verlieh der kommunistischen Idee neuen Glanz – und machte Gagarin zu einem Weltstar VON JULIAN HANS

bunden waren, körperlich gewachsen sein. Vor allem aber sollte er »seine Epoche verkörpern« – darüber wachte Nikolai Kamanin, Leiter der Auswahlkommission und einer der Fliegerhelden, die im Februar 1934 in einer spektakulären Aktion die Besatzung eines havarierten Forschungsschiffes aus dem Polareis gerettet hatten. Seine Anforderungsliste: »Grenzenloser Patriotismus, unbeirrbarer Glaube an den Erfolg des Fluges, ausgezeichnete Gesundheit, unbesiegbarer Optimismus, geistige Beweglichkeit und Wissbegierde, Kühnheit und Entschlossenheit, Akkuratesse, Liebe zur Arbeit, Ausdauer, Einfachheit, Bescheidenheit, menschliche Wärme und Aufmerksamkeit für die Mitmenschen.« Das alles findet Kamanin in dem 27-jährigen Gagarin mit dem strahlenden Lächeln und den Augen, »in denen sich der Glanz der Sterne widerspiegelt«, wie ein Reporter der Tageszeitung Iswestija später schreiben wird. Der Sohn eins Kolchos-Zimmermanns und einer Bäuerin ist in Gschatsk (heute Gagarin) geboren, einem Ort 200 Kilometer westlich von Moskau. Sein Heimatdorf ist während des Krieges von den Deutschen besetzt. Jurij arbeitet als Gießer am Hochofen und besucht das Technikum in Saratow, bevor er schließlich die Offizierslaufbahn einschlägt. German Titow, der auf den letzten Metern Gagarin den Vortritt lassen muss und vier Monate später als zweiter Mensch ins All fliegt, bringt es auf den Punkt, warum von den Hunderten Militärpiloten, die sich für die Kosmonautenausbildung beworben haben, am Ende Gagarin übrig bleibt: »Lebensweg und Biografie Gagarins haben etwas Symbolisches, denn seine Biografie ist zum Teil die unseres Landes. Sohn eines Bauern, der die schrecklichen Tage der faschistischen Okkupation überlebt hat. Schüler einer Handwerksschule. Arbeiter. Student. Mitglied in einem Fliegerklub. Flieger. Diesen Weg sind Tausende und Abertausende Altersgenossen Jurijs gegangen. Das ist der Weg unserer Generation.« Helden müssen Übermenschliches leisten und zugleich zur Identifikation einladen. Der einfache Junge von der Kolchose, aus dem ein Raumfahrer wurde, verkörpert den sowjetischen Traum: vom Muschik zum Sputnik – vom Bauernlümmel zum ersten Menschen im All.

In Rom gibt’s einen Kuss von Gina Lollobrigida Und zum ersten Weltstar der Sowjetunion: Kaum zur Erde zurückgekehrt, wird Gagarin auf Tournee geschickt. Er trifft nicht nur Fidel Castro und die Führer sozialistischer Bruderstaaten, er taucht ein in den Jetset. In Rom drückt ihm Gina Lollobrigida einen Kuss auf die Wange, und auch Sophia Loren will den ersten Raumfahrer kennenlernen. Gagarin und Titow reisen als Botschafter der Sowjetgesellschaft in jeden Winkel der Erde und sorgen so dafür, dass man bald überall auf der Welt die russischen Wörter mir (Friede) und druschba (Freundschaft) versteht. Nie zuvor und nie danach ist die Sowjetunion so positiv wahrgenommen worden. Die Kosmonauten stehen für einen Sozialismus, wie es ihn nie gegeben hat, sie repräsentieren das Wunschbild einer besseren Welt: strahlend, fortschrittlich, alle Menschen in einem höheren Ziel vereinend. In ihrer Heimat nimmt die Kosmos-Begeisterung unterdessen geradezu fantastische Züge an. Mancher Mann der Wissenschaft, der Partei und des Militärs sieht die Utopien des Raumfahrt-Visionärs Konstantin Ziolkowski in Erfüllung gehen. Ziolkowski hatte im ausgehenden 19. Jahrhundert, inspiriert durch die Zukunftsromane von Jules Verne, Raketenantriebe entwickelt, Science-Fiction-Erzählungen geschrieben und seine Philosophie eines »lebendigen Alls« entworfen. Die Menschheit, glaubte er, sei berufen, in den Weltraum auszuschwärmen und ihn zu besiedeln und zu beherrschen. Dazu sei

es notwendig, in Prüf- und Ausleseverfahren die Genies unter den Menschen ausfindig zu machen. Minderwertiges Leben hingegen müsse vernichtet werden – ein »barmherziger Akt«, um die »lebendigen Atome« aus dem Gefängnis einer leidenden menschlichen Existenz zu befreien. In der Sowjetunion der sechziger Jahre finden Ziolkowskis Weltraumvisionen immer mehr Anhänger. Bereits im September 1954 ist auf einer Sitzung des Präsidiums der Akademie der Wissenschaften die Forcierung der wissenschaftlichen Entwicklung der Raketen- und Raumfahrttechnologie beschlossen worden. Auf demselben Treffen entschieden die Delegierten auch, diesen Schritt kulturpolitisch zu begleiten: Ziolkowski wurde zum »Vater der russischen Raumfahrt« erklärt. Fortan verleiht man alle drei Jahre eine Ziolkowski-Medaille an Wissenschaftler aus dem Inund Ausland, die sich »im Bereich des interplanetaren Verkehrs« verdient gemacht haben. Die erste Pressekonferenz nach Gagarins Flug eröffnet der Präsident der Akademie der Wissenschaften, Alexander Nesmejanow, mit den Worten: »An der Schwelle zum 20. Jahrhundert, von keinem anerkannt, hat der geniale Ziolkowski der Menschheit das erste Mal den Weg zu den Sternen gewiesen. In seinen Arbeiten sind die wissenschaftlichen Grundlagen der Kosmonautik gelegt worden, einer Wissenschaft, die heute einen ihrer glänzenden Triumphe feiert. Die Worte Konstantin Ziolkowskis haben sich erfüllt: ›Die Erde ist die Wiege der Menschheit, doch man kann nicht ewig in der Wiege leben.‹« Selbstverständlich kommt auch Gagarins Autobiografie nicht ohne Verweis auf den Vater der russischen Raumfahrt aus. Dort heißt es, die Lektüre der Schriften Ziolkowskis habe in dem jungen Jurij den »unstillbaren Drang zum Kosmos« geweckt. Das durch Ziolkowski inspirierte »kosmistische Denken« geht in den sechziger Jahren mit einem ErVom Kolchos in den Kosmos: Jurij Gagarin, bei seinem Raumflug 27 Jahre alt, verkörperte den sowjetischen Traum

starken nationaler und konservativer Strömungen in der Intelligenzija einher. Anhänger der Idee einer »nationalen Wiedergeburt« – Wissenschaftler, Intellektuelle, Vertreter von Partei und Komsomol – versuchen, bislang unbekannten Vertretern eines »vaterländischen Denkens« den Weg in das öffentliche Bewusstsein der Sowjetgesellschaft zu ebnen. Ziolkowski erweist sich da als geradezu ideale Gestalt: Als Vordenker der Raumfahrt erhebt man ihn zu einem Heiligen der Sowjetpropaganda. Sein Geburtsort Kaluga wird zum Treffpunkt der Anhänger eines »russischen Kosmismus«. Von 1966 an werden dort jährlich Ziolkowski-Lesungen abgehalten, auf denen alsbald auch religiös-konservative Dissidenten, Theosophen und Okkultisten zusammenkommen. Selbst im offiziellen Gagarin-Kult finden sich Muster religiöser Erzählungen. Der Sputnik 1, heißt es da, war 1957 der erste von Menschen geschaffene Stern, der eine neue Zeit verkündete. Und tatsächlich sei die Prophezeiung keine vier Jahre später in Erfüllung gegangen: Gagarin war gen Himmel gefahren und lebendig zurückgekommen. Seither reise er um die Welt als Botschafter des Friedens. Alles deutet darauf hin, dass der sowjetische Weltstar mit seinem plötzlichen Ruhm nicht nur glücklich war. Gagarin sitzt in Gremien und Kommissionen, wird zu Empfängen geladen und mit Auszeichnungen überhäuft. Sein Traum von einem zweiten Flug in den Kosmos aber bleibt unerfüllt. Zu gefährlich: Längst ist Gagarin als Held und Identifikationsfigur wichtiger denn als Flieger und Kosmonaut. Seine 6924 Orden, Medaillen und Ehrentitel halten ihn am Boden fest. Doch Gagarin gibt die Hoffnung nicht auf. Am 27. März 1968 um 10.18 Uhr steigt er bei Kirschatsch in Zentralrussland mit seinem Fluglehrer in einem MigKampfjet zu einem Übungsflug auf. Das Wetter ist schlecht. Schon um 10.30 Uhr bittet Gagarin um Landeerlaubnis. Dann reißt der Kontakt ab. Die Ursachen des Absturzes sind bis heute nicht abschließend geklärt und bieten Stoff für die üblichen Spekulationen und Verschwörungstheorien. Eine besagt, der KGB habe Gagarin beseitigt. Einer anderen Version zufolge haben sich Außerirdische an dem ersten Menschen gerächt, der in ihr Reich vorgedrungen ist. 34 Jahre ist Gagarin alt, als er stirbt. Dieser frühe Tod macht ihn endgültig unsterblich. Er ist der letzte Held der Sowjetunion, der an der Kremlmauer bestattet wird. Wie bedeutend der Kosmos-Mythos selbst im postsowjetischen Russland noch ist, zeigen die heftigen Reaktionen auf jede Kritik an seinen Helden: 1998 verbietet die russische Staatsduma die Aufführung des Hollywood-Films Armageddon mit der Begründung, dieser ziehe die Heldentaten der sowjetischen Raumfahrt in den Dreck. Als 2001 die ausgediente Weltraumstation Mir im Atlantik zum Absturz gebracht wird, protestieren Studenten der Moskauer Technischen Hochschulen. Die Schriften Konstantin Ziolkowskis aber finden in den Nachwendejahren mehr und mehr Anhänger. Sie sind sämtlich im Internet abrufbar – auf der Website der Staatlichen Universität für Luft- und Raumfahrt.

WIRTSCHAFT

Atom: Nuklearwirtschaft an der Quelle – so wird Uran in Afrika abgebaut S. 28/29

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

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WIRTSCHAFTSPOLITIK

Es gibt was zu tun

Aufständische bekämpfen nahe der Ölstadt Ras Lanuf Regimetruppen

Fotos: John Moore/Getty Images (o.); Thomas Biebricher für DIE ZEIT (u.)

Berlin verpasst wichtige Reformen. Schön, wenn wieder regiert würde

DER REFORMER

Rebellen lernen Marktwirtschaft Zu Besuch beim Finanzminister der Gadhafi-Gegner im libyschen Bengasi

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eit er Finanzminister ist, hat Ali Tarhouni keinen festen Wohnsitz mehr. Jeden Abend steuert er ein anderes Haus an, jeden Morgen wacht er in einem anderen Bett auf. In einer eigenen Wohnung wäre er leicht ausfindig zu machen – und das wäre nicht klug. Denn Tarhouni hat einen mächtigen und gefährlichen Feind: Muammar al-Gadhafi. Ein paar Wochen geht das jetzt schon so. Dabei wohnte Tarhouni noch bis vor Kurzem mit seiner Frau in einem Haus mit Garten an der amerikanischen Westküste, unterrichtete Volkswirtschaft an der Universität von Washington in Seattle. Spezialgebiet: die Bewertung von Internetaktien. Dann kam die Revolution nach Libyen, und die Aufständischen suchten einen Wirtschaftsexperten. Jemanden, der sich um die Ökonomie der Rebellion kümmert, der dafür sorgt, dass Nahrungsmittel da sind und Waffen, Munition und Kleidung, Strom und Wasser. Tarhouni packte seine Koffer und machte sich auf den Weg in das Land, aus dem er vor knapp 40 Jahren flüchten musste, weil er sich gegen das Regime auflehnte. Es hat ihm später die Staatsbürgerschaft entzogen und ihn in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Jetzt ist er in der Übergangsregierung von Bengasi, die den Osten kontrolliert, für Wirtschaft und Finanzen zuständig. Nicht mehr new economy ist jetzt sein Thema, sondern war economy. Einen neuen Staat wollen die Rebellen aufbauen – und eine neue Wirtschaftsordnung. Die Frage, die sich in diesen Wochen des arabischen Frühlings in vielen Länder stellt, ist: Schaffen sie das? Und wie wird diese Ordnung aussehen? Ali Tarhouni verspricht Antworten.

Es gibt keine Flüge mehr nach Bengasi Das Gespräch findet in einer Villa am Hafen von Bengasi statt – auch das Büro wechselt Tarhouni jetzt ständig. Sein Anzug ist etwas aus der Form, die Haare sind ein paar Zentimeter zu lang. Ob man eine gute Reise gehabt habe? Nun ja. Es gibt keine Flüge mehr nach Bengasi. Man muss nach Kairo, und von dort sind es sieben Stunden durch die Wüste bis zur ägyptisch-libyschen Grenze. In der dortigen Abfertigungshalle campieren afrikanische Flüchtlinge auf zerschlissenen Decken, Männer, Frauen, Mütter mit kleinen Kindern. Der libysche Grenzposten ist verwaist, zu Fuß geht es, vorbei an verlassenen Wachhäuschen und einem leeren Duty-Free-Shop mit zersplitterten Vitrinen, hinein nach Libyen. Der Rebellenkommandeur der Grenzregion hat einen Wagen für die Weiterfahrt organisiert. Noch einmal sechs Stunden Fahrt durch die Wüste, oft unterbrochen von Straßensperren: ein Zelt, drei bis vier Mann mit Kalaschnikows, hier und da ein klapprig wirkender Panzer oder ein rostiges Flugabwehrgeschütz und immer wieder jene Pick-ups mit auf-

VON MARK SCHIERITZ

montierten Maschinengewehren, die den Kern der den Rest des Landes zu befreien. Wenn ich EntscheiArtillerie der Rebellen bilden und zur Ikone des Kriegs dungen treffe, dann stelle ich mir die Frage, ob sie gegen Gadhafi geworden sind. diesem Ziel dienen oder nicht.« Eine ungewöhnliche Tarhouni ist guter Laune, er formuliert klar Situation für einen Wissenschaftler, aber Tarhouni und direkt, wie es viele amerikanische Hochschul- fühlt sich wohl in seiner Rolle – und er hatte immer professoren tun. Soeben hat er einen Deal mit der schon ein Faible für die Praxis. In Seattle gründete er Regierung von Qatar abgeschlossen. Das Emirat ein Internetunternehmen, das allerdings Konkurs hat zugesagt, die Abwicklung der libyschen Öl- anmelden musste. Jetzt gründet er eben einen Staat, geschäfte zu übernehmen. Das funktioniert so: und der nimmt Gestalt an. Die Rebellen haben einen Die Erdölgesellschaft von Nationalen Übergangsrat mit Qatar nimmt der von Regesetzgeberischen Kombellen kontrollierten Arabipetenzen eingesetzt, eine Exean Gulf Oil Company das kutive mit Fachministerien Öl ab und bietet es am und eine Zentralbank. Markt an. Den Erlös erhalIn Bengasi ist der AufGut 70 Millionen Euro, immerhin ten die Aufständischen, die knapp acht Prozent des Gesamtergebbruchsgeist spürbar. Freiwilkeinen Zugang zu den innisses, verdiente die BASF-Tochter lige versorgen die Truppen ternationalen ÖlhandelsWintershall im vergangenen Jahr mit mit Essen, regeln den Verkehr gesellschaften haben. Allein ihren libyschen Aktivitäten. Täglich oder engagieren sich in Arüber den Hafen von To100 000 Barrel Rohöl pumpte das beitsgruppen der Übergangsbrok, der sich in ihrer Hand Unternehmen aus acht Ölfeldern regierung. Tausende treffen befindet, können die Resich jeden Abend auf dem 1000 Kilometer südöstlich von Tribellen theoretisch 300 000 zentralen Platz vor dem ehepolis. Vergangen, vorbei: Schon Ende Fass pro Tag ausführen. Das maligen Gerichtsgebäude. Februar wurden die Förderstationen wären zum aktuellen Marktin der Wüste heruntergefahren und Händler verkaufen Aufkleber preis rund 36 Millionen versiegelt, alle internationalen Mitund andere RevolutionsDollar – genug, um die erAccessoires. Schwarz, Grün arbeiter verließen daraufhin das Land. oberten Gebiete vorerst zu »Ob, wann und wie die Ölförderung und Rot, die Farben des Aufversorgen. Am Dienstag in Libyen wieder aufgenommen wird, stands, zieren Häuserwände dieser Woche dockte das und Autos. Beim Freitagsist völlig offen«, sagt Firmenchef erste Schiff an, ein unter ligebet wehen amerikanische Rainer Seele. berianischer Flagge fahrenÄhnlich wie Wintershall geht es und französische Flaggen im der Tanker, der eine Million auch zahlreichen anderen deutschen Meer der libyschen Fahnen. Fass aufnehmen kann. Unternehmen, die bislang im Reich Erfolgreiche Anwälte und Doch auf einen Erfolg des Diktators Gadhafi ihren GeIngenieure, arbeitslose Jukommen in diesen Kriegsschäften nachgingen, darunter vor gendliche – ein bunter Hautagen drei Probleme: Viele allem Zulieferer der Ölindustrie fen hat sich da gegen Gadhader für die Verladung des und Anlagenbauer. Siemens etwa fi erhoben. Es geht um Öls notwendigen Spezialisverzeichnete 2010 mit Kunden in Machtpolitik und Stammesten haben das Land verlasLibyen einen Umsatz von 156 Milrivalitäten, aber auch um sen. Libysche Firmen sind lionen Euro. westliche Werte und eine derzeit vom Weltmarkt abAuch beim Öl- und Gasförderer andere Art des Wirtschaftens. geschnitten, weil auslänRWE Dea überlegt man nun, wie es Tarhouni ist Marktwirtdische Banken wegen der in Libyen künftig weitergehen kann. schaftler. »Wir brauchen den internationalen WirtschaftsDas Unternehmen besitzt dort sechs Staat für die Infrastruktur, für sanktionen die HandelsExplorationskonzessionen und hat das Gesundheitswesen und finanzierung eingestellt hadie Bildung. Die HauptÖl und Gas gefunden. Förderanlagen ben. Die Sanktionen sollen antriebskraft aber muss der sind aber noch nicht errichtet worzwar nur Gadhafi treffen, Privatsektor sein«, sagt der den. 40 Mitarbeiter wurden schon sie gelten aber fürs ganze vor Beginn der Kämpfe ausgeflogen. Ökonom. Gadhafi hat weite Land. An der Grenze ste»Gegenwärtig werden die Projekte Bereiche der Wirtschaft vercken gerade 20 Lastwagen von Hamburg aus betreut«, sagt ein staatlicht und auf die Öl- und mit dringend benötigten Firmensprecher. TEN Gasindustrie ausgerichtet, die Satellitentelefonen und Inzuletzt rund 95 Prozent der ternetmodems fest, weil der Exporterlöse erzielte. ägyptische Zoll sie nur mit Genehmigung des libyDas libysche Öl ist begehrt, weil es sich besonders schen Zolls passieren lassen will. Es gibt aber der- gut für die Benzinherstellung eignet. Es hat einige zeit keinen libyschen Zoll. Libyer reich gemacht und eine soziale GrundsicheDiese Revolution fordert rund um die Uhr – und rung finanziert, aber es hat auch die Korruption geTarhouni nimmt es an. »Das überragende Ziel ist es, fördert und die Entwicklung anderer Branchen be-

Profitabel

In Seattle lehrte er Ökonomie, in Bengasi organisiert er die Kriegswirtschaft: RebellenMinister Ali Tarhouni

hindert. Tarhouni will diese wirtschaftliche Monokultur beenden. »Wir haben hier einige der schönsten Strände der Welt, und die befinden sich in unmittelbarer Nähe Europas. Und ich hoffe, dass wir Libyen in Zusammenarbeit mit internationalen Investoren zu einem Finanzzentrum ausbauen können.« Auf gute Geschäfte können französische Firmen hoffen: »Ich glaube, dass die Länder, die wie Frankreich sehr früh auf unserer Seite standen, Vorteile haben werden.« Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Zwar sind die Regale in den Supermärkten gefüllt, die ersten Restaurants und Geschäfte öffnen wieder. Bloß peitschen mehrmals täglich Maschinengewehrsalven durch die Straßen von Bengasi. Und in vielen Unternehmen ruht die Arbeit, weil Benzin knapp ist und Fachkräfte fehlen oder die Firmenzentrale in der Hauptstadt Tripolis liegt, die von Gadhafi gehalten wird. Dort sind auch die Banken, dort hat der Staatsfonds seinen Sitz, der an vielen europäischen Unternehmen beteiligt ist. »Es gibt zwar genug zu essen, aber sonst steht alles still«, sagt Ahmed Ali, ein Ölingenieur der Rebellen. »Wir haben die Ideen, aber wir brauchen Tripolis, um sie umzusetzen.«

»Ich will Gadhafis Gesicht nicht auf meinen Geldscheinen sehen« Eine staubige, zweispurige Straße führt von Bengasi in die rund 1000 Kilometer entfernte Hauptstadt. Ausgebrannte Autowracks und zerschossene Panzer säumen den Weg, Metallgeruch hängt in der Luft, Pick-ups mit Maschinengewehren rasen in Richtung Front. Nach Beginn der internationalen Luftschläge rückten die Rebellen zunächst im Eiltempo vor, dann wurden sie zurückgedrängt. In einem Korridor, der sich ein paar Hundert Meter links und rechts der Straße erstreckt, geht es nun hin und her: Der Konvoi der Rebellen stößt einige Kilometer vor, gerät unter Feuer, macht mit quietschenden Reifen kehrt. Die Aufständischen sind hoch motiviert und schlecht ausgebildet, was die Militärführung erkannt hat: Am Stadtrand von Bengasi wurde ein Trainingscamp für die Kämpfer eingerichtet, neue Waffen werden herangeschafft, nicht mehr jeder darf die Straßensperren auf dem Weg zur Front passieren. Was ist, wenn die Rebellen den Konflikt zu ihren Gunsten entscheiden? Werden sie den Reichtum des Landes verteilen oder an sich reißen? Werden sich Technokraten wie Tarhouni durchsetzen oder radikalere Kräfte? Wird der Umbau der Wirtschaft gelingen? Es wäre nicht das erste Mal, dass aus den Unterdrückten die Unterdrücker werden, dass ein Land vom Erdöl loskommen will und daran kleben bleibt. Wie die Sache auch ausgeht, eins ist beschlossen: »So schnell wie möglich« werde er eine neue Währung einführen, sagt Tarhouni: »Ich will Gadhafis Gesicht nicht auf meinen Geldscheinen sehen.« Siehe auch S. 24: Ölland Libyen

Vielleicht ist die Krise der FDP auf dem Höhepunkt, vielleicht ist Schwarz-Gelb auf dem Tiefpunkt der Amtsperiode. Doch die Koalition kriselt schon länger, taktiert mehr, als sie reformiert. Und das ist, mit Verlaub, eine Schande. Es gäbe viel zu tun für die Regierung. Der Aufschwung tut derweil das, was jeder starke Aufschwung tut: Er läuft, unabhängig von der aktuellen Politik. Verdient haben ihn sich die Bürger mit allerhand Entbehrungen, die Unternehmen und Gewerkschaften mit klugen und flexiblen Verträgen, die vorherigen zwei Bundesregierungen mit mutigen Arbeits-, Renten und Haushaltsreformen. Doch das Problem ist: Der Aufschwung wird nicht genutzt für weitere Umbauarbeiten, die der Wirtschaft auf lange Sicht neue Stärke verleihen und mehr Gerechtigkeit schaffen könnten. Womöglich betreibt Berlin jetzt nicht nur eine neue Anti-Atom-Rhetorik, sondern treibt tatsächlich auch die überfällige Energiewende hin zu Wind und Wasser, Sonne und Biomasse voran. Womöglich klemmt sie sich wirklich hinter die Wende zu Elektro- und Wasserstoffautos, zu intelligenten Stromnetzen und radikalen Einsparungen beim Energieverbrauch. Auf anderen Feldern wird keine große politische Energie eingesetzt. Die billigste Art, dem Unternehmertum das Leben zu erleichtern, ist das Streichen von Paragrafen und Verordnungen. Mit gezählten 40 000 Einzelvorschriften kann es ein Mittelständler in der Bundesrepublik zu tun bekommen, und vor allem Gründer müssen einen Hürdenlauf absolvieren, der eines Industrielandes unwürdig ist. Wo also ist die große Aktion der Bundeskanzlerin, die die Gewichte wieder gerade rückt – die also endlich Banken und Fonds hart reguliert und im gleichen Anlauf die relativ unbescholtenen Industrie- und Dienstleistungsgründer leben lässt? Apropos Banken: Das Desaster der Landesbanken ist keineswegs aufgearbeitet. Manche sind noch viel zu schwach. Und eine Neuordnung, in der solche Institute aufgelöst, zusammengeführt und im Sinne des Gemeinwohls neu organisiert werden, ist nicht in Sicht. Wo ist aber vor allem eine Reform von der Dimension der Agenda 2010, die dafür sorgt, dass die Kinder aus dem Keller der Gesellschaft aufsteigen können? Die Politik schuldet ihnen den großen Versuch, Kleinkinder flächendeckend zu betreuen, Schulkinder zu fördern, Alleinerziehende zu unterstützen, massiv zusätzlich in Migrantensprösslinge zu investieren. Die Verzinsung der dafür notwendigen Milliarden für Staat und Gesellschaft wäre gewaltig. Also, Schwarz-Gelb, zurück an die Arbeit. Oder endlich an die Arbeit. Egal. UWE JEAN HEUSER

60 SEKUNDEN FÜR

Straßenfotos Erinnern Sie sich noch an Google Street View? Große Aufregung damals. Google hatte Autos mit Kameras durch ganz Deutschland fahren lassen, um sämtliche Häuser und Straßenzüge zu fotografieren. Kann man sich im Internet ansehen. Dumm nur, dass viele Gebäude verpixelt sind, aber nun ist Abhilfe in Sicht. Denn Microsoft, Googles großer Konkurrent, will bald ebenfalls Autos mit Kameras durch ganz Deutschland fahren lassen, um sämtliche Häuser und Straßenzüge zu fotografieren. Kann man sich dann auch im Internet ansehen. Vorteil eins: Was bei Street View verpixelt ist, wird bei Streetside wohl erst mal klar zu sehen sein. Vorteil zwei: Da die Fotos aktueller sein werden, ergeben sich schöne VorherNachher-Vergleiche. Wer also noch seinen Vorgarten bepflanzen oder die Fassade streichen lassen möchte, sollte sich beeilen. Nachteil: Warum muss eigentlich ständig jemand im Land herumfahren, um sämtliche Häuser und Straßenzüge zu fotografieren, die man sich dann im Internet ansehen kann? Hierzulande gibt es 644 480 Straßenkilometer. Die alle abzufahren bedeutet jedes Mal 42 000 Liter Sprit und mehr als 90 Tonnen CO₂. Die Kilometerzahl stammt übrigens vom US-Geheimdienst CIA. Woher der das weiß? Wahrscheinlich hat er auch schon Autos mit Kameras durch ganz Deutschland fahren lassen, um sämtliche Häuser und Straßenzüge zu fotografieren. Unverpixelt. Kann man sich aber nicht im Internet ansehen. MARCUS ROHWETTER

24 7. April 2011

WIRTSCHAFT

ÖL FÜR EUROPA

DIE ZEIT No 15

Mittelmeer MACHER UND MÄRKTE

Tripolis

Funkstörung Im Streit um den drohenden Ausfall der Tontechnik in zahlreichen Theatern, Musicalbühnen, Konzerthäusern, Kirchen und Kongresszentren wenden sich die Betroffenen jetzt an den Deutschen Bundestag. Der Technikverband APWPT will am Freitag auf der Musikmesse in Frankfurt den Entwurf einer Onlinepetition vorstellen. Mit ihrer Hilfe soll erreicht werden, dass das Parlament verbindliche Entschädigungsregeln gesetzlich festschreibt. Die Kulturbetriebe streiten schon seit Monaten mit der Bundesregierung um Kompensationen im Zusammenhang mit der Neuordnung von Funkfrequenzen (ZEIT Nr. 14/11). Die Regierung hatte vor gut einem Jahr an die Mobilfunkanbieter Telekom, Vodafone und O₂ Lizenzen für jene Frequenzen versteigert, auf denen bislang Sängerin Janet die drahtlosen Mikrofone Jackson mit vieler Bühnen funken. Funkmikrofon Die Tontechnik dürfte stark gestört werden, sobald das neue Funknetz in Betrieb ist. Die Regierung hatte den Kulturbetrieben daher eine »angemessene« Kompensation versprochen, doch deren Höhe ist umstritten: Während die Betroffenen rund eine Milliarde Euro fordern, ist das Bundeswirtschaftsministerium nur zu einer freiwilligen Zahlung von 124 Millionen Euro bereit. ROH

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Libyen, die kleine Nummer

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ZEIT-Grafik/ Quelle: EIA

Die Welt greift Gadhafi nicht wegen des Öls an. Als Energiemacht ist sein Land zu unbedeutend Raffinerie

VON MICHAEL THUMANN

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chon wieder Blut für Öl? Der venezolanische Herrscher Hugo Chávez hat dem Westen vorgeworfen, er greife in Libyen ein, um sich der Rohstoffe des Landes zu bemächtigen. Auch in der muslimischen Welt wird diese Verschwörungstheorie verbreitet. Tatsächlich kreisen die Jagdbomber der Franzosen, Amerikaner und Briten über Städten, die früher nur Erdöl-Fachleuten bekannt waren. Ras Lanuf, ein elendes Nest neben einer riesigen Raffinerie. Brega, ein Dorf mit großem Ölhafen und Veredelungsanlagen. Um diese beiden Orte geht in den jüngsten Tagen der Kampf zwischen Rebellen und Gadhafi-Milizen. Über sie fliegt die Nato. In den Wochen des libyschen Krieges ist der Ölpreis auf deutlich über 110 Dollar pro Fass geschossen. Was ist also dran an den Vorwürfen, westliche Nationen kämpften für das Öl? Wie bedeutsam ist Libyen für den Weltmarkt? Urteilt man allein nach den Ölkonzernen, die nun ihre Mitarbeiter aus dem Land geholt haben, scheint das Land wichtig zu sein. Alle großen und viele kleine waren präsent. Die Amerikaner zum Beispiel mit ExxonMobil, die Italiener mit ENI, dazu Total aus Frankreich, die britische BP, die chinesische CNPC. Über zwei Drittel des libyschen Öls wurden vor dem gegenwärtigen Krieg von internationalen Firmen gefördert. Nun sind die Produktionsstätten verwaist, die Spezialisten geflohen, die Ölhäfen leer. Weiter auf Libyens alten Herrscher Muammar al-Gadhafi zu setzen ist für die Konzerne risikoreich: Die meisten Ölhäfen und Raffinerien liegen im Osten des Landes. Und da üben derzeit die Rebellen die Kontrolle aus. Sie organisieren erste kleine Exporte (siehe Artikel Seite 23). Dabei war es Gadhafi, der die Multis ins Land geholt hatte. Der Ölboom begann 2004, nachdem der Westen die Sanktionen gegen Libyen aufgehoben hatte. Der Diktator hatte sich geschickt aus dem Prozess um das 1988 abgeschossene Passagierflugzeug Pan Am 103 über Lockerbie herausgewunden. Er rüstete Massenvernichtungsmittel ab und machte einen Deal mit dem Westen: internationale Anerkennung gegen Öllizenzen. Westliche Experten lobten Libyen. »Im Gegensatz zum Irak, wo man noch abwarten muss, ist Libyen der Platz, um zu

Wenn ein Mann einmal den Chefsessel geräumt hat, dann wieder zurückkommen will, und wenn er das auch kann, weil ihm die Firma zu großen Teilen gehört, dann werden andere ihre Sachen packen. So ist das selbst beim Internetkonzern Google. Gründer Larry Page ist wieder Vorstandschef, und der oberste Produktentwickler, der seit acht Jahren für Innovationen verantwortlich war, geht am gleichen Tag. Nicht weil Google ein Problem hätte. Nicht weil das Soziale Netzwerk Facebook so einen Erfolg bei Werbekunden hat. Nicht weil viele Menschen inGoogle-Gründer zwischen ihre Freunde Larry Page führt den Konzern wieder bei Facebook häufiger nach einer Sache fragen als die Suchmaschine von Google. Nein, Larry Page ist wieder da, weil er sich so gerne um Produktinnovationen kümmert und fand, er sei wieder an der Reihe. GOH

Verkehrshilfen Bis 2030 kann weltweit ein Viertel der im Verkehrssektor benötigten Energie aus alternativen Quellen bezogen werden. Das hat eine Studie der Unternehmensberatung Booz & Company ergeben. Voraussetzung dafür seien jährliche Investitionen in Höhe von 200 bis 400 Milliarden Dollar. Im Gegenzug könne der Ölverbrauch im Verkehrssektor jährlich um 0,6 Prozent sinken und damit die Abhängigkeit von Autos brauchen diesem fossilen Energiesiebenmal mehr träger. Bislang verbrauÖl als Flugzeuge chen Verkehrsmittel weltweit jeden Tag mehr als 50 Millionen Barrel Erdöl – davon entfallen 73 Prozent auf den Straßenverkehr und jeweils zehn Prozent auf Flugzeuge und Schiffe. ROH

investieren und zu bohren«, urteilte der Ölexperte Daniel Yergin von Cambridge Energy Research Associates im Jahr 2004. Seine Kollegen priesen den leicht zu verarbeitenden, schwefelarmen Rohstoff aus der libyschen Sahara. Kurz darauf standen westliche Staatenlenker Schlange in Tripolis. Der britische Premier Tony Blair machte 2004 seine Aufwartung, in seinem Gefolge die BP. Kurz darauf kam auch Kanzler Gerhard Schröder vorbei mit seinen Freunden aus dem deutschen Energiebusiness. Die BASF-Tochter Wintershall konnte in Libyen an eine lange Tradition anknüpfen, hatte sie dort doch in den fünfziger Jahren nach Öl gebohrt. Ein naher Nachbar Libyens ist Italien. Rom musste sich zunächst für die Verbrechen der Kolonialzeit entschuldigen, bevor dann Premier Silvio Berlusconi 2008 nach Libyen reiste. Mit ihm die ENI. Westliche Konzerne buhlten um neue Bohrlizenzen, auch im Offshore-Bereich vor der libyschen Küste.

Der Krieg schmerzt die Investoren. Die Ölmärkte verkraften ihn Libyen ist ein europäisches Öldorado, was angesichts der kurzen Transportwege über das Mittelmeer einleuchtet. 85 Prozent des Öls gehen in die Alte Welt. Hier trifft die »Blut für Öl«-These also schon mal nicht. Es sind nämlich gar nicht die bei der Durchsetzung des Flugverbots über Libyen vorneweg fliegenden Amerikaner, die stark vom libyschen Ölzufluss abhängen. Sondern Italiener, Iren und Österreicher. In diesen Ländern macht libysches Öl bis zu einem Viertel der Importe aus. Zu den größten Kunden Libyens gehören ebenfalls die Deutschen, die sich im UN-Sicherheitsrat enthalten haben. Aber eben auch die Franzosen, welche die Resolution über das Flugverbot angestoßen hatten. Ein Beziehungsmuster zwischen Ölimport und Militäreinsatz ist da nicht erkennbar. Italien bezieht aus Libyen nicht nur Öl, sondern auch Erdgas durch eine Unterwasserpipeline zwischen der libyschen Stadt Mellitah und Sizilien. Sieben Prozent des italienischen Gasverbrauchs kamen vor dem Krieg aus Libyen. Nach dem Förderstopp auf den Ölfeldern ist ENI am stärksten von der Krise betroffen. Hinzu kommen die mög-

Ölhafen

lichen Plünderungen von Anlagen, die jetzt alle Firmen fürchten müssen. Viele von ihnen waren noch gar nicht fündig geworden, das oft nagelneue Explorationsgerät hatte sich noch gar nicht ausgezahlt. Das schmerzt Investoren. Für die Weltmärkte hingegen ist der Schock zu verkraften. So bedeutend Libyen für einige europäische Länder ist, auf dem Weltmarkt ist es ein Ölland von nur mittlerer Größe. Seine nachgewiesenen Reserven von 44 Milliarden Fass fallen weit hinter den Riesen Saudi-Arabien (264 Milliarden Fass), Venezuela (172 Milliarden), Iran (137 Milliarden), Irak (115 Milliarden) und Kuwait (101 Milliarden) zurück. Muammar al-Gadhafi warb für Libyen stets damit, es sei das größte afrikanische Ölland. Stimmt, doch beim Erdgas sieht es anders aus. Hier haben schon die Ägypter mehr zu bieten als die Libyer. Algerien besitzt mit 4,5 Billionen Kubikmetern dreimal so viel nachgewiesene Erdgasreserven wie Libyen. Und das ist wiederum nur ein Bruchteil dessen, was die Gasriesen Russland (44 Billionen Kubikmeter), Iran (29 Billionen) und Qatar (25 Billionen) vorrätig haben. Die Konkurrenten machen derzeit die Ausfälle der libyschen Gaslieferungen nach Italien wett, vor allem Algerien und Russland, die beiden größten Lieferanten Italiens. Beim Erdöl ist Ersatz noch einfacher zu beschaffen. Libyen stellte im vergangenen Jahr rund 1,7 Millionen Fass am Tag her. Das ist knapp die Hälfte dessen, was Saudi-Arabien ohne Probleme täglich mehr produzieren kann, wenn es den Ölhahn etwas weiter aufdreht. »Überschusskapazität« nennen die Saudis das. Bei Ausbruch des libyschen Krieges im Februar sagte der saudische Ölminister Ali Naimi: »Wenn wir eine Verknappung am Ölmarkt sehen, werden wir sofort eingreifen« – also den Ölhahn aufdrehen, damit die Preise nicht in die Höhe schießen. »Wir können jede Knappheit ausgleichen«, ergänzte Naimi selbstbewusst. In der Tat hat Saudi-Arabien genau dies in der jüngeren Vergangenheit wiederholt getan. Es war daran interessiert, die Weltmarktpreise nicht abstürzen zu lassen, damit das Einkommen der Produzenten stimme, aber auch nicht explodieren zu lassen, damit es der Weltwirtschaft und damit den Öl-Kunden weiterhin gut gehe. Im Golfkrieg 1991, im Irakkrieg 2003 und beim Ausfall des Großpro-

duzenten Venezuela 2002 setzte Riad seine Macht entsprechend ein. Warum öffnet Saudi-Arabien nicht jetzt kräftig den Hahn, um Spekulanten am Ölmarkt auszubremsen? Das hat auch mit den arabischen Aufständen zu tun. Zwar erlebten weder Saudi-Arabien noch Qatar oder Kuwait wirklich bedrohliche Demonstrationen. Doch im Nachbarstaat Bahrain kam es zu einem Aufstand gegen das Königshaus, der überwiegend von Schiiten getragen war. Das war ein Schock für die sunnitischen Herrscherhäuser am Golf. Um die eigene Bevölkerung zu beruhigen, legte König Abdallah von Saudi-Arabien ein zweistelliges Dollarmilliardenprogramm auf. Die Saudis sollen mit neuen Stellen im Staatsapparat, mit billigen Krediten für Hausbau, Hochzeitsfeste und höhere Aussteuern ruhiggestellt werden. Dieses Programm hat ein Loch in die Staatskasse gerissen, sodass die Saudis erst einmal deutlich höhere Erdöleinnahmen brauchen. Entsprechend wenig stören sie sich zurzeit an den hohen Weltmarktpreisen.

Ein Land darf nicht kippen: SaudiArabien, der Ölgarant der Welt Mehr als alles andere zählt für Saudi-Arabien, dass die Revolte in Bahrain nicht auf den Rest der Arabischen Halbinsel übergreift, also die Schiiten nicht an Einfluss gewinnen und Iran sein Gewicht nicht vergrößert. Deshalb marschierten im März saudische Truppen in Bahrain ein, um bei der blutigen Niederschlagung des Aufstands durch bahrainische Sicherheitskräfte zu assistieren. Aus Amerika kam dazu nur schwache Kritik am bahrainischen Königshaus. Von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hörte man kein Wort. Die Nato über der Golfinsel? Das ist unvorstellbar. Der Vergleich mit den Energieriesen am Golf zeigt, wo Libyen in der Welt steht. Das Land ist für einige europäische Staaten von Bedeutung, auf dem globalen Markt ist es keine entscheidende Größe. Für Libyens Rohstoffe müssten weder Amerikaner noch die Nato einen Krieg führen. Der große Preis im Rohstoffspiel liegt nicht am Mittelmeer, sondern am Golf. Ein Land darf nach dieser Logik einfach nicht kippen: Saudi-Arabien, der Ölgarant der ganzen Welt.

Deutsches Öl Vor Friedrichskoog operiert die einzige Bohrinsel hierzulande. Der Betreiber RWE Dea verdient gut daran – noch

W

Fotos: Reflex; ullstein; alimdi.net; PR RWE (v.o.n.u.)

Chip-Roulette

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Tobruk Sidra

Anfangspech

Der amerikanische Chiphersteller Texas Instruments (TI) will seinen Konkurrenten National Semiconductor übernehmen. Wie in der Nacht zum Dienstag bekannt wurde, bietet der Konzern den National-Aktionären 25 Dollar je Anteil – insgesamt sind das 6,5 Milliarden Dollar und damit deutlich mehr als National an der Börse wert ist. TI ist eigenen Angaben zufolge mit einem Anteil Dollar will TI für jede von 14 Prozent Aktie von National Marktführer im GeSemiconductor zahlen schäft mit analogen Chips. Diese übersetzen unter anderem Geräusche, Stimmen, Temperatur, Luftdruck und Licht in digitale Signale. National kommt in diesem Markt auf einen Anteil von etwa drei Prozent. ROH

Bengasi

Sawija

äre die Mittelplate ein Land, sie stünde unter den Erdöllieferanten der Bundesrepublik an zehnter Stelle, etwa gleichauf mit Iran und weit vor Saudi-Arabien. Knapp 1,4 Millionen Tonnen Öl pumpten die einzige deutsche Bohrinsel und ihre Landstation 2010 aus dem Grund unter dem Wattenmeer nördlich von Cuxhaven – so viel wie keine andere deutsche Förderstätte. Zwar wird damit nur wenig mehr als ein Prozent des deutschen Jahresbedarfs an Öl gedeckt, aber es lohnt sich: Am Mittwoch konnte der Betreiber RWE Dea für 2010 eine Verdopplung des Gewinns auf nun 108 Millionen Euro verkünden. Wie viel davon auf den Verkauf des immer teurer werdenden Nordsee-Öls entfällt, sagte die Firma, die das Projekt zu gleichen Teilen gemeinsam mit Wintershall unterhält, operativ aber die Federführung hat, zwar nicht. Aber »es ist ein erheblicher Ergebnisbeitrag«, verrät Vorstandsmitglied Ralf to Baben. In Sichtweite der Dithmarscher Küste hockt die Bohrinsel flach und fest verankert im Schlick und ähnelt eher einer weit überdimensionierten Badewanne als einem der Bohrriesen draußen im Meer. Nur der 70 Meter aufragende Bohrturm deutet darauf hin, was hier geschieht. Rundum trennen hohe Stahl- und Betonwände das Bauwerk und die sie umgebende Natur. Die Mittelplate sitzt mitten im Nationalpark Wattenmeer, der in den achtziger Jahren fast zeit-

gleich gegründet wurde und seit 2009 auch zum Weltnaturerbe der Unesco zählt; kaum einen halben Kilometer entfernt liegt die Vogelschutzinsel Trischen. Umstritten war die Bohrinsel von Beginn an, Umweltschützer fordern ein Ende der Ölförderung – vor allem seit RWE begonnen hat, einen Priel, der die Plattform zu unterspülen droht, mit Steinen und Mörtel in seine Schranken zu weisen. Immerhin hat es in den 23 Jahren, in denen der schmierige Rohstoff gefördert wird, noch keinen nennenswerten Zwischenfall gegeben. Ein Düsenjäger könne auf die Plattform stürzen, »mehr als drei Eimer Öl würden dabei nicht verschüttet«, sagt der Bohrinsel-Chef Dirk Jalas etwas vollmundig. Seit 2005 wird das Öl über eine im Schlick vergrabene Pipeline zur Weiterverarbeitung an die Landstation Dieksand transportiert, von dort geht es in die Raffinerien und die Anlagen der chemischen Industrie in Heide und Brunsbüttel. Rund 1000 Menschen gibt der Rohstoff Arbeit, fast eine Viertelmillion Haushalte bekommen jährlich Heizöl aus der Mittelplate. Zudem ist die Plattform für RWE Dea zum Vorzeigeprojekt für Anlagen in ökologisch sensiblen Fördergebieten geworden, etwa im Kaspischen Meer, wo das Unternehmen kürzlich eine Explorationslizenz bekam. Auch technisch wird im Wattenmeer »auf höchstem Niveau« gearbeitet, sagt Bohrmeister Hartmut Mahn. Zuletzt wurde eine Multilateralbohrung begonnen, bei der von der Hauptbohrung wie ein

VON CHRISTIAN TENBROCK

Ölförderung im Nationalpark Wattenmeer: Die Mittelplate ZEIT-Grafik 10 km

Nationalpark S.-H. Wattenmeer

Heide Büsum

SCHLESWIG-HOLSTEIN

Trischen

Förderinsel Mittelplate

Friedrichskoog

Nordsee Cuxhaven

Elbe Hamburg

Ast ein zweiter Bohrstrang abzweigt. 60 Millionen Euro kostet das. Schon seit Langem geht es von der Bohrinsel aus zunächst senkrecht, dann aber auch horizontal in den Untergrund, um an das in 2000 bis 3000 Meter Tiefe lagernde Öl heranzukommen. Selbst von der Förderstation an Land fräst sich der Bohrmeißel waagerecht an die Vorkommen heran, teilweise auf fast zehn Kilometer Länge. Der zunehmende Einsatz hochwertiger Technik zeigt, dass die Tage des leichten Förderns vorbei sind. Peak oil – der Zeitpunkt der höchsten Förderung – wurde im Wattenmeer schon Mitte des vergangenen Jahrzehnts überschritten, als die Ausbeute noch bei mehr als zwei Millionen Tonnen lag. So ist es auch im Rest der Republik: Die Produktion und die Erdölreserven Deutschlands gehen ständig zurück, allein 2010 um mehr als zwölf Prozent. Bislang hat die Mittelplate rund 26 Millionen Tonnen des wertvollen Rohstoffs geliefert. 20 bis 25 Millionen Tonnen relativ leicht zu förderndes Öl sollen sich noch in den Sandsteinschichten unter dem Wattenmeer verbergen, an weitere vielleicht 50 Millionen Tonnen kommt man derzeit nicht zu akzeptablen Kosten heran. Dirk Jalas hofft, dass die Plattform »noch mindestens 10, vielleicht auch 15 weitere Jahre Öl produziert«. Sicherheitshalber erforscht RWE Dea andere Lagerstätten. Zwischen Kiel und Plön gab es erste seismologische Untersuchungen, Probebohrungen werden möglicherweise folgen.

WIRTSCHAFT

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

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Projektgegnerin in Stuttgart nach dem grün-roten Triumph bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 27. März

Foto: Marc Müller/picture-alliance/dpa

Welchen Tod stirbt Stuttgart 21? Die Bahn muss neu prüfen, die SPD neu überlegen: Dem Bahnhofsprojekt gehen die Befürworter aus VON KERSTIN BUND

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ls Angela Merkel sich zur obersten Widerständlerin gegen den Widerstand machte, trug sie dezentes Gold zum dunkelblauen Blazer. Doch was sie in ihrer Haushaltsrede im September sagte, klang kämpferisch: Die Landtagswahl in Baden-Württemberg werde »die Befragung der Bürger über Stuttgart 21 sein«. Mit geballten Fäusten stand sie vor dem Bundestag. Selten zuvor hatte die Kanzlerin sich so eng an ein Vorhaben gebunden, dessen politische Risiken derart ungewiss waren. Das hat damals viele überrascht, auch in der eigenen Partei. Heute, ein halbes Jahr und eine Wahlschlappe später, könnte sich Merkels Prophezeiung bewahrheiten. Die Baden-Württemberger haben abgestimmt, und bald wird die Republik ihren ersten grünen Ministerpräsidenten haben. Vieles deutet darauf hin, dass nach der Wahl nichts mehr ist wie davor. Vor allem beim neuen Stuttgarter Bahnhof nicht, der um 90 Grad gedreht und zwölf Meter tief unter die Erde gelegt werden soll. Kein Bauvorhaben bewegt das Land so sehr wie Stuttgart 21. Es ließ den Riss, der durch die Stadt ging, zu einem tiefen Graben auswachsen, aus »Dafür oder Dagegen« wurde eine Frage von Gut oder Böse. Und trotzdem: Selbst die Fernsehbilder von den Wutbürgern auf der einen und den Wasserwerfern auf der anderen Seite konnten nicht das bewirken, was der Wahlausgang für das Projekt bedeuten könnte: sein Ende. Klar ist, dass es kein leichter Ausstieg werden würde, klar ist aber auch, dass er noch nie so wahrscheinlich war wie jetzt. Vordergründig sind die Positionen widersprüchlich: Die Grünen sind gegen Stuttgart 21, die SPD ist mehrheitlich dafür, die Bahn angeblich auch. Doch kein Politiker oder Manager nimmt mehr Wörter wie »alternativlos« oder »unumkehrbar« in den Mund. Die Zeit für Gewissheiten ist vorbei. Einer behutsameren Sprache folgen behutsame Taten. Nur zwei Tage nach der Wahl hat Bahnchef Rüdiger Grube einen vorläufigen Bau- und Vergabestopp verhängt. Bis die grün-rote Koalition im Mai steht, sollen die Bagger ruhen. Man wolle auch mit der neuen Landesregierung »vertrauensvoll und konstruktiv« zusammenarbeiten, heißt es zur Begründung. Die Sache solle nicht wieder eskalieren, man habe dazugelernt. Auf der Seite der Projektgegner dagegen wertet man die Ankündigung als ersten Schritt des Rückzugs. Der Konzern wolle kein weiteres Geld in einen Bau stecken, der womöglich bald gestoppt werde.

Das Projektrisiko für die Bahn kann sich verdreifachen, sagt der Chefplaner Glaubt die Bahn also selbst nicht mehr an das Projekt? Offiziell steht die Führung voll hinter Stuttgart 21, aber hinter vorgehaltener Hand hegt man selbst in der Konzernzentrale Zweifel, dass der Bahnhof je gebaut wird. Ende vergangener Woche wurde ein Telefonat zwischen Bahnvorstand Volker Kefer und Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster bekannt, angeblich sollen die beiden über Szenarien des Ausstiegs gesprochen haben. Kefer soll sich erkundigt haben, wie viel Geld die Stadt verlangen würde, wenn die Bahn die Erlöse für die verkauften Grundstücke im Gleisvorfeld wieder zurückzahlen müsste. Kefer selbst bestreitet das, er habe den OB lediglich über den geplanten Baustopp informiert, sagt er. Es kommt dicker: Gerade gelangte ein internes Analysepapier an die Öffentlichkeit, in dem der Chefplaner von Stuttgart 21 der Bahnführung die aktuellen Projektrisiken vorrechnet: 1,2 Milliarden Euro. Das sind weit mehr als die 438 Millionen Euro, die bislang als Risikopuffer für den Tiefbahnhof eingeplant sind. Kefer weist eine Kostensteigerung als unzulässige Spekulation zurück, das Ganze sei eine »Worst-worst-Liste«, die so mit Sicherheit nicht eintreten werde. Experten wie der Berliner Verkehrswissenschaftler Michael Holzhey gehen aber längst davon aus, dass der neue Bahnhof am Ende deutlich teurer wird als geplant. Und dann meldete sich auch noch Peter Ramsauer zu Wort, aus Brasilien. Der Bundesverkehrsminister, eigentlich ein Verfechter des Tiefbahnhofs,

gab dem Spiegel zu Protokoll: »Wendlingen-Ulm kann unabhängig von Stuttgart 21 gebaut werden.« Zunächst solle die Neubaustrecke über die Schwäbische Alb entstehen, anschließend könne man über den Bahnhof entscheiden. Ein Schlag für die Bahn, beteuert diese doch stets, das eine Vorhaben ergebe ohne das andere keinen Sinn. Einzeln betrachtet müssen diese Vorfälle nicht viel bedeuten, aber zusammengenommen sind sie ein Zeichen. Ein möglicher Anfang vom Ende. »Der politische Druck ist weg«, sagt ein Spitzen-Grüner, der nicht genannt werden will. Da trauten sich jetzt viele aus der Reserve. CDU und FDP sind abgewählt und mit ihnen prominente Fürsprecher, die ihr politisches Schicksal eng mit dem Bahnhof verknüpft hatten. Ministerpräsident Stefan Mappus: weg. Verkehrsministerin Tanja Gönner: weg.

Der Bauherr denkt schon mal über Schadenersatz nach An den Schaltstellen in Stuttgart sitzen künftig andere. Das Problem ist, dass die sich in der Sache uneins sind. Bereits am Tag nach dem Wahlsieg nannte der designierte Landesvater Winfried Kretschmann Stuttgart 21 ein »dickes Problem«. Kein anderes Thema wird in den Koalitionsverhandlungen zwischen Grünen und SPD in diesen Tagen so heftig diskutiert. Es ist längst Chefsache. Die Sozialdemokraten beharren auf einem Volksentscheid. »Es wird keinen Koalitionsvertrag ohne eine Volksabstimmung zu Stuttgart 21 geben«, sagt ihr Spitzenmann Nils Schmid. Schließlich hätten die Grünen auf ihren Plakaten damit geworben. Wenn es so kommt, bedeutet das, dass die beiden Koalitionspartner gegeneinander Wahlkampf machen müssen – der eine für, der andere gegen Stuttgart 21. Schmid, der das Projekt von Anfang an unterstützt hat, glaubt, dass es im Land eine Mehrheit dafür gibt. Die Grünen hoffen sowieso, dass es gar nicht erst so weit kommt. Der Grund: Um das Projekt zu kippen, muss mindestens ein Drittel der wahlberechtigten Baden-Württemberger dagegen stimmen. Das sind 2,5 Millionen Menschen – mehr als doppelt so viele, wie den Grünen bei der Wahl ihre Stimme gaben. Das sei nicht zu schaffen, heißt es aus dem Umfeld der Grünen. Sie hoffen deshalb, dass die SPD in den Koalitionsgesprächen noch einlenkt. Ihre Logik geht so: Die Sozialdemokraten sind in der Frage ohnehin gespalten, sie haben aus dem Bahnhof, anders als die Grünen, auch nie eine Frage der Identität gemacht. Außerdem wissen sie, dass sie den Machtwechsel ohne das fulminante Ergebnis der Grünen niemals geschafft hätten. Die SPD könnte ihre Position zu Stuttgart 21 also zur Verhandlung stellen und sich ein Nachgeben an anderer Stelle im Koalitionsvertrag vergüten lassen. Die Alternativen scheinen riskant. Falls sich beide Seiten nicht einigen, droht der Bahnhof zum Spaltpilz in der Koalition zu werden. Oder wie es ein Grüner ausdrückt: »Ich glaube nicht, dass die Regierung erfolgreich sein wird, wenn sie in dieser Frage keine Lösung findet. Dann wird uns die CDU vor sich hertreiben.« Die SPD müsste also abwägen zwischen einem Kompromiss in der Sache und der Gefährdung der eigenen Regierungsfähigkeit. Verbündet sich die Koalition gegen das Projekt, dann ist Stuttgart 21 kaum noch durchzusetzen. Das weiß auch die Bahn. Sie will bei einem Ausstieg der Politik vom Land Baden-Württemberg Schadenersatz verlangen – 1,4 Milliarden Euro. Diese Summe halten viele für aufgeblasen, sie enthält auch Baukostenzuschüsse und Hunderte Millionen aus Immobiliengeschäften. Geld, das die Stadt vor Jahren an die Bahn gezahlt hat und das längst anderswo verplant ist. Für die Planung und Vergabe von Aufträgen hat die Bahn bislang nur rund 500 Millionen Euro in das Bahnhofsprojekt gesteckt. Außerdem ist ungewiss, ob der Konzern seine Drohung wirklich wahr machen würde. BadenWürttemberg ist ein wichtiger Kunde für die Bahn. Das Land bestellt bei der Nahverkehrstochter DB Regio jedes Jahr regionalen Zugverkehr im Wert von 489 Millionen Euro, in den kommenden fünf Jahren werden Verträge für

knapp 600 Millionen Euro neu ausgeschrieben. Die will die Bahn gewinnen. Fraglich daher, ob sie die guten Beziehungen mit Prozessklagen belastet. Stuttgart 21 könnte aber noch einen zweiten Tod sterben. Den Tod durch den Stresstest. Den hat Heiner Geißler in seinem Schlichterspruch der Bahn verordnet. Bis Juni muss der Konzern nachweisen, dass der neue Bahnhof auch in Spitzenzeiten leistungsfähiger ist als der alte. Falls das nicht gelingt, muss die Bahn nachbessern, etwa zwei zusätzliche Gleise bauen, um den Tiefbahnhof nicht zum Nadelöhr werden zu lassen. Hinzu kommen

weitere Auflagen: mehr Feuerschutz im Tunnel, barrierefreie Zugänge, bessere Anschlüsse an das bestehende Netz. All das könnte dazu führen, dass das Projekt für alle Beteiligten zu teuer wird. Dass es sich nicht mehr rechnet. Dass es beerdigt wird. Natürlich muss die Bahn ein solches Szenario dementieren: »Wir gehen davon aus, der Stresstest führt nicht dazu, dass dort erhebliche Nachbesserungen notwendig werden«, sagt Bahnvorstand Kefer. Boris Palmer, Tübingens grüner Oberbürgermeister, sieht das anders. Er rechnet mit einem Mehraufwand von »bis zu 600 Millionen Euro«. Das würde die Kosten

über die Schwelle von 4,5 Milliarden Euro treiben, die Bahn und Politik als Schmerzgrenze definiert haben. Und der neue Landesvater wird wohl nicht noch mehr Geld als zugesagt in das ungeliebte Projekt schieben. Die SPD könnte den Ausstieg damit rechtfertigen, dass ihr erst jetzt alle Fakten bekannt seien. Wenn es so kommt, müssten die Bürger nicht einmal mehr über ihren Bahnhof abstimmen. Die Landtagswahl hätte bereits darüber entschieden. Und Merkel würde recht behalten. www.zeit.de/audio

26 7. April 2011

WIRTSCHAFT

DIE ZEIT No 15

»Wachgeküsst«

DIE ZEIT: Nach den Gesetzen der Branche müss-

Wolfram Weimer, Chef des Magazins »Focus«, über seine Zeit am Abgrund – und warum er Redakteure nach Berlin schickt

Wolfram Weimer im Berliner Verlegerbüro

Focus offen. Dass uns das immer besser gelingt, stadt. Berlin ist nicht nur der Ort der politischen sehen Sie daran, dass Focus wieder häufiger in an- Macht und Willensbildung, sondern auch der deren Medien zitiert wird, als Referenzpunkt und kulturelle Definitionsort für die Republik. Deshalb wollen wir den Focus dort deutlich stärken. publizistische Stimme wahrgenommen wird. ZEIT: Unterscheiden sich Ihre politischen Titel ZEIT: Sie sind von 230 Journalisten runter auf der vergangenen Wochen von denen aus dem ver- 150. Und nun? gangenen Quartal? Da haben Sie Ihrer Zielgruppe, Weimer: Es werden neue Kollegen zu Focus stoßen, die ihr Glück im Hier und Jetzt sucht, Männer wie andere werden von München nach Berlin wechden Papst und den Sohn von Helmut Kohl präsen- seln. Die Redaktion ist in Bewegung. tiert – ohne Erfolg. ZEIT: Aber Sie ziehen nicht komplett um? Weimer: Moment, der Titel mit Kohls Sohn war Weimer: Nein, aber wir stärken unsere Präsenz in einer der bestverkauften in den vergangenen Jah- Berlin und rücken näher an die Macht und an die ren. Insgesamt stellen sich unsere Titel viel mehr Relevanz. den Aktualitäten als früher. Wir schauen mehr, ZEIT: Vor vier Wochen sah es so aus, als ob Wolfwas passiert, und bereiten Titel nicht mehr über gang Weimers Zeit ... Monate vor. Das zahlt sich aus. Weimer: ... zu Ende war. Ja, zu Weihnachten gab es ZEIT: Der Spiegel wird links, und Sie können die ersten Glückwünsche, dass ich noch da bin. rechts Ihr Herz überlaufen lassen? Das Land wen- ZEIT: Von wem? det sich gerade von Schwarz-Gelb ab! Weimer: Da will ich keine Quellenangaben maWeimer: Für mich geht es nicht um Parteipolitik. chen. Jetzt bin ich erleichtert und froh. Der Weg Ich meine etwas Habituelles. Nehmen Sie ein nach vorne ist frei. Thema wie Technik und FortZEIT: Wenn die nächsten drei schritt. Wir betrachten diese TheAusgaben nicht verkaufen, wamen nicht in erster Linie unter der ckelt dann Ihr Stuhl wieder? Maßgabe »Risiko, NebenwirkunWeimer: Nein, ich glaube, es gen, Lobbyismus, Korruption« ... ist allen Beteiligten mehr als je zuvor klar, dass der Weg hin ZEIT: ... das sind bei Ihnen »nützzum nachhaltigen Qualitätsliche Aufwendungen«? journalismus ein langfristiger Weimer: Wir sind eine Technoloist. Was mich optimistisch gienation. Eine Ingenieursnation. stimmt, ist die positive ResoDie fragt bei Erfindungen nicht Zu Weihnachten nanz aus der Leserschaft und als Erstes, was das für Gefahren gab es die ersten der Anzeigenkundschaft. mit sich bringt. Unsere Leser interessiert, was kann man damit maZEIT: Fühlen Sie sich mittlerGlückwünsche, chen und erreichen. Sie schätzen weile als Teil der Verlegerfamidass ich das Ambitionierte mehr als das lie Burda? noch da bin Retardierende. Weimer: Ich fühle mich wohl. ZEIT: Sie versuchen es häufiger ZEIT: Wie kommt es, dass Sie mit Humor, zu dem auch Eisbären bei dem Geburtstag von Herrn mit Sonnenbrillen auf dem Titel gehören. Burda, der ja immer alle Chefredakteure zu einem Weimer: Alle deutschen Medien könnten mehr Essen einlädt, nicht dabei waren? Humor vertragen. Ich habe den Focus der Karika- Weimer: Beim großen Geburtstag war ich dabei, in tur geöffnet, der Glosse, und wenn es im Titelbild der Residenz. Bei dem Mittagessen konnte ich mit einer Humoreske gelingt wie bei dem Islam- nicht, da musste ich in Berlin zum Notar, mein Titel mit Bundespräsident Christian Wulff, sind Haus verkaufen. wir auf dem richtigen Weg. ZEIT: Das war Ihnen wichtiger? ZEIT: Ist der Umbau jetzt schon abgeschlossen? Weimer: Nun wohne ich dafür – wie der Verleger Weimer: Wir haben erst ein Stück des Weges hin- – am Tegernsee. ter uns. Wir hatten ein extrem schwieriges erstes ZEIT: Mögen Sie diese familiäre Hauskultur? halbes Jahr, dann habe ich eine Phase der leisen Weimer: Die Hauskultur ist eine ganz andere im Hoffnung gehabt, und jetzt bin ich schon ganz zu- Vergleich zu Springer. Burda ist schon süddeutversichtlich. Kommen Sie in einem Jahr wieder, scher, barocker, familiärer. Viele vergleichen das und dann werden Sie sehen, dass über den Focus mit einem Fürstenhof. Für mich zählt, fühle ich wieder ernsthaft geredet wird. mich wohl in der Redaktion, mache ich meinen Job ordentlich? Fühle ich mich intellektuell zu ZEIT: Wie wollen Sie das schaffen? Weimer: Mit gutem Journalismus. Die Frage wird Hause? Es ist eine große Stärke des Hauses Burda, dabei sein: Wer besetzt die neuen Felder des Avant- dass es den Journalisten und Chefredakteuren eine sehr große Freiheit gewährt – und die ist mir das gardistischen? ZEIT: Können Sie aus München heraus avantgar- Allerwichtigste. distisch sein? Weimer: Keine Frage, München ist ein gutes Pflas- Das Gespräch führten ter für Innovation. Aber Berlin ist unsere Haupt- GÖTZ HAMANN und ANNA MAROHN

»

Fotos: Wolfgang Stahr für DIE ZEIT/www.wolfgangstahr.de

ten Sie Ihren Job längst los sein. Warum sitzen Sie überhaupt noch hier? Wolfram Weimer: Wieso, ich habe ein Jahr durchgehalten – und der Focus ist wieder erfolgreich. ZEIT: Ihr Verleger Hubert Burda hat eine lange Zeit voller Misserfolge ausgehalten. Weimer: Es hätte auch schiefgehen können. Die Redaktion hat unangenehme Etappen hinter sich, aber nun fühle ich mich ein wenig, als hätte ich das Dornröschen wachgeküsst. Die dornige Zeit liegt hinter mir. ZEIT: Sind Sie sicher? Weimer: Die Zahlen für das erste Quartal sind sehr gut. So etwas hat der Focus seit Langem nicht mehr präsentieren können. Wir haben in vieler Hinsicht den Umschwung geschafft. ZEIT: Wir hören es, allein uns fehlt der Glaube. Weimer: Weil Sie viele Jahre fallende Auflagen beobachtet haben. Nun aber dreht sich der Trend. ZEIT: Wie sieht der zählbare Erfolg aus? Weimer: Wir haben zum ersten Mal seit Jahren ein namhaftes, zweistelliges Wachstum im Kioskverkauf. Auch wenn Sie die viel beworbene Ausgabe zum Jubiläum des Magazins im Januar herausrechnen, ist das Wachstum erstaunlich. Und das in einem Quartal, in dem der Spiegel verloren hat. ZEIT: Es waren Wochen, in denen die Leute politische Orientierung gesucht haben. Und da haben sie tatsächlich öfter zum Focus gegriffen? Weimer: Ja, weil wir bewusst auf aktuellen Qualitätsjournalismus gesetzt haben. Das ist ein Signal, auch an all diejenigen, die düster behaupten, es ginge nur noch um Boulevard, Billigjournalismus und Gefühlsthemen. ZEIT: Wie schlägt sich das wirtschaftlich nieder? Weimer: Wir verdienen wieder gutes Geld. ZEIT: Vor zwei Jahren hat Focus noch 150 000 Stück die Woche am Kiosk verkauft, in den letzten Monaten 2010 waren es oft nur noch 75 000. Jetzt liegen Sie irgendwo um 130 000 Stück. Weimer: Wenn Sie über viele Jahre Auflagenverluste melden müssen und jetzt zweistellig zulegen können, dann ist das wunderbar. Und wenn Ihnen das auch noch mit hartem Journalismus gelingt, dann ist das eine Genugtuung. Der Markt ruft uns zu: Hurra, der Focus ist wieder da. ZEIT: Unser Eindruck ist weiterhin, dass der Focus nicht richtig wahrgenommen wird. Weimer: Ich bitte Sie: Uns lesen jede Woche fünf Millionen Menschen, und es sind interessante Menschen, die urbane Führungselite des Landes. Sie sind süddeutscher und beruflich erfolgreicher als die Leser des Spiegels. Es sind ambitionierte Menschen, die, wie Thomas Mann einmal sagte, verliebt sind ins Gelingen. Sie haben eine konstruktive Weltsicht. ZEIT: Sind sie auch politisch interessiert, oder müssen Sie sie erst dazu erziehen? Weimer: Sie sind politisch sehr selbstbewusst. Und je mehr der Spiegel wieder linke Akzente setzt, und das tut er, ist das Spielfeld für einen bürgerlichen

«

Etappensiege Wolfram Weimer begann seine journalistische Karriere 1990 als Wirtschaftsredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seinen ersten Führungsposten trat er dann 1998 als stellvertretender Chefredakteur bei der Welt an, bevor er dort alleiniger Chefredakteur wurde und später in Doppelfunktion die Berliner Morgenpost mitverantwortete. 2003 entwickelte Weimer für den Ringier-Verlag das politische Magazin Cice-

ro. 2010 holte ihn Verleger Hubert Burda schließlich nach München, um das Magazin Focus wiederzubeleben, dessen Auflage auf zuletzt 559.000 Exemplare gesunken war. Nachdem er sich anfangs noch gegen Vorgänger Helmut Markwort behaupten musste, übernahm Weimer im Juli die Alleinverantwortung. Ein Teil des »Focus« soll nun nach Berlin umziehen, gedacht ist offenbar an eine Verdopplung des Hauptstadtbüros.

WIRTSCHAFT

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

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Wirklich noch auf Wachstumskurs? Der Krisencheck: Vier Fragen und vier Antworten zur Lage der Weltwirtschaft

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Libyenkrieg, arabische Aufstände und Fukushima – wird es bald eng für die Erholung der Weltwirtschaft?

Möglich. Als Mitte März die japanische Unglücksserie und der Libyenkrieg begannen, war Optimismus sehr vernünftig. Nach dem Motto: Falls alles bald vorbei ist, bleiben die wirtschaftlichen Auswirkungen überschaubar. Japan ist reich und kann sich Aufräumarbeiten leisten; Libyen ist am Ölmarkt nicht so wichtig. Und auf Katastrophen folgte in der Geschichte häufig erst recht kräftiges Wachstum. In diesem Geiste verkündete der Chef des Industrieverbands BDI, Hans-Peter Keitel, zum Wochenbeginn: »Das globale Umfeld ist günstig.« Das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland werde 2011 noch einmal um 2,5 Prozent zulegen, und zwar vor allem wegen des Booms der Weltwirtschaft. Das sehen viele so. »Die wirtschaftliche Erholung steht allmählich auf eigenen Füßen«, sagt etwa Pier Carlo Padoan, der Chefökonom des IndustrieländerClubs OECD. Doch wie lange hält die gute Laune an? Die Finanzkrise hat daran erinnert, dass Wirtschaft auch mit Psychologie zu tun hat. Jetzt ziehen die Probleme sich hin und könnten zur echten Stimmungsbremse werden. Fukushima strahlt heftiger denn je; die Hightech-Nation Japan kriegt das Problem offensichtlich nicht in den Griff. Der Libyenkrieg ist trotz massiver westlicher Unterstützung für die Rebellen nicht entschieden. Die arabischen Revolutionen köcheln vor sich hin, was die Lage an den dortigen Ölfeldern unberechenbar macht, und nichts hassen Investoren und Händler mehr als Unsicherheit. Der Internationale Währungsfonds warnt vor Rückschlägen, die Erholung sei »zerbrechlich«, sagt IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn.

Fotos: Hartmut Schwarzbach/Argus Fotoagentur; Kim Kyung-Hoon/Reuters; Asmaa Waguih/Reuters; Paul Seheult/Eye Ubiquitous

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Hängt nicht sowieso die ganze Weltwirtschaft von Lieferungen aus Japan ab, die nun ausfallen?

Nein, und das ist wohl die größte Überraschung dieser Wochen: Obwohl die globalisierte Güterherstellung heute so arbeitsteilig erledigt wird wie nie und obwohl das Japan-Desaster wochenlang anhält, erweist sich das System als robust. Dabei besteht beispielsweise ein modernes Auto aus rund 15 000 Teilen, die von Zulieferern und deren Zulieferern in allen möglichen Ländern beschafft werden – und wenn eines fehlt, kann das ganze Auto nicht gebaut werden. Ein Handy wird in fünf, sechs oder sieben Ländern gefertigt, bevor es beim Endkunden ankommt, und da ist es besonders kritisch, weil etliche japanische Firmen Marktführer für die notwendigen Teile sind. Manche Firmen in der Chip- oder Elektronikbranche können erst in zwei bis drei Monaten wieder die Produktion aufnehmen; einige müssen erst woanders wieder völlig neu aufgebaut worden. Tatsächlich liest man jetzt des Öfteren davon, dass irgendwo auf der Welt die Produktion still steht. Alle erdenklichen Branchen, von Pharma und Chemie bis zur Mode, sind betroffen. »Keine Katastrophe zuvor hat im Elektronikbereich jemals mit so breiter Auswirkung und an so vielen Stellen die Lieferkette unterbrochen«, sagt Dale Ford von der US-amerikanischen Logistikberatungsfirma iSuppli. In der Autobranche heißt es, dass Toyota in den USA möglicherweise vorübergehend seine Werke stilllegen müsse; auch bei Honda und Nissan gibt es Probleme. Und dennoch sind das bislang Einzelfälle. Der Normalfall ist, dass es trotzdem irgendwie weitergeht. Im für die deutsche Wirtschaft besonders wichtigen Maschinenbau sind bislang nach Auskunft des Branchenverbandes VDMA überhaupt keine Ausfälle zu verzeichnen: »Bisher musste keine Mitgliedsfirma die Produktion anhalten, weil Teile fehlen«, erklärt Verbandschef Thomas Lindner. Selbst ein Produktionsausfall von zwei, drei Wochen wäre nicht das Ende der Welt: Bei großen Streiks zum Beispiel hat es in der Vergangenheit immer mal wieder ähnliche Rückschläge gegeben. Erfahrungsgemäß werden sie danach in Sonderschichten wettgemacht. »Im Mai sollten die Lücken der Zulieferketten wieder geschlossen sein«, prognostiziert der Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer vom CAR-Center Automotive Research an der Universität Duisburg-Essen. Dazu kommt es wohl auch deshalb, weil die Hersteller und Logistiker zügig damit begonnen haben, die Ausfälle zu ersetzen. »Lieferanten und Produktionsstätten sind heute flexibler, man sucht und findet sich«, sagt Herbert Wilhelm, der Chef von Schenker-Seino, einem japanischen LogistikAbleger der Deutschen Bahn. Die Niederlassung des japanischen Reifenherstellers Bridgestone in Indonesien, die Reifen in mehr als siebzig Länder exportiert, bezieht Chemikalien jetzt aus China statt aus Japan; der chinesische DVD-Spieler-Hersteller Gao Fei Electronics sucht gerade in Taiwan nach Ersatzlieferanten für seine LCD-Bildschirme. Freilich: Einige Hersteller zögern noch, für die paar Monate erwarteter Produktionsausfälle auf Lieferanten in anderen Ländern umzusteigen – wegen der anerkannt hohen japanischen Fertigungsqualität. Damit die Lieferketten nicht reißen, helfen die Logistiker gegen einen erheblichen Aufpreis mit: Wenn die Güter jetzt knapp werden, wird der Nach-

VON THOMAS FISCHERMANN UND MARK SCHIERITZ

schub eher mal per Flugzeug statt per Schiff versendet. Schiffe laufen ihrerseits andere japanische Häfen an. Und eine neue Standardprozedur wird auf Anfrage effizient und schnell erledigt: die Lieferungen auf Radioaktivität zu untersuchen.

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Aber der Ölpreis steigt und steigt – wann kommt es zum Ölschock?

Es stimmt, Öl ist teurer geworden. Zum Wochenbeginn kostetete Rohöl der Sorte Brent in London mehr als 120 Dollar pro Fass, was in diesem Jahr ein neuer Höchststand ist. Alan Blinder, ein Ökonom an der amerikanischen Universität Princeton, hält das im Augenblick für »die beunruhigendste Entwicklung«. Kaum jemand erwartet einen Ölschock, wie man ihn aus den siebziger Jahren kennt, denn die Wirtschaft ist heute nicht mehr ganz so abhängig vom Öl wie damals. Sehr schnelle Ölpreissteigerungen könnten aber die Inflation anheizen und das Wachstum ersticken. Die Unternehmen müssten dann ihre höheren Energiekosten durch höhere Verkaufspreise ausgleichen. Privatleute müssten teurer tanken und heizen – und hätten weniger Geld für den Kauf anderer Güter übrig. Oder sie würden zum Ausgleich höhere Löhne fordern. Dann käme womöglich eine Teuerungsspirale in Gang, die die Zentralbanken mit deutlichen Zinserhöhungen stoppen müsste. Bloß, so dramatisch ist der Ölpreis nun auch wieder nicht gestiegen. Vor dem Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008 lag er noch deutlich höher. Im Augenblick sieht es auch nicht danach aus, als würden der Libyenkrieg oder die arabischen Unruhen ihn in schwindelnde Höhen treiben (siehe Seite 23 und 24). Das kann anders werden, wenn am Golf große Bürgerkriege ausbrechen, Anlagen in Brand gesteckt werden und Lieferungen unsicher werden. Möglich ist das, für wahrscheinlich halten es derzeit aber nur wenige Experten.

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Ist also zweieinhalb Jahre nach der großen Finanzkrise das Wachstum der Weltwirtschaft kaum noch zu bremsen?

Es scheint so, aber eine Lehre aus der Finanzkrise darf man nicht vergessen: Manchmal kommt es in der Wirtschaft zu unerwarteten, gewaltigen Kettenreaktionen – wenn es vorher eine Schieflage gab und dann ein geeigneter Auslöser kam. Die vielleicht größte Gefahr geht von den hohen Staatsschulden aus. Viele Regierungen haben im Boom unsolide gewirtschaftet und sich im Kampf gegen die Finanzkrise finanziell verausgabt. Sie bleiben angeschlagen und empfindlich – und sie bekommen das Schuldenproblem bislang nicht in den Griff. In den USA zum Beispiel sind die Budgetaussichten miserabel, weil sich die Politiker nicht auf einen Konsolidierungskurs verständigen können. Die Republikaner blockieren Steuererhöhungen, und die Demokraten wehren sich gegen Ausgabenkürzungen. In Europa versucht man es mit einem harten Sparkurs, doch auch das scheint nicht zu helfen. In Irland, Portugal und Griechenland schüren die Sparmaßnahmen nicht nur den Volkszorn, sondern belasten auch noch die Konjunktur – und wenn die Wirtschaft nicht mehr läuft, sinken die Steuereinnahmen. In Irland zum Beispiel nahm der Staat im März 1,8 Prozent weniger ein als von der Regierung erwartet, was die Haushaltskonsolidierung erschwert. Bisher profitieren Staaten noch von den niedrigen Zinsen. Doch weil die Inflationsgefahr wächst, erhöhen diverse Notenbanken gerade ihre Leitzinsen. Am Donnerstag will auch die Europäische Zentralbank zu diesem Mittel greifen. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis weitere Länder unter den Rettungsschirm der EU schlüpfen werden, Portugal ist der nächste Kandidat. Und nicht mal das könnte reichen – im schlimmsten Fall droht eine Welle von Staatspleiten. »Es ist klar, dass es einige große und bedeutsame Entschuldungsprogramme geben muss«, glaubt Kenneth Rogoff, ein ehemaliger Chefökonom des Internationalen Währungsfonds. Pleiten eben. Dann hätte aber auch das Finanzgewerbe ein Problem, denn in den Büchern der Banken und Versicherungen finden sich jede Menge Staatsanleihen, die dann an Wert verlieren würden. Um die Risiken abschätzen zu können, durchleuchten die Finanzaufseher in diesen Monaten die Bilanzen der Geldhäuser in Europa. Allein die irischen Banken, bei denen die Prüfung schon abgeschlossen ist, brauchen 24 Milliarden Euro frisches Kapital. In Spanien sieht es nicht viel besser aus, und auch das eine oder andere deutsche Institut könnte auf neue Geldspritzen angewiesen sein. Die Staatengemeinschaft, die eigentlich allmählich die Notfallhilfen zurückfahren wollte, stürzt das in ein Dilemma. Gewährt sie großzügig Unterstützung, werden die maroden Staatsfinanzen noch maroder. Lässt sie die Banken pleitegehen, droht möglicherweise eine neue Finanzkrise – und der schöne Aufschwung wäre dahin. Mitarbeit: JOHN F. JUNGCLAUSSEN, INES KARSCHÖLDGEN-MATSUYAMA UND DIETMAR H. LAMPARTER

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Der Dax steht hoch: Wertpapierhändlerin in Frankfurt

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Es geht noch: Nissan-Autoproduktion südlich von Tokyo

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Die Revolution stockt: Libysche Rebellen im Kampf

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Was kostet die Krise? Zentrale der Bank von Irland in Dublin

28 7. April 2011

WIRTSCHAFT

DIE ZEIT No 15

Atomwirtschaft an der Quelle: Uran-Bergbau in Afrika ist ein Desaster für die Gesundheit der Menschen und für die Natur VON CHARLOTTE WIEDEMANN

AFR

Bahi

Bahi-Senke

Makulu

ab Uranabbaugebiet ZEIT- Grafik

10 km

IKA

TANSANIA

S

chnurgerade zieht sich die Straße durch die weite, trockene Ebene. Hier ist nicht das Touristen-Tansania mit Schnee auf dem Kilimandscharo und grünen Hügeln. Diese weite, trockene Ebene ist das Zentrum des Landes, heiß, karg und arm. Felsen türmen sich zu bizarren Formationen, grün nur die Kakteenbäume. Hier und da blüht rot ein Flamboyant, wie brennend in der braunen Landschaft. Von der Teerstraße zweigt eine Sandpiste ab. Die Erde wechselt ihre Farbe, von ocker zu zementgrau. Das Auge des Europäers sieht hier nur Dürre und Kargheit – kein Ort zum Leben, kein Ort zum Bleiben. Doch die Menschen, die hier leben, kämpfen genau darum: bleiben zu können. Die Zukunft ihrer dürren Heimat wird von einem Wort verdunkelt, das bis vor Kurzem niemand kannte. Ein Wort, das in der Landessprache Kisuaheli nicht einmal existiert: Uran. 14 Millionen Tonnen Uranerz birgt die gewaltige Bahi-Senke. Zwei australische Firmen, Mantra Resources und Uranex, wollen bald mit dem Abbau beginnen, hier und im Süden des Landes. Hinter Mantra steht Rio Tinto, der britische Minengigant. Im ostafrikanischen Staub sieht man die Folgen von Entscheidungen, die Tausende Kilometer entfernt getroffen werden – Renaissance

der Atomkraft! Der Uranpreis boomt, Lagerstätten erstrahlen in neuer Profitabilität. Uran, Uran, reißt die Erde auf! Still ziehen Schafe, Ziegen und Herden von mageren Rindern vorbei. Wo der Boden jetzt grau und glatt ist, wird in der Regenzeit Reis stehen, viele Hektar weit. Wenn es regnet, füllt sich die Senke, dann stauen sich oberirdische und unterirdische Wasserläufe zum Bahi-See, so reich an Fisch, dass Ad-hoc-Dörfer entstehen an seinen Ufern. Der Landstrich, der zur Trockenzeit so lebensfeindlich wirkt, ernährt mehr als nur die, die hier leben.

Millionen Tonnen Giftschlamm, entsorgt in einem Flussbett So werden sich in diesem Bassin bald zwei Entwicklungsmodelle feindlich gegenüberstehen, die bäuerliche Subsistenzwirtschaft und die Extraktionsökonomie: Bodenschätze außer Landes schaffen; der Mensch, der einheimische, wird kaum gebraucht. Er ist überflüssig, er stört. Im Dorf Makulu stehen Häuser aus Stöcken und zementgrauer Erde. Der Reisbauer Gaitan Iniyasi Iputu zeigt das Zuhause seiner 42-köpfigen Familie, ein Zuhause, von dem er ahnt, wie gefähr-

det es ist. »Ich kann an nichts anderes mehr denken«, sagt Iputu, ein magerer hochgewachsener, energischer Mann. Vier Langhäuser umgrenzen seinen Hof, in der Mitte ein Gehege für Vieh. Iputu hat zehn Kinder, eilig setzt er hinzu: »Und nur eine Frau! Ich bin Katholik.« Im ersten Langhaus, dem Empfangszimmer, glänzen im Halbdunkel die Augen von drei schwarzen Kälbern; Hühner picken herum, die Holzbänke sind blank gesessen. Ein stabiles Heim, eben noch. Der Vizeminister für Bergbau kam ins Dorf, erzählt Iputu; den Namen des Mannes hat er längst vergessen; nicht zu vergessen ist, was er aus der Rede heraushörte: Wenn die Zeit gekommen ist, müsst ihr weg. »Ich hoffe, die Regierung wird uns dann zeigen, wo wir hinkönnen. Aber warum bringen sie diese Minen-Leute überhaupt her?« Er muss nun auf die Hilfe einer Regierung hoffen, der er nicht mehr traut. Über Uran weiß Iputu nur, dass man damit »Elektrizität und Waffen machen kann«, der Rest verschwimmt in seinem Kopf. Steckt Amerika dahinter? George Bush war einmal in Tansania, da muss es einen Zusammenhang geben. In Bahi, dem Hauptdorf der Senke, stehen junge Bauern vor der Sammelstelle für Reis. Es ist Mittag, die Sonne brennt gnadenlos, die weißen Reissäcke blenden. Ein 30-Jähriger erzählt, er habe

WIRTSCHAFT

Composing : DZ (verw. Fotos: J.Torregano/Fedephoto/StudioX; Le Figaro Magazine/laif ); Fotos v.o.n.u.: Charlotte Wiedemann; J.Torregano/Fedephoto/StudioX; dpa

zufällig Radio gehört, als das Parlament über Uran debattierte. So erfuhr er, dass es ihn betrifft. Wütend malträtiert er die Pedale seines Fahrrads. Das Wort uranium ist schwer auszusprechen, die lokale afrikanische Sprache kennt kein R. Meist benutzen die Leute Umschreibungen: das Projekt, die Sache, die Mineralien. Noch schwerer als die Aussprache ist es, sich eine Vorstellung zu machen, welches Umweltdesaster hinter dem schlichten Wort Uranabbau lauert. Die Konzentration von Uran im Erz ist sehr niedrig, deshalb müssen riesige Mengen an Gestein bewegt werden, sie bleiben als radioaktiv staubende Abraumhalden zurück. Das Uran wird mit Laugen aus dem Erz gewaschen, dabei fallen enorme Mengen chemisch verseuchter Rückstandsschlämmen an. Weil ihnen zwar das Uran, nicht aber dessen Zerfallsprodukte entzogen sind, bergen die Schlämme einen Großteil der ursprünglichen Radioaktivität. Anthony Lyamunda hat sich durch all das durchgearbeitet, mit Ehrgeiz und Entsetzen. Der gelernte Elektroingenieur versteht sich als Aufklärer; er leitet Cesope, eine christlich motivierte Organisation, der Name bedeutet: Bürgererziehung ist die Lösung für Armut und Umweltprobleme. Davon ist Lyamunda tief überzeugt. »Die Menschen in der Uranregion müssen eine informierte Entscheidung über ihre Zukunft treffen können, in einem offenen, fairen Prozess.« Die Behörden hätten daran kein Interesse. Der junge Ingenieur weiß, was Uranabbau anderswo in Afrika anrichtet; er war in Namibia, wo der weltgrößte Urantagebau, die Rössing-Mine, seit 30 Jahren ohne jegliches Strahlenschutzgesetz arbeitet. 250 Millionen Tonnen giftiger Schlämme, entsorgt in einem ehemaligen Flussbett. Hinter Rössing steht Rio Tinto, der Minengigant. Lyamunda weiß von Niger, wo dem französischen Staatskonzern Areva praktischerweise gleich das Krankenhaus gehört, in dem von Amts wegen niemals Lungenkrebs diagnos-

tiziert wird. Lyamunda wurde in all das hineinkatapultiert, weil er in der Bahi-Region geboren wurde. Allmählich hat er begriffen, mit welch mächtigen Gegnern er sich einlässt. Er rollt die Schultern; über seine Angst zu reden, dafür ist er nicht der Typ. Basisseminare, Meetings, Konferenzen. Nichtregierungsorganisationen versuchen, die Klagen der Bauern hörbarer zu machen. Schon vor drei Jahren appellierte eine erste Versammlung von Dorfvorsitzenden an die Regierung, sie solle die Exploration der Lagerstätten stoppen. Später versammelten sich in der Hauptstadt religiöse Führer diverser Schattierungen: Muslime, Katholiken, Mennoniten, Anglikaner, Sieben-Tage-Adventisten.

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

Ramadhani Issa, der Imam von Bahi, war bei den Protesten von Anfang an dabei. Saß mit seinem roten muslimischen Käppi im Schulgebäude der katholischen Mission unter einem Bild der Heiligen Familie, mit ein paar Hundert anderen. Das Uran bringt sie alle zusammen, Christen und Muslime, deren Beziehungen sonst in Tansania oft gespannt sind. Der Imam ist 50, kernig, selbstbewusst, weder um einen Witz noch einen Flirt verlegen. Er hat mehr Schuljahre vorzuweisen als die meisten im Dorf und predigt nun über Uran, wann immer sich seine Gemeinde um ihn versammelt. Vor dem Freitagsgebet in der kleinen, schmucklosen Moschee; an Maulid, dem Geburtstag des Propheten. Als Ramadhani einmal die Abgesandten der Uranfirmen bei Probebohrungen zur Rede stellte, erzählten sie ihm, sie überprüften bloß die Qualität des Bodens. Der Imam lacht verächtlich. »Manche unserer Leute hoffen auf eine Entschädigung«, fährt er fort. »Diese Leute tun mir leid, denn sie sind dumm! Sehr dumm!« Wie anderswo in Afrika haben die tansanischen Bauern kein schriftlich verbrieftes Eigentum an ihrem Land. Ein Feld jahrelang beackert zu haben, das hat nach örtlichem Gewohnheitsrecht Gewicht. Doch es zählt nichts gegenüber einem ausländischen Investor, dem der Staat freie Hand lässt. Tansania ist reich an Ressourcen, doch die Verträge des Staates mit den ausländischen Bergbauunternehmen bevorteilen einseitig die Investoren. So ist es schon beim Gold; 2009 wurde aus Tansania Gold im Wert von 1,2 Milliarden Dollar exportiert, doch kaum etwas davon bleibe im Land, klagt Tansanias früherer Generalstaatsanwalt Mark Bomani. Denn es gälten immer noch Konditionen, die mit den Unternehmen in den 1990er Jahren vereinbart wurden; seitdem hat sich der Goldpreis verfünffacht. Obendrein genössen die Goldunternehmer, zumeist Kanadier, faktisch Straflosigkeit, resümiert ein Bericht der christlichen und muslimischen Dachverbände. Minenarbeiter, die Rechte forderten, wurden massenhaft gefeuert. »Wie ist es möglich, dass jemand kommt, all den Reichtum hinwegrafft und den Tansaniern nichts hinterlässt als riesige Krater und erbärmliche Lizenzgebühren?«, klagt ein Kolumnist der Tageszeitung The Citizen. »Wer regiert dieses Land? Wovor haben sie Angst? Ist das Volk dieses Landes nicht souverän?« Tansanias Regierung wird seit Jahrzehnten von derselben Partei gestellt, der früheren Einheitspartei. Ihr fehle die Kompetenz und der politische Wille, die Bergbaugesetze zum Wohle der Nation zu novellieren, sagen einheimische Wirtschaftsexperten. Beim internationalen Revenue Watch Index schließt Tansania schlecht ab; er bewertet, wie Regierungen über die Einkünfte aus Bodenschätzen informieren. Die Uranfirmen profitieren von solchen Zuständen. Die Regierungspresse bejubelt brav jede ihrer Mitteilungen. Tansania werde der drittgrößte Uranproduzent Afrikas, der achtgrößte der Welt. Unabhängige Medien üben tastend Kritik. Das Land brauche ein nationales Kontrollkomitee, das gegenüber den Firmen »keine unterwürfige Rolle spielt«, verlangt der Guardian. »Die Behörden sollten im Voraus wissen: Wann immer es Berichte über Tote durch Uran geben wird, werden die verant-

Steine des Anstoßes Seit der Havarie von Fukushima ist die Aufregung groß über die Atomwirtschaft – die Energiegewinnung aus Uran in Kernreaktoren. Zwei Drittel des weltweit erzeugten Atomstroms entstehen in den USA, Frankreich, Russland, Japan, Südkorea und Deutschland. Doch nur die USA und Russland haben eigene Vorkommen des Rohstoffs Pechblende (Urandioxid). Die anderen Länder müssen den Stoff importieren. Unter den Rohstofflieferanten belegt Kanada den ersten Rang, gefolgt von Australien, das über die größten natürlichen Ressourcen verfügt, ohne selbst Atomstrom zu erzeugen. Ähnlich verhält es sich mit Afrika. Hier wird zwar Uran abgetragen,

unter anderem in Namibia, Niger, Tansania und Südafrika, doch nur das letztere Land macht daraus selbst Strom. Die Vorkommen des Energieträgers auf der ganzen Welt reichen nach Schätzungen für die nächsten 200 Jahre. Die Gewinnung ist aber sehr schmutzig. In der Natur kommt Uran nur in niedrigen Konzentrationen vor, also muss viel Gestein umgewälzt werden, um überhaupt etwas zu fördern. Zurück bleiben Schlämme, die Böden und Gewässer mit radioaktiven Partikeln belasten. In den Ländern, die Uran verbrauchen, bekommen davon aber nur die wenigsten etwas mit. SKA

wortlichen Firmen sagen, es handele sich um unbewiesene Beschuldigungen.« Uran und Bürgerrechte, das ist neues Denken in Afrika. Es ist noch in den Anfängen, aber die Protagonisten vernetzen sich. Die Rolle des tansanischen Aufklärers Lyamunda spielt in Malawi ein junger Rechtsanwalt mit seinen Citizen for Justice. In Namibia ist es die couragierte Leiterin eines Instituts für Arbeitsschutz; ihre Untersuchung von RössingBergleuten, die an sogenannten »unerklärlichen Krankheiten« leiden, brach das Meinungsmonopol der Uranlobby. Bürger von Niger, die in den USA leben, erheben dort eine Sammelklage gegen den französischen Areva-Konzern, fordern Milliarden Euro Schadensersatz.

7000 Einwohner, weit verstreut in Weilern und Höfen Das Dorf Ilindi ist die letzte Station dieser Reise durch Tansanias Uranland. 7000 Einwohner, unübersichtlich verstreut in Weilern und Höfen. In Ilindi hat der Konflikt schon eine längere Geschichte; die künftige Mine liegt so unleugbar nahe am Dorf, dass seine Bewohner überzeugt sind, sie hätten dabei mitzureden. Schließlich hat Tansania sogar ein Gesetz, das für solche Fälle die Zustimmung des Dorfes verlangt. Vor dem Dorfladen reagieren die Männer aufgebracht, als sie eine Journalistin eintreffen sehen. Warum hat sie keine Versammlung einberufen?! Rasch bildet sich ein erbittert debattierender Kreis. Interviews sollen nur öffentlich und kollektiv geführt werden! Damit nicht nachher geschrieben werde, Ilindi sei für die Mine. Die Luft knistert vor Anspannung und Misstrauen. Frau Mwanahamisi Kibwana, die Gemeindeangestellte, ist an diesem Samstagnachmittag gerade dabei, mit einem kiloschweren, im Feuer erhitzten

Eisen zu bügeln. Aus einem Radio plärrt laute Musik. Frau Kibwana, in ein Batikkleid gehüllt, hievt ihre Körperfülle auf einen Stuhl, übertönt mit kräftiger Stimme das Plärr-Radio und erzählt, fast genießerisch, von Ilindis aufregenden Tagen. »Die Firmen holten nur die Genehmigung der Regierung ein; uns fragten sie nicht. Es gab die erste Dorfversammlung; die Leute verlangten als Gegenleistung für ihre Zustimmung Hilfe beim Bau einer Schule und einer Straße.« Nun traute sich tatsächlich ein australischer Firmendirektor nach Ilindi. Wieder Versammlung. Aber der Mann machte keine Zusagen. Das Dorf solle der Mine erst mal zustimmen, dann werde es später auch Nutzen davon haben. Als Nächstes kreuzten in Ilindi zwei Deutsche auf, eine Bundestagsabgeordnete der Grünen mit einem CDU-Kollegen, auf Tour in Tansania zu Entwicklungshilfe und Umweltschutz. »Sie gaben uns bessere Informationen«, lobt Frau Kibwana. Allerdings bekam sie dann Ärger wegen des Besuchs, musste sich vor einem Sicherheitskomitee der Distriktregierung rechtfertigen. Denn die Leute von Ilindi forderten nun erst recht Aufklärung von den lokalen Behörden. So ist die Lage, resümiert Frau Kibwana bündig: Schulbau und Straßenbau liegen immer noch auf dem Tisch. Nur will auf der anderen Seite niemand Platz nehmen. Vor dem Dorfladen strebt die Stimmung einem bierseligen Samstagabend entgegen; ein Mann hebt seine Flasche und deklamiert mit schwankender Stimme: »Wir verweigern den Gehorsam.« Ein paar Meter weiter meldet sich ein älterer Bauer zu Wort, er spricht nüchtern und dezidiert. »Meine eigenen Jahre sind gezählt«, sagt er, »aber meine Enkel sollen hier leben können. Ich habe dreimal an die Regierung geschrieben. Bis heute ist niemand gekommen.« Dann setzt er laut hinzu: »Wenn wir Dörfler keine Rechte haben, dann sollen sie uns doch gleich erschießen!«

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Der Bauer Gaitan Iniyasi Iputum mit seiner Familie in Makulu, Tansania (oben). Uranmine im Niger

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WIRTS

Auf Kante genäht Wie es die Modedesignerin Julia Starp schafft, ohne große Marke im Hintergrund eine Ökokollektion zum Erfolg zu bringen VON HILTRUD BONTRUP



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ik hat auf den Laufsteg gepinkelt, dabei war er kurz zuvor Gassi. Designerin Julia Starp schlägt die Hände vors Gesicht. Noch schnell aufwischen? Oder so tun, als sei gar nichts passiert? Sie zögert zu lange. Der Choreograf winkt die Models schon weiter, das Mädchen im Brautkleid rauscht an ihr vorbei, raus auf den Catwalk, vors Publikum. Die weiße Schleppe wird schön durch die Pfütze wischen. »Mist.« Dies ist die Geschichte eines irren Unterfangens. Er dauert vom September 2010 bis heute und erzählt, wie eine Kollektion entsteht, obwohl ein Malheur dem anderen folgt. Julia Starp hat geschuftet, am Ende Tag und Nacht für 20 Minuten Modenschau auf der Berliner Fashion Week im Januar, die über Ruhm oder Niederlage entscheiden. Vor 500 Gästen wollte Starp unbedingt den Beweis antreten, dass Mode nicht nur schön sein kann, sondern auch umweltfreundlich, menschenfreundlich. Danach würde sich zeigen, ob es sich gelohnt hat. Denn während es draußen wärmer wird, ordern die Einkäufer die Sachen für den nächsten Winter. Inzwischen kann sie Bilanz ziehen. Umweltfreundlich zu schneidern versuchen viele – und gehen dabei einen Kompromiss nach dem an-

deren ein. Sie nehmen Stoffe mit laxen Ökosiegeln, mischen Ökostoffe mit konventionell hergestellten, doch Starp will das nicht. Sie fertigt Couture ohne Pestizide, und sie versucht, dass alle zu fairen Bedingungen arbeiten – bis auf sie selbst vielleicht. Eigene Ideen, die gute Sache, das ist ihr wichtig. Die 28-Jährige hat an der Hamburger Akademie JAK Modedesign studiert, danach mit einer Behindertenwerkstatt in Meldorf eine Kollektion aus handgewebten Stoffen entwickelt, und von dem Zeitpunkt an kam es für sie nicht mehr infrage, bei einem großen Label unterzuschlüpfen. 2009 gründet Starp ihr eigenes. Sie schneidert Mäntel für jeden Tag und Kleider für besondere Nächte, aus Baumwolle, Wolle, Hanf und Seide, opulent und in leuchtenden Farben. »Spiegelverkehrt« hat sie ihr Programm genannt. Im vergangenen Spätsommer entwickelt sie Jacken, die rechts- und linksherum schließen. Einen Wendemantel, der sich schwarz bedeckt hält oder blau leuchtet. Sie sieht klare Schnitte vor sich, tailliert und mit einem Handgriff zu variieren. Auch mit Details und Applikationen will sie spielen, bei der Prêt-à-porterLinie ebenso wie bei der Couture. So viele Ideen und so wenig Zeit. Zum ersten Mal will sie alle Oberstoffe in Ökoqualität. Die grüne Mode soll diesen Namen verdie-

nen, aber das schränkt fürchterlich ein. Starp forscht nach Biofasern, die auch die strengsten Prüfungen bestanden haben. Der Markt ist klein, nicht jedes Material und jede Farbe haben das begehrte Siegel.

Ein Schock für Starp: »Der Ärmel ist verdreht. Falsch angenäht!« Im September 2010, vier Monate vor der großen Show, parkt Starp ihren alten Mazda MX5 vorm Hauptzollamt in Hamburg-Hammerbrook. Auf der Straße dröhnt der Verkehr, hinter den Glastüren drängen sich Menschen. Die Luft ist zum Schneiden. Es dauert fünf Minuten, bis die Zollbeamtin mit einem Paket aus der Schweiz am Tresen auftaucht. Schwer ist es nicht, aber so groß, dass die Frau es kaum umfassen kann. »Was ist drin?«, will die Beamtin wissen. »Stoffe«, sagt Starp knapp und hievt ihren Schatz wenig später ins Auto. Ein Stoffpaket ist ein Überraschungsei. Was der Inhalt hergibt, zeigt sich erst beim Stecken. Die kleinen Probelappen, die Starp Monate zuvor gesichtet hat, lassen Farbwirkung und Qualität erahnen, doch erst die Meterware offenbart, wie der Stoff am Körper fällt. Starp arbeitet gern mit Falten und Volants, baut steile, große Kragen, schichtet und rafft. Das muss ein Stoff

mitmachen. Ist er zu weich, fällt alles zusammen. Ist er zu fest, fällt er nicht schön. Tückisch auch, wenn er pillt, nach kurzem Tragen also Knötchen bildet. Genau diese Katastrophe unterbricht im Oktober ihre Arbeit an der neuen Kollektion. Erst pillt der Mantelstoff für die alten Modelle, dann patzt der Lieferant ein zweites Mal, obwohl er eine bestimmte Farbe zusagte, die Schwere, kein Pillen, ganz sicher. Sie vertraute ihm, ließ den Stoff direkt zur Näherei schicken. Dann sind die Mäntel endlich da – »aber viel zu dünn«. Starp watet durch leere Schutzfolien. Auf dem Ateliertisch liegt ein bunter Haufen, schwarz, weiß und blau. »Der andere Stoff war viel schöner, und er fiel auch besser.« Sie zieht einen Mantel aus dem Haufen hervor. »Aber das Blau ist toll.« Zieht ihn über und stockt. Ist geschockt. »Der Ärmel ist verdreht. Falsch angenäht!« Sie schichtet Mäntel um, vom Tisch auf den Stuhl und wieder zurück, sortiert nach Farben und Größen. »Das sind doch nicht alle! Ich hatte viel mehr bestellt.« Sie tritt vors Haus, zündet mit zitternden Fingern eine Zigarette an. »Ich kann doch nicht die ganze Produktion selbst nähen. Aber immer geht was schief, wenn ich es aus der Hand gebe.« Die neue Kollektion muss warten. Jetzt muss sie die Händler vertrösten. Ein paar feine Läden beliefert

Starp mittlerweile, darunter Stoffsüchtig an der Hamburger Rothenbaumchaussee und die Macke Boutique in Berlin. Das sind gute Adressen, die ihre Mäntel für 600 Euro das Stück verkaufen. Aber dann muss sie auch Perfektion liefern, sonst ist sie ganz schnell wieder draußen. Starp setzt sich in den Zug, fährt zwölf Stunden nach Polen und besucht die Werkstatt in Katowice. Zwölf Näherinnen, die mehr verdienen als den Mindestlohn. »Das gehört eben auch dazu«, sagt Starp. Faire Arbeitsbedingungen, Produktionsstätten in Deutschland oder Europa. Das garantiert nicht nur bessere Sozialstandards, sondern auch kurze Wege. Nach ihrer Rückkehr sagt sie, sie habe Pflöcke eingeschlagen. »Die wissen jetzt, was ich erwarte.« Es folgt in den nächsten Wochen zumindest keine weitere Enttäuschung. Starp macht sich wieder an die Arbeit, aber sie kann sich nur wenige Tage konzentrieren. Dann folgt die nächste Unterbrechung: ein Promi. Hubertus Regout hat schon dreimal angerufen. Der Schauspieler, bekannt aus der TV-Serie Verliebt in Berlin, wartet im Hamburger Hotel Grand Elysee. Dort steigt der »Event Prominent«, ein Wohltätigkeitsabend mit Modenschau, und Regout wird einen Starp-Anzug tragen: schwarze Baumwolle, maßgeschneidert und

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Fotos (S. 30-31): Christina Körte u. Torsten Kollmer für DIE ZEIT

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Julia Starp, 28, in ihrem Atelier, mit Stoffmustern in der Hand, an einer Puppe – und beim Zuschneiden eines Prototyps (von links)

mit Bienenwachs behandelt. Ein Look zwischen schnittig und unverwüstlich. Der Anzug liegt fertig zur Anprobe auf dem Rücksitz, doch Starp steht im Stau, nur einen Kilometer vom Ereignis entfernt, und es gibt kein Durchkommen. Regout hatte sie im Sommer angesprochen und sich als Model angeboten. Noch besser, er ist auch Veganer. Starp lässt den Wagen vorwärtsrollen und seufzt. »Manchmal denke ich, jetzt geht es nicht mehr weiter, und dann passiert doch wieder was Gutes.« Swiss Organic Fabric, der Schweizer Verband nachhaltig arbeitender Textilfirmen, stellt ihr einen Großteil der Stoffe für die bevorstehende Schau zur Verfügung. Kami, ein französisches Label für grüne Mode, überlässt ihr seinen Materialüberschuss. 20 Euro kostet ein Meter Biobaumwolle aus der Schweiz. Der November bricht an. Noch acht Wochen bis zur Schau. Starp droht sich endgültig zu verzetteln. Alles selbst machen, alles gleichzeitig, alles auf den letzten Drücker. Entwerfen – »Dafür brauch ich Ruhe! Ich entwickle ein Teil erst beim Machen« –, dann die Produktion für den nächsten Sommer, Abendkleider auf Bestellung. Es fehlen auch noch Sponsoren für die Modenschau, das heißt: Leistungen im Wert von 40 000 Euro. Sie braucht ja nicht nur Stoffe, Knöpfe, Garn und einen Schneider, der mit anfasst. Hinzu

kommt das Shooting für den Katalog mit Fotografen, Models, Stylisten, Fahrt- und Hotelkosten. Und dann die Show: noch mal gut 10 000 Euro. Jetzt muss Marina ran. Marina Rudolph ist Freundin und Vertrieb zugleich. Sie ist Partnerin bei L’Anima Agents, nach eigenen Angaben Deutschlands größter Vertrieb für Green Fashion, und Rudolph kennt Gott und die Welt. Bios, den Limonadenhersteller, zum Beispiel. Er wird auf der Show nicht nur Starps Gäste, sondern gleich alle versorgen. Zum Dank dafür erlässt der Veranstalter Starp die Show-Gebühr. Ohne gutes Fundraising würde sie nie ans Ziel kommen.

Der Kragen wölbt sich asymmetrisch wie eine Calla-Blüte Rudolph ist auch die Erste, die die neuen Entwürfe sieht. Den Wendemantel in Blau und Schwarz, einen Anzug, ein paar Röcke. Eine Korsage aus Peace Silk. Das ist eine besondere Seide, die Starp für ihre Couture benutzt. Die Raupen, die sie spinnen, dürfen schlüpfen und weiterleben, obwohl sie dabei ein Loch in den Kokon brechen. So sieht der Stoff denn auch wie Wildseide aus, ein wenig rauer eben. Das ist ein Makel, den die Konventionellen unterbinden, indem sie Kokons samt Raupen in kochendes Wasser werfen.



»Wenn ich das weiß, dann muss ich doch Peace Silk nehmen«, sagt Starp. Sie sitzt an ihrem Tisch im Atelier und streichelt die Filzproben, die gerade gekommen sind. »Fühlt sich schön an.« Wolle von Bioschafen, mehrfarbig und handverarbeitet. Daraus wird sie Korsagen machen, Taschenpatten, Stulpen, Boleros. Wird sie Weihnachten feiern? Starp winkt müde ab: »Ich werde durcharbeiten.« Sie sitzt mit Rudolph im Atelier und zieht Zwischenbilanz. Musik – Vincenzo Tonnera singt. Hotels, Studios, Fotograf, Stylisten, Models, Shuttle-Service – alle machen umsonst mit, Rudolph sei Dank. Regout ist auch wieder dabei, aber dafür will er ein Hotelzimmer mit Badewanne. Weihnachten, Silvester, Fashion Week: Es ist so weit. Starp steht an einem Donnerstag im Januar blass, aber gelassen im Berliner Umspannwerk. »Hab endlich mal wieder acht Stunden geschlafen.« Die Stylisten föhnen und schminken die Promis, die die CoutureKleider vorführen. Sabine Kaack, seit 20 Jahren im deutschen Fernsehen und aktuell in der ZDF-Hundeserie Da kommt Kalle zu sehen, trägt Lockenwickler. Britt Kanja, Besitzerin des Berliner Szeneclubs Studio 90, isst Kichererbsen aus der Tupperdose. Birte Glang, eine Soap-Actrice, hockt zwischen Kisten und Kartons mit Kleidern. Starp scannt den Inhalt, ständig will jemand was wissen: »Wo ist die aktuelle Gästeliste?«

– »Wer holt das vergessene Jackett aus dem Showroom?« – »Wo ist Diego?« – »Wer ist denn Diego?« Starp verzieht keine Miene. Gleich ist Laufprobe. Der Choreograf dirigiert die Meute. »Jetzt rechts rum, turn to the right, sehr schön, you are wonderful.« Starp sitzt am Kopfende des Laufstegs, Rudolph lässt sich neben sie fallen. »So langsam werden wir alle hysterisch«, juchzt sie. »Nein«, sagt Starp. »Wir bleiben ganz ruhig.« Die Models verschwinden mit den Mänteln im Umkleideraum, die Promis schießen schon Erinnerungsfotos: Britt Kanja in roter Korsage, mit großen Knöpfen und Stickerei am Busen. Um Kanjas Schultern schmiegt sich ein orangefarbener Filzbolero. Birte Glang steckt im gestreiften Mini, hellblaue Biesen auf dunklem Grund. Den hellen, runtergeklappten Ausschnitt der Korsage nimmt das Revers des Gehrocks wieder auf. Regout wird die Jacke mit den variablen Verschlüssen präsentieren. Ein Model schlüpft in den knöchellangen, schmalen Wachsmantel. Sein Kragen wölbt sich asymmetrisch wie eine gigantische Calla-Blüte. Starp hebelt Kronkorken mit einer großen Schere und reicht Sektfläschchen in die Runde. Der Boden ist übersät mit Kartons, Taschen, Haarspray, Schuhen. Gleich kommt Barbara Meier, Gewinnerin von

Germany’s Next Topmodel. Der muss sie noch ins Brautkleid helfen. Das handgefilzte Oberteil mit dem floralen Dessin wird hinten aufwändig geschnürt. Draußen drängeln sich 500 Leute. Zu allem Übel ist die Sitzverteilung durcheinandergeraten, und selbst wer eine Platzkarte hat, schafft es nicht durchs Gewühl. Rudolph dirigiert und telefoniert, die Show müsste längst laufen, und schließlich ist es egal. Es geht los, Aik pinkelt, die Models laufen. Dann ist es schon vorbei, und Starp stürmt in den VIP-Raum zu Fernsehteams und Presseleuten, Freunden und Sponsoren, Mann und Mutter. Ihr fällt sie in die Arme. »War das okay?« Freudentränen fließen. Zehn Wochen später: Starp hat einen Vertrag beim Versandhändler Otto unterzeichnet, sechs Teile wird sie exklusiv für dessen Ecorepublic-Shop entwerfen. Auch die anderen Händler haben fleißig bestellt: 40 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Wenn es so weitergeht, wird Starp am Jahresende schwarze Zahlen schreiben. Dann verdient sie genug, um Kollektionen und Shows allein zu bezahlen – und ein bisschen auch sich selbst. Weitere Informationen im Internet: blog.zeit.de/gruenegeschaefte

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Fotos: Torsten Silz/dapd (li., Original in Farbe); Jens Koehler/dapd (re., Ausschnitt)

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Kernkraftwerk Philippsburg (links), Ostsee-Windpark »Baltic 1«

»Woher das Geld nehmen?« Die grün-roten Wahlsieger von Stuttgart wollen den Energiekonzern EnBW zügig auf Ökostrom umpolen. Das stößt auf Widerstand

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m Sonntag, dem 3. April, exakt um 9.55 Uhr, konnte der Karlsruher Energiekonzern EnBW in Sachen erneuerbare Energien punkten. Mit EnBW Baltic 1 nahm »der erste kommerzielle Offshore-Windpark Deutschlands« den Probebetrieb auf – rund 16 Kilometer nördlich der Halbinsel Darß/Zingst. Grünen Strom für 55 000 Haushalte sollen die 21 Windräder in der Ostsee künftig liefern. Ebenfalls aufbieten kann man das Wasserkraftwerk

Rheinfelden, das seit Jahresanfang hochläuft und für 170 000 weitere Haushalte Strom liefern soll. Mit beidem will EnBW-Chef Hans-Peter Villis belegen, dass der als Atomkonzern verschriene drittgrößte deutsche Energieversorger seinem Ziel näherkommt: den Anteil an Ökostrom von heute 10,5 Prozent bis zum Jahr 2020 auf 20 Prozent zu verdoppeln. Der künftigen grün-roten Regierung Baden-Württembergs wird dies nicht reichen. Vielleicht aber helfen solche Nachrichten dem designierten Ministerprä-

sidenten Winfried Kretschmann und seinem Energieexperten Franz Untersteller bei der Überzeugungsarbeit an der grünen Basis. Schließlich galt EnBW bei den baden-württembergischen Grünen traditionell als Feindbild – 2010 lag der Atomstromanteil noch bei 51 Prozent, höher als bei jedem anderen der vier großen Stromkonzerne. Nun aber soll EnBW, so die neue Parole der grünen Anführer, nicht mehr als Problem, sondern als Chance gesehen werden. So wollen sie die Umstellung eines von Atomstrom und Kohle domi-

VON DIETMAR H. LAMPARTER

nierten Konzerns auf erneuerbare Energien zügig lichen Ergebnisausfällen schon während des Movorantreiben. Da ist sich Kretschmann mit Nils ratoriums«, sagt EnBW-Aufsichtsratschef Claus Schmid einig, dem SPD-Spitzenmann im Lande. Dieter Hoffmann. Vor allem wenn auch der jüngeDass Kretschmann dieses Projekt zufällt, hat er re Meiler Philippsburg 1 auf Dauer ausgeschaltet seinem abgewählten Vorgänger Stefan Mappus würde, träfe es das Unternehmen hart. Doch eben (CDU) zu verdanken. Dieser hatte dem Land in darauf laufen die grün-roten Pläne hinaus – geht es einem spektakulären Coup kurz vor der Wahl – am danach, sollen auch die beiden übrigen KernkraftParlament vorbei – den 45,1-prozentigen Anteil des werke im Lande bis spätestens 2017 vom Netz. französischen Stromkonzerns EDF an der EnBW Will man nicht künftig in großem Maße Strom für stolze 4,7 Milliarden Euro gesichert. aus Kohle- oder Atomkraftwerken aus dem Ausland Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Map- zukaufen, sind hohe Investitionen in alternative pus’sche »Erblast« (Nils Schmid) immer mehr als Energien erforderlich. Das könnte, so schwant inBürde für die neue grün-rote Landesregierung: Je zwischen einigen aus dem grünen Lager, sogar eine zügiger der Abschied von der Atomkraft vor sich Kapitalerhöhung erfordern. Aber woher das Geld gehen soll, desto größer ist die finanzielle Spreng- nehmen? Durch den – nach Ansicht von Grün-Rot kraft. Und mit dem Durchgriff der Politik auf das und vielen Experten überteuerten – Kauf der EDFUnternehmen ist es auch so eine Sache. Der zweite Anteile stehen schon 4,7 Milliarden Schulden für Großaktionär der EnBW, die Oberschwäbischen das Land zu Buche. Und der Preis für die jetzt anElektrizitätswerke (OEW), ein Zweckverband aus gedienten Aktien kommt oben drauf. Auch der neun Kreisen im Süden des Landes und fast durch- Zweckverband der OEW hat bereits deutlich mehr weg von der CDU dominiert, hält ebenfalls 45,1 als 400 Millionen Euro Schulden, und in den Etats Prozent. Dem Aktiengesetz folgend, machte das der Landkreise sind die Einnahmen aus ihrer BeLand auf seinen Kauf hin ein Übernahmeangebot teiligung fest eingeplant. Die finanziellen Zweifel gehen mittlerweile so für die restlichen Aktionäre – meist Kommunen und regionale Verbände. Zwar dürfte ein Teil davon weit, dass im grün-roten Lager auch schon eine auf das Angebot bis zum 6. April (nach Redaktions- den ersten Blick abstruse Option erwogen wird: schluss dieser Ausgabe) angenommen haben, die eine erzwungene Rückabwicklung des Aktiendeals Mehrheit wird das Land bei EnBW trotzdem nicht mit der EDF. Rein rechtlich erscheint das angesichts erreichen. An diesem Punkt ist mittlerweile Ernüch- des umstrittenen Vorgehens von Mappus realistisch, terung bei den grün-roten Energiestrategen einge- und der französische Monopolist hätte genügend kehrt. Grund dafür ist ein Aktionärspakt, den sei- Finanzkraft, um dem Umbau von EnBW zu finerzeit die EDF mit den OEW abgeschlossen nanzieren. Doch wie soll man der Basis klarmachen, hatte: Dieser verpflichtet das Land, die Hälfte der dass man ausgerechnet bei einem Konzern Beistand eingesammelten Anteile an die Oberschwaben ab- sucht, der in Frankreich zu fast 90 Prozent auf Atomkraft setzt? zugeben – sofern sie dies Am 19. April steht wünschen. Am 9. April will die Verbandsversammlung die Hauptversammlung von der OEW darüber befinden, Energieerzeugung von EnBW EnBW an. Die neue Landeswie deren Geschäftsführerin nach Energieträgern in Prozent (2010) regierung wird aber frühesBarbara Endriss bestätigt. tens Mitte Mai die Geschäfte Kernkraft konventionelle Energie1) Dass sie zugreifen wollen, gilt übernehmen. Vergeblich hatErneuerbare erneuerbare Energie2) Sonstige als wahrscheinlich. An der ten Grüne und SPD vor der Landtagswahl auf eine VerStandhaftigkeit der Landräte legung gedrängt. So kommt waren auch schon die wei4 10,5 tergehenden Ambitionen des es, dass bislang noch die fünf französischen Energiegiganvon der CDU/FDP-Regieten EDF gescheitert. rung im Februar auserkore51 Kretschmann kündigte nen Vertreter auf der Liste 34,5 schon an, »nicht auf Konzur Wiederwahl in den Auffrontationskurs« gehen zu sichtsrat stehen: ein Ökowollen, und auch die Obernom, zwei Unternehmer und schwaben teilten mit, dass zwei Mitglieder der bisherigen Regierung: Staatsminisman auf ein »faires und part- Im vergangenen Jahr stammte nerschaftliches Miteinander« die Hälfte des von EnBW erzeugten ter Helmut Rau (CDU) und mit der neuen Regierung Stroms aus Kernkraft. Bis 2020 Justizminister Ulrich Goll soll der Anteil erneuerbarer Energie (FDP). Der Wissenschaftler setze. Im Übrigen hätten die von zuletzt 10,5 auf 20 Prozent hat bereits seinen Verzicht OEW »die Investitionen in verdoppelt werden erneuerbare Energiequellen erklärt, und die beiden Unterimmer voll unterstützt«, sagt 1) Kohle, Öl, Gas nehmer wollen nicht gegen 2) Wasser-und Windkraft, Photovoltaik, Biomasse Geschäftsführerin Endriss. ein grün-rotes Veto antreten. Die Gründe für die ge- ZEIT-Grafik/Quelle: Geschäftsbericht Die scheidenden Minister allerdings zögern noch mit mäßigten Töne liegen auf der Hand: Die 20 000 Arbeitsplätze beim Energiever- einem Verzicht: »Herr Minister Rau übt sein Aufsorger wollen beide Großaktionäre nicht aufs Spiel sichtsratsmandat bis auf Weiteres aus«, sagte ein setzen. Ein schneller Börsengang oder gar eine Zer- Sprecher der Landesregierung Ende vergangener schlagung von EnBW komme nicht in Frage, sagt Woche. Sein Kabinettskollege Goll von der FDP die SPD. Und alle wissen, dass der Umbau zum sagte immerhin, er sei »gesprächsbereit«. Öko-Konzern gewaltige Investitionen erfordert. Sollten die abgehalfterten Minister stur bleiben, Aber »noch weiß keiner, wo das Geld herkommen läge das außerhalb jeglicher demokratischer Gepflogenheiten, wettert der designierte stellvertresoll«, heißt es aus dem grün-roten Lager. Hier wird es knifflig: Das Land hat die EnBW- tende Ministerpräsident Nils Schmid bereits. Insider Anteile auf Pump gekauft, die Zinsen – so war das rechnen jedoch damit, dass sich das Problem späKalkül von Stefan Mappus – sollten aus den Divi- testens am 12. Mai, wenn die alte Landesregierung denden des Konzerns bezahlt werden. Doch so wie abtritt, lösen wird. EnBW-Chef Hans-Peter Villis es nun aussieht, geraten die Gewinne von EnBW dagegen scheint es sich nicht gleich mit den neuen unter Druck. »Deutlich mehr als die Hälfte des Mächtigen im Lande verderben zu wollen. Während Gewinns entfällt allein auf den Betrieb der vier RWE-Chef Jürgen Großmann gegen das von der konzerneigenen Kernkraftwerke«, schreibt Pro- Bundesregierung verhängte Moratorium vor Gefessor Uwe Leprich von der Beratungsfirma E&E richt zieht, geben sich die Karlsruher vorsichtig. Consult in Saarbrücken, der im Auftrag von Green- »Wir prüfen den Bescheid. Dies ist ein üblicher peace ein Gutachten erstellt hatte. Vorgang und nicht gleichzusetzen mit der Prüfung Zwei der Atommeiler von EnBW, Neckarwest- oder Vorbereitung einer Klage.« heim 1 und Philippsburg 1, stehen nach dem von der Bundesregierung angeordneten Moratorium Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/energie derzeit still. »Das Unternehmen rechnet mit deut-

Atomlastig

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»Solide Forschung hilft« DIE ZEIT: Herr Boehringer, was halten Sie vom

ZEIT: Trotzdem erlebt Boehringer harte Jahre. Ihr

ZEIT: In den USA gibt es ähnliche Diskussionen.

Gewinn ging zurück, weil mehrere Medikamente Christian Boehringer: Glücksspiel? Also, privat be- Konkurrenz bekamen. Die Entwicklung einer Libitreibe ich es nicht. Und ich glaube auch, als Unter- do-Pille für Frauen mussten Sie einstellen. nehmer sollte man sich davon grundsätzlich fern- Boehringer: 2010 war nach einem Jahrzehnt guten halten. Warum fragen Sie? Wachstums ein schwieriges Jahr. Das hatten wir anZEIT: Das Arzneigeschäft gilt als high risk, high gekündigt, die Patentverluste waren ja absehbar. reward-Business – die Übersetzung Glücksspiel liegt Solche Sorgen hätten unsere Wettbewerber gerne. da nicht fern. Und es geht ums Familienvermögen. Jedes börsennotierte Unternehmen hätte in dieser Situation vermutlich die ForBoehringer: Nun, Sie haben insoschungsbudgets zusammengestrifern recht, als dass das Pharmachen. Aber als Familienunternehgeschäft grundsätzlich volatil ist. Schrumpfkur men können wir es anders machen: Man muss große Forschungspro- Geschäftszahlen in Mrd. Euro Wir investieren 23 Prozent vom jekte über viele Jahre finanzieren 2009 2010 weltweiten Pharmaumsatz in die und dabei auch Risiken eingehen. 12,7 12,6 Labore – wie geplant. Und mit Nicht jedes Projekt gelingt, aber Umsatz nur solide Forschung hilft, Fort- Betriebsergebnis 2,2 1,9 neuen Produkten werden wir 2011 eine weitere Wachstumsperiode schritte für Menschen zu schafeinleiten. fen. Welchen Anteil das Glück Quelle: Boehringer Ingelheim hat, ist die Frage. Aufgabe unserer ZEIT: Eine Zitterpartie? Familie als Gesellschafter ist es in Boehringer: Wenn wir von einzeljedem Fall, die Risiken im Pharmageschäft in ver- nen Projekten abhängen würden, wäre so etwas sinünftiger Form auszubalancieren. cher eine Zitterpartie. Aber das tun wir ja zum Glück nicht. Bisher konnten wir stets genug invesZEIT: Sieht das der Rest der Familie genauso? Boehringer: Wissen Sie, je größer eine Familie ist, tieren, und bei allen Rückschlägen, die es in dieser desto größer das Risiko, dass sich das Interesse an Branche nun mal gibt, konnten wir stets genug inder Firma auf die Frage reduziert, ob die Ausschüt- novative Produkte an den Start bringen. Unsere tung für einen Maledivenurlaub reicht oder »nur« Erfolgsquote liegt über dem Branchenschnitt – übfür die Schweiz. Wir sind als Gesellschafter gerade rigens selbst im schwierigen vergangenen Jahr. mal zwei Dutzend. Sechs davon treffen sich fünf- Schließlich haben wir 2010 die ersten Zulassungen mal im Jahr im Gesellschafterausschuss, wo mit der für unseren Blutverdünner Pradaxa bekommen. Unternehmensleitung der Puls der Firma gefühlt ZEIT: Zugleich läuft ein sogenanntes Transferund über die Strategie entschieden wird. Fällt die abkommen – mit Abfindungen und Vorruhestand. Einheit vom Himmel? Nein, aber das Unterneh- Muss das sein, wenn bald wieder Profite winken? men schweißt uns zusammen. Boehringer: Wenn wir auf Profitmaximierung aus ZEIT: Sie stehen seit 2007 an der Spitze dieses Ge- wären, hätten wir ganz andere Dinge tun müssen. Wir denken langfristig und versuchen uns für die sellschafterausschusses. Boehringer: ... und bin damit seit vier Jahren das kommenden zehn Jahre fit zu machen. Bindeglied zwischen Unternehmen und Familie. ZEIT: Hat Ihre Sparsamkeit damit zu tun, dass die ZEIT: Orientieren Sie sich dabei an Ihrem Urgroß- Krankenkassen jetzt Kosten und Nutzen vergleivater Albert, der Boehringer Ingelheim vor 125 chen? Bei teuren neuen Mitteln müssen Sie sich angeblich auf harte Preisverhandlungen einstellen. Jahren gegründet hat? Boehringer: Ich konnte ihn leider nie fragen. Es war Boehringer: Wir sind ein deutsches Unternehmen, damals eine große Herausforderung, ein solches Un- das hierzulande fast ein Drittel seiner über 40 000 ternehmen zu gründen und das Zusammenspiel von Mitarbeiter beschäftigt. Beim Absatz macht der Forschern und Kaufleuten hinzukriegen. Er hat gute deutsche Markt aber nicht mal ein Zehntel aus. Für Leute zusammengeschart. Das tun wir bis heute. uns entscheiden die großen Märkte.

Da müssen Sie sich vorrechnen lassen, dass Ihr neuer Blutverdünner gut zehnmal teurer ist als der bisherige. Boehringer: Wir haben hier schließlich therapeutischen Mehrwert zu bieten – ein Drittel weniger Schlaganfälle als bei der bisherigen Therapie. Das ist das, was wir wollen: Mehrwert für Patienten. ZEIT: Trotzdem trifft Sie die Spardiskussion. Boehringer: Als wir vor über 15 Jahren mit der Forschung an unserem Blutverdünner begonnen haben, konnten wir nicht wissen, wer an was sparen will und dass hier 2011 ein AMNOG ... ZEIT: ... Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz ... Boehringer: ... in Kraft treten würde. Aber bei allen Einsparungen: Das Gesundheitswesen braucht die Innovation. ZEIT: Fehlt Ihnen zum Fortschritt nicht oft der Mut? Sie haben Dutzende Biotech-Deals geprüft und dann wieder verworfen. Warum? Boehringer: Wir prüfen sehr genau, was zu uns passt. Andere Unternehmen bringen durch solche Zusammenschlüsse viel Unruhe in die eigenen Labore. Und dann leidet die Forschung dort. Wir haben immer versucht, das zu vermeiden. ZEIT: Genentech, eine der führenden BiotechSchmieden, hatte Boehringer das erste personalisierte Krebsmedikament angeboten, aber Ihr Großonkel hat abgewinkt. Nun macht Ihr Wettbewerber Roche Milliardenumsätze mit dem Medikament Herceptin. Ärgert Sie das nicht? Boehringer: Hinterher ist man immer schlauer. Wenn man als Unternehmer zu viel Angst vor Fehlentscheidungen hat, wird man gar keine Entscheidungen mehr treffen – und am Ende die ganze Firma lähmen. Wichtig ist, was unterm Strich herauskommt. Und da war die Bilanz bei uns immer positiv: Bisher konnte jede Generation das Unternehmen in jeweils besserem Zustand übergeben, als sie es übernommen hatte. ZEIT: Gilt das tatsächlich auch für Ihren Großonkel Hubertus Liebrecht, in dessen Ära diese Fehlentscheidung fiel? Als er 1991 starb, stand Boehringer quasi ohne Pillennachschub da. Boehringer: Einspruch. Gerade in seinem Fall stimmte die Generationenbilanz: Ihm verdanken wir zum Beispiel den Einstieg in den US-Markt –

Glücksspiel?

Foto (Ausschnitt): Fredrik von Erichsen/picture-alliance/dpa

Der Pharmaunternehmer Christian Boehringer über Glücksspiel, Gesundheitspolitik und das Familien-Credo

Christian Boehringer leitet den Gesellschafterausschuss des Pharmaunternehmens Boeh ringer Ingelheim

ohne den eine Pharmafirma heute überhaupt nicht existieren könnte. Und die Forschung zu allen Produkten, mit denen wir heute Geld verdienen, wurde in seiner Zeit angestoßen. Vergessen Sie nicht, Pharma ist ein verdammt langfristiges Geschäft. Und er hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir heute einer der weltweit wichtigsten Auftragsproduzenten für Biotech-Arzneien sind. ZEIT: Trotzdem überlassen Sie die operative Führung seither lieber Fremden. Niemand aus der Familie drängt mehr in die vorderste Reihe. Boehringer: Richtig ist, dass wir Kinder nicht auf die Unternehmerlaufbahn festgelegt wurden und uns dem Wettbewerb um Funktionen stellen müssen. Ich zum Beispiel wuchs nicht in Ingelheim auf, sondern verbrachte meine Kindheit in Wiesbaden. Ich glaube, ich war schon 15 Jahre alt, als in der Schule zum ersten Mal einer fragte, ob es eine Verbindung gebe zwischen mir und der Firma auf der anderen Rheinseite. Und meine Eltern hätten mich auch geliebt, wenn ich mich beruflich anders orientiert hätte. Das fand ich sehr befreiend. ZEIT: Sie sind auch nicht sofort eingestiegen. Boehringer: Stimmt: Nach der Schule ging ich beim Mischkonzern Freudenberg in die Lehre. Und nach dem Betriebswirtschaftsstudium habe ich in London als Berater mit Pharmaschwerpunkt gearbeitet. Außerdem habe ich fünf Jahre beim Konsumgüterhersteller Henkel verbracht. ZEIT: Distanz zum Erbe der Väter ist sicher nicht schlecht. Aber geht die innere Freiheit so weit, dass Sie Ihr Familienunternehmen abgeben könnten? Boehringer: Auf absolute Größe kommt es uns nicht an, sondern auf die relativen Marktanteile. Entscheidend ist, ob man bei den Krankheiten, die man erforscht, besser arbeitet als die anderen. Und auch in diesem Punkt gibt es bei uns große Übereinstimmung: Bevor wir als vierte Generation Verantwortung übernommen haben, haben wir lange diskutiert. Am Ende unterschied sich unser Leitbild wenig von dem, was den Generationen vorher wichtig war. Der erste Satz lautet: Wir wollen unabhängig sein. Natürlich hat der eine oder andere Kaufwillige auch bei uns angefragt. Die Antwort war und ist stets die gleiche: Nein! Das Interview führte JUTTA HOFFRITZ

34 7. April 2011 Kursverlauf

Veränderungen seit Jahresbeginn

WIRTSCHAFT

FINANZSEITE

DIE ZEIT No 15



$ DAX

DOW JONES

JAPAN-AKTIEN

BRASILIENAKTIEN

EURO

ROHÖL (WTI)

7175 +2,9 %

12 418 +7,3 %

NIKKEI: 9616 –7,1%

BOVESPA: 69 841 –0,1 %

1,42 US$ +6,0 %

109 US$/BARREL +22,1 %

SILBER

SOJABOHNEN

ZINK

39 US$/ FEINUNZE +26,0 %

1,37 US$/ SCHEFFEL –2,1 %

2437 US$/ TONNE –1,1 %

GELD UND LEBEN

Geld gleich Glück? Bei Dax-Vorständen gilt diese Formel nicht mehr. Bei Lokführern schon

Ohne Kupfer geht fast nichts

Illustration: Karsten Petrat für DIE ZEIT/www.splitintoone.com

Ausnahmsweise soll an dieser Stelle vom Geldverdienen und von Gerechtigkeit die Rede sein. Vergangene Woche konnte man zwei Meldungen in den Zeitungen lesen. Die eine handelte davon, dass Lokführer, die im Schnitt etwa 35 000 Euro brutto im Jahr verdienen, mal wieder streiken. Die andere besagte, dass die Bezüge deutscher Konzernchefs 2010 um etwa 20 Prozent gestiegen sind. Durchschnittlich erhielt der Vorstandsvorsitzende eines Dax-30-Unternehmens im vergangenen Jahr 4,4 Millionen Euro vor Steuern, ohne Altersbezüge und Nebenleistungen. Sie werden sagen, das eine habe mit dem anderen wenig zu tun. Da haben Sie recht, Lokführer und Chefs sollte man schon deshalb nicht vergleichen, weil Letztere sehr schwierige Aufgaben lösen und sehr Diese Woche von viel mehr Verantwortung Christian Tenbrock tragen. Andererseits: Warum bekommen die einen ohne weiteres 20 Prozent obendrauf, während die anderen erst den Zorn von Tausenden Reisenden (und fast aller Zeitungskommentatoren) ertragen müssen, um dann vielleicht ein paar Euro zusätzlich zu erhalten? Und verdient es ein Chef wirklich, 125-mal mehr zu verdienen als ein Lokführer? Seltsamerweise wird diese Frage in diesem Land nur von wenigen Menschen gestellt. Selbst die Gewerkschaften stellen sie nur sonntags, um dann montags im Aufsichtsrat flugs die Gehaltserhöhungen für die Vorstände abzunicken. Über das, was gerecht ist, wird auch weit weniger echauffiert gestritten als etwa über E10 oder die Strahlenbelastung von Sushi. Ob es daran liegt, dass die Einkommen der Chefs im Vergleich zu denen der wirklich Reichen dieser Welt eher Peanuts sind? Oder daran, dass wir alle wissen, dass Reichtum nicht glücklich macht? Zum durch zahlreiche Studien nachgewiesenen Wohlstandsparadoxon gehört es ja, dass die Unzufriedenheit mit steigendem Kontostand eher zu- als abnimmt – wobei ein bestimmtes Level zunächst erreicht werden sollte. Insofern müsste man den Chefs eigentlich raten, auf ihre Gehaltserhöhungen zu verzichten und das Geld den Lokführern zu geben. Das wäre mal was.

Das rote Metall ist so begehrt wie nie. Das lockt Spekulanten an. Nach dem Erdbeben in Japan dürfte der Preis auf Dauer weiter steigen VON MARLENE ROEDER

A

uch wenn in den vergangenen Tagen der Kupferpreis wieder leicht nachgegeben hat, dürfte der Wiederaufbau in Japan nach Auffassung von Experten den ohnehin schon rekordverdächtig hohen Preis auf Dauer weiter ansteigen lassen. Sven Müller-Thurau von der Hamburger Aurubis AG, einem der größten Kupferkonzentrat verarbeitenden Betriebe der Welt, beobachtet den Markt genau. Nach seinen Angaben produzierte Japan im vergangenen Jahr rund 1,56 Millionen Tonnen Kupferkathoden. Das sind Bleche, die an den Warenterminbörsen gehandelt und zur Weiterverarbeitung benötigt werden. Da das Land über keine eigenen Kupferminen verfügt, musste es das erforderliche Konzentrat komplett importieren. Von der japanischen Produktion wurde rund eine halbe Million Tonnen vor allem nach China exportiert. Keiner braucht den Rohstoff so

sehr wie die boomende Industrie des Riesenreichs. Auf 8,3 Millionen Tonnen schätzt Michael Blumenroth, Analyst der Deutschen Bank, den chinesischen Verbrauch im vergangenen Jahr. Infolge der Katastrophe in dem gebeutelten Land fehlt jetzt genau die halbe Million Tonnen Produktionskapazität aus Japan. Diese Lücke muss China nun schließen. Schon allein das bedeutet, dass der Preis weiter steigen wird. Bereits im vergangenen Jahr erreichte er immer neue Höhen. Die Nachfrage nach dem roten Metall übersteigt zunehmend die weltweite Jahresproduktion, die 2009 laut dem World Bureau of Metal Statistics (WBMS) bei 21 Millionen Tonnen lag. Es gibt zwar noch reichlich Kupfer in der Erde, doch die bislang erschlossenen Minen enthalten nur noch 1,1 Prozent Kupfer im Erz, während es 1980 noch 1,6 Prozent waren. Zudem dauert es zehn bis fünfzehn Jahre, bis

eine neue Kupfermine in Betrieb genommen ben von verfallenden Kontrakten auf künftige Monate abgedeckt, um Fristen auszugleichen, werden kann. Bereits vor dem Erdbeben in Japan rechneten sagt Sven Müller-Thurau. Um dieser TerminExperten der Deutschen Bank damit, dass allein planung gerecht zu werden, bietet die LME Kupin diesem Jahr 500 000 Tonnen des Metalls auf ferkontrakte mit einer Laufzeit von mehr als zehn dem Weltmarkt fehlen und die Preise weiter an- Jahren an. An der Börse gehandelte Rohstofffonds (Exziehen werden. Analysten gehen von einem Preis von bis zu 13 000 Dollar je Tonne für das lau- change Traded Commodities, kurz ETCs) werfende Jahr aus. Im Frühjahr 2011 kostete Kupfer den von Privatanlegern kaum nachgefragt und bereits mehr als 10 000 Dollar pro Tonne an der bewegen nach Ansicht von Müller-Thurau zu LME, der ausschlaggebenden Warenterminbör- wenig Volumen, um für den phänomenalen se. Während der Finanzkrise kostete eine Tonne Preisanstieg verantwortlich gemacht zu werden. »Das sind Peanuts«, sagt der Kupfer-Fachmann. gerade einmal 3000 Dollar. Ob Smartphone oder Bremsbeläge: Ohne Die beiden auf Kupferproduzenten basierenden Kupfer geht in vielen Bereichen nichts. Wie die First Trust ISE Global Copper Index Fund und International Copper Study Group, ein Verband Global X Copper Miners ETF legten zwar seit von Kupfer fördernden, verarbeitenden und ver- ihrem ersten Handelstag kräftig zu, schwächelten brauchenden Ländern, nachweist, gäbe es ohne aber im Volumen. Selbst der einzige auf Kupferterminpreisen badas rote Metall kein Licht, kein Telefon, kein sierende Fonds Barclays I Auto und keinen Computer. Path richtet wenig aus. Der Auch am Bau spielt das Metall amerikanische Hedgefonds eine große Rolle. Laut LME entfallen rund 28 Prozent des weltBlackrock Inc. hat zwar nach weiten Kupferverbrauchs auf Angaben des US-Mediendieses Gewerbe. konzerns Bloomberg im Im Pro-Kopf-Verbrauch von Darunter versteht man die Herbst 2010 einen KupferKupfer standen die Japaner schon Absicherung von fonds registriert, der 121 200 länger an zweiter Stelle hinter Wertpapierpositionen Tonnen verwalten soll, doch den Deutschen. Der Wiederaufgegen eine negative der existiert, so Müllerbau, der dem verwüsteten Land Kursentwicklung. Meist Thurau, bislang nur auf nun bevorsteht, wird nach Meigeschieht das durch den dem Papier. Auch die amenung von Müller-Thurau die Kauf oder Verkauf von rikanische Investitionsbank dortige Nachfrage spürbar anDerivaten (Futures, JPMorgan Chase & Co. und steigen lassen. Und die mögliche Optionen, Swaps). Beim die Deutsche Bank schieben endgültige Schließung von AtomHedging wird das finanlang avisierte, auf physisches kraftwerken wird laut Müllerzielle Verlustrisiko auf Kupfer ausgelegte Fonds Thurau, der im Kupferausschuss risikofreudige Marktimmer wieder vor sich her. der LME sitzt, auch hierzulande teilnehmer (Spekulanten) Rund 75 Prozent des riesigen die Kupfernachfrage erhöhen. übertragen. Wer physisch Handelsvolumens an den Dafür sorgten vor allem die InKupfer verkauft, sichert Kupferbörsen gehen nach vestitionen in das Stromnetz, die sich durch Ankäufe Meinung von Müller-Thunötig seien, um die Energie an der Börse ab, wer rau auf die Aktivitäten von künftig von Nord nach Süd zu Kupfer ankauft, erreicht Hedgefonds zurück. Proleiten. das durch Verkäufe duzenten, Verarbeiter und Dass allein Fördermengen Konsumenten nehmen im und Konjunkturdaten für den Allgemeinen gern die LiquiPreisrekord verantwortlich sind, dität an, die ihnen diese daran mag der Deutsche-Bank-Analyst Michael Hedgefonds bieten, wenn dabei der Preis nicht abBlumenroth allerdings nicht so recht glauben. hebt. Das genau ist nun jedoch geschehen. Zur Illustration: An der LME wurden 2010 Andererseits sind es allerdings auch die heftirund 827 Millionen Tonnen Kupfer gehandelt. gen Preisschwankungen, die den MarktteilnehAn der amerikanischen CME waren es im selben mern zu schaffen machen. »Das schwierigste Jahr Zeitraum 117 Millionen Tonnen. Dazu kom- für die Kupferindustrie war 2008, als der Preis men nach einem Bericht der Financial Times von 9000 Dollar je Tonne auf 3000 Dollar einnoch 254 Millionen Tonnen von der Shanghai brach«, erinnert sich Müller-Thurau. Die KupFutures Exchange. Es wurden also insgesamt ferkäufer erhielten »Margin Calls«, das sind weltweit rund 1,2 Milliarden Tonnen Kupfer Aufforderungen der Broker und Börsen, Geld auf dem Papier hin- und hergeschoben. Das ist nachzuschießen oder die Positionen zu schließen. 57-mal so viel, wie auf der ganzen Welt geför- »Die Gewinn-und-Verlust-Rechnungen gingen dert wurde. Die Finanzdeals gehen damit weit in den Keller.« Zu Scharen wurden die Hedger über die realen Verhältnisse von Angebot und der Unternehmen gefeuert. Danach hedgte fast Nachfrage hinaus. niemand mehr. Traditionell tummeln sich an den WarenterZudem seien viele Firmen gar nicht mehr in der minbörsen eine ganze Reihe von Akteuren. Die Lage, die gestiegenen Margin-Erfordernisse (eine Bergbauunternehmen müssen ihren Kunden Garantie) der Börsen zu bezahlen, glaubt der Exwettbewerbsfähige Preise oft Monate im Voraus perte. Bisher lagen die bei 13 250 Dollar je Kontrakt anbieten, mit den Terminkontrakten schützen (25 Tonnen Kupferkathoden) an der LME, aber sie sich vor verlustbringenden Preisschwankun- Ende März setzten die Londoner die Kupfermargin gen. Auch die Verarbeiter und Endabnehmer si- auf 15 000 Dollar herauf. Der Aurubis AG, die chern sich dagegen ab, betreiben also Hedging, weltweit die Kupfer verarbeitende Industrie versorgt, bereitet das Sorgen. »Meine Kunden haben wie es im Fachjargon heißt. Aber wer da glaubt, dass traditionelle Hedger Probleme, den Banken zu vermitteln, dass sie jetzt wie Bergbauunternehmen oder Autohersteller mehr Geld brauchen«, sagt Müller-Thurau. Hedgenur die Menge an Kupfer gegen Verlustrisiken fonds mit ihren Teams von Analysten und ihren absichern, die sie produzieren oder einkaufen, riesigen Geldvorräten säßen am längeren Hebel. der irrt. »Ein Vielfaches« von der eigenen Wertschöpfungskette werde durch WarenterminWeitere Informationen im Internet: www.zeit.de/geldanlage geschäfte und Optionen sowie das Weiterschrei-

Hedging

WIRTSCHAFT

ANALYSE UND MEINUNG

Es gibt Alternativen Wie eine entschlossene deutsche Energiepolitik jetzt aussehen könnte VON OTTMAR EDENHOFER

Foto: Potsdam Institute for Climate Impact Research

Die Ereignisse in Japan, so beteuern Politiker verpuffen, weil sie – wie in der Vergangenheit und Experten, konnte sich niemand vorstel- – zu einem höheren Energieverbrauch führen len. Diese Behauptung ist schlichter Unsinn. könnte. Wenn die CCS-Technik für die AbDiese Fehlwahrnehmung ist der Tatsache ge- scheidung von CO₂ aus der Kohle mittelfristig schuldet, dass das Restrisiko der Nutzung der nicht zur Verfügung steht, könnte ambitionierKernenergie als gering eingestuft wurde. Tat- ter Klimaschutz auf internationaler Ebene sehr sächlich verbleibt immer eine – wenn auch teuer werden. geringe – Wahrscheinlichkeit, dass KernkraftZuvorderst muss der Anteil der erneuerwerke versagen. Wenn der Schaden jedoch un- baren Energien drastisch erhöht werden. Gegewöhnlich hoch werden kann, ist auch das nau hier liegt allerdings das Problem: Es gibt Restrisiko hoch. Das ist uns in Fukushima ein- große Unklarheiten und Meinungsverschiedrucksvoll vorgeführt worden. denheiten darüber, wie der verstärkte Ausbau Daher bleibt die Frage, ob wir mit dem der erneuerbaren Energien genau zu bewerkhohen Restrisiko der 443 stelligen ist. Kernkraftwerke leben müsFür Deutschland hat die FORUM sen und leben wollen, die Kanzlerin nun eine Ethikweltweit 14 Prozent zur weltkommission mit Vertretern weiten Stromversorgung beiaus Kirchen, Gewerkschaftragen. Soll der Anteil der O T T M A R E D E N H O F E R ten, Wirtschaft und WisKernenergie bis zum Jahr senschaft eingerichtet. Die2030 konstant gehalten se Kommission soll über werden, müssen bei einer den Ausstieg aus der Kernprognostizierten Verdoppeenergie und den Einstieg in lung des Stromverbrauchs das Zeitalter der erneueretwa 900 Reaktoren instalbaren Energien nachdenliert sein. Dies würde beken. Dass diese Runde vor deuten, dass nach den gänallem wahltaktischen Übergigen Risikoabschätzungen legungen geschuldet ist, für Kernkraftwerke heutizeigt sich schon daran, dass gen Typs etwa alle zwölf die Kommission innerhalb Jahre ein Reaktor einen von nur drei Monaten ihre schweren Störfall hätte. Arbeit erledigen soll. Wir müssen damit nicht Die Kommission wird leben, wenn uns Alternativor allem eines nicht leisven mit geringeren Risiken ist einer der Vorsitzenden ten können, was jetzt zur Verfügung stehen. Die- im Weltklimarat IPCC, dringend geboten wäre: se Abwägung von Risiken der gerade einen die relevanten Fakten zu wird aber in der Energie- Sonderbericht einem Gesamtbild zusamdebatte seit Jahren buch- zu den erneuerbaren menzufügen. Beispielsweistäblich verweigert, weil Energien erstellt. se halten viele Ingenieure sich alle Beteiligten immer Der soll im Mai in die Szenarien zum euroschon auf bestimmte Vor- Abu Dhabi päischen Netzausbau für schläge festgelegt haben, verabschiedet werden zu optimistisch. Die vom die angeblich alternativBundeswirtschaftsminister und risikolos sind. eingesetzte Plattform für Die im vergangenen Sommer in Deutsch- zukunftsfähige Netze beschäftigt sich zwar land beschlossene Laufzeitverlängerung zum mit der Frage, wie der Netzausbau forciert Beispiel war keineswegs alternativlos. Es lag werden kann. Nur, den Bedarf an Netzen kann man auseine ganze Reihe von Studien vor, die gezeigt haben, dass eine Energiewende auch ohne schließlich dann ermitteln, wenn nicht bloß Laufzeitverlängerung möglich ist. Aber eine der Stromsektor isoliert betrachtet wird, sonEnergiewende hat ihren Preis: Wir müssen dern wenn zugleich die Rolle der erneuerdem technischen Fortschritt eine neue Rich- baren Energien im Wärmemarkt und Transportsektor geklärt wird. tung geben. Wir brauchen endlich eine Landkarte, die Wenn man gefährlichen Klimawandel vermeiden will, können bis zum Jahr 2050 noch zeigt, welche verschiedenen Wege zu einer etwa 750 Gigatonnen CO2 in der Atmosphä- nachhaltigen Energieversorgung beschritten re abgelagert werden. Mehr nicht. Das bedeu- werden können. Wer je an der Erstellung soltet, dass ein Großteil der fossilen Ressourcen cher Landkarten zum Ausbau der erneuerund Reserven im Boden bleiben muss. Dieje- baren Energien auf internationaler Ebene benigen, die Kohle, Öl und Gas verbrennen teiligt war, weiß, wie dünn die Faktenlage derwollen und damit die Atmosphäre als Depo- zeit noch ist. Wie schnell Deutschland aus der Kernnie nutzen, müssen daher einen erheblichen energie aussteigen kann, lässt sich insgesamt Preis dafür bezahlen. Dieser CO2-Preis würde dem technischen nur klären, wenn man akzeptiert, dass die Fortschritt eine neue Richtung geben: Energie- Teilprobleme nicht isoliert bearbeitet werden effizienz würde ein Geschäft, und vor allem können, ohne zu gravierenden Fehlurteilen zu die erneuerbaren Energien würden wett- kommen. Die parallel arbeitenden Gremien, die die Bundesregierung eingesetzt hat, werbewerbsfähig. So zeigen Studien, dass man zu geringen den daher diese Landkarten nicht erstellen. Mehrkosten global auf den Neubau von Kern- Diesen Runden fehlt das Mandat, das fragkraftwerken verzichten könnte, ohne die mentierte Wissen so zusammenzuführen, dass Klimaschutzziele und die Energiesicherheit zu die Politik und die Gesellschaft überhaupt gefährden. Die Vermeidungskosten würden entscheidungsfähig werden. Die Bundeskanzlerin könnte die politische sich von etwa 0,6 Prozent des WeltsozialproKrise nach den Landtagswahlen nutzen, um dukts auf etwa 0,7 Prozent steigern. Aber auch dieser Weg ist nicht risikolos: eine mutige Diskussion um eine NeuausrichDie Steigerung der Energieeffizienz könnte tung der Energiepolitik zu beginnen.

A DIE ANALYSE

Die Deutsche Telekom bereitet das juristische Ende der Spitzelaffäre vor. Am vergangenen Freitag veröffentlichte der Bonner Konzern die Einzelheiten zum geplanten Vergleich mit dem früheren Vorstandschef Kai-Uwe Ricke und dem ehemaligen Vorsitzenden des Aufsichtsrats, Klaus Zumwinkel. Auf der Hauptversammlung am 12. Mai müssen die Aktionäre darüber abstimmen, ob die Telekom darauf verzichtet, von beiden je eine knappe Million Euro Schadensersatz zu fordern. Die amtierenden Konzernlenker glauben nämlich, dass Ricke und Zumwinkel in den Jahren 2005 und 2006 ihre Sorgfaltspflichten verletzt haben – was die beiden bestreiten. Zu den Amtszeiten der Manager ließ die Sicherheitsabteilung der Telekom Dutzende Mitarbeiter, Gewerkschafter und Betriebsräte bespitzeln, um herauszufinden, wer Interna an die Presse gab. Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Ricke und Zumwinkel waren im vergangenen Sommer mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden. Stimmen die Aktionäre nun dem Vergleich zu, endet auch die zivilrechtliche Aufarbeitung des wohl größten Überwachungsskandals der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte. Der Inhalt des Vergleichs erlaubt tiefe Einsichten in die Gepflogenheiten der Managerhaftung. Im Wesentlichen sollen Ricke und Zumwinkel jeweils 600 000 Euro bezahlen. Davon wird die Managerhaftpflichtversicherung in beiden Fällen 350 000 Euro übernehmen, jeweils 250 000 Euro wollen Ricke und Zumwinkel selbst tragen. Der Vergleichstext verrät, dass die Zahlungen kein Eingeständnis von Verantwortung bedeuten

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

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Zumwinkels Ruhe Der ehemalige Aufsichtsratschef der Telekom will dem Konzern eine Viertelmillion Euro zahlen VON MARCUS ROHWETTER

sollen – die Manager beteuern also ausdrücklich, nicht rechtswidrig gehandelt zu haben. Man wolle nur eine wirtschaftlich vernünftige Lösung finden, um lange Schlammschlachten vor Gericht zu vermeiden. Anders gesagt ist die Summe also kein Gradmesser für die Schuld, sondern für das ökonomische Interesse aller Beteiligten, die Sache endgültig ruhen zu lassen. Interessant ist, dass die Versicherungen mitspielen. Was bleibt, ist jeweils eine Viertelmillion »Selbstbehalt«: Das ist der Preis des Friedens. Dieser Preis ist für beide Manager gleich hoch. Doch womöglich liegt ausgerechnet in dieser Gleichheit eine große Ungleichheit. Man kann den Text nämlich auch so lesen, dass Zumwinkel einen höheren Preis zu zahlen bereit ist als Ricke. Es ist normal, dass für Spitzenmanager Haftpflichtversicherungen abgeschlossen werden. Ebenso normal ist aber auch, dass diese keinen Vollkaskoschutz gewähren sollen. Im Jahre 2005, also dem ersten Jahr der Spitzelaffäre, legte eine Regierungskommission im Deutschen Corporate Governance Kodex fest, dass bei Versicherungen für Vorstände und Aufsichtsräte ein »angemessener Selbstbehalt« vorgesehen werden soll. Auch die Telekom hat sich damals diesem Kodex unterworfen. Was aber bedeutet »angemessen«? Und wie trägt man dabei dem Umstand Rechnung, dass ein Vorstandschef weitaus mehr Verantwortung für die Unternehmensgeschicke trägt als ein Aufsichtsrat, der lediglich kontrolliert? Damals war die Angemessenheit nur ein vager Rechtsbegriff. Erst mit der Überarbeitung des Kodex 2009 – da waren Ricke und Zumwinkel schon nicht mehr bei der Telekom

– kam eine konkrete Regelung. Was für Vorstände zwischenzeitlich gesetzlich vorgeschrieben wurde, empfahl der Kodex nun auch für Aufsichtsräte: Erstens sollen sie mindestens zehn Prozent des Schadens als »Selbstbehalt« tragen. Zweitens soll dieser Betrag auf nicht weniger als das 1,5-Fache der »festen jährlichen Vergütung« gedeckelt werden. Was »angemessen« ist, sollte also auch mit der Höhe der Bezüge korrespondieren: Wer mehr verdient, der zahlt gegebenenfalls auch mehr. Bei Ricke und Zumwinkel fielen die Festbezüge in den Jahren 2005 und 2006 höchst unterschiedlich aus: Ricke bekam 2,3 Millionen Euro, Zumwinkel nur 149 000 Euro. Und so mag es zwar sein, dass beide im vorliegenden Vergleichsvorschlag nominal die gleiche Summe als Selbstbehalt tragen sollen. Relativ zu den Bezügen würde Zumwinkel aber einen weitaus höheren Preis bezahlen. Führt man sich vor Augen, dass seine Rolle in der Spitzelaffäre besonders umstritten war, kann man sich schon fragen, warum er sich die Ruhe so viel kosten lässt. Zugegeben: Die Rechnung ist nicht ganz fair. Juristisch gesehen sind Zahlungen im Wege des Vergleichs eben keine Schadensersatzzahlungen, weswegen man den Kodex eigentlich nicht als Maßstab heranziehen darf. Ökonomisch gesehen kann es sich aber schon lohnen, die von Ricke und Zumwinkel freiwillig angebotenen Summen nicht nur nominal, sondern auch relativ zu betrachten. Ein Unbehagen bleibt in jedem Fall. Zumindest bis zur Hauptversammlung: Tagesordnungspunkte 26 und 27. www.zeit.de/audio

Kein Frieden – kein Wachstum Zu Recht fordert die Weltbank, dass Entwicklungspolitiker helfen, Bürgerkriege zu vermeiden Im wichtigsten Kakaoexportland der Welt herrscht Bürgerkrieg. Die Menschen in der Elfenbeinküste erleiden derzeit einen blutigen Machtkampf mit entsetzlichen Folgen für die Zivilbevölkerung. Man muss es wohl so sagen: Das Geschäft mit dem Kakaoexport allein ist kein Weg in den Wohlstand. Schon vor der Gewalteskalation war fast die Hälfte der Bewohner in Armut versunken und wurde regiert von einer maroden Verwaltung. Die ElfenbeinDER STANDPUNKT: küste zeigt damit erneut, was Entwicklungsexperten schon Etwa jeder vierte lange wissen und Mensch ist von was eigentlich auch selbstverständlich erGewalt und Not scheint: Krieg und bedroht. In Haiti Unterentwicklung sind eng miteinander oder dem Kongo verwoben. Schon der hat man keine Ökonom Paul Collier sah »die unterste Chance, seine Milliarde« in der Falle von RessourcenLage zu ändern konflikten, schlechter Regierungsführung oder ihrer geografischen Lage zwischen Krisenländern gefangen. In der Entwicklungspolitik spielte das aber nicht immer eine Rolle. Deshalb ist es begrüßenswert, wenn die Weltbank ihren diesjährigen Weltentwicklungsbericht genau diesem Zusammenhang widmet:

»Konflikte, Sicherheit und Entwicklung«. Kommende Woche stellen ihre Experten in Washington Lösungsansätze vor. Was kann Entwicklungspolitik in Staaten bewirken, die von wiederkehrenden Bürgerkriegen, Organisiertem Verbrechen und politischen Revolten zerrissen sind? Ihre Bilanz der internationalen Politik ist ernüchternd. Obwohl Interventionen in vielen Ländern Kriege beenden konnten, ist rund ein Viertel der Menschheit weiter von Gewalt bedroht und damit von Not. Zwar lebt die große Mehrheit der Armen in Schwellenländern wie China und Indien. Doch die geringste Chance, diesem Schicksal zu entkommen, hat man in Haiti, im Kongo oder in Sierra Leone, in Afghanistan oder Usbekistan. Dort ist das Risiko, Hunger zu leiden oder ein Kind zu verlieren, doppelt so hoch wie in anderen Entwicklungsländern. Keiner der fragilen Staaten hat eines der acht Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen erreicht. Deshalb fordern viele Experten, die internationalen Geber sollten dort mehr tun. Dringlich ist das, aber auch sehr schwierig. Nicht erst die Intervention in Afghanistan hat gezeigt, wie Entwicklungshilfe, die von außen kommt, von korrupten oder kriminellen Gruppen im Lande instrumentalisiert wird. Manche Nichtregierungsorganisationen warnen davor, die Entwicklungspolitik allzu dicht an der Seite der Außenpolitiker und Militärs zu leisten. Auch im Weltentwicklungsbericht wird betont, dass die Bank ihr Mandat nicht überschreiten, sondern die Wirkung ihrer Eingriffe in Krisenregionen verbessern wolle. Dazu hat das Forscherteam Er-

VON CHRISTIANE GREFE

fahrungen von Ländern wie Ghana und Mosambik ausgewertet, in denen es Fortschritte gibt. Man kann aus all dem etwas lernen. Das meiste klingt nicht neu, ist aber trotzdem richtig: Stabile demokratische Institutionen sind aufzubauen, einschließlich der Polizei. Man muss der Zivilgesellschaft Rückhalt geben, die Korruption bekämpfen, Verständigungsprozesse in den Gemeinden staatlich organisieren und bei all dem die Frauen einbeziehen. Das ist in der Praxis nicht leicht. Die Geber müssen in fragilen Staaten risikobereiter arbeiten. Sie müssen Rückschläge einstecken können und viel Geduld mitbringen. In der jüngeren Zeit ist auch ein vielversprechender neuer Ansatz entdeckt worden: Es zahlt sich offenbar aus, wenn der Staat einbezogen wird und viel Geld in arbeitsintensive Entwicklungsprogramme steckt. Dann finden die Menschen Jobs. Das ist eine Antwort auf das Problem, dass kriminelle Banden oder gewalttätige Rebellen überall Männer rekrutieren, die weder Jobs noch Perspektiven haben. Bisher hatte die Weltbank bei ihren Förderstrategien häufig allein auf Wachstumsraten geschaut, kaum aber auf deren Beschäftigungswirkung – und dabei Krisen wie in Nordafrika mit geschaffen. Der bevorstehende Weltbankbericht enthält auch die Ermahnung, dass interne Spannungen oft durch Einflüsse von außen verstärkt werden. Wenn sich zum Beispiel immer öfter Investoren aus den reichen Staaten wertvollen Boden oder andere Ressourcen in armen Ländern aneignen und damit lokale Landkonflikte schüren, dann sind internationale Regeln erforderlich, über die Entwicklungspolitik hinaus.

36 7. April 2011

WIRTSCHAFT

WAS BEWEGT

DIE ZEIT No 15

Foto: Tony Blei/Polaris/laif für DIE ZEIT; kl. Fotos v.o.n.u.: Photothek; Timur Emek/dapd/ddp

Fred Langhammer?

Fred Langhammer auf seiner Ranch in Carefree, Arizona

Karriere interkontinental Der Deutsche war Chef des Kosmetikriesen Estée Lauder. Heute investiert er in Medien und Wasser

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er Raum strotzt nur so vor Zeichen der Macht. Der Ausblick auf den Central Park. Ein Modell des Privatflugzeugs Citation X auf der Fensterbank. Die Fotos mit Bundeskanzlerin Merkel oder dem chinesischen Staatspräsidenten auf dem Regal. Fred Langhammer ist nicht oft in dem Büro in dem New Yorker Hochhaus. Als Chef für globale Angelegenheiten des Kosmetikgiganten Estée Lauder ist er viel unterwegs. Der 67-Jährige reist außerdem in seinen Rollen als Großinvestor und als Vermittler in den deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen durch die Welt. Der Aufstieg Langhammers entspricht dem Tellerwäscher-Klischee. Gerade mal volljährig, ohne ein Wort Englisch zu sprechen, ohne eine nennenswerte Ausbildung und ohne Geld kam er Anfang der sechziger Jahre nach Kanada. In seinem ersten Job leerte er die Mülleimer in einem Kaufhaus aus. Heute besitzt er sehr viel Geld, baut einen globalen Wasserkonzern mit auf und finanziert am VelenceSee in Ungarn das »Las Vegas von Europa«. »Er ist ein unheimlich starker Mensch, emotional, physisch, eine Führungspersönlichkeit«, sagt Unternehmensberater Roland Berger, der Langhammer seit 20 Jahren kennt. In Deutschland machte Langhammer Schlagzeilen, als er 2000 Vorstandschef von Estée Lauder wurde, einer der wenigen Deutschen, die es an die Spitze eines großen US-Konzerns geschafft hatten. Langhammer sitzt heute noch in wichtigen Aufsichtsgremien wie dem Board of Directors des Mediengiganten Disney, wo er auf Apple-Chef Steve Jobs trifft. Als Co-Chairman des American Institute of Contemporary German Studies (AICGS), eines auf amerikanisch-deutsche Angelegenheiten spezialisierten Thinktanks mit Sitz in Washington, D. C., spielt er eine wichtige Rolle in den transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen. »Er ist schlicht unersetzlich«, sagt Jackson Janes, Geschäftsführer des AICGS.

Mit 18 wanderte er von München nach Kanada aus Langhammer kommt aus einfachen Verhältnissen. Seine Mutter arbeitete als Küchenhilfe, um die vier Kinder durchzubringen. Als Heimatvertriebene aus Karlsbad strandete die Familie – der Vater war im Krieg gefallen – in München. Der junge Langhammer brannte vor Ehrgeiz. Nichts wie raus aus den beengten Verhält-

nissen. Nach einer Lehre als Bürokaufmann folgte er 1963 seinem Bruder nach Toronto, um ihm in dessen Malerbetrieb zu helfen. Die Arbeit gefiel ihm aber nicht. Lieber sammelte er für 57 kanadische Dollar die Woche im Warenhaus Eaton’s den Müll ein. Als er seine Karre durch die Abteilungen schob, »starrte und staunte« er nur so – und sammelte Einzelhandelserfahrung. Eins wurde ihm in seiner Situation klar: »Mit dem Job kriege ich die hübschen Mädchen nicht.« Also lernte er jeden Abend sechs Stunden Englisch. Mit guten Testergebnissen ergatterte er sich ein Stipendium. Mit Glück und Beziehungen kam er bei Eaton’s ins Traineeprogramm. Langhammer bewährte sich als Einkaufsmanager für das Sanitär- und Heizungsgeschäft, dann für Damenmode. Sein Sinn für das Wesentliche, seine Tatkraft und sein Organisationstalent hoben ihn hervor. »Er ist voller Ideen, hat aber das Glück, nicht mehr Einfälle zu haben, als er umsetzen kann«, sagt Unternehmensberater Berger. Langhammer stieg sechs Jahre nach seiner Einwanderung bei Eaton’s zum Gruppenchef der Damenmode auf, verdiente das damalige Jahrestraumgehalt von 15 000 Dollar. Das reichte, um sich in einem schicken Vorort ein Haus mit drei Schlafzimmern zu kaufen und mit einem Sportwagen Jaguar XKE durch Toronto zu brettern. Da war er 24 Jahre alt. Als ihm ein englischer Lieferant eine Leitungsfunktion in Japan anbietet, schlägt er ein. Ohne ein Wort Japanisch zu sprechen, reiste Langhammer nach Tokyo. Vier Monate lang wechselten sich fünf Lehrer im 40-MinutenTakt ab, um ihm zwölf Stunden am Tag die fremdartige Sprache beizubringen. Sein Name machte in der japanischen Geschäftswelt bald die Runde. Ein paar Jahre später kam ein Angebot von Estée Lauder. Langhammer konnte mit dem Namen nicht viel anfangen. Der amerikanische Kosmetikkonzern war 1946 von der legendären Geschäftsfrau gleichen Namens gegründet worden Sie hatte damals mit ihrem Ehemann einen Verkaufsstand im New Yorker Kaufhaus Saks eröffnet. Estée Lauder wuchs zu einer Branchengröße heran, expandierte Anfang der sechziger Jahre erfolgreich nach England und Hongkong. Doch in Japan kamen die Geschäfte nicht richtig voran. Langhammer kannte sich aus im japanischen Einzelhandel. Und er ging gleich zum Angriff über. Er trommelte die Chefs der wichtigsten

VON THOMAS JAHN

Kaufhäuser zusammen: Am Tag kämen 200 000 Kunden, davon 75 Prozent Frauen, die aber so gut wie keine Kosmetik kauften. Demnach missbrauche die Konkurrenz die Kaufhausstände als Werbefläche, die eigentlichen Umsätze mache sie in eigenen Geschäften. Sein Angebot: Die Kaufhäuser könnten Estée-Lauder-Produkte für eine höhere Gewinnbeteiligung exklusiv verkaufen. Der Deal schlug prächtig ein. Schon bald erlöste Estée Lauder in Japan jährlich 100 Millionen Dollar und erzielte eine Rendite von 25 Prozent. Das Land wurde für Estée Lauder zum wichtigsten Auslandsmarkt, bis es von China überholt wurde.

Problemlos fachsimpelt er auf Japanisch an der Sushi-Theke 1982 schickte ihn die Firma in sein deutsches Heimatland. Langhammer glänzte auch hier mit Ideen und bestand die Reifeprüfung. 1985 wurde er als Chief Operating Officer in die New Yorker Konzernzentrale geholt. Unter seiner Führung weitete das Unternehmen seine Vertriebskanäle von Kaufhäusern auf Friseursalons und andere Geschäfte aus. Weitere Deals folgten. 1993 lizenzierte Estée Lauder zum ersten Mal mit Tommy Hilfiger den Namen eines Modedesigners für Kosmetikprodukte, Donna Karan mit dem DKNY-Label folgte. Dazu kaufte Langhammer kleinere Marken wie Bobbi Brown, Aveda oder Sassaby und hebelte ihre Produkte mithilfe des Vertriebsnetzes und der Marketingpower von Estée Lauder zu hohen Millionenumsätzen. Auch beim Börsengang des Unternehmens im Jahr 1995 spielte der Deutsche eine zentrale Rolle. 2000 wurde Langhammer schließlich Vorstandschef und steuerte das Unternehmen nach dem Platzen der Internetblase durch die Rezession. 2004 übergab Langhammer den Chefposten an William Lauder, einen Enkel der Firmengründerin. Auch nach dem Börsengang wird Estée Lauder weiterhin von der Familie kontrolliert, die über 84 Prozent der Stimmrechte verfügt. Zahlreiche Familienmitglieder besetzen Schlüsselpositionen. Der junge Lauder allerdings wurde schon nach wenigen Jahren durch den Procter&-Gamble-Manager Fabrizio Freda abgelöst. Langhammer ist der Freund und Treuhänder von Ronald Lauder, dem Sohn der Firmengründerin, der mit 2,8 Milliarden Dollar einer der reichsten Menschen Amerikas ist. Die beiden in-

vestieren zusammen, eine wichtige Beteiligung ist Central European Media Enterprise (CME), das in Tschechien, Rumänien, Bulgarien, Kroatien und der Slowakei Fernsehsender betreibt. Lauder gründete das Medienunternehmen Mitte der neunziger Jahre, 2009 setzte es mehr als 700 Millionen Dollar um. Das neuste Projekt des Lauder-LanghammerDuos ist ein globaler Wasserkonzern. Anfang 2010 kauften die beiden Männer den israelischen Wasseraufbereiter Nirosoft, im November Aeromix, eine Abwasseraufbereitungsfirma in Minnesota. Die Unternehmen fassen sie in einer Holding namens RWL mit Sitz in New York zusammen, die inzwischen über insgesamt 3000 Wassernetze in 60 Ländern verfügt. Schmuckloses Gebäude, kleines Schild, ein Eingang mit Briefkästen. Nur Eingeweihte wie Langhammer laufen nicht am Kurumazushi auf der 47. Straße in New York vorbei. Der ZweiMeter-Mann zwängt sich im Hausflur in einen Fahrstuhl, der sich im zweiten Stock öffnet und den Weg in das winzige Restaurant freigibt. »Arigato gozaimashita«, singen die Kellner. »Konichwa!«, ruft der Deutsche, geht zum Chef Toshihiro Uezu hinter der Sushi-Theke und plaudert mit ihm auf Japanisch. Es ist ein fast komisches Bild, wie der Riese Langhammer mit dem klein geratenen Fischmeister fachsimpelt. Am Tisch ruft er ihm noch zu: »Joto mono, kudasei!« Übersetzt heißt das in etwa »Jetzt hol aber die guten Sachen raus«. Die Nuklearkatastrophe in Japan hält ihn nicht vom Fischessen ab. Überhaupt hält er die deutsche Angst vor dem Reaktor in Fukushima für wenig mehr als Hysterie. Die Strahlenbelastung sei außerhalb der Sperrzone niedrig, die Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze gering. Der Wiederaufbau werde rasch geschehen, die Treue zum Land und zu den Mitbürgern gehe für den Japaner über alles. »Die Tragödie dort ist für mich aber nur schwer anzusehen«, sagt Langhammer. Erdbeben hat er in seiner Zeit in Japan »andauernd« erlebt, das schlimmste mit einer 6 auf der Richterskala. Damals war er im 50. Stock eines Hochhauses im Tokyoter Stadtteil Shinjuku. Das Gebäude schwankte fünf Meter nach links und fünf Meter nach rechts. »Das ist ein furchtbares Gefühl«, erinnert sich Langhammer. »Auf einmal schwimmen einem alle Felle weg.« Das, so viel ist sicher, kann man nicht oft aus Langhammers Mund hören.

Idee für Tempelhof In Deutschland sorgten die Investoren Fred Langhammer und Ronald Lauder (Foto unten) 2006 für Aufsehen, als sie 350 Millionen Euro für eine Klinik im Berliner Flughafen Tempelhof investieren wollten. Auch ein Schulungszentrum, eine Forschungsstätte und ein Hotel waren in dem Konzept vorgesehen. Das Projekt scheiterte jedoch am Berliner Senat, der andere Vorstellungen hatte. »Die haben sich noch nicht mal die Mühe gemacht, sich den Vorschlag anzusehen«, sagt Fred Langhammer. Er ist heute noch sauer. Vorwürfe wie »Luxusklinik« oder »reicher Onkel aus Amerika« nagen an ihm. Noch mehr bringt den erfahrenen Unternehmer der wirtschaftliche Schaden in Wallung: »Tempelhof ist heute eine Ruine, kostet den Steuerzahler jährlich 20 Millionen Euro«, sagt er, »mal ganz abgesehen von den vielen Arbeitsplätzen, die nicht entstanden sind.« Langhammer ist fest davon überzeugt, dass das Diagnosezentrum ein Magnet für eine neue Gesundheitsindustrie in Berlin geworden wäre. Der innerstädtische Flughafen Tempelhof (Foto unten), der 1923 den Linienverkehr aufnahm, wurde im Oktober 2008 stillgelegt. Nach den Plänen des Berliner Senats soll dort ein großes Kulturzentrum entstehen. Schon heute dienen die alten Gebäude als Messe- und Veranstaltungsort. Auf der unbebauten großen Grünfläche ist eine Parklandschaft geplant. Im Jahr 2017 soll auf dem Gelände die Internationale Gartenschau stattfinden. JUN

WISSEN

Plutonium: Der Stoff, aus dem die Atombomben und Brennstäbe sind S. 40

KINDERZEIT Freiheit statt Mathe – wie Selma und Yakoub die Revolution in Tunesien erlebten S. 47

T I T E LG E S C H I C H T E

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

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BILDUNG

MYTHOS TREUE

Fast alle Menschen fordern Treue in der Partnerschaft. Doch sozialwissenschaftliche Studien zeigen, dass es damit in Wirklichkeit nicht weit her ist. (diese Seite) Auch für Literaten und Philosophen ist die Treue eines der ganz großen Themen. Was lehren uns ihre Erkenntnisse? (Seite 38) Der Blick in die Historie zeigt: Frei über ihr Liebesleben bestimmen konnten die Menschen nur selten. (Seite 38) Evolutionsbiologen sagen: Monogamie ist nicht natürlich – und Treue eine kulturelle Leistung (Seite 39)

Sonniges Glück: Die Schauspieler Lisa Hagmeister und Thomas Niehaus vom Thalia Theater Hamburg ...

Das ewige Ideal Wie wollen wir es mit der Treue halten? Und wie gut gelingt uns das? Psychologen ergründen Wunsch und Wirklichkeit VON STEFANIE SCHRAMM Mehr als 90 Prozent der Menschen wünschen sich Treue, so eine Studie aus Hamburg und Leipzig. 50 Prozent der Befragten gaben zu, schon einmal fremdgegangen zu sein. 3 Prozent aller Säugetiere gehen Paarbeziehungen ein, wirklich monogam lebt kaum eins davon.

Schwäne – sie wurden fast allesamt per DNAVaterschaftstest der Untreue überführt (siehe Interview Seite 39). Unsere mäßige Monogamie ist da schon eine gewaltige kulturelle Leistung wider jede Natur. Aber was entscheidet letztlich, ob wir treu sind? Und: Stehen Wollen und Sein wirklich so unauflösbar im Widerspruch zueinander, wie die eingangs zitierten Zahlen es glauben machen? Eine Standpunktbestimmung in fünf Schritten.

Fast alle wollen es, doch nur die Hälfte tut es: treu sein, lebenslang. Wunsch und Wirklichkeit klaffen drastisch auseinander. Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach, schon klar. Doch trotz breitgetretener Promi-Affären, Seitensprung-Dramen Der Wunsch – Die Treue erscheint uns atim Bekanntenkreis, eigener Fehltritte – der innige traktiv. Das sagen alle Umfragen, alle StatistiWunsch nach Exklusivität mit dem oder der einen ken. Der Psychologe Christoph Kröger, Leiter ist offenbar nicht zu zerstören. »Es ist verblüffend, der Psychotherapieambulanz der Technischen Uniaber das Ideal der Treue übersteht mühelos alle Va- versität Braunschweig, hat sie in einer Übersichtsrianten des Zeitgeistes – bürgerliche, unbürger- studie zusammengetragen. Er findet den starken liche, antibürgerliche, konservative, liberale, rech- Wunsch nach Treue wenig überraschend: »Wertte, linke«, schreibt der Journalist Markus Spieker vorstellungen sind sehr robust, sehr konservativ. in seinem gerade erschienenen Buch Mono. Die Wenn man das auf dieser abstrakten Ebene abfragt, Lust auf Treue. Und der Autor Matthias Kalle feiert erhält man natürlich solche Antworten.« in seinem demnächst erscheinenden Buch Erstmal Frühere Umfragen lieferten allerdings nur Mofür immer ausgerechnet die Heirat aus Liebe als die mentaufnahmen, statistische Schnappschüsse. EndRevolution der 30-jährigen Scheidungskinder. lich der Konjunktur der Treue und des Wunsches Warum überlebt das Ideal der Treue die stete danach auf die Spur kommen wollen die Psychologin Widerlegung durch die Realität? Warum Sabine Walper von der Münchner Ludwigstreben wir immer wieder aufs Maximilians-Universität und ihre Neue danach? Kollegen vom Projekt pairfam. Seit Wo doch der Reiz des Un2008 befragen sie 12 402 Deutbekannten stärker denn je sche zu Partnerschaft und lockt. Wo wir doch längst Familie, jedes Jahr aufs Neue, % % ein unausgesprochenes Zu14 Jahre lang. Ein enormer geboren geboren geständnis gemacht haben: Aufwand. Gerade fängt Walper 1990 –1994 1970 –1974 Heute gilt nicht mehr nur als an, die Ergebnisse der zweiten treu, wer sein ganzes Leben Welle auszuwerten, voller Un»Ich bin im vergangenen exklusiv mit dem oder der einen geduld. »Ich würde liebend gern Jahr fremdverbringt; es reicht schon, wenn ein paar Jahre vorspulen.« gegangen.« man einem Partner nach dem andeBisher sehen die Forscher den groren die Treue hält. Serielle Monogamie ßen Wunsch nach Treue bestätigt – und also, Treue light. machten eine hochspannende Entdeckung: Biologen bescheinigen uns ohnehin nur beAm wichtigsten ist Exklusivität den Jugendlichen dingte Eignung. Allenfalls »sozial monogam« sei (geboren zwischen 1990 und 1994). Der Aussage homo sapiens – ein gemeinsames Nest ja, sexuelle »Fremdgehen wäre für mich ein ernsthaftes BezieExklusivität na ja. Alles kruder, pessimistischer hungsproblem« stimmen 77 Prozent von ihnen »voll Biologismus? Sagen wir es so: Angesichts unserer und ganz« zu, bei den 20 Jahre älteren Testpersonen evolutionären Vergangenheit ist es geradezu ver- sind es nur 62 Prozent. Die eingangs erwähnte Hamblüffend, dass die Hälfte der Menschen es schafft, burg-Leipziger Studie von 2002 (die aktuellste abgetreu zu sein. Bei den allermeisten Lebewesen ist es schlossene zu dem Thema, die sich allerdings auf mit der Monogamie nämlich nicht weit her. Selbst Großstädte beschränkt) hatte bereits in eine ähnliche die zur Zweisamkeit neigenden Vögel, die possier- Richtung gedeutet: Die 30-Jährigen waren wesentlich lichen Blaumeisen, die romantisch verklärten strenger als die 60-Jährigen. Das passt ins Bild einer

Foto: Armin Smailovic für DIE ZEIT/www.smailovic.com; Grafik: DZ (Quellen: Pairfam-Studie, Hamburg-Leipziger Drei-Generationen-Studie)

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4,5 1,8

77% 62 %

jungen Generation, die sich wieder auf alte Werte besinnt, wie diverse Jugendstudien zeigen. Eine Generation, die Exklusivität weit höher schätzt als ihre Eltern?

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geboren 1990 – 1994

geboren 1970 –1974

sie in der Realität weniger treu. »Nirgendwo klaffen Wunsch und Wirklichkeit so weit auseinander wie bei den ganz Jungen«, sagt die Psychologin Walper. Und Silja Matthiesen vom Institut für Sexualforschung der Universität Hamburg meint: »Bei Jugendlichen zeigt sich das Problem der Treue wie unter einem Brennglas.« Sie hat an der Hamburg-Leipziger Studie mitgearbeitet und erforscht besonders die Sexualität von Jugendlichen. »Treue ist für Teenager ein ganz wichtiger Wert, und Untreue beginnt schon beim ›Fremdknutschen‹.« In der Praxis aber wechselten sie sehr schnell den Partner, sobald sie jemand Neues interessiere – pro forma bleibe die Exklusivität gewahrt. »Aber die Idee der Treue ist ja eine andere«, sagt Matthiesen. »Der große Wunsch danach entspringt dem Versuch der Jugendlichen, in der komplizierten Welt der Beziehungen Ordnung zu schaffen, sich an einfachen Maßstäben zu orientieren.« Wenn sich also regelmäßig neun von zehn Erwachsenen Treue wünschen, dann ist auch das womöglich vor allem eins: ein Wunsch. Er spricht vom Bedürfnis nach Verlässlichkeit, der Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen – gerade weil die Wirklichkeit oft anders aussieht. So gesehen widerspricht die Sehnsucht der Realität gar nicht, sie ergibt sich im Gegenteil aus ihr.

»Fremdgehen wäre für mich ein ernsthaftes Beziehungsproblem.«

Die Wirklichkeit – Damit beginnt der heikle Teil. Ständig verbreiten Männermagazine, Frauenzeitschriften und Internetforen Umfragen zu Bettgeschichten (nicht selten angefertigt im Auftrag von Kondomherstellern). Was soll man da glauben? Selbst die wenigen streng wissenschaftlichen Befragungen, auf denen dieser Artikel fußt, stoßen an Grenzen. In den peinlich genauen Interviews des US-Sexforschers Alfred Kinsey, der darauf spezialisiert war, seinen Probanden intime Details zu entlocken, führte in den vierziger und fünfziger Jahren keine andere Frage so oft zu der Antwort: »No comment.« Auch in der aktuellen pairfam-Studie verweigern rund drei Prozent die Auskunft. Wenn die delikaten Fragen an der Reihe sind, lassen die pairfam-Interviewer daher die Teilnehmer ihre Antworten selbst in den Laptop tippen. »Sie sind angewiesen, in ihren Unterlagen zu wühlen oder zum Klo zu gehen«, sagt Walper. Dennoch müsse man mit den Daten vorsichtig umgehen: »Auch unsere Testpersonen haben bisher eher zurückhaltend geantwortet.« Sie hofft aber, dass sich in ihrer repräsentativen Längsschnittstudie über die Jahre hinweg ein Vertrauensverhältnis aufbaut. Wenn dann 2020 mehr Affären ans Licht kommen, muss das nicht heißen, dass die Deutschen untreuer geworden sind – sondern womöglich nur ehrlicher. Anders als die Hamburg-Leipziger fragt die pairfam-Studie ausschließlich nach Seitensprüngen im jeweils vergangenen Jahr. Damit sinkt der Anteil der Fremdgänger erheblich, das zeigte bereits die Befragung der Großstädter. Während 50 Prozent irgendwann in ihrem Leben schon einmal untreu waren, waren es in der aktuellen Beziehung 28 Prozent und im vergangenen Jahr weniger als 10 Prozent. Man könnte auch sagen: Die meisten Menschen sind die meiste Zeit in ihrem Leben tatsächlich treu. Die Daten von pairfam deuten nun auf ein überraschendes Phänomen hin. Ähnlich wie schon in der ersten gaben jetzt auch in der zweiten Runde 4,5 Prozent der Teenager einen Seitensprung im vergangenen Jahr an – aber nur 1,8 Prozent der Teilnehmer Ende 30. Während die Jugendlichen also Treue als weitaus wichtiger bezeichnen, sind

4,5

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Die Lust auf Neues – Für Evolutionsbiologen ist die Sache klar: Die Chance, dass die eigenen Gene weiterverbreitet werden, wächst sowohl mit der Qualität als auch mit der Quantität des Nachwuchses. Und Männer können mehr Kinder haben, wenn sie mehr Frauen haben. Frauen wiederum können sich, um gesündere, klügere, hübschere Kinder zu bekommen, gezielt interessante Erzeuger angeln (zusätzlich zum verlässlichen Versorger). Spätestens wenn in einer Partnerschaft die Kinder aus dem Gröbsten heraus seien, wachse daher die Lust auf Abwechslung. Und das Ende der Verliebtheit markiere den Beginn eines »neuen genetischen Projekts«, wie es der Evolutionspsychologe Dietrich Klusmann vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf trocken formuliert. Die Empirie der Untreue scheint das zu bestätigen. Fast drei Viertel der Fremdgänger aus der Fortsetzung auf S. 38

Großes Phlegma Wo bleibt die Debatte über die hohe Zahl der Analphabeten? Man stelle sich vor: Die Bundesregierung verkündet, dass Millionen Deutsche weder lesen noch schreiben können. Tauchte eine solche Meldung danach nicht prominent in allen Zeitungen auf, und würden nicht Leitartikler den Niedergang der »Bildungsrepublik Deutschland« beklagen? Politiker aller Parteien forderten »Sofortmaßnahmen«. Sofort gäbe es eine Aktuelle Stunde im Bundestag. Auf dem Höhepunkt der Debatte würde die Kanzlerin einen »Alphabetisierungsgipfel« einberufen. So würde es geschehen, oder? Von wegen. Die Veröffentlichung hat stattgefunden, das Bildungsdesaster ist real – sämtliche Reaktionen aber blieben aus. Tatsächlich stellte Ende Februar das Bundesbildungsministerium eine Studie vor, der zufolge in Deutschland mehr als sieben Millionen funktionale Analphabeten leben (ZEIT Nr. 10/2011). Diese Menschen können nur mit Mühe kurze Sätze lesen und schreiben; zwei Millionen kapitulieren sogar ganz vor dieser Aufgabe. Weitere 13 Millionen Erwachsene kommen in puncto Formulierungsfähigkeit nicht über Grundschulniveau hinaus. Doch den meisten Zeitungen war der Befund nur eine kleine Nachricht wert. Auch für die Politik war das Ausmaß der Lese- und Schreibunfähigkeit kein Thema. Der von Annette Schavan angekündigte »Pakt für Grundbildung« ist so unverbindlich, dass er getrost vergessen werden kann. Es gab eben wichtigere Themen, werden viele sagen: die Guttenberg-Affäre, der bedrohte Euro, schließlich die Katastrophe in Japan oder die Krise der FDP. Man könnte die Nachrichten des Frühjahrs aber auch anders gewichten: Die Millionen Analphabeten sind verheerender für das Bildungssystem als Hunderte gefälschter Doktorarbeiten. Sie sind konkreter als der vermeintliche Untergang des Euro und zahlenmäßig bedeutender als alle FDPWähler zusammen. Ganz zu schweigen von den finanziellen und sozialen Konsequenzen der nationalen Leseschwäche: So gelten viele der Betroffenen den Arbeitsagenturen als nicht vermittelbar. Analphabeten jedoch haben nun einmal keine Lobby. Sie lesen keine Zeitung, gehen nur selten zur Wahl. Massendemonstrationen sind von ihnen nicht zu erwarten. Statt sich zu ihrer Schwäche zu bekennen, kaschieren die meisten Illiteraten trickreich ihr Defizit (»Lesebrille vergessen«). Als politisches Hindernis, um dem Missstand entgegenzutreten, erweisen sich einmal mehr die zersplitterten Zuständigkeiten, zwischen Berlin und den Ländern, zwischen Bildungs-, Sozial- und Arbeitsministerien. Immerhin: Der Bund hat ein Forschungsprogramm finanziert. In den Ländern dagegen herrscht, obwohl sie auf dem Feld hauptverantwortlich sind, völliges Phlegma. Wie es anders geht, zeigt Nachbar England. Hier hat die Regierung eine nationale Alphabetisierungsstrategie entwickelt und dafür mehr als 3,6 Milliarden Euro ausgegeben. Das war vor zehn Jahren – seither sinken die Analphabetenzahlen auf der britischen Insel. In Deutschland dagegen wird man das Problem vermutlich auch die nächsten zehn Jahre ignorieren. MARTIN SPIEWAK

Essen ohne Jagen Auf einen Schlag so bekannt wie Lübeck oder Travemünde wurde jetzt das nahegelegene Ratekau. Lehrer der Cesar-Klein-Schule haben im Rahmen eines Steinzeit-Projektes ein Kaninchen geschlachtet, und zwar als Anschauung für Fünftklässler. Unterschriftenlisten, StrafHALB anzeigen, überregionale Berichterstattung sind die Folge. Was hat die Ratekauer bloß geritten? Nun stellt Schlachten ja den fast unverzichtbaren Höhepunkt aller erlebnispädagogischen Überlebensseminare dar. Gern erinnern wir uns an die letzten Minuten des Wollschweins in der SWR-Dokumentation Steinzeit – das Experiment. Diese Tiere sterben, damit sich die Jugend an dem vom Natursoziologen Rainer Brämer entdeckten »Schlachthaus-Paradox« abarbeitet: Niemand findet Schlachten wichtig, aber alle essen Tiere. Gegen das Lernziel »Wissen, woher das Fleisch kommt« ist nichts einzuwenden. Doch ein Schmusekaninchen ans Messer zu liefern, wo die Steinzeit von Nutztierhaltung noch gar nichts ahnte, das muss gegeißelt werden – in Ratekau betrog man die Kinder um das Jagderlebnis! BUS

WISSEN

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DIE ZEIT No 15

Die Utopie der Liebe

Fortsetzung von S. 37

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Die Sehnsucht nach Beständigkeit – Mit diesen Möglichkeiten der Moderne konfrontiert und dem Erbe der Evolution im Gepäck ist es eigentlich eher erstaunlich, dass wir nicht alle zu notorischen Seitenspringern und Fremdgängern werden. Doch die Neigung zur Untreue hat einen natürlichen Gegenspieler – unser tief verwurzeltes Bedürfnis nach Bindung. Das begründen die Evolutionspsychologen gewohnt nüchtern: Die Überlebenschancen der Sprösslinge steigen, wenn sich beide Elternteile um diese kümmern. Das gilt umso mehr, je aufwendiger die Aufzucht ist. Und da ist der Mensch einsame Spitze. Entsprechend wichtig ist eine starke emotionale Bindung, für die sich in der Biochemie des Hirns zwei Botenstoffe herausgebildet haben, die Hormone Oxytozin und Vasopressin. Ein Team um den schwedischen Genetiker Hans Walum vom Karolinska-Institut in Stockholm fand heraus, dass Männer, bei denen ein Gen für den VasopressinRezeptor verändert war, seltener verheiratet waren und häufiger Ehekrisen oder Scheidungen durchmachten (und obendrein von ihren Ehefrauen ein schlechteres Zeugnis ausgestellt bekamen). Es widerspricht allen bisherigen Erkenntnissen, ein einzelnes »Treuegen« für Monogamie zu suchen. Jedoch haben verschiedene Studien gezeigt, dass Menschen mit einem guten Selbstwertgefühl, geringen narzisstischen oder neurotischen Persönlichkeitszügen und geringer depressiver Veranlagung seltener fremdgingen. Ob jemand treu ist, hängt also durchaus mit seiner Persönlichkeit zusammen – die wiederum in Teilen erblich ist. Außerdem erhöhen äußere Einflüsse die Bindung zwischen zwei Partnern und senken das Untreue-Risiko. »Das sind vor allem der Haus-undHof-Faktor und ein gemeinsamer Bekanntenkreis«, sagt der Psychologe Kröger – gemeinsame Investitionen also und soziale Kontrolle. Welche Rolle hingegen Kinder spielen, ist umstritten: »Sie können natürlich zusammenschweißen, aber eine Beziehung auch extrem belasten.« Und auch die Wirkung des Faktors Ehe ist undurchsichtig. Zwar sind Verhei-

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it der Treue verhält es sich wie mit dem ICE. Kommt er pünktlich ans Ziel, so redet keiner davon. Entgleist er jedoch, so ist es eine Nachricht, die jeden beschäftigt. Die Seitensprünge königlicher Hoheiten, die Scheidungen prominenter Präsidenten füllen die Blätter, und von den Affären der Reichen und Schönen zehren die Magazine tagaus, tagein. Ihre Leser und Zuschauer nehmen begierig daran Anteil, ob mit offener Schadenfreude oder verhohlener Nachahmungslust. Es entsteht der Eindruck, die Treue sei etwas Seltenes, allmählich Verschwindendes. Ist sie nicht eine unrettbar altmodische Tugend, die einer zeitgemäß flexiblen Lebensweise nicht mehr entspricht? Tatsächlich aber sind Paare einander aber häufiger treu als untreu, und heutzutage nicht seltener als zu anderen Zeiten. Die Liebe ist ohne das Gelöbnis der Treue im Grunde nicht denkbar. Denn, wie es in Kierkegaards Traktat Entweder – Oder (1843) heißt: »Die Liebe begehrt nur einen zu lieben und hat darin ihre Glückseligkeit, sie begehrt nur einmal zu lieben und hat darin ihre Ewigkeit.« Man muss sich aber, wenn man diesen wunderbar pathetischen Satz zitiert, vor Augen halten, wer ihn spricht. Kierkegaards listiges Buch ist ein Streitgespräch zweier Gegenspieler. Der eine schwelgt in Fantasien der Verführung, der andere preist die ewige Treue. Der Verführer sagt: »Man hüte sich vor der Ehe! Eheleute

geloben einander Liebe auf ewig. Das ist nun zwar ziemlich leicht, hat aber auch nicht viel zu bedeuten. Denn würden wir mit der Zeit fertig: die Ewigkeit sollte uns nicht viel zu schaffen machen. Wenn die Betreffenden statt ›auf ewig‹ etwa sagen würden bis ›Ostern‹ oder bis zum Mai nächsten Jahres, so hätte das doch einen Sinn, damit wäre wirklich etwas gesagt, etwas, worüber sich reden ließe.« Während der Verführer also das Versprechen der Dauer als Illusion entlarvt, zeigt der Verteidiger der Treue, dass eine Liebe, die einzig auf den Augenblick der Wollust zielt, keine sein kann. Keine Liebe kann auf den Gedanken der Dauer verzichten, sie will die Ewigkeit des Augenblicks. Er kritisiert einen Liebhaber, »der frech genug ist, dem unglücklichen Mädchen, das nur einmal lieben konnte, zu sagen: so viel verlange ich ja gar nicht, ich bin mit weniger zufrieden; es fällt mir gar nicht ein, von dir zu fordern, dass du mich in alle Ewigkeit liebst, wenn du mich bloß in dem Augenblick liebst, da ich dich begehre.« Nein, sagt der Verteidiger, »die Liebe hat eine Analogie mit dem Sittlichen durch das wenn auch illusorische Ewigkeitsbewusstsein, das sie veredelt und aus dem Reich der bloßen Sinnlichkeit heraushebt. Aber diese wahre Ewigkeit kommt nur zustande durch eine Willenbestimmung.« Damit ist das Problem benannt. Wer sagt: »Ich liebe dich«, der kann nicht, ohne sich zu widersprechen, hinzufügen: »... bis zum nächsten Jahr.« Und wenn er aus Gründen der Ehr-

verheiratet

unverheiratet

(im vergangenen Jahr fremdgegangen)

Treu durch Trauschein?

eue

... haben für den Fotografen Armin Smailovic Szenen einer Partnerschaft dargestellt, ...

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www.zeit.de/audio

U

nd sogar vor dem Hintergrund der Untreue noch gilt die Treue als Unterpfand der Zugeneigtheit. Selbst die Geliebte, die den Seitensprung empfängt, erwartet Treue hinsichtlich potenzieller Konkurrentinnen, und einer der Gründe für Jörg Kachelmanns Fall scheint ebendies gewesen zu sein: dass sich seine Gespielinnen dadurch betrogen fühlten, dass es noch andere gab. Was immer wir Liebe nennen wollen, ob sexuelles Begehren oder ganzheitliches Vertrauen, kommt ohne den Gedanken der Treue nicht aus.

Und deshalb ist die Literatur, sind die Mythen voll von Liebespaaren, die das Ideal der Treue vollendet verkörpern: Penelope, die alle Werber zurückweist und keusch auf die Rückkehr ihres Odysseus wartet; Romeo und Julia, die gegen alle Widerstände an ihrer Liebe festhalten bis zum Tod; Orpheus, der seiner Eurydike ins Reich der Schatten nachfolgt; Philemon und Baucis, die von Zeus das Geschenk erhalten, in ewiger Treue miteinander verbunden zu sein und gleichzeitig zu sterben. Philemon wird, als ihn der Tod ereilt, zu einer Eiche, Baucis zu einer Linde. Das schönste, das rührendste Beispiel der Treue finden wir in Johann Peter Hebels Erzählung Unverhofftes Wiedersehen (1811), der Geschichte eines jungen Paares, das durch den Tod des Bräutigams, der im Bergwerk verunglückt, auseinandergerissen wird. Die Braut aber bleibt ihm treu, und es heißt: »Sie vergaß ihn nie. Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört, und der Siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuitenorden wurde aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, und der Struensee wurde hingerichtet. Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten.« Und eines Tages findet man den toten Bräutigam. Das Vitriolwasser, in dem er lag, hat ihn vollkommen konserviert. Die Braut ist die Ein-

1,3 % 2,6 %

ratete nur halb so oft untreu wie Unverheiratete, doch vielleicht heiraten ja treue Menschen einfach eher als untreue. Religiosität indes befördert die Tugendhaftigkeit nur äußerst bedingt: Gläubige sind nicht per se treuer, sondern nur dann, wenn sie ohnehin mit ihrer Beziehung sehr zufrieden sind. Dagegen lasse eine als feindlich wahrgenommene Außenwelt die Sehnsucht nach Beständigkeit in der Beziehung deutlich wachsen, sagt Kröger. »Wer zum Beispiel im Beruf Druck verspürt, dem ist die Partnerschaft als sicherer Hort wichtig.« Der Wille zur Treue – Was für ein Gezerre! Da tuschelt uns via Gene und Hormone dauernd die Evolution ins Ohr (»Reizvolles Neuland hier, heimeliges Territorium dort!«). Da funkt unsere Persönlichkeit dazwischen (»Eine günstige Gelegenheit zur Affäre, wie prächtig für das Ego!«). Dann die Ratio (»Aber das Reihenhaus!«). Und schließlich, natürlich, das tiefe Gefühl – die Liebe zum Partner. Egal ob Psychologie oder Soziologie, Anthropologie oder Hirnforschung: Die Wissenschaft liefert uns eine Vielzahl von Einflussfaktoren für die Treue – und die Erkenntnis, dass keiner davon allein unser Verhalten bestimmt. Was entscheidet also, ob wir treu sind oder nicht? »Treue ist ein kognitiver Prozess«, sagt der Zürcher Paartherapeut Guy Bodenmann, nämlich die willentliche Entscheidung für die Exklusivität. »Es geht um commitment. Auf mehreren Ebenen, natürlich auf der emotionalen und der sexuellen. Aber eben vor allem mit dem Willen.« Commitment – dafür gibt es ein schönes deutsches, ein wenig altmodisch klingendes Wort: Hingabe.

lichkeit oder des Selbstzweifels einschränkend sagen würde: »Ich liebe dich, solange ich es vermag«, so müsste das für den Partner eine einseitige, schwer erträgliche Willkür bedeuten, weil ihn jederzeit der Zufall des Nicht-mehrGeliebtwerdens treffen könnte. Unweigerlich ist mit jeder Liebeserklärung das Versprechen der Dauer verbunden – also die Treue. Wenn Kierkegaard aber das »Ewigkeitsbewusstsein« als »illusorisch« bezeichnet, so hat er die Erfahrung auf seiner Seite, und fast jeder, der einmal geliebt hat, könnte etwas dazu beisteuern. Im entflammten Augenblick glaubt der Liebende an die Dauer und gelobt ewige Treue. Im grauen Rückblick aber, wenn alles vorbei ist, erkennt er, dass er sich getäuscht hat, in sich selber oder in seinem Gegenüber. Jedoch: Wenn er sich aufs Neue verliebt, wird er neuerdings an die Unverbrüchlichkeit seiner Liebe glauben. Anders geht es nicht.

Foto: Armin Smailovic für DIE ZEIT/www.smailovic.com; Grafik: DZ (Quellen: Pairfam-Studie, Hamburg-Leipziger Drei-Generationen-Studie)

Hamburg-Leipziger Studie nannten schlicht den »Reiz des Neuen« als Grund – ebenso viele fühlten sich weder unglücklich in ihrer Partnerschaft noch sexuell unbefriedigt. Offenbar lockt das Fremde auf die Dauer selbst dann, wenn das Bekannte glücklich und zufrieden macht. »Die meisten erwischt es in einer an sich guten Beziehung aus Zufall«, sagt Kurt Starke, einer der Autoren der Hamburg-Leipziger Studie. Zufall? Vom »Gelegenheitskonzept« spricht der Braunschweiger Psychologe Christoph Kröger. Und Gelegenheiten für den Zufall gibt es heute mehr denn je: Wir sind mobiler, treffen auf mehr fremde Menschen in kürzerer Zeit. Überall auf der Welt und selbst im eigenen Wohnzimmer – das Internet eröffnet dem Reiz des Neuen Myriaden Möglichkeiten. Schon suchen in Krögers Ambulanz erste Paare Hilfe, weil ein Partner über das Internet untreu wurde. Dabei muss es nicht einmal zum Äußersten kommen. »Untreue definiert jeder für sich. Es braucht dafür nicht unbedingt Körperkontakt«, sagt die Psychologin Sabrina Brüstle von der Universität Zürich. Sie fängt gerade an, die Untreue im Internet zu erforschen – natürlich mit einer Onlineumfrage. Erste Ergebnisse erwartet sie im Sommer, schon jetzt überrascht sie aber: »Es nehmen wesentlich mehr Leute teil, als ich je gedacht hätte.«

WISSEN

T I T E LG E S C H I C H T E : Der Traum von der Treue

Untreue

N

ein, es gibt keine definitiven Zahlen, wegen künftig vor allem ein Bollwerk gegen sedie heute der Neugier entgegenkämen: xuelle Verfehlungen sein, denn der guten OrdEine historische Statistik der Ehebrü- nung halber gehört Sex ausschließlich in die Ehe. che, Seitensprünge und Treulosigkeiten pro Das sogenannte Frauenhaus, bisher ein Ort der tolerierten Unzucht, wird in Basel Milieu, Region und Geschlecht im Jahr 1524 geschlossen. Doch hat zum Glück keiner erstellt. Basel um was hilft es: Kurz darauf blüht die Das Geheimnis der Nächte bleibt freie Prostitution. Und der Eheein Geheimnis. bruch – ob durch Männer oder Anderes aber weiß man: Wie Frauen begangen – wird in der die sogenannte Unzucht geächtet ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde und erst in der europäiam häufigsten als Scheidungsschen Neuzeit das Treuegebot zustande kam, das lässt sich am Beispiel der Stadt grund vor dem Gericht angeführt. In Basel ist aber auch, jenseits von Moral, Basel zur Reformationszeit zeigen. Die Historikerin Susanne Burghartz hat die Gesetz und Kontrolle, jener unverwechselbare Politik der sexuellen Reinheit anhand der Akten Urton zu hören, der Liebenden aller Zeiten geder damals neuen Institution des Ehegerichts meinsam ist. Als zum Beispiel eine Ottilia sich studiert und allerhand Handicaps des Ehelebens im Jahr 1539 darüber äußert, warum sie einen gefunden: Anfechtung, böswilliges Verlassen und gewissen Hans nur lieben wollte, ans Heiraten Impotenz, illegitime Kinder und was der Hin- aber nicht dachte, nennt sie den Grund: »dodernisse mehr sind. Die Ehe soll von Obrigkeit rumb, das es mir wol that«.

1530

Sittenbilder Treu sein, zwei sein, Familie sein? Das konnten Paare selten frei wählen – drei historische Momentaufnahmen VON ELISABETH VON THADDEN

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

T I T E LG E S C H I C H T E : Der Traum von der Treue

39

Foto: privat

WISSEN

Was uns die Dichter und Philosophen über die Sehnsucht nach Dauer lehren VON ULRICH GREINER zige, die ihn noch kennt, und sie umarmt den Leichnam. »Da wurden die Gemüter aller Umstehenden von Wehmut und Tränen ergriffen, als sie sahen die ehemalige Braut jetzt in der Gestalt des hingewelkten kraftlosen Alters und den Bräutigam noch in seiner jugendlichen Schöne, und wie in ihrer Brust nach fünfzig Jahren die Flamme der jugendlichen Liebe noch einmal erwachte.« Am Ende lesen wir: »Als man ihn ins Grab legte, sagte sie: ›Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehn im kühlen Hochzeitbett, und lass dir die Zeit nicht lang werden. Ich habe nur noch wenig zu tun und komme bald, und bald wird’s wieder Tag. Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zum zweiten Male auch nicht behalten.‹«

A

ber wie in den Medien, so ist auch in der Literatur die Treue ein schwächeres Motiv als die Untreue. Das stille Glück bedarf der künstlerischen Gestaltung offenbar weniger als das Unglück. Der Konflikt, aus dem es kommt, der Schmerz, den es hervorbringt, bildet die Antriebskraft berühmter Romane. Tolstojs Anna Karenina liebt den Grafen Wronski, aber ihre Liebe ist zu groß für diese Welt. Flauberts Emma Bovary heiratet ihren mäßig geliebten Landarzt, doch ihre Sehnsucht bleibt die große Liebe: »Im Grunde ihres Herzens erwartete sie ein Ereignis. Wie die Matrosen in Seenot ließ sie verzweifelte Blicke über die Ödnis ihres Lebens schweifen und suchte fern am Horizont ein weißes Segel.« Das Segel erscheint in

Gestalt eines ordinären Lüstlings. Sie wirft sich ihm an den Hals, verzweifelt am Ende und bringt sich um. So könnte man Beispiel an Beispiel fügen, und fast hat es den Anschein, als wäre der Roman einzig erfunden worden, um Geschichten der Treulosigkeit zu erzählen. Den entscheidenden Roman aber, der das Thema Treue mit radikaler, wissenschaftsähnlicher Experimentierlust zerlegt, hat Goethe geschrieben. In seinen Wahlverwandtschaften (1809) sehen wir, wie sich Eduard und Charlotte, die einander früh schon liebten und über vorangegangene Beziehungen hinweg die Treue hielten, auf erschütternd neue Wege begeben; und sie tun das nicht aus freier Entscheidung, sondern wie Getriebene eines unbeherrschbaren Prozesses. Charlotte, die ihm (mannhaft müsste man sagen) zu widerstehen sucht, bekennt am Ende ihr Scheitern: »Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt. Vergebens, dass Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in den Weg stellen: es soll etwas geschehen, was ihm recht ist, was uns nicht recht erscheint; und so greift es zuletzt durch, wir mögen uns gebärden, wie wir wollen.« Treue ist bloß eine Idee, die an naturnotwendigen Gesetzen scheitert. Das materialistische Kalkül, das Goethe in einem scharfen Spiel überprüft, wird deutlich in einer Bemerkung jenes Hauptmanns, in den Charlotte sich widerstrebend verliebt: »Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht

von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhält; bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung: A wird sich zu D, C zu B werfen, ohne dass man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zuerst verbunden habe.« So geschieht es dann. Und ist es nicht einer verbreiteten Denkweise verteufelt nah? Dass wir keineswegs Herr unserer Entscheidungen seien, sondern Produkte biochemischer Vorgänge (oder anderer)? In den Wahlverwandtschaften ist es die zarte Ottilie, die am Ende zum hauptsächlichen Opfer des letztlich frivolen Experiments werden muss. Sie ist die eigentliche Heldin, die wahrhaft Liebende. Sie entsagt in einem Akt freier Entscheidung – und sie vergeht daran. In seiner Schrift Zur Soziologie der Familie (1895) hat Georg Simmel auf den merkwürdigen Umstand hingewiesen, dass von einem arabischen Stamm »Dreiviertel-Ehen« berichtet worden seien, bei denen sich die frisch vermählten Frauen lediglich dazu verpflichtet hätten, an bestimmten Wochentagen treu zu sein. Das erinnert an einen ähnlichen Vorschlag aus den Wahlverwandtschaften, Treuegelöbnisse generell auf fünf Jahre zu beschränken. Man kann das pragmatisch oder verlockend finden, darf aber nicht vergessen, dass Liebe und Ehe und Treue verschiedene Dinge sind. Die Ehe ist denkbar ohne Liebe und erst recht ohne Treue. Die Liebe ist sehr wohl denkbar ohne Ehe, aber undenkbar ohne Treue. Dass sie oft nicht gelingt, ist die tragische Seite. Simmel

sagt, die Liebe sei eine unbegründete primäre Kategorie: »Und das ist sie, indem sie ihren Gegenstand in seinem eigenen und letzten Wesen bestimmt, indem sie ihn als diesen vorher nicht bestehenden erschafft. Wie ich selbst als Liebender ein anderer bin als vorher, so ist auch der Geliebte als solcher ein anderes Wesen. Der Gegenstand der Liebe ist nicht vor ihr da, sondern erst durch sie.« Insofern kann man sagen, dass der Liebende, indem er das Treuegebot verletzt, vor allem sich selber verletzt. »Man könnte die Treue«, so Simmel, »als das Beharrungsvermögen der Seele bezeichnen, welches sie in einer einmal eingeschlagenen Bahn festhält, nachdem der Anstoß, der sie überhaupt in diese Bahn geführt, vorbeigegangen ist.« Ist dieses Beharrungsvermögen eine Eigenschaft, die ich (wie blonde Haare) besitze oder eben nicht? Oder ist sie ein Willensakt, der meinem freien Entschluss unterliegt? Bei Goethe (in Wilhelm Meister) demonstriert Philine genau diese Autonomie: »Wenn ich dich liebe, was geht’s dich an?« Das ist wahrhaft groß. Aber Philine, wenn wir es recht bedenken, kommt von einem anderen Stern. Und es mag uns Treulose trösten, dass Goethe, dieser Meister in der Darstellung des Treueproblems, zugleich sein Leben lang ein Virtuose der Treulosigkeit gewesen ist. Aber sein ganzes Werk ist bestimmt von der Utopie, die jeden Liebenden erfüllt: dass es diesmal gelingen könnte, wahrhaft treu zu sein. www.zeit.de/audio

50

%

im ganzen Leben

28

%

in der aktuellen Beziehung

»Ich bin fremdgegangen.«

8 Foto: Armin Smailovic für DIE ZEIT/www.smailovic.com; Grafik: DZ (Quellen: Pairfam-Studie, Hamburg-Leipziger Drei-Generationen-Studie)

%

Emanzipation der Untreue geboren 1942 geboren 1972

... in die sich das Misstrauen der Untreue einschleicht

18 %

40 %

19 % 21 % (in der aktuellen Beziehung fremdgegangen)

Unzucht

Freiheit

ie Ewigkeit der Treue währt um das kieren? Jeder möchte ehrbar wirken, um seine Jahr 1842 nicht lang. Die statistische Arbeit nicht zu verlieren. Wer hingegen als Paar Lebenserwartung liegt bei nur 32 Jah- leben und Kinder haben will, muss es entschlosren, nicht zuletzt, weil so viele Mütter im Kind- sen illegal tun. Denn nur die rechtsgültige Ehe gilt als Siegel des sittlichen Wohlbett sterben. Ein Paarleben dauert verhaltens, nur verheiratet gilt oft nur ein paar Jahre, bis dass der Württemberg um man als anständiger Mensch. Tod es scheidet. Und was der Aber ist der Steinhauer Jacob hartnäckige Versuch, trotz Armut Grabis kein anständiger Mensch? treu zu sein, im Fabrikarbeiter18 Jahre lang hat die Polizei ihm milieu um 1860 heißen kann, nachgesetzt, dem steten Gefährlässt sich dank der Mikrostudien ten von Pauline Maier und Vater der Historikerin Carola Lipp zum württembergischen Spinnereidorf Kuchen ihrer drei Kinder, die er alle in »Vaterpflicht und erzählen: Die Arbeiter sind überwiegend zuge- Treue versorgt«. Die Staatsgewalt tut rastlos alzogen und bleiben ledig, denn es gibt keine les, um das Paar zu trennen. Vergeblich. Auch Eheerlaubnis ohne Bürgerrecht, und das kostet die Studien der Historikerin Karin Gröwer zu drei Jahreslöhne – unerschwinglich, wenn zum »wilden Ehen«, also illegalem Paarleben, unter Sparen nichts übrig bleibt. So steigt das durch- den Armen in Hamburg um 1850 belegen eischnittliche Heiratsalter von Arbeiterinnen auf nen Wunsch nach Beständigkeit – als gelte es, fast dreißig Jahre an. Nichteheliche Sexualität dem Ideal auch unter höchstem Risiko in Wirkist als Unzucht strafbar. Wer will das schon ris- lichkeit treu zu sein.

ie haben um 1900 weder einen Moment Philister sagt: meine Frau, mein Tisch, meine selbstbestimmter Zeit, um zu lieben, Sonntagshose. Er verbietet seiner Frau, bei noch einen Raum für Intimität. Sie leben andern Männern zu schlafen, weil er Nachals Arbeiterinnen in Räumen mit mindestens kommen haben will, die für seine gelten ... Diese ›Treue‹ ... ist heute eine sechs Bewohnern oder als DienstQuelle unendlicher und vielfach mädchen bestenfalls in einer uneingestandener Leiden.« MarKammer, schlechtenfalls dem Schweiz um garethe Hardegger-Faas-Brunner, Zugriff des Hausherrn ausgesetzt schreibt ihre Biografin Regula und eines Tages schwanger aus Bochsler, werde nachgesagt, sie dem Haus gejagt. Diesen »Jamhabe jeden Monat einen anderen mer der Frauenwelt« kennt MarMann gehabt. Tatsächlich hat garethe Hardegger, verheiratete und geschiedene Faas, verheiratete Brunner, die zweifache Mutter geliebt und mit dem studierte Juristin und Volkswirtin, erste Arbei- Anarchisten Gustav Landauer eine Passion ertersekretärin des Schweizerischen Gewerk- lebt. Währenddessen hält Margarethe vor leidschaftsbundes, denn sie ist als Tochter einer geprüften Arbeiterinnen Vorträge über die »freie Hebamme groß geworden. Diesen Jammer will Liebe«. Mit ihrem späteren Geliebten, dem die Frauenrechtlerin aus der Welt schaffen. Am Publizisten Erich Mühsam, wird sie diese Voreigenen Leibe schafft sie auch das Treuegebot träge am Ende mit der Lehre Sigmund Freuds bürgerlicher Ehen ab, ihr Mann schreibt in der verknüpfen: als eine notwendige Befreiung der Zeitschrift Polis die Theorie dazu auf: »Der Liebe »von vielem Unerträglichen«.

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1860

S

1900

Das Psychologen-Ehepaar Barash und Lipton erforscht die Untreue

»Monogamie ist nicht natürlich« David P. Barash und Judith Eve Lipton entlarvten viele Treue-Klischees. Ein Gespräch an ihrem 34. Hochzeitstag DIE ZEIT: In Ihrem Buch The Myth of Monogamy behaupten Sie, Monogamie komme in der Natur praktisch nicht vor. Gibt es wirklich kein Tier, das absolut treu ist? David P. Barash: Doch, Diplozoon paradoxum, ein Fischparasit. Männchen und Weibchen treffen sich früh, dann wachsen ihre Körper zusammen. ZEIT: Also keine Chance fremdzugehen ... Barash: ... kein bisschen! Sie haben keine Wahl. ZEIT: Aber wer die Wahl hat, ist untreu? Barash: Ja, wahrscheinlich. Einige Tiere erscheinen zwar bis jetzt monogam, aber das liegt einfach daran, dass sie noch nicht genau genug beobachtet wurden. Tiere sind genau wie Menschen gut darin, ihr Sexleben zu verbergen. Judith Eve Lipton: Sie wollen nicht erwischt werden. (Barash grinst sie an.) Wenn ein Vogelmännchen seine Partnerin mit einem anderen sieht, verlässt es womöglich das Nest. ZEIT: Aber gerade Vögel gelten doch als besonders monogam, Schwäne zum Beispiel. Barash: Ja. Aber als DNA-Analysen möglich wurden, entdeckte man plötzlich, dass einige der Jungen nicht vom eigentlichen Partner stammten. ZEIT: Wie hoch ist der Anteil solcher Kuckuckskinder? Barash: Bei einigen Vögeln mehr als 70 Prozent! ZEIT: Und wie treu sind Säugetiere? Barash: Die sind am wenigsten monogam! (Lipton schaut amüsiert zu ihm herüber.) Das liegt daran, dass die Männchen nicht für die Aufzucht der Jungen gebraucht werden; die schauen sich dann nach anderen Partnerinnen um. ZEIT: Was steckt dahinter? Barash: Männchen produzieren sehr viele, sehr kleine Spermien; für sie ist es kein großer Aufwand, Nachwuchs zu zeugen. Für Weibchen sehr wohl: Sie produzieren wenige, große Eizellen; dazu kommt die Trächtigkeit und die Säugeperiode. Deshalb ist es für Biologen nicht überraschend, dass Männchen sich zusätzliche Partnerinnen suchen, mit denen sie zusätzliche Junge haben. ZEIT: Und die Weibchen? Lipton: Die betrügen auch! Das fand man aber erst in den neunziger Jahren heraus. Die vermeintlich so trauten Hausmütterchen (Barash prustet los.) schlagen sich tatsächlich in die Büsche und treiben es mit jemand anderem. ZEIT: Was haben sie davon? Lipton: Zum einen können sie die genetische Ausstattung ihres Nachwuchses, zum anderen ihre eigene Stellung verbessern. Beim Menschen würde man sagen: die sozio-ökonomische Position. ZEIT: Sie sprechen gleichermaßen von Tieren wie Menschen. Das ist doch ein Riesenunterschied! Lässt sich da überhaupt etwas übertragen? Lipton: Eine Menge! Nur ist es genauso unbewusst wie bei Tieren. Sogar Evolutionsbiologen sagen ja nicht bei einem Date: »Oh, diese Frau hat ein Taille-Hüfte-Verhältnis von 0,8; mit ihr kann ich tolle Babys haben!« Die Instinkte schreien nicht, sie flüstern. Bewusst würden wir denken: »Wow ... Barash: ... die ist scharf!« Tatsächlich ist Monogamie für so gut wie jede Tierart – auch für den Menschen – nicht natürlich. Das heißt nicht, dass sie nicht möglich oder keine gute Idee ist, aber sie erfordert es, gegen die Biologie anzugehen. Lipton: Es gibt natürlich Ausnahmen, die sich trotz allem für die Monogamie entscheiden – so wie wir. Heute ist unser 34. Hochzeitstag! (Schaut stolz zu Barash, der lächelt zärtlich zurück.) Sicher haben wir uns gefragt: Warum macht man das? Zum einen ist es ein Vorteil für die Kinder, wenn sich beide Eltern um sie kümmern. Und in einer langjährigen Partnerschaft hat man eben auch einen wirklich guten Freund. Untreue führt zu Hass und Feindschaft – ein weiteres Argument für die Monogamie. Barash: (nickt heftig) Das stimmt! ZEIT: Inwieweit beeinflusst uns die Umwelt? Lipton: Da ist etwa die Empfängnisverhütung, die vieles verändert hat. Heute können junge Leute aus allen möglichen Gründen Sex haben und alle möglichen Formen von Beziehungen. ZEIT: Und wenn soziale und religiöse Normen schwächer werden, kommen wir dann zurück zu unseren biologischen Wurzeln? Barash: Wir haben sie nie verlassen. Es ist wie bei einem Kuchen: Die Glasur, die Norm, ändert sich. Aber der Kuchen darunter, die menschliche Natur, bleibt ziemlich gleich. Und die hat diese Tendenz zur Bindung, aber auch zum Herumstromern. ZEIT: Selbst mal in Versuchung geraten? Lipton: Natürlich kommt es vor, dass man jemand anderen sexuell anziehend findet ... Barash: ... aber man muss nicht ja sagen. Es funktioniert ein wenig wie nukleare Abschreckung: Ich bleibe treu, damit du nicht verrückt wirst; und du bleibst treu, damit ich nicht verrückt werde. Judith Eve Lipton ist Psychiaterin. Der Biologe David P. Barash unterrichtet Psychologie an der University of Washington. Sie haben zusammen zwei Töchter Das Gespräch führte STEFANIE SCHRAMM

40 7. April 2011

WISSEN

DIE ZEIT No 15

Heikler Brennstoff

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Ein Arbeiter in den USA verpackt Plutoniumsalz aus der Waffenproduktion

Pu – begehrtes Teufelszeug Seine Entdeckung durch den US-Amerikaner Glenn Seaborg 1940 wurde geheim gehalten, weil sich rasch die militärische Brisanz des neuen Elements herausstellte. Wie seine beiden Nachbarn im Periodensystem, Uran und Neptunium, wurde es nach einem Planeten benannt, daher Pluto-nium. Als Kürzel wählte Seaborg spöttisch »Pu« – in Anspielung auf das englische Kinderwort für Fäkalien. Namenspatron Pluto, der Gott der Unterwelt, erwies sich im Nachhinein als höllisch passender Pate.

Pu sendet vor allem Alphastrahlung aus, die sich schon mit einem Blatt Papier abschirmen lässt. Doch mit einer Halbwertszeit von 24 000 Jahren ist es sehr langlebig. Es ist wie alle Schwermetalle giftig, löst sich aber fast nicht in Wasser. Plutonium zu verschlucken wäre daher weniger gefährlich, als es einzuatmen. Seine Radioaktivität schädigt die Lunge. In Majak (ehemalige Sowjetunion) beobachtete man eine Häufung von Lungenkrebs nach der Explosion einer Plutoniumfabrik 1957. HST

rei Buchstaben stehen für ein ganz spezielles Risiko unter all den Unwägbarkeiten von Fukushima: MOX, kurz für Mischoxid. Aus einer solchen Stoffmixtur bestehen 32 Brennstäbe im dritten der vier havarierten Reaktoren – sie enthalten neben Uran auch Plutonium. Einen Bombenstoff. Diese Form von nuklearem Brennstoff ist seit Jahrzehnten äußerst umstritten – und auch in der deutschen Ausstiegsdiskussion dürfte MOX noch für Streit sorgen: Würden die sieben durch das Moratorium der Bundesregierung abgeschalteten alten Reaktoren und das pannengeplagte Atomkraftwerk Krümmel definitiv stillgelegt, dann würden in Deutschland nur noch Meiler laufen, die mit MOXBrennelementen befeuert werden. Schon jetzt warnen Atomkritiker davor, Reststrommengen etwa der alten Kernkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel auf das modernere AKW Brokdorf zu übertragen. Denn dieses läuft mit MOX. Ein brisanter Brennstoff also. Warum geht man weltweit dennoch dieses Risiko ein? Eine praktisch unerschöpfliche Energiequelle versprachen sich Ingenieure und Politiker vom Plutonium. Sie träumten von einer nuklearen Kreislauf-Wirtschaft: Schnelle Brutreaktoren produzieren aus reichlich vorhandenem Abfall (nicht spaltbarem Uran 238) ständig neues Plutonium. Das Element mit dem chemischen Kürzel Pu wird dann in Wiederaufarbeitungsanlagen (WAA) extrahiert und als Brennstoff mit spaltbarem Uran 235 kombiniert, fertig sind die MischoxidBrennelemente (MOX-BE). Bis heute prägt die Vision des atomaren Recyclings die Energiepolitik etwa in Russland, China oder Frankreich. Auch das rohstoffarme und energiesüchtige Japan baute zwei Schnelle Brüter, gerade entsteht die zweite WAA des Landes. Und im vergangenen Herbst schließlich begann der Test von MOX-BE im nunmehr zerstörten Reaktor 3 von Fukushima. Es sollte ein weiterer Schritt in die Plutonium-Wirtschaft sein. Perfekt ins Bild passt auch die geradezu horrende Ansammlung von mehr als 14 000 Brennelementen in Fukushima. Überwiegend kühlen sie abgebrannt in den Abklingbecken und Zwischenlagern ab (ZEIT Nr. 14/11). Die insgesamt in Fukushima gehortete Radioaktivität entspricht dem Inhalt von 25 Reaktorkernen. In den Augen vieler Japaner – zumindest bis zum verheerenden Beben – war dies ein wahrer Energieschatz.

Denn auch jedes zunächst aus reinem Uran bestehende Brennelement enthält bald Plutonium, weil dieses bei der Kettenreaktion als Nebenprodukt entsteht. Aus Uranoxid wird so Plutoniumoxid – im Betrieb mutiert jedes Brennelement zu MOX-BE! Nach etwa dreijähriger Laufzeit enthält es ein Prozent Pu. Der überwiegende Teil aber wird, kaum gebildet, gleich wieder gespalten. Schon in jedem konventionell beladenen Reaktor geht rund ein Drittel der Stromproduktion auf die Spaltung von Pu zurück. Das macht das Schwermetall für Stromerzeuger so attraktiv.

Deutschland hatte zwar nie Kernwaffen, ein Plutonium-Erbe besitzt es trotzdem Und genau deshalb harrten in Fukushima so enorm viele abgebrannte Brennstäbe der Wiederaufarbeitung. Die als besonders gefährlich erachteten 32 MOX-Elemente des Reaktors 3 dürften nur etwa ein Hundertstel des gesamten Plutoniums von Fukushima enthalten. Die Menge, die im Abklingbecken des Reaktors 4 liegt, ist um ein Vielfaches höher. Seit die teilweise Auflösung der Brennstäbe eine gewaltige Explosion verursacht hat, dampfen sie unter freiem Himmel. Von dort dürften auch die Plutoniumspuren stammen, die man auf dem Gelände entdeckt hat. Im Gegensatz zu Jod 131 und Cäsium 137, die bereits in großen Mengen freigesetzt wurden und deren Radioaktivität akut lebensgefährlich ist, kann Plutonium nicht als Gas entweichen. Und weil es steinhart ist wie Keramik und elfmal schwerer als Wasser, erwartet man , dass es sich im Fall einer Reaktorexplosion hauptsächlich im nahen Umkreis niederschlägt. Jedenfalls war das in Tschernobyl so. Plutonium reichert sich weder in der Nahrungskette noch im Körper an. Zudem sendet es überwiegend Alphastrahlen aus, die sich relativ leicht abschirmen lassen (siehe Kasten) – man könnte Pu für eine untergeordnete Gefahr halten. Wäre es nicht auch ein mörderischer Bombenstoff. In Nagasaki tötete er Zehntausende Zivilisten auf einen Schlag. Und jede Terrorgruppe, die reines Plutonium 239 hat, kann eine Kernwaffe bauen, wenn auch mit hohem Aufwand. Umgekehrt fällt bei jedem demontierten Atomsprengkopf Pu an, gleichsam secondhand. Und genau das ist der Grund, warum sogar die US-Amerikaner, lange Skeptiker einer nuklearen

Kreislaufwirtschaft, seit der Jahrtausendwende in Savannah River eine neue Fabrik für MOX-BE bauen: Sie soll bei der mit Russland vereinbarten Abrüstung Tausender Kernwaffen helfen. Dutzende Tonnen Waffenplutonium gilt es zu entsorgen. Damit dieses Material keinem Terroristen oder Potentaten in die Hände fällt, wurde anfangs erwogen, es mit hoch radioaktiven Abfällen in Glas zu verschmelzen und einzulagern. Doch man besann sich auf das alte Leitmotiv der Friedensbewegung: »Schwerter zu Pflugscharen«, respektive Bombenstoff zu MOX-BE. Nicht nur deren tödliche Strahlung soll Terroristen abschrecken. Nach dem zivilen Gebrauch ist das ursprünglich relativ reine Waffenplutonium 239 auch stark verunreinigt durch mehrere eng verwandte Plutoniumsorten (etwa Pu 238, Pu 240, Pu 241). Diese Isotope erschweren einen Bombenbau enorm, denn sie würden die nukleare Kettenreaktion bereits vor der eigentlichen Explosion auslösen. Ein Sprengsatz würde also zur Verpuffung neigen. Zusätzlich strahlen die schmutzigen Pu-Sorten gefährlicher als Waffenplutonium selbst. Bombenbastler (auch solche, die nur eine »schmutzige Bombe« und keine hochbrisante Kernwaffe anstreben) würden also selbst dann noch ihr Leben riskieren, wenn sie allen Waffenstoff aus alten Brennstäben herausgelöst hätten. Deshalb wurden MOX-BE international als der sicherere Weg zur Entsorgung von Plutonium betrachtet – sicherer als eine direkte Endlagerung. Dass bisher noch keine aufstrebende Atommacht versucht hat, über MOX-BE an die Bombe zu gelangen, wird als Beleg dafür gewertet, dass zivile Nutzung den Waffenstoff tatsächlich »entschärft«. Doch nun erfahren die bisherigen Sicherheitsabwägungen und Verfahrensweisen – wie so vieles andere – ein Update durch die Realität. In Deutschland hat der Streit um den MOXEinsatz längst begonnen. Obwohl sich die Bundesrepublik unter politischen Wehen von der Wiederaufarbeitung (Wackersdorf ), vom schnellen Brüter (Kalkar) und von einer großen Fabrik für MOX-BE (Hanau) verabschiedet hat und obwohl sie nie Kernwaffen besaß, muss auch sie ein heikles Erbe entsorgen: Aus alten, längst gestoppten Verträgen mit den Wiederaufarbeitungsanlagen im französischen La Hague und dem britischen Sellafield sind über 60 Tonnen deutschen Plutoniums angefallen.

Foto (Ausschnitt): Peter Essick/Aurora/laif

In Mischoxid-Elementen, wie sie in Fukushima und auch in deutschen Reaktoren verfeuert werden, steckt Plutonium. Das zeigt, wie verquickt Atomkraft und -waffen sind VON HANS SCHUH

41 GRAFIK

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

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Schwimmende Schlote

95

Der internationale Schiffsverkehr boomt. Seit 1990 hat sich der Treibstoffverbrauch auf dem Meer verdoppelt. Die dreckigen Abgase der Schiffe gelangen weitgehend ungefiltert in die Atmosphäre

THEMA: SCHIFFSVERKEHR

Die Themen der letzten Grafiken:

94

Ökobilanz Zeitung

93

Radioaktivität

92

9608

Fukushima Transporte per Schiff im Jahr 2006 nach Gütern

Weitere Grafiken im Internet:

(in Milliarden Tonnenmeilen)

www.zeit.de/grafik

9516 4120 3372

1436

Dreckiger Treibstoff Der Kraftstoff, den Schiffe verbrennen, ist der schmutzigste überhaupt – vor allem die Schwefelemissionen betragen ein Vielfaches von dem, was an Land erlaubt ist. Die Schiffsschlote sind jährlich für etwa 60 000 Todesfälle infolge von Herz- und Lungenkrankheiten verantwortlich. Jetzt diskutiert man strengere, weltweit geltende Grenzwerte

Günstige Klimabilanz

ANTEIL VON SCHWEFEL IM TREIBSTOFF

Was die Klimabelastung durch CO2 angeht, schneidet der Schiffsverkehr vergleichsweise gut ab: Um eine Tonne Fracht einen Kilometer weit zu befördern, werden beim Transport per Schiff viel weniger Treibhausgase ausgestoßen als auf der Schiene, der Straße oder in der Luft

(in g/kg)

45 5

Heutiger Grenzwert der Internationalen SeeschifffahrtsOrganisation (IMO)

Schiffsdiesel

35 Vorgeschlagener Grenzwert ab 2012

27 Schweröl

1 Heizöl 0,01 Diesel an Land

ANTEIL DER VERSCHIEDENEN VERKEHRSMITTEL AN DEN CO2-EMISSIONEN DES TRANSPORTSEKTORS (in Prozent) Transportnationale Schifffahrt und Fischerei 2

Internationale Schifffahrt

10

ANTEILE DES SCHIFFSVERKEHRS AN SCHADSTOFFEN IN DER LUFT LAND

SCHWEFEL NOX

7

ANTEIL DER VERSCHIEDENEN VERKEHRSMITTEL AN DEN GESAMTEMISSIONEN (ohne Bahn, in Prozent)

2 Schiene

79 Straße

in Prozent

Dänemark

45

27

Schweden

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UK

19

19

Frankreich

12

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Deutschland

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10

Die Vorstellung, die Emissionen auf dem Meer schädigten keine Menschen, ist falsch: 70 Prozent der Schiffsschadstoffe werden weniger als 400 Kilometer vom Land entfernt in die Luft geblasen. Vor allem in den skandinavischen Ländern sind Schiffe für einen großen Teil der Schwefelemissionen verantwortlich NOX = Stickoxide

Luft

Die Klimabelastung, die der Transportverkehr weltweit verursacht, wird zu mehr als drei Vierteln auf der Straße erzeugt

Schiffe

Straße

100 80 60 40 20 0 CO 2

SO 2

VERGLEICH DES AUSGESTOSSENEN CO2 PRO TONNENKILOMETER

Luftfahrt

Ruß NO 2 und Feinstaub

An Land gibt es strenge Umweltgesetze; Katalysatoren und Partikelfilter halten einen großen Teil der Schadstoffe zurück. Bei den Schiffen dagegen gehen schwefel- und rußhaltige Abgase aus den Motoren ungefiltert in die Luft. Deshalb ist der Schiffsverkehr für die größte Menge dieser Schadstoffe in der Umwelt verantwortlich

in g CO 2 /kmt 1000 800 600 400 200 0

Ein einzelnes Schiff kann riesige Mengen über große Entfernungen transportieren – deshalb ist die CO 2 -Emission pro Tonnenkilometer vergleichsweise gering

höchster Wert niedrigster Wert

Illustration: Helen Gruber, helengruber.de Recherche: Helga Rietz Quellen: UNCTAD, IMO, NOAA, Attica Group, EMEP

42 7. April 2011

KOMPAKT

DIE ZEIT No 15

WISSEN

STIMMT’S?

Gibt es eine Regel für die Beschriftung von Buchrücken?

Simulation des ant arktischen Eisschildes: Rotes Eis bewegt sich schneller als blaues

… fragt Raimund Wolfert aus Berlin Eine kurze, nicht repräsentative Bestandsaufnahme im Büro des Autors ergab: 88 Prozent der deutschsprachigen Bücher sind so beschriftet, dass man, wenn das Buch aufrecht im Regal steht, den Kopf nach links drehen muss, um den Titel auf dem Rücken zu lesen (»linksdrehende« Bücher). Die wenigen rechtsdrehenden sind fast ausschließlich wissenschaftliche Werke. Die englischsprachigen Bücher dagegen sind alle rechtsdrehend beschriftet. Warum dieses Chaos? Die Antwort ist: Es gibt keine verbindliche Vorschrift. Zwar legt eine internationale Norm aus dem Jahr 1985 (ISO 6357, Spine titles on books and other publications) die rechtsdrehende Variante fest, auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels empfiehlt das, aber die wenigsten deutschen Verlage halten sich daran.

Sammeln und teilen

Was ist besser für den Leser? Die angelsächsische Variante hat den Vorteil, dass bei Büchern, die flach mit dem Titel nach oben auf dem Tisch gestapelt werden, die Schrift auf dem Buchrücken gut lesbar ist. Als Argument für die deutsche Beschriftung wird immer wieder angeführt: Ein Leser, der ein Regal von links nach rechts abschreitet, liest mit linksgedrehtem Kopf die Titel nacheinander von oben nach unten – im rechtsdrehenden Fall liest man von unten nach oben. In der Realität allerdings führt die uneinheitliche Beschriftung zu wildem Kopfdrehen, manchmal sogar bei unterschiedlichen Büchern eines Autors desselben Verlags. Ob dies gesund ist, darf angezweifelt werden. Dasselbe Chaos herrscht übrigens bei CDs und DVDs. CHRISTOPH DRÖSSER

Die Adressen für »Stimmt’s«-Fragen: DIE ZEIT, Stimmt’s?, 20079 Hamburg, oder [email protected]. Das »Stimmt’s?«-Archiv: www.zeit.de/stimmts

ERFORSCHT UND ERFUNDEN

Wachstumsschub Schon zwei Stunden Hirntraining (verteilt auf drei Tage) können die graue Masse sichtbar wachsen lassen, selbst bei Erwachsenen noch. Das zeigten Forscher aus China und den USA,

indem sie Testpersonen Fantasienamen für je zwei Schattierungen der Farben Grün und Blau beibrachten (PNAS online). Im Tomografen war danach eine Zunahme der Hirnmasse in Bereichen zu erkennen, die für das Farbsehen zuständig sind. Bisher waren Veränderungen des Gehirns bei Erwachsenen nur nach wochen- bis jahrelangem Training nachgewiesen worden.

MEHR WISSEN: Im Netz: 50 Jahre bemannte Raumfahrt in Bildern www.zeit.de/weltraum-bilder Warum quälen den einen hohe Ansprüche, während der andere von ihnen beflügelt wird? Das neue ZEIT Wissen: am Kiosk oder unter www.zeitabo.de

Täuschungsmanöver Raupen, die sich vor ihren Fressfeinden als Zweige tarnen, verlassen sich nicht allein auf ihr Äußeres, sondern perfektionieren die Täuschung durch geschicktes Verhalten. Tagsüber halten sie sich in der Nähe echter Zweige auf, selbst wenn es dort nichts zu fressen gibt. Erst im Schutz der Dunkelheit verlassen sie ihre Tarnposition und begeben sich zur Nahrungssuche auf zweigloses Terrain (PNAS online).

Abb.: Martin, M. A., Winkelmann, R., Haseloff, M., Albrecht, T., Bueler, E., Khroulev, C., and Levermann, A.

www.zeit.de/audio

Wenn die Mathematikerin Ricarda Winkelmann ihr Modell des antarktischen Eispanzers verfeinert, ist sie auf die Vorarbeiten vieler Kollegen angewiesen. Forscher des British Arctic Survey haben über Jahre Temperatur, Niederschlag, Dicke und Fließgeschwindigkeit der polaren Gletscher gemessen, die Geografin Anne Le Brocq hat ein Verfahren entwickelt, das die einzelnen lokalen Messwerte auf ausgedehnte Gebiete hochrechnen kann. All das ist Grundlage für Winkelmanns Modell (siehe Bild) – und entscheidet über dessen Qualität. »Hat sich in die Vorarbeiten ein Fehler eingeschlichen«, weiß sie, »wird das Modell falsche Ergebnisse liefern.« Vor allem die Untersuchung komplexer Entwicklungen wie der Abnahme der Artenvielfalt, der globalen Umweltverschmutzung oder des Klimawandels ist zunehmend auf Computersimulationen angewiesen. Winkelmanns Chef am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, Hans Joachim Schellnhuber, geht davon aus, dass in Zukunft dort, und nicht mehr in Beobachtung und Experiment, die wissenschaftliche »Interpretations-Lufthoheit« liegen wird. Möglichst viele Messwerte sind das A und O dafür. Und möglichst korrekte. Persönlich müssen sich die Sammler und die Modellierer all der Daten nicht kennen. Auch Ricarda Winkelmann ist den Forschern, auf deren Daten sie sich stützt, nie begegnet. Die Mathematikerin bezieht ihre Zahlenkolonnen aus Pangaea, dem Publishing Network for Geoscientific and Environmental Data. Fast fünf Milliarden einzelne Messwerte sind dort gespeichert, zusammengefasst in 600 000 Datensätzen – das weltgrößte Archiv für die Geo- und Umweltwissenschaften. Die Artenvielfalt im Meeressediment vor Helgoland, der Pegelstand des westafrikanischen Volta-Flusses, die Verbreitung der Wölfe vor der letzten Eiszeit – es gibt fast nichts, was es in Pangaea nicht gibt.

Viele Messwerte vergammeln ungenutzt auf Festplatten. Bremer Forscher wollen die Schätze heben helfen VON DIRK ASENDORPF

»Als Forscher müssen Sie nicht mehr selber in die Höhle klettern, um dort nach Knochen zu suchen«, sagt Martin Diepenbroek, der Pangaea vor 18 Jahren gegründet hat. Zusammen mit zehn Kollegen vom Bremer Zentrum für Marine Umweltwissenschaften und dem Alfred-WegenerInstitut für Polar- und Meeresforschung kümmert sich Diepenbroek darum, dass all die Messreihen schnell gefunden, übersichtlich dargestellt und für die Weiterverarbeitung in einem einheitlichen Format heruntergeladen werden können. Dabei überprüft das Pangaea-Team auch die Qualität der gelieferten Datensätze. Sind alle Angaben über die Erhebungsmethoden vorhanden? Entsprechen sie wissenschaftlichen Standards? Stimmen die Maßeinheiten? Gibt es eine plausible Erklärung für Lücken und Ausreißer? Erst dann werden sie in Pangaea aufgenommen und bekommen eine weltweit genormte Nummer, den Digital Object Identifier (DOI). Wenn Ricarda Winkelmann dann ihr neues Eisschild-Modell in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht, nennt sie jeden Datensatz eines anderen Forschers, den sie genutzt hat, in einer Fußnote. Ein Mausklick auf die dort angegebene DOI-Nummer führt direkt zu den Ursprungsdaten in Pangaea. Das schafft Transparenz und erleichtert es, die Ergebnisse zu überprüfen. Außerdem motiviert es die Forscher, ihre mühsam erhobenen Messwerte in Pangaea zur Verfügung zu stellen. Denn wenn ein Kollege ihren Datensatz später herunterlädt und samt DOI in seiner Publikation zitiert, fließt das in

den Zitationsindex des Datenerhebers ein – und erhöht so das Renommee des Forschers und seines Instituts: eine Belohnung für geduldige Datensammler, eine Wissenschaftlerspezies, die sonst allzu oft im Schatten steht, während andere von ihrer Arbeit profitieren. »Das größte Problem ist tatsächlich, die Forscher dazu zu bringen, ihre Daten archivieren lassen zu wollen«, sagt Diepenbroek. Am Projektende bleibt für die langfristige Sicherung von Messwerten oft weder Zeit noch Geld. »Viel zu viele Daten versauern auf irgendwelchen Festplatten.« Der Bremer Datenbankhüter hat als studierter Geologe früher selber Messwerte gesammelt – in Form von Sedimentkernen aus grönländischen Seen. Traumhaft schön sei dieser Job gewesen, doch mit wenig Einfluss auf die Forscherwelt. Mit

dem elektronischen Archiv Pangaea hingegen könne man tatsächlich etwas verändern: »Die Zukunft des wissenschaftlichen Publizierens liegt in den Datenbanken.«

S AU HR SC AT HR SC RIT

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P O L I T I K , W I S S E N , K U LT U R U N D A N D E R E R Ä T S E L F Ü R J U N G E L E S E R I N N E N U N D L E S E R

Fragebogen

VERRÜCKTE VIECHER (19)

Hirnkoralle

Dein Vorname:

Im Atlantischen Ozean, nahe der Insel Tobago, wohnt eines der ältesten Lebewesen der Erde: eine Hirnkoralle. Schon seit 2000 Jahren sitzt sie dort am Meeresgrund und wächst stetig, inzwischen ist sie fünf Meter breit und etwa vier Meter hoch. Wie der Name vermuten lässt, ähneln Hirnkorallen dem menschlichen Gehirn, sie sind walnussförmig, und ihre Oberfläche liegt in wulstigen Falten. Korallen gehören zum Reich der Tiere. Dabei ist aber nicht das ganze hirnförmige Gebilde ein einzelnes Lebewesen, sondern es besteht aus vielen kleinen Tieren. Diese heißen Polypen, sitzen dicht an dicht nebeneinander und können sich nicht von der Stelle bewegen. Damit die Tiere trotzdem genug Nahrung haben, sind sie mit winzigen Algen verbrüdert, die in ihrer Haut wohnen und für sie Nährstoffe herstellen. Wenn ein Polyp stirbt, entsteht an der Stelle, an der er gesessen hat, Kalk. Darüber kann wieder ein neuer Polyp wachsen. Bei einer Koralle ist also nur die oberste Schicht lebendig, darunter liegt ein ganzer Friedhof von Polypenskeletten. Vielleicht denken auch deshalb viele Menschen, dass Korallen Steine oder Pflanzen sind.

Wie alt bist Du?

Wo wohnst Du?

Selma und Yakoub leben in der Stadt Sousse in Tunesien. Inzwischen spielen sie wieder auf der Straße (großes Bild). Damit niemand die Waren aus dem Supermarkt stiehlt, wurden dessen Fenster während der Revolution zugemauert (oben). Nachts bewachten die Menschen ihre Häuser, weil sie nicht auf den Schutz der Polizei vertrauten (unten)

Was ist besonders schön dort?

Und was gefällt Dir dort nicht?

Was macht Dich traurig?

Was möchtest Du einmal werden?

Was ist typisch für Erwachsene?

Wie heißt Dein Lieblingsbuch? WAS SOLL ICH LESEN?

Wo ist das Faultier?

Revolution statt Mathe

Ein Pop-up-Buch ist oft nur ein kurzes Vergnügen: man blättert es einmal schnell durch, lächelt über die Aufklappfiguren – und schon ist der Spaß wieder vorbei. Auch Das Faultier im Pop-up-Wald lässt sich in kurzer Zeit anschauen. Die Geschichte wird auf sieben Doppelseiten erzählt. Aber dieses Buch ist ein richtiges Papier-Kunstwerk. Es entführt den Betrachter in einen wilden grünen Urwald. Irgendwo im Blätterdickicht der Bäume hängt ein Faultier ab, das man auf jeder Seite neu suchen muss. Unvernünftige Menschen fällen irgendwann alle Bäume des Waldes – und das faule Tier merkt es fast zu spät. Doch am Ende erwacht der Faultierwald zu neuem Leben.

S Fotos: privat (2, l. + r. o.), Raphael Thelen/dpa (r. u.), Joachim Mottl/dapd (ganz unten), bildstelle (Tier), ddp (im Wappen); Illustrationen für DZ: Apfel Zet (Piktogramme), Niels Schröder (Wappen)

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ELEKTRO

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Bleeker

Willst Du auch diesen Fragebogen ausfüllen? Dann guck mal unter www.zeit.de/fragebogen

In vielen arabischen Ländern kämpfen Menschen seit Monaten für ihre Freiheit. Zuerst gingen die Tunesier auf die Straße. Selma und Yakoub haben es miterlebt VON FELIX DACHSEL

Anouk Boisrobert/Louis Rigaus: Das Faultier im Pop-up-Wald Jacoby&Stuart 2011; 15,95 Euro; ab 8 Jahren

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Bei welchem Wort verschreibst Du Dich immer?

chulfrei außer der Reihe ist eigentlich eine feine Sache. Die Geschwister Yakoub und Selma, neun und sieben Jahre alt, erfuhren an einem Montagmorgen im Januar durch einen Telefonanruf, dass sie an diesem Tag nicht zum Unterricht zu kommen brauchten. Der Grund war allerdings sehr ungewöhnlich: nicht Hitzefrei oder ein kranker Lehrer – sondern Revolution! Wenn eine Revolution stattfindet, heißt das, dass die Menschen die Machtverhältnisse verändern wollen, in denen sie bisher gelebt haben: Dafür gehen sie auf die Straße. Sie demonstrieren. Sie diskutieren. Sie schwenken Plakate. Sie kämpfen dafür, dass sie wählen dürfen. Oft verjagen sie ihre Regierung. So war es auch in Tunesien, wo Yakoub und Selma leben. In dem Land in Nordafrika sind viele Menschen furchtbar arm. Viele haben keine Arbeit. Die Staatsmänner der Regierung dagegen lebten in Saus und Braus und unterdrückten die Bevölkerung. Das machte viele unzufrieden. Sie wollten einen anderen Präsidenten haben. Sie wollten ihre Meinung sagen dürfen, ohne von der Polizei verfolgt und eingesperrt zu werden. Ihren Nachbarn in den Ländern Algerien, Ägypten oder Libyen ging es ganz ähnlich: Auch dort gab es in den vergangenen Monaten Revolutionen. Yakoub und Selma wohnen in Sousse, einer großen Stadt am Meer. Ihre Mutter kommt aus Deutschland, ihr Vater ist Tunesier. Anders als viele Menschen in Tunesien haben die Eltern Arbeit: Die Mutter der beiden Geschwister plant für Touristen Kameltouren durch die Wüste. Auch der Vater ist im Touristengeschäft tätig. »Die Wüste gefällt mir besonders gut«, sagt Selma. »In den Ferien bin ich auch schon auf Kamelen geritten und habe in Berberzelten geschlafen. Abends haben wir dann im Sand Feuer gemacht und Brot gebacken.« Die Kinder wissen, dass es ihnen besser geht als den meisten Tunesiern. »Ich finde es sehr traurig, dass es hier so viele arme Menschen gibt«, sagt Selma.

In Sousse war es zu Beginn der Revolution noch ziemlich ruhig auf den Straßen. Die Schule fiel zwar zehn Tage lang aus, aber man brauchte sich nicht zu Hause zu verstecken. »Am Anfang haben wir sogar noch Ausflüge gemacht«, sagt Selma: »Wir sind zum Beispiel zum Hafen gefahren und spazieren gegangen.« Yakoub erzählt, dass sein Vater in diesen Tagen viel fernsah, Nachrichten auf Arabisch, er wollte wissen, was im Land passierte. Die Kinder durften nicht mitschauen, weil die Bilder im Fernsehen so schrecklich waren: Polizisten verprügelten Demonstranten und schossen sogar auf sie. Die Polizei wollte den Präsidenten beschützen. Doch die Menschen in Tunesien hatten endgültig genug von ihm. Sie demonstrierten weiter. Es gab Tote und Verletzte, zerstörte Polizeiwachen und Geschäfte. »Es wurde immer gefährlicher«, sagt Selma. »Wir mussten den ganzen Tag drinnen bleiben. Opa hat uns aus

Nachbarn haben uns ein weißes Band gebracht. Wir sollten uns das um den Arm binden, wenn wir auf die Straße gehen«, erzählt Yakoub: »Das weiße Band war wie ein Ausweis.« Es war ein Zeichen dafür, dass die Kinder friedlich waren. Während der tunesischen Revolution geriet vieles im Land in Unordnung, der Alltag veränderte sich. Zum Beispiel arbeitete die Polizei nicht wie sonst. Deshalb gründeten viele Tunesier sogenannte Bürgerwehren. Eine Bürgerwehr ist eine Gruppe von Menschen, die ihre Häuser selbst beschützen, statt sich auf die Polizei zu verlassen. »Mein Bruder Yakoub wollte auch unser Haus beschützen«, sagt Selma: »Er suchte sich einen Holzstock und wollte rausgehen. Mama hat ihn aber abgehalten.« Nachts hallten Schüsse durch die Stadt. Bis zu ihrem Haus waren sie zu hören. Den Erwachsenen machte das Angst. Doch Selma und ihr Bruder Yakoub schliefen tief und fest. Ihre Eltern hatten die Fensterläden geschlossen und die Türen verriegelt. Nach einigen Tagen wurde es draußen wieder ruhiger. Der Präsident war zurückgetreten und aus Tunesien geflohen. Viele Menschen freuten sich darüber. Sie hofften, dass nun alles besser werden würde. Selmas Familie stieg ins Auto. Endlich durften sie wieder hinaus auf die Straße. Sie verriegelten die Autotüren und fuhren Beim Kampf für die Freiheit kam es auch zu Gewalt, in Sousse brannten Häuser in die Stadt. Vieles sah anders aus. »Der Supermarkt, in dem wir immer Deutschland Rätsel geschickt, jeden Tag einkaufen, war zugemauert«, erzählt Seleins. Damit es uns nicht langweilig ma. »Überall standen Soldaten herum. wird.« Yakoub sagt, er habe viel mit Lego Einige Geschäfte waren geplündert, und gespielt: »Wir hatten schließlich Zeit. Es die Polizeiwache in unserer Nähe war war wie Ferien. Aber eigentlich macht ausgebrannt.« Aber die Revolution war mir die Schule ja auch Spaß.« Selmas nun beendet. Tunesien hatte einen neuFreunde Amir und Heny sind mit ihrer en Präsidenten. Mutter nach Österreich geflogen. Dort Yakoub und Selma konnten wieder war es sicher. »Jetzt gehen sie dort zur zum Unterricht gehen. »Als die Schule Schule und in den Kindergarten«, sagt losging, habe ich das weiße Band in meiSelma. »Im Sommer kommen sie zurück nen Rucksack gesteckt. Ich habe es bei nach Tunesien.« mir, bis jetzt«, sagt Yakoub. »Am ersten Nachts bewachten die Nachbarn von Tag sangen wir alle auf dem Schulhof Yakoub und Selma die Häuser des die Nationalhymne. Dann schwiegen Wohnviertels. Sie sperrten die Straßen wir eine Minute lang, für die Toten«, ermit Mülltonnen und Holzstapeln ab. Sie zählt Selma. »Die Lehrer fragten uns, ob trugen Golfschläger und Rechen auf den wir in den Tagen davor Angst hatten. Ich Schultern, um sich zu verteidigen. »Die hatte keine Angst.«

EIN KNIFFLIGES RÄTSEL: Findest Du die Antworten und – in den getönten Feldern – das Lösungswort der Woche? 1. Macht die tomatenroten Kleckse auf unserem Imbissbudenteller

U M S

2. Wenn der Magen KNURRT, RAFFE dir eine: Wo der Hamburger ein gefülltes Brötchen ist, ist dies eine Wurst

E C K C H E N

3. Wird am Drehspieß gar, oft in der Brottasche serviert 4. Hähnchen schmecken gekocht und gebraten, am knusprigsten aber ...

G E D A C H T

5. »Pommes rot-weiß« wären nicht weiß ohne sie 6. Ihre Ringe dürfen in den gemischten Salat, in die Pilzpfanne ebenso 7. Eine stiftet warmen Regen im Bad, eine andere frisches Prickeln auf der Zunge 8. Ist es nicht von Pappe, dann meist aus Plastik, das ... am Würstchenstand 9. Kein großes Mahl: Worin liegt die Gefährlichkeit einer Giftschlange? 10. FUTTER SEI darin bald heiß, verspricht der Pommesbudenbesitzer 1 2

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Schick es bis Dienstag, 19. April, auf einer Postkarte an DIE ZEIT, KinderZEIT, 20079 Hamburg, und mit etwas Losglück kannst Du mit der richtigen Lösung einen Preis gewinnen, ein tolles Bücher-Überraschungspaket. Lösung aus der Nr. 13: 1. Seefahrer, 2. Kolumbus, 3. Asien, 4. Expeditionen, 5. Gewuerze, 6. Indianer, 7. Suedpol, 8. Pazifik, 9. Neuseeland, 10. Kontinente. – AUSTRALIEN

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FEUILLETON N Islamisten bei den ägyptischen Demonstrationen. Ägypten. Dieses Land war seit der Gründung der Muslimbruderschaft 1928 die Wiege des Islamismus. Die Bruderschaft wurde von Anfang an von den Machthabern bekämpft: Am 29. August 1966 ließ Nasser den großen Intellektuellen und Vordenker der Muslimbrüder, Sayed Qotb, aufhängen, und am 6. Oktober 1981 wurde Anwar al-Sadat von einem islamistischen Kommando ermordet.

GLAUBEN & ZWEIFELN

Peter Handkes überwältigendes Spätwerk »Der große Fall« S. 53

Erinnerungskultur: Im Internet gibt es kein Vergeben und Vergessen S. 64

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

aller Stille aufkommenden Wind der Freiheit nicht erahnt – jenen Wind, dessen Macht sogar die meisten an der Revolte Beteiligten erst in letzter Minute verspürten. Das ist das Neue. Die Ägypter gingen nicht zum ersten Mal in Massen auf die Straße. Die Polizei schlug nicht zum ersten Mal Demonstrationen mit brutaler Gewalt nieder. Junge Menschen wurden nicht zum ersten Mal verhaftet, in den Kellern der Polizeikommissariate

Doch warum haben die Islamisten den Zug des arabischen Frühlings verpasst? Erstens erlebt die Muslimbruderschaft seit Längerem eine interne Krise: Die junge Generation versteht sich nicht mit den Älteren. Der Diskurs und die Methoden greifen nicht mehr. Als der Volksaufstand begann, brach diese Krise auch nach außen auf. Die Bruderschaft war überholt, marginalisiert, und niemand hörte mehr auf ihre Litanei. Das heißt aber nicht, dass sich die islamistische Bewegung auflöst. Sie wird einen Platz im demokratischen Gefüge finden. Vor Mubaraks Rücktritt schätzte man, dass die Islamisten bei freien Wahlen höchstens auf zwanzig Prozent der Stimmen kämen. Heute ist der geschätzte Prozentsatz noch geringer. Bei den jungen Libyern, die sich der mörderischen Raserei Gadhafis widersetzen, ist der islamistische Diskurs so gut wie verschwunden. Auch in Bengasi steht eine neue Generation an der Spitze des Widerstands. Die meisten Aktivisten sind unter dreißig. Manche sind gerade aus Europa oder den USA zurückgekehrt, wo sie studierten oder arbeiteten. Sie haben neue Kampfmethoden eingeführt, unter anderem Facebook, Twitter und Reportagen. Gadhafis Diskurs spricht sie nicht an. Sie haben das Grüne Buch verbrannt, einen Wust von egozentrischen Gedanken.

Revolte ohne Islamisten Von Tunis bis Tripolis: Der Sturm der arabischen Volksaufstände hat nicht nur Staatschefs gestürzt, sondern auch den religiösen Fundamentalismus ins Abseits getrieben VON TAHAR BEN JELLOUN

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Foto: Alfred/SIPA

iemand hatte den Aufstand der arabischen Völker vorausgesehen. Weder die gut vernetzten Geheimdienste noch die politischen Beobachter, Wissenschaftler oder Journalisten, noch die Polizei und ganz gewiss nicht die Verantwortlichen der islamistischen Bewegungen, ob radikal oder gemäßigt. Der Funke entzündete sich am 17. Dezember 2010 in einer tunesischen Kleinstadt, als der Obsthändler Mohamed Bouazizi einmal zu oft zügellose Erniedrigung erleiden musste und sich daraufhin vor dem Rathaus lebendig verbrannte, da ihn dort niemand hatte empfangen oder anhören wollen. Selbstverbrennung ist den arabischen Kulturen und Traditionen fremd und gehört auf keinen Fall zum Islam. Wie in den anderen monotheistischen Religionen ist Selbstmord verboten, denn er wird als Auflehnung gegen den Willen Gottes angesehen. Selbstmörder haben kein Anrecht auf ein religiöses Begräbnis. Dies gilt auch für terroristische Attentäter, deren Naivität und Unwissenheit islamistische Extremisten für ihre eigenen Zwecke ausnutzen. Selbstmord, aus welchen Beweggründen auch immer, ist im Islam streng verboten. Im Nahen Osten sind andere aufständische Bürger Mohamed Bouazizis Beispiel gefolgt, sie alle waren Muslime. Indem sie beschlossen, sich zu opfern, setzten sie sich über das Gebot Gottes hinweg. Die erste Niederlage des Islamismus hat ihren Ursprung in diesem Ungehorsam gegenüber Allah. Hunderttausende strömten auf die Straßen und protestierten gegen korrupte diktatorische Regime, ohne sich auch nur ein Mal auf den Islam oder Allah zu beziehen. Auch das beweist, dass der islamistische Diskurs überholt ist und nicht mehr funktioniert. Man könnte noch verstehen, dass die Demonstranten in Tunesien nicht im Namen der islamischen Werte rebellierten – in diesem Land war die Trennung von Religion und Staat vom ehemaligen Präsidenten Bourguiba (1903 bis 2000) vorangetrieben worden, denn die Tunesier lassen sich im Allgemeinen nicht auf religiösen Fanatismus ein (Ben Ali hatte Bourguiba am 7. November 1987 gewaltsam abgesetzt). Zum ersten Mal haben sich arabische Demonstrationen weder gegen den Westen noch gegen Israel gewandt. Das allein beweist den Bruch dieses Aufstands mit alten Gewohnheiten. Die Berufung auf den Islam als Grundlage und zentrale Referenz für eine neue Politik ist von Millionen Demonstranten ausgehebelt worden, und das heißt: Die Besonderheit des arabischen Frühlings besteht darin, dass er spontan ist und auf den Einzug in die Moderne abzielt – auf die Anerkennung des EinLEKTÜRE zelnen und seinen Status ZUR LAGE als Bürger und nicht länger als Untertan. Bislang Nur der Wandel bringt die hatte keine der politiPolitik voran. Insofern ist es schen Parteien diesinnvoll, dass Guido Westerwelle einen Teil seiner Macht abgibt – sen Einzug in die auch wenn es wehtut. Westerwelles Moderne so direkt Parteifreund Rainer Brüderle hat schon gefordert. 2002 in der »Harald Schmidt Show« das Am bemerAngemessene gesagt: »Es ist ja wichtig, kens wertesten dass sich was ändert. Wenn sich nix aber ist die Abändert, ändert sich auch nix.« wesenheit der

LITERATUR

Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo, Februar 2011

Und doch: Im Februar 2011, mit dem Rücktritt von Mubarak, wurde Ägypten ohne Beteiligung der Islamisten »befreit«. Die Parolen der Demonstranten auf dem Tahrir-Platz bezogen sich auf die allgemeingültigen Werte Demokratie, Würde, Gerechtigkeit, Kampf gegen Korruption und Diebstahl. Die Menschen verlangten nicht nur Brot, sondern auch die Beachtung grundlegender Normen, damit korrupte Regime nicht mehr ungestraft herrschen können. Es war dieser neue, auf Freiheit zielende Geist, der die Revolte auch in andere autoritäre Staaten wie Syrien und den Jemen getragen hat. Der islamistische Diskurs dagegen forderte seit Langem »moralische Hygiene« für die staatlichen Systeme – und dabei hat er das Individuum zugunsten des Klans und der Glaubensgemeinschaft geopfert. Der Islamismus bemerkte die Entwicklungen im Volk nicht; er hat den in

gefoltert und sogar ermordet. Doch die Wut der Demonstranten war zum ersten Mal radikal, tiefgreifend und irreversibel. Und zum ersten Mal nahm eine Revolte laizistische Züge an.

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inige Aktivisten der Muslimbruderschaft versuchten, auf den Zug der Revolte aufzuspringen, doch sie bekamen keinen wirklichen Zuspruch und verhielten sich daher diskret. Ihre Nichteinmischung in die Dynamik der ägyptischen Revolution hat wichtige Konsequenzen für die politische Landschaft des Landes. Nach Mubaraks Rücktritt und der Übergabe der Staatsgeschäfte an die Armee fanden sich die Islamisten im Gemenge wieder: Sie waren nur mehr eine unter vielen politischen Parteien, und ihr überholter Fanatismus bekam einen Dämpfer.

u Anfang, sobald die Aufständischen die Stadt Bengasi unter Kontrolle hatten, hat Gadhafi versucht, das Gespenst der Angst vor dem Terrorismus zum Leben zu erwecken. »Das sind Islamisten! Leute von al-Qaida!« Damit wollte er vor allem eine Botschaft an die westliche Welt loswerden: Achtung, solltet ihr den Aufständischen zu Hilfe eilen, unterstützt ihr al-Qaida! Doch die Masche zog nicht. Die Rebellen schwenkten nicht den Koran; sie baten vielmehr die Vereinten Nationen, die USA und Europa um Hilfe. Die internationale Gemeinschaft konnte eine schlecht bewaffnete Zivilbevölkerung nicht hilflos dem schweren Geschütz eines Diktators ausliefern, der versprochen hatte, er werde sie »in jedem einzelnen Haus bis in die Schränke hinein suchen und finden«. Als der Sicherheitsrat mit Unterstützung der Arabischen Liga und der Afrikanischen Union die Resolution 1973 verabschiedete, die den Alliierten erlaubt, dem gefährdeten Volk Hilfestellung zu leisten, holte Gadhafi die gleiche List aus der Trickkiste und redete von einem »Kreuzzug«. Doch weder Frankreich noch Großbritannien, noch sonst jemand ist nach Libyen gezogen, um Muslime zu töten. Der Einzige, der getötet hat und weiterhin Muslime abschlachtet, ist Gadhafi. Sein islamistischer Diskurs ist völlig neben der Spur. Er erinnert an Saddams Kniff beim Einmarsch in Kuwait 1991: Dieser notorisch Ungläubige hatte auf der irakischen Flagge ein islamistisches Zeichen hinzugefügt und sich betend filmen lassen. Lange Zeit war die westliche Welt überzeugt, es sei besser, mit einem Diktator zu tun zu haben, als mit Islamisten. Sie hatte geglaubt, Herrscher wie der Tunesier Ben Ali und der Ägypter Mubarak seien »Schutzwälle« gegen die islamistische Gefahr. Die Europäer schlossen die Augen, halfen diesen Fortsetzung auf S. 50

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MEINUNGSFREIHEIT

Lieber doch nicht Die Salzburger Festspiele laden ihren Eröffnungsredner wieder aus So ganz bei sich sind die Salzburger Festspiele immer erst, wenn ein österreichischer Politiker die Bühne betritt und mit einem Skandal zum Gelingen des Welttheaters aus Kunsternst, Starrummel und Sponsorengelagen beiträgt. In diesem Jahr hat die Salzburger Landeshauptfrau Gabi Burgstaller (SPÖ) diesen Auftritt übernommen und ihn ins Frühjahr vorverlegt. Sie wollte nämlich, dass der Globalisierungskritiker Jean Ziegler die Rede bei der feierlichen Festspieleröffnung im Sommer hält. Zum Fünf-Sektkelche-Termin mit Fernsehübertragung hat sie einen Provokateur gebeten: Der Schweizer Soziologe, Expolitiker und frühere UN-Sonderbeauftragte hegt schäumenden Groll gegen internationale Konzernchefs, Großbanker und verantwortungslose Superreiche. Ihnen gibt er die Schuld am Hunger und der Ungerechtigkeit in der Welt. In der Felsenreitschule hätten sie ihm nun im Smoking gegenübersitzen und anhören müssen, was er ihnen zu sagen hat. Ziegler erkennt in der »herrschenden Weltdiktatur des globalisierten Finanzkapitals« nur »entfesselte Profitgier, Ausbeutung des Menschen, Zerstörung der Natur«. Die mächtigen Lebensmittelkonzerne und die Schweizer Banken hält er dabei für besondere Übeltäter. Da passt es sehr gut, dass zwei Hauptsponsoren der Festspiele Nestlé und die Credit Suisse sind. Irgendwie muss der SPÖ-Politikerin der Gedanke gefallen haben, dass der Schweizer Moralist den Reichen in Salzburg einmal den Kopf wäscht. Schließlich wusste sie, wen sie einlädt. Er habe seinen Vortrag mit der Politikerin durchgesprochen, erklärt Ziegler. Er sollte davon handeln, »dass etwa alle drei Sekunden ein Kind verhungert« und die Kunst »eine Waffe« sei. Aber dann hat Gabi Burgstaller Jean Ziegler plötzlich wieder ausgeladen – wegen Muammar al-Gadhafi. Zu dem libyschen Machthaber wird dem Schweizer seit Jahren eine gewisse Nähe nachgesagt. Eine mit Ziegler in Verbindung stehende Organisation habe die Verleihung von Gadhafis dubiosem Menschenrechtspreis organisiert, der auch schon einem Holocaustleugner verliehen wurde, heißt es immer wieder. Der Schweizer gehöre zu den Preisträgern. Ziegler hat die Vorwürfe stets zurückgewiesen, so auch jetzt: Den Preis habe er nie angenommen, der libysche Despot sei ein Fall für den Psychiater. Warum wurde Ziegler also ausgeladen? Haben die Sponsoren etwa Druck gemacht? Die Salzburger Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler dementiert das empört. Gabi Burgstaller wiederum erklärt, sie habe Ziegler lediglich vor Gadhafi-Diskussionen schützen wollen. Der Ausgeladene selbst freilich mag nicht daran glauben, dass seine Gegner aus dem Sponsorenkreis untätig waren. »Das ist Blödsinn, das sind keine Chorknaben«, sagt er. »Diese Zürcher Geldsäcke wollten nicht gezwungen werden, mir bei den Festspielen zuzuhören.« Ob die Opern- und Theaterinszenierungen des Festspielprogramms auch so krawallig ausfallen? Elfriede Jelinek und Peter Turrini haben sich schon mit dem Ausgeladenen solidarisiert. Wir können den Sommer kaum erwarten. CLAUS SPAHN

FEUILLETON

DIE ZEIT No 15

Von Arabellion auf der Messe keine Spur ABU DHABI BOOK FAIR

Zu viele Sittenwächter »Ein wohltuender Sturm fegt durch unsere Region und kündigt einen neuen Frühling an.« Mohammed Achaari wählt poetische Bilder, sie sind unverfänglich und verärgern keine der Exzellenzen, die sich im Emirates Palace zu Abu Dhabi versammelt haben. Der Marokkaner bedankt sich für den Sheikh Zayed Book Award, den höchstdotierten Literaturpreis der Golfregion. In seinem jüngsten Roman seziert er die Leiden einer Familie, deren Sohn im Namen der Terrororganisation al-Qaida den Märtyrertod stirbt. Auch die zweite Laureatin, Raja Alem aus Saudi-Arabien, bricht ein Tabu. Ihre Heldin schildert in Liebesbriefen an einen deutschen Freund das geheime Leben in der heiligen Stadt Mekka, die Kriminalität, den religiösen Fanatismus, die Ausbeutung von Lohnsklaven. Normalerweise wird über solche Themen nicht geredet, jedenfalls nicht öffentlich. Und schon gar nicht von Frauen. Die mutige Entscheidung der Jury könnte ein Ansporn für die Abu Dhabi International Book Fair sein. Doch groß ist die Ernüchterung beim ersten Rundgang: Halb Arabien brennt, aber hier kommt man sich vor wie in einer windstillen Oase. Nichts ist zu spüren von der revolutionären Aufgewühltheit, die die Völker der arabischen Welt erfasst hat. Präsentiert werden überwiegend Kinderbücher, Fachliteratur, Lebensberater, Fotobände für den Kaffeetisch. Dazwischen ein bisschen Belletristik, auch deutsche Übersetzungen von jungen arabischen Literaten, die meisten so brav, als wären sie für Ministranten geschrieben. Wo ist das Politische? Wo finden die Debatten über die Aufstände in Arabien statt? Selbst die müde Diskussion renommierter Schriftsteller aus dem Maghreb wollen nur zwei Dutzend Leute hören. Ein Mann aus dem Auditorium ruft: »Schreibt! Die Menschen brauchen euch!« Das Problem ist nur: Wie kommen die Bücher an die Leser? Das Verlagswesen ist fragmentiert, es fehlt ein panarabisches Vertriebssystem, Zensoren verhindern die Verbreitung kritischer Werke, und die Zahl der kaufkräftigen Leser ist durch die Armut und hohe Analphabetenraten begrenzt. Der Arab Human Development Report der Vereinten Nationen schätzt, dass seit der Ära des Kalifen al-Mamun

im 8. Jahrhundert nur 10 000 Titel ins Arabische übersetzt wurden; das entspräche der Menge, die Spanien allein in einem Jahr übersetzen lässt. Gerade in einer Epoche des grundstürzenden Wandels könnte die Region ihr enormes Potenzial entfalten; das ahnen auch die Messemacher in Abu Dhabi. Die reiche, liberale, ultramoderne Hauptstadt der Emirate liegt im Zentrum der arabischislamischen Hemisphäre, in der weit über 300 Millionen Menschen leben. Um diesen gewaltigen Markt zu erschließen, haben die Organisatoren den stärksten Partner der Branche umworben: die Frankfurter Buchmesse. Und die nahm ihrerseits das Angebot wahr, um einen Fuß in diesen potenziellen Wachstumsmarkt zu setzen. Aber das Joint Venture bleibt ein Wagnis. »Viele Diktatoren, viele Sittenwächter, viele Denkverbote«, klagt ein E-Book-Vertreiber aus dem Libanon. »Wir bringen trotzdem immer mehr Bücher durch, selbst nach Saudi-Arabien.« Schon bald werden die Wellen des Widerstands ganz Arabien erreichen, prophezeit er. Es gehe dabei gar nicht so sehr um eine Revolution, sondern um Reformen. Eine aktuelle Umfrage unter jungen Arabern stützt seine These: 95 Prozent wollen in einer demokratischen Gesellschaft leben. Das gedruckte Wort als Triebkraft der Aufklärung – noch nutzt die Buchmesse in Abu Dhabi diese Chance zu wenig. Aber das könnte sich schon im nächsten Jahr ändern. Denn in Arabien ist nichts mehr so, wie es einmal war. BARTHOLOMÄUS GRILL

DEUTSCHER FILMPREIS

Keine Heulsuse! Anlässlich des Deutschen Filmpreises, der am 8. April in Berlin verliehen wird, möchten wir noch unsere kleine Wunschliste ins Programm einspeisen: 1. Ein deutsch-türkisches Rechtschreibprogramm, das dem Veranstalter, der Deutschen Filmakademie, ermöglicht, auch türkische Namen von Nominierten (in diesem Jahr die Schwestern Nesrin und Yasemin Şamdereli für ihren Film Almanya) richtig zu schreiben. 2. Alle zwei Jahre einen Preis für das Lebenswerk von Til Schweiger, damit er sich wegen der routinemäßigen Nichtnominierung seines jeweiligen Erfolgsfilms (in diesem Jahr Kokowääh mit mehr als vier Millionen Zuschauern) nicht wieder bemüßigt sieht, über den mangelnden Populismus der Akademie zu nölen. 3. Den Darstellerinnenpreis für Sophie Rois in Tom Tykwers Drei, womit sichergestellt wäre, dass die Preisträgerin in diesem Jahr weder als virtuose Heulsuse noch als barfüßige Hupfdohle auf die Bühne käme. KATJA NICODEMUS

FRANKFURTER RUNDSCHAU

Zu Tode reformiert

Elf Seiten lang war der Brandbrief, in dem Wolfram Schütte, ein altgedienter Feuilletonredakteur der Frankfurter Rundschau, schon Anfang der neunziger Jahre den Untergang seines Blattes an die Wand malte. Wenn die FR nicht »energische Anstrengungen« unternehme, um konkurrenzfähig zu bleiben; wenn sie nicht das Hauptschlachtfeld der Tageszeitungen, das Feuilleton, ausbaue, dann werde aus der stolzen Zeitung eine hessische Postille, ein Lokalblättchen fürs Frankfurter Schunkelmilieu. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Der Rufer in der Wüste sollte recht behalten. Die Frankfurter Rundschau, die linke, 1945 gegründete Traditionszeitung, wird zum Lokalblatt geschrumpft, oder vornehmer gesagt: Der überregionale »Mantel« mit den Ressorts Politik, Wirtschaft, Feuilleton und Sport wird künftig in der Berliner DuMont-Redaktionsgemeinschaft hergestellt, zu der die Berliner Zeitung, der Kölner Stadtanzeiger und die Mitteldeutsche Zeitung gehören. Fast 90 Mitarbeitern wird gekündigt; dafür gibt es in Berlin – angeblich – 49 neue Stellen. »Das, was die FR in Ton und Meinung auszeichnet, soll erhalten bleiben«, verspricht der Verleger Alfred Neven DuMont, doch wie darf man sich das vorstellen? Wird die »alte« FR hin und wieder als Gespenst der Vergangenheit auf die Berliner Bühne hüpfen? Gibt es, vergleichbar den Raucherghettos auf Bahnsteigen, künftig ein Alibi-Eckchen zur gelegentlichen Inhalation von ungefilterter FR-Meinung? Um fair zu bleiben: Der zu Tode gerettete Patient schrieb glutrote Zahlen und war nur noch ein Schatten seiner selbst. Es gibt wohl keine Zeitungsredaktion, die so viel Federn lassen musste und so verzichtsbeSophie Rois reit ums Überleben gekämpft hat wie verdient die taumelnde FR. Zuletzt wollte sie in einen Preis kleinem Tabloidformat noch einmal groß herauskommen. Geholfen hat es nicht. Die FR, mit ihren Feuilletonredakteuren Wolfram Schütte, Hans-Klaus Jungheinrich und Peter Iden einst das Pflichtblatt der Intelligenz, war Ende der achtziger Jahre einfach nicht mehr cool. Sie stand im Ruf, ein Gewerkschaftsblatt zu sein, ein Organ der Eisenbeißer und zudem Hausblatt einer staatstragenden SPD. Nach dem Mauerfall verharrte die FR richtungslos auf der Stelle, während sich die Partisanen von der taz in der postkommunistischen Lage so munter bewegten wie der Fisch im Wasser. Die defizitäre Welt wurde von ihrem reichen

Verleger ausgehalten, die SZ erfand eine großartige Mischung aus Welternst und Leichtsinn; die FAZ zog eine junge Garde schreibhungriger Konservativer groß, die das linke Diskursmonopol knacken wollten. Und weil 1989 die Marktwirtschaft über den Kommunismus gesiegt hatte, glaubten viele, nun lebe man in der besten aller Welten und Kapitalismuskritik sei herzlich überflüssig. Am Ende saß die FR, beraten von irrlichternden Publizistikprofessoren und Marketingmenschen, tief in der Zeitgeistfalle und wirkte wie eine alte Dame, die in sportlichen Leggins noch einmal auf den Laufsteg stürmt, um der Jugend zu zeigen, wo der Hammer hängt. Die Fotos wurden greller, die Texte dünner, der wurde »Weißraum« größer, das Feuilleton provinzieller. Doch längst waren die Intellektuellen stiften gegangen, und wenn eine Zeitung diskursiv uninteressant wird, dann wird sie überhaupt uninteressant. Als die FR in den letzten Jahren analytisch aufregender und anspruchsvoller wurde, als sie dem kulturellen Mainstream aus Postmoderne und Neokonservativismus Paroli bot, da war es zu spät, die Auflage pendelte in Bodennähe und war von 200 000 auf 130 000 Exemplare gesunken. Was wäre, wenn die gute alte FR sich geändert und zugleich treu geblieben wäre? Wenn sie freien Geistern mehr Raum gegeben und den asketischen Charme ihrer Texte gepflegt hätte? Verpflichtet nur dem Glauben an die journalistische Aufklärung? Vielleicht wäre die Frankfurter Rundschau heute in all dem Lauten und Bunten wieder cool und Kult. THOMAS ASSHEUER

B AY R E U T H O H N E W E N D E R S

Retter gesucht In zwei Jahren hat Richard Wagner 200. Geburtstag. Für die Bayreuther Festspiele ist das ein Jahrhunderttermin, der groß gefeiert werden muss. Und die Wagner-Schwestern Katharina und Eva konnten tatsächlich einen Regiecoup für ihren neuen Ring landen: Der Filmemacher Wim Wenders sollte ihn inszenieren. Das wurde im Januar bekannt. Aber die Verträge waren noch nicht unterschrieben. Jetzt hat Wenders es sich anders überlegt und abgesagt. Zu unterschiedlich seien die Vorstellungen zwischen dem Regisseur und der Festspielleitung gewesen, heißt es. Der Dissens bestand offenbar in einem 3-DDokumentarfilm, den Wenders neben der RingInszenierung über seine Wagner-Arbeit drehen wollte. Für Bayreuth ist die Absage eine Katastrophe. Wer rettet nun die Jahrhundertfeier für Richard? CLAUS SPAHN

ZUM TOD KURT WEIDEMANNS

Faun und Gestalter »Ein Zeichen ist dann gut, wenn man es mit dem großen Zeh in den Sand kratzen kann«, hat Kurt Weidemann, der große Gestalter, einmal gesagt. Das galt auch für ihn selbst. Seine Gestalt ließ sich in wenigen Strichen skizzieren: hagere Silhouette, schwarzer Schlapphut, unter dem eine spitze Nase hervorragte, Ohrring, listige Augen. Als Theaterfigur hätte er das Rollenfach des »Vice« ausfüllen können, des schlauen, sinistren, seine Umwelt durchschauenden Ratgebers. Weidemann war Artdirector, Schriftgestalter, Stilberater, Designkritiker, Corporate-IdentityBerater großer Firmen. Aber er war auch ein großer Spieler, der nie verhehlte, welchen Theaterspaß er an seiner Rolle hatte. »Man kann Design natürlich als eine Form von Hurerei ansehen – man bietet etwas an. Aber wer eine Frau kennenlernt, sagt ihr auch nicht gleich, dass er Fußpilz und Schuppen hat. Man versucht, den besten Eindruck zu machen, bis zur Übertreibung. Das muss man auch der Industrie zugestehen. Neulich war ich bei einem Designer, der designte eine Unterwasserpumpe. Ich fragte ihn: Wozu muss eine Unterwasserpumpe designt werden? Er antwortete: Weil sie über Wasser verkauft wird.« Die Sätze stammen aus einem Gespräch, das wir vor Jahren mit Kurt Weidemann geführt haben – es war der Ton, in dem er sprach. Er beriet die Mächtigen, als wollte er sie nur studieren. Er gab sich als Narr, als Faun, als sinnenfroher Selbstverwirklicher. Er erweckte den Anschein, einer zu sein, der richtig lebt und deshalb auch das Richtige entwirft. Weidemann schuf den Schriftzug der Deutschen Bahn (DB: rote Schrift, weißes Feld), den Namen des Luxusprodukts Porsche setzte er in kraftvolle, kompakte Lettern; dem Mercedes-Stern gab er eine räumlich-dreidimensionale Gestalt. Gern arbeitete er mit Verlegern zusammen (Klett, Siedler); es ging ihm nie nur um die Zeichen, immer auch um die Bedeutung. Nicht das zwanghaft Originelle reizte ihn, sondern: das einfach Bessere. Kurt Weidemann stammte aus Masuren, er ging als Freiwilliger an die Ostfront, und er blieb lange in russischer Gefangenschaft. Sein zweites Leben aber führte er in Stuttgart; dort lehrte er an der Kunstakademie, dort beriet er die großen Firmen. Kaum ICH heißt ein Buch, das er 2002 über seine Kriegserfahrungen veröffentlichte. Ein Slogan, der für den langen Friedensteil seines Lebens keineswegs gilt: Es war viel erfülltes, genossenes ICH zu spüren, wenn man sich Kurt Weidemann näherte. Am 30. März ist er im elsässischen Sélestat gestorben; er war 88 Jahre alt. PETER KÜMMEL

Fortsetzung von S. 49

Regimen und machten Geschäfte mit ihnen. Da- te. Doch die Menschen lesen die Heilige Schrift durch erhielt der Islamismus ein Gewicht, das der durch eine andere Brille: klug, vernünftig und konWirklichkeit nicht entsprach. Natürlich stellte die textbezogen. Das ist das Neue und Revolutionäre. Die Aufstände haben auch die iranischen Muslimbruderschaft die ägyptischen Machthaber infrage und präsentierte sich als Alternative zum Machthaber überrascht und aus der Fassung geEinparteiensystem. Die arabischen Gesellschaften bracht. Sie hatten von einer islamischen Repubergen eben mehrere politische Tendenzen in sich, blik in Ägypten und anderen arabischen Länund eine davon ist der Islamismus, doch er hat dern geträumt und befinden sich jetzt in einer weder die Bandbreite noch den Einfluss, die ihm Zwickmühle. So haben sie die Schiiten in Bahrain und im Jemen unterstützt. manche westlichen Beobachter zuDoch auch dort haben die Deschreiben. Natürlich versucht alQaida sich in Nordafrika zu etab- TA H A R B E N J E L L O U N monstrationen auf religiöse Bezüge verzichtet. Und sollte Assad lieren, nimmt Geiseln, erpresst in Syrien die Macht verlieren, Staaten. Doch niemand kann wäre das das Ende von Hisbollah heute noch glauben, al-Qaida sei und auch von Hamas. Denn Iran das wahre Gesicht des Islams. finanziert diese islamistischen Als Ben Ali im November 1987 Parteien in enger Komplizenan die Macht kam, führte er einen schaft mit Syrien. erbitterten Kampf gegen alle Gegner, insbesondere gegen diejeniBleibt zuletzt noch die Frage des gen, die sich auf den Islam berie- wurde 1944 in Fès Terrorismus im Namen des Islams. fen. Im ganzen Land gab es eine geboren und zählt zu Al-Qaida ist eine unsichtbare KomHexenjagd, die Gefängnisse waren den bedeutendsten mandostelle, die man nicht orten voll mit Oppositionellen, die ge- maghrebinischen Schriftkann und die aus dem Terrorismus foltert und zu langer Haft ver- stellern. 1987 erhielt er ein rentables Geschäft machen will. urteilt wurden. Der antiislamisti- den Prix Goncourt. Jelloun Der Beweis dafür? Alle Geiselnahmen hatten bis jetzt nur ein sche Kampf war zum perfekten lebt in Tanger und Paris Ziel: Lösegeld eintreiben. Gewiss, Alibi für den Aufbau einer Diktaal-Qaida wird weiterhin von sich tur geworden. Der Leiter der islamistischen Bewegung En-Nahda, Rachid al-Ghan- reden machen und mit hoher Wahrscheinlichkeit nouchi, der in London im Exil gelebt hatte, er- in den von den Diktaturen befreiten Ländern Verklärte nach seiner Rückkehr: »Ich will in Tunesien brechen begehen. Dennoch ist die Schaltstelle keine islamische Republik aufbauen und werde des Terrorismus im arabischen Frühling an den bei Präsidentschaftswahlen nicht kandidieren.« Rand gedrängt worden, und das können ihre DrahtDie Beziehungen zwischen der westlichen und zieher nicht auf sich sitzen lassen. Möglicherweise der arabischen Welt werden sich durch die neue werden sie sogar einen Anteil der Aufstände für sich Entwicklung von Grund auf verändern: Das Alibi beanspruchen. Da sich aber – wie es aussieht – die arabischen des islamistischen Terrorismus greift nicht mehr. Gewiss, den Islamismus wird es weiterhin geben, Länder ohne ihre Unterstützung befreien, geradenn er entspricht einem kulturellen Bedürfnis. ten die Verbrecher um bin Laden in eine PosiDoch sein Aufblühen hat er im Wesentlichen der tion, die sie nicht lange halten können. So läuten Unterdrückung der Demokratie verdankt. Eine in die arabischen Aufstände das Ende der autoritäden arabischen Ländern verwurzelte Demokratie ren unrechtmäßigen Regime ein. Zugleich wehwird die religiösen wie die laizistischen Bewegungen ren sie direkt und unmissverständlich die Barberücksichtigen. Es ist das Volk, das die islamistische barei von al-Qaida ab. Das bedeutet noch nicht Bewegung niedergeschlagen hat. Das Volk hat sie das Ende des Terrorismus weltweit. Doch die ignoriert und sich geweigert, seine Revolution im islamistische »Software« ist nunmehr überholt. Namen des Islams durchzuführen. Das verdanken wir der neuen Generation der arabischen und isla- Aus dem Arabischen von CHRISTIANE KAYSER mischen Diaspora auf der ganzen Welt. Der Sturm Von Tahar Ben Jelloun erscheint am 16. April i der Revolte hat die alte Litanei hinweggefegt, die Berlin Verlag als deutsche Originalausgabe das m Buch eine Rückkehr zur islamischen Welt wie zu Zeiten »Arabischer Frühling – Vom Wiedererlangen der des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert woll- arabischen Würde«

Fotos (im Uhrzeiger): imago; Erik Berger/A-way!; DaimlerChrysler AG/ddp; picture alliance/dpa

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FEUILLETON

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

Klärt das auf! Die Verhaftung des chinesischen Künstlers Ai Weiwei wird zum Testfall, wie die deutsche Kulturpolitik mit totalitären Regimen umgehen soll VON HANNO RAUTERBERG

Fotos: Vera Hartmann/13Photo (o.); Frank Ossenbrink

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uido Westerwelle konnte mit sich zufrieden sein. Er war nach Peking geflogen, hatte dort stolz eine große Kunstund Kulturausstellung eröffnet, bestückt mit 600 Werken aus Berlin, München und Dresden, hatte dann am Samstag noch eine Rede gehalten, in der er die Ideale der Aufklärung hochhielt und zugleich China bescheinigte, »in den letzten Jahrzehnten beim Schutz der sozialen Menschenrechte seiner Bürger wichtige Fortschritte gemacht« zu haben. Doch kaum war er weitergereist, nach Japan, ließ die chinesische Regierung den weltbekannten Künstler und Bürgerrechtler Ai Weiwei verhaften und wegsperren. Ein Eklat, ein Schock, ein unerhörter Vorgang. Nicht nur Westerwelle wurde düpiert, auch die deutschen Museen fühlen sich von den Chinesen vorgeführt. Gemeinsam mit Kollegen aus Peking hatten sie sieben Jahre lang daran gearbeitet, eine Ausstellung über die »Kunst der Aufklärung« vorzubereiten. Natürlich wussten sie, wie heikel es sein würde, eine solche Schau über die Zeit der geistigen Befreiung ausgerechnet im Nationalmuseum zu zeigen, direkt am Platz des Himmlischen Friedens, auf dem 1989 die Studentenrevolte ein tödliches Ende fand. Doch sie hatten den Dialog beschworen, hatten gehofft, den Wertewandel in China ein klein wenig vorantreiben zu können. »Ais Verhaftung ist ein harter Schlag«, sagt Michael Eissenhauer, der als Generaldirektor in Berlin die Staatlichen Museen leitet. »Es ist an der Grenze des Ertragbaren.« Kaum war er in Deutschland gelandet, erreichte ihn die Nachricht, dass der Künstler, dessen Frau und auch Teile seines Teams abgeführt worden waren. »Das widerspricht allem, worum es in unserer Ausstellung geht. Es ist eine große Enttäuschung.« Von einem Scheitern allerdings will Eissenhauer nichts wissen. »Die Verhaftung belegt ja gerade, wie wichtig eine solche Ausstellung ist.« Hätte den deutschen Museen also nichts Besseres passieren können? Liefert ihre Ausstellung jetzt den Debattenstoff, den sich die Direktoren wünschen? Die halbe Kulturwelt diskutiert mittlerweile, ob und wie man mit repressiven Staaten zusammenarbeiten sollte. Ist es verwerflich, in einer Ausstellung die Freiheit der Kunst zu preisen und ein eigenes Kapitel über die westliche Gegenwartskunst zu zeigen, wenn zugleich viele chinesische Gegenwartskünstler geknebelt werden? Oder ist es das einzig Richtige, was ein Museum tun kann, um verbrecherische Systeme aufzuweichen? Alexander Ochs gehört zu den System-Erweichern. Seit Jahren schon pendelt er zwischen Berlin und Peking, an beiden Orten betreibt er seinen Kunsthandel. Auch Ai Weiwei wird von seiner Galerie vertreten. Er weiß sehr genau, wo in China die Grenzen der Meinungsfreiheit verlaufen – und findet, dass die deutschen Museumsdirektoren diese Grenze fast schon duckmäuserisch akzeptiert hätten. »Warum haben sie sich nicht viel deutlicher geäußert?«, fragt er erbost. »Warum haben sie ihre Ausstellung nicht auch dafür genutzt, über das Schicksal von Bürgerrechtlern wie Ai Weiwei offen zu diskutieren?« Auch Michael Lackner, ein hoch angesehener Sinologie-Professor aus Erlangen, ist auf seine freundliche Art deutlich verärgert. Er habe sich schon gewundert, sagt er, wie geschmeidig die deutschen Museumsmänner in Peking aufgetreten seien – »wie Kulturfunktionäre im Umgang mit Kulturfunktionären«. Vor allem hätte er sich gewünscht, dass die Ausstellungsmacher sich stärker auch für das Rahmenprogramm eingesetzt hätten. Dort sollte in diversen Foren und Salons darüber diskutiert werden, inwieweit die Ideale der Aufklärung heute noch tragen und welche Bedeutung sie für ein Land wie China haben. Lackner hat dieses Programm mit geplant, finanziert wird es von der Mercator-Stiftung. Die Museen aber hätten sich dafür kaum interessiert, sie hätten die Stiftung sogar »im Stich gelassen«. Offenbar wollte man möglichen Konflikten aus dem Weg gehen. Tatsächlich gab es bei der Vorbereitung der Foren und Salons einige Unstimmigkeiten. »Die Chinesen wollten partout keine Amerikaner dabeihaben«, erzählt Lackner. Selbst Tu Weiming, der Professor in Harvard war und heute wieder in Peking über Konfuzius forscht, darf im Rahmenprogramm der Ausstellung nicht auftreten. Das eigentliche Problem sei aber, sagt Lackner, dass nun viele der Vorträge und Diskussionsrunden »in der babylonischen Knechtschaft des Nationalmuseums stattfinden«. Schon während der Planung erwog er, sich aus dem Projekt zurückzuziehen. »Auch jetzt bin ich kurz vor dem Absprung.« Stets kämen die Chinesen in letzter Minute mit irgendwelchen Änderungswünschen, von einem offenen, freien Austausch könne kaum noch die Rede sein. Auch da würde er sich von den deutschen Museen mehr Widerstand wünschen. Martin Roth kann die Kritik nicht verstehen, in bitteren Tönen weist er sie zurück. »Wie soll das denn anders laufen, in einem Land wie China?« Roth leitet die Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden und kooperiert seit Jahren mit chinesischen Ausstellungshäusern. »Niemand kann doch im Ernst meinen, man könne den Chinesen lauthals unseren Wertekanon diktieren, noch dazu im Nationalmuseum.« Schwer erbost ist er darüber, dass manche Journalisten weniger über seine Ausstellung als über Menschenrechtsfragen geschrieben hätten. »Fast niemand hat nach Kant gefragt, alle wollten nur über Spengler sprechen.« Der Schriftsteller und Sinologe Tilman Spengler hatte zusammen mit Michael Lackner das Rah-

Wer knipst hier wen? Ai Weiwei auf seiner »Map of China«, 2004

menprogramm der Ausstellung gestaltet, doch wollte ihm die chinesische Regierung kein Visum erteilen. Und auch von der Gästeliste des Bundesaußenministers wurde er gestrichen, neun Stunden vor dem Abflug. Ein Affront, den es in dieser Form noch nie gegeben hatte. Spengler hatte voriges Jahr eine Laudatio auf den Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo gehalten – das reichte offensichtlich, um ihn zur Persona non grata zu machen. »Natürlich haben wir uns darüber geärgert. Doch was hätten wir machen sollen? Vielleicht den Eröffnungsfeiern fernbleiben? Das hätte der Tilman nicht gewollt«, sagt Roth. »Dann wäre der Streit eskaliert, und das kann doch niemand wollen.« Er halte nichts von schrillen Tönen und selbstgerechten Gesten. Man müsse mit den chinesischen Partnern reden, eindringlich auch. »Doch tut man das nicht vor laufender Kamera, wir wollen ja den Dialog, keine Talkshow.« Und die Verhaftung von Ai Weiwei, wäre das nun nicht ein Grund für offenen Disput? Roth atmet einmal tief durch. »Der ist ja bei den Medien vor allem nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil er ständig draufhaut. Furchtbar natürlich, dass er verhaftet wurde. Aber warum sind alle so auf ihn fixiert? Es gibt Hunderte Künstler wie ihn, über die spricht aber keiner, weil sie keine Popstars sind.« Ähnlich reagiert Roths Kollege Klaus Schrenk aus München. Tiefes Atmen, dann sagt er über Ai Weiweis Verhaftung: »Ich nehme das mit Bedauern zur Kenntnis.« Eine solche Ausstellung könne aber »auf unmittelbare Ereignisse nicht reagieren«. Deshalb hält er auch eine Protestnote der Museen zunächst für ausgeschlossen. Während Westerwelle öffentlich die Freilassung Ai Weiweis fordert, während sich Klaus Staeck von der Akademie der Künste in Berlin ebenso empört wie der Kultusminister in Bayern, scheinen die drei Museumsdirektoren jede Konfrontation vermeiden zu wollen. Einzig der Chef der Mercator-Stiftung, Bernhard Lorentz, geht in die Offensive. Seine Stiftung, die das Geld für das Rahmenprogramm gibt, habe in der Vorbereitungszeit oft heftige Diskussionen erlebt. »Ich habe immer deutlich gemacht, dass wir

»Äußerst nervös« Ein Besuch in Ai Weiweis Künstlerdorf VON ANGELA KÖCKRITZ

Ein Atelier im Pekinger Künstlerdorf Caochangdi, gleich in der Nähe von Ai Weiweis Werkstatt. Eine junge Frau öffnet die Tür, sie ist eine gute Freundin Ai Weiweis. »Er hatte eine Vorahnung«, sagt sie. Kurz bevor er sich am Sonntagmorgen auf den Weg zum Flughafen machte, um nach Hongkong zu reisen, sagte er zu seinem Assistenten: »Wenn mir etwas zustößt, musst du die Nachricht verbreiten.« Noch am Flughafen wurde er festgenommen. Seither ist er verschollen, am Dienstag wusste keiner, wo er sich aufhielt und warum er festgenommen wurde. Das Studio wurde am Sonntag sechs Stunden lang durchsucht, 20 bis 30 Computer wurden entwendet. Das ganze Dorf hatte ein paar Stunden lang keinen Strom, am Montag streikte das Internet. »Es hat sich über lange Zeit, Schritt um Schritt aufgebaut«, sagt die Freundin. Beide Seiten testeten ihre Grenzen, Ai Weiwei und die Regierung.« Schon 2009 habe man Ai festnehmen wollen, die Sicherheitsbehörden durchsuchten sein Konto, prüften es auf Schwarzgelder, Korruption, irgendeinen Vorwand, um ihn anklagen zu können. »Sie haben aber nichts gefunden. Ai hat sich später in seinem Blog über sie lustig gemacht.« Er ist nicht der Einzige, der festgenommen wurde. Mehr als hundert Dissidenten, Aktivisten und Menschenrechtsanwälte hat in jüngster Zeit das gleiche Schicksal ereilt, einer ist seit 45 Tagen verschwunden. Seit Jahren habe man so eine Härte nicht mehr gesehen, sagt die Künstlerin. »Sie verhaften die Menschen ganz willkürlich, sie tun nicht mal mehr so, als ob sie das Gesetz achten würden.« Die Erhebungen in den arabischen Staaten haben die chinesische Regierung äußert nervös gemacht. »Ai hatte aber nichts mit den Aufrufen zu einer chinesischen Form der Jasminrevolution zu tun«, sagt die Freundin. »Das war ein Thema, um das er sich nicht gekümmert hat.« Viele hatten gehofft, dass Ai Weiweis Renommee ihn vor Verfolgungen schützen würde. Nicht nur, weil er der international bekannteste Künstler des Landes ist. Auch sein Vater, der Dichter Ai Qing, wird in China sehr geschätzt. »Man muss sich den Zeitpunkt der Verhaftung ansehen«, sagt ein Künstler. »Der Nationale Volkskongress ist gerade zu Ende gegangen, viele junge Politiker sind in neue Ämter gerückt. Ihre Vorgänger haben Ai Weiwei in Ruhe gelassen, weil sie seinen Vater schätzen. Die neue Generation will zeigen, dass es diese Protektion nicht mehr gibt.« Eine Zeit der neuen Härte sei angebrochen, die Regierung wolle offenbar unbequeme Künstler wie Ai nicht länger dulden. Vor dem Studio Ai Weiweis ist es still, kein Mensch, kein Tier, keiner, der auffällig aus dem Fenster eines geparkten Autos schauen würde. Was nicht heißen soll, dass der Ort nicht genau beobachtet wird. Im Hinterhof eines nahe gelegenen großen Museumskomplexes wartet ein enger Vertrauter Ai Weiweis, er möchte im Gehen Haus der Kunst in München ausreden, »ist sicherer so«. »Kunst der Aufklärung« heißt stellte. Man hätte das Projekt sorgSoeben wurde sein Blog die Ausstellung, die vorige Wofältiger vorbereiten und intensiver geschlossen, er weiß che in Peking vom deutschen aushandeln müssen, sagt er. Vor nicht, ob er beschattet Außenminister eröffnet wurde allem aber dürfe man nicht eine wird. Hat die Regierung – und die sich zum Skandal ausAusstellung über die Aufklärung Ai Weiwei festgenomwuchs. Erst wurde am Donnersmachen und dann jeden Mut zur men, um ein Warnsignal tag dem Sinologen Tilman Selbstaufklärung vermissen lassen. zu setzen? »Es muss doch Spengler das Visum verweigert, Tilman Spengler hingegen, der keiner mehr gewarnt werobwohl er als Gast des Ministers Sinologe ohne China-Visum, rät den«, sagt er, »was mit einreisen wollte. Am Sonntag von billiger Empörung dringend Liu Xiaobo passiert ist, dann wurde der berühmte ab. »Niemand hat etwas davon, hat doch allen schon geKünstler Ai Weiwei verhaftet, wenn sich die Deutschen gegennug zu denken gegeben.« der zu mehreren Veranstaltunseitig bescheinigen, dass sie sich Alle hätten Angst und gen rund um die Ausstellung für die Kunstfreiheit einsetzen. gleichzeitig auch schon eingeladen war. Seither debatAm wenigsten hat Ai Weiwei etkeine Angst mehr, die tiert die Kulturwelt, ob es richwas von solcher Wortböllerei.« Verhaftungen seien so tig war, sich überhaupt auf das Auch der Galerist Ochs rät von willkürlich, dass man Projekt in Peking einzulassen. vorschneller Regimeschelte lieber nicht wisse, wie man sich ab. Sie könnte Ai Weiwei am Ende schütze solle. Viele im sogar schaden, weil die Kritik aus Netz haben sich mit Ai dem Westen von den SicherheitsWeiwei solidarisiert, habehörden nicht selten gegen die ben anstelle des eigenen Verhafteten gewendet werde. Oft Profils sein Foto gepostet. lege man ihnen das, was über sie Die chinesischen Klone veröffentlicht wird, zur Last – als von Twitter (das in China Beleg dafür, dass sie zu einer Verselbst verboten ist) böten schwörung gehörten und Feinde eine neue Technik, die des chinesischen Volks seien. die Demokratisierung beEs gibt also in diesem Dilemma fördere, sagt der VertrauNeugierige Besucher im keine einfachen Wahrheiten. Was te. »Es hat sich ein FreiPekinger Nationalmuseum man auch macht, man macht etwas raum geöffnet. Also will verkehrt: Wer zu der Verhaftung die Regierung anderswo schweigt, ist feige. Wer protestiert, muss in Kauf die Fenster schließen.« nehmen, dass der Verhaftete vielleicht dafür büßt. Am Morgen hat er sich mit Ai Weiweis Hält man sich hingegen ganz aus China heraus und Frau besprochen. Solange es keinen Haftbebricht den Dialog ab, fühlen sich die kritischen Geisfehl, keine offizielle Anklage gegen Ai gebe, ter im Stich gelassen. Es bleibt also nur der unschulwollen sie gleich mehrere Anwälte beschäftidig-schuldige Weg – und die hoffende Verwungen. »Dann kann sich die Regierung nicht derung darüber, dass in China die Kunst und die auf einen Einzelnen stürzen.« Immer wieder Künstler noch etwas gelten. Sonst müsste sie ja niewollen sie jetzt zur Polizei gehen, um nach mand unterdrücken. dem Verbleib von Ai Weiwei zu fragen. Bei Redaktionsschluss am Dienstagabend: noch www.zeit.de/audio immer keine Nachricht.

Der Eklat

das Ganze auch absagen können«, sagt Lorentz erregt. »Es gab Kompromisse, es gab aber auch eine klare rote Linie.« So wollte die chinesische Seite noch kurz vor der ersten Forumsdiskussion am Wochenende plötzlich jede freie Diskussion im Plenum unterbinden, denn so sei es in Anwesenheit von offiziellen Parteivertretern üblich. »Das haben wir aber nicht mit uns machen lassen«, sagt Lorentz. »Am Ende gab es die Diskussion, auch wenn ich sie mir noch offener gewünscht hätte.« Zudem veranstalte seine Stiftung neben den Foren auch Salons, ohne offiziellen Einfluss. Jeder könne da kommen, ohne Anmeldung per Internet. »Es reicht ein Anruf, und man muss nur seinen Namen nennen, mehr nicht.« Er hoffe sehr, mit diesen Salons auch die Subkultur zu erreichen. Sollte das aber nicht gelingen, sollte sich hier ebenfalls der staatliche Polizeiwahn durchsetzen, sei klar, was geschehen müsse. »Dann ist der Ofen aus«, sagt Lorentz. Dann werde alles abgesagt. Und Ai Weiwei, warum hat er den nicht eingeladen? »Er ist doch eingeladen, zu allen Foren, allen Salons.« Nur als Zuhörer oder auch für die Podien? »Als Gast ist er eingeladen«, sagt Lorentz. Und sollte man Ai Weiwei nicht ein Forum bieten, sobald er wieder frei ist? Da zögert der meinungsfreudige Lorentz. Das wäre die reine Provokation, sagt er dann, die Lage sei eh schon schlimm genug. Die Mission der Deutschen bleibt also heikel. Der Leipziger Maler Neo Rauch, der auch mit einem Bild in der Ausstellung vertreten ist, nennt es einen »Spagat zwischen Moralität und Diplomatie, aus dem leicht eine Blutgrätsche werden kann«. Dennoch sei er dafür, diesen Spagat zu wagen, schon aus seiner DDR-Erfahrung heraus. Anderen hingegen scheint es besser, sich nicht zu eng an diktatorische Regime zu binden. Max Hollein, der in Frankfurt drei Kunsthäuser leitet, würde sich mit einer semipolitischen Ausstellung nicht in Peking blicken lassen. Das wäre so, als wolle man in Teheran eine Schau über die Geschichte der Freiheit ausrichten – unmöglich. Ähnlich kritisch sieht es Chris Dercon, der Ai Weiwei vor zwei Jahren im

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FEUILLETON

DIE ZEIT No 15

Fotos (v.l.n.r.): imago; (Ausschnitt)Tommaso Bonaventura/contrasto/laif; ddp

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Stationen eines geglückten Lebens: Pedersoli mit Terrence Hill in »Zwei Himmelhunde auf dem Weg zur Hölle« (1973), als Elder Statesman in Rom (2010) und als Badender in »Die rechte und die linke Hand des Teufels« (1970)

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n seinem langen Leben hat Carlo Pedersoli viel erreicht, aber kaum etwas gelernt. Nicht einmal das Schwimmen. Wie es sich für diese Lebensgeschichte gehört, musste da schon ein Seemann kommen. Er hieß Ninuccio Savarese und kreuzte mit seinem Boot im Golf von Neapel. Carlo war gerade vier Jahre alt, als Ninuccio ihn beherzt packte und ins Meer warf. Unter den Augen des Seemanns strampelte Carlo wild im Wasser. Und siehe da: Das Element war ihm gewogen. Pedersoli konnte schwimmen, weil Schwimmen sein Schicksal war. Als Geschichte der zuversichtlichen Schicksalsergebenheit liest sich auch Pedersolis Lebensbericht, der nun als Buch erscheint. Hier spricht einer, der mit wenig Ehrgeiz und ohne Pläne durchs Leben ging und dem dennoch alles zugefallen ist. Es sei, so schreibt Pedersoli, jener Seemann gewesen, der ihm zum ersten Mal seine Gabe offenbarte, sich »über Wasser zu halten«. Ein neapolitanisches Sprichwort wurde von nun an sein Mantra: Futteténne – »Scheiß drauf!«. Gerade vor dem Hintergrund des wundergläubigen Neapels erscheint Pedersolis »Wassertaufe« schon als Übergangsritus zur Hervorbringung eines überlebensgroßen Helden. Es dauerte aber noch ein halbes Leben, bis der Mann sich seinen weltberühmten Künstlernamen zulegte: Bud Spencer. Der größte Fatalist der Filmgeschichte, Erfinder der Doppelbackpfeife und des in exakter Vertikalrichtung von oben auf den Kopf ausgeführten Faustschlags. Der nimmersatte Vertilger grotesker Essensportionen. Seit Asterix und Obelix hat man kein ungleiches Männerpaar beherzter futtern und prügeln sehen als Bud Spencer und seinen Filmpartner Terence Hill. Mein Leben, meine Filme, so lautet etwas banal der deutsche Titel seiner Autobiografie (Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin). Im Original hieß das Buch Ansonsten bin ich wütend, was interessanter klingt, aber schlechter passt. In nachdenklicher und zugleich heiterer Stimmung erzählt Pedersoli seinen Werdegang. In dem Buch, so annonciert es der Verlag, zeigt sich der Autor »von seiner ganz persönlichen Seite«. Wäre es nicht verlockend, Pedersoli einmal ganz persönlich kennenzulernen? Wir waren gewarnt worden: Eine Verabredung mit ihm setze einige Schicksalsergebenheit voraus. Alles läuft über Miss Nelly, hinter deren Namen sich nicht etwa die Bardame aus einem frühen Spaghettiwestern verbirgt – Miss Nelly ist schon seit 47 Jahren Pedersolis Sekretärin. Internet gibt es nicht in ihrem Büro, stattdessen läuft ein Anrufbeantworter. Irgendwann der Rückruf: Ob man in drei Tagen in Rom sein könne – um elf Uhr vormittags? Und wirklich: Pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt begegnet uns an diesem frühlingshaften Tag auf einer römischen Straße ein großer, korpulenter Mann. Gemessen schreitet er die Via Archimede hinauf, die sich, nördlich des Villa-Borghese-Parks gele-

gen, an einen Hügel schmiegt. Jeder, der nicht in darauf verzichtet haben, vor dem Wettkampf mit er, habe er zum ersten Mal begriffen, was ihm im jahrzehntelanger Fernsehabstinenz gelebt hat, würde seiner Frau zu schlafen – es ist übrigens dieselbe, mit Leben wichtig sei. Auf dem Höhepunkt seiner dieses freundliche, runde Gesicht auf Anhieb erken- der er im letzten Jahr Goldene Hochzeit feierte. Schwimmkarriere, umschwärmt von falschen Freunnen. In seinem dunklen Anzug, mit Sonnenbrille und Und doch: Sollen wir uns nur an den Sportler Pe- den und schönen Frauen, ließ er damals alles zurück, Gehstock strahlt Pedersoli die majestätische Gran- dersoli erinnern? Der wurde doch später ganz vom um in Venezuela als einfacher Bauarbeiter anzuheudezza eines alten Mafiapaten aus. Diese Rolle hat er Kinostar in den Schatten gestellt! Spencer und Hill ern. Hier wurde gerade die Panamericana gebaut, gerade erst gespielt, in der kroatischen Produktion waren die klamaukige europäische Antwort auf die eine Autobahn mitten durch den Dschungel, und Mafia – Abschied eines Paten an der Seite anderer be- asketischen Heroen der klassischen amerikanischen dabei konnte man den kräftigen Neapolitaner gut tagter Film-Granden wie Robert Wagner und Franco Western, denen sie mit ureigenem Hedonismus ent- gebrauchen. Ob ihn denn auch der Geist der lateinNero. Spencer ist eine Ikone, und es gibt Menschen, gegentraten. Gary Cooper und John Wayne nahmen amerikanischen Revolutionen angesteckt habe? Pedie bestreiten ihren Lebensunterdersoli spricht ungern über Politik. halt damit, sein Gesicht auf Zwar erinnert er sich nicht ohne T-Shirts zu drucken, als handle es Stolz an Fidel Castro – dieser habe sich um Che Guevara. seine Filme dafür geliebt, dass in Carlo Pedersoli, der nun mit ihnen immer nur die kapitalistiselbstverständlicher Geste in sein schen Schurken verprügelt wurden. Büro bittet und am Schreibtisch Den immer wieder erneuerten EinPlatz nimmt, wirkt, als hätte sich ladungen nach Kuba ist Pedersoli all dieser Rummel längst von dennoch nie gefolgt. Der politiseiner Person gelöst. Um etwas schen Macht gegenüber bleibt er Deutsch zu Gehör zu bringen, urwüchsig skeptisch: »Sobald es ein zählt er ein paar Städte auf: Gesetz gibt«, sagt er, »ist es mit der Essen, Gelsenkirchen, Bremen, Freiheit vorbei.« Immerhin stand Baden-Baden, Stuttgart. Es war dies einer »guten Freundschaft« zu aber gar nicht die Schauspielerei, Franz Josef Strauß nicht im Wege die ihn an diese Orte geführt – die beiden haben mehr als einmal hat. Beinahe wichtiger noch als gemeinsam das Münchner Oktodas Kino ist ihm nämlich eine berfest besucht. andere Karriere, und die begann Über Deutschland spricht Peschon zwanzig Jahre bevor er dersoli gerne. Kaum irgendwo sonst sich zum ersten Mal Bud Spencer ist Bud Spencer so beliebt. Vier Carlo Pedersoli ist der Mann, der auf der Leinwand nannte: Als LeistungsschwimFäuste für ein Hallelujah war der mer war Pedersoli acht Mal Lanhierzulande überhaupt erfolgreichsBud Spencer war. Mit 81 Jahren hat er nun seine desmeister über die 100-Meterte Film der siebziger Jahre und belegt Autobiografie geschrieben. Ein Besuch in Rom Freistil-Strecke und der erste auf der Rangliste der KinokassenItaliener, der diese Distanz in schlager bis heute den fünften Platz. VON RONALD DÜKER weniger als einer Minute zuWesentlichen Anteil an diesem Errücklegte. Er nahm an Europafolg hatten dabei die Übersetzungen meisterschaften teil und 1952 des Berliner Synchrondialog-Autors und 1956 auch an den OlympiRainer Brandt. Der hielt sich inhaltschen Spielen von Helsinki und Melbourne. vielleicht Kaffee und Whiskey zu sich. Spencer und lich oft nur vage an die ursprünglichen Dialoge und Hill eilten von Völlerei zu Völlerei. Stets trat Spencer legte den Figuren, wann immer etwa eine Totale dies st all dies Ninuccio, dem Seemann, zu ver- als Elefant im Porzellanladen auf: Ein livrierter Kellner, erlaubte, zusätzlichen Text in den Mund. Und wo danken? Pedersoli zuckt mit den Schultern der französisch durchsetzte Vorträge über Menüfolgen weniger sorgfältig synchronisiert wurde, sah man die und schiebt die bereits halb geleerte Zigaret- halten, aber nicht tout de suite die gewünschten Essens- Darsteller ihre Dialoge sogar mit geschlossenen Lippen tenschachtel über den Tisch, aus der sich mengen herbeischaffen konnte, hatte bei ihm Schlim- sprechen. Dass Kalauer wie »sehr liebensgewürzig« ihr endlich auch sein Gast bedienen soll. »Ich mes zu befürchten. Hier ging es um die umstandslose Verfallsdatum mittlerweile überschritten haben, war ein Champion!«, ruft er. Man mag ihm nicht Befriedigung körperlicher Grundbedürfnisse. Seine scheint die erstaunlich große Gemeinde auch junger, widersprechen: Als Mittelstürmer der italienischen naturwüchsige Wut konnte sich aber an allen mögli- in Clubs organisierter Bud-Spencer-Fans indessen Wasserball-Nationalmannschaft bestritt er eine chen Zwängen entzünden. Und nie hat er sich so sys- nicht zu stören. Einer präsentierte dem sichtlich irriWeltmeisterschaft und errang sogar den Landes- tematisch durch die Instanzen geprügelt wie in Banana tierten Pedersoli in einer Fernsehshow den auf die meistertitel im Rugby. Dabei mehrt die Faulheit Joe, diesem im kolumbianischen Dschungel spielenden Brust tätowierten Bud Spencer. Und zwei Studenten seinen Ruhm: So kann sich Terence Hill, den Pe- Film, zu dem Pedersoli 1982 selbst das Drehbuch aus Wien planen einen Dokumentarfilm, für den sie dersoli in jungen Jahren bereits im Schwimmverein schrieb. Stark schwitzend, erkämpft sich der Bananen- auf ihrer Internetseite Geld sammeln. Warum aber kennengelernt hatte, kaum daran erinnern, ihn je- bauer Joe darin sein Recht gegen Bürokraten, Geschäf- findet gerade diese Figur noch immer derart passiomals im Becken gesehen zu haben. Das Training temacher, Politiker, Militärs und Kirchenmänner. nierte Verehrer? Eine Jugendbewegung zumindest hat langweilte ihn. Und nie soll er ohne brennende Und überhaupt – Lateinamerika! Sehnsüchtig Bud Spencer nie angeführt. Im Unterschied zu den Zigarette in der Schwimmhalle erschienen sein oder breitet Carlo Pedersoli die Arme aus. Erst dort, sagt Spaghettiwestern Sergio Leones ließen sich seine

Der talentierte Mr. Spencer

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Filme auch nicht mit der Revolte von 68 vereinbaren. Leones europäische Wildwest-Varianten waren antikapitalistische Lehrstücke, in denen die blutige Jagd auf Geld und Macht stets auf ein Nullsummenspiel hinauslief. Von derartiger Brutalität war bei Spencer und Hill nichts zu sehen. Ihre stets unblutig verlaufenden Prügeleien belustigten Väter und Söhne gleichermaßen. Wie heute Harry Potter oder die VampirRomane von Stephenie Meyer richteten sich diese Filme an ein all age-Publikum. Sie schmecken süß, die Früchte der Regression.

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edersoli ist seinen Verehrern gegenüber nicht undankbar und außerdem ein höflicher Mensch. Tätowierungen, so mahnt er seine jungen Freunde aber doch, haben den Nachteil, dass sie nicht abwaschbar sind. Wir verstehen immer besser, warum er an diesem Vormittag so oft auf den Sport zu sprechen kommt. »Zwischen Star und Champion«, sagt er, »gibt es einen entscheidenden Unterschied. Das Publikum hat den Star erschaffen, und irgendwann wird es ihn wieder vergessen. Manchmal ärgere ich mich wirklich über Bud Spencer.« Nun drückt er die soundsovielte Zigarette aus. Der Aschenbecher ist einem Spielwürfel nachgebildet, und dies ist nicht der einzige Glücksbringer auf dem Tisch. Das Schicksal meinte es gut mit diesem Glückspilz. Eine Schauspielschule hat er nie von innen gesehen. Schon seine erste wichtige Rolle, in Giuseppe Colizzis Gott vergibt – wir beide nie! an der Seite von Terence Hill, war ein einziger Glücksfall. Hätte ein Schauspielerkollege nicht im Streit nach seiner Frau getreten und sich dabei den Fuß gebrochen – Bud Spencer wäre nie zum Einsatz gekommen. Der Künstlername? Eine spontan erfundene Wortkombination des geliebten Bud(weiser)-Biers und des Lieblingsschauspielers Spencer (Tracy). Ohne reiten zu können, hat er in seinen frühen Western beträchtliche Zeit auf Pferderücken verbracht; obwohl er kaum des Englischen mächtig war, drehte er später in Amerika doch ausschließlich in dieser Sprache. Pedersoli beschreibt seine Karriere als einzige Improvisationsleistung. Nebenher meldete er Patente an für eine elektrische Spielzeugmaus, eine Zahnbürste mit integrierter Zahnpasta und einen Spazierstock, an dem ein ausklappbarer Stuhl und Tisch angebracht sind, er gründete eine Fluggesellschaft und sang neapolitanische Lieder. Was macht Perdersoli heute eigentlich? Er liest. Und präsentiert uns seine aktuelle Lektüre – eine auf CD-Rom gespeicherte Ausgabe von Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft. Aus diesem Text, erläutert er, ließe sich doch eines ganz unmissverständlich entnehmen: »Ich esse, sonst kann ich nicht denken. Wenn ich nicht esse, dann bin ich nicht, und dann lebe ich nicht«. Futteténne! Ohnehin ist es längst Zeit zum Mittagessen.

FEUILLETON LITERATUR

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

Nimm den Wanderstab! Peter Handkes neuer hochfahrender, sanfter, überwältigender Marsch durch die Welt des Erzählens

VON THOMAS E. SCHMIDT

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GEDICHT: SALVATORE QUASIMODO (1901–1968)

Zuflucht nächtlicher Vögel Oben steht eine schiefe Kiefer; aufmerksam lauscht sie dem Abgrund

widerfährt ihm diese Erfahrung nun, und er ändert seinen Modus der Aufmerksamkeit: Im »Müßiggang« findet er die hellen Partikel der Welt. Sie passieren ihm. Und er weiß auch, dass die Schwelle nicht das Tor zur Erlösung ist, dass im Jenseits des Geläufigen nicht ein Paradies oder die Wahrheit wartet. Er ist ja bereits ein gewiefter Schwellenbesucher: Seine Liebe ist glücklich, so glücklich, dass seine Geliebte und er von sich behaupten können, dem schleichenden Niedergang der Liebe entkommen zu sein, die Zeit besiegt zu haben: »Haben über sie gesiegt, und sie hat nicht mehr gegolten, ist ver-

druss und seine Trostlosigkeit. All das in einem Tag, vom warmen Bett an der Peripherie bis ins Zentrum der Zivilisation. Erstaunlich, was eine solche »Zentrumswanderschaft« mit einem anstellt. Die »Stadt« ist eine typisierte europäische Metropole, vielleicht Paris, das ist nicht wichtig. Der Schauspieler erlebt große Aufschwünge und intensive Momente des Naturerlebens, »Harmonie«, aber sie sind nicht beständig. Eine Flucht in den Rousseauismus findet nicht statt. Er nimmt mit einem Priester das Abendessen ein, er beobachtet eine Messe, aber Gott ruft ihn nicht.

und selbstgerechte Genießer. Es sind nicht die stärksten Momente dieser Erzählung. Doch jenseits des »Unschönen«, wie er es nennt, ist ja keine Zaubersphäre, von der zu erzählen wäre. Das Unschöne ist allumfassend und allgegenwärtig, es ist das Gegebene. Der Schauspieler fragt sich, was er darstellt, wenn er spielt. Ist es eine Nachahmung des Unschönen? Nein. Was dann? Kann er die Wahrheit spielen? Nein, da ist nichts. Es gibt nur die profanen Erleuchtungen, manchmal ein »Antlitz«, ein vom Licht beseeltes Gesicht, das eines Kindes oder eines Sterbenden. Aber es existiert schlechterdings nicht die bessere Welt, gleichsam als Belohnung für eine Überschreitung der Schwelle. Handke bleibt ein Antirealist, sofern der Realismus behauptet, dass das Banale alles ist, aber er hat sich nie zum Sprachrohr irgendeiner Offenbarung gemacht. Er bleibt Epiker, ein wütender, erweckender Beschwörer des Unschönen. Transzendenzgefasel gibt es bei ihm nicht.

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Foto: Lillian Birnbaum

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lso wieder einmal Peter Handke folgen auf einer Wanderung – einer Wort- und Dingwanderung, weniger, wie stets, durch eine erzählte Geschichte führend als vielmehr sehr dicht unter der Hirnschale des Autors an Wahrnehmungen entlang. An einzelnen Bildern macht Handkes schlichte Erzählung halt, sie meditiert über diese Bilder, lotet sie aus, lädt den Leser zum Mitfreuen ein oder zieht ihn in eine veritable Handkesche Niedergeschlagenheit. Sie gleitet durch das zwiespältige Universum des Dichters, trifft auf die üblichen Gestalten, die es auch sonst bevölkern, »ein ganzer Schock der Leibhaftigen«. Gelegentlich droht diese Wanderung in resignierte Müdigkeit zu sinken, dann schwingt sie sich plötzlich wieder auf, eine Beschleunigung, ein Ziel wird womöglich sichtbar, ein echtes Ende, und dann bricht sie doch irgendwann ab: »Statt dessen der Große Fall«. In Handkes Büchern ereilt den Leser ein Aufhören, manchmal ist es grausam, manchmal erleichternd. Nicht immer lohnte es sich in den vergangenen Jahren, mit Handke zu wandern. Es gab Strecken, die waren zu lang, zu viele Ressentiments lagen auf dem Weg. Es ging in Gegenden, in die man nicht wollte. Bei diesem Buch sei dem Leser geraten: Nimm Deinen Stock, stecke Dir, wie der Held des Großen Falls, eine Feder an den Hut und folge. Es ist zu Deinem Besten, und Du wirst es nicht bereuen. Im Großen Fall steckt der Sommertag eines Schauspielers. Der Schauspieler ist nicht mehr ganz jung, er hat keine Lust mehr zum Schauspielern, aber er wird es sehr bald wieder tun müssen. Schon am nächsten Tag. Die Nacht hat er mit seiner Geliebten verbracht, und morgens tobt ein Gewitter. Es ist in jeder Hinsicht ein Weckruf. Er steht auf und frühstückt, wäscht ab und liest in einem Buch. Darin ist von einem die Rede, der zum Amokläufer wurde, und genau das wird die nächste Rolle des Schauspielers sein. Dann bricht er auf, er läuft zu Fuß vom Haus der Geliebten am Rand der Stadt ins Zentrum derselben, nicht zu schnell, eigentlich eher ziellos. Von nichts anderem handelt das Buch. Und natürlich handelt es genau davon nicht. Es handelt nicht von den Obdachlosen und Joggern, denen der Held begegnet, weder von den alten Freunden, den Priestern oder den Pärchen noch von missgelaunten Polizisten oder rangelnden Jugendgangs. Es handelt auch nicht von Pilzen oder Greifvögeln. Es handelt von all diesen Dingen nur, insofern sie dem wachen Gemüt die Welt zeigen, sie es seiner Wachheit vergewissern, was beileibe nicht nur schön ist. Mitten im Geläufigen ereignet sich eine Entdeckung der Welt. Das Erzählen wechselt die Augen aus. Und die Frage stellt sich, wie das alles eingefangen, wie das dargestellt werden kann, damit es nicht im nächsten Moment schon wieder verloren ist. So ist diese Erzählung eine Wanderung durch das Erzählen selbst. Nun ist dieser Schauspieler ja bereits ein Darsteller. Das heißt, er ist ein Profi im Überschreiten der Wirklichkeit, einer Vermischung von Realität und Fiktion. Bloß, dass er die Darstellung nicht mehr auf eine routinierte Weise hinbekommt, so »erachtete er sich selber nicht mehr als Schauspieler«. Morgen soll er wieder spielen, abends noch einen Preis entgegennehmen. Es kommt anders. Mit dem morgendlichen Donnerschlag spürt er, dass er an die Schwelle zur Überschreitung der gewohnten Lebenswelt nicht mehr aus eigener Kraft gelangt. Vielmehr

Peter Handke: Offenbarungen werden nicht in Aussicht gestellt

duftet, und wir, wir zwei, wir beide, sind die geltende Welt geworden. Sind geworden und gewesen, was der Fall ist.«

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er Mensch kommt nicht zu Gott, auch in seinem höchsten Glück bleibt er, was der Fall ist. Er bleibt im unerlösten Zustand, und er kann sein Dasein doch überschreiten. Mit dieser Gewissheit setzt das Wandern ein. Handke erzählt ganz einfach, in schlichten, schönen Sätzen. Es erinnert sehr an seine Anfänge, und es hinterlässt einen starken Eindruck. Nichts anderes ist der Große Fall als eine Einladung, eine Mitnahme auf den Grat solcher Schwellenerfahrungen. Oben ist kein Gott, unten ist nicht die Hölle. Dazwischen liegt alles, was ein Mensch in seinem Dasein ertragen kann, seine Hoffnungen und Wünsche, sein Ver-

»Die Worte Gottes oder seines Orakels würden vergehen, oder sie waren schon vergangen, seit wann?« Er sieht die Mühseligen und die Beladenen, die sabbernden Greise und die aufgeblasenen Wichtigtuer. Er kann den einen nicht helfen, die anderen kann er in seinem Zorn nicht vernichten. Manchmal, denkt man beim Lesen, könnte dies eine Imitatio Christi sein. Aber dann wird dem Helden klar, dass er selbst ein Teil der verwünschten »Jetztwelt« bleiben muss, ein Zeitgenosse. Er sagt zu sich: »›Ich bin falsch. Ich bin der Falsche.‹ Das hörte sich an wie gesungen, und anders als die fremde Stimme gerade noch. Es stimmte überein mit seiner Gestalt.« Was Handke liebt, was er mit grimmiger Beharrlichkeit auch hier betreibt, ist die Konfrontation mit dem Profanen. Auch hier blitzt sein Hass auf die ekelhafte Sozialwelt durch, auf hyperaktive Politiker

nd so bleibt als episches Vorhaben die Erkundung der Schwellen übrig. Das Erzählen begibt sich auf die beschwerliche Suche nach den menschlich dimensionierten Wahrheiten in den Täuschungen, in den Fiktionen. Was wäre das? »Der Blitzmoment, der die Erkenntnis des Irrtums begleitete, hätte den Blick geschärft, und die Irrtumsgegenstände gewännen den Anschein von Studienobjekten. Sie würden zu Neuigkeiten, unbekannten, bisher jedenfalls nicht so gesehenen.« Der Erzähler betrachtet die Welt neu, aber er kann und will sie nicht auswechseln. Das muss er auch gar nicht. Es ist ja nicht alles verloren. Das Glück, wie flüchtig auch immer, ist keineswegs eine Illusion. Zur Verzweiflung besteht kein Anlass, wohl aber zur Achtsamkeit: »Paß auf, was du so daherredest, und sei’s nur für dich allein. Daherreden ist nicht bloß Daherreden. Sagen ist nicht bloß Sagen. Worte, selbst die unausgesprochenen, sind nicht bloß Worte. Kusch, Freund!« Und in den besten Momenten kann der Held sich sogar loben: »Die eine Sekunde strahlte Autorität aus, und wer sich entschloß und beschloß, die zu verkörpern, das war er. Wer sonst als er? Niemand sonst kam als Autorität in Frage, allein er, unser Schauspieler.« Handkes Großer Fall ist in einer selbstsicheren, stolzen, zuweilen hochfahrenden Prosa geschrieben, die im nächsten Augenblick wieder ganz sanft werden kann, bescheiden, beinahe flüsternd. Prätentiös ist diese Sprache nie. Sie ist gesättigt von Gefühlen, nicht nur von guten, sie schmeichelt sich ein, bedrängt den Leser hin und wieder, weist ihn zurück und macht ihn ärgerlich, aber bombastisch ist sie keinen Moment lang. Es ist das Buch eines wirklichen Sprachkönners, ein Spätwerk. Das Metaphysische ist aus dem Erzählen gewichen, Offenbarungen werden nicht mehr in Aussicht gestellt, die Literatur ein Medium von Wahrheit zu nennen wäre schon eine Prahlerei. Wenn du die Kunst hinter dich gelassen hast, was hast du dann? Das ist Handkes Frage. Kannst du dann noch von etwas erzählen, etwas darstellen? Das Darstellen ist ja zu Ende, sagt der Schauspieler zu Recht, die Welt ist nicht mehr durch Formung zu verändern, weder zu retten noch zu verdammen. Das Erzählen muss sich sodann eine melancholische Form der Weltzugewandtheit erobern. Es muss finden und aufsammeln. Und es einem Leser präsentieren, der sich überwältigen lassen kann. Dies passiert hier. Ohne Peter Handke ist die deutsche Literatur gar nicht vorstellbar. Peter Handke: Der große Fall Suhrkamp, Berlin 2011; 280 S., 24,90 € www.zeit.de/audio

mit dem zur Armbrust gekrümmten Stamm. Zuflucht nächtlicher Vögel, tönt sie zur höchsten Stunde von eiligem Flügelschlag. Auch mein Herz hat sein Nest, das im Dunkeln schwebt, seine Stimme; wie die Kiefer lauscht’s in der Nacht.

Steinbrüche Silben von Schatten und Laub, auf dem Grase verlassen sind die Toten sich nahe. Ich höre. Lieb ist die Nacht den Toten, mir ist sie Spiegel von Gräbern, von Steinbrüchen, von tiefgrünen Zedern, von Steinsalzhöhlen, von Flüssen, deren griechischer Name ein Vers ist, klangvoll und süß. Salvatore Quasimodo: Gedichte 1920–1965; Italienisch-Deutsch; ausgewählt und übersetzt von Christoph Ferber; Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2010; 332 S., 20,– €

WIR RATEN ZU

In die Gummistiefel Frühling! Wer aus dem Fenster schaut, erblickt vielleicht eine matschige Dreckwüste, unbarmherzig angestrahlt vom Sonnenlicht. Und nun? Der Autor Beverley Nichols (1898 bis 1983) erzählt, wie aus einem unappetitlichen Katzenauslauf ein Grünes Glück zu gewinnen ist: der vollkommene Garten. Sehr britisch, dieser Ansatz, der Autor ist ja das Produkt einer jahrhundertealten Gartenkultur. Grünes Glück erschien zuerst 1939, in düsteren Zeiten. Mit »floralen Waffen« geht Nichols gegen die Depression seiner Zeit vor, bestellt seinen Garten, während jenseits des Kanals die Kriegsmaschinerie sich anschickt, die Erde aufzupflügen, pflanzt Dichternarzissen und seidige Birken. Dies Buch war ein strahlender Bestseller und erscheint nun in einer handgroßen Ausgabe in einer Gartenreihe des Schöffling-Verlages, der insgesamt heftigst zuzuraten ist. SUSANNE MAYER Beverly Nichols: Grünes Glück Geschichte eines Gartens; aus dem Englischen von Brigitte Walitzek; Schöffling-Verlag, Frankfurt 2011; 187 S., 14,95 €

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FEUILLETON LITERATUR

DIE ZEIT No 15

Ein Walzer in Afghanistan Dirk Kurbjuweit hat einen glänzenden Roman über das Leben deutscher Soldaten am Hindukusch geschrieben

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on Berlin nach Afghanistan, frei- der afghanische Schuldirektor. Er ist keiner von willig aus der Heimat an die um- den Gegnern, den Taliban, aber ein Mann aus kämpfte Hindukusch-Front deut- ganz fernen, anderen Zonen. Das könnte ein erstscher Interessenverteidigung? Noch klassiger Stoff für einen drittklassigen Roman dazu als Frau! Und das nur, weil es sein, noch dazu vor topaktueller Kulisse. Doch mit der Liebe am Wannsee nicht Dirk Kurbjuweit hat daraus einen fesselnden und klappen will? Das klingt über- intelligenten Roman gemacht, für den das Parahaupt nicht gut, das erscheint schrecklich gewollt, dox gilt, dass er viel besser ist als sein Stoff. Die zunächst etwas schief und schlicht anmuim Leben ebenso wie in der Literatur. Umso mehr verblüfft es, wie sinnreich und überzeugend tende Verquickung von Selbstverwirklichungsdiese Eskapade trotzdem funktioniert, jedenfalls bedürfnis und Kriegserfahrung wird bald in ihrer Triftigkeit erkennbar. Trotz ihrer frühen DDR-Jahre im Roman. Esther ist die Kriegsbraut in Dirk Kurbjuweits ist Esther ein Kind der bundesrepublikanischen Gesellschaft mit den charakteristischen gleichnamigem Roman, eine durchPerspektiven ihrer Alterskohorte: Sex, aus schnittliche junge Frau. Sie hat, was mit dem Liebe werden soll, Fitness, die sich Mitte zwanzig viele haben: die üblichen hoffentlich zur Lebenskraft veredelt, eine postadoleszenten Gefühle gegenüber den Ausbildung, aus der im Glücksfall ein BeEltern, sie hat einen Studienabschluss, eiruf werden könnte, und ein paar popkulnen knackig trainierten Körper, einen turelle Hüpfer, die sich zur Not als AbenFreund, mit dem sie schon eheähnlich zuteuer verkaufen lassen. Dazwischen manch sammenhockt. Doch in Kopf, Herz und einsame Stunde. Leib verspürt sie jenes Sehnen und ZieAus dem Inneren einer solchen Exishen, das signalisiert, es dürfe gern noch tenz, und darauf kommt es hier an, wird etwas mehr oder ganz anderes sein. Also Esther nach Afghanistan katapultiert, wo bricht sie auf, aus der Provinz und der früh Dirk Kurbjuweit: im hermetisch gegen die Außenwelt abgeverfestigten Beziehung, sie geht nach Ber- Kriegsbraut lin, jobbt als Barfrau und verliebt sich in Roman; Rowohlt schlossenen Feldlager dieselben Muster vorherrschen. Nur mit dem Unterschied, den mäßig erfolgreichen Filmproduzenten Berlin Verlag, dass die oder der Einzelne sich unter dem Thilo. Den aber bekommt sie nur stun- Berlin 2011; militärischen Reglement nicht mehr dafür denweise, weil er bei Frau und Kind blei- 333 S., 19,95 € verantwortlich fühlen muss. »Sie verreiste ben will. Esthers Suche geht weiter, hinaus innerlich«, heißt es über Esther, und ihre aus dem Vertrauten, weiter weg. Sie wird Soldatin bei der Bundeswehr, und eines Tages findet Konzentration auf die gegebenen Aufgaben begreift sie sich im Feldlager Kundus wieder als Fernmelde- sie als »kaltes Sein«. In der militärischen Eindimensionalität des Feldrin, Spezialistin für Satellitenkommunikation. Die Russischkenntnisse aus ihrer DDR-Schul- lagers fehlt es an Welt und Wirklichkeit. Von Berlin zeit bescheren ihr noch eine weitere Aufgabe. Jede nach Kundus ist es nicht so weit wie vom StützWoche fährt sie zu einer Dorfschule, um mit dem punkt in die umliegenden Dörfer. Die Einsatzkräfte Schuldirektor die Lage zu besprechen. Denn zu sind zuallererst damit beschäftigt, sich selbst zu den Zielen des deutschen Einsatzes gehört es, die schützen. Der Besuch eines amerikanischen SpezialAusbildung der Mädchen zu sichern. Mehsud, der kommandos verheißt nichts Gutes. Sollte es den Direktor, hinter seinem Schreibtisch, Esther, mit Amerikanern gelingen, den Talibanführer Mullah Splitterschutzweste und Gewehr, an die Wand Omar zur Strecke zu bringen, müssten die Deutgelehnt, so reden sie, tasten sich unendlich lang- schen mit Vergeltungsangriffen rechnen. Dabei sam zu einer Verständigung vor. Dann tauchen wollen sie doch nur Sicherheit und Frieden verbreierotische Gefühle auf, sie verliebt sich in ihn, er ten. Einer der amerikanischen Elitesoldaten verzeigt sich empfänglich. Die deutsche Soldatin und gleicht etwas enttäuscht diese neuen Deutschen mit

deren Vorvätern, die einmal marschierten, um sich die ganze Welt untertan zu machen. Später, als es im Lager still wird, vögelt er dann mit Leutnant Esther auf den Sitzen eines gepanzerten Fahrzeugs, oder genauer, sie mit ihm. Denn dieser Roman trägt seinen Titel Kriegsbraut, der auch im Plural stehen könnte, nicht umsonst. Dies ist ein Roman über Frauen an der Front, und es ist deren Perspektive, aus der hier erzählt wird. Es geht auch um das Thema »Frauen in der Bundeswehr«. Abgehandelt wird es vermittels einer kleinen Fehlleistungsschau männlicher Verhaltensweisen. Das Spektrum reicht von sexistischen Sottisen bis zu onkelhafter Fürsorglichkeit. Die anderen Kriegsbräute des Romans sind Oberstabsärztin Ina und Feldwebel Maxi, mit denen Leutnant Esther die Stube teilt. Durch die Dominanz der weiblichen Handlungsperspektive bekommt das Thema des deutschen Militäreinsatzes im Ausland einen ganz speziellen Dreh. Diese Frauen ohne soldatische Rollentradition verkörpern besonders einleuchtend den neuen Typus der militärischen Angestellten unserer Tage. Patriotische oder nationale Motive kommen in ihrem Denken kaum noch vor, weder als persönliche Überzeugung noch als ideologische Ausstattung. Sie haben aus rein persönlichen Gründen bei der Armee einer Macht angeheuert, die ihnen Rang und Auskommen bieten kann. Fast erinnern sie mehr an Söldnerinnen als an herkömmliche Soldaten. Zumal zwei von ihnen, Esther und Maxi, vor allem durch Unglück und Desorientierung zum Waffendienst gekommen sind. Es ist wie in früheren Zeiten, als es unselig vagabundierenden Männerseelen vorbehalten war, vor den Unsicherheiten des zivilen Lebens in die Fremdenlegion zu flüchten.

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bwohl das technologisch hochmoderne Ambiente in Kurbjuweits Roman mit der staubigen Dürftigkeit nordafrikanischer Fremdenlegionärsposten nicht viel gemein hat, gibt es dennoch einige weitere Parallelen: die Langeweile, die Abgründe der sozialen Fremdheit, die Isolation der Interventionsmacht, die damals als Vorposten der Zivilisation agierte und heute als Aufbauhelfer der Demokratie.

VON EBERHARD FALCKE

Dann lässt Kurbjuweit seine Heldin die Widersprüche eines militärischen Handelns erleben, das die Kategorie des Feindes durch das Projekt der humanitären Hilfe ersetzen will. Als Esther und ihre Eskorte in einen Hinterhalt geraten, ist das Grauen des Krieges da. In höchster Not wird ein amerikanischer Kampfhubschrauber gerufen, und Esther bestätigt der Bordschützin Sally – ja, auch auf diesem Posten eine Frau –, dass sich in dem Gehöft, aus dem der Gegner feuert, nur Taliban befinden. Später werden in dem pulverisierten Haus jedoch auch die Leichen einer Frau und zweier Buben entdeckt, die Esther mehr als einmal auf den Hügeln hat spielen sehen. Obwohl der Raketenschuss auf das Haus ihr das Leben rettete, wird Esther die Schuldgefühle nicht mehr los. Hauptfeldwebel Tauber, ihr Fahrer, bleibt noch in der Heimat vom Schock gezeichnet, wenn er schusssichere Fenster einbauen lässt, weil er die Rache der Taliban fürchtet. Und Feldwebel Maxi, die kaltblütig Sprengfallen zu entschärfen wusste, hat überhaupt zu viele Gräuel gegen Kinder gesehen. Sie verhüllt sich eines Tages mit einer Burka und schießt sich in den Kopf. Der Roman steckt voller Szenen, die mal erhellend, mal ergreifend und oft hochgradig beunruhigend sind. Nie tragen sie ihr Fazit vor sich her, und dasselbe gilt für die Figuren des Romans, denen, obwohl es wahrlich Gelegenheit zu typisierenden Überzeichnungen gäbe, immer ein individuelles Profil gelassen wird. Kurbjuweit ist es gelungen, in diesen Afghanistan-Roman keine plakative Botschaft hineinzuschreiben, nichts, was sich als vernehmliches Pro oder Contra im Hinblick auf die militärische Intervention entziffern ließe. Er überlässt es allein der Logik des Erzählens, Probleme sichtbar und Widersprüche kenntlich zu machen. Die Fülle an Themen, sachlichen Aspekten und faktischen Details, die hier eingearbeitet sind, ist beträchtlich. Kurbjuweit ist gelernter Journalist, einer der hochkarätigen, mehrfach wurde er für seine Reportagen ausgezeichnet, und als Leiter des Spiegel-Hauptstadtbüros wirkt er an einer der Schaltstellen des Medienbetriebs. Er verkörpert eine Verbindung von Journalismus und Literatur, von der mancher deutsche Autor, der gern Herr

über den Weltstoff wäre, schon geträumt und gekündet hat. Kurbjuweit allerdings benutzt seine journalistische Kompetenz nicht zur literarischen Profilpflege. Er setzt sich als Erzähler nirgendwo in Szene, weder durch die Jagd nach Originalität noch durch schmissige Stilgesten. Das hat Vorteile. Der Nachteil, der damit möglicherweise zusammenhängt, liegt in einer gewissen Konventionalität, die derzeit allerdings generell vorherrscht.

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ier zahlt es sich aus, in traditionell realistischer Weise auf Handlung und Figuren als Veranschaulichungsmittel für eine Vielzahl von Themen, Beobachtungen und Problemen zu vertrauen. Daraus resultiert die Kühnheit, mit der hier die Liebessehnsucht einer Frau zum Leitfaden für die Ausbreitung eines so komplexen Motivgewebes gemacht wird. Man muss dieser Esther-Figur sehr viel Vertrauen vorschießen, um ihr in allen Schritten zu folgen. Gerade ihr flüchtiger, am Ende scheiternder Liebesversuch mit dem Lehrer Mehsud ist auf einen konzilianten Leserblick dringend angewiesen. Trotzdem wirken sogar die thematisch geplanten Dialoge der beiden über Gott, 9/11 und die Plattheiten des westlichen Lebensstils erstaunlich plausibel. Nur einmal gilt es, beim Lesen den Atem anzuhalten, teils aus Ergriffenheit, teils aus ästhetischer Sorge, ob das wohl gut geht. Da bittet der afghanische Dorfschullehrer die fremde Soldatin, mit ihm zu tanzen, so wie seine verschollene Frau einst mit ihm getanzt hat. Und sie tanzen Walzer, Slowfox, ohne Musik, auf dem staubigen Boden des Schulhauses, er kann ihre Splitterschutzweste kaum umfassen. Auf der einen Seite tendiert dieses Bild zur süßlichen Romantisierung, auf der anderen jedoch zeigt es zwei Menschen, entwurzelte beide, zwischen den Systemen. Wenn Esther dann erschrocken darüber grübelt, was deutsche Medien aus der Entdeckung einer solchen Affäre machen würden, kehren die herrschenden Verhältnisse schnell wieder zurück. Dirk Kurbjuweit versteht es, die erzählerischen Zügel im Griff zu behalten. Mag es seinem Roman auch an formalem Wagemut fehlen, so entschädigt er dafür durch sein hochaktuelles Sujet und seinen thematischen Reichtum.

Kampf der Titanen Vor fünfzig Jahren traten in Hamburg Intellektuelle aus Ost- und Westdeutschland zum Streitgespräch gegeneinander an

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ls Polizeihauptmann Müller am 8. Dezember 1960 im Hamburger Hotel Basler Hof in Aktion trat, ahnte er kaum, was er auslösen würde. Unter Androhung, den Saal räumen zu lassen, verbot er eine Pressekonferenz, die das »PENZentrum Ost und West« – gesamtdeutscher Name, aber vorwiegend mit DDR-Autoren besetzt – gerade abhielt. »Das war eine fein gute Regie«, schrieb zwei Tage später der anwesende Dramatiker Peter Hacks, 1955 aus politisch-ästhetischen Gründen in die DDR übergesiedelt, an seine Mutter Elly nach München: Gerade hatten westdeutsche Journalisten den ostdeutschen Autoren auf dem Podium die provokante Frage gestellt, ob der »Kongress für kulturelle Freiheit«, jene Intellektuellenbewegung aller liberalen Geister der Welt, auch in Ost-Berlin tagen dürfe. Die Antwort ersparte ihnen die westdeutsche Polizei in Gestalt von Herrn Müller. Es ist eine vergessene Geschichte aus dem Kalten Krieg, ihre Neuerzählung lohnt jedoch. Kommunis-

ten hatten in der jungen Bundesrepublik nichts zu lachen: Aus berechtigter Antipathie gegen die Diktatur im Osten wurden sie auch mit keineswegs berechtigten illiberalen Mitteln bekämpft. Selbstredend war die Tagung des Ost-PEN in Hamburg Propaganda. Die Universität verweigerte die schon genehmigten Räume, und Bild jubelte: »Die rote Schau findet nicht statt«. Das Einschreiten der Polizei sorgte für öffentliche Entrüstung. Selbst die FAZ plädierte für einen gelassenen Umgang mit östlichen Intellektuellen: »Nicht jeder als Pegasus aufgezäumte Gaul, der sich vor politisch befrachtete Karren spannen läßt, ist ein trojanisches Pferd.« Für die ZEIT rührte die Affäre an die liberale Ehre. Die roten Dichter und Hamburgs Polizei, titelte sie am 16. Dezember 1960 und lud die Ost-Autoren ein, unter ihrer Ägide erneut nach Hamburg zu kommen. Ein Band mit 128 Dokumenten, vom Historiker Jens Thiel kenntnisreich kommentiert, präsentiert nun Vorgeschichte und Verlauf dieser Begegnung

VON ALEXANDER CAMMANN

zwischen West und Ost, die vor fünfzig Jahren, am 7. und 8. April 1961, stattfand. Thiel hat Zeitzeugen gesprochen und Archive durchkämmt; minutiös rekonstruiert er eine Sternstunde deutscher Intellektueller. ZEIT-Literaturredakteur Dieter E. Zimmer hatte in der Redaktionskonferenz über die Polizeiaktion berichtet; der Feuilletonchef Rudolf Walter Leonhardt machte den ZEIT-Verleger Gerd Bucerius aufmerksam, dieser beschloss rasch ein Streitgespräch: »Wenn von drüben ein geistiger Vorstoß erfolgt, will ich ihn mit geistigen Waffen beantworten«. Prompt schickte die CDU ihrem MdB Bucerius böse Telegramme. Die 1000 Zuhörer in der Hamburger Universität erleben dann heftige Debatten. Zunächst soll es um Tolstoi, die Krise der Kunst und wir gehen; westlicherseits sind etwa Siegfried Lenz und Martin Walser dabei, der Osten stellt unter anderen Peter Hacks und Stephan Hermlin auf. Während sich Lenz und Walser für Tolstoi begeistern, verabscheut Hacks den Russen als »durch und durch dekadent«. Hans

Magnus Enzensberger entdeckt bei Hacks »vulgärmarxistische Gleichungen«. Auch ein halbes Jahrhundert später wirkt das Protokoll der Diskussionen kurzweilig. Marcel Reich-Ranickis Statement liest sich wie ein kluger Kommentar zu heutigen Literaturdebatten: »Es ist, glaube ich, nicht im geringsten notwendig, daß ein Kunstwerk von Bedeutung wesentliche Probleme der Zeit wiedergibt.« Der 1958 aus Polen in die Bundesrepublik gekommene Kritiker hält sich auch anderntags keineswegs zurück: Ob Proust, Kafka, Joyce, Musil – die Weltliteratur des 20. Jahrhunderts werde in der DDR »unterdrückt, ignoriert, teilweise bekämpft, teilweise totgeschwiegen«. Schriftsteller säßen im Zuchthaus: »Was habt ihr getan, um diese Leute freizubekommen?« Hans Mayer, Literaturhistoriker aus Leipzig, zwei Jahre später selbst in den Westen wechselnd, windet sich; gewohnt lässig will der 31-jährige Enzensberger deeskalieren. Weltanschauungen und ästhetische Vorlieben prallen aufeinander. Intellektuelle Phänotypen,

die die kulturelle Landschaft fortan prägen werden, sind gleichsam im Keimstadium zu studieren. Die SED war unzufrieden mit dem Auftritt der DDR-Autoren. Hermann Kant, der offiziell für das Neue Deutschland schrieb, klagte vor den Genossen der Staatssicherheit über schlechte Vorbereitung der Teilnehmer. Nach dem Mauerbau im August 1961 war es mit solchen Treffen sowieso vorbei. Im Jahr 1977 erinnert sich Walser an Hermlin: »Wie kann dieser Mann dort leben? Das Verführbare in mir meint damit, wenn der dort leben kann, dann könntest du doch auch ...« Walser blieb bekanntlich am Bodensee. Die innerdeutsche Kulturgeschichte hätte noch viele solcher Erzählungen zwischen Verfolgung und Verführung zu bieten. Ja-Sager oder Nein-Sager Das Hamburger Streitgespräch deutscher Autoren aus Ost und West 1961; hrsg. von Jens Thiel; Eulenspiegel Verlag, Berlin 2011; 288 S., Abb., 19,95 €

FEUILLETON LITERATUR

07. April 2011 DIE ZEIT No 15

Der Ego-Faktor »Underground« erzählt vom Vorleben Julian Assanges

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m Jahr 1997 erschien auf Englisch ein Buch, das Julian Assange zusammen mit der Journalistin Suelette Dreyfus geschrieben hatte. Assange war damals nur ein in der Computerszene berühmter Hacker, der unter dem Alias Mendax in hoch gesicherte Computersysteme eingebrochen, irgendwann aufgeflogen und dann von den australischen Strafverfolgungsbehörden zu einer milden Geldstrafe verurteilt worden war. Underground lautete der Titel des Buches, und Assange lieferte vor allem das Material bei, auch seine eigene Hackerbiografie als Mendax, während Suelette Dreyfus daraus eine mal mehr, mal weniger flüssig zu lesende Erzählung von immerhin 600 Seiten baute. Heute, da Julian Assange eine fast mythischungreifbare Medienfigur geworden ist, gewinnen alle Spuren seines früheren Erdenwandels plötzlich an Bedeutung. Gerade hat das Internet-Klatschmagazin Gawker ein kurzes Filmchen ins Netz gestellt, Titel: Funky Chicken, auf dem Assange zu sehen ist, wie er im Jahr 2009 in einem ziemlich leeren Club in Reykjavík im Blitzlicht des Stroboskops mäßig expressiv vor sich hin tanzt. Es ist wirklich völlig unspektakulär – und doch kann man sich dabei ertappen, wie man das Filmchen wieder und wieder anschaut ... In diesem Sinn erscheint Underground jetzt, 14 Jahre nach seiner Erstpublikation, auf Deutsch und trifft naturgemäß auf eine ganz andere Rezeptionshaltung: Die Weltmacht WikiLeaks bekommt ihren Coming-of-Age-Roman. Hier ist der Geist, der die Enthüllungsplattform gebar, in seiner pubertären Reinheit zu genießen! Dreyfus und Assange nennen das Buch »Tatsachenroman«, weil es ihnen darauf ankommt, dass das, was sie aus der Welt der frühen Hackerjahre zu berichten haben, möglichst genau verifizierbar ist. Telefonmitschnitte, Chatprotokolle und Gerichtsdokumente geben das konkrete Material ab, aus dem die Autoren schöpfen. Dieser halb dokumentarische Charakter ist wichtig für das Buch. Denn es ist eine Apologie des Hackertums, und in der Frage der moralischen Integrität des Hackens hilft keine schmissige Fiktion weiter, sondern nur die Wahrheit.

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um Ehrenkodex des Hackers in den späten achtziger Jahren gehörte das Bewusstsein, Neuland zu betreten. In diesem Neuland, so fanden die Jung-Anarchisten, gab es überhaupt keinen Grund, warum alte Autoritäten Verkehrs- und Verbotsschilder aufstellen zu dürfen meinten. Keine gesetzlichen Grenzen sollten ihre nächtlichen Feldzüge in die großen Netzwerke von Telefongesellschaften und Universitäten, Banken und Ministerien einschränken. Ein Hacker lässt sich nichts sagen. Nur seine Intelligenz setzt ihm Grenzen. Aber weil auch der Anarchist zuletzt Gründe braucht, stilisierte man sich zur Gegenmacht des Establishments: »Big Brother hacken? Nur zu!« Deswegen ist für Underground die empirische Überprüfung so wichtig: Das Buch arbeitet durchaus an einem Heiligenschein für diese australischen Nerds und muss deswegen zeigen, dass so niedrige Vergehen wie Kreditkartenbetrug meist nur von schwarzen Schafen betrieben wurden und eigentlich gegen die Ehre des Hackertums verstießen. Auch wenn der Gangster-Sound des Buchs (sehr hard-boiled: »Irgendetwas lief hier schief, und zwar total schief«) manchmal nervt und die seitenlangen technischen Details den Laien

immer wieder erschöpfen, gibt Underground packende Einblicke in die fiebrig-euphorischparanoide Welt der frühen Hackerjahre: ein moralisch aufgepepptes Raubrittertum auf hohem Adrenalinlevel. Das Buch erzählt aus einer global vernetzten Welt vor der Existenz des Internets. Diese Nerds waren Vorreiter der Globalisierung. Trotzdem schlägt durch die Seiten des Buchs ein patriotisches Herz: Denn die meisten Hacker, die hier auftreten, sind Australier, und zu ihrem Sportsgeist gehört, dass »die Australier« die Welt das Staunen lehren. Die Jugendlichen erkennen instinktiv, dass die neue Computertechnologie ihnen die Chance gibt, ihr im Übrigen für seine Langeweile herzlich gehasstes Land aus dem weltkulturellen Abseits herauszuholen: Von Australien aus werden die Systeme von Nasa, Pentagon und Harvard geknackt. Dreyfus und Assange zelebrieren so durchaus eine Romantik der Geopolitik: Der australische Untergrund torpediert den militärisch-industriellen Komplex der Weltmacht USA.

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ie politisch war die Szene, und was machte ihre Anziehungskraft aus? Es war eine Jugendbewegung, die auf der Höhe des technologischen Weltgeistes agierte. Das verlieh all ihrem pubertären Trotz und Angebergehabe, dieser Mischung aus Abgehängtheit und Großsprech, Flügel. Ein berauschendes Gefühl von Machtvollkommenheit. Das ist der blinde Fleck in der Hackerselbstbeschreibung: Für sie war immer nur das Establishment Macht, und zwar illegitime, während sie in ihren subversiven Gegenaktionen schon deshalb keine putschistischen Machtgesten sahen, weil sie sich selbst nur auf der Seite der Freiheit verorteten. In dieses moralische Dilemma ist dann WikiLeaks zwei Jahrzehnte später mit voller Wucht gefahren. Die Szene organisiert sich um geteiltes Wissen. Aber man darf das nicht mit Schwarmintelligenz verwechseln oder Wikipedia als ethische Blaupause zugrunde legen. Die psychosoziale Dynamik, die das frühe Hackertum vorantreibt, entspringt der Kombination aus Illegalität und Exklusivität. Es ist eine Welt geschlossener Clubs, in der fast keine Mädchen vorkommen. Über den Zutritt entscheidet nicht Herkunft, sondern technisches Talent. Das Hackertum ist Technik und Sozialpraxis in einem: »Die privaten Bereiche solcher Mailboxen (die Vorgänger der heutigen Chats; Anm. d. Red.) funktionierten wie ein Königshof, bevölkert von Aristokraten und Höflingen mit unterschiedlich langen Mitgliedschaften, Gefolgschaftsbanden und Rivalitäten. Es herrschte eine ausgefeilte Hackordnung, deren Währung Respekt hieß.« Der Feind erweist sich dann übrigens als ziemlich paternalistisch und großherzig. Fast alle kommen, als um 1990 die ersten Prozesse stattfinden, mit milden Strafmaßen davon. Der Hacker, finden die Richter, hänge eben am Computer wie der Säufer an der Flasche. Für den Stolz der Jungs muss das eine ziemliche Demütigung gewesen sein. IJOMA MANGOLD Suelette Dreyfus/Julian Assange: Underground Die Geschichte der frühen Hacker-Elite; Tatsachenroman; aus dem Englischen von Steffen Jacobs, Bernhard Josef, Michael Kellner, Andreas Simon dos Santos und Heike Rosbach; Haffmans & Tolkemitt, Berlin 2011; 603 S., 24,90 €

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KRIMIZEIT

Schattenseite

Die zehn besten Krimis im April 2011

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Peter Temple: Wahrheit Aus dem Englischen von Hans M. Herzog; C. Bertelsmann; 480 S., 21,99 €

Melbourne, Victoria. Nackte Tote in gläserner Wanne. Drei Räuber gefoltert. Vaters Haus vom Waldbrand bedroht. Wahlkampf in Victoria. Tochter auf Droge. Stephen Villani, Leiter der Mordkommission, ist klug, kein mutiger Mann, aber tapfer im Sturm des Jetzt. Ausgezeichnet: bester australischer Roman 2010.

Friedrich Ani: Süden Droemer; 368 S., 19,99 €

München. Nach sieben Jahren Exil in Köln kehrt Tabor Süden zurück. Sein verschwundener Vater war am Telefon. Ex-Kommissar und NeuDetektiv Süden sucht wie nie zuvor: nach dem verschollenen Vater, nach Mundl, dem vermissten Kneipier. Südens Comeback zu den Verlorenen. Einzig, großartig.

Daniel Woodrell: Winters Knochen Aus dem Englischen von Peter Torberg; Liebeskind; 224 S., 18,90 €

Tief in den Ozarks. Jessup, bester Meth-Koch im Tal, ist verschwunden, sein Haus für die Kaution verpfändet. Die 16-jährige Ree muss des Vaters Tod beweisen, sonst landet sie mit Mutter und kleinen Brüdern auf der Straße. Ree steht’s durch, härter als alle. Country noir, original vom Erfinder.

Linus Reichlin: Er Galiani; 286 S., 18,95 €

Berlin/Isle of Lewis. Eifersucht ist Tod auf Raten, Affektmordmotiv. Operative Fallanalyse geschwächten Mannestums. Ex-Inspecteur Hannes Jensen traut der neuen Zufallsliebsten nicht und ermittelt wegen Betrugsverdacht. Schäfer Angus flieht die Schmach. Zwei Mal Er – dazwischen Lea, unnahbar autonom.

Elmore Leonard: Road Dogs Aus dem Englischen von Conny Lösch und Kirsten Risselmann; Eichborn; 304 S., 19,95 €

Miami/Los Angeles. Im Knast von Miami waren Bankräuber Foley (George Clooney in Out of Sight) und Dealer Cundo Rey Kumpel: Road Dogs. Draußen in Los Angeles wird die Freundschaft getestet. Von den Umständen. Und von Cundos Frau. Wer überlebt? Der am schnellsten redet und denkt. Super.

Heinrich Steinfest: Wo die Löwen weinen Theiss; 280 S., 19,90 €

Stuttgart 2010. Oben – unten. Nur ein Deus ex Machina kann helfen. Steinfest lässt gleich drei auftreten: unterirdisch, überirdisch und mit Scharfschützengewehr. »Dichter denken, was wir uns selbst nicht zu denken trauen.« Krimi als präziser Traum zu Stuttgart 21: poetischer Spiegel, Realitätsdurchleuchtung, doll.

Richard Stark: Sein letzter Trumpf Aus dem Englischen von Rudolf Hermstein; Zsolnay; 288 S., 17,90 €

Albany/Hudson River. Ein Casinoschiff wird kommen. Parker und Kollegen rauben den Weekendgewinn, weggeschafft in der Kloschüssel eines Rollstuhls. Rauben ist schwer, die Beute sichern schwerer. Parker und Co. sind nicht allein, gierige Idioten mischen mit. Und Parker hat einen Fehler gemacht. Sehr kühl.

Arne Dahl: Opferzahl Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt; Piper; 448 S., 19,95 €

Stockholm/Berlin 2005. Im Sommer der Anschläge wird auch in Schweden gebombt. Terrorismus, missglückter joke? Die Ermittlungskünstler des A-Teams dröseln an zig Fäden, tasten im Nirgendwo ihrer Vorurteile, Hypothesen. Hommage an Ed McBain: Im police procedural entblättert sich Systemzerfall. Hoch riskant.

Didier Decoin: Der Tod der Kitty Genovese Aus dem Französischen von Bettina Bach; Arche; 160 S., 19,90 €

Queens, New York 1964. Rekonstruktion eines berühmten Verbrechens: 35 Minuten währt der mörderische Überfall auf Kitty. 38 Nachbarn waren Zeugen, ohne einzugreifen – erstmals der »Bystander-Effekt«. Präzise und delikat erzählt Decoin zurück zum lebendigen Ursprung dieses Begriffs. True & crime.

Elisabeth Herrmann: Zeugin der Toten List; 428 S., 19,99 €

Pullach/Berlin/Malmö/Sassnitz. Im Stasi-Waisenhaus auf Rügen werden 1985 zwei Mädchen vertauscht, Knoten deutsch-deutschamerikanisch-russischer Geheimoperationen. Retrospektiv aufgedeckt von einer Spezialistin für Todesfolgenbeseitigung. Jüngste deutsche Geschichte bravourös kolportiert.

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An jedem ersten Donnerstag des Monats geben 17 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die KrimiZEIT-Bestenliste ist eine Kooperation mit ARTE und Nordwestradio, einem Programm von Radio Bremen und dem NDR. Die Jury: Tobias Gohlis, Kolumnist DIE ZEIT, Sprecher der Jury | Volker Albers, »Hamburger Abendblatt« | Andreas Ammer, »Druckfrisch«, Dlf, BR | Sven Boedecker, »SonntagsZeitung« | Fritz Göttler, »Süddeutsche Zeitung« | Michaela Grom, SWR | Lore Kleinert, Radio Bremen | Thomas Klingenmaier, »Stuttgarter Zeitung« | Kolja Mensing, »Tagesspiegel« | Ulrich Noller, Deutsche Welle, WDR | Jan Christian Schmidt, »Kaliber 38« | Margarete v. Schwarzkopf, NDR | Ingeborg Sperl, »Der Standard« | Sylvia Staude, »Frankfurter Rundschau« | Jochen Vogt, Elder Critic, NRZ, WAZ | Hendrik Werner, »Weser-Kurier« | Thomas Wörtche, »Plärrer«, »culturmag«

Peter Temple führt die Leser in ein dunkles Australien Als Peter Temple 2010 für seinen Kriminalroman Truth den wichtigsten australischen Literaturpreis, den Miles Franklin Award, erhielt, war das ein Kulturbruch. Ein Krimiautor neben Schriftstellern wie Patrick White und Peter Carey? Bis dahin undenkbar. Der britische Guardian fragte angeregt weiter: Könnten eine Ruth Rendell oder ein Ian Rankin den Booker Prize bekommen? »Das wird niemals geschehen«, beschied ein Juror. »Man schickt auch keinen Esel Peter Temple: zum Grand National.« Wahrheit Eine Pferderennen-An(Bibliografie spielung, die über Bande siehe Liste links) zurück zu Wahrheit führt, wie Temples ausgezeichneter Roman auf Deutsch heißt. Wahrheit und ihre Aufdeckung kommen darin allerdings nicht vor. Die einzige Wahrheit, die Stephen Villani, Leiter der Mordkommission von Melbourne, je kennen und lieben gelernt hat, war ein Pferd, das beste Rennpferd, das sein Vater Bob je hatte, »eine fantastische kleine Schimmelstute namens Wahrheit, die (...) nie aufgab«. Doch die kleine Stute ist verstorben, und Villani hetzt von crime scene zu crime scene. Die Kunstfertigkeit eines (Kriminal-) Romanautors erweist sich unter anderem in der Fähigkeit, seinem Publikum Geschehnisse aufzubürden, denen es im alltäglichen Leben großräumig ausweichen würde. Temple lässt seinen Lesern wie seinen Protagonisten keinen Raum zum Innehalten. Seine Prosa wirkt, als sei sie im Laufen diktiert, atemlos, nur das Wichtigste festgehalten, Kopfnotizen eines Todesermittlers, dessen Tage und Nächte nur von Essen, Schlafen und Anrufen strukturiert werden. Dem Leser wird vom ersten Satz an detektivische Aufmerksamkeit abverlangt, für Namen, Zusammenhänge, für die Bedeutung von Bemerkungen. Nichts ist Metapher oder Symbol, alles ist Fakt. Die nackte Leiche einer sehr jungen Prostituierten, die in einer gläsernen Badewanne liegt. Genickbruch beim Verkehr mit Männern, die das Luxushochhaus weder betreten noch verlassen haben können, denn die Supersicherheitsanlage hat keinen Hinweis auf ihre Existenz gespeichert. Ganz oben herrscht der Luxus, ganz unten die Drogenszene – Villani sind Status und Renommee gleich, auch die auf ihn einprasselnden Versuche von Polizei- und Politbossen, seine Ermittlungen für den laufenden Wahlkampf zu instrumentalisieren. Selbst den Drogentod seiner 15-jährigen Tochter scheint Villani von der Agenda wischen zu können. Es ist die Berufswirklichkeit eines gehetzten Mannes, so brüchig, so flackerig, so dicht erzählt, als spräche die Realität selbst. Das ist Temples Kunst: die Kunstlosigkeit. Der Alltag, durch den Villani jagt, ist das Australien von 2010. Ein anderes gibt es nicht, nicht mal am Horizont mit seinen Sonnenauf- und -untergängen. Mordende Polizisten, mordende Manager, mordende Jugendliche, Drogen, Staub und Gestank. Temples Wahrheit ist die Überschreibung der Sonnenseite: Australien ist dunkel. TOBIAS GOHLIS

56 7. April 2011

FEUILLETON DISKOTHEK

DIE ZEIT No 15

Die Farben von Lysøen Zwei Norweger widmen ihrem Landsmann Ole Bull eine wunderbare CD

Dirty Beaches: »Badlands« (Zoo Music)

Wenn die Lichter ausgehen im großen amerikanischen Kino, dann hört sich die Musik nach schwerem Getöse an. Als trouble in the heartland hat Bruce Springsteen diesen Moment in einem seiner überlebensgroßen Songs festgeschrieben, Badlands ist jetzt nicht ganz zufällig der Titel eines neuen Albums, das sich diesen sinistren Sphären widmet. Am Anfang ist das Lärmen, nach einer halben Minute beginnt die Stimme Zhang Hungtais weit hinten durch den Song Speedway King zu geistern, als hätte man Elvis Presley direkt nach der Aufnahme von Mystery Train gekidnappt und jetzt wieder auf Vinyl ausgespuckt. Der Sänger und Gitarrist Zhang Hungtai ist in Taiwan geboren und hat in den acht Stücken seines Debüts einmal die Welt umrundet: Da treffen Memphis/ Tennessee 1953, New York 1977, Berlin 1981 und Montreal 2011 im Sound eines alten Kassettenrekorders formvollendet aufeinander. Im schönsten Song des Albums, Lord Knows Best, übernimmt ein Françoise-Hardy-Sample aus dem Jahr 1967 die Regie. Rock-’n’-Roll-Nomade Hungtai spielt die Rolle des Crooners, der den Herrgott zum Kronzeugen seiner Liebe macht. Badlands 2011 ist der Ort, an dem zerfressener Rockabilly auf ewige Sehnsuchtsmelodien und die Möglichkeiten der Generation Facebook trifft. Lights out tonight, Loops kribbeln im Bauch. David Lynch, übernehmen Sie! FRANK SAWATZKI

»Alexandre Tharaud plays Scarlatti« (Virgin Classics/EMI)

Was sind das nur für wundersam funkelnde, unterhaltsam leichte und doch verstörend tiefgründige Stücke! Jedes Mal, wenn einem die Cembalosonaten des italienischen Barockkomponisten Domenico Scarlatti begegnen, beginnt das große Staunen, denn in ihnen liegen das Zierliche und das Verrückte ganz nahe beieinander. Es gibt Sonaten, die fröhlich-virtuos auf den Pfaden konventioneller Barockfiguration dahinschnurren und urplötzlich auf unwegsames Terrain geraten, in irritierende Sackgassen und an scharfe Abbruchkanten. Manchmal schlägt in ihnen rasant Motorisches ins völlig Durchgeknallte um. Die langsamen Stücke singen in selbstversunkenen Tempi traumschön vor sich hin. Oder es tauchen zur Verblüffung des Ohrs Elemente spanischer Folklore auf. Man glaubt eine Flamencogitarre zu vernehmen und maurische Tanzrhythmen. Scarlatti lebte nämlich viele Jahre wie ein Aussteiger fernab der barocken Musikzentren auf der Iberischen Halbinsel. Und bevor man die Sonaten richtig verstanden hat, sind sie schon wieder vorbei. Scarlatti hat sie für das Cembalo geschrieben. Der französische Pianist Alexandre Tharaud spielt nun auf seiner neuen CD eine Auswahl auf dem modernen Flügel , was den Stücken zwar etwas von ihrer Exzentrik nimmt, ihnen aber musikalisch guttut: Mit Ernst und konzentrierter Hingabe lauscht er in diese wahrlich zauberische Musik hinein. CLAUS SPAHN

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uf einmal wird einem so weit zumute, traurig auch, aber auf eine sanfte Weise, es ist eine kleine Melancholie, die einen nicht herunterzieht. Man hat schon nach den ersten Tönen vergessen, dass sie vom Tonträger kommen. Die Musiker wissen offenbar auch nichts von den Mikrofonen. Da tastet sich einer von der leeren A-Saite einer Geige, die seltsam heiser klingt, in eine schlichte Weise, und ein anderer am Flügel legt behutsam, sparsam Akkorde darunter. Aber was heißt schon schlicht, wenn diese Weise so viel Einsamkeit umfasst und so viele Farben? Moosgrün, steingrau, meerhell, man sieht aber auch bunte Punkte weiter hinten, und offenbar ist gerade die Sonne untergegangen. Vor der Insel Lysøen westlich der norwegischen Küste sieht man sie hinter dem Meer verschwinden, und hier steht das Haus des Geigers Ole Bull, eine Märchenvilla, ein heller Traum aus skandinavischen Brettern, maurischen Bögen und russischen Zwiebeltürmchen. Bull baute sie für sich und seine Familie am Ende seines Musikerlebens. In diesem Haus befindet sich ein großer Musiksaal, und in diesem Saal haben zwei Norweger eine CD aufgenommen und Ole Bull gewidmet, einem Geiger, der die Improvisation und die Folklore seiner Heimat liebte und abgesehen davon einer der aufregendsten Interpreten des 19. Jahrhunderts war, von Robert Schumann höher als Paganini geschätzt. Man sollte erst mal am besten gar nichts über Ole Bull wissen, denn nirgendwo wird man über diesen genialen Geist so viel erfahren wie aus der Musik, zu der sich der Geiger Nils Økland und der Keyboarder Sigbjørn Apeland von ihm haben anregen lassen. Sie spielen Stücke von Bull und improvisieren darüber, so wie sie auch Eigenes improvisieren. Es sind schlichte Facetten eines Ganzen, mit einer Sensibilität, wie nur große Musiker sie hören lassen. Von beliebigem Cross-

Ole Bull war einer der besten Geiger im 19. Jahrhundert

Foto: Bettmann/Corbis

VON VOLKER HAGEDORN

over ist das weiter entfernt als Lysøen von der Cheopspyramide, auf deren Spitze Bull an seinem 66. Geburtstag geigte. So einer war er nämlich auch, einer dieser romanreifen Virtuosen seiner Zeit, er kannte und bezauberte die Welt. Aber sein Herz gehörte Norwegen. Ebenso gern, wie er mit Franz Liszt Beethoven aufführte, spielte er die Folklore seines Landes, er hatte immer auch eine Hardangerfiedel bei sich mit flachem Steg und langem Bogen, auf so einer spielt auch Nils Økland. Was für Farben! Er probiert darauf vieles aus, flüstert, haucht, titscht auch mal nur mit dem Bogenholz auf die Saiten, während Apeland am Harmonium schwere Wolken aufziehen lässt, und das ist so exzellent aufgenommen, dass man glaubt, die Maserung des Holzes zu sehen. Und durchs Fenster ins Weite zu blicken, wohin es Peer Gynt zog, jenen Abenteurer, zu dem Henrik Ibsen sein Förderer Ole Bull als Modell diente. Einmal wechselt Økland zu Bulls alter Guarneri und spielt darauf einen Walzer zum Harmonium. Ein Stück von Bull, kurz und voller charakteristischer Folklorepraller, völlig vibratolos und mit liegendem Bogen gespielt, ein Tanz, aber es klingt, als sehne der Tänzer sich nach einer, die nicht da ist. Bull hat ihn einst auf einer Tournee in den USA gespielt, statt der Noten brachte er seine junge zweite Frau mit nach Norwegen, aber die Musik ging nicht verloren: Man geigte sie in Wisconsin noch hundert Jahre später, dort wurde sie wiederentdeckt. Auf dem Harmonium dieser CD spielte Sara, als ihr Mann Ole mit 70 Jahren 1880 in seinem Musiksaal starb. Hier war einer glücklich. Und wer all diese Stücke hört, begreift, dass es Glück ohne Melancholie nicht gibt. Franz Liszt sagte über Bull: »Er hat mich bewegt. Das ist mir schon lange nicht mehr passiert.«

Grandios verwirrter Pop zwischen allen Stilen: Das neue Album der Band Ja, Panik

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nigeren Code als Namen. Denn je weiter man sich in Richtung Anfang vorarbeitet, desto schrulliger wird’s, desto weniger halten sich Ja, Panik an ihre eigenen Regeln. Während sie den Diskurspop, für den sie bekannt sind, drei Alben lang zwischen dem Bierernst von Fehlfarben und der Supergaudi der Hamburger Band Superpunk auf charmante Weise mit Falco versöhnt haben, streiten sich nun fast alle denkbaren Stile um Deutungshoheit, bis alles an-, in-, übereinandergerät. Benetzt von Christian Treppos plätscherndem Klavier, durchsetzt von Thomas Schleichers verschrobenen Gitarrentropfen, wirkt DMD KIU LIDT mal bombastrockig, mal schlageresk und stets etwas wirr. Bis Spechtl seine deutschenglische Prosa in einer Art Shanty zur Stille vom Ende führt. Die Stille, sie kennzeichnet Ja, Paniks Wunsch zum Rückzug in die alte Nische, aus der Popularität und Kaufkraft die Kunst oft so nachhaltig verjagen. Vor verfrühter Saturiertheit bewahrt ja, wenn schon nicht der vertikale Stil-, so doch ein horizontaler Ausbruch. Einmal das Innere nach außen kehren und kräftig rühren – das tun Ja, Panik. Und trotzdem klingen sie nach sich selbst: fünf jungen Bohemians, deren Kritik an Beliebigkeit, Sinnleere und Kommerz sich weder in biegsamer Anpassung noch in

Seltsame Songs sind das, sehr seltsame. So kühl und trocken, so selbstverständlich und lakonisch. Es passiert nicht viel in diesen Songs, zumindest passiert es nicht laut und vordergründig. Aber der Energiepegel, die Spannung ist hoch. Da ist einmal dieser Hauch von Stimme der Zürcher Sängerin Lucia Cadotsch. Präzise und unaufgeregt singt sie, und im Studio nützt sie die Möglichkeit, ihre Stimme auf die Tonspuren zu verteilen, durch Echokammern zu jagen und zu ihrem eigenen Begleitchor aufzufächern – ein Vexierspiel, das die Songs mit Mehrdeutigkeit auflädt. Nichts scheint sicher in der Musik des international besetzten Berliner Quartetts Schneeweiss & Rosenrot, aber alles ist sorgfältig abgewogen. Der Sängerin gegenüber im Klangbild sitzt die Pianistin Johanna Borchert, die die Harmonien in Einzeltönen tropfen lässt, als sei jeder einzelne ein kostbares Gut, als wolle sie um keinen Preis auch nur einen von ihnen verschwenden. Keine Emphase, nur Klang, akustische Tiefe, elektronische Verfremdung und ein gelegentliches Aufbrausen. Den Sound vervollständigen der schwedische Kontrabassist Petter Eldh und Marc Lohr am Schlagzeug, die der Musik überraschend Feuer machen und ihr dann wieder ebenso plötzlich die Bewegungsenergie entziehen. Seltsam. STEFAN HENTZ

N. Økland/S. Apeland: Lysøen – Hommage à Ole Bull (ECM 2179/Universal)

Ich ist ein Wanderer en Anfang vom Ende her zu denken kann sehr erhellend sein. Richtungsänderungen lindern ja bisweilen einen besonders schmerzhaften Zustand unserer Zeit: Nichtbegreifen. Starten wir also am Ziel eines der schwerstbegreiflichen Werke heutiger Popmusik, hören wir es Lied für Lied von hinten nach vorn, und siehe da: Die Platte mit der Chiffre »DMD KIU LIDT« entschlüsselt sich zusehends von selbst. Vom Ende her gedacht, begänne das neue Album der Band Ja, Panik mit neun Minuten Stille: dem tonlosen Finale des epischen Titelsongs, einem beredten Schweigen, das die Österreicher den »Champagnerrevoluzzern« in ihrem Berliner Exil auferlegen. »Lasst es mich jetzt zu Ende bringen / lasst mich mein seltsames Lied jetzt zu Ende singen«, fleht Sänger Andreas Spechtl vor der Leerstelle, »da kommen noch ein paar Strophen / an denen mir mehr als an allen anderen liegt«. Doch dann kommt da – nichts. Es ist der Schlussakkord einer Platte, die aufräumen will. Die sich des Erbes ihrer gefeierten Vorgänger The Taste And The Money und The Angst And The Money in einem anarchistischen Umsturz des eigenen Systems entledigen möchte, also The Irrsinn And The Money heißen müsste, trüge sie nicht bereits einen viel irrsin-

Schneeweiss & Rosenrot: »Pretty Frank« (enja/Yellowbird Records)

VON JAN FREITAG

selbstgerechter Renitenz erschöpft, sondern eine eigene, sehr lyrische, oft unfassbare Sprache findet. Wiederum produziert von Moses Schneider, der schon Tocotronic auf neue Pfade führte, wird auch DMD KIU LIDT – der Titel steht übrigens für DIE MANIFESTATION DES KAPITALISMUS IN UNSEREM LEBEN IST DIE TRAURIGKEIT – von einer windschiefen Stimme getragen. Schräger denn je zwar, aber nie vollends krumm. Schon gar nicht, wenn man es doch von vorn nach hinten hört. Wenn nach der Funkstörung Bittersweet in der Mitte einschmeichelnder Pianobar-Pop (Grey & Old) oder FolkFragmente (Modern Life Is War) zur krächzenden Harmonie der Schlussballade überleiten. »Letztendlich hab ich meine Koffer gepackt / hab ein Ticket gelöst und bin weit gefahren«, singt Spechtl zu Beginn dieses Endspiels, »habe aufgeschrieben, was ich lang vergessen hab / auf der Suche nach Rat / paar verlorenen Jahren«. Ja, Panik sind fündig geworden. Sie suhlen sich eine halbe Platte in ihrem Trotz, kehren dann aber zurück zu dem, was sie ausmacht: grandioser Pop mit vielen Kanten und ein bisschen Pathos. Ja, Panik: DMD KIU LIDT (staatsakt/Rough Trade)

Paul Motian: »The Windmills of Your Mind« (Winter & Winter/Edel)

Es sind die alten Lieder, mit denen Paul Motian seinen 80. Geburtstag feiert, Broadway-Hits. I Loves You, Porgy oder Let’s Face The Music And Dance. Tennessee Waltz oder The Windmills of Your Mind. Vertraute Melodien, längst rund geschliffen und ganz tief in der Erinnerung verankert. Motian spielt so etwas schon immer. Damals als Kind, als er zur Gitarre griff wie die Cowboys in den Filmen, die ihm so gut gefielen, später als 17-jähriger Schlagzeuger an der Seite von Billie Holiday, und auch als er längst zur JazzAvantgarde gehörte, schienen diese Melodien immer wieder durch. Doch wenn Motian sich heute ein Ständchen bringt, dann hat das mit Nostalgie nichts und mit Nähe und Anverwandlung sehr viel zu tun. Schon der unangestrengte, fast beiläufige Gesang von Petra Haden, der Tochter des Bassisten Charlie Haden, mit dem Motian vor einem halben Jahrhundert spielte, verflüssigt den Zeitrahmen der Songs und unterstreicht die Intimität dieser Aufnahmen. Während Thomas Morgan am Kontrabass den harmonischen Rahmen der Songs skizziert, setzt Bill Frisells Gitarre mit schwebendem Ton die Melodiekurven mit subtil eingestreuten Zwischentönen unter Spannung. Alles zusammen klingt wie eine Leinwand, auf der Motian mit dem Beckensirren und kleinen Wirbeln auf der Standtom malt. STEFAN HENTZ

FEUILLETON DISKOTHEK

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

»Brighton Rock« von John Boulting

»Bal – Honig« von Semih Kaplanoğlu

Böses »baby face«

Der Waldläufer

Taylor mit Montgomery Clift in »Ein Platz an der Sonne«, 1951

Mut und Megapeinlichkeit Ein Überblick über die Filme der großen Elizabeth Taylor

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Fotos: Rue des Archives/Coll. CSFF/Südd. Zeitung Bilderdienst; Hulton Archives/Getty Images (l.); Piffl Medien (r.); Filmgalerie 451 (u.)

Ist das der Schauspieler, der als Weihnachtsmann im Wunder von Manhattan das Publikum zu Tränen gerührt und in Jurassic Park als großväterlicher Unternehmer Dinosaurier an Popcorn serviert hat? Er ist es. Aber die Vorstellung hat etwas Unheimliches. Schon die erste Nahaufnahme vom Gesicht des jungen Richard Attenborough in dem englischen Kriminalfilm Brighton Rock von 1947 wirkt wie ein Schock. Es ist eines dieser baby faces, faltenlos, blass und blank gefegt, wie sie im Kino immer mal wieder von besonders bösartigen, psychopathischen Gangstern getragen werden – man könnte an Richard Widmark in Henry Hathaways Kiss of Death denken oder an Paul Bettany in Paul McGuigans Gangster No. 1. Hinter solch reinen Zügen, hohen Stirnen, das kann man sich ins Merkbuch schreiben, spielt sich nichts Gutes ab. Richard Attenboroughs Pinkie Brown ist zarte 17, aber bereits zum Boss einer kleinkriminellen Bande aufgestiegen, die sich im Brighton der Vorkriegsjahre – der zugrunde liegende Roman von Graham Greene war 1938 erschienen – mit Wettgeschäften über die Runden bringt. Billige Pensionen und dunstige Kneipen sind der natürliche Lebensraum dieser Spezies; gelegentlich unternimmt einer einen Abstecher zur Promenade und den berühmten Piers des Seebads, wo Provinzmädchen in Liegestühlen ihre Handtaschen umklammern und darauf hoffen, dass ihnen jemand ein Bier spendiert. Auf Pinkie müssen sie freilich nicht rechnen. Der führt eine monadische Existenz, jenseits der Gesellschaft, über dem Gesetz, irgendwo zwischen Dostojewkijs Raskolnikow und dem Fremden von Camus. Dass so einer mordet, nehmen wir hin. Aber wie Pinkie die naive, sehr katholische, sehr hingebungsvolle Kellnerin Rose (Carol Marsh) in eine eisige Ehe und beinahe in den Selbstmord treibt, um sich ihr Schweigen zu sichern – das ist selbst fürs Genre ungewöhnlich und die eigentliche Provokation. Mit seinen atmosphärischen, artifiziellen Schwarz-Weiß-Bildern und Attenboroughs kompromissloser Vorstellung – es war sein Durchbruch auf der Leinwand – ist John Boultings Brighton Rock (Arthaus) ein Klassiker des britischen Noirs, auch wenn er lange nur den Cineasten gehörte. Auf DVD befördert wurde der Film durch eine Neuadaption des Stoffes – mit Helen Mirren und John Hurt –, die bei uns Ende April ins Kino kommt und die Handlung ins England der Sechziger, der Mods und Rocker, verlegt. Vielleicht weil man gar nicht erst den Versuch unternehmen wollte, die schreckliche latente Hysterie des Originals zu kopieren: Es ist die einer Gesellschaft, deren Establishment sich mit dem Teufel, mit Hitler, arrangiert hatte und die doch darauf wartete, dass der Knoten des Appeasements, der moralischen Indolenz, endlich platzen würde. SABINE HORST

ls Kind, Jugendliche und junge Frau erlöst sie die Traumfabrik vom Diktat der Niedlichkeit. Man meint Elizabeth Taylor die Disziplin anzusehen, das Bemühen, zu den strengen Eltern, zur guten Gesellschaft, zu den Erfolgreichen zu gehören. Das ist das Kind, das Reiten und Tanzen, Konversation und Musik gelernt hat. Sie ist eine Person, die die Dinge im Griff haben will und zeigt, wie schwierig das ist. Schon in Lassie – Held auf vier Pforten (Warner Home) ist man erstaunt über die Ernsthaftigkeit dieses Traumkindes. Ja, dieses Mädchen träumt etwas, was über alle Mädchen-mit-Hunden-undFamilien-Trost-Geschichten hinausgeht. Wenn man nur wüsste, was! In den Familiengeplänkeln muss sie doppelt leiden. Jemand, der es gut und gern mit einer Tragödie aufnehmen könnte, muss sich hier mit Albernheiten abgeben. Es sind die Schauspieler um sie herum, die »aufdrehen« dürfen, und Elizabeth Taylor hält das aus. Sie selbst hat nicht die Spur des Komödiantischen in sich. Wenn sie komisch sein will, dann wird sie furchtbar komisch. Alles Kleine, aber auch alles allzu Genaue und Feine liegt ihr nicht. Immer noch ist sie eine Spur zu ernst und introvertiert. Als »schöne Jüdin« in Ivanhoe (Warner Home) bleibt sie im Gedächtnis, als Versprechen: Da kommt noch etwas anderes, etwas Größeres. »Sie ist kalt und fremd«, so heißt es in William Dieterles Elefantenpfad (Paramount) von ihr. Sie will nicht kalt bleiben, und auch die Welt soll ihr nicht fremd bleiben. Was wir sehen: Sie ist einsam und verzweifelt. Mit Giganten (Warner Home) von George Stevens beginnt die klassische Periode der Elizabeth-Taylor-Filme: eine Frau, die zugleich Mittelpunkt und Transzendenz von männlichen Systemen der Hochneurotik ist. Genau besehen, ist fast jeder Taylor-Film der fünfziger und sechziger Jahre eine Quälerei: Eine Frau, die so viel Begehren, Angst und Unsicherheit auslöst, erhält ihre Bestrafung. Und sie gibt das zurück, in dieser unnachahmlichen Mischung aus Begehren und Unberührbarkeit. Sie blickt auf Bindungsängste, Impotenz, uneingestandene Homosexualität, neurotische Familienbande; es geht aber auch um

VON GEORG SEESSLEN

sozialen Aufstieg, Reichtum, Luxus – so wie in Ein Platz an der Sonne, wo sie die reiche Schöne ist, die Montgomery Clift in den Abgrund reißt. Natürlich überstrahlt sie alle Konstruktionen; von ihr aus gesehen, könnte eine Wandlung zur »Shakespearian Woman« beginnen. Logisch, Taylor war eine Frau und ein Bild von ihr aus eigenem Recht (»Wie kommen Sie auf die Idee, ich hätte ein privates Leben?«). Aber ein wunderbares Märchen lässt sich vielleicht aus der Arbeit mit drei Regisseuren erzählen: George Stevens, mit dem sie ihr Bild formte, Joseph L. Mankiewicz, der es mit einem mehr oder weniger modernen Innenleben versah, und Joseph Losey, der es zu zerlegen versuchte. Wer sie mehr liebte, ist eine andere Frage.

Ihr gelang das Sichtbarmachen des Verborgenseins Immer ist sie die Frau, die es nach oben schafft; jemand Armen nimmt man ihr nicht ab. Daher sind die Meisterwerke der Hochneurotik immer zugleich sexuelle und soziale Katastrophen; Paul Newman, der nicht spielen darf, was seine Rolle vorgäbe, Montgomery Clift oder Rock Hudson, die nicht sein dürfen, was sie sind. Queer studies, übernehmen Sie! Aber vielleicht geht es gar nicht um das Verborgene, das sie halb sichtbar macht, sondern um das Sichtbarmachen des Verborgenseins. Denn wenn Elizabeth Taylor auf der Leinwand auftaucht, haben plötzlich alle was zu verbergen oder wissen sonst nicht weiter. Das ist die Geschichte von Daniel Manns Telefon Butterfield 8 (Warner Home). Fremd und kalt, ist sie zur Nobelprostituierten geworden, was das blödeste Bild für ihr Problem ist. Und dann muss sie auch noch, durch einen Autounfall, »sinnlos sterben«. Und dann: Cleopatra (Fox) von Joseph L. Mankiewicz, die Erfüllung und schon das Ende des Taylor-Mythos. Ein maßloser Film, und auch darin ähnelt er seiner Hauptdarstellerin: Er kann seinen Reichtum nicht genießen. Der gewaltigste Aufwand von Pracht, Raum und Luxus, um etwas zu sagen, was man auf einer kleinen Bühne genauso, vielleicht besser hätte sagen können. Daher wird es eine Aussage über die Inszenierung

selber, über so vieles, was am Ende nichts nutzt, wenn einem auf Erden nicht zu helfen ist. Die zweite Dekonstruktion ist Mike Nichols’ Wer hat Angst vor Virginia Woolf (Warner Home), wieder mit Richard Burton. Auf den Zusammenbruch eines Weltreiches folgt der Zusammenbruch eines Lebensentwurfes. Die moderne Variante des Paares in Hassliebe, das miteinander nicht leben kann und ohne einander auch nicht. So etwas lässt sich nicht wiederholen, und es wird dauernd wiederholt im Rest ihrer Karriere. Die öffentliche Liebesgeschichte von Richard Burton und Elizabeth Taylor, der Glamour und die Abstürze, blieb ein Filmthema. Auch in Enthüllungen von Waris Hussein (Intergroove media), einer Scheidungsgeschichte, einmal aus Burtons, einmal aus Taylors Blickwinkel. Joseph Loseys Brandung (frei nach Tennessee Williams, Universal) war der erste Taylor/Burton-Film, der nicht einmal seine Produktionskosten wieder einspielte. Später nannte ihn John Waters den besten danebengegangenen Kunstfilm der Kinogeschichte. Elizabeth Taylor war die Protagonistin einer gewaltigen Modernisierung und Befreiung. Im Kino und im Leben. Dazu gehört es, dass die Dinge auch danebengehen können, und zwar gewaltig. Daher gibt es, von einer Sammlung von öffentlichen Auftritten und Statements zwischen gewaltigem Mut und Megapeinlichkeit sowie den üblichen Diva-Biografiefetzen abgesehen, symptomatisch gescheiterte Filme, auf die ein Blick natürlich besonders lohnt: Die Stunde der Komödianten (Warner Home) – ein Politthriller im Haiti von Papa Doc. Taylor nahm die (kleine) Rolle angeblich nur, damit sie nicht Sophia Loren bekam, die mit Richard Burton hätte flirten können. Oder auch Der Widerspenstigen Zähmung (Sony Pictures) – Dino de Laurentiis träumt Shakespeare. Oder Der blaue Vogel (Russian Cinema Council Collection) – Taylor in einem russischen Märchenfilm von George Cukor, in dem sie freundlich darüber hinwegblickt, dass sie keine Ahnung hat, worum es eigentlich geht. Und zur entspannenden Belohnung am Ende: Elizabeth Taylor als Gaststar bei der Familie Feuerstein (Universal).

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Diesen Film betritt man wie einen tiefen Gebirgswald. Zögernd und behutsam tasten Mensch und Lasttier sich durchs steile Gelände: Ein Honigsammler und sein Sohn lesen die Zeichen des anatolischen Waldes. Was dem kleinen Jungen draußen, an der Hand des Vaters, mühelos gelingt – Fährten lesen, Vogelflug verstehen, Tiere und Pflanzen erkennen –, misslingt jedoch in der Schule. Die Buchstaben bleiben fremdes Terrain. Das Kind sondert sich ab. Wohl ist ihm nur im »väterlichen« Wald. Mit der Abwesenheit des Vaters und der Suche nach ihm verschieben sich die Gewichte von Semih Kaplanoğlus Berlinale-Gewinner Bal – Honig (absolut medien). Es ist ganz offenkundig, dass der Vater nicht einfach geflohen sein kann, schließlich ist er ein Waldläufer, der nie und nimmer »in die Welt hinaus«, sondern allenfalls immer tiefer »in den Wald hinein« gehen würde. Es bedeutet für den Zuschauer eine ungewöhnliche Herausforderung, dem stillen Spiel und Fluss all dieser Zeichen nachzuspüren. Und dieser stete und leise Appell an unsere Sinne bewirkt, dass wir selbst, vorübergehend, zu Waldläufern, zu Fährten lesenden Kindern und aufmerksamen Lehrern werden – ganz wie jene, die aus dieser anatolischen Ferne zu uns sprechen. HANNS ZISCHLER

»Abfallprodukte der Liebe« von Werner Schroeter

Tee mit der Callas Gerade erschien Werner Schroeters Autobiografie Tage im Dämmer, Nächte im Rausch als sehr persönliche, wunderbar durchgeknallte Erzählung eines Lebens. Und nun kommt Elfi Mikeschs Dokumentarfilm Mondo Lux – Die Bildwelten des Werner Schroeter ins Kino, eine Art zugeneigte Klassenfahrt, die mit Interviews und Filmausschnitten tief und erkenntnisreich in Schroeters Werk und Leben, in seine von Eros und Leidenschaft geprägte Arbeitsweise hineinführt. Dazu unsere DVD-Empfehlung: Die Werner-Schroeter-Collection (Filmgalerie 451) mit drei Filmen aus drei Schaffensphasen: Palermo oder Wolfsburg (1980), Schroeters Beweis, dass man vom Realen manchmal nur mit absurden Formen erzählen kann. Abfallprodukte der Liebe (1996), eine dokumentarische Liebeserklärung an die Musik, die Oper und Schroeters singende Freundinnen. Und sein letzter Film Diese Nacht, eine Parabel über Diktatur und Widerstand. Laut Isabelle Huppert sitzt Schroeter übrigens im Himmel beim Tee mit Maria Callas. ANKE LEWEKE

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FEUILLETON

DIE ZEIT No 15

Foto: Richard Perry/The New York Times/Redux/laif

That’s Entertainment! Die größte Show von ganz New York: Der Irakkrieg tobt am Broadway, und Robin Williams spielt den »Bengal Tiger at the Bagdad Zoo« VON TUVIA TENENBOM Robin Williams (links) als bengalischer Tiger

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merikanische Streitkräfte bombardieren Libyen mit Aberhunderten von Raketen, von denen einige angeblich 1,5 Millionen Dollar das Stück kosten. Mit größter Wahrscheinlichkeit werden dabei Abertausende von Menschen ums Leben kommen, auch wenn alles, was uns die amerikanischen Medien derzeit zeigen, glänzende Flugzeuge und elegant geformte Geschosse sind, die wie in einem superteuren Hollywoodfilm in perfekten Bahnen durch den Himmel fliegen. »Was halten Sie von der amerikanischen Beteiligung in Libyen?«, frage ich eine Gruppe junger Leute in einem Diner am Broadway. »Wovon sprechen Sie?«, fragt mich ein adrett gekleideter Kellner. Ich formuliere die Frage um: »Wie denken Sie über Präsident Obamas Entscheidung, Libyen zu bombardieren?« »Ich liebe Präsident Obama«, antwortet er. »Was immer er tut, ist für mich in Ordnung. Er hat ein Herz für die Schwulen, und das ist großartig.« Die meisten Gäste stimmen ihm zu. Auch sie lieben Obama. In einem Umfeld von solcher politischen Kennerschaft hat sich der Broadway nun zur Aufführung eines politischen Schauspiels durchgerungen. Und wer wäre besser für diese Aufgabe geeignet als der berühmte Robin Williams? Willkommen im Richard Rogers Theatre, direkt gegenüber der Scientologykirche von New York, wo heute das angesagte Politstück Bengal Tiger at the Bagdad Zoo Premiere hat. Robin, für viele der genialste amerikanische Schauspieler überhaupt, gibt heute sein Broadway-Debüt und spielt niemand Geringeren als den Tiger selbst! Ja. Der Mann, den Millionen als jenen DJ kennen, der im gleichnamigen Film »Good Morning, Vietnam!« in den Äther schreit, brüllt nun, dass »Löwen die dämlichsten, abgefucktesten« Viecher

überhaupt seien, während im Richard Rogers das Bühnenlicht angeht. »Wir sind im Krieg, schalt mal deinen Verstand ein«, ruft er. Der DJ von gestern ist heute ein sprechender Tiger, und er ist in einem Käfig. Zwei amerikanische Soldaten stehen links und rechts neben ihm und zielen mit ihren Gewehren auf ein verdächtiges Flugobjekt, bei dem es sich allerdings um einen Vogel Strauß handelt. Interessanterweise sprechen hier nicht nur die Tiger, sondern auch die Soldaten. Übers Ficken und über eine Toilette aus Gold. Hin und wieder unterbricht sie der Tiger. »Besagter Eisbär hat Selbstmord begangen«, bemerkt er dann zum Beispiel. Apropos Selbstmord. Der Tiger beißt einem der Soldaten die rechte Hand ab und wird von dem anderen Soldaten erschossen. Robin Williams, muss ich nun zu meinem Bedauern mitteilen, ist tot. Wie wird dieses Stück ohne seinen Star weitergehen? Ich weiß es nicht. Aber er ist tot, zweifellos. Ich kann sehen, wie das Blut aus seinem Torso strömt.

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o sind wir? Im Irak. Woher wissen wir das? Hier gibt es einen Soldaten, der sagt: »Ich will eine Muschi in einem muslimischen Land.« Noch ein Beweis dafür, dass wir im Irak sind – für den Fall, dass wir es noch nicht mitbekommen haben sollten –, erscheint in Form einer Pistole aus Gold. Diese glänzende Pistole, lässt man uns wissen, gehörte einmal Udai, Sohn von Mr. Saddam Hussein. Beide tot mittlerweile. Nicht alle auf der Bühne sind tot. Ein amerikanischer Soldat richtet seine Waffe auf eine Irakerin und sagt zu ihr: »Wir sind hier, um euch zu helfen!« Er lebt. Diesen Eindruck macht er zumindest. Ganz sicher kann man sich nicht sein. Hey, seht mal: Da ist ja der Tiger wieder! Ist er von den Toten auferstanden?

Nicht wirklich; er ist genau genommen ein Geist. Und mit seinem Auftritt ändert sich die Szenerie: Auf wundersame Weise erscheinen riesige, aus Pflanzen gemachte Tiere auf der Bühne. »Warum ich? Warum hier?«, fragt der Tiger. Schnell wird deutlich, dass unser Tiger nicht nur ein Geist ist, sondern auch ein Philosoph. Und darüber hinaus ein Atheist, einmal abgesehen davon, dass er auch ein großer Literaturliebhaber ist. »Dass ich Dante kenne, wusstet ihr nicht, hm?«, prahlt er. Lassen Sie sich von dem Namen Dante nicht irritieren; wir sind immer noch im Irak. Um sicherzustellen, dass Sie diesen wichtigen Umstand nicht vergessen, erklingen im Hintergrund Allahu Akbar-Rufe, während der Tiger über die Zeit spricht, als es Kinder »zum Mittagessen« gab. Irgendeine versteckte Bedeutung muss das alles haben, obwohl mir nicht klar ist, worin genau sie bestehen könnte. Aber es sieht auf jeden Fall toll aus. Vor allem, als ein weiterer Geist auftritt, Udai. Mit einer kubanischen Zigarre in der Hand sagt Udai: »Auch ein toter Mann schätzt eine gute Havanna.« Ich bin mir nicht sicher, was das soll, aber es hört sich gut an. Das Publikum lacht. Udai, eine »historische« Figur, spricht gerne übers Ficken, vor allem, wenn es um die Frauen zum Tod verurteilter Männer geht. Er vergewaltigt die Frauen vor ihren Ehemännern, gibt er uns zu verstehen, weil ihm die Qualen, die diese Männer unmittelbar vor ihrem Tod erleiden, einen Kitzel bereiten. Klingt grauenhaft? Nun, er ist ja auch ein Geist. Abgesehen davon fickt jeder hier auf dieser Bühne gerne. Alle nehmen das Wort gerne in den Mund und lieben auch die Sache selbst. Seien es Amerikaner oder Iraker. Männer ficken gerne und Geister auch. Pause. Ich spreche einen kanadischen Arzt und seine Frau an, die in meiner Nähe stehen.

Wie gefällt Ihnen die Vorstellung? »Ich weiß nicht, was das Ganze soll«, sagt der Arzt. »Ich gehe.« Nicht weit von ihnen sehe ich vier Briten. »Wie gefällt es Ihnen?«, frage ich. »Fragt sich, was ›es‹ ist«, antwortet einer von ihnen. Auch sie gehen. Und hier ist Ben Brantley, der Chef-Theaterkritiker der New York Times. »Wie finden Sie es bislang?«, frage ich ihn. Er entschuldigt sich. Er kann diese Frage nicht beantworten, solange seine Kritik nicht gedruckt ist. Aber er hat das Stück vorher gelesen, erzählt er mir. Ich nicht. Also auf zum zweiten Akt. Licht aus. Licht an. Auftritt Robin. »Hier«, brüllt er, »wimmelt es von Geistern!«

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r frisst keine Kinder mehr, verkündet er, da er dieser Tage »über Sünde und Erlösung arbeitet«. Wird dieser Akt etwa ein lieblicher Kirchgang? Nicht, wenn wir dem Monolog zuhören, in dem sich Tom, ein amerikanischer Soldat, darüber auslässt, »sich einen runterzuholen« (literarisch für Masturbation). Tom hat nämlich seine rechte Hand an den Tiger verloren und hätte nun gerne, dass eine irakische Dame »hinter mir steht und mir mit ihrer rechten Hand einen runterholt«. Er kriegt, wonach es ihn verlangt, nur um im nächsten Moment erschossen zu werden. »Ich will nicht sterben, ich komme aus Michigan«, sagt er und fällt tot um. Wird auch er sich in einen Geist verwandeln? Wahrscheinlich. Aber das würde ein weiteres Stück erfordern, weil dieses hier bald zu Ende ist. Unter der geschmackssicheren und talentierten Regie von Moisés Kaufman entfaltet sich eine geschmeidige und elegante Szenenfolge, aber dem Spiel auf der Bühne fehlt es an Prägnanz, auch dem von Robin Williams, der als Tiger so gar nicht überzeugt. Der Schauwert ist prächtig, das Stück selbst jedoch wird seiner Aufgabe nicht im Mindesten ge-

recht. Der Versuch von Bühnenautor Rajiv Joseph, geistreich und tief zu sein, führt zu einem jämmerlichen Fehlschlag in beiderlei Hinsicht. Tiger bringt mangels Logik und Seele das Theater stärker in Verruf als Saddam Hussein. Nicht dass Tiger sich nicht bemühte, das tut es; aber seine Pseudointellektualität steht seinen guten Absichten, nämlich uns die Übel des Krieges vorzuführen, im Weg. Timothy, ein Zuschauer, ist ein Beispiel. Timothy hält Tiger für »beeindruckend«. Wie denkt er über den Krieg in Libyen? »In Libyen«, erklärt er mir gnädig, »bombardieren wir aus der Luft«, und das sei ein »gewaltiger Unterschied« zum Krieg im Irak. »Was ist der Unterschied dazwischen, Menschen aus der Waagerechten oder von oben zu töten?«, frage ich ihn. »Darüber muss ich erst nachdenken«, kontert er souverän. Mr. Robin Williams, Star und Kraftzentrum dieser Aufführung, schneidet nicht besser ab. Auf seine Meinung zum Libyenkrieg angesprochen, sagt er mir: »So weit, so gut.« Wie denkt er über die Menschen, die von amerikanischen Bomben getötet werden? Das scheint ihn nicht zu beunruhigen. »Wenn wir uns nicht eingemischt hätten«, sagt er mir, »wären die Rebellen getötet worden.« – »Gibt uns dies das Recht zu töten?«, frage ich ihn. »Woher kommen Sie?«, antwortet er mit einer Gegenfrage. Ich sage ihm, ich sei Deutscher. Wenn er ein Tiger ist, bin ich ein Deutscher. »Gerade ihr«, so Robin, »ihr macht doch mit. Nato!« Als guter Deutscher, der ich bin, verteidige ich mein Land und informiere ihn, dass Deutschland nicht an der Operation in Libyen teilnimmt. »Ich bin kein Politiker«, entgegnet er, sein Selbstbewusstsein schlagartig im Keller. »Das reicht«, unterbricht sein Betreuer. »Bitte!« Ich verlasse den Zoo. Aus dem Englischen von MICHAEL ADRIAN

KUNSTMARKT

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

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Zurück zum Kölsch

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ie misst man den Erfolg einer Kunstmesse? An der Qualität ihrer Teilnehmer. Und diese Qualität wiederum misst sich gemeinhin am Rang der Galerien im internationalen Netzwerk der Kunsthändler. Die Art Cologne, die von nächster Woche an zum 45. Mal stattfindet, war einmal die bedeutendste Kunstmesse in ganz Europa, ja der ganzen Welt. Von den sechziger bis in die neunziger Jahre verhalf die Messe zahlreichen deutschen Galeristen und Künstlern zu internationalem Erfolg, wichtige Galerien aus dem Ausland wollten unbedingt dabei sein – doch dann drohte die Messe in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Längst war die Art Basel zur erfolgreichsten Messe für zeitgenössische und moderne Kunst aufgestiegen, im vergangenen Jahrzehnt überholten dann auch noch die Frieze Art Fair in London und das Art Forum in Berlin die Kölner Messe. Die jetzt in den internationalen Rankings der Kunstmagazine ganz oben kursierenden Galerien wollten nicht mehr zur Art Cologne – und viele in Köln ansässige Galerien wanderten nach Berlin ab. Doch seit dem vergangenen Jahr scheint die Kölner Kunstmesse wieder an Attraktivität zu gewinnen. Wenn am 12. April die Art Cologne feierlich eröffnet, dann werden die Besucher dort auf einige der führenden Galerien der Welt stoßen. Galerien, die entweder lange nicht mehr oder noch nie zuvor an dieser Messe teilgenommen haben. Zur Gruppe der Ersteren gehört Michael Werner, der legendäre Galerist von Jörg Immendorff, Markus Lüpertz, Per Kirkeby und A. R. Penck, der dieses Jahr auch mit dem Art-Cologne-Preis geehrt wird. Werner

war Ende der sechziger Jahre das erste Mal als Mitarbeiter der Galerie Rudolf Springer auf der Kölner Messe dabei, mit seiner eigenen Galerie durfte er erst 1973 einen Stand bespielen – die Messe bestand damals aus einem sehr exklusiven Kreis, das Aufnahmeverfahren war mühsam. Später hat er viele Ausgaben der Messe ausgelassen, obwohl die Art Cologne um seine Teilnahme kämpfte. Dieses Jahr war die Messe wieder erfolgreich, Michael Werner, der Galerien in Köln, New York und in Märkisch Wilmersdorf in Brandenburg betreibt, wird auf der Art Cologne Gemälde von Sigmar Polke und Peter Doig zeigen. Auch die Galerie Hauser & Wirth wird in diesem Jahr zu den Ausstellern zählen, erst ein einziges Mal hat sie an der Messe teilgenommen, das war vor zehn Jahren. Die in London, Zürich und New York beheimatete Großgalerie zeigt in Köln neben Kunst von Louise Bourgeois auch Skulpturen von Paul McCarthy, etwa einen Weißen Schneezwerg für 750 000 Dollar oder die Installation Puppet für 1,8 Millionen Dollar. Aus New York kommen die Galerien Andrew Kreps, Leo Koenig und auch die Team Gallery angereist, deren Galerist José Freire Kontakt zu deutschen Sammlern sucht. Auch der Berliner Galerist Guido Baudach wird diesmal in Köln dabei sein, an seinem Stand wird Kunst in schwarzen und weißen Tönen von Thomas Zipp, Rashid Johnson und Björn Dahlem dominieren. Zur Art Cologne hat ihn vor allem deren neuer Direktor Daniel Hug gelockt. Der ehemalige Galerist Hug verstehe, sagt Baudach, was die Kollegen von einer Kunstmesse erwarten. Und so könnte die Art Cologne, so die Vermutung vieler Händler, dem Art Forum in

Berlin wieder den Rang als Deutschlands wichtigste Messe für zeitgenössische Kunst ablaufen. In Berlin hat sich das Gallery Weekend (29. April bis 1. Mai) als Leistungsschau der hier ansässigen Großgalerien durchgesetzt, eine reguläre Messe mit aus dem Ausland anreisenden Galerien brauche es nicht. Warum? Berlin, so sagt auch Michael Werner, sei vor allem eine Stadt der Kunstproduzenten, nicht eine der Kunstabnehmer. Welch wichtige Sammlertradition es hingegen im Rheinland – und in den angrenzenden Beneluxländern – gibt, daran erinnerte erst vergangene Woche die Nachricht von einer großen Schenkung. Die im November verstorbene Aachener Sammlerin Irene Ludwig hat dem Museum Ludwig in Köln testamentarisch nochmals 508 Kunstwerke im Wert von Hunderten Millionen Euro geschenkt, darunter Bilder von Malewitsch, Rodtschenko, Degas, Matisse und Klee. Emphatisch vertritt Michael Werner seine Teilnahme an der Art Cologne übrigens nicht. Es sei eine reine Glückssache, ob man dort gute Geschäfte mache. Außerdem fehle die inhaltliche Spannung. »Früher hat es auf den Kunstmessen noch hitzige Debatten um die Kunst gegeben, es gab klare Parteiungen.« Heute regiere ein »taubes Netzwerk«, die Rationalität habe über die Obsession gesiegt. Vieles laufe heute wieder so langweilig nebeneinander her wie schon zu Beginn der sechziger Jahre, vor den Zeiten des Aufbruchs. Der heutige Trend zum Dekorativen in der Kunst, so Michael Werner, erinnere ihn allerdings an eine noch ältere Zeit, an den Barock: Auch damals hätten die Feuerwerker mehr als die Maler verdient.

VON TOBIAS TIMM

Ein »Linsenbild« (2008) von Sigmar Polke aus der Galerie Werner

Eine Geschichte des Allesmöglichen Der ZEIT-Museumsführer: Die Kunsthalle in Mannheim TÄGLICH GEÖFFNET, AUSSER MONTAGS



98 »Filzanzug«, von Joseph Beuys, 1970

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VON SHIRIN SOJITRAWALLA

ie fabelhafte Bronze-Familie Capricorne von Max Ernst spielt das Empfangskomitee und glotzt uns aufmunternd entgegen. Nur ein paar Meter entfernt präsentiert sich Gustav Seitz’ Große Stele als verwitterter Torso, der übermächtige Brüste spazieren führt und eine kopflose Verwandte der Venus von Willendorf sein könnte. Marino Marini indes vollführt mit Il Miracolo ein kleines großes Wunder, indem er seinen Knaben auf einem wilden Pferd einen gewagten Rodeo reiten und nebenbei die Schwerkraft besiegen lässt. Wer sich zu dem Männlein hinunterbeugt, erlebt einen Augenblick frommer Fröhlichkeit im freien Fall. Allein schon mit ihren herausragenden Exponaten der Bildhauerei, einem der Schwerpunkte des Hauses, nimmt die Sammlung der Kunsthalle in Mannheim uns gefangen: Hier treffen wir auf Werke von Henry Moore, Hans Arp, Alberto Giacometti oder Auguste Rodin. Normalerweise sind sie im prächtigen Jugend-

stilgebäude an der Moltkestraße zu sehen. Doch das 1907 von Hermann Billing errichtete Haus wird derzeit generalsaniert und erst 2013 wieder eröffnet. Immerhin, der Erweiterungsbau aus den achtziger Jahren, funktional schlicht, bleibt auch während der Sanierung zugänglich und präsentiert unter dem knappen Titel Kunst bewegt eine bemerkenswert komprimierte Schausammlung. Dort teilen sich etwa Niki de Saint Phalle, Jean Tinguely, César, Arman und Daniel Spoerri ein Zimmer, in dem sie noch einmal zeigen dürfen, wie sie die Wirklichkeit im 20. Jahrhundert neu zusammengesetzt haben. In unserem Kopf formt sich derweil eine anregende Geschichte der Bildhauerei als eine unendliche Geschichte des Allesmöglichen. Der in die Jahre gekommene Filzanzug von Joseph Beuys, der wie zum Auslüften an der Wand hängt, kommt uns da gerade recht. Dasselbe gilt für das daneben stehende bronzene Ledersofa mit den akkurat davor aufgestellten Pumps von Clive Barker, der das

Ensemble frech und ein wenig einfältig als Portrait of Madame Magritte ausweist. Skulpturen, Plastiken und Objekte zeigen sich in Mannheim in allen erdenklichen Aggregatzuständen. Tobias Rehberger ordnet smartiehafte Stoffteile auf dem Boden zu einer bunt verspielten Performance, und der 1977 geborene Sebastian Kuhn arrangiert ein sperrmüll- wie popartiges Türenlabyrinth, in dem sich der Besucher nicht ein- noch auskennt, dafür aber überraschende Ein- und Ausblicke gewinnt. Tumbling down the Rabbit Hole nennt er sein Werk, das gängige Seinsformen der Skulptur auf den Kopf stellt und den Besuchern ein Alice im Wunderland-Feeling beschert. Sehr viel schlichter, aber in ihrer verletzlichen Solidität seltsam ergreifend, die gespaltenen und wieder zusammengesetzten Dolomitplatten von Ulrich Rückriem, die wie Mahnmale der Achtsamkeit am Boden liegen. Die Anfänge der Sammlung sind der Bürgerschaft und dem ebenso visionären wie weltgeltungssüchtigen Gründungsdirektor Fritz

Wichert zu verdanken, der in Mannheim eines der ersten Museen für moderne Kunst etablierte. Seinem Nachfolger Gustav Friedrich Hartlaub gelang ein weiterer Coup, initiierte er doch eine Ausstellung über deutsche Kunst nach dem Expressionismus und betitelte sie mit Die neue Sachlichkeit. Ein Begriff, der einer ganzen Stilrichtung ihren Namen geben sollte; heute macht sie einen der Schwerpunkte der Mannheimer Gemäldesammlung aus. Hinzu kommen der deutsche und französische Impressionismus, der Expressionismus sowie die abstrakte Kunst des deutschen und französischen Informel. Insgesamt mehr als 2150 Gemälde, 840 Skulpturen und etwa 33 000 Papierarbeiten vom frühen 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart beherbergt die Mannheimer Sammlung. Die derzeit ausgestellten Kostproben von Anselm Kiefer, Francis Bacon, Antoni Tàpies und Emil Schumacher geben nicht nur einen Vorgeschmack: Sie machen richtig Hunger auf mehr.

Abb.: Sigmar Polke/VG Bild-Kunst, Bonn 2011; Joseph Beuys/VG Bild-Kunst, Bonn 2011

Jahrelang schien es für die Kunstmesse Art Cologne nur bergab zu gehen. Jetzt kommen die großen Galerien wieder

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FEUILLETON

DIE ZEIT No 15

Mein Lehrer, der Mann von der SS Die Universitätskarriere von Hans Robert Jauss zeigt, wie man mit NS-Vorgeschichte eine bundesrepublikanische Größe werden konnte

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Abb.: Private Coll./Giraudon/The Bridgeman Art Library; Foto: Universität Konstanz

m 13. April 1967 hielt der fünfundvierzigjährige Hans Robert Jauss in Konstanz seine Antrittsvorlesung als Professor für Allgemeine und Romanische Literaturwissenschaft über die auf den Titel von Schillers Jenenser Antrittsvorlesung verweisende Frage: »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Literaturgeschichte?« Obwohl die gerade in hastiger Euphorie gegründete Reformuniversität noch kaum Hörer hatte, sonnte sie sich schon in dem Anspruch, »Klein-Harvard am Bodensee« zu werden, und zeigte bald Sympathien für die Hochschulprotestbewegung, die wenige Wochen später in Berlin auf den Weg kam, als die Polizei Demonstrationen gegen den Besuch des Schahs von Persien mit tödlicher Gewalt niederschlug.

den Figuren vor allem aus der marxistischen Tradition wie obwohl sich alle über sie beklagten. Jede Geste war Siegfried Kracauer (1889 bis 1966) oder dem Romanisten strategisch, und wohlfühlen konnte sich keiner. Werner Krauss (1900 bis 1976) und in entschlossener AbsetDas von den Vorschlägen seiner Antrittsvorlesung zung von der damals allenthalben hoch geschätzten Motivge- ausgemalte Zukunftsbild hat der weitere intellektuschichte im Stil des Romanisten Ernst Robert Curtius (1886 elle Weg des von vielen bewunderten und von den bis 1956) – auf die Untersuchung der »gesellschaftsbildenden wenigsten geliebte Hans Robert Jauss dann nie mehr Funktion« von Literatur einlasse. Die Forderung machte den erreicht. Obwohl er einige Jahre lang berühmter war Text von Jauss zum Ursprungsmanifest der »Rezeptions- als die Philosophen Hans-Georg Gadamer, Hans ästhetik«, zum Programm zur Erforschung jener historischen Blumenberg oder Jürgen Habermas, gewann er nie Rollen, welche die Leser für die Literatur als deren Adressaten deren ungeteilte Anerkennung. Blumenberg grüßte und bei der Entfaltung ihrer Bedeutungen gespielt haben. Bis ihn zu einem runden Geburtstag als einen »Quijote, heute gehört die Rezeptionsästhetik weltweit zu den Pflicht- der seinen Sancho verloren« hat, und Gadamer klagthemen in jedem literaturtheoretischen Einführungskurs und te bei Schülern von Jauss über dessen Ungeschicklichhat so zugleich institutionelles Gewicht gewonnen und in- keit im Gebrauch philosophischer Begriffe. Doch der tellektuelle Attraktivität verloren. Jauss selbst schien damals hielt selbst dann, wenn er sich zurückgesetzt fühlte, besonders eine paradoxale Formel zu fasziniezäh an seinen Wertschätzungen fest. ren, auf die er die interpretatorische Logik Stolz berichtete Jauss von der Initiavon Frage und Antwort seines philosophitive Marcel Reich-Ranickis, ihn als schen Lehrers Hans-Georg Gadamer zuAutor für das Feuilleton der Frankgespitzt hatte: Literaturwissenschaft solle ihre furter Allgemeinen Zeitung zu gewinStudenten dazu bringen, »selbst die Fragen nen, doch der etwas vorschnell an alle zu finden«, also jene »Wahrnehmungen der Mitarbeiter verteilte erste Beitrag Welt« und jene »zwischenmenschlichen Prowurde nie gedruckt. Zur Vorbereibleme«, welche hinter den literarischen Texten tung des aus der Antrittsvorlesung stünden. Oder umgekehrt – und für uns nicht abgeleiteten Projekts einer Literaturweniger eigensinnig – formuliert: Sie sollte Hans Robert Jauss geschichte des Lesers im neunzehnten sich die Erfahrung eines Problems zunächst (1921 bis 1997), der Jahrhundert in vier »synchronen strikt untersagen, um seine Lösung umso berühmte Romanist mit Querschnitten« wurden jahrelang mehr schätzen zu können. Die meisten Schü- unklarer Vergangenheit Konstanzer Magisterarbeiten initiiert ler von Jauss ließen sich auf diesen Vorschlag und aufs Regal gestellt, ohne dass von zur Umkehrung historischer Plausibilität ein, ohne sie in- dem geplanten Buch je ein Kapitel erschien. Statttellektuell ganz nachvollziehen zu können. Doch das war dessen veröffentlichte Jauss 1982 unter dem Titel typisch für die Aura der Rezeptionästhetik: Sie strahlte eine Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik eine Energie aus, in der selbst Zweifel anziehend wurden. fast tausend Seiten schwere Montage von Skizzen und Jauss hatte sein Studium 1948 in Heidelberg begonnen, Traktaten, die der Literaturwissenschaftler Harald um schon vier Jahre später mit einer Arbeit über Marcel Pro- Weinrich eine »Festung der Literaturwissenschaft« usts Suche nach der verlorenen Zeit zu promovieren, in der es nannte und deren internationale Wirkung nach einer auch schon um ein komplexes Verhältnis zwischen Zeit- englischen Teilübersetzung bald steckenblieb. Obwohl strukturen und subjektiver Erfahrung gegangen war. Zwar manche Leser in den Bemühungen von Jauss um die hole »das erinnerte Ich« bei Proust »das erinnernde Ich nie ästhetische Erfahrung tragikomische Blüten einer ganz ein«, doch es mache die »Welt des Einzelnen im Spiegel unglücklichen Liebe sahen, blieb sein Werk bis zum der Zeit als individuelles Universum« sichtbar. Jauss’ Habili- Ende akademisch gekonnt. Der Glanz der Konstanzer tation zu mittelalterlichen Tier-Epen nahm dann noch ein- Anfänge war freilich verstrahlt. mal die Motivgeschichte von Curtius aufs Korn, nun im Doch jenseits aller individuellen Projekte hat der Namen eines Geschichtsverständnisses, das er mit dem Druck, unter dem Jauss seine akademische Mitwelt Werk des österreichisch-jüdischen Emigranten Leo Spitzer hielt, institutionelle Wirkungen gehabt. Mindestens (1887 bis 1960) illustrierte – denn für das Erbe jüdischer zwölf seiner ehemaligen Assistenten haben über viele Intellektueller engagierte sich Jauss so entschlossen wie für Jahre Lehrstühle besetzt und an Generationen von die in den Institutionen der alten Bundesrepublik so oft deutschen Literaturwissenschaftlern ihre intellektumarginalisierten Marxisten. elle Prägung weitergegeben. Die Universität Konstanz ist trotz aller vorübergehenden Krisen nicht zuletzt ein Text hat mich in meinem Studium mehr dank seines treuen Korpsgeistes in der Frühphase als beeindruckt als die Antrittsvorlesung von Jauss. einzige neu gegründete Hochschule zur Elite der Ich steuerte ihre erste Übersetzung (ins Spa- deutschen Exzellenzuniversitäten aufgestiegen. Und nische) bei, und es war die Erfüllung eines schließlich hat die von ihm in den frühen sechziger Traums, als ihr Autor, der mit seinem jede Selbstironie aus- Jahren begründete Forschungsgruppe »Poetik und schließenden Ernst wie ein jüngerer Bruder von Ernst Hermeneutik« siebzehn wuchtige Sammelbände zu Jünger wirkte, mir im Frühsommer 1970 bei einem Spa- grundlegenden intellektuellen Fragen hervorgebracht, ziergang entlang des Bodensees eine akademische Mit- die wie eine monumentale Gipfelkette des deutschen arbeiterstelle anbot: Ich sei berufen, bei der »Entwicklung Geisteslebens aus der zweiten Hälfte des vergangenen der neuen Literaturwissenschaft« mitzuwirken. Die für den Jahrhunderts grüßen. Hans Robert Jauss verfasste das drahtigen Mann überraschend tiefe schwäbelnde Stimme Nachwort zum letzten dieser Bände und ist vor seinem jenes Morgens, die ausschließlich Worte wie für einen Uni- Erscheinen am 1. März 1997 gestorben. versitätsverlag produzierte, hallt noch heute in meiner ErSeit den achtziger Jahren war sein Ansehen von innerung nach. Mit ihr im Ohr übte ich dann vier Jahre einer unheimlichen Vergangenheit überschattet, lang, philosophische Fragen an literarische Texte zu stellen, über die Jauss meines Wissens mit seinen akademilernte prominente Geisteswissenschaftler aus vielen Län- schen Freunden und Schülern nie freiwillig gesprodern kennen, arbeitete hart und vertragsgemäß für die Pro- chen hat und die er hinter generationstypischen jekte meines Vorgesetzten und wurde mit ausführlichen Durchschnittserzählungen über seine Jugend herKommentaren in winzig-gestochener und deshalb voll- metisch versiegelt hielt. Zunächst stieß eine amekommen lesbarer Schrift am Rand jedes Manuskripts be- rikanische Behörde – wohl anlässlich der Bearbeilohnt – vor allem aber mit einer sehr frühen akademischen tung eines Visa-Antrags – im Fernsprechverzeichnis Berufung, 1974 im Alter von 26 Jahren. Zugleich machten des SS-Führungshauptquartiers auf den Namen der intellektuelle Stil von Jauss, besonders seine Art, Fragen »Hans Robert Jauss«. Ein Jahrzehnt später nahm zu stellen, die Konstanzer Zeit zu einem Albtraum. Kein Jauss unwidersprochen in Anspruch, dass dieser Ausscheren war vorgesehen, wenn er im kollektiven Namen Fund vom Berlin Document Center als Ergebnis der »neuen Literaturwissenschaft« Kollegen und Gäste einer bedauerlichen Verwechslung entkräftet worbloßstellte; kein Widerspruch, sondern hämische Freude den sei. Zu jenem Zeitpunkt allerdings hatte der in machte sich breit, wenn er andere Mitarbeiter unter der Wuppertal lehrende amerikanische Romanist Earl Maske »hermeneutischer Dialogizität« demontierte, ob- Jeffrey Richards entdeckt, dass sich Jauss am 17. wohl wir alle wussten, dass wir früher oder später in diesel- Dezember 1945 als Romanistikstudent an der eben be Situation kämen und dann auch nicht auf Solidarität wiedereröffneten Bonner Universität, wo Ernst Rorechnen konnten. Lob wurde so sparsam (und meist mit bert Curtius lehrte, den britischen Militärbehörden lateinischen Exklamationen wie »gratulor!« oder »ex ungue gestellt hatte. Er hatte auf den Druck reagiert, unter leonem!«) vergeben wie freie »Umtrunke« auf den gemein- den die alliierte Verwaltung seinen Vater, einen samen Bergtouren des Lehrstuhls, denen niemand entkam, Volksschullehrer im württembergischen Göppin-

K

Poster von ca. 1942: »Du auch! Deine Kameraden warten auf dich in der französischen Division der Waffen-SS«

Nichts verbaten sich die neun Konstanzer Professoren leidenschaftlicher als den Gebrauch akademischer Titel und mithin den Verdacht, je auch nur um Haaresbreite hinter dem fortgeschrittensten demokratischen Fortschritt zurückgeblieben zu sein. Dieser uns fremd gewordene, im Blick auf die Vergangenheit immer kritische und hinsichtlich der Zukunft immer optimistisch-anspruchsvolle Gestus prägte die Antrittsvorlesung von Jauss, die unter dem Titel Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft veröffentlicht und rasch in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurde – einer der großen Erfolge in der Geschichte der deutschen Geisteswissenschaften. Die während des 19. Jahrhunderts so gefeierte Gattung der Literaturgeschichte, hieß es dort, sei mit der Abtrennung ihrer historischen von ihren ästhetischen Perspektiven in eine tiefe Krise geraten und könne zu neuem Leben nur finden, wenn sie sich – inspiriert von herausragen-

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VON HANS ULRICH GUMBRECHT

gen, gesetzt hatten, weil dieser im Verdacht stand, ihn, den jüngeren Sohn, einen ehemaligen Hauptsturmführer der Waffen-SS, versteckt zu halten. Richards war auf die Spur dieser – in Deutschland nie zur Publikation gekommenen und auch nie in Abrede gestellten – Funde gelangt, weil er als Anhänger von Curtius nach Gründen für die negative Curtius-Obsession im Werk von Jauss suchte. Dabei kamen verschiedene, einander widersprechende Lebensläufe und andere belastende Dokumente zutage. Was genau Jauss als Mitglied der Waffen-SS getan und wie er die Zeit bis zum Dezember 1945 verbracht hat, wird die Nachwelt nie mit Gewissheit erfahren. Nur er selbst hätte uns diesen Dienst erweisen können – aber er hat so lange wie möglich seine Spuren gegenüber potenziellen Fragen isoliert. Im Dunkel sind auch die Jahre zwischen Ende 1945 und dem Beginn seines Heidelberger Studiums 1948 geblieben. »Kriegsgefangener« jedenfalls, wie er noch 1996 in einem Interview mit Le Monde behauptete, kann er im üblichen Sinn des Wortes nicht gewesen sein, und die »Scham«, von der er dort endlich sprach, war als kollektive Reaktion inszeniert. Jauss ist nie über sein öffentlich zur Schau gestelltes gutes Gewissen hinausgewachsen – und wenn ich das schreibe, überkommt mich der erschreckende Verdacht, dass er von sich aus vielleicht gar nichts zu verdrängen hatte.

G

ewiss dachten jene Kritiker zu geometrisch, die unterstellten, Jauss habe seine Theorien so konstruiert, dass sie als Instrumente des Verschweigens und Argumente der Entlastung fungieren konnten. Dies hätte einen kalten Zynismus vorausgesetzt, wie er dem pietistisch erzogenen Lehrerssohn von der Schwäbischen Alb nicht gegeben war. Doch am Leben von Jauss bewährt sich die gerade von ihm hochgehaltene Prämisse jedes Verstehens, nach der einschneidende Vorerfahrungen die Weltsicht von Individuen unbewusst oder halb bewusst orientieren. Dass das »erinnerte Ich« in Prousts Roman das »erinnernde Ich« nicht einholte und dabei zu einem »individuellen Universum« wurde, musste einem jungen Mann Hoffnung machen, der sich entschlossen hatte, seine kompromittierende Vergangenheit durch eine undurchlässige Barriere von der Gegenwart abzuscheiden. Noch erhellender wirkt vor dem Hintergrund des Lebens und Werkes von Hans Robert Jauss die in der Antrittsvorlesung elaborierte »Logik«: Was die Institutionen der Wissenschaft und der Universität anging, so arbeitete er an »Wahrnehmungen der Welt« und an Lösungen für »zwischenmenschliche Probleme«, wie sie Deutschland nach der historischen Katastrophe brauchte – und hatte dabei allen Anlass, der Mitwelt und sich selbst die Frage zu untersagen, woher seine nie versiegende Energie im Existenzkampf mit spitzen Ellenbogen kam. Nicht gerechnet hatte Jauss mit einer marginalen Frage (wie der nach den Gründen für seine Curtius-Phobie), die ihn ins existenzielle Stolpern bringen würde. Das alles erklärt wohl, warum viele jener Generationsgenossen, die keinen Grund hatten, eifersüchtig auf seinen Erfolg zu sein, Jauss durch das schwierige Lebensende die Treue bewahrten – denn sie gehörten ja auch zu seiner Generation, die die alte Bundesrepublik als ein neues Deutschland gegründet und als ein für immer verändertes gehegt hatte. Dass manche ihrer Protagonisten so sehr demokratisch wurden, weil sie dadurch ihre Vergangenheit auf Abstand halten konnten, hat die Wirksamkeit dessen, was sie beitrugen, nicht vermindert. Dennoch, so hoffe ich, bleibt die hartnäckige Empörung einiger von uns kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland Geborenen über unsere Väter plausibel: Denn wir erbten ja von Tätern wie Jauss die Last einer schrecklichen Vergangenheit, für die sie nicht geradezustehen wagten, für die wir nicht Verantwortung tragen können – und die deshalb manche von uns so geschwächt hat, dass sie zu ewiger Jugend verdammt geblieben sind.

Hans Ulrich Gumbrecht, geboren 1948, ist Albert Guérard Professor für Literatur an der Stanford Universität in Kalifornien, wo er seit 1989 lehrt

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FEUILLETON

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

Kraftmeierei mit Herz

Das Letzte

Mark Wahlberg spielt Micky Ward, der es von ganz unten ans Licht schafft

Fotos: Armin Smailovic (o.); Senator Film Verleih GmbH

David O. Russells preisgekrönter Boxerfilm »The Fighter« Vom echten Sport unterscheidet sich der Sportfilm vor allem durch eins: Man weiß immer schon, wie’s ausgeht. Egal, ob Fußball, Football, Autorennen oder Boxen – am Ende steht immer das alles entscheidende Match, das wichtigste Rennen, der ultimative Kampf, in dem der Held (ganz selten: die Heldin) gegen alle Widerstände einen dramatischen Sieg davonträgt. Es spielt auch keine Rolle, ob es wie bei Sylvester Stallones Rocky-Saga erfundene Geschichten sind oder um wahre Dramen geht wie in Sönke Wortmanns Nationalepos Das Wunder von Bern und Clint Eastwoods südafrikanischer Rugby-Revolutionsgeschichte Invictus – am Ende siegen die Guten und Netten. Das ist auch bei The Fighter nicht anders, David O. Russells oscar-prämiertem Boxerfilm. Er erzählt die (wahre) Geschichte von Micky Ward, dem irischstämmigen amerikanischen Halbweltergewichtler, der zunächst als Straßenarbeiter malocht und sich als besserer Kirmesboxer durchschlägt, ehe er schließlich doch im Jahr 2000, immerhin schon 34 Jahre alt, Weltmeister wird. Spannung bezieht so ein Film also nicht aus der Frage, wie’s ausgeht (das liest man bei Wikipedia und sieht es bei YouTube), sondern wie er gemacht ist. Da ist zunächst der Sport selbst, das Boxen. Stallones »italienischer Hengst« Rocky Balboa war im Ring eine Witzfigur, seine »Kämpfe« sahen aus wie Mitteldinger zwischen Kneipenschlägerei und Wrestling. Mark Wahlberg dagegen, nicht nur Protagonist, sondern auch einer der Produzenten von The Fighter, hat Wards Kämpfe sehr genau studiert und schafft es, als beinahe richtiger Boxer durchzugehen. Ein Kamerateam des Boxsenders HBO setzt seine Auftritte im Ring wie echte Kämpfe in Szene – packender war die Kraftmeierei im Kino noch nicht zu sehen. Noch besser aber gelingen die Milieustudien. Zu den Stereotypen des Sport-, insbesondere des Boxerfilms gehört ja, dass der Held von ganz unten kommen muss und auf dem langen Weg ans Licht den Wert der Familie schätzen und seine falschen von den echten Freunden zu unterscheiden lernt. Wie Russell gleich in der ersten Szene die Arbeiterstadt Lowell, ihre Bewohner, deren Held Ward und dessen Sippe zueinander in Beziehung setzt, ist so packend, dynamisch, ergreifend wie ein paar Runden Ali gegen Frazier. Das Erfolgsgeheimnis des Boxers Ward und des Films ist die Beziehung zum älteren Halbbruder Dicky Eklund, auch er ein Fighter, der es immerhin schaffte, einen Kampf gegen den großen Sugar Ray Leonard stehend zu beenden. Nun trainiert er den jüngeren Bruder – und kämpft lange Zeit vergeblich gegen seine Cracksucht. Die eigentliche Sensation des Films ist, mit welcher Besessenheit Christian Bale sich in diesen auf der Rasierklinge des Lebens tanzenden Hallodri verwandelt. Dass es dafür nur den Nebenrollen-Oscar gab, ist ungerecht; der Hauptdarsteller Mark Wahlberg jedenfalls, der Micky als Stoiker zeigen will und doch meist nur fade wirkt, wird von ihm vollständig in die Ecke gedrängt. Zudem hat der Ärmste einen weiteren übermächtigen Gegner: die ebenfalls völlig zu Recht mit einem Oscar für die beste Nebenrolle ausgezeichnete Melissa Leo als Alice Ward, die Mama und Managerin der beiden Fighter, das Flintenweib mit dem großen Herzen, die Königin der weißen Unterschicht. Zu ihrem herzergreifend bizarren Hofstaat gehören sieben kaputtblondierte Töchter, die sich auf Kosten des Bruders die Hintern breit sitzen und dessen ehrgeizige Freundin Charlene (Amy Adams) in bester Schlampenmanier drangsalieren. Wer ein solches Ensemble hat, braucht sich um vorhersehbare Enden nicht viele Gedanken zu machen. CHRISTOF SIEMES

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Beckmann (Felix Knopp) kann seinen Spiegelzwilling am Bühnenhimmel nicht sehen

Abgrund, von oben gesehen Luk Perceval inszeniert Borcherts »Draußen vor der Tür« in Hamburg

E

in Mann tritt auf, der keinen Vornamen besitzt; den hat man ihm im Krieg weggeschossen. Nun bleibt ihm nur das, was man braucht, um von einem Vorgesetzten ins Feuer geschickt zu werden: ein Brüll- und Nachname. Der Mann heißt Beckmann. Beckmann hat den Krieg überlebt. Drei Jahre nach der Schlacht um Stalingrad kehrt er zurück nach Deutschland. Er ist in einen Heeresmantel gehüllt, er hinkt, weil ihm eine Kniescheibe fehlt, und er trägt immer noch die Brille, die er im Krieg unter der Gasmaske trug und die ihm, wie er selbst sagt, ein »Robotergesicht« gibt. Mit Beckmann fing einst die deutsche Dramatik wieder an: ein erschöpftes Gesicht, eingeschirrt in Metall. Das Stück, in dem er auftaucht, stammt von Wolfgang Borchert und heißt Draußen vor der Tür, es ist das erste große Stück nach dem Zweiten Weltkrieg, aber es beschreibt keinen Neuanfang, es handelt vom Nach-Krieg, an dem Beckmann zugrunde geht (auch Borchert hat ihn nicht überlebt, er starb am 20. November 1947, am Tag vor der Uraufführung von Draußen vor der Tür, im Alter von 26 Jahren). Der Krieg ist noch im Gang in den Albträumen Beckmanns: Dort schreien die Toten und Verwundeten, die er als Unteroffizier in den Untergang geführt hat. Und der Krieg geht weiter in Beckmanns Gegenwart: Die Überlebenden kämpfen um Geltung, Liebe, eine warme Wohnung. Immer wieder fallen Türen ins Schloss, und Beckmann bleibt draußen. Gleich zu Beginn will er sich ertränken, aber selbst die Elbe, in die er springt, stößt ihn wieder aus: »Du bist mir zu wenig, mein Junge. Lass dir das von einer alten Frau sagen: Lebe erst mal. Lass dich treten. Tritt wieder!« Es ist oft geschrieben worden, der wahre Kern von Borcherts Stück sei: ein Schrei – der Schrei der gepeinigten Kreatur. Am Hamburger Thalia Theater wird es jetzt genau so begriffen. Der Regisseur Luk Perceval hat Draußen vor der Tür als einen Vielklang von Stimmen inszeniert, bei dem man nicht weiß, ob er außerhalb von Beckmanns Kopf überhaupt zu hören ist. Wir alle, so die Suggestion, sind

in Beckmanns Kopf. Und Beckmanns Schmerz ist so groß, dass er ihn nur singend ertragen kann. Percevals Aufführung ist ein Theaterkonzert, in welchem der Schauspieler Felix Knopp (als Beckmann) auf einer leeren Bühne steht und sich an einen Mikrofonständer klammert, wie es die großen, todgeweihten Rocksänger tun. Er spricht Borcherts Text, die Dialoge und die Monologe, er wispert ihn, er heult ihn in die Musik der Rockband My Darkest Star hinein, die am Rand der Bühne spielt – Gitarre, Bass und Schlagzeug. Er verrät, was innere Stimmen ihm zuflüstern: ein vom Beichtund Redezwang gehetzter Improvisationskünstler eher als die Hauptfigur eines Dramas. Ein Mann, der seine Schuld loswerden will. Schattenwesen verfolgen ihn. Diese Wesen werden von Mitgliedern des Thalia-Theaterprojektes Eisenhans dargestellt, es sind Spieler, die mit dem Down-Syndrom geboren wurden. Felix Knopps große Partnerin, die nahezu alle anderen Sprechrollen spielt, den rülpsend überfressenen Tod, den einsamen Gott, den prätentiösen Kabarettdirektor, ist die Schauspielerin Barbara Nüsse. Die Figuren, die sie, wie nebenbei, in grandioser Schärfe zeichnet, verhalten sich zum Wiederkehrer Beckmann wie Wiedergänger, hämische Untote, welche den müden Krieger nun, da er zu Hause ist, in den Untergang hetzen. In Barbara Nüsses dunklen Tönen, ihrem Jenseits-Timbre, lebt der tödliche Witz von Borcherts Text. Die größte Szene des Abends zeigt, wie Beckmann seinen ehemaligen Oberst aufsucht, damit der ihn von seiner Schuld losspricht. Er könne nicht mehr schlafen, sagt Beckmann, die Angehörigen der Toten verfolgten ihn. Der Vorgesetzte, beim Abendessen gestört, empfängt Beckmann und kaut einfach weiter, es ist das malmende Geräusch eines in den Untergang marschierenden Heeres, der Gleichschritt der Zähne. Luk Perceval hat schon öfter versucht, einem Theaterabend die Spannung eines Konzertes zu geben, mal hat das glorios funktioniert (bei seinem Münchner Othello), mal ging es peinsam schief (in seinem Salzburger Molière-Marathon). Bei Drau-

VON PETER KÜMMEL

ßen vor der Tür gelingt es. Das liegt an der »Sangbarkeit« von Borcherts Sprache. Und es liegt auch an der Bühnenbildnerin Katrin Brack. Ein Bühnenbild von Brack erkennt man daran, dass in ihm die Erinnerung an eine Aufführung wie in einem Etui aufbewahrt ist. Ein Brack-Bühnenbild ist ein zum Raum gewordener einfacher Einfall, der einen Abend in seiner Wirkung zusammenfasst. Hier nun, bei Draußen vor der Tür, hängt sie einen riesigen geneigten Spiegel über die Bühne, worin alles, was auf der Bühne geschieht, »von oben« zu sehen ist: Man erfasst zugleich das Individuum und das wimmelnde Menschenmaterial, die Großaufnahme und das Google-Earth-Geschehen. Man beginnt, die gespiegelte, in der Spiegelung »stehende« Drehbühne wie eine riesige Uhr, ein leeres Zifferblatt zu betrachten. Die Darsteller werfen lange Schatten über diese Bühne, und als Beckmann sich müde im Scheinwerferkegel niederlegt und zu singen beginnt, sieht das, in der Spiegelung, so aus, als läge er hoch über uns, im Mond. Beckmann, weit draußen vor der Tür: Ein Mann, aus der Welt verstoßen. Am Schluss der Aufführung, wenn alle Darsteller starr am Boden liegen, sieht man, wie die Drehbühne sich in Bewegung setzt. Im Spiegel erscheint sie wie ein Mühlrad, das mit Körpern besetzt ist; ein Mühlrad, das die Toten aus ihren Gräbern hochwälzt. Es ist ein großes Bild, und es wirkt gerade so, als wäre es Beckmanns Kopf entsprungen. Denn ein wenig früher im Stück sagt Beckmann: »Die Toten wachsen uns über den Kopf. Gestern zehn Millionen. Heute sind es schon dreißig. Morgen kommt einer und sprengt einen ganzen Erdteil in die Luft. Nächste Woche erfindet einer den Mord aller in sieben Sekunden mit zehn Gramm Gift. Sollen wir trauern!? Prost, ich hab das dunkle Gefühl, dass wir uns beizeiten nach einem anderen Planeten umsehen müssen. Prost!« Weder Beckmann noch sein Schöpfer Borchert haben das Jahr 1947 überlebt. Aber beide sind noch da: mitten unter uns.

In einem dieser beliebten Fragebögen gibt es die Frage: »Was würden Sie tun, wenn Sie einen Tag lang Bundeskanzlerin sein könnten?« Man kann sich natürlich (wie diese törichte Frau im Märchen) eine Bratwurst wünschen, und wir dürfen annehmen, dass man eine besonders leckere Bratwurst bekäme, weil es zu den wenigen Vorzügen des Bundeskanzlerseins gehört, dass man jemanden losschicken kann, eine besonders leckere Bratwurst zu holen. Etwas intelligenter allerdings wäre die Antwort: »Ich würde eine Ethikkommission gründen.« Während nämlich die alleinerziehende Mutter bei der herzzerreißenden Frage, ob sie es ihrem Jüngsten erlauben soll, diesen angesagten Club auf der Reeperbahn zu besuchen, mutterseelenallein dasteht und liebend gerne eine Ethikkommission einberufen würde, wenn sie nur das Geld und das Prestige hätte, kann die Kanzlerin, wann immer sie in der Klemme ist, sich der Hilfe von Sachverständigen bedienen, ganz wie früher die Könige, die ein Heer von Leibärzten und Sterndeutern, Hofnarren und Philosophen um sich scharten. Gründlich bedacht, gibt es keine Frage, die mit einem schlichten Ja oder Nein sofort zu beantworten wäre, was daran liegt, dass die einfachen Fragen sich sowieso von selbst erledigen und die schwierigen zur Unlösbarkeit neigen. Deshalb gründen die Regierenden gerne Kommissionen, so wie Angela Merkel jetzt eine gegründet hat, die alle Fragen zur Zukunft der Atomenergie beantworten soll. Genau besehen, gibt es allerdings nur eine einzige Frage: Ja oder nein? Aber schließlich ist Angela Merkel keine alleinerziehende Mutter, sie ist Kanzlerin und hat folglich ein Recht auf besonders leckere Bratwürste und auf die Gründung von Kommissionen. Man hätte übrigens diesen Weg schon früher beschreiten sollen. Erinnert sich noch jemand an den Streit um das Tempolimit, der 1974 die Nation erschütterte? Hätte Willy Brandt damals eine Ethikkommission einberufen, hätten wir zwar immer noch kein Tempolimit, aber eine Kommission. Wie eigentlich wird man Mitglied eines solchen Gremiums? Schauen wir auf die Atomkommission. Da sind unter anderem drin der Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken, der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie der Präsident der deutschen Unesco-Kommission. Also: Mitglied einer Kommission wird, kann man sagen, wer schon Mitglied einer Kommission ist. Und wer nicht Mitglied einer Kommission ist? Der muss halt Kanzler werden. FINIS

WÖRTERBERICHT

Stresstest Atomkraftwerke sollen, wie bereits Banken, einem Stresstest unterzogen werden. Den Begriff Stress prägte 1936 der Biochemiker Hans Selye und meinte eine physische und psychische Belastung, einhergehend mit Kummer und Sorgen. Hat ein Atomkraftwerk eine Physis? Vielleicht der Reaktor. Hat es gar eine Psyche? Womöglich die Brennstäbe. Der Stresstest ähnelt einem Allergietest; nur dass der Reaktor anstatt auf Beifußpollen auf improvisierte Naturkatastrophen und Terroranschläge reagieren soll. Allein die Vorstellung lässt Stress aufkommen. Wer weiß, ob nicht ein allzu realistischer Test erst die Katastrophe beschert. In Wahrheit ist er natürlich nur als Gedankenspiel gemeint; denn ein echter Terrorist wird sich vermutlich nie dem Stress aussetzen, um zum Beispiel nach Brunsbüttel zu gelangen. HEIKE KUNERT www.zeit.de/audio

GLAUBEN & ZWEIFELN nichtet werden. »Sehr gut« oder »mangelhaft« – nach zehn Jahren ist die Abiturklausur dahin. Gleiches gilt für digital abgegebene Steuererklärungen oder den Eintrag im Strafregister. Auch sie müssen irgendwann vernichtet werden. Daraus ließen sich Standards entwickeln für Soziale Netz-

für die Gegenwart nutzbar zu machen. Das digitale Zeitalter hat dieses Verhältnis von Erinnern und Vergessen umgekehrt. Heute müssen wir uns anstrengen, Unwichtiges loszuwerden. Das Problem beginnt also dort, wo der Mensch zu faul zum Denken wird. Wo er nicht mehr ent-

wollen? Wie lernen wir zu trennen zwischen dem, was dauerhaft wichtig ist für das persönliche Leben, für die Arbeit, für die Geschichte einer Gesellschaft, und jenem, was dahingesagt ist, nur für den Augenblick Bedeutung gewinnt? Eric Schmidt, der Aufsichtsratsvorsitzende von Google, hat schon einen Vorschlag: »Wir werden wissen und euch dabei helfen, auf welchen Aspekt ihr eure Aufmerksamkeit richten müsst. Was ich denke, was ich tue – wir können euch helfen, das herauszufinden, wir können helfen, herauszufinden, was euch derzeit am wichtigsten ist.« Das hieße allerdings: Doch alles speichern und lernen, mit der Omnipräsenz der Informationen umzugehen. Diese Lösung wäre naheliegend. Denn auch sonst ist Vergessen ja kein aktiver Akt. Schon in dem Moment, wenn ein Gedanke oder ein Bild oder ein Text entsteht, darüber entscheiden zu müssen, wann er wieder vergehen soll – das widerstrebt uns zutiefst. Ohnehin versinkt vieles schnell im Datenmeer und kann nur durch intelligente Suchtechnik zurück an die Oberfläche befördert werden. Darin ist das Netz dem menschlichen Erinnerungsprozess nicht unähnlich. Vergessen, so lernen wir von der Literaturwissenschaftlerin und Erinnerungsforscherin Aleida Assmann, ist nicht gleichbedeutend mit Vernichtung, war es noch nie. Was vergessen ist, muss nicht auf ewig verschollen sein; ihm wird nur gerade kein Belang zugebilligt. Stattdessen landet es im Speicher. Der stiftet keinen Sinn und begründet keine Werte, er stellt aber Zusatzwissen bereit, welches wir nutzen können. Wissen, das vonnöten scheint, um die Gegenwart zu bewältigen, kann später umso wichtiger werden. Irgendwo gespeichert, bleibt es verfügbar. Man könnte also argumentieren: Es ist nicht wichtig, was gespeichert wird, sondern wie wir mit diesem Speicher umgehen. »Google niemanden vor dem ersten Date« ist ein Leitsatz, der sich gerade unter Jugendlichen ausbreitet. In ihm deutet sich an, dass sich gesellschaftliche Konventionen entwickeln könnten, die regeln, wie wir Daten abfragen und was wir damit tun. Allerdings sind dann nicht mehr alleine wir diejenigen, die unsere Wohnung aufräumen. Vielmehr wühlt Google für uns im häuslichen Wirrwarr. Eine ausgelagerte Instanz redet also mit, wenn es darum geht, was uns wichtig ist, und schreibt vor, wie gesucht wird. Das muss man wollen. Und man muss großes Vertrauen in die persönliche Souveränität hegen. Denn während einer solchen Suche können schnell Relikte eines heftigen, längst beigelegten Streits mit dem besten Freund wieder auftauchen, weil da noch eine alte E-Mail übrig war. Wer aber kann sich immer davon freimachen, dass dies nicht vergangen ist? So wächst aus einem einfachen Speichervorgang ein ewiges Sündenregister heran und untergräbt ein konstituierendes Element unseres Zusammenlebens: vergeben zu können. Selbst für einen Mörder ist in Deutschland die Haft als Weg zurück in die Gesellschaft gedacht. Das Netz hält dagegen die Strafe des ewigen Erinnerns bereit. Vergebung kann aber nur wirken, wenn die Erinnerung an Tat und Schaden verblasst und der frei werdende Raum mit neuen Erfahrungen gefüllt wird. Vergessen ist also eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Sie schafft Raum, die Welt kreativ zu gestalten. Neues entsteht nur dort, wo Altes stirbt. In Wirklichkeit sind wir es, die das Vergessen erschwert haben, und es liegt an uns, dies zu verändern. Das Netz ist kein Gott, sondern menschengemachte Technik. Es zwingt uns dazu, unsere moralischen Maßstäbe und die Art unseres Zusammenlebens neu zu bedenken. Es verlangt von uns, aktiv Vergessen und Vergeben zu üben. Letztlich müssen die Bewohner des digitalen Zeitalters sich selbst ermächtigen, darüber zu entscheiden, welche Erinnerungskultur in der Gesellschaft gelten soll. Abb. (Ausschnitt): Kirchenfenster in der kath. Kirche Sankt Joseph Essen-Katernberg von Herbert Schiffer ( Jülich); Fotos: Helmut Fleer (Fenster); Max Kohr/DJV-Bildportal (Computer) Montage: DZ

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ahrtausendelang hat der Mensch daran gearbeitet, dem Vergessen ein Ende zu bereiten. Lehmtafeln, Papyrus, Pergament, Papier, Buchdruck, Bibliotheken, Archive, Datenbanken – alles diente nur diesem einen Ziel. Denn ohne Erinnerung ist zivilisatorische Entwicklung nicht denkbar. Und jetzt endlich ist es so weit: Das Internet vergisst nichts mehr. Doch manchen Zeitgenossen ist das auch wieder nicht recht. Viktor MayerSchönberger liebt das Internet und will, dass es funktioniert. Deshalb hat er früher einmal eine höchst erfolgreiche Software gegen Computerviren geschrieben. Heute fordert der Politikwissenschaftler nicht weniger als die Wiedereinführung des Vergessens. Es geht ihm nicht nur um abstrakten Datenschutz. Die Frage ist vielmehr, wie wir in Zukunft unsere moralische Integrität schützen und ob Vergessen und Vergeben bestimmende Kategorien unseres Zusammenlebens bleiben. Denn das Netz speichert alles. Keine winzige Information, keine E-Mail, kein noch so peinliches Online-Foto, kein Twitter- oder Facebook-Eintrag, keine Buchungsanfrage beim Reiseanbieter ist jemals dahin. Die digitalen Speicher haben die Gesellschaft ihrer Fähigkeit zum Vergessen beraubt und ihr stattdessen ein umfassendes Gedächtnis verliehen. Ein Gedächtnis, das unfrei macht, weil jeder unserer Schritte, jeder fixierte Gedanke kontrollierbar wird. Ein Gedächtnis, das es erlaubt, unsere Worte und Taten umfassend zu rekonstruieren. Das die Zeit kollabieren lässt, weil wir nicht mehr unterscheiden können, was lange vergangen und was eben erst geschehen ist. »Das Netz verweigert uns Menschen die Gelegenheit zur Entwicklung, zum Wachsen und Lernen«, schreibt Viktor Mayer-Schönberger, »und lässt uns hilflos die Wahl zwischen zwei gleichermaßen beunruhigenden Optionen: einer permanenten Vergangenheit und einer ignoranten Gegenwart.« Und es kommt noch schlimmer. Mit jedem Tag nimmt der Grad der Vernetzung zu. Wenn ich ein Bild von mir lösche, kann es schon hundertfach kopiert irgendwo im Internet zu finden sein. Selbst wenn ich alle diese Bilder entfernte, wären sie längst verlinkt, kommentiert oder mittels »Gefällt mir«-Hinweis in Sozialen Netzwerken verbreitet. Ein Rest bleibt immer zurück. Sogar wenn ich digitale Abstinenz übe und mich keinem Rechner auf mehr als einen Meter nähere, tauchen meine Signale doch immer wieder im Netz auf: weil der kleine Bruder ein Digitalfoto von mir auf seine Facebook-Seite lud; weil ein Vortrag von einem Zuhörer mit dem Smartphone gefilmt wurde; weil der Sportverein die Meldelisten für den Volkslauf online stellte. Davor schützen weder Datenschutzgesetz noch Widerspruchsregel. Vergessen im digitalen Zeitalter? Hübsches Gedankenexperiment, realitätsinkompatibel. Falsch gedacht! Man könnte dem Netz das Vergessen nämlich leicht beibringen. Alle Informationen, die im Internet zu sehen sind, organisieren sich als einzelne Dateien. Fotos und Filme werden hochgeladen, Texte in einzelnen Bausteinen abgespeichert. Diese Daten haben sogenannte Meta-Informationen, die man nicht sieht, wenn man auf einer Website surft, die aber beispielsweise den Umfang oder das Datum ihrer Veröffentlichung angeben. Oder ein Verfallsdatum, schlägt MayerSchönberger vor. Informationen, die man länger oder für immer erhalten will, müsste man dann aktiv sichern. Es entstünde eine neue Form der Konzentration und Hierarchie von gespeichertem Wissen. Banales verschwände, Wichtiges bliebe erhalten. Längst werden ja Daten systematisch aus dem Netz gelöscht. Digitale Akten des Staates von seinen Bürgern unterliegen beispielsweise ebenso Archivierungs- und Datenschutzvorschriften wie analoge und müssen nach bestimmten Fristen ver-

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Das Netz straft uns mit unlöschbaren Einträgen, jetzt auch auf dem iPad

Kein Vergeben, kein Vergessen Das Internet hat ein gnadenloses Gedächtnis: Sein Wissen über die Menschen hält ewig VON KARSTEN POLKE-MAJEWSKI

werke, für öffentlich zugängliche Datenbanken und Suchmaschinen. Dann fragt der Fotoapparat nach jedem Knipsen: Wie lange willst du dieses Bild behalten? Gerade in einer Welt, wo bald jedes Ding Informationen sammelt und speichert, sind solche Regeln dringend geboten. Wer so denkt, argumentiert nicht automatisch gegen das Erinnern im Netz. Aber er wehrt sich dagegen, dass jede kleinste digitale Regung gespeichert wird. Denn erst das Vergessen befähigt den Menschen, zu verallgemeinern und von konkreten Erfahrungen zu abstrahieren. Früher war es anstrengend, sich zu erinnern und dieses Erinnern

scheiden mag, was es wert ist, aufgehoben zu werden, und was nicht. Wo er sich in die Bequemlichkeit ergibt, alles ablegen zu können, am Ende irgendwo in den digitalen Wolken des Netzes. Denn das Wohnzimmer ist nicht schuld, wenn es unordentlich aussieht. Aber es macht das Leben ungemütlich, mit zunehmendem Durcheinander unerträglich. Genauso ist es mit der digitalen Technik. Bedeutung ist für sie keine Kategorie. Ihre Speicher- und Suchfunktionen unterscheiden noch wenig zwischen wichtig und verzichtbar. Dies bedenkend, kommen wir der eigentlichen Frage näher: Wer definiert, woran wir uns erinnern

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DAS IST MIR HEILIG

Wir Muslimbrüder Was der Westen denkt und was wir wollen VON MUHAMMED GOUDA Gott und der Koran sind mir heilig, aber auch die Menschenrechte. Ich träume von wahrer Demokratie in Ägypten, von freien und gerechten Wahlen, ohne Polizeiknüppel und Bestechungsgelder. Wenn die Muslimbrüder an die Macht kommen, sollten sie bei der Bevölkerung für ihre islamischen Ideen werben. Zum Beispiel, dass anstößige Szenen in Liebesfilmen zensiert werden. Ich stelle mir auch vor, dass Azhar-Gelehrte überprüfen, ob die ägyptische Gesetzgebung wirklich islamischen Prinzipien entspricht. In der Verfassung gibt es zwar einen Verweis auf die Scharia, aber der ist bloß nominell. All das geht allerdings nur, wenn wir die Mehrheit der Ägypter wirklich von unseren islamischen Ideen überzeugen können. Wenn den Muslimbrüdern dies nicht gelingt, sollen sie auf jeden Fall zurücktreten. Mein Traum ist, dass die gesamte arabische Welt unter einem einzigen islamischen Dach zusammenfindet. Der Islam soll die ganze Welt erreichen, damit die westliche Welt endlich ihre Vorurteile verliert, dass der Islam böse und terroristisch sei. Meine politische Vision für Ägypten ist, dass sie so wird wie die Türkei, allerdings ohne säkulare Armee. Mord an Andersgläubigen, wie in Pakistan am Katholiken Shabbaz Bhatti, der den »Blasphemie-Paragrafen« kritisierte, ist ein Verbrechen. Der wahre Islam schreibt vor, niemanden anzugreifen, außer in Notwehr. Gerade die Christen haben bei uns ja eine besondere Wertschätzung. Nach meiner Überzeugung sind die Kopten ein Teil von Ägypten. In der islamischen Lehre ist auch nicht festgelegt, dass nur Männer Führungspositionen übernehmen können. In islamischen Überlieferungen ist sogar oft die Rede von Frauen, die sich durch besondere und vorbildliche Taten auszeichnen. Falls allerdings eine Frau für das Präsidentenamt in Ägypten kandidierte, würde ich sie nicht wählen. Aufgezeichnet von THILO GUSCHAS Muhammad Gouda, 29, arbeitet in Kairo als Informatiker für die Automobilindustrie und ist Mitglied der Muslimbruderschaft

EX CATHEDRA

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In einem Planetarium war ich leider nie. Ich habe mich als Kind sehr für Astronomie interessiert. Ich war stolz und bin es bis heute, dass ich alle Namen der Planeten unseres Sonnensystems auswendig kann. Aber jetzt wird es mir unheimlich: immer weitere Galaxien, immer größer das Universum. Das macht mir Angst. Wo sitzt denn der liebe Gott? So stelle ich mir Erlösung nicht vor, dass man rumschwebt durch irgendwelche Galaxien.

«

Die Erzählerin Gabriele Wohmann, 78, stammt aus einer Pastorenfamilie. Eben erschien von ihr »Sterben ist Mist, der Tod aber schön« (Herder)

Antisemiten gehören fast schon dazu Wieder einmal wurde die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora geschändet. Warum der alte Judenhass immer offensiver wird

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uden raus« steht in großen Lettern am Mahnmal. Und: »Massenmord in Palästina: Holocaust durch die Rabbiner«. Daneben prangen SS-Runen und ein Hakenkreuz, angebracht von bislang Unbekannten Ende vergangener Woche im thüringischen Nordhausen. Das Mahnmal bildet das Zentrum eines Ehrenfriedhofes, auf dem im April 1945 auf Anweisung der amerikanischen Streitkräfte mehr als 2200 Opfer des NS-Regimes bestattet wurden, überwiegend KZ-Häftlinge, aber auch mehrere Hundert ums Leben gekommene ausländische Zwangsarbeiter und deren Kinder. Die meisten Opfer stammten aus einem Außenlager des KZ Mittelbau-Dora, einer ehemaligen Kaserne. Dort hatte die SS im Januar 1945 ein Auffanglager für Räumungstransporte aus Auschwitz eingerichtet. Als die Amerikaner am 11. April 1945

in Nordhausen einrückten, entdeckten sie in der Kaserne die Leichen von 1300 bis auf die Knochen abgemagerten KZ-Häftlingen, darunter vielen Juden, die sie in den Folgetagen auf dem neu angelegten Ehrenfriedhof bestatten ließen. An der Einweihung des Friedhofs nahm auch ein amerikanischer Rabbiner teil, der half, den Toten eine würdige Ruhestätte zu geben. Doch die Amerikaner verfolgten mit der Bestattung der KZ-Opfer, zu der Hunderte Nordhäuser zwangsverpflichtet wurden, noch ein anderes Ziel: Das Sühnebegräbnis sollte Täter und Zuschauer zugleich strafen und umerziehen; sie sollten hautnah erfahren, wohin Rassenhass und Antisemitismus führen. Doch die meisten Deutschen reagierten mit Abwehr und stilisierten sich zu Opfern alliierter Willkür. Manche vermuteten hinter der Reeducation gar die jüdische »Weltverschwörung« und

VON JENS-CHRISTIAN WAGNER

schufen die Legende, der Holocaust sei eine Erfindung zur Durchsetzung zionistischer Interessen. Es ist nicht das erste Mal, dass der Nordhäuser Friedhof geschändet wurde, wie überhaupt sich in letzter Zeit Angriffe auf das Andenken der Opfer des KZ Mittelbau-Dora häufen. Im April letzten Jahres etwa zerstörten Unbekannte in Göttingen mehrere Banner einer Wanderausstellung zur Geschichte des Konzentrationslagers, einige Monate später hackten Rechtsextremisten die Homepage der Gedenkstätte und hinterließen rechte Parolen. Der jetzige Vorfall jedoch ist in seiner Abscheulichkeit ein neuer Tiefpunkt. Und es ist wohl kein Zufall, dass er kurz vorm Jahrestag der Lagerbefreiung am 11. April erfolgte, dem Tag, an dem Überlebende alljährlich nach Nordhausen reisen, um ihrer ermordeten Mithäftlinge zu gedenken. Und noch ein Jahrestag

jährte sich unmittelbar nach dem Übergriff. Anfang April 1945 zerstörten britische Bomber weite Teile Nordhausens. An den von der Stadtverwaltung organisierten Gedenkveranstaltungen für die Opfer der Luftangriffe nehmen seit einigen Jahren auch Vertreter der im Stadtrat sitzenden NPD teil. Letztes Jahr legten sie gemeinsam mit Angehörigen »Freier Kameradschaften« und »autonomer Nationalisten« ungestört einen Kranz für die Opfer des »alliierten Luftterrors« nieder – direkt neben dem der Jüdischen Gemeinde. Und auch in diesem Jahr waren die Neonazis wieder mit einer großen Gruppe vertreten. Schamlos nutzen Rechtsextreme die Trauer der Nordhäuser um die Opfer der Luftangriffe für antiamerikanische Propaganda und antisemitische Hetze. Wer sich an Stammtischen und selbst unter vermeintlich aufgeklärten Zeitgenossen umhört, merkt,

dass Kritik an Israel allzu häufig mit Antisemitismus Hand in Hand geht. Neu ist das nicht. Es handelt sich um den altbekannten, eher rassistisch als religiös motivierten Judenhass, der sich des traditionellen Arsenals antisemitischer Stereotype bedient. Neu ist lediglich, dass er so offensiv vorgetragen und vor allem: hingenommen wird. Ein Problem, über das man nicht spricht, gibt es nicht – so scheinen nicht nur in Nordhausen viele zu denken. Hinzu kommt die Sorge über den Ansehensverlust der Stadt bei Touristen und Investoren. Doch mit Totschweigen bekämpft man Antisemitismus nicht. Die Deutschen müssen sich klarmachen, dass zu einem kritischen Geschichtsauch ein kritisches Gegenwartsbewusstsein gehört. Der Autor ist Historiker und Leiter der Thüringer KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora

REISEN

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V ER A N T WORT U NGS VOL L R EISEN

Fotos: Wolfgang Gehrmann für DIE ZEIT (gr.); Katharina Siebert für DIE ZEIT (kl.); PR (kl., 2. v. o.)

Fair gehandelt, öko, bio – was ist dran an den neuen Verheißungen eines besseren Tourismus? Eine Begutachtung von der Pauschalreise durch Südafrika bis zu den Gütesiegeln europäischer Hotels (Seite 65–67)

Erste und Dritte Welt nebenein ander. Bucht bei Kapstadt (links), Michael Lutzeyer mit Schülern, Garden Lodge in Grootbos

Kap des guten Willens Unterwegs auf der südafrikanischen Garden Route nach den Regeln des fairen Handels

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er Mann kann begeistern. Anfangs stehen die neun Schüler mit den roten Käppis etwas verdruckst vor der Tafel. Sie haben über das Unterrichtsende hinaus im Klassenzimmer auf Besucher warten müssen, denen sie über ihre Schule berichten sollen. Aber dann kommt dieser alte Graubart in Shorts und lässt mit den richtigen Stichworten, die er mit kräftigem Organ in leicht ostpreußischer Sprachfärbung vorbringt, seinen eigenen Enthusiasmus auf die Kids überspringen. Sie erzählen, wie toll es hier ist und was sie alles lernen. Am Ende singen sie ihr Lieblingslied mit solchem Einsatz, dass beinahe das Schuldach abhebt. »Green Futures« heißt die Sache, auf die sich die allgemeine Begeisterung richtet. Die Schule bildet junge Gärtner aus. Wir sind in Grootbos, in Südafrikas westlicher Kapprovinz. Der Mann in den Shorts heißt Michael Lutzeyer, und im Hauptberuf betreibt er hier eine Fünf-Sterne-Lodge. Seinen beträchtlichen Elan richtet der Hotelier aber zugleich darauf, gegen Unwissenheit, Armut und Deklassierung der Jugendlichen aus den schwarzen Townships der Gegend vorzugehen. Deshalb hat er diese Gartenschule aufgebaut. Er finanziert die Lehrer. Er bezahlt den Schülern Frühstück und Mittagessen. Er gibt jedem ein wöchentliches Taschengeld von 15 Euro. Und er hängt sich selbst rein. Mit guten Taten hat Lutzeyer für seinen Hotelbetrieb das Zertifikat der Nichtregierungsorganisation Fair Trade in Tourism erworben. Deshalb sind wir hier. Wir bereisen die Garden Route an der südlichsten Küste Afrikas. Die gesamte Tour, die der kleine Reiseveranstalter SKR aus Köln geplant hat, trägt das Siegel des guten Tourismus. Fair Trade heißt in dieser Branche: Das Geschäft mit den Fremden darf der Umwelt nicht schaden und soll, statt die Gewinne ausländischer Touristikkonzerne zu mehren, die Lebensbedingungen der einfachen Menschen im Land verbessern. Der deutsche Kaufmann Michael Lutzeyer hat vor 20 Jahren an der Walker Bay oberhalb der Stadt Stanford eine alte Farm gekauft – 123 Hektar bewaldetes Hügelland, das im Süden ein wilder, weißer Dünenstrand gegen den Indischen Ozean begrenzt – und zur Grootbos Nature Reserve ausgebaut. Um seinen Bedarf an Gärtnern zu decken, richtete er die Schule ein. Und dachte weiter: Wenn es gelänge, das frische Wissen der Gärtner, die aus den umliegenden Townships kamen, in die Armensiedlungen zurückzutragen, könnte man dort eine Selbstversorgung aufziehen. Leicht war es nicht, die Gärtnerei in Schwung zu bringen. Im Eilschritt läuft Lutzeyer durch die Rabatten und deutet auf die dichten Hecken, die jedes Beet begrenzen. Sie müssen Kräuter, Salat und Gemüse gegen den cape doctor schützen, einen kalten Wind aus der Antarktis, der oft über die Hügel streicht. »Wir haben anfangs manches falsch gemacht und Lehrgeld gezahlt«, sagt Lutzeyer. Die Kids aus den Townships haben auch nicht unbedingt die besten Lernvoraussetzungen mitgebracht. Im Kurs Life Skills lässt der Chef ihnen ein paar Grundlagen fürs Leben beibringen: Zeitmanagement etwa, das heißt pünktlich aufstehen und in der Schule erscheinen, den Umgang mit Telefonbuch und Bankkonto, Auto fahren ...

Lutzeyer sagt: »Es gibt nichts Schlimmeres als Jugendliche ohne Arbeit und ohne Perspektive. Deshalb machen wir das hier.« Er hat den Kids auch ein Sportzentrum eingerichtet. Es liegt in exakt gleicher Distanz zur »weißen« Stadt Stanford und zu den Siedlungen der Schwarzen und farbigen Mischlinge, die im staatsoffiziellen Neusprech der Post-Apartheid »vormals benachteiligte Individuen« heißen. Kinder jeglicher Hautfarbe bolzen dort zusammen. Auch die Gärtnerschule ist inzwischen ein Erfolg. Lutzeyer sagt stolz: »Am Ende des Kurses beherrschen die Absolventen ein paar Hundert Pflanzenbezeichnungen – auf Lateinisch.« Vor allem aber trägt die Gärtnerei sich selbst. Sie verkauft ihre Erzeugnisse zu reellen Preisen auf dem Markt und an Lutzeyers Hotel. Einen Gärtner alten Schlags haben wir ein paar Tage zuvor getroffen. Last Night, so heißt der Mann wirklich, lebt seit 92 Jahren auf der Leeuwenbusch-Farm, wo er noch heute Tag für Tag mit einem Blätterbesen die Wege sauber hält. Die Farm gehört zum Großwildreservat Amakhala, 60 Kilometer östlich von Port Elizabeth, wo unsere Tour begonnen hat. Last Night hat sich vor drei Jahrzehnten dagegen gesperrt, in Rente zu gehen, und deshalb lässt ihn der Farmer für 250 Euro monatlich seinen Job weitermachen. William Fowlds wirkt auf den ersten Blick wie ein Großgrundbesitzer aus einem Afrika-Filmklassiker. Wer sich in die Bar traut, die der Boss sich in einem alten Stall eingerichtet hat, wird mit den Worten begrüßt: »Wer bist du? Was trinkst du?« – und dann großzügig versorgt. Die Farm ist seit eineinhalb Jahrhunderten in Familienbesitz. Die britische Kolonialregierung hatte 1820 Siedler als menschliches Bollwerk gegen die wehrhaften Xhosa-Stämme in die östliche Kapprovinz gelockt. Ahnentafeln an der Wand sowie das antike Mobiliar im Haupthaus der Farm, das nun als Gästehaus dient, zeugen von der Historie. Wirklich reich geworden sind die Fowlds von der Schaf- und Rinderhaltung nie. Als in den neunziger Jahren die Preise für Fleisch, Milch und Wolle in den Keller gingen, überredete Fowlds vier Nachbarn, die Zäune zwischen ihren Ländereien einzureißen und ein Reservat anzulegen. Man kaufte Löwen, Elefanten und anderes Getier und setzte sie aus.

Termite entfaltet auf der Zunge einen kräuterigen Geschmack Das ehemalige Farmland bietet den Tieren ein ideales Gelände. Die gerodeten Flächen wachsen allmählich wieder mit Kameldorn und Aloe zu und geben Geparden Auslauf und Warzenschweinen Deckung. André, der junge Wildhüter, bricht täglich in aller Herrgottsfrühe auf, um den Bestand an Nashörnern zu kontrollieren, deren Horn begehrte Beute krimineller Jäger ist. Tagsüber karriolt er in seinem Geländewagen Touristen durch den Busch, die sich dank achterbahnartiger Streckenführung auf einen Muskelkater im Gesäß gefasst machen dürfen. »Ich garantiere euch, dass wir keine Löwen sehen werden«, sagt der Ranger verschmitzt, dafür wartet er mit einer anderen Sensation auf. Er hält an einem Termitenhügel. »Probiert mal«, sagt er, »sie sind sehr proteinreich und schmecken interessant.« Stimmt, Termite entfaltet auf der Zunge einen kräuterigen Geschmack mit einer leicht bitteren Note.

VON WOLFGANG GEHRMANN

Den Farmern hat der Wechsel zum Tourismus das wirtschaftliche Überleben gesichert. Zwar hat der drei Meter hohe elektrische Zaun, dessen 10 000 Volt einen Elefanten auf den Hintern zwingen, ein Vermögen gekostet. Aber anders als Rinder und Schafe sorgen die Wildtiere für sich selbst. Dass das Farmland der Natur zurückgegeben wurde und das Reservat alle möglichen ökologischen Standards einhält, war der Hauptgrund dafür, dass Amakhala das Fair-Trade-Siegel bekommen hat. Außerdem wurde honoriert, dass Fowlds, den seine Bediensteten schlicht Uncle Bill nennen, sein Personal gut behandelt. Die ehemaligen Farmarbeiter sind umgeschult worden zu Wildhütern und Hotelangestellten, die deutlich über den Mindestlöhnen bezahlt werden.

Alle Angestellten haben ständig Einblick in die Geschäftsbücher Von Amakhala aus ist die Reise auf der Garden Route gen Westen weitergegangen bis Kapstadt. Der landestypische, geduckte Fynbos wechselt mit jahrhundertealten Gelbholz-Bergwäldern, in denen Waldschweine und Honigdachse leben. Die Wasserläufe aus dem küstennahen Kapgebirge haben spektakuläre Schluchten ins weiche Gestein geschnitten. Dann wieder geht es durch Ödland mit den Reizen der Kargheit. Und an der Küste immer wieder Felsenbuchten, in denen die Brandung ihre wilden Spiele treibt. In einer der Lodges auf dem Weg treffen wir Katarina Mancama. Die gebürtige Schwedin ist von Johannesburg hergekommen, um uns die Prinzipien ihrer Organisation Fair Trade in Tourism South Africa zu erklären. Danach zertifizieren die Prüfer einzelne Unterkünfte, touristische Attraktionen und komplette Reiseangebote. Es werden Löhne, Arbeitsbedingungen, Ausbildungsaufwand, Umweltstandards und ethische Unternehmensführung kontrolliert. Die Geldflüsse etwa müssen fair sein, das heißt, dass ein Reiseveranstalter zum Beispiel einen Hotelier schon zu hundert Prozent bezahlen muss, ehe der Gast eintrifft. Wer das Fair-Trade-Zertifikat haben will, muss auch nachweislich den bescheidenen Wohlstand der lokalen Gemeinschaften fördern. Katarina Mancama sagt: »Wir schicken den Zertifikatsbewerbern nicht nur lange Fragebögen. Unsere Prüfer gehen auch tagelang in die Unternehmen hinein und sehen sich alles an: Verträge, Bilanzen, Kontoauszüge, Gehaltsbescheinigungen.« Hoteliers und Reiseunternehmer beklagen einhellig, dass die Prüfungen nervtötend seien. Der Veranstalter SKR etwa hat acht Monate gebraucht, um alle Belege für das Fair-Trade-Zeugnis seiner Garden-Route-Tour zusammenzutragen, und die Prüfung hat ihn 6000 Euro gekostet. Dennoch nehmen viele das auf sich, weil sie daran glauben, dass sauberer Tourismus sich langfristig auszahlt. »Wir haben jetzt 70 Lodges geprüft«, sagt Mancama. »Die meisten erfüllen von vornherein viele unserer Kriterien. Ihre Schwachstellen verbessern sie dann mit unserer Hilfe oder lernen voneinander.« Der Begriff Fair Trade bezieht sich eigentlich auf den globalen ökonomischen Austausch zwischen Erster und Dritter Welt. In Südafrika allerdings leben knapp 20 Jahre nach dem Ende der Apartheid Menschen unter Erst- und Drittweltbedingungen Zaun an Zaun nebeneinander. Fair Trade hat hier eine lokale

Bedeutung, und unter lokalen Bedingungen ist gut zu sehen, dass gerechter Austausch möglich ist. Die Ferntouristen aus Europa und ihre Veranstalter zahlen dabei lediglich ihren Obolus in Form höherer Preise. Das Fair-Trade-Modell funktioniert am Kap wohl auch darum, weil sich zehn Jahre nach seinem Start eine immer noch überschaubare Zahl von Menschen darin engagiert, die der gute Wille eint. Besonders gut zu sehen ist das an der Plettenberg Bay, die man das Monaco Südafrikas nennen könnte. Die Township Qolweni allerdings hat mit dem europäischen Geldfürstentum höchstens die hügelige Lage gemeinsam. Sie ist vor fünf Jahren als wilde Siedlung über der Traumbucht entstanden. Schwarze Saisonarbeiter haben sich dort auf staubigem Privatgrund aus Palettenbrettern und Wellblechen ärmliche Hütten errichtet. Inzwischen hat der Staat das Land übernommen und wenigstens an ein paar Holzmasten Elektrokabel gespannt. Eine Pumpe am Wegrand versorgt die Community mit Wasser. Hühner und Schweine tummeln sich im wuchernden Grün. Aus fast allen Buden schallt Musik. Ungelenk auf die Bretter gemalte Preislisten für Bier und Brandy weisen etliche der windschiefen Hütten als Kneipe aus. Geht man dem kräftigsten Lärm nach, landet man beim Kindergarten. Die dralle junge Frau, die uns dort hingeführt hat, heißt Ntombifikile Kumkani, schlägt aber glücklicherweise vor: »Nennt mich Agnes.« Die Siyakula Pre-School, sagt sie, sei das sichtbarste Zeichen dafür, dass die Township Hilfe von außen beziehe. Einrichtung, Lehrer, Freiwillige würden durch Geld aus dem Tourismus unterstützt. Sie selbst ist als Township-Tourguide für monatlich 330 Euro angestellt, und zwar bei Ocean Blue. Die Firma sitzt unten an der Bucht. Sie betreibt drei große Boote, mit denen sie Touristen zur Beobachtung von Walen, Robben und Delfinen hinausfährt. Ihr Chef ist Charlie Lilford, ein lebhafter, hagerer Kerl um die fünfzig. Er schickt Geld und Besucher nach Qolweni, weil er etwas beweisen will. »Man kann ein florierendes Geschäft betreiben, wenn man sich auf die Leute hier stützt«, sagt er. Mit »den Leuten hier« meint er Farbige aus den Townships. Den Beweis hat er geliefert: Das Tourismusgeschäft in Südafrika ging vergangenes Jahr stark zurück, Ocean Blue aber ist um zehn Prozent gewachsen. Auf die Frage, wie viel von seinen Gewinnen er in die Wohltätigkeit pumpt, hat Lilford eine überraschende Antwort: »Wir praktizieren hier ein System der offenen Bücher.« Alle seine Angestellten haben ständig Einblick in die Bilanzen, und er beteiligt sie an den Gewinnen. Sie sollen selbst zu Geschäftsleuten werden. »Es gibt zu viel Wohltätigkeit in Südafrika«, sagt Lilford. »Was wir brauchen, ist Unternehmertum.« Rund 40 000 Euro fließen jährlich aus dem Bootsunternehmen in das Armenquartier. Den hehren Geschäftsprinzipien von Klarheit und Wahrheit hatte Lilford sich nicht immer verschrieben. Sein erstes Geld hatte er vor vielen Jahren im Schnapshandel gemacht. Dann war er Hypothekenbroker bei einer Bank, bis die Finanzkrise ihn um seinen Job brachte. Den Wechsel seiner Leitbilder empfindet er als ganz persönlichen fairen Deal. www.zeit.de/audio

Ntombifikile Kumkani verdient ihr Geld als Fremdenführerin in der Township Qolweni

Südafrika Veranstalter: Die Tour auf der Garden Route bietet SKR Reisen inklusive Flug von Frankfurt und zwölf Übernachtungen ab 3900 Euro an (www.skr.de) Informationen: Über die beschriebenen Lodges sowie das Projekt Ocean Blue/Qolweni informieren die Homepages (www. amakhala.co.za; www.oceanadventures.co.za; www.grootbos.com) Weitere Stationen der Reise waren das Dunes Guest House in St. Francis (www.dunesstfrancis.com); Hog Hollow an der Plettenberg Bay (www. hog-hollow.com); Privatunterkünfte der Travel Dreamcatcher Community in Melkhoutfontain (www. traveldreamcatcher.com); das Bed & Breakfast Bickley House in Kapstadt (www.bickleyhouse.com) SÜDAFRIKA Garden Route Kapstadt

LESOTHO

Großwildreservat St. Amakhala Francis

Stanford

Wakler Bay

Port MelkhoutElizabeth fontein GrootbosNaturreservat Plettenberg Bay

ZEIT-Grafik

350 km

66 7. April 2011

DIE ZEIT No 15

VERANTWORTUNGSVOLL REISEN

DIE ZEIT: Frau Plüss, Sie beschäftigen sich seit

Foto: Matthias Willi

Christine Plüss, 56, ist Geschäftsführerin des Arbeiskreises für Tourismus und Entwicklung in Basel

Urlaub ist keine Entwicklungshilfe Ein Gespräch mit der Tourismuskritikerin Christine Plüss über faires Reisen, bessere Vorbereitung und die Unschuld des ersten Blicks

Jahrzehnten mit den Schattenseiten des Tourismus. Haben Sie da überhaupt noch Lust zum Reisen? Christine Plüss: Oh ja. Aber das liegt auch daran, dass ich nur noch selten weit wegfahre. Ich habe zwei Jahre nicht mehr in einem Flugzeug gesessen. Meinen Urlaub verbringe ich in der Schweiz. ZEIT: Klimaschädigende Fernreisen kommen für die Geschäftsführerin des Basler Arbeitskreises für Tourismus und Entwicklung also nicht infrage? Plüss: Doch, aber eine Fernreise ist für mich die ganz besondere Chance, Menschen zu besuchen und Projekte anzuschauen, mit denen ich mich beruflich beschäftige. Ich möchte in der nächsten Zeit unbedingt nach Südafrika. Unsere Partner im südindischen Kerala will ich auch bald wieder besuchen. Aber ich muss nicht für einen Erholungsurlaub um die ganze Welt jetten. Und wenn ich fliege, kompensiere ich wenigstens den CO₂-Ausstoß mit einem Klimaticket. ZEIT: Das haben auch Sie vermutlich nicht immer so gehandhabt. Plüss: Nein. Ich habe mein Studium als Reiseleiterin finanziert und war lange viel unterwegs. Da entwickelt man irgendwann einen Überdruss, weil Reisen ja auch mit Unbequemlichkeiten verbunden ist: das Kofferschleppen, die ewige Warterei am Flughafen. Gleichzeitig habe ich damals begonnen, den gängigen Tourismus kritisch zu hinterfragen. ZEIT: Gab es ein Schlüsselerlebnis? Plüss: Ende der siebziger Jahre habe ich acht Monate als Reiseleiterin im Senegal gearbeitet. Da habe ich mitbekommen, wie das Hotel, in dem wir untergebracht waren, über Nacht an Spekulanten verkauft wurde. Man konnte zuschauen, wie sich von einem auf den anderen Tag die Arbeitsbedingungen verschlechterten, die Menschen unter Druck gesetzt wurden. Viele verloren ihre Arbeit. So kam dann eines zum anderen: Ich hatte viel mit Straßenkindern zu tun, die in meinem Auto übernachteten, wenn ich es nicht abgeschlossen hatte, oder am Flughafen herumhingen, um den Ausländern ihre Kofferträgerdienste aufzunötigen. Es war ganz offensichtlich, dass die Misere im Land mit dem Tourismus zusammenhing. ZEIT: Dem hätte Ihr damaliger Arbeitgeber vermutlich sofort widersprochen: Die großen Reiseveranstalter betrachten sich auch als Entwicklungshelfer, schon wegen der Devisen, die sie ins Land bringen. Plüss: Natürlich bringt Tourismus neue Einnahmen. Aber nicht jede Form von Tourismus trägt automatisch dazu bei, dass es den Menschen vor Ort besser geht. Die aktuellsten Beispiele sind Ägypten und Tunesien. Hier hat der Tourismus in den vergangenen zwanzig Jahren die Kluft zwischen Arm und Reich noch vergrößert. Kein Wunder, dass sich der Zorn der Aufständischen am Rande auch gegen Reisebusse und touristische Einrichtungen wandte. Ein Luxushotel mit Swimming-

REISEN pools und üppigen Grünanlagen verkörpert für die Wer sich mit dem Land auseinandersetzt, kann das Einheimischen das Unrecht, das ihnen angetan in Erfahrung bringen und sich bewusst entscheiwird, wenn ihnen das Wasser fehlt, um ihre Felder den, ob er dahin reisen will. zu bewirtschaften, und sie deshalb kein menschen- ZEIT: Sie verlangen also, dass jeder Reisende zum würdiges Auskommen finden. Fachmann wird, bevor er sich auf den Weg macht. ZEIT: Das heißt, alle, die dort in der Vergangenheit So verliert man schnell die unvoreingenommene einen schönen Urlaub verbracht haben, sollten jetzt Begeisterung für das Fremde, die Unschuld des ersten Blickes. Muss man diesen Preis zahlen? ein schlechtes Gewissen haben? Plüss: Es ist nicht mein Anliegen, den Menschen Plüss: Was ist so schlimm daran, sich ordentlich ein schlechtes Gewissen zu machen. Ich möchte die vorzubereiten? Jeder kann die Reisehinweise und Reisenden vielmehr ermutigen, selbst dazu bei- Warnungen des Auswärtigen Amtes lesen, da erzutragen, dass die lokale Bevölkerung mehr vom fährt man schon mal einiges. Das tun auch immer Tourismus hat. Man kann ein Hotel wählen, das mehr Interessierte. Wir verzeichnen steigende Befaire Löhne zahlt und die Umweltstandards einhält, sucherzahlen auf unserem Reiseportal www.fairdas lokale Produkte anbietet, damit die örtliche unterwegs.org, wo Sie zu jedem Land eine Fülle an Landwirtschaft, die Fischerei davon profitieren. Hintergrundwissen kriegen. Gut informiert reisen Vor allem müssen aber die Reiseveranstalter ihre heißt ja noch lange nicht, dass man sich nicht auf Angebote nach diesen Kriterien auswählen und der das Neue einlassen kann, im Gegenteil: Das Reisen Kundschaft transparent darüber Auskunft geben. wird wieder interessanter dadurch. Man fliegt nicht ZEIT: Doch wie stelle ich das als Kunde sicher? einfach so mal ans andere Ende der Welt und ist Kein Hotel wird zugeben, dass es seine Mitarbeiter dann auch nicht bass erstaunt, wenn man in eine Konfliktsituation gerät. ausbeutet und die Umwelt schädigt. Plüss: Da gibt es viele Möglichkeiten. Wenn Sie im ZEIT: Dennoch kann man es wohl nicht ganz verReisebüro buchen, soll sich Ihr Sachbearbeiter nach meiden. Was raten Sie Touristen in so einer Situaden Arbeitsbedingungen in einem Hotel erkundi- tion? Sollen sie sofort abreisen? gen, den ökologischen Maßnahmen. Andere Infor- Plüss: Das ist im Einzelnen schwer zu sagen. Auf mationen können Sie online einholen. Viele Hotels alle Fälle haben Urlauber unter Demonstranten haben Zertifikate und Siegel, aus nichts verloren. Sie können die denen hervorgeht, welchen StanSituation kaum einschätzen Zum fairen Reisen dards sie sich unterwerfen. Weiter und sich und andere in Gefahr gehört es auch, gehört dazu, einen fairen Preis zu bringen. Das ist das eine. Das einen fairen Preis bezahlen, der die gebotenen Leisandere ist: Wenn die Auswärtitungen deckt. Bei Billigangeboten gen Ämter Reisewarnungen zu bezahlen. Bei kann sich jeder ausrechnen, dass aussprechen und Sie trotzdem Billigangeboten kann nicht mehr viel vor Ort bleibt. abreisen, kommt Ihre sich jeder ausrechnen, nicht Reiseversicherung unter UmZEIT: Heißt das umgekehrt auch, dass nicht viel Geld ständen nicht mehr für Schäden dass ich in jede Diktatur der Welt vor Ort bleibt auf. In einer Krisensituation abreisen darf, wenn genug Geld bei zureisen bedeutet nicht zwangsden Menschen bleibt, ich in einem läufig, das Land im Stich zu Ökohotel wohne und lokale Prolassen. Man kann ja Hilfsaktionen mit Spenden dukte esse? Plüss: Wenn Sie in eine Diktatur reisen, wo die unterstützen und zurückkommen, wenn die SituaMenschenrechte mit Füßen getreten werden, stellt tion sich beruhigt hat. Es gibt genug Möglichkeisich grundsätzlich die Frage: Kann ich sicherstellen, ten, einem Land zu helfen. dass durch meinen Aufenthalt diese Menschen- ZEIT: Viele Urlauber haben dennoch das Bedürfrechte nicht verletzt werden? nis, sich im Urlaub politisch zu engagieren, bisweiZEIT: Wie soll man das entscheiden? Sehr viele len werden sie sogar dazu aufgefordert: So wurden Reiseländer sind, vorsichtig ausgedrückt, keine lu- Tibet-Reisende eine Zeit lang angehalten, Sticker penreinen Demokratien. Doch was da wirklich los mit dem Bild des Dalai Lama zu verteilen. ist, bekommt man oft erst mit, wenn es zu spät ist. Plüss: Ich finde diese Vermischung von Urlaub Ägypten und Tunesien galten bis vor Kurzem als und politischem Engagement schwierig. Wer sich Garanten der Stabilität in Nordafrika. Was für eine für Tibet engagieren will, hat hierzulande viele schlimme Diktatur das »Traumland« Birma ist, hat Möglichkeiten, bei Solidaritätsgruppen mitzuwirman auch erst begriffen, als die Militärs vor drei ken und zu spenden. Wer sich im Ausland engaJahren brutal gegen die Mönche vorgingen. gieren will, kann einen freiwilligen Einsatz leisten, Plüss: Die Situation in Birma ist speziell. Dort ist es zum Beispiel für Menschenrechtsbeobachtungen unmöglich, größere Geschäfte abzuwickeln, ohne in Palästina und Israel, im mexikanischen Bundesdass das menschenrechtsverachtende Regime da- staat Chiapas oder in Kolumbien. von profitiert. Das heißt, bei Gruppenreisen fließt automatisch Geld in die Kassen der Machthaber. Interview: STEFANIE FLAMM

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REISEN

VERANTWORTUNGSVOLL REISEN

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Fotos: Christian Schneider/Naturhotel Waldklause (r.); Michael Krommat/Gutshaus Stellshagen (l.)

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

Bio-Hotel Gutshaus Stellshagen in Mecklenburg

Naturhotel Waldklause in Tirol

Nachhaltig überzeugend Holzhackschnitzel in der Heizung und Biogemüse auf dem Buffet – wie Ökohotels das Reisen umweltverträglicher machen

M

urmeltierfett! Das klingt eher nach Luis Trenkers Notapotheke als nach einem Ökoprodukt in der Vital-Oase eines grünen Hotels. Bei der Vorstellung, der Winterspeck eines Erdhörnchens könne in meine verspannte Muskulatur eindringen, zucke ich innerlich ein bisschen zusammen auf meiner Wellnesspritsche. »Das ist hier in den Bergen ein ganz altes Heilmittel«, haucht beruhigend die Tiroler Masseurin. Schon ist sie auch mit den Kräuterstempeln bei der Hand. Weiße Säckchen voller Arnika, Ringelblume, Kamille und Johanniskraut hüpfen über den Rücken, duftend nach Ötztaler Wiesen. »Gell«, gurrt die Dame in Weiß beim Klopfen und Kneten, »das ist Natur pur!« Da muss ich schon wieder zusammenzucken. Denn einerseits fühlt man sich murmeltierisch. Andererseits weckt so eine Floskel Misstrauen: Ist der Ökoanspruch des »Naturhotels« Waldklause in Längenfeld womöglich doch nur Reklame? Die nüchtern kalkulierte Antwort auf eine neue Tourismusmode? Erst hatte ich noch gedacht, es wäre Zufall, dass lauter Kollegen und Freunde aus ähnlichen Bioherbergen zurückkehrten nach Urlauben in Sachsen, dem Schwarzwald, der Schweiz. Aber auch um die Ecke in Berlin-Charlottenburg hat ein »Energiehotel« eröffnet, und der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband meldet, nachhaltiges Wirtschaften entwickle sich zur Leitkultur. Das wäre doch mal eine positive Marktentwicklung. Trotzdem fragt man sich im österreichischen Kräuternirwana: Kann sich das überhaupt vertragen, Verantwortung für die Umwelt und vier Sterne? Mal ausprobieren. Hier in der Waldklause – einem Ziel für betuchtere Ökotouristen, die sich Naturnähe nicht nur beim Skilaufen und Wandern wünschen, sondern auch in ihrem Quartier. »Wir wollten etwas Sensibles auf unser Waldgrundstück setzen«, sagt Irene Auer, die Besitzerin. Der Holzbau wirkt geradlinig, klar, elegant. Tanne, Fichte und Zirbe prägen japanisch streng anmutende Flure. Dass auch alle Kunst um das Thema Bäume kreist, mag man etwas hartnäckig finden. Die Holzarchitektur selbst jedoch ist mehr als ein Look. Als sie den Neubau 2004 plante, war das Ziel klar, sagt Irene Auer: Er sollte komplett aus dem Urmaterial der Nachhaltigkeit sein. Dem Rohstoff aus der Region, oder: gebundenem CO₂. »Schauen Sie«, in einem der lichten Flure zeigt die Chefin auf eine Naht, »die Bretter sind alle ohne Leim verdübelt, um Ausdünstungen zu vermeiden.« Auch sonst ist alles baubiologisch und energetisch ausgeklügelt. Rundherum sei das Haus wärmegedämmt, sagt Irene Auer; die Heizung werde mit Holzhackschnitzeln befeuert. Bei zig Details habe man auf Effizienz geachtet.

Ist man Ökostalinistin, wenn man fragt, warum bei »Anfahrt« Flughäfen stehen? In den Zimmern: natürlich Holz. Alle Objekte sind fast schon zu designverliebt ausgewählt, trotzdem fühlt man sich geborgen wie in einem hohlen Baum, wo es genauso nach Harz und Honig duftet. Der Blick wird auf einen Hain vor dem Balkon gelenkt, sein Grün ist das Erste, was man beim Aufwachen sieht. In diesen Wochen bauen die Auers auch noch ein Schwimmbad mit weiteren Wellnessräumen und Ruheterrassen zwischen diese Tannen. Das passt zur Kundschaft, die neben der Umwelt auch an die Karriere denkt, Leuten, die »kaum mehr Urlaub haben und in drei, vier Tagen wieder fit sein müssen«, wie eine Mitarbeiterin beobachtet hat. Solche Gestressten werden dann die neue »Burn-out-Suite« mieten können. Und sich noch ein bisschen mehr abschotten vom normalen Tourismus im Tal der

Widersprüche. Den Aqua Dome nebenan zum Beispiel müssen sie dann nicht mehr nutzen, einen Klotz in einem zersiedelten Ort. Aber zum Skilaufen werden auch die Ökohotel-Urlauber weiter hinauf nach Sölden fahren mit seinen »zwei Kilometern Beleidigungsarchitektur«, wie der Tourismuskritiker Hans Haid einmal spottete. Rofen, Gamskopf und Hauerkogel überragen zwar souverän alle Lifte und Discos. Doch die Gletscher haben sich zurückgezogen. »Als wir klein waren, hörte man sie krachen«, sagt Irene Auer, »jetzt sieht man sie kaum noch.« Im Winter läuft auf Hängen und Loipen ohne Schneekanonen wochenlang gar nichts. Schuld daran ist der Klimawandel, der sich auch durch die zunehmende Mobilität beschleunigt. In kaum einem anderen Wirtschaftszweig wächst der CO₂-Ausstoß vergleichbar rasch, vor allem des Verkehrs wegen. Immerhin: Um nach Österreich zu kommen, müssen mitteleuropäische Touristen nicht fliegen. Auch das Auto können WaldklausenUrlauber getrost daheim lassen. Sie werden am Bahnhof abgeholt, das bieten die Gastgeber auf ihrer Website an. Ist man schon Ökostalinistin, wenn man es merkwürdig findet, dass unter »Anfahrt« trotzdem auch die Flughäfen München, Salzburg und Innsbruck stehen? Die Auers sind konsequenter als viele andere Hoteliers in ihrem Bemühen um ökologische Integrität. Dafür haben sie das Europäische Umweltzeichen bekommen, eines der glaubwürdigsten Gütesiegel. Aber im Paradoxon des Ökotourismus bleiben auch sie gefangen: Nichts ist so umweltfreundlich, wie daheim zu bleiben. Vielleicht ist das, neben der Sorge um die Gesundheit, auch das stärkste Motiv der umweltbewussten Kunden: das Gewissen zu beruhigen. Wiedergutmachung, wenigstens teilweise. Und das ist ja besser als nichts. Bei der Suche nach geeigneten Quartieren sollen mehrere Dutzend Labels und Zertifikate helfen. Doch ihr Wildwuchs stiftet ebenso große Verwirrung wie die unterschiedlichen, oft vagen Anforderungen. In Deutschland ist zum Beispiel die Umweltmarke Viabono verbreitet. 18 Organisationen vom ADAC über den BUND bis zum Umweltbundesamt wollen unter diesem Dach die Betreiber von Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen dazu ermuntern, weniger Wasser, Material und Energie zu verbrauchen und sich für den Schutz der Landschaft einzusetzen. CO₂OL qualifiziert »klimaneutrale Hotels«, der Schweizer Steinbock fordert ein konsequentes Ressourcenmanagement. Daneben demonstrieren die Norm Iso 14001, die Blaue Schwalbe, der Green Globe, ehc, Emas, dass immerhin etwas passiert. Aber auf einen Kompromiss wie das Biosiegel bei Lebensmitteln konnten sich die Idealisten und Pragmatiker, die Naturschützer und Standortentwickler nicht einigen. So bleibt Urlaubern wenig anderes übrig, als blind zu vertrauen – oder im Internet die Kriterienkataloge zu wälzen und danach zu entscheiden, wie rigoros sie es selbst gern hätten. Auch viele Hotelketten verpflichten sich mittlerweile auf Öko- und Klimastandards. Das fällt ihnen am leichtesten bei der Energieeffizienz, wo der Imagegewinn mit der Kostensenkung einhergeht. Da ist es dann auch mal eine Pressemeldung wert, wenn das Hotel Mercure in Düsseldorf die Halogenstrahler in der Lobby gegen LED-Lampen austauscht. Nach Meinung des Tourismusexperten Ludwig Gruber muss der Umweltschutz aber auch oft für Etikettenschwindel herhalten: »Jeder macht irgendetwas und hofft, dass man daraus aufs Ganze schließt.« Der Österreicher ist ein Pionier des grünen Reisens, sein Green Travel Club will Hotels zu ökologischen Gesamtkonzepten anspornen. Schon vor zehn Jahren hat Gruber das strengste Siegel ins Leben

gerufen: »Biohotels«. Es fordert über seine Umweltregeln hinaus, dass sämtliche Lebensmittel aus ökologischem Landbau stammen, auch des Klimaschutzes wegen. 70 Biohotels gibt es im deutschsprachigen Raum, dazu ein paar in Italien und Frankreich. Sie werden regelmäßig und manchmal auch unangekündigt überprüft, und bei Verfehlungen droht der Ausschluss. 100 Prozent Bio – das geht selbst umweltbewussten Hoteliers wie den Auers zu weit. Für ihre anspruchsvollen Fünf-Gänge-Menüs wollen sie aus dem Vollen schöpfen. Immerhin sind einzelne Zutaten aus ökologischem Anbau.

Mit heiserer Stimme beklagt Swami Satyananda die »kulturelle Katastrophe« »Ein bisschen schwanger geht nicht«, findet hingegen Gertrud Cordes, Chefin des mecklenburgischen Biohotels Gutshaus Stellshagen. Der wunderschöne Klinkerbau, 1925 erbaut, liegt in der Nähe des Ostseebades Boltenhagen. Man erreicht den Hof über Alleen aus Kopfweiden und Kastanien. Er wirkt wie aus der Zeit gefallen mit seinem von Bäumen umringten Teich. Und beherbergt ein Kontrastprogramm. Schon die Besitzerin ist das Gegenteil von gestylt mit ihrer Jeans, der Outdoor-Weste, den Flatterhaaren. Im dunkelgrün gestrichenen Herrenzimmer erzählt die 56-Jährige eine Geschichte aus dem Bilderbuch der Alternativszene: Sie und ihr amerikanischer Ehemann, beide Hamburger Psychologen, wollen in der Lebensmitte noch ein-

mal etwas Neues anfangen. Da wird 1995 der zu DDRZeiten enteignete Besitz der Familie Cordes zum Rückkauf angeboten. Nach und nach baut das Paar das teilweise denkmalgeschützte Gutshaus um. Alles baubiologisch perfekt aus Holz, Stein und Lehm. Auch hier wird mit Holz geheizt, Gertrud Cordes war »schon immer von der Müslifraktion«. Der alte Speisesaal mit seinen Stuckaturen ist erhalten geblieben, ein Teil der Küche wurde zum Wintergarten mit Café umgebaut. Weitere Anbauten für elektrosmogfreie Zimmer kamen hinzu, in denen es statt Fernseher einen CD-Player und Dharma-Musik gibt. Dann die skandinavische Holzsauna mit Kaminzimmer und Badesee. Ein Therapiezentrum für Ayurveda, Yoga, Heilfasten. Hundert Arbeitsplätze bietet das Gutshaus mittlerweile. Alles wirkt liebevoll gestaltet und auf charmante Weise »ein bisschen selbst gestrickt«, sagt Cordes, »die Leute mögen das«. Zwanglosigkeit herrscht auch bei den Gästen, viele bleiben nach ihren Spaziergängen und Radtouren gern in Trainingshosen. Die meisten suchen »Sicherheit beim Essen«, wie Gertrud Cordes sagt. Allergikerfamilien, aber auch Freundinnen und Paare über fünfzig, die mal wild und gefährlich leben wollten. Begeistert räumen sie morgens und abends das streng vegetarische Buffet. Darauf türmen sich asiatischer Birnensalat mit Sprossen, SüßkartoffelFenchel-Gemüse, aber auch glutenfreies Brot mit Feigen-Dattel-Butter, Sojajoghurt oder Rohkostteller für Veganer.

VON CHRISTIANE GREFE

Mit den 100 Prozent Bio hat man selbst hier erst gehadert. »Der letzte Sprung ist teuer«, sagt die Hotelbesitzerin. Kartoffeln, Möhren und Müsli seien mittlerweile fast preisgleich zu haben, »aber Nüsse oder Geliermittel: Das macht unheimlich viel aus.« Andererseits hat sie es leicht, denn auf dem Acker neben dem Gutshaus baut ihr Ehemann selbst Biogemüse an. Und trotz der höheren Preise steht die Kundschaft rund ums Jahr Schlange. Abends gibt es oft Vorträge, an diesem Samstag ist der 84-jährige, aber fit wirkende Jörg Andrees Elten zu Gast. Der einstige stern-Reporter und spätere Bhagwan-Jünger lebt mittlerweile im Dorf Stellshagen. Mit heiserer Stimme beklagt Swami Satyananda wieder einmal die »kulturelle Katastrophe«, dass so wenige Menschen im Hier und Jetzt lebten. Ist es die Melancholie über so viele verstrichene Jahre? Oder kreist mir diese Versammlung jetzt doch zu hartnäckig um sich selbst; eine unselige Bestätigung des überholten Klischees vom ökorrekten Spießer? Jedenfalls wächst die Sehnsucht nach etwas Unmäßigem. Das ist der Unterschied zu damals: Auch dieses Bedürfnis kann man heute ruhigen Gewissens ausleben. In der gemütlichen Bar des Gutshauses sind alle Weine bio, und sogar der Ouzo! Da wird es hier und jetzt noch richtig lustig. Naturhotel Waldklause, Unterlängenfeld 190, A-6444 Längenfeld, Tel. 0043-5253/54 55, www.waldklause.at Hotel Gutshaus Stellshagen, Lindenstraße 1, 23948 Stellshagen, Tel. 038825/440, www.gutshaus-stellshagen.com

68 7. April 2011

REISEN

DIE ZEIT No 15

LESEZEICHEN

Hier spricht das Meer

Heilige Orte

Wo Schiller laut aufschrie

Er ist 62, psychisch eher labil, Spross einer vermögenden jüdischen Bankiersfamilie, geschätzter Hamburger Kunsthistoriker und kennt Italien wie seine Westentasche. Sie ist 36, recht heiter, seine Assistentin, studierte Philosophin und war erst ein einziges Mal in Florenz. Zusammen machen sich Aby Warburg und Gertrud Bing 1928 auf den Weg, um dem Nachleben der Antike in Kunstwerken und Gebäuden auf die Spur zu kommen. Diese Italienreise führt das ungleiche Duo unter anderem nach Bologna, Rimini, Rom, Neapel und Verona. In Städte, die sie nicht nur besichtigen, sondern über die sie auch Tagebuch führen. Die Kunsthistorikerin Karen Michels hat nun die spannendsten Passagen aus ihren Aufzeichnungen zusammengestellt und durch Erklärungen, Reflexionen und Bilder ergänzt. Daraus ist ein Band geworden, der einerseits Einblicke in die Ideenwelt und die Theorien Warburgs gibt, andererseits die Beschwernisse dieser Reise nicht verschweigt. So finden in dem schön gestalteten Buch neben Erklärungen zu heidnischen Mysterienkulten und Grisaille-Putti auch ganz selbstverständlich Erzählungen von übermäßigem Alkoholgenuss, Zahnweh und Taschendieben ihren Platz. CHB

Veränderungen sind nicht das Ende der Welt, aber vielleicht das Ende der Welt, wie wir sie gern hätten. Mit diesen Worten leitet James HamiltonPaterson diese Textsammlung ein, die seine zuvor in verschiedenen Zeitungen erschienenen Beiträge zum Thema Meer bündelt. Ausdrücklich will der zur Londoner Royal Geographical Society zählende Journalist seine Betrachtungen nicht als modische Beiträge zum Umweltschutz verstanden wissen. Pessimist, der er (mittlerweile) sei, gehe er davon aus, dass resignative Passivität weniger Schaden anrichte als der Aktivismus von Kampagnenbetreibern. Mit leiser, ernster Stimme spreche das Meer zu ihm. Was es ihm offenbart, übersetzt HamiltonPaterson in informativ klare bis unterhaltsam ironische Prosa. In fünf Kapiteln erzählt er von Inseln, Geschöpfen, Fischfang und Meerestiefen. Darin räumt er einerseits auf mit romantisierenden Vorstellungen wie der eines Gartens Eden auf den Galapagosinseln oder dem Delfin als Freund und Helfer. Andererseits schwärmt er von der magnetischen Wirkung, die Häfen auf ihn haben, und davon, wie gern er in der Abenddämmerung am Ende einer Mole aufs Meer hinausschaue. H.K.

Sie gehen monatelang zu Fuß zu den elf gigantischen Felsenkirchen von Lalibela, die im äthiopischen Hochland um das Jahr 1250 herum aus roter Basaltlava geschlagen wurden. Sie fahren nach Kandy im Herzen Sri Lankas, wo sich der Legende nach ein Zahn Buddhas befinden soll. Sie steigen bei Vanarasi ins Wasser des Ganges, um im »heiligen Fluss« ein reinigendes Bad zu nehmen. Sie erfüllen eine Glaubenspflicht, wenn sie sich auf den Hadsch nach Saudi-Arabien begeben, wo sie in Mekka die Kaaba betend umkreisen. Oder sie ziehen quer durch Europa bis nach Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens. Ob Hindus oder Buddhisten, Muslime oder Christen: Pilger verlassen aus freien Stücken ihre alltägliche Umgebung, um an einem Ort, den sie für heilig halten, spirituelle Kraft zu schöpfen. Im Bildband Faszination Pilgern stellt der französische Autor Olivier Calon 17 Wallfahrtsstätten vor und beschreibt eindrucksvoll die verschiedenen Formen dieses religiösen Reisens. Kleiner Makel: Wenngleich überzeugend von der Motivwahl und stimmig im Ensemble, wirken einige der Fotografien ältlich und matt im Druck. H.K.

»Es war ein verführendes Wasser, das meinen Sinn in seinen krausen Strudel zog ...« Paul Klees Zeilen sind Motto dieses Reiselesebuches, das die Elbe entlangführt. Gedichte und Prosa, Sagen, Briefe und historische Texte von achtzig mehr oder weniger berühmten Flussbetrachtern hat Herausgeber Ansgar Bach zusammengetragen. Tacitus etwa stellt fest, dass die an der Elbquelle lebenden Hermunduren den Römern besonders treu ergeben seien. Bei Bad Schandau genießt der dänische Dichter Hans Christian Andersen die Aussicht auf die »zwischen sonnenbeschienenen grünen Wiesen« dahinfließende Elbe. Friedrich Schiller schreibt aus Dresden, wie sehr ihn sein erster Blick auf den Fluss berührte habe: »Ich schrie laut auf.« Ängstlich und verärgert äußert sich im Februar 1847 Otto von Bismarck über das Elbhochwasser bei Schönhausen. Vom Frühling im Hamburger Hafen samt »wunderlieblicher Ufergegenden« schwärmt Heinrich Heine. Und Gorch Fock schließlich lässt den jungen Störtebecker zur Elbmündung segeln und sich dort tapfer gegen die Seekrankheit wehren. Eine schöne, außergewöhnliche Anthologie über die mehr als 1000 Elbkilometer zwischen Riesengebirge und Nordsee. H.K.

Olivier Calon: Faszination Pilgern. Pilgerreisen durch die Religionen. Aus dem Französischen von Anja Leisinger, DuMont Reiseverlag, Ostfildern 2011; 192 S., 29,90 €

Ansgar Bach (Hrsg.): Die Elbe. Ein literarischer Reiseführer. Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG), Darmstadt 2010; 132 S., 19,90 €

Karen Michels: Aby Warburg – Mit Bing in Rom, Neapel, Capri und Italien. Auf den Spuren einer ungewöhnlichen Reise. Corso Verlag, Hamburg 2010; 144 S., zahlreiche Abbildungen, 26,90 €

Foto: The Warburg Institute Archive

Kunst und Kater

Aby Warburg und seine Assistentin Gertrud Bing 1929 in Orvieto

James Hamilton-Paterson: Vom Meer. Über die Romantik von Sonnenuntergängen, die Mystik des grünen Blitzes und die dunkle Seite von Delfinen. Aus dem Englischen von Thomas Bodmer; mareverlag, Hamburg 2010; 285 S., 19,90 €

REISEN

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Foto: Jens Kirchner

Foto: Ulrich Henrici

Foto: Thomas Frick

Foto: Stephan Gast

Foto: Gernot Friedrich

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

Allein beim großen Bruder gegen. Dieser lose Bund von Gleichgesinnten nannte sich UdF: Unerkannt durch Freundesland. »Im Geiste von Jack Kerouac on the road zu sein, davon waren wir – die ostdeutschen Nachfahren der Achtundsechziger – angefixt.« So schreibt die Herausgeberin Cornelia Klauß und zitiert Tucholsky: »Wer die Enge seiner Heimat begreifen will, der reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte.« Dieses prächtig bebilderte Reiseund Geschichtsbuch ist ein oppositionelles Werk der besonderen Art. Es dokumentiert nicht die Forderung nach Freiheit, sondern bezeugt, wie sich Menschen Freiheit nahmen. Die wagemutigen UdFler diskutierten nicht über das wahre Leben im falschen – sie lebten es. Denn nichts deprimierte im SED-Staat stärker als das Gefühl, die eigene Zeit zu vergeuden und zu altern, ohne zu leben. Gernot Friedrich ist bis zur Wende zwanzig Mal durch die Sowjetunion gereist, auch abermals in die Mongolei. Ein Jahr nach seinem Erstbesuch kampierte er erneut in der Jurte seines Freundes Batsuched. Dessen Frau war schon wieder zur Entbindung im Krankenhaus. Cornelia Klauß und Frank Böttcher (Hrsg.): Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich; Lukas Verlag, Potsdam 2011; 444 Seiten, 24,90 Euro

Exotik unterm Sowjetstern: Von Moskau ging es auf eigene Faust weiter nach Kirgistan, in das Altai-Gebirge oder zu den Hippies im ukrainischen Lwow

Foto: Robert Conrad

sei erklärt, dass DDR-Bürger die Sowjetunion nur per Pauschalgruppenreise besuchen konnten. Individuelle Visaanträge wurden grundsätzlich abgelehnt. Eine Lücke blieb im Grenzregime: das Durchreisevisum, gültig für 48 Stunden. Wer sich eine Reiseroute via Polen und Sowjetunion nach Rumänien bastelte, gelangte ins Rote Reich. Einmal dort, konnte man die 48-Stunden-Frist ignorieren und das gewaltige Land durchmessen, immer auf der Hut vor staatlichen Organen. Man musste nur irgendwann kurz in Rumänien ankommen, zwecks Grenzstempel im Visum. Nicht sehr viele DDRler wagten das große »Go East«. Einige aber suchten jene Freiheit, die ihnen westwärts versperrt war, in der entgegengesetzten Richtung. Sie stellten die Propagandafloskel von der Völkerfreundschaft auf die Probe und fuhren ins Baltikum, nach Georgien, auf die Krim. Sie erklommen den Kaukasus und die Gipfel des Pamir. Sie sausten mit selbst gebauten Eisseglern über den Baikalsee. Tief nach Asien drangen sie vor, streiften durch Swanetien und das wilde Turkestan, fanden Buchara und Samarkand und sich selbst als freie Menschen. Wieder daheim, hängten sie ihre Abenteuer nicht an die große Glocke. Aber sie kannten einander. Sie trafen sich, zeigten und bewunderten die Fotos, tauschten Erfahrungen und Adressen aus und fieberten dem nächsten Aufbruch ent-

Foto: Stephan Gast

V

or vielen Jahren gastierte in unserer Sangerhäuser Kirchgemeinde ein abenteuerlicher Mensch. Gernot Friedrich hieß er, war Pfarrer aus Jena und hielt einen Diavortrag über die Sowjetunion. Unerhörtes sah und hörte man, jenseits aller Klischees vom Lande Lenins. Das ganze Riesenreich hatte Friedrich durchreist, allein, ohne gültige Papiere. Obdach und Verpflegung fand er überall. Nach Wochen stand er an der mongolischen Grenze. Er präsentierte den Uniformierten sein Krankenversicherungsbüchlein (viele Stempel!) und durfte passieren. Die Mongolei bot Jurten, Stutenmilch und bemerkenswerte Bräuche. Zur Nacht, sprach Pfarrer Friedrich, wird dem Gast die Frau des Hausherrn angeboten. Das darf man nicht ablehnen. Lustvoll entsetztes Schweigen im evangelischen Gemeindesaal. Friedrich lachte: Allerdings war die Frau meines Quartiergebers zur Entbindung im Krankenhaus. Irgendwann geschah das Befürchtete. Die mongolische Miliz griff zu, enttarnte den Vagabunden und wollte ihn abschieben – via Japan in die Bundesrepublik. Friedrich erwirkte seine Ausreise in die DDR. Jetzt traf ich ihn unvermutet wieder, als einen von zwei Dutzend Autoren des lebensprallen Sammelbandes Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich. Dem Westleser

VON CHRISTOPH DIECKMANN

Foto: Robert Conrad

Ein Buch schildert die verbotenen Abenteuer von DDR-Bürgern in der Sowjetunion

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REISEN

DIE ZEIT No 15

FRISCH VOM MARKT

Auf Achse Aachen feiert das alte Amerika mit 250 Werken von 100 Künstlern, mit Momentaufnahmen einer aufblühenden Konsumkultur, in der die Mobilität zum Fetisch wurde. Der USBürger reiste im Airstream durchs Land, dem von der Luftfahrt inspirierten Caravan. Wer es sich leisten konnte, stieg vom VW Käfer auf den Straßenkreuzer um. Fotorealisten wie Mitch Epstein (von ihm stammt unser Bild) oder Lee Friedlander lauerten den umtriebigen Zeitgenossen am Highway auf. CS »Hyper Real – Kunst und Amerika um 1970« bis zum 29. Juni im Ludwig Forum für Internationale Kunst, Jülicher Str. 97–109, 52070 Aachen, Tel. 0241/180 71 04, www.ludwigforum.de. Eintritt: 7 Euro

Foto: © Mitch Epstein. Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln (Massachusetts Turnpike, 1973 Aus der Serie »Recreation: American Photographs 1973-1988«)

MAGNET

Holstein per Rad Jenny Becker-Birck weiß, woran man erkennt, dass ein See sauber ist und welche Spuren die Eiszeit in der Ostseeregion hinterlassen hat. Auf Radreisen, die sie selbst austüftelt und begleitet, führt die Biologin Menschen ab 55 durch den Müritzer Nationalpark, an die Schlei und nach Rügen. Das Thema Wasser ist Schwerpunkt einer fünftägigen Tour durch die seenreiche Holsteinische Schweiz. Doch auch kulturelle und kulinarische Erlebnisse bietet das Programm: Besichtigungen der Schlösser in Plön und Eutin, stilvolles Speisen in einem Hotel am Dieksee nach dem langen Tagesritt auf Leihfahrrädern. Das Gepäck hat der Transportdienst derweil schon aufs Zimmer gebracht. 769 Euro. Info: velonobilis Kulturradreisen, Tel. 04523/202 08 15, www.velonobilis.de

Sardinien zu Fuß Sardiniens unbekannte Seite, das Iglesiente im Südwesten, kann man sich eine Woche lang vom Frühling bis in den Herbst erlaufen: Canyons, Wasserfälle und die 70 Meter hohe Düne an der Costa Verde. Die deutsche Wanderführerin kennt den Fußweg zu archäologischen Stätten wie dem AntasTempel oder der Nekropole von Montessu. Zeit zum Verschnaufen hat sie eingeplant – bei einer Weinprobe und in abseits gelegenen Lokalen. 1149 Euro pro Woche. Info: Campagna & Mare Sardinienreisen. Tel. 02236/378 53 60, www.sardinienweb.de

VON JAN-MARTIN WIARDA

chon vor dem Reaktorunglück in Japan gab es eine zuverlässige Methode, um ein paar zusätzliche Prozentpunkte an Wählerstimmen herauszuholen: im Brustton moralischer Empörung die »sozialen Verwerfungen« durch Studiengebühren zu brandmarken. Und dann im nächsten Atemzug deren »sofortige Abschaffung« im Falle eines Wahlsieges anzukündigen. Tatsächlich hat es seit der Einführung der Campusmaut Ende 2006 kaum eine Landtagswahl gegeben, bei der ihre Initiatoren in der Wählergunst haben zulegen können, im Gegenteil – es hagelte Niederlagen für die bürgerlichen Parteien. 2008: Hessen. 2009: Saarland. 2010: Nordrhein-Westfalen. 2011: Hamburg und zuletzt Baden-Württemberg. Wer nur halbwegs klar denken kann, weiß: Die Einführung von Studiengebühren grenzt an politischen Selbstmord. Mit der sozialen Wirklichkeit des Bezahlstudiums hat das nur bedingt zu tun. Eindeutige Belege dafür, dass maximal 83 Euro monatlich ärmere Abiturienten von einem Studium abhalten, fehlen bis heute. Umgekehrt zeigen Umfragen wie der in der ZEIT seit 2008 veröffentlichte Gebührenkompass, dass die betroffenen Studenten eine kontinuierliche Verbesserung ihrer Studienbedingungen dank der Gebühren beobachten. Doch selbst in den zwei Bundesländern, die mithilfe zinsloser Kredite und gegebenenfalls sogar des Verzichts auf deren Rückzahlung den Verdacht sozialer Selektion nun wirklich ad absurdum geführt haben, stand am Ende die teilweise (Saarland) oder totale (Hamburg) Wahlpleite für die CDU. Kein Wunder also, dass hochrangige SPD-Politiker hinter vorgehaltener Hand schon mal eingestehen, dass ja durchaus gute Gründe für die finanzielle Beteiligung der Studenten sprächen, »aber wir wären doch dumm, auf so ein Wahlkampfthema zu verzichten«. Nun ist es unabhängig von der befürchteten oder tatsächlichen negativen Wirkung eines Bezahlstudiums natürlich das ureigene Recht der Bürger, kostenfreie Hochschulen herbeizuwählen. Was die Angelegenheit aber skurril macht: Mit derselben Vehemenz, mit der viele Deutsche die Studiengebühren ablehnen, ignorieren sie, dass sie in anderen Bereichen des Bildungssystems einen wesentlich höheren Eigenanteil für die Zukunft ihrer Kinder leisten. Beispiel Kindergärten: Nach einer gemeinsamen Erhebung der Initiative Soziale Marktwirtschaft und der Zeitschrift Eltern zahlten Familien 2010 je nach Einkommenshöhe zum Beispiel in Dortmund bis zu 1824 Euro pro Jahr für einen Halbtagsplatz, in Potsdam sogar 2316 Euro. Das entspricht den Studiengebühren von mehr als vier Semestern. Beispiel allgemeinbildende Privatschulen: Laut Statistischem Bundesamt ist die Zahl ihrer Schüler in den vergangenen 15 Jahren um fast 50 Prozent gewachsen und lag zuletzt bei über 700 000. Die Schulgelder variieren stark, können sich aber schnell auf 2000 Euro und mehr pro Jahr summieren. Es stellt sich die Frage: Was ist uns eigentlich die Bildung unserer Kinder wert? Warum wehren wir uns in einigen Bereichen so heftig dagegen, für sie mitzuzahlen, während wir in anderen teilweise horrende Gebühren resigniert hinnehmen und in wieder anderen sogar freiwillig zahlen, obwohl hervorragende staatliche und damit kostenlose Angebote existieren? Die Antwort ist so komplex wie unlogisch. Das fängt schon bei den politischenZuständigkeiten an: Während die Studiengebühren und deren Abschaffung Ländersache sind, ist die Finanzierung der Kindergärten Aufgabe der Städte und Gemeinden. Das macht die Gebühren für Kindergärten zumindest außerhalb der Stadtstaaten zu keinem günstigen Wahlkampfthema für Regionalpolitiker, denn wettert man gegen sie, kann es sein, dass man sich den Parteifreund in der Nachbarkommune zum Parteifeind macht. Eine Landesregierung wiederum könnte sich des Themas annehmen und den Kommunen so hohe Zuschüsse zahlen, dass sie auf die Gebühren komplett verzichten können. Doch warum sollte sie das tun? Das Thema gefährdet ja nicht ihre Wiederwahl, die frustrierten Eltern konzen-

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AUSLÄNDISCHE FORSCHER

trieren ihre Wut meist auf die Bürgermeister und Landräte. Mit dieser Logik kletterten die Kindergartengebühren sogar in SPD-regierten Ländern lange von Rekord zu Rekord. Das immerhin ist vorbei: Einige Städte wie Düsseldorf, Heilbronn oder Wiesbaden haben bereits Schluss gemacht mit den Beiträgen. Noch eine gute Nachricht: Die Mehrheit der Bundesländer hat mittlerweile zumindest die Gebühren für das letzte Kindergartenjahr abgeschafft. Als erstes Bundesland verzichtete Rheinland-Pfalz komplett auf die Gebühren für Zwei- bis Sechsjährige. Doch allzu oft blieb es bei der Ankündigung: So liquidierte die rot-grüne Minderheitsregierung von Nordrhein-Westfalen zwar mit großem Getöse die Studiengebühren, vom wohlklingenden Versprechen, auch die Kindergartengebühren abzuschaffen, bleibt aber vorerst nur die Einführung der Beitragsfreiheit für das letzte Jahr. Dabei erscheint das Thema Kindergartengebühren ethisch weitaus problematischer als Studiengebühren – schließlich treffen Erstere, selbst wenn sie gestaffelt sind, die große Mehrzahl der Eltern, während Letztere nur für die (wenn auch wachsende) Minderheit derjenigen jungen Menschen anfallen, die sich für ein Studium entscheiden. Dass viele Bürger, solange sie nicht selbst von den Kindergartenbeiträgen betroffen sind, in ihnen kein so dringliches Problem erkennen, hat auch eine historische Dimension: Seit dem Ende der Nazidiktatur wurde Erziehung in Deutschland als Privatsache angesehen, aus der sich der Staat herauszuhalten hatte – mit der Folge, dass gerade in Westdeutschland Kindergärten Orte der Betreuung und nicht der Bildung waren, die ohnehin von relativ wenigen Kindern besucht wurden. Reste dieser Philosophie haben sich bis heute gehalten: Wer zum Beispiel in Hamburg oder in Bayern Informationen zu Kindergärten braucht, bekommt sie vom Familien- und nicht etwa vom Bildungsministerium. Entsprechend wird auch der in den vergangenen Jahren endlich vollzogene massive Ausbau der Kindergärten in den alten Bundesländern von vielen als zusätzliche und nicht als obligatorische Leistung des Staates empfunden, für die der einzelne Bürger dann eben auch aufkommen müsse. Nein, die Erkenntnis, dass auch Kindergärten Bildungsstätten sein sollten, hat sich noch längst nicht überall durchgesetzt.

Nimm zwei! Wie die EU Deutschlands Unis weltoffener macht Von einem »Willkommenssignal für Wissenschaftler aus der ganzen Welt« schwärmt Helge Braun, Staatssekretär im Bundesbildungsministerium von Annette Schavan: Künftig können sich die Ehegatten ausländischer Forscher uneingeschränkt auf freie Stellen bewerben – und zwar ohne dass, wie bislang üblich, andere Bewerber aus Deutschland oder einem EU-Staat Vorrang erhalten. Die Regelung kommt als Teil eines umfangreichen Gesetzespakets zum Aufenthaltsrecht, das vergangene Woche im Bundeskabinett beschlossen wurde, und tatsächlich ist sie ein beachtlicher Schritt auf dem Weg zu einem wirklich weltoffenen Wissenschaftssystem: Zu eiSEI T EN nem hoch qualifizierten Forscher gehört oft ein hoch qualifizierter Partner. Lehnt man den ab, bekommt man oft auch Ersteren nicht. Wie so oft in Deutschland beim Thema Integration musste allerdings erst Druck von außen kommen. Diesmal brauchte es den Anstoß einer EU-Richtlinie. Wenn Staatssekretär Braun verkündet, durch die geplante Gesetzesänderung werde Deutschland als Forschungsstandort »noch attraktiver«, ist das insofern nur die halbe Wahrheit: Die Bundesrepublik fährt einfach im europäischen Geleitzug mit. Die Schuld von Bundesbildungsministerin Schavan ist das nicht. Seit Jahren bemüht sie sich, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung moderner Aufenthalts- und Arbeitsgesetze in den Köpfen zu verankern, gerade auch in ihrer eigenen Partei. Einer ihrer wichtigsten Erfolge war eine Reform, die 2007 in Kraft trat: Seitdem haben Absolventen deutscher Hochschulen das Recht, sich nach dem Abschluss in Deutschland einen Job zu suchen – unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft. In diesem Fall ist Deutschland tatsächlich international ganz vorn dabei gewesen. Wie schön wäre es, wenn man das öfter sagen könnte. JAN-MARTIN WIARDA

Erstklassige Elementarbildung müsste für alle kostenlos sein Ganz anders kochen die Emotionen bei den Studiengebühren hoch. Jungen Erwachsenen, so lautet die verbreitete Überzeugung, sei es nicht zumutbar, mit Schulden in ihr Berufsleben zu starten. Dass sie nach Abzug aller Unkosten selbst nach Einführung der Gebühren einen deutlichen finanziellen Mehrwert durch ihr Studium gegenüber Nichtakademikern haben, wird dabei ausgeblendet. Ebenso, dass zum Beispiel in NordrheinWestfalen die große Mehrheit der Bafög-Empfänger nie auch nur einen einzigen Euro hat zahlen müssen. Die moralische Empörung über die im Verhältnis zu den Kindergartenbeiträgen so viel geringere Ungerechtigkeit von Studiengebühren war dennoch wahltaktisch erfolgreich. Das liegt vor allem daran, wie die Studiengebührenfans von Union und FDP das Thema in den meisten Ländern gehandhabt haben – mit unnötig hohen Kreditzinsen, mit undurchschaubaren und zum Teil unlogischen Ausnahmeregelungen. Aus, vorbei: Außer in Niedersachsen und Bayern ist das Thema Studiengebühren politisch tot und wird es auf absehbare Zeit bleiben. Doch was ist mit den Kindergartengebühren? Überträgt man die Logik der Studiengebührengegner von der sozialen Selektion auf die Frühförderung, so haben wir hier das wesentlich größere, ungelöste Problem: Solange der Besuch von Kindergärten gerade für Kinder der Mittelschicht so teuer ist, sind die Anreize allzu groß, sich den Besuch zu sparen. Eigentlich ist das der wahre Skandal. Als die Studiengebühren eingeführt wurden, hatten sich beide Seiten, Befürworter wie Gegner, eine Reihe von Totschlagargumenten zurechtgelegt. Eines der Befürworter lautete: Ein Bildungssystem, das für Kindergärten Eintrittsgeld verlangt und gleichzeitig ein Studium zum Nulltarif anbietet, steht auf dem Kopf. Genau umgekehrt müsse es sein: erstklassige Elementarbildung kostenlos für alle, Hochschulen mit Gebühren für jene, die sie sich leisten können. Was folgte, war die Einführung von Studiengebühren, aber – Beispiel Baden-Württemberg und Bayern – mitnichten die Abschaffung der Kindergartengebühren. Das haben sich die Leute gemerkt. Die Wahlsieger der vergangenen Wochen, die sich jetzt mit lautstarkem Eigenlob für das bevorstehende Aus der Campusmaut auch in ihren Ländern rühmen, täten gut daran, es besser zu machen. Statt dessen jedoch verkünden die Grünen in Baden-Württemberg, sie sähen für die Abschaffung der Kindergartenbeiträge »keinen Spielraum«. Auch in Hamburg war die Rücknahme der jüngsten Erhöhung alles, wozu sich die allein regierenden Sozialdemokraten bislang durchringen konnten. Solche Scheinheiligkeiten könnten den Triumphatoren von heute in einigen Jahren ebenfalls auf die Füße fallen – spätestens dann nämlich, wenn die Wähler merken, dass die Studiengebühren ein Klacks waren im Vergleich zu den Abermilliarden, die junge Eltern Jahr für Jahr für die elementarste Bildung ihrer Kinder abdrücken müssen. www.zeit.de/audio

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EB

Studiengebühren abzuschaffen ist populär wie nie. Von den horrenden Kosten für Kindergartenplätze redet kaum einer

SCHULE HOCHSCHULE BERUF

HI

Was ist uns Bildung wert?

S. 90

TIPPS UND TERMINE

Management für Forschende Die Uni Bern startet den Studiengang »CAS Forschungsmanagement«. Er vermittelt sogenannten Research-Managern aus Wissenschaft, Unternehmen und Verwaltung Kenntnisse über die Akquisition von Forschungsprojekten und Fördergeldern, die Leitung von Forschungsteams sowie Kommunikation, Transfer und Marketing von Forschungsergebnissen. Die sechs Module des berufsbegleitenden Studiengangs können auch einzeln besucht werden. www.zuw.unibe.ch Sicherheit und Gesundheit Die Dresden International University bietet das neue Masterstudium »Management Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (MSGA)« an. Die Absolventen sollen Führungsverantwortung in der Sicherheitsorganisation von Großunternehmen übernehmen können und bei der Einführung komplexer Sicherheitsstandards beraten. Das Studium kann über vier Semester neben dem Beruf absolviert werden: www.di-uni.de

MEHR CHANCEN:

Jetzt am Kiosk: ZEIT CAMPUS Illustration: Jan Kruse für DIE ZEIT/www.humanempire.de

CHANCEN S

LESERBRIEFE DIE ZEIT DER LESER S. 89

Wie Studenten durch das Studium gehetzt werden und warum doch die Langsamen gewinnen Im Netz: Wo studieren? Welche Hochschule in einem Fach führt, verrät das CHE-Hochschulranking unter www.zeit.de/hochschulranking

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BERUF

Wie finden entlassene Führungskräfte eine neue Stelle? Das erklärt der Outplacement-Berater Norbert Roseneck ab S. 76

STELLENMARKT

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DIE ZEIT No 15

SCHULE

CHANCEN

»Das Chaos beenden«

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Fotos (Ausschnitte): Matthias Jung/laif (l.); Darmer/Davids

Die Leiter deutscher Gymnasien präsentieren einen Rettungsplan für das föderale Bildungssystem

Gemeinsam lesen und lernen: Auch dafür sind Schulbibliotheken wichtig

Wo Wikipedia auf Brockhaus trifft Deutschlands Schulen vernachlässigen ihre Bibliotheken, dabei sind die unerlässlich – gerade im Zeitalter des Internets

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ie sind ein Ort zum Schmökern, Ausruhen, Chillen, ein Ort, an dem sich Freunde zum Schachspielen verabreden oder um gemeinsam Hausaufgaben zu machen. Schulbibliotheken sind das große, gemütliche Wohnzimmer einer Schule – wenn es sie denn gibt. Infolge der lauten Aufregung um Leseförderung, Sprach- und Medienkompetenz hat sich viel bewegt an Deutschlands Schulen, gerade nach den ernüchternden Pisa-Ergebnissen der vergangenen Jahre. Förderprogramme und Wettbewerbe zur Lesefitness wurden aufgelegt, viele Millionen in die technische Ausstattung der Schulen mit Computern und Internetzugängen gesteckt. Die Schulbibliotheken allerdings bekamen nur selten etwas ab. Sie sind bis heute die Verlierer im Verteilungskampf um die Bildungsinvestitionen. »Deutschland ist in Sachen Schulbibliotheken ein Entwicklungsland«, sagt Günter Schlamp, pensionierter Schulleiter und Mitbegründer der Landesarbeitsgemeinschaft Schulbibliotheken in Hessen. Gerne verweist er auf Staaten wie Dänemark, Österreich oder Portugal, in denen es selbstverständlich sei, dass eine Schule mit einer Bibliothek und der dazugehörigen Fachkraft ausgestattet sei. In den USA besitzen 90 Prozent der Schulen eine eigene Bibliothek – bezeichnenderweise fehlen für Deutschland verlässliche Zahlen. Es gibt hierzulande auch keine verbindlichen Standards: »Schulbibliothek«, das kann eine muffige Kammer mit Jugendbüchern aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts sein, aber auch ein heller, großzügiger Raum mit mehreren Tausend Bänden, mit PC-Plätzen und Zonen für Arbeitsgruppen. Warum ist das so? »Es fehlt bei uns generell ein Verständnis für den Wert von Bibliotheken«, meint Schlamp. »Sie gelten als soziale Defizitausgleichstation. Hinzu kommt, dass es in Deutschland vergleichsweise gute Schulbücher gibt und viele Lehrer

meinen, dass sie auf eine Bibliothek verzichten können.« Schlamp kämpft für ein verändertes Bild von Schulbibliotheken: »Wichtig ist der Raum: Ein zentraler Ort, an dem Schüler gemeinsam recherchieren, Informationen auswerten, vergleichen. Und natürlich auch eine ruhige Ecke finden. Die Bibliothek als sozialer Ort wird bei uns massiv unterschätzt.«

»Die Schüler suchen einen betreuten und geschützten Ort und wollen reden« Frankfurt am Main, Innenstadt: Die Musterschule erhielt Anfang des 19. Jahrhunderts ihren Namen, weil sie als vorbildlich und experimentierfreudig galt. Auch heute hat das Städtische Gymnasium vielen anderen Schulen etwas voraus: eine Bibliothek, in der einiges los ist, vor allem um die Mittagszeit. »Wir nennen das aktive Mittagspause«, erzählt Philip Verplancke. Der Kulturpädagoge leitet das Nachmittagsangebot der Musterschule. »Studio_M«, wie die Schulbibliothek hier heißt, spielt dabei eine wichtige Rolle. »Die Schüler kommen hierher, um zu lesen, E-Mails abzurufen oder gemeinsam an Referaten zu arbeiten. Man merkt, dass viele einen betreuten und geschützten Ort suchen, den zu Hause vielleicht nicht alle finden. Manche suchen Kontakt, wollen reden.« Am Vormittag können Schülergruppen die 200 Quadratmeter große Bibliothek nutzen, um Rechercheprojekte durchzuführen. Aber tun sie das auch? »Mit der ganzen Klasse ist das schwierig«, findet die Deutsch- und Geschichtslehrerin Nora Scholz. Zudem lasse die verkürzte Gymnasialzeit zu wenig Raum für solche Aktivitäten. Aber das soll sich in Zukunft ändern, nicht zuletzt weil Schüler inzwischen die Präsentation selbst recherchierter Themen ins Abitur einbringen können. »Schulleitung, Kollegen und die Mitarbeiter der Bibliothek arbeiten daran, ein Curriculum für den Methodenerwerb zu entwickeln.«

Die Finanzierung von Studio_M war ein kleines Kunststück. Sie wurde zusammengestückelt aus Mitteln des Bundes, der Stadt und Spendengeldern. Über das Ganztagsschulprogramm des Bundes konnte der Raum finanziert werden, aber kein einziges Buch. Durch verschiedene Aktionen und viel Elternhilfe kamen schließlich 40 000 Euro für die Erstausstattung zusammen. »Man bekommt so etwas wirklich nicht auf dem Teller präsentiert«, sagt Philip Verplancke. Aber die Anstrengungen haben sich gelohnt: »Die Atmosphäre an der Schule hat sich verändert. Ich beobachte manchmal, wie unsere Schüler Freunde voller Stolz durch den Raum führen.« Der Neid der anderen ist berechtigt, denn in Frankfurt am Main ist die Einrichtung einer Schulbibliothek einfacher als in anderen Kommunen. Nicht nur, weil die Stadt wohlhabender ist, sondern auch, weil sie mit der Einrichtung der schulbibliothekarischen Arbeitsstelle (SBA) politische Prioritäten gesetzt hat. Die SBA versteht sich als Dienstleister für Schulen. Ihre Angebote reichen vom »Bücherrucksack« für ein Rechercheprojekt bis hin zur »Bibliothekarin auf Zeit«, die für mehrere Wochen vor Ort beim Aufbau oder bei der Neuorganisation einer Bibliothek Hilfe leistet. Allerdings: Keine Stadt ist zu diesen Leistungen verpflichtet. »Es ist in Deutschland wie beim Domino Day«, sagt Birgit Lücke, »man muss eine Vielzahl von Klippen überwinden und Weichen stellen, damit die Steine in die richtige Richtung fallen.« Die Bibliothekarin aus dem westfälischen Warendorf leitet beim Deutschen Bibliotheksverband (dbv) die Kommission »Bibliothek und Schule«. Der dbv hat mit zwölf Bundesländern Kooperationsverträge abgeschlossen und wird dadurch mit seinen öffentlichen Bibliotheken zum Partner der Schulen – eine mitunter komplizierte Beziehung. »Die kommunalen Bibliotheken stehen selbst mit dem Rücken zur Wand – wie sollen sie da noch in den Schulen Regale bestücken und sie personell unterstützen?«, fragt Birgit Lücke. Also begnügen sich viele Stadtbibliotheken damit, Lehrer zur Projektarbeit einzuladen – von denen aber wollen die wenigsten einen ganzen Vormittag mit einer Reise in die Stadtteilbibliothek verbringen, um dort vielleicht festzustellen, dass die wichtigsten Bücher ausgeliehen sind. Bibliotheksexperte Günter Schlamp sieht in den Kooperationsverträgen des dbv vor allem ein Feigenblatt für die Bundesländer. »Wenn ich jetzt in irgendeinem Kultusministerium nach dem Thema Schulbibliotheksarbeit frage, dann schicken die mich zur nächsten Stadtbibliothek und sind fein raus.« In Hamburg ist das etwas anders: 2009 taten sich hier Bildungs- und Kultursenat zusammen, um neun Schulen mit Arbeitsbibliotheken auszustatten: Sie sind während des Schulbetriebs durchgehend geöffnet, bieten multimediale

VON BURKHARD WETEKAM

Gruppenarbeitsplätze und Lesezonen, eine Vollzeitkraft kümmert sich um Schüler und Schulklassen. Nach einer Testphase sollen ab 2012 die Hamburger Schulen flächendeckend an das Netz angeschlossen werden. Mit dem Projekt ist die Hoffnung verknüpft, dass sich durch die Bibliotheken auch der Unterricht verändert: Schüler werden weniger durch Lehrerimpulse gelenkt, sondern arbeiten selbstständig an einem Thema – Lehrer und Bibliothekar beraten sie dabei: Welche Internet-Seite hilft mir weiter? Wo finde ich eine anschauliche Grafik? Warum stellt das Lexikon von 1980 ein Problem ganz anders dar als der Wikipedia-Artikel? In einem aktuellen Zwischenbericht ist zu lesen, dass diese Veränderungsprozesse auch in Hamburg Zeit brauchen. Viele Lehrer hingen noch an ihrer »solistischen Rolle« und täten sich schwer, Kompetenzen an einen Bibliothekar abzugeben. Es fehlt ein anerkannter Mittler zwischen Unterricht und Bibliothek. In den angelsächsischen Ländern ist das der teacher librarian – ein Berufsstand, den es in Deutschland nicht gibt. Das Vorzeigeprojekt aus Hamburg hat einen weiteren Haken: Es ist eine Idee des schwarz-grünen Senates, der inzwischen abgewählt wurde – nicht zuletzt wegen der Schulpolitik. Ob die neuen Senatoren so souverän sind, die Pläne trotzdem umzusetzen, darauf will sich derzeit noch keiner festlegen. Dabei könnte Hamburg mit diesen Plänen eine Vorreiterrolle in der Republik spielen.

»Das Buch ist ein Produkt, das man nicht verbessern kann« Eine neue Vision von Bibliotheken – daran arbeitet auch die Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur. Andrea Nikolaizig, Professorin für Bibliotheks- und Informationswissenschaft, will weg von der Vorstellung Spitzwegscher Büchersammlungen und spricht lieber von multimedialen Lernlandschaften: »Wir brauchen Orte, an denen Schüler lernen, die Qualität und die Anwendungsmöglichkeiten von Medien zu beurteilen. Die einsame Google-Suche reicht dabei nicht aus.« Die vermeintliche Konkurrenz zwischen alten und neuen Medien ist für Andrea Nikolaizig kein Thema: »Ohne Datenbanken und Internet-Suche geht es nicht. Andererseits ist das Buch ein Produkt, das man nicht verbessern kann.« Während der Leipziger Buchmesse haben ihre Studenten eine temporäre Schulbibliothek aufgestellt. Dort dominierten nicht die rechten Winkel von Regalen, sondern die geschwungenen Formen einer Skater-Pipe, die dem Projekt die Gestalt gab. Das hoffnungsvolle Signal: Schulbibliothek ist hip – vielleicht erkennt das ja auch noch der eine oder andere Bildungspolitiker.

Herr Treptow, Sie gehören der Bundesdirektorenkonferenz an, die rund 2200 Gymnasien in Deutschland vertritt. Auf Ihrem letzten Treffen haben Sie ein Ende des Schulchaos gefordert. Was meinen Sie genau damit? Es ist an der Zeit, das deutsche Schulsystem neu zu ordnen. Nach der Grundschule gibt es in Deutschland 70 verschiedene Schultypen. Kein Mensch versteht mehr, was das soll: In dem einen Bundesland gehen die Kinder auf Mittelschulen, in dem anderen auf Stadtteilschulen, in einem Ralf Treptow, 51, weiteren auf Realschu- leitet ein Gymlen ... Es ist Eltern kaum nasium in Berlin noch zumutbar, mit schulpflichtigen Kindern innerhalb Deutschlands umzuziehen. Die Schulsysteme der einzelnen Bundesländer sind nicht aufeinander abgestimmt und nicht kompatibel. Wie wollen Sie das ändern? Durch eine neue, vergleichbare Grundstruktur in allen Bundesländern. Als deutschlandweit einheitliche Schulform nach der Grundschule empfehlen wir deshalb das achtjährige Gymnasium. Daneben sollte überall eine weitere Säule existieren, die wir in unserem Vorschlag Oberschule nennen. Eine Schule, die alle Abschlüsse anbietet, auch das Abitur, allerdings nach 13 Jahren. Es überrascht nicht, dass es Ihnen als Direktoren deutscher Gymnasien vor allem um die Erhaltung Ihrer eigenen Schulform geht. Ist das Gymnasium denn so gefährdet? Selbstverständlich ist das Gymnasium gefährdet. Die Versuche, das Gymnasium zu schwächen, sind zahlreich. Berlin und Brandenburg haben die sechsjährige Grundschule – auf Kosten der Gymnasien, Hamburg hat versucht, die Grundschulzeit zu verlängern, sogar in Bayern gab es solche Bestrebungen. Als die Spitzenkandidatin der Grünen, Renate Künast, für Berlin ankündigte, man werde in dieser Legislaturperiode noch an den Gymnasien festhalten, danach müsse man dann weitersehen, ging ein regelrechter Aufschrei durch die Stadt. Eltern sind überzeugt vom Gymnasium, während einige Politiker immer wieder eine Diskussion um ein Einheitsschulsystem anzetteln. Deshalb möchten Sie die Erhaltung der achtjährigen Gymnasien in den Landesverfassungen festschreiben. Wie realistisch ist das? Im Saarland hat das Gymnasium bereits Verfassungscharakter. Dadurch ist es dort viel schwieriger, an dieser Schulform zu rütteln. Wir fordern aber auch, die zweite Säule des Schulsystems, die Oberschule, verfassungsrechtlich zu verankern. Die Bayerischen Realschullehrer haben bereits gegen Ihre Pläne protestiert: Real- und Hauptschulen müssten in ihrer Selbstständigkeit erhalten bleiben. Uns ist schon klar, dass ein Land wie Bayern nicht von heute auf morgen auf das ZweiSäulen-Modell umsteigen wird. Das fordern wir auch nicht. Wir fordern jedoch alle Bundesländer auf, neben dem Gymnasium mindestens eine Säule zu schaffen, die es auch in allen anderen Bundesländern gibt. Hamburg, Bremen und Berlin sind mit ihren Modellen im Moment Vorreiter. Sachsen mit einem bewährten Zwei-SäulenModell überlegt, die Mittelschule in Oberschule umzubenennen. Nach Ihren Vorstellungen soll jede Oberschule auch zum Abitur führen. Das bedeutet mehr Konkurrenz für die Gymnasien – ist das nicht gefährlich? Nicht jede Oberschule wird eine Oberstufe anbieten, das geben die Schülerzahlen gar nicht mehr her. Wir denken eher an Oberstufenzentren, die für mehrere Oberschulen zuständig sind. Unsere Hoffnung ist es auch, dass das Zwei-Säulen-Modell die Gymnasien entlasten wird. In Berlin wechseln in diesem Jahr nach der Grundschule 43 Prozent der Schüler auf ein Gymnasium. Einen noch größeren Ansturm könnten wir gar nicht verkraften. Sie meinen, etwas mehr Elite würde den Gymnasien guttun? Mit einer niedrigeren Übergangsquote würde sicherlich die Wahrscheinlichkeit steigen, dass wirklich alle Schüler am Gymnasium bis zum Abitur geführt werden könnten. Wird es in Zukunft zwei Sorten von Reifezeugnissen geben, das harte Abitur am Gymnasium und die Light-Version an der Oberschule? Das Zwei-Säulen-Modell kann nur funktionieren, wenn beide Säulen gleich gut und attraktiv sind, wenn das Abitur an beiden Schulformen den gleichen hohen Stellenwert besitzt. Nur so wird es die Oberschule schaffen, eine echte Alternative zum Gymnasium zu werden. Interview: JEANNETTE OTTO

CHANCEN

HOCHSCHULE

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

Die Schriftzeichen hat der Kalligraph Zhou Can für uns gepinselt

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STUDENTEN ERKLÄREN IHRE WELT

»

Weshalb werden Kunst- und Musiklehrer in der Schule im Allgemeinen nicht ernst genommen?«

… fragt

diesen Fächern entblößen Lehrer sehr schnell »ihre InPersönlichkeit. Musik vor Publikum zu machen soll ja so ähnlich sein, wie sich vor anderen auszuziehen. Ich war selbst bei den Regensburger Domspatzen und habe das auch so empfunden. Musik- und Kunstlehrer machen ihren Job mit solcher Leidenschaft, weil sie ihr Fach an sich lieben. Und wenn jemand für eine Sache brennt, ist er schnell Zielscheibe adoleszenten Spotts. Außerdem sehen wohl die meisten Schüler und Schülerinnen Kunst und Musik als nicht so wichtig an. Das ist eigentlich schade, denn viele Hobbys können sich daraus entwickeln, und später im Leben kriegt man nie mehr so leicht Input in diesen Bereichen. Ich nehme mich selbst da nicht aus. Am Unterricht habe ich mich nur dann konstruktiv beteiligt, wenn ich das wollte, egal, was mein Lehrer gesagt hat.«

… antwortet Ferdinand Trommsdorff, 28, der Elektrotechnik an der TU München studiert

NACKTE ZAHLEN

* »Chinesisch zu lernen lohnt sich.«

W

ir schreiben das Jahr 2020. China ist die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt, selbst die USA sind abgeschlagen. Auch in Wissenschaft und Politik richten sich die Blicke gen Fernost, good old Europe als Vorreiter ist lange passé. Wer jetzt kein Chinesisch kann, kommt nicht weit. Ob diese Zukunftsvision tatsächlich bereits im Jahr 2020 eintreffen wird, darüber streiten sich die Ökonomen noch. Dass China eines Tages die Nummer eins sein wird, ist allerdings unbestritten. Auf dem Arbeitsmarkt sind Chinesischkenntnisse daher schon heute begehrt. In Deutschland wird Chinesisch an 44 Schulen als reguläres Unterrichtsfach angeboten, nur an einigen als Abiturfach – gemessen an der Bedeutung, die die Sprache erlangt, ist das noch eine sehr überschaubare Anzahl. »Ein zentrales Problem bei der Etablierung des Schulfachs liegt darin, dass es nicht genug entsprechend qualifizierte Lehrer in Deutschland gibt«, sagt Hiltraud Casper-Hehne. Sie ist die Vizepräsidentin der Universität Göttingen. Dort wird vom Wintersemester 2011/12 an der Lehramtsstudiengang »Chinesisch als Fremdsprache« angeboten. Bisher kamen die Chinesischlehrer über Sonderwege an die Schulen: als Muttersprachler oder durch eine Zusatzqualifikation. In München und Köln gibt es Chinesisch als Ergänzungsfach. Der Göttinger Studiengang mit Chinesisch als zweitem Pflichtfach ist dagegen der erste seiner Art.

Der Fachverband Chinesisch als Fremdsprache forderte schon 1984, dass auch Schüler Chinesisch lernen sollten. Im August 2010 hat das Kultusministerium Niedersachsen nachgezogen und zugestimmt, Chinesisch als zweite Fremdsprache an niedersächsischen Schulen einzuführen. Um genügend Lehrer zu stellen, beschloss man ebenfalls, den entsprechenden Lehramtsstudiengang in Göttingen einzurichten. Eine Hürde war die Referendariatsausbildung der angehenden Chinesischlehrer. »Wir mussten klären, ob es in Deutschland dafür qualifizierte Lehrkräfte gibt. Mittlerweile haben wir – nach längeren Recherchen – mehrere Personen gefunden, die für diese Aufgabe geeignet sind«, sagt CasperHehne.

Das Fach Chinesisch kommt sehr gut bei Schülern und Eltern an Im Herbst können sich 25 Studenten zu Chinesischlehrern ausbilden lassen. Sie werden einen langen Atem brauchen. »Wer Englisch und Latein gelernt hat, lernt schnell Französisch und Spanisch. Man erkennt die Worte wieder. Im Chinesischen gibt es nicht ein Wort, nicht ein grammatisches System, das dem unseren gleicht«, sagt Axel Schneider. Er ist der Leiter des Ostasiatischen Seminars, zu dem auch der neue Studiengang gehören wird. Neben dem Lehramtsstudium gibt es zwei weitere Studiengänge, die ganz auf das moderne China ausgerichtet sind.

»Wir wollen, dass unsere Studenten das China von heute verstehen und nicht ausschließlich die klassischen Texte lesen. Sie können sich aussuchen, ob sie den Fokus auf eine sprachliche Ausbildung legen oder ihre Kenntnisse zum modernen China lieber mit einer Fachwissenschaft wie Jura oder Geschichte verzahnen«, sagt Schneider. Besteht tatsächlich so ein starker Bedarf an Chinesischlehrern? Christiane von Schachtmeyer ist nicht nur überzeugt davon, dass es einen Bedarf an qualifizierten Chinesischlehrern gibt, sondern dass dieser weiter wachsen wird. »Das Fach kommt sehr gut bei Schülern und Eltern an. 15 Prozent unserer Schüler lernen Chinesisch, obwohl es sehr anspruchsvoll ist und vier zusätzliche Wochenstunden bedeutet«, sagt von Schachtmeyer. Sie ist die Schulleiterin des Gymnasiums Marienthal in Hamburg. Dort wird Chinesisch ab der fünften Klasse bis zum Abitur unterrichtet. An ihrer Schule unterrichten überwiegend Muttersprachler, aber die Schulleiterin wünscht sich auch deutsche Lehrer, die sich mit Fremdsprachendidaktik auskennen. Von den zukünftigen Absolventen aus Göttingen verlangt Christiane von Schachtmeyer viel. »Sie müssen sprachlich absolut sicher sein, und sie müssen die Sprache und die Kultur aus eigener Anschauung kennen. Es scheint mir sonst undenkbar, dass man Schüler in Chinesisch unterrichten kann.« Denn wer China verstehen will, sollte nicht nur die Schriftzeichen auswen-

VON LISA SRIKIOW

dig lernen, sondern sich auch mit den Weisheiten des Lehrmeisters Konfuzius beschäftigen. Dessen Lehrtraditionen haben die chinesische Kultur und Gesellschaft stark geprägt. Auch Axel Schneider von der Universität Göttingen betont, wie wichtig eine fundierte Ausbildung ist. »Vor allem Aussprachefehler lassen sich nur schwer korrigieren, deshalb ist ein guter Start mit einem guten Lehrer so wichtig«, sagt Schneider. In den Göttinger Lehramtsstudiengang ist daher auch ein Auslandsaufenthalt integriert.

Eine Didaktikprofessur soll erforschen, wie man die Sprache vermittelt Allerdings fehlt eine fundierte und einheitliche Fachdidaktik der chinesischen Sprache. Die Universität Göttingen richtet vom Wintersemester an eine Professur für »Fachdidaktik Chinesisch als Fremdsprache« ein, die erforschen soll, wie man Chinesisch am besten vermittelt. Schließlich erwartet sie viele Bewerber, deren Erwartungen an das Lehramtsstudium sie gerecht werden muss. Von etablierten Fremdsprachen wie Englisch, Französisch oder Spanisch ist man weit entfernt – noch. Die Hamburger Schulleiterin Christiane von Schachtmeyer sagt: »Ich erinnere mich, dass wir eine ähnliche Diskussion hatten, als Spanisch als Fremdsprache unterrichtet werden sollte. Und jetzt gehört das Fach fest zum Stundenplan.«

Geld oder Bücher? Das neue »Deutschlandstipendium« der Bundesregierung sorgt für Verwirrung: Dürfen Stipendiaten gleichzeitig noch Zuwendungen anderer Stiftungen erhalten? VON PETER WAGNER

M

it Stipendien für Studenten ist es in Deutschland bislang nicht weit her. Nur drei Prozent der mehr als 2,1 Millionen Studierenden bekommen einen Zuschuss. Diese mickrige Zahl soll sich ändern. Im Februar bekamen die ersten Studenten die Zusage für ein »Deutschlandstipendium«, das das Bundesbildungsministerium gemeinsam mit den Hochschulen und privaten Förderern ins Leben gerufen hat. 300 Euro je Monat bekommt jeder Stipendiat. Die Hälfte des Betrages stecken Bund und Länder in den Auszahlungstopf, die andere Hälfte müssen die Hochschulen bei privaten Spendern einwerben. Wenn es nach dem Willen der Bundesbildungsministerin geht, bekommen bis Ende des Jahres 10 000 Studenten die neue Förderung. Mittelfristig sollen es 160 000 und damit acht Prozent aller Studierenden werden, die die einkommensunabhängige Förderung bekommen. An einigen Hochschulen scheint es allerdings noch Irritationen über die Förderungmodalitäten

zu geben. Eine Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) bekam an ihrer bayerischen Universität die Auskunft, dass die Tatsache, dass sie bereits gefördert werde, ein Ablehnungsgrund bei einer Bewerbung um ein Deutschlandstipendium sein könne. Die KAS zahlt ihren Stipendiaten ein einkommensunabhängiges Büchergeld von 80 Euro im Monat. Hinzu kommen ideelle Förderungen in Form von Seminaren und Exkursionen. Die Studentin, hieß es offenbar, müsse sich entscheiden, ob sie nun die ideelle Förderung der Stiftung oder das Deutschlandstipendium bekommen wolle. Die junge Frau sieht darin eine Ungleichbehandlung. Bafög-Empfänger zum Beispiel müssen keine Abstriche machen, wenn sie ins nationale Stipendienprogramm aufgenommen werden. So soll sichergestellt werden, dass engagierte Studenten aus einkommensschwachen Familien die bestmögliche Förderung bekommen. »Aber nur weil ein Student in einem Begabtenförderungswerk ist

und dort das Büchergeld bekommt, heißt das noch lange nicht, dass er aus vermögenden Verhältnissen stammt«, überlegt nun die Studentin von der bayerischen Universität, die ihren Fall nur anonym ansprechen will, weil sie Auswirkungen auf ihre Bewerbung befürchtet. Im Bundesbildungsministerium wundert man sich über die Geschichte. Stefanie Stegemann-Boehl kümmert sich dort um »Übergreifende Fragen der Begabtenförderung«. Sie sagt: »Der parallele Bezug von Büchergeld aus einer Stiftung und einem Deutschlandstipendium ist in der Tat ausgeschlossen. Die Inanspruchnahme rein ideeller Förderung durch ein Begabtenförderungswerk ist neben einem Deutschlandstipendium aber möglich.« Dann müsste auf das Büchergeld verzichtet werden. Die Studentin scheint also eine falsche Auskunft bekommen zu haben. Die Förderung durch ein Begabtenförderungswerk sei kein Ausschlusskriterium beim Deutschlandstipendium, heißt es.

... Millionen Euro entgehen Baden-Württembergs Hochschulen, sobald die Wahlsieger die Studiengebühren abschaffen. Das Geld soll aus dem Staatshaushalt ersetzt werden

Es scheint sich also gerade in der Anfangsphase eines neuen Förderprogramms zu lohnen, genauer nach den Auswahlkriterien zu fragen. Auch die Hochschulen müssen sich das neue Verfahren erst aneignen. Zudem weist Stefanie Stegemann-Boehl noch auf eine Änderung hin: Den Stipendiaten der zwölf Begabtenförderwerke, die allesamt vom Bundesbildungsministerium unterstützt werden, wird es langfristig besser gehen. Bald soll das Büchergeld nach Jahren der Stagnation von 80 auf 150 Euro angehoben werden. Und noch im Lauf der Legislaturperiode soll dieser Betrag auf 300 Euro je Monat verdoppelt werden. »Die Ungleichbehandlung gegenüber dem Deutschlandstipendium ist also nur vorübergehender Natur«, sagt Stefanie Stegemann-Boehl. Ein Satz, der bei den Stiftungen gern gelesen wird. »Wir blicken der Zukunft und der gedeihlichen Koexistenz der begabtenfördernden Institutionen zuversichtlich entgegen«, heißt es etwa bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Kalligraphie im Original schwarz: Zhou Can für DIE ZEIT (mit Unterstützung der Universität Göttingen)

Daher hat die Universität Göttingen den ersten Studiengang für angehende Lehrer eingerichtet

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Abenteuer Studieren

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Warum Vikshana Raveendrarajah die Kinder-Universität toll findet Was ist eigentlich eine Kinder-Uni? Für die Kinder-Uni kommen ganz viele Kinder aus verschiedenen Schulen in einen großen Saal an einer Universität und lernen eine Menge. Vorne steht eine Uni-Lehrerin und erklärt ihnen etwas. Wenn es gut war, klopfen am Ende alle auf die Klapptische, das ist dann sehr laut. Du warst gerade in einer Kindervorlesung an der Uni Bielefeld. Wie hat sie dir gefallen? Ich fand sie sehr schön. Es ging um Psychologie. Ich kannte das Wort, wusste aber vorher nichts darüber. Die Frau hat erklärt, was Motiva- Vikshana, 10, aus tion ist und woher sie Bielefeld geht kommt. Am interessantesten in die 4. Klasse fand ich, dass wir nicht mitkriegen, was um uns herum passiert und wie die Zeit vergeht, wenn wir sehr konzentriert sind. Flow-Erleben heißt das. Ich hatte das schon mal, als ich Mathe-Hausaufgaben gemacht habe. Letztes Jahr war ich auch bei der Kinder-Uni. Da haben wir gelernt, wie Roboter gebaut werden und dass sie sprechen können. Ist es nicht ein bisschen früh, als Kind schon zur Uni zu gehen? Nein. Deswegen hat man ja die Kinder-Uni gemacht. Da kann man sich fühlen, als ob man schon groß ist und studiert. So kann man ausprobieren, ob einem das gefällt. Außerdem: Wenn man schon als Kind hingeht, lernt man jetzt schon etwas und nicht erst als Erwachsener. Interview: JULIA NOLTE

Kleine Fotos [M]: Oertwig/Schroewig/dpa (o.); privat (2)

die Violinistin Anne-Sophie Mutter

CHANCEN

BERUF

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

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DAS ZITAT

Arthur Schopenhauer sagt:

Foto (Ausschnitt): Urban Zintel für DIE ZEIT/www.urbanzintel.de

»Er ist sehr ungesellig« besagt beinahe schon: »Er ist ein Mann von großen Eigenschaften«

Anstoß für Entlassene Wie er gekündigte Führungskräfte in eine neue Position bringt, erklärt der Outplacement-Berater Norbert Roseneck Norbert Roseneck, 57, ist Coach bei der Newplacement AG

DIE ZEIT: Herr Roseneck, haben Sie Up in the Air

gesehen? Norbert Roseneck: War das nicht dieser Film mit

George Clooney? ZEIT: Genau. Er spielt einen Outplacement-Berater, der von Firmen angeheuert wird, um Mitarbeiter zu entlassen. Wie viel hat das mit Ihrem Berufsalltag als Outplacement-Berater zu tun? Roseneck: Der Film ist Unterhaltungskunst – eine Überspitzung, die nicht mit der Realität verwechselt werden darf. Die Aufgabe eines OutplacementBeraters muss meines Erachtens heute darin bestehen, Menschen, die entlassen wurden, in eine neue Funktion zu bringen. ZEIT: Deswegen nennt sich Ihre Firma auch Newplacement AG? Roseneck: In der Bezeichnung Outplacement schwingt historisch bedingt eine starke Kümmererfunktion für Verunglückte mit. OutplacementBeratung kommt aus den USA, wo es ursprünglich darum ging, Soldaten nach zehn und mehr Jahren Kriegsdienst wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Natürlich muss man den Schock der Entlassung erst einmal verarbeiten, aber uns geht es nicht vordringlich um psychotherapeutisches Aufbauen, sondern um die Zukunft unserer Klienten, und das wollen wir deutlich machen. ZEIT: Sie werden vor allem von Firmen gebucht, um deren entlassene Führungskräfte zu beraten. Roseneck: Entlassungen im Management sind keine Seltenheit mehr, dafür gibt es verschiedene Gründe. Ein Unternehmen verändert sich, stellt den Bereich A ein – dann braucht es auch den Vertriebsleiter A nicht mehr. Es kann passieren, dass ein Chef sich mit einer Führungskraft nicht versteht. Oder ein Manager ist den neuen Anforderungen an seine Position nicht gewachsen. In solchen Fällen ist es oft sinnvoller, man trennt sich. ZEIT: Was bringt es einem Unternehmen, Sie für die Beratung eines Mitarbeiters zu bezahlen, der ausscheidet? Immerhin verlangen Sie 22 Prozent des Jahresgehaltes, das sind bei einer Führungskraft mindestens 17 000 Euro.

Roseneck: Die genaue Kalkulation orientiert sich tenhaushalt groß geworden ist oder ob seine Elimmer am Einzelfall. Zunächst einmal übernimmt tern ein Unternehmen geführt haben, wirkt sich auch darauf aus, wie er selbst Arbeit definiert und das Unternehmen damit soziale Verantwortung. ZEIT: Die vor einigen Jahrzehnten noch darin be- welche Art von Arbeitsleben und -kultur er sich vorstellen kann. Daraus lässt sich zum Beispiel stand, den Mitarbeiter zu behalten. Roseneck: Richtig, und danach kam die Phase, in ableiten, ob jemandem Sicherheit wichtig ist, der sich die Unternehmen von der Verantwortung oder ob er mit wechselnden Einkommen leben mit hohen Abfindungen freikauften. Heute hat sich kann und kein Problem damit hat, wenn die die Sichtweise durchgesetzt, dass Geld allein nicht Kunden auch am Wochenende in der Familie anweiterhilft. Deswegen wird dem Entlassenen ein rufen. Ich habe einmal ein Genie aus dem Bereich Coach an die Seite gestellt. Das hat auch ganz prak- des Unterhaltungsbusiness beraten; der Mann hat für Medien weltweit neue Fortische Gründe. Eine Trennung, die mate gescannt, ein großer durch ein Coaching begleitet wird, In der heutigen Spezialist. Nun wollte er den endet seltener vor dem ArbeitsArbeitswelt kann man Wohnort wechseln, weniger gericht, weil durch die Beratung die Zukunft des Arbeitnehmers nicht davon ausgehen, reisen und sich mehr um seine Familie kümmern. Die Selbstgesichert wird. Zudem dauert die dass die nächste ständigkeit wäre ideal für seine Freistellung eines Mitarbeiters oft Lösung die endgültige Situation gewesen – aber im lange. Mit der Hilfe eines Coachs ist. Jede Position ist Gespräch hat sich herauskriskann er oft in kürzerer Zeit eine tallisiert: Das bringt er nicht neue Stelle antreten, der ehemalige eine Startposition fertig. Er hat immer in einer Arbeitgeber spart sich gegebenensicheren Umgebung gelebt, falls mehrere Monatsgehälter. ZEIT: Und die Entlassenen können sich nicht ein- sein Bedürfnis danach ist zu stark. fach selbst helfen? ZEIT: Durch Ihre Analyse verengen sich die MögRoseneck: Viele unserer Klienten waren schon lichkeiten für den Einzelnen. lange nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt. Sie sind Roseneck: Ja, und genau darum geht es. Wer entinnerhalb ihrer Firma aufgestiegen und dachten, es lassen wurde, soll nicht einfach nur schnell in eine gehe bis zur Rente so weiter. Stattdessen werden sie neue Anstellung kommen, sondern er muss eine plötzlich mit Anfang 50 entlassen und fallen aus Aufgabe finden, die möglichst genau zu ihm passt allen Wolken. Sie sind es nicht gewöhnt, sich kri- und die ihm auch eine Perspektive bietet. In der tisch mit ihren Stärken und Schwächen auseinan- heutigen Arbeitswelt kann man nicht davon ausderzusetzen und daraus Tätigkeitsfelder abzuleiten, gehen, dass die nächste Lösung die endgültige ist. in denen sie sich bewerben können. Jede Position ist auch wieder eine Startposition. ZEIT: Was ist der erste Schritt, den man tun sollte, ZEIT: Was raten Sie, wenn jemand sich mit 45, 50 wenn man plötzlich ohne Job dasteht? Jahren noch mal etwas ganz Neues machen will? Roseneck: Wir beginnen mit einer biografischen Roseneck: In einem solchen Fall ist es wichtig, sich Analyse, um herauszufinden, was diese Menschen die Risiken bewusst zu machen und abzuwägen, geprägt hat. ob man sie eingehen will. Der Neuanfang kann erfolgreich sein – wenn er es allerdings nicht ist, ZEIT: Wonach fragen Sie konkret? Roseneck: Eine große Rolle für die Suche nach hat der Betreffende ein richtiges Problem, denn die einem neuen Arbeitsplatz spielt zum Beispiel die Rückkehr in sein vorheriges Berufsfeld wird soziale Umgebung. Ob jemand in einem Beam- schwierig.

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ZEIT: Für die Jobsuche nutzen Sie vor allem Head-

hunter und Netzwerke (wie man das selbst tun kann, steht unten). Helfen Sie bei der Bewerbung? Roseneck: Natürlich. Wir trainieren schriftlich und mündlich mit unseren Klienten, wie man adressatenorientiert denkt und sich entsprechend präsentiert. Wichtig ist bei einer Bewerbung ja, dass man auf die Wünsche des Gegenübers eingeht. Das ist wie beim Autokauf: Ich bin zum Beispiel jemand, den die PS eines Wagens überhaupt nicht interessieren. Wenn ein Verkäufer mir dann lang und breit erzählt, wie leistungsstark der Motor ist, macht er etwas falsch. ZEIT: Das wissen ehemalige Führungskräfte nicht längst selbst? Roseneck: Nahezu jedem fällt es schwer, hier eine kritische Distanz zu sich selbst einzunehmen. Man neigt dazu, Erfahrungen, die für einen selbst sehr wichtig waren, besonders zu betonen, und vergisst dabei schnell, dass sie für die angestrebte Stelle womöglich unwichtig sind – und damit auch für den Personalchef, mit dem man das Bewerbungsgespräch führt. ZEIT: Wie lange dauert es, bis jemand eine neue Stelle gefunden hat? Roseneck: 2010 lagen bei uns durchschnittlich 4,2 Monate zwischen dem Beginn der Beratung bis zum Abschluss des neuen Vertrages. Das heißt, wir hatten Klienten, bei denen es weniger lange dauerte; es kommt aber auch vor, dass im Einzelfall zwölf Monate nicht ausreichen. ZEIT: Woran liegt das dann? Norbert Roseneck: Zum Beispiel am Alter. Wir finden für jeden eine Lösung, aber bei um die 60Jährigen brauchen wir oft mehr Flexibilität – und Zeit. Und manchmal werden auch wir davon überrascht, dass sich lange keine passende Stelle findet. Das hat eben nicht nur mit dem Können des Bewerbers zu tun. Im Arbeitsmarkt mischt immer auch der Zufall mit. Das gilt besonders für Führungskräfte. Interview: INGE KUTTER

Ran an die verdeckten Stellen Die meisten Posten werden nicht offiziell ausgeschrieben. So bekommt man sie trotzdem Darum ist der verdeckte Stellenmarkt so wichtig: Die Bundesagentur für Arbeit geht davon aus, dass 70 Prozent aller Positionen nicht öffentlich ausgeschrieben werden. Hans Rainer Vogel von der Karriereberatung Vogel & Detambel schätzt sogar, dass bei den mittleren Führungspositionen mit einem Jahreseinkommen von 60 000 bis 80 000 Euro 80 Prozent der Positionen nicht öffentlich ausgeschrieben werden. Bei den Top-Positionen mit einem Gehalt von rund 120 000 Euro seien es fast 100 Prozent. Aber auch Fachkräfte haben gute Chancen, auf der Suche abseits von Anzeigenmärkten einen Job zu finden. Der Grund, warum so viele Stellen verdeckt vergeben werden, liegt auf der Hand: Öffentliche Stellenausschreibungen sind arbeitsaufwendig und teuer, schließlich müssen unzählige Bewerbungen gelesen und bearbeitet werden. Deshalb suchen viele Unternehmen zunächst in ihrem eigenen Netzwerk oder fragen Mitarbeiter nach deren Kontakten.

Das kann man tun, um einen verdeckten Job zu bekommen: »Man sollte sich zunächst im eigenen Netzwerk umhören«, rät Vogel. »In welchen Unternehmen arbeiten Freunde, Verwandte oder ehemalige Kollegen?« Sie können meist schnell herausfinden, ob eine Spontanbewerbung bei ihrem Arbeitgeber Aussicht auf Erfolg hat, oder sogar die Bewerbungsunterlagen direkt an die richtige Abteilung weiterleiten. Das erleichtert vieles. Auch mit Initiativbewerbungen kann man Erfolg haben. Wichtig sei es dabei aber, die Unterlagen nicht wahllos zu verschicken, sagt Vogel, vor allem nicht ein und dasselbe Schreiben an unterschiedliche Firmen. »Man muss sich genau überlegen, welche Aufgaben man wahrnehmen möchte. Diese sollte man dann präzise formulieren.« Das muss man bei der Suche nach dem Unternehmen beachten: Viele machten den Fehler, nach ihrem Traumjob zu suchen, sagt der Berater

VON CATALINA SCHRÖDER

Christian Pape, der in seinem Buch Traum! Job! Now! Tipps zur Stellensuche gibt. Stattdessen sollte man sich überlegen, welches Unternehmen die Traumfirma sein könnte. »Derselbe Job kann durch die Bedingungen, die in verschiedenen Unternehmen herrschen, anders aussehen.« So helfen Online-Netzwerke wie Xing oder LinkedIn bei der Suche: Unternehmen und Headhunter suchen hier gezielt nach Mitarbeitern. Christian Pape rät aber dazu, sich nicht als Suchender zu erkennen zu geben, denn damit werte man sich ab. »Firmen suchen Leute, die in ihrem Job erfolgreich sind, und keine Arbeitslosen.« Um kontaktiert zu werden, sollte man seine Fähigkeiten und zugehörigen »Schlüsselwörter« detailliert auflisten. Wer etwa als Programmierer arbeiten möchte, gibt in seinem Profil Java, PHP oder C++ an. Man kann in Netzwerken auch selbst Mitarbeiter von Firmen anschreiben und nachfragen, ob

momentan Personal gesucht wird. Nur von einem Netzwerk rät Pape ab: »Obwohl Facebook gerade eine Business Network-Offensive fährt, denke ich, dass die Benutzer Privatleben und Geschäft trennen wollen.« Ausnahmen gelten bei alternativen Berufen wie Künstlern oder Musikern. Unverbindlich Kontakt zu Firmen bekommt man auch über Karrieremessen. »Es lohnt sich, seinen Lebenslauf auf der Messe Unternehmen zu geben, mit denen man ins Gespräch kommt«, sagt Christian Pape. Auch wer im verdeckten Markt sucht, muss sich Zeit nehmen: »Innerhalb von wenigen Wochen etwas zu finden ist fast unmöglich«, sagt Pape. Die Jobsuche sei ein echter Vollzeitjob und nicht nebenbei zu erledigen. Gerade wer sich initiativ bewirbt, muss viele Bewerbungen verschicken, denn nicht jedes Unternehmen, das man anschreibt, sucht gerade Mitarbeiter.

Der Coach erklärt: Wie viele Menschen braucht es, um eine große Leistung zu vollbringen? Was die Kunst angeht, ist diese Frage leicht zu beantworten. Oder können Sie mir einen Roman, ein Bühnenstück oder nur ein Gedicht von Weltrang nennen, hinter dem mehrere Autoren stehen? Ob große Bücher, große Gemälde oder große Musikstücke: Meist handelt es sich um die Alleingänge von Genies. Und nicht selten waren diese großen Köpfe Eigenbrötler wie Friedrich Schiller, die das stille Kämmerlein dem gesellschaftlichen Umtrieb vorgezogen haben. Aber trifft Schopenhauers Aussage über die großen Männer auch aufs Geschäftsleben zu – sind die einsamen Wölfe, die Ungeselligen, für die großen Taten und den rauschenden Erfolg prädestiniert? Reiten diese Typen einsam in den Sonnenuntergang, wie Jesse James im Western, statt ihren Drink an der Bar mit anderen zu nehmen? Geschäftsleute machen Geld, keine Kunst! Auf Weltfirmen trifft zu, was für die Weltliteratur nicht gilt: Viele davon wurden von mehreren gegründet, deren Talente sich ergänzt haben. Denken Sie nur an Microsoft, das Gemeinschaftsprodukt von Bill Gates, dem Computerhirn, und Paul Allen, dem Geschäftsstrategen. Für Angestellte gilt erst recht: Wer ungesellig ist, reduziert seine Karrierechancen. Nicht nur die Arbeitsleistung macht erfolgreich, sondern auch die Netzwerke, die Kontakte, die sozialen Fähigkeiten. Anders lässt sich eine kuriose Studie des US-Wissenschaftlers Edward Stingham kaum erklären; er fand heraus: Alkoholtrinker machen schneller Karriere. Wer pro Woche bis zu 21 Drinks kippt, verdient mehr und steigt schneller auf als ein Abstinenzler. Alkohol verbessert zwar nicht die Konzentration, aber die Kontakte. Wer nach Feierabend oder nach dem Kongress mit den Kollegen noch an der Bar sitzt, baut Beziehungen auf, trainiert das Sprechen und Zuhören, bekommt heiße Informationen, und sein Vitamin-B-Pegel steigt. Alle, die seine Gesellschaft schätzen, werden gut über ihn reden, ihm wichtige Informationen zuspielen und ihn für freie Positionen empfehlen. Im Büro gilt dasselbe wie in der Bergwand: Eine Seilschaft kommt sicherer nach oben als ein einzelner Kletterer. Und wenn einer oben ist? Dass große Männer und Frauen einsam werden, kann schon sein. Aber die einsamen werden im Job selten groß! MARTIN WEHRLE Unser Autor ist Karriere-Coach. Sein neues Buch heißt »Ich arbeite in einem Irrenhaus«

KORREKTUREN

Kraus statt Musil In der Ausgabe 4/11 bezog sich unser Coach Martin Wehrle auf das Zitat »Keine Grenze verlockt mehr zum Schmuggeln als die Altersgrenze«, das wir Robert Musil zuschrieben. Unser Leser Hans Potschacher hat allerdings eine andere Quelle gefunden: Die Fackel Nr. 272/273 vom 15. Februar 1909, Seite 42 – Urheber des Zitats ist demnach der österreichische Publizist Karl Kraus. Tatsächlich wird zwar bisweilen auch Robert Musil als Autor des Zitats genannt, einen Beleg gibt es aber nur für die Urheberschaft von Karl Kraus, der es auch in seiner Sammlung Sprüche und Widersprüche wiederveröffentlicht hat. Wir bedanken uns bei unserem aufmerksamen Leser und entschuldigen uns für den Fehler. Paderborn statt Bielefeld In der Ausgabe 12/11 schrieben wir in unserem Artikel über den Einfluss der Hochschulräte, Gertrud Höhler, Mitglied des Hochschulrats der Hochschule Bielefeld, habe ein ihr gehörendes Haus wissentlich an die NPD vermietet. Dabei ist uns ein Fehler unterlaufen, für den wir uns hiermit entschuldigen: Gertrud Höhler gehört nicht dem Hochschulrat der Universität Bielefeld, sondern dem der Universität Paderborn an.

ZEIT DER LESER

S.90

LESERBRIEFE

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

89 Aus No:

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Wer starb da?

24. März 2011

Pierre Brice: »Ich habe einen Traum« MAGAZIN NR. 13 Pierre Brice habe im Vietnamkrieg gelernt, die Menschen zu lieben. In seinen Armen starb ein US-Oberleutnant? Es starben dort 58 193 US-Soldaten und eine Million vietnamesischer Kämpfer auf der Gegenseite (Wikipedia), siebzehnmal so viele. Könnte es vielleicht sein, dass sie für Gerechtigkeit und Freiheit kämpften, für Freiheit und Gerechtigkeit in ihrem Heimatland? Zudem wurden in diesem Krieg vier Millionen Zivilisten getötet, unter anderem mittels Napalm verbrannt und mit Agent Orange vergiftet. Waren diese vier Millionen für Mister Brice nicht liebenswert?

Leichtfertig Titelgeschichte: »Ist das ein gerechter Krieg?« ZEIT NR. 13

Zum Beitrag »Bloß nicht zu sehr anstrengen« von Karin Finkenzeller, ZEIT Nr. 13

Werner Niehle, Dresden

Zu wissen, dass etwas nicht mehr stimmt ... Berichte und Analysen zur Reaktorkatastrophe in Japan der Ressorts Politik, Dossier, Wirtschaft, Wissen, KinderZEIT, Feuilleton Ich hätte von Ihrer Zeitung einen Bericht über die Arbeitsbedingungen der Fukushima-Liquidatoren oder über die Opfer in Fukushima erwartet. Warum schreiben Sie nicht von den Flüchtlingslagern? Von den verstopften Klos? Von der Angst und Trauer der Menschen? Über die Art und Weise, wie die Japaner trauern, das Philosophieren könnte man später erledigen. Ja, wir trauern anders. Das stimmt. Aber Trauer ist Trauer. Schreiben Sie, was genau diese Katastrophe angerichtet hat! In den nächsten Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten! Ai Kretschmer-Nakashima, Berlin

Zur Beurteilung der Sicherheit von Kerntechnik, jedenfalls der deutschen, wäre bereits gesunder Menschenverstand hilfreich. Null Tote in 40 Jahren gibt es in keiner anderen großen Sparte. Sogar bei den havarierten Siedewasserreaktoren in Fukushima – amerikanische Strickart – ist das im Augenblick noch so, auch wenn es leider nicht dabei bleiben dürfte. Tschernobyl aber ist was anderes. Verstehen lässt sich die Aufregung nur, wenn man die traurige Rolle erkennt, welche die Medien und in ihrem Gefolge die Politik spielen. Neben der Pflege modischer und wahlkampftauglicher Meinungen hätten sie eigentlich auch eine Informationspflicht. Zumindest eine Zeitung wie die Ihre. Es gibt auch vernünftige Menschen, nicht nur Spinner. Jenen dämmert es, dass man sparsam und konzentriert Technik einsetzen sollte, um viel Energie zu gewinnen, und nicht umgekehrt mit monströsem technischen Aufwand Flächen belegen darf, um verstreute Sonnen- oder Windenergiekrümel einzusammeln. Große »Energiedichte« sei wichtig, wenn man die Natur sparsam beanspruchen und sorgsam behandeln möchte, sagen Ingenieure. Doch deren Beruf ist heute ein verachteter. Vielleicht werden es gerade Grüne sein, die da noch Entdeckungen machen? Heinz Rentschler, Gengenbach

Dass die gesamte deutsche Medienlandschaft den sensationsträchtigen Atomunfall

als die eigentliche Katastrophe darstellt und der japanischen Erdbebenkatastrophe die deutsche innenpolitische Debatte überstülpt, verärgert mich und lässt an Respekt gegenüber den Betroffenen vermissen. Viele Grüße aus Tokyo Jochen Schmähling

Betrachtet man die Milliardenverschwendung der EU für dubiose Rettungsschirme, wäre sicherlich eine EU-Hilfe für die in atomare Bedrängnis geratenen Japaner, mit einer professionellen finanziellen Hilfe für einen Betonsarkophag in Fukushima, wesentlich angebrachter. Diesmal wird der Wind nicht monatelang warten, um nach Osten aufs Meer zu wehen, sondern wird den Großraum Tokyo und schließlich die ganze Welt verstrahlen, wenn die Japaner noch lange mit dieser Katastrophe herumlaborieren. Heinz Schroeder, Bergisch Gladbach

Gero von Randow: »In eine Falle war ich getappt«

Indem von Randow seine bislang uneingeschränkte Befürwortung der Atomkraft selbstkritisch reflektiert, offenbart er nicht nur menschliche Souveränität, sondern auch seine Qualitäten als Wissenschaftler, denn Wissenschaft ist zum wesentlichen Teil Selbstkorrektur. Seine Gegenüberstellung mit den Umweltschäden durch fossile Energien oder den Unfallopfern im Kohlebergbau verkennt jedoch, dass es nicht nur um eine simple Messgröße wie »Tote pro Gigawattjahr« geht, sondern auch darum, welcher Art die Umweltschäden sind und wie lange sie nachwirken. Dass es noch heute weite Landstriche in der Ukraine und in Weißrussland gibt, die nach dem Tschernobyl-Unglück praktisch unbewohnbar sind, muss in einer solchen Gegenüberstellung mitberücksichtigt werden. Dr. Dirk Kerber, Darmstadt

Robert Jungk warnte bereits 1977 in seinem Buch Der Atomstaat vor einer »ganz neuen Dimension der Gewalt«, die mit der Kernspaltung in die Welt gesetzt wurde. Sein Befund damals: »Zuerst richtete sie sich nur gegen militärische Gegner. Heute gefährdet sie die eigenen Bürger.« Die Technologien für erneuerbare Energieträger sind mittlerweile um vieles besser als noch vor 25 Jahren, zu Zeiten Tschernobyls. Und der Ausbau schreitet voran. Allein die 2009 in China installierte Windkraft erzeugt mehr Strom als die neun chinesischen Atomkraftwerke zusammen. Hans Holzinger, Pressesprecher der Robert-Jungk-Stiftung Salzburg M. Brost, P. Dausend, T. Hildebrandt: »Austieg aus dem Ausstieg aus dem …«

Da ist es nach Meinung der Autoren also möglich, die gesamte Stromerzeugung aus Kernkraft durch Kohle, Gas und Öl zu ersetzen, ohne den CO₂-Ausstoß zu erhöhen. Wieso kommt es dann eigentlich überall zu so erbitterten Protesten gegen Gas- und Kohlekraftwerke? Dr. Willem Baan, Essen

Die physikalischen Gesetze – auch die der Atomspaltung – sind sicher. Nicht sicher sind die technischen Systeme, die dafür sorgen sollen, dass diese physikalischen Vorgänge planmäßig ablaufen. Jedes technische System kann versagen. Ein Grund dafür ist, dass der Mensch bestenfalls richtig denkt, aber immer unvollständig, zumindest bei komplexen Zusammenhängen. Alle großen Unfälle, von der Titanic über Brückeneinstürze bis zu Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima, sind infolge von Ursachen geschehen, an die niemand gedacht hat. Und der nächste wird infolge einer Ursache geschehen, an die auch heute niemand denkt. Die Frage ist nur, ob wir bereit sind, eine Katastrophe dieses Ausmaßes hinzunehmen.

im Wendland ein Problem mit seiner Glaubwürdigkeit hat. Die Atommeiler gehören abgeschaltet. Die ältesten sofort, der Rest so schnell wie möglich! Strahlende Aussichten und Arbeitsplätze bleiben ja trotzdem erhalten … Hans-Joachim Schröder, Bardowick Andreas Maier: »Natur war gestern«

Es hat mich ungemein getröstet, dass es noch mehr Menschen gibt, bei denen sich nach den Ereignissen in Japan das diffuse Gefühl, dass in der Lebensweise der menschlichen »Zivilisation« etwas Elementares nicht stimmt, zum Empfinden eines unwiederbringlichen Verlustes gewandelt hat. Es ist gewiss »irrational« und »emotional«, so zu denken. Aber das ist mir egal. Julia Kouchaki Shalmani, Bonn Wolfgang Huber: »Angst, Fragen, Zweifel«

Die Frage »Warum lässt Gott das zu?« können selbst gläubige Menschen stellen. Unser aller Menschen Gott baut, nach meinem Verständnis, keine Atomkraftwerke in geologisch kritischen Zonen. Er wirft auch keine zerstörerischen, »sauberen Lenkraketen« ab. Er schickt weder Erdbeben, noch macht er Kriege oder Tsunamis, um seine Menschen-Kinder zu strafen. Gottes Kinder sollen gerade im freien Wollen sich erproben dürfen, um Erfahrungen zu sammeln, aber auch, um Folgen er-kennen und er-tragen zu lernen. Konrad Friedrich, Hamburg

Dr.-Ing. Franz Krauss, Roetgen Dossier: »Der Poker um 17 Atommeiler«

Es lebe die Bananenrepublik Deutschland. Jedem Bundesbürger sollte spätestens jetzt klar sein, warum Herr Röttgen

Die Unterstellung, dass es zwischen Religion und Technikgläubigkeit keine Alternativen gibt, ist schlicht falsch und daher christliche Demagogie. Huber schreibt außerdem gegen die Ausbeutung der Bodenschätze und gegen die Atomenergie, die er als Irrtum bezeich-

ZEIT NR. 13

net. Aber er vergisst den Kindern zu sagen, dass gerade die christlichen Parteien daran maßgeblichen Anteil haben und die christliche Kirche dazu schweigt. Es wäre nicht nur für Kinder interessant gewesen zu erfahren, warum CDU und CSU eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke beschlossen haben. Gerade die konservativen und christlichen Kräfte in Deutschland zeichnen sich durch kritiklose Technikgläubigkeit aus. Uwe Dieckmann, Hamburg

Die Nato ist kein Angriffs-, sondern ein Verteidigungsbündnis. Wie wir alle wissen, dienen Luftangriffe nicht dem Ziel dieses Krieges, die Zivilbevölkerung zu schützen; das Gegenteil ist der Fall. Das gilt besonders für Marschflugkörper, die von Schiffen aus abgeschossen werden. Wie groß ist der Anteil der Zivilbevölkerung an den Rebellen? Wie kann man in Libyen die überwiegend nicht uniformierten bewaffneten Rebellen von der zu schützenden Zivilbevölkerung unterscheiden? Die von den Kriegsteilnehmern verkündete »Menschlichkeit« ist grausamer als unsere wohlüberlegte Passivität. Otto Klein, Kiel

Trotz der Blockade Chinas und Russlands und der unsäglichen Enthaltung Deutschlands bei der Entscheidung der UN für die Flugverbotszone konnte die internationale Gemeinschaft noch in letzter Sekunde ein blutiges Massaker an Zehntausenden Menschen in Bengasi durch die Gadhafi-Milizen abwenden. Es ist bitter, zu erleben, wie Politiker wie Lafontaine oder Westerwelle sich mit eiskalter Leichtfertigkeit bei den notwendigen Schritten zur Unterstützung der libyschen Menschen enthalten. Trotzdem wird es den Libyern gelingen, ein selbstständiges, unabhängiges Libyen zu schaffen. Wolfgang Theophil, per E-Mail

Kinder, die die Bilder von der Zerstörung in Japan sehen und, falls religiös erzogen, nach Gott und seiner Hilfe fragen, können mit der Antwort des Theologen Wolfgang Huber meines Erachtens nichts anfangen. Herr Huber will fragende Kinder Gottes Nähe glauben machen angesichts des nicht mehr Fassbaren in Japan. Seine Begründung »Weil Gott bei ihnen (den Leidenden) ist, können sie uns nicht gleichgültig sein« versucht sich an der Tatsache vorbeizulavieren, dass Gott tatsächlich in dem verheerenden Unglück nicht zu finden ist. Hilfe und Mitgefühl für die Opfer verstehen Kinder als Selbstverständlichkeit. Dies ist nicht ihr Problem. Orla Danz, Mühlhausen

Die Natur, wie die Technik, insbesondere die Atomtechnik, kann grauenvolles Unheil anrichten. Wir sollten aber nicht vergessen, dass Technik großen Teilen der Menschheit einen hohen Lebensstandard erst ermöglicht hat. Religionen haben dazu, wenn überhaupt, nur geringfügig beigetragen. Mit Gottvertrauen ist uns nicht geholfen. Schaffen wir die Wissenschaften ab, versinken wir wieder im Chaos der Anarchie. Dann allerdings sind wir wieder auf Religionen angewiesen. Hermann Goldkamp, Braunschweig

Ihre Zuschriften erreichen uns am schnellsten unter der Mail-Adresse: [email protected]

Eigentlich ist der Libyenkrieg bloß ein Bündel von Maßnahmen zur Durchsetzung eines Flugverbots. Dass als Folge des Flugverbots jede Nacht in Tripolis die libyschen Geschütze auf Flugzeuge feuern, ist wahrscheinlich eine Übergangserscheinung zur verordneten Stille am Himmel und auf Erden. Wann wird diese Stille eintreten, und wem wird sie nützlich sein? Schon heute sind Gewinner und Verlierer des Libyenkrieges abzusehen. Gewinner sind die Militärstrategen, die Rüstungsindustrie, die »Willigen« und Israel. Zu den Verlierern gehören die durch Luftschläge geplagte Bevölkerung, die Einigungsprozesse der europäischen und der arabischen Staaten, die Friedensbemühungen der Menschheit und die (ausgeschaltete) Vernunft. Dr. Erich Schäfer, Wien

Beilagenhinweis Die heutige Ausgabe enthält in Teilauflagen Prospekte folgender Unternehmen: Berliner Verlag GmbH, 10178 Berlin; BT Verlag GmbH, 81667 München; Hansisches Druck- und Verlagshaus GmbH, 60394 Frankfurt am Main; Ikarus Design Handel GmbH, 63571 Gelnhausen; Schweiz Tourismus, 60311 Frankfurt/Main; Südkurier GmbH, 78467 Konstanz; Trollhus OGH, 10623 Berlin

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

Leserbriefe siehe Seite 89

1953

Zeitsprung

Liebe ZEIT-Leser, sicher haben Sie einen großen Wortschatz, Sie lesen ja auch eine gute Zeitung. Aber haben Sie auch ein Wort, das Ihnen besonders lieb ist? Ein Wort etwa, das man nur noch selten hört, ein Wort, das viel schöner klingt als all seine Synonyme? Dann schreiben Sie es uns! Und sagen Sie uns, warum gerade dieses Wort Ihr WortSchatz ist! Nächste Woche etwa erklärt uns ein Leser, warum er viel lieber in die Sommerfrische fährt als in den Urlaub. WL

Das linke Bild aus dem Jahr 1953 erinnert mich immer an Gustav Schwabs Gedichtanfang »Urahne, Großmutter, Mutter und Kind in dumpfer Stube versammelt sind«: Es zeigt mich mit meiner Mutter, meiner Großmutter und meiner Urgroßmutter. Ent-

standen ist es bei einem der seltenen Besuche in der Lausitz, wo Oma und Uroma wohnten, während ich mit meiner Mutter in Stuttgart lebte. Auch heute sind Familien getrennt: In der Mitte des rechten Bildes sind meine Enkelin und meine Tochter zu sehen,

Sigrun Burkhart, Göppingen

Frühling wie aus dem Bilderbuch: Nach einem strengen Winter der Natur beim Aufblühen zusehen und beobachten, wie die Welt von Tag zu Tag grüner wird. Und als krönenden Abschluss ein Sonnenuntergang, dem ein zauberhaft funkelnder Sternenhimmel folgt. Ye-Si Junghanß, Krautheim

EIN GEDICHT!

SCHÖNE GRÜSSE

Klassische Lyrik, neu verfasst

Lieber Tobias,

Feuerwehrmanns Abendlied

Wie ist es hier so stille, Dem Meiler fehlt die Hülle, Der Brennstab schmilzt dahin! Was nützet schon das Spritzen? Es nässt ja nur die Ritzen, Das hat nun wirklich keinen Sinn! Seht ihr das Kraftwerk stehen? – Ist nur noch halb zu sehen, Und ist doch schaurig-schön! So gibt es manche Sachen, Die wir mit Kurzsicht machen, Dass blind wir in die Zukunft gehn. So legt euch denn, Kollegen, Und hofft auf Gottes Segen. Heiß ist der Abendhauch. Verschon’ uns, Gott! vor Strahlen, Wenn wir auf Blei uns aalen, Und die verseuchten Nachbarn auch! Norbert Wolf, Liederbach, Taunus

Foto: privat

Block 2 ist aufgegangen. Der Himmel, schwarz verhangen, War früher manchmal klar. Der Wald ist ganz verdorben, Und ringsum wird gestorben An heißem Nebel zundergar.

eigentlich könnte ich auch als Beitrag für die Spalte Was mein Leben reicher macht schreiben: »Die Gedanken an vier wunderschöne Jahre mit Dir«. Vier Jahre, an deren Ende die Trennung stand. Aber ich mache es anders: Ich lasse Dich hier grüßen und danke Dir für unsere gemeinsame Zeit. Und ich schicke Dir dieses Foto von den zwei blauen Stühlen. Erinnerst Du Dich noch an unseren Campingurlaub, bei dem es so furchtbar viel geregnet hat? Sarah Abandowitz, München

Kinder nach 26 und 28 Jahren Intensivbetreuung ins Leben entlassen, die beste aller Ehefrauen mit ihren Freundinnen auf Urlaub in der Türkei, nach drei Tagen Meeting spontane kleine Flucht mit meinem neuen Campingbus nach Domburg, Zeeland. Ankunft 18 Uhr, Strandwanderung, Pannekoken, ein Grimbergen und einen jongen Jenever, zurück ans Wasser, und Theodor Storm flüstert mir leise zu: »Hin gen Norden zieht die Möwe, hin gen Norden zieht mein Herz ...« Trotz Fukushima, Libyen, Stuttgart 21 und all dem anderen Elend: Es gibt Momente, die einem das Ertragen leichter machen. Otto Peter, zzt. Domburg, sonst Dieburg, Hessen

Wiedergefunden: Kempowskis Bestellschein In den Unterlagen unseres Autohauses habe ich dieses Dokument gefunden: Da hat der berühmte, inzwischen leider verstorbene Schriftsteller Walter Kempowski im Jahr 1965 einen 1200er Käfer bestellt. Mein Vater hat damals alles per Hand ausgefüllt, einschließlich Beruf (»Lehrer«) und dreistelliger Telefonnummer des Käufers. Abgewickelt wurde die Bestellung über unseren Großhändler in Zeven. Wie einfach und voller Vertrauen müssen diese Zeiten damals gewesen sein! Fast wehmütig blickt man zurück. Frau Kempowski habe ich natürlich gefragt, ob sie mit der Veröffentlichung dieses Zeitdokuments einverstanden sei. »Ach«, sagte sie, »das ist doch eine Sache zum Schmunzeln! Das muss ja kurz nach dem Schuljahreswechsel gewesen sein mit

dem neuen Käfer und kurz nach unserem Umzug von Breddorf nach Nartum.« Wolf Warncke, Tarmstedt, Niedersachsen

Mein Sohn, acht, kommt zitternd aus seinem Zimmer, weil er schlecht geträumt hat. Ich nehme ihn in den Arm, und gemeinsam vertreiben wir den bösen Traum. Bevor es zurück ins Bett geht, flüstert er mir ins Ohr: »Danke, Papa!« Andreas Schumann, Dresden

Die Pappel ist ein geschwätziger Baum. Da reicht ein laues Lüftchen, und schon pappelt die Pappel vor sich hin. Sie mischt sich gern in Dinge ein, die sie nichts angehen. Heute morgen beim Joggen, da meinte sie, ich sei zu langsam. Beim Reiten rufen mir die Pappeln oft zu, ich solle gefälligst gerade sitzen. Aber wehe, der Wind wird stärker. Dann können die Pappeln sich so richtig reinsteigern. Ich hab sogar schon erlebt, dass sie mich ausgelacht haben. Aber ich mag die Pappeln – und ihren Duft an einem warmen Tag. Silke von Rahden, Bad Vilbel

Eine kleine Weltreise ... ... aus traurigem Anlass« unternimmt Sabine Kröner, 55: Im vergangenen Jahr ist ihr Mann in den Freitod gegangen, jetzt will sie durch neue Eindrücke Abstand gewinnen. Von Buenos Aires aus ist sie per Schiff um die Südspitze Amerikas in die Südsee gefahren, über Australien, Indonesien, Singapur, Malaysia, Myanmar, Indien, die arabische Halbinsel und durch den Sueskanal geht es weiter bis nach Venedig.

Westtimor ist unser erster Anlaufpunkt im Staat der 17 000 Inseln. Vom Pier erklingt der eintönige Rhythmus der Gamelanmusik, die uns von nun an durch ganz Indonesien verfolgen wird und mich schon vor achtzehn Jahren genervt hat, als ich dieses Land ausgiebig bereist habe. In Bussen ohne Klimaanlage, aber mit Polizeieskorte verbringen wir unbequeme Stunden auf rumpeligen Strecken. In einer zerfallenen und zugemüllten Freizeitanlage darf ich eine Stunde lang herumspazieren und bin froh, als es weitergeht. Nächste Station ist ein Dorf im Landesinneren. Die Kunst der Ikat-Weberei wird uns hier in all ihrer Aufwendigkeit demonstriert, und Produkte werden uns zum Kauf angeboten. Die Fingerfertigkeit der Frauen fasziniert mich gleichermaßen wie das feine Muster der Tücher. Anschließend dürfen wir die örtliche Schule besuchen. Aus allen Klassenzimmern erschallt fröhlicher Gesang. Und zwei Tage später Bali: Welch ein Kontrast zu den vorangegangenen Eindrücken! Leider habe ich wieder nur einen Tag Aufenthalt. Wieder per Bus fahre ich vorbei an einem riesigen Warenhaus unter freiem Himmel. Rechts und links der Straße präsentieren Steinmetze, Weber, Holzschnitzer, Möbelschreiner, Korbflechter, Silberschmiede und Kunstmaler ihre Werke. Doch wo bleiben die Reisterrassen? Tausendfach abgebildet in Reisekatalogen und Sinnbild für diese Insel? Als wir kurz vor Ende unseres Ausfluges hinkommen, ist gerade Rushhour. Der Bus kann nur kurz parken, ich renne über Müllberge den Straßenrand entlang zu einer geeigneten Fotografierlücke zwischen den Souvenirshops. Klick and go, nein, das hätten die hinduistischen Götter bestimmt nicht so gewollt – und ich auch nicht.

Die Kritzelei der Woche

ST

Die Redaktion behält sich die Auswahl, eine Kürzung und die übliche redaktionelle Bearbeitung der Beiträ ge vor. Die Beiträge können auch im Internet unter www.zeit.de/zeit-der-leser erscheinen

deren Beruf sie in den Norden Deutschlands verschlagen hat. Aufgenommen wurde es anlässlich des ersten Besuchs bei Oma (rechts) und Uroma (links).

N

oder an Redaktion DIE ZEIT, »Die ZEIT der Leser«, 20079 Hamburg

Mit meinen 79 Jahren noch erlebt und daran mitgewirkt zu haben, dass die vielerorts belächelten Schwaben demokratische Schockwellen erzeugt und die Republik verändert haben.

Ich habe eine Jacke für meinen Sohn gekauft, doch er ist gar nicht begeistert. »Die ist doch echt cool«, biedere ich mich an. Trocken kommt es zurück: »Dein ›cool‹ ist ein anderes als meins.« Auch grausame Wahrheiten können das Leben reicher machen! Ursula Walden, Worms

Mein Freund, der mir für meine Prüfungen Bio(!)-Kekse geschickt hat. Was gibt es Schöneres, als einen richtigen Brief oder sogar ein Päckchen vom Liebsten im Briefkasten zu finden? Helen Seitzer, Bad Boll

Bei einer Lesung aus Winter im Sommer, Frühling im Herbst Joachim Gauck persönlich zu treffen. Mir unter meinem Lieblingszitat ein Autogramm geben zu lassen. Sich guten Gewissens einem Gefühl von Respekt und Anerkennung hingeben zu dürfen, weil man weiß, dass es gut aufgehoben ist. Juliane Schild, Recklinghausen

Im vergangenen, nicht enden wollenden Winter ist auf meiner Schreibtischunterlage im Büro bei ebenfalls nicht enden wollenden Telefonkonferenzen dieses frühlingshafte Blütenmeer entstanden. Offen bleibt, ob das daran lag, dass ich täglich in einen tristen Innenhof ohne jede Pflanze schaue, oder ob der kalte, graue Winter diese Pflanzen unbewusst gedeihen ließ. Jedenfalls freue ich mich jetzt umso mehr über den Frühling! Jana Priester, München

Sabine Kröner, zzt. 6° 49’ Süd, 114° 06’ Ost

U

[email protected]

reicher macht

SK

Schicken Sie Ihre Beiträge für »Die ZEIT der Leser« bitte an:

LEBEN

AG LT

Wie es mit den Besuchen weitergeht, erfahren Sie in Zukunft auf unserem ZEIT-der-Leser-Blog (www.zeit.de/zeit-der-leser). Eine Aufstellung aller Besuche der ZEIT bei ihren Lesern finden Sie in dieser Ausgabe auf Seite 46.

Was mein

AL

In Brüssel traf Europa- und NatoKorrespondent Jochen Bittner Mitarbeiter der Landesbüros von Berlin und von Brandenburg und sprach mit ihnen über die drängendsten Herausforderungen Europas: Wie rauskommen aus der Euro-Krise? Was tun gegenüber Libyen? Wie mächtig darf Brüssel werden gegenüber Berlin, unserer gewohnten Arena für Politik und Demokratie? »Es war außerordentlich anregend«, berichtet Andrea Gärtner vom Berliner Landesbüro, »die Auffassungen von Herrn Bittner zu dem großen Thema der Zukunft der EU und ihren Verwerfungen zu hören und mit den Kolleginnen und Kollegen zu diskutieren.« Auch Jochen Bittner war begeistert: »Was Journalisten ja selten passiert, ist, dass sie sich mal keine schlauen Fragen ausdenken müssen, sondern mit ihnen beworfen werden.« In Hamburg ermöglichte der 65. Geburtstag der ZEIT Beate Schwarz und Ute Thumm, die seit vielen Jahren als Beraterinnen für Unternehmen tätig sind, ein Gespräch über Unternehmenskultur und Zukunftsorientierung mit der Verlagsleiterin Stefanie Hauer: »Frau Hauer gab uns einen lebendigen und interessanten Einblick in den Alltag der ZEIT. Die Leidenschaft für den Verlag, der Anspruch an einen pluralistischen Journalismus, an einen hohen Wertekodex und eine ausgeprägte Debattierkultur wurde in unserem Gespräch sehr deutlich spürbar«, berichtet Beate Schwarz.

2011

Ulrich Viefhaus, Ostfildern

(nach Matthias Claudius, »Abendlied«)

Jede Woche machen sich derzeit ZEIT-Redakteure und -Mitarbeiter auf den Weg zu ihren Leserinnen und Lesern. In Hamburg und Brüssel wurden in der vergangenen Woche diese Wünsche erfüllt:

90

Ein Herz aus gelben Krokussen. Mitten auf der kleinen Wiese in unserem Garten. Mein Mann hat es für mich im Herbst gepflanzt – als Überraschung. Liebe im Frühling – nach 23 Jahren. Andrea Hesse, München

Ein Café im Park, Sonnenschein, und ein tolles Gespräch mit der toughesten Frau der Welt an meiner Seite: meiner Mutter. Ein toller Tag mit einem Gefühl von Freiheit und Geborgenheit. Tina Lockhoff, Berlin

PREIS ÖSTERREICH 4,10 €

DIE

ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR

Der Traum von der Treue Für die Monogamie gibt es in der Natur kaum ein Vorbild – sagen Wissenschaftler. Deshalb ist es eine der größten Zivilisationsleistungen, dass dem Menschen Treue hin und wieder auch gelingt

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

Ganz schön alt

Sie sind oft unzufrieden, doch geht es vielen so gut wie nie zuvor: Die Macht der Alten in Deutschland Dossier Seite 17–19

WISSEN SEITE 37–39

sc 10 0

höne Sachen

Ein Topf, vier Stühle und 95 andere Dinge reichen zum Leben. Ein Designheft Magazin Seite 14

Titelbild: »Francesca da Rimini (1255-1285) und Paolo«, gemalt von William Dyce um 1837; Öl auf Leinwand; © National Gallery of Scotland, Edinburgh, Foto: bridgemanart.com

Liberalismus steht zur Stunde eher für Habsucht – und nicht für Generosität VON PETER SLOTERDIJK

Bei der Debatte über den Atomausstieg geht es jetzt darum, was er uns kostet. Aber was ist er uns wert? VON MARC BROST

Z

u den Lektionen des an politischen Lehrstücken überreichen Frühjahrs 2011 gehört die Einsicht, dass Banken und Parteien viel mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, als man ihnen üblicherweise zugesteht. Wie man Bankhäuser als Kapitalsammelstellen definiert, aus deren Fundus die Unternehmen sich nötige Mittel für neue Projekte besorgen, sollte man Parteien als Kollektoren für die psychopolitischen Kapitale begreifen, in denen die Populationen moderner Nationalstaaten ihre Optionen für die künftige Gemeinwesengestaltung deponieren: als Zornsammelstellen, als Furchtsammelstellen, als Hoffnungssammelstellen. Ist dies erst zugestanden, so versteht man, wie es eben nicht nur zum Phänomen des Bankenkrachs, sondern auch des Parteienkrachs kommen kann: Letzterer tritt ein, wenn eine Partei allzu lange die Pflege des psychopolitischen Eigenkapitals vernachlässigt und ihre Geschäfte nur noch mit Illusionspapieren betrieben hat.

Die Freien Demokraten haben ihr ideologisches Eigenkapital verspielt Dies lässt sich zur Stunde an der Implosion der deutschen Liberalen beobachten. Ohne Zweifel haben die Freien Demokraten ihr ideologisches Eigenkapital im Rausch eines spekulativen Jahrzehnts verspielt. Sie haben den psychopolitischen Markt nicht mehr verstanden und sich in gefährliche Derivatgeschäfte mit den Enttäuschungen der anderen gestürzt, ohne sich ernsthaft auf die Aufgabe einzulassen, die eignen Werte zeitgerecht zu aktualisieren. Zu spät hat die Geschäftsführung die Wende zu einem »mitfühlenden Liberalismus« dekretiert, als die Partei selbst schon zu einem Objekt des Mitgefühls durch Dritte geworden war. Eine verblüffte Öffentlichkeit lernt nun, dass nicht nur überschuldete Banken unter Rettungsschirme gestellt werden können. Auch notleidende Parteien melden mit einem Mal ihr Interesse an einem Bail-out-Verfahren durch das politische Gemeinwesen im Ganzen an. Vieles spricht dafür, dem Partner in der Krise die nötigen Hilfen zu gewähren. Für den politischen Liberalismus gilt die Maxime too important to fail, selbst wenn es für too big to fail nicht reicht. Die Hilfe ist aber an Bedingungen geknüpft, die künftig vom Klienten zu erfüllen sind. Sollte es je zu einer intellektuellen Regeneration des politischen Liberalismus kommen, sie müsste von der Erkenntnis ausgehen, dass Menschen nicht nur habenwollende, giergetriebene, süchtige und brauchende Wesen sind, die freie Bahn für ihre Mangelgefühle und ihren Machthunger fordern. Sie tragen ebenso das Potenzial zu gebenwollendem, großzügigem und souveränem Verhalten in sich. Dieser Hinweis war nie so wichtig wie gegenwärtig. Nie zuvor haben Begriffe wie »liberal« oder gar »neoliberal« eine so niederträchtige Konnotation angenommen wie

in den letzten Jahren. Noch nie war das liberale Denken, vor allem in unserem Land, so weit vom vornehmen Pol der menschlichen Möglichkeiten entfernt. Noch nie hat man die Freiheit so eng und so fatal mit der Besessenheit der Menschen von dem Gier-Stress in Verbindung gebracht. Aber was beweist das? Nichts anderes, als dass die Sache der Liberalität zu wichtig ist, als dass man sie den Liberalen allein überlassen dürfte. Diese Einschränkung betrifft nicht nur eine einzelne Partei. Die Sache des Realen und seiner Reform ist zu wichtig, als dass man sie Parteien überlassen könnte. So ist die Sorge um die kulturelle Tradition zu umfassend, als dass man sie bloß Konservativen anvertrauen dürfte. Die Frage nach der Bewahrung der Umwelt ist zu bedeutsam, als dass man sie nur ins Ressort der Grünen überweisen sollte. Die Suche nach sozialem Ausgleich ist zu anspruchsvoll, als dass man Sozialdemokraten und Linken die alleinige Verantwortung dafür übertragen könnte. Doch braucht jedes dieser elementaren Motive eine parteiliche Hauptstimme. Was die Verteidigung der Freiheit angeht, so ist sie ein Projekt, das nicht ohne Partei und nicht ohne Parteilichkeit auskommt. Wer von der Freiheit etwas erfahren hat, weiß, dass es weiterhin darum geht, die beiden primären Tyranneien zurückzudrängen, die von alters her das menschliche Dasein deformieren: diejenige, die das Gesicht eines Despoten trägt, und die anonyme, die sich als jeweils herrschende Form des Notwendigen aufzwingen möchte. Wir müssen uns mit der Tatsache zurechtfinden, dass uns die Wirklichkeit stets als ein umfassendes StressKonstrukt umgibt. Die bekennenden Realisten haben recht, wenn sie auf der Verpflichtung zum Wirklichkeitssinn bestehen. Die wahren Liberalen fügen den Möglichkeitssinn hinzu: Sie erinnern uns daran, dass wir nicht wissen können, was alles noch möglich wird, wenn Menschen Wege finden, sich aus den kollektiv verfertigten Zwangskonstruktionen zu lösen. Ebendarum ist die aktuelle Welt so grenzenlos erstaunlich. Illiberalen Rückschlägen zum Trotz vollziehen sich in ihr, wie nie zuvor, unzählige Infiltrationen aus dem anderen Zustand, aus der Loslösung, aus der Leichtigkeit des Seins – Infiltrationen, die in die Strukturen des Bestehenden erhöhte Freiheitsgrade tragen. Wir verteidigen die Sache der Freiheit, indem wir daran arbeiten, das Wort Liberalismus, das leider zur Stunde eher für ein Leben auf der Galeere der Habsucht steht, wieder zu einem Synonym für Generosität zu machen – und das Wort Liberalität zu einer Chiffre für die Sympathie mit allem, was Menschen von Despotien jeder Art emanzipiert. Der Autor ist Professor für Philosophie und Medientheorie und Rektor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Zuletzt erschien von ihm »Die nehmende Hand und die gebende Seite« (Suhrkamp) www.zeit.de/audio

E

s ist die Stunde der Revisionisten. Die Bilder der havarierten Atommeiler von Fukushima verschwinden allmählich von den Titelseiten, die Aufmerksamkeit der Medien nimmt ab. Damit ist die Gelegenheit günstig, Zweifel zu säen. Die Kernenergie sei eben doch unverzichtbar, heißt es nun wieder, und die Atomlobby führt dafür drei Gründe an: Geld, Moral und das Verhalten der anderen. Der Ausstieg koste zu viel. Atomstrom müsse dann importiert werden. Der deutsche Sonderweg sei verantwortungslos und gefährlich. Natürlich ist eine gewisse Portion Skepsis nicht schlecht. In der Außenpolitik etwa ist Deutschland jahrzehntelang gut damit gefahren, dass man vorsichtig und zurückhaltend agierte, dass nationale Alleingänge als falsch galten und man sich lieber einmal zu oft abstimmte, als andere zu verstimmen. Aber beim Ausstieg aus der Atomenergie? Beim Ausbau erneuerbarer Energien? Als die Regierung nach dem Atomunfall von Fukushima das vorläufige Aus für sieben deutsche Meiler beschloss und Zehntausende gegen die Kernenergie demonstrierten, war viel von Hysterie die Rede, von German angst. Nun macht sich die Atomlobby diese Angst zunutze – und behauptet, der Ausstieg werde uns ins Verderben stürzen.

Deutschland importiert Atomstrom? Das ist nur die halbe Wahrheit Dies ist die letzte Runde im Kampf um die Kernkraft in Deutschland, und wie ernst es mit dem Ende wirklich ist, zeigt schon, dass alles auf eine einzige Frage zuläuft: Überfordert uns die Abkehr von der Atomenergie? Die Frage suggeriert, dass ein Land ohne Kernkraft seine Zukunft verspielt; dass eine ganze Volkswirtschaft den Anschluss verliert; dass die Menschen stundenweise das Licht werden ausschalten müssen, weil Strom unfassbar teuer sein wird; und dass die Betriebe – und damit die Jobs – nach Osteuropa gehen, wo die Atommeiler groß und die Stromrechnungen klein sind. Es ist eine irritierende Frage, weil sie die Debatte seltsam verengt. Schließlich geht es nicht allein darum, was uns der Atomausstieg kosten könnte. Sondern darum, was er uns wert sein sollte. Man müsste also die Perspektive wechseln, aber das ist gar nicht so einfach, wenn die Atomfans weiter Ängste schüren. Es ist das letzte Mittel, das ihnen geblieben ist. Die vier großen Energiekonzerne handeln dabei aus geschäftlichem Kalkül: Atomstrom lässt sich günstig erzeugen und teuer verkaufen. Jeder zusätzliche Meiler am Netz maximiert ihren Gewinn. Die Hardliner in den Regierungsfraktionen wiederum handeln aus Überzeugung. Atomkraft war das letzte Alleinstellungsmerkmal der bürgerlichen Parteien. Und man legt die eigene Überzeugung nicht einfach so ab wie ein altes Jackett.

So wird getäuscht und getrickst, was das Zeug hält. Deutschland importiere jetzt Atomstrom aus den unsicheren Anlagen des Auslands, heißt es. Das stimmt zwar, war aber schon immer so. Zum vollständigen Bild gehört eben auch, dass wir gleichzeitig Strom aus den heimischen Kraftwerken und Windparks ausführen – in die Schweiz, in die Niederlande oder nach Polen. Und selbst wenn die abgeschalteten Atommeiler nicht wieder ans Netz gehen: Die maximale Leistungsfähigkeit unserer Kraftwerke wäre immer noch größer als der Bedarf. Am besten, man misst die Atomfans an ihren eigenen Zahlen und Prognosen. Als SchwarzGelb im vergangenen Herbst ein Gutachten zu den Folgen der Laufzeitverlängerung erstellen ließ, wurde nebenbei auch durchgerechnet, was beim vergleichsweise raschen Atomausstieg passieren würde. Das Resultat: geringfügig steigende Preise (weniger als ein Euro monatlich) und keine nennenswerten Auswirkungen aufs Wachstum. In der politischen Debatte blieben diese Zahlen unerwähnt, sie passten nicht zum Willen, die Meiler länger am Netz zu lassen. Da aber niemand aus Industrie und Politik damals am Gutachten zweifelte: Warum sollte man es jetzt tun? Reden wir lieber darüber, was uns der Atomausstieg wert sein sollte. Es wäre der Abschied von einer Technologie, die niemals ganz beherrschbar sein wird und deren Einsatz zu verheerenden Katastrophen führen kann. Es wäre das Ende von Kraftwerken, die nicht mal richtig versichert sind, weil kein Versicherer dieses Risiko übernehmen kann. Deswegen haftet am Ende der Staat – und das sind die Bürger. Es wäre der Beginn eines gewaltigen Umbaus des Landes. Interessant ist übrigens, dass im Augenblick kein einziger Betrieb wegen des Atomausstiegs mit Abwanderung droht. Es sind die Verbandsfunktionäre, die klagen. Die Unternehmer selbst sind viel zu klug, um nicht zu wissen, dass der ökologische Umbau der Gesellschaft – grüne Kraftwerke, Strom sparende Motoren, neue Erdkabel – große Chancen bietet. Umbau ist ein Wort, das Unternehmer lieben. Es ist die Chiffre für: Arbeit. Wettbewerb. Gewinn. Der Atomausstieg zwingt Deutschland in die Avantgarde der Zukunftstechnologie. Das kann im Extremfall auch nach hinten losgehen, dann nämlich, wenn die anderen Staaten Europas noch konsequenter auf Kernkraft setzen. Bislang aber hat deutsche Ingenieurskunst noch jedes Mal Nachahmer gefunden. Warum nicht diesmal auch? Deutschland wagt Zukunft. Das birgt Risiken, Garantien gibt es keine. Dennoch haben die Bürger ihre Entscheidung getroffen – trotz der Unwägbarkeiten des ökologischen Umbaus. German angst? Nennen wir es besser German cleverness. Siehe auch Politik Seite 6

ZEIT ONLINE Seit 50 Jahren blickt der Mensch aus dem All auf die Erde: Eine historische Galerie Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/weltraum-bilder

PROMINENT IGNORIERT

Schokotraum Sofihya aus Namibia hat mit ihrer Hautfarbe die Kunden einer ostdeutschen Bäckereikette gegen sich aufgebracht. So weit ist das nicht überraschend – doch die Begründung lässt aufhorchen: Rassistisch sei es, dass Sofihyas Bild für eine Schokotraum geheißene Süßspeise warb. Nur kein Neid! Lasst euch trösten: In Namibia könnte eine ostdeutsche Sahneschnitte vielleicht auch groß rauskommen. F. D. Kleine Fotos v.o.n.u.: Image Source/mauritius; Linus Bill; Rietschel/dapd; Andersen/StudioX (l.)

ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail: [email protected], [email protected] Abonnement Österreich, Schweiz, restliches Ausland DIE ZEIT Leserservice, 20080 Hamburg, Deutschland Telefon: +49-1805-861 00 09 Fax: +49-1805-25 29 08 E-Mail: [email protected]

AUSGABE:

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Am Ende reich

Privatfernsehen kennt keine Hemmungen. Mit Alkoholorgien jagt es dem übermächtigen ORF das Publikum ab Österreich Seite 14/15

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Leid der FDP

Quotenkampf

14 7. April 2011

ÖSTERREICH

DIE ZEIT No 15

DONNERSTALK

Saufen für die Quote

Selbst ist die Partei

Foto: Ingo Pertramer

Streit kommt in den besten Familien vor. Selbst in der größten Familie des Landes, der Volkspartei, die bisher, schon allein wegen ihrer Bündestruktur, stets ein Vorbild an Eintracht war. Deshalb sei nun Selbstreinigung angesagt, verkündet die Innenministerin. Es habe Fehlverhalten gegeben, keine Frage. Allerdings wusste niemand nichts von irgendwas. Jetzt wollen diese Nichtswissenden aber gehörig aufräumen. Von allen Seiten hagelt es Anregungen. Selbst die Selbstdezimierung der schwarzen Truppe im Europaparlament gilt als Indiz dafür, dass die Partei über enorme Selbstreinigungskraft verfügt und der Selbstreinigungsprozess auf vollen Touren läuft. Ein bisschen viel Selbst möglicherweise, aber wo so viel Selbst ins Spiel kommt, darf an der Seriosität des

Alfred Dorfer bewundert bei der Volkspartei vor allem ihre Kraft zur Selbstreinigung

Vorganges nicht gezweifelt werden. Selbst ist die Partei, heißt es schon bei den Klassikern, die jedes Kind in der Schule lernt. Vielleicht, darüber grübeln die Selbstreiniger noch in mehreren Perspektivgruppen, hätte man mit den vereinzelten schwarzen Schafen nicht derart hart ins Gericht gehen müssen. Doch wo gereinigt wird, da fallen Späne – oder so ähnlich. Auf jeden Fall wird die Volkspartei jetzt nach der Hausfrauenmethode – die Innenministerin weiß, wovon sie spricht – auf Vordermann gebracht: scheuern, bis der Putzfetzen raucht. Eine Partei erneuert sich, reinigt sich, wäscht ihre Hände in Unschuld. Selbst das Funktionärshirn wird gewaschen. Und demnächst kann dann mit Fug und Recht gefragt werden: War eigentlich was?

AUSSERDEM

Aprilscherz Es gibt regionale Phänomene, die sind jenseits des beschränkten Horizonts einer Geistesprovinz vollkommen unverständlich. Sie entziehen sich jeder Erklärung. Sie sind schlicht eine Beleidigung der menschlichen Intelligenz. Der endlose Streit um zweisprachige Ortstafeln in den gemischtsprachigen Siedlungsgebieten von Kärnten ist so ein Fall. So als hinge sein gesamtes Wohlergehen, ja seine ureigentliche Existenz, davon ab, widersetzt sich ein südalpines Stammesgemisch seit Jahrzehnten Recht und Gesetz. Regierung um Regierung scheitert daran, diese paranoiden Aufrührer zur Räson zu bringen. Realpolitik trifft auf Ethno-Wahn und tritt jedes Mal resigniert den Rückzug an, wenn die Männerchöre am Fuß der Karawanken nur wütend genug aufheulen. Das war vor 40 Jahren beim sogenannten Ortstafelsturm so und ist es heute wieder. Man stehe nun endlich in dieser leidigen Angelegenheit vor einer »historischen Einigung«, erklärte der zuständige Staatssekretär. Das war am 1. April. Man hätte genauer auf das Datum blicken sollen. Denn diese Einigung besteht vor allem darin, dass die Regierung es hinnimmt, wenn die Verfassung der Republik und die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes in Kärnten keine Gültigkeit besitzen, bloß weil ein Teil der Leute dort den Anschluss an die Gegenwart verpasst hat und weiterhin die nationalen Konflikte von anno dazumal austragen will. Also soll eine neue Verfassungsbestimmung Abhilfe schaffen. In jedem europäischen Rechtsstaat wäre dieses Eingeständnis eine Bankrotterklärung. In Österreich ist es lediglich ein Aprilscherz. Von Einigung kann nicht die Rede sein. Bestenfalls davon, dass der Staat entkräftet das Handtuch geworfen hat. JR

Mit hemmungslosem Unterschichtenfernsehen feiert der Privatsender ATV Erfolge und rückt dem allmächtigen ORF zu Leibe VON STEFAN MÜLLER

W

ie richtige Stars kommen sie durch den Hintereingang, abgeschirmt von bulligen SecurityMännern. Über ein paar Stufen geht es hinauf in den VIP-Bereich der Grazer Vorstadtdisco Bollwerk. »Geil«, entfährt es dem 18-jährigen Elektriker Patrick, der sich Spotzl nennt, beim Blick hinunter auf dreitausend zuckende Leiber. Als er winkt, kreischt eine Handvoll Mädchen in knappen Röcken los. Spotzl grinst. Die Zeiten, als er wie alle anderen für Alkohol zahlen und um weibliche Beute buhlen musste, sind endgültig vorbei. Hofft er zumindest. Er und die Jungs aus seiner Sankt Pöltener Clique – da sind noch Molti, 21, Eigi, 20, und Pichla, 19 – wohnen zwar teilweise noch bei ihren Eltern, ihre Handwerksberufe haben sie aber inzwischen hingeschmissen. Jetzt verdienen sie ihr Geld freischaffend mit Saufen, Schmusen und Kotzen – vor der Fernsehkamera. Dem Publikum von ATV gefällt das so gut, dass der ORF bereits neidisch auf den Erfolg des einst milde belächelten Konkurrenten schielt. Während der öffentlich-rechtliche Sender es nicht schafft, mit populärem Quatsch zu punkten, eilt der Wiener Privatsender vor allem dank der vier Stars von Saturday Night Fever (SNF) von Erfolg zu Erfolg. Auch andere selbst entwickelte Formate werden bereits ins Ausland verkauft. Schon bald will ATV erstmals schwarze Zahlen schreiben. Der Filmrechtehändler Herbert Kloiber hatte den Sender 2007 für einen zweistelligen Millionenbetrag übernommen. Die Tele München Gruppe des 63-jährigen Wieners hält zudem Anteile an RTL 2 und Tele 5 und ist Mehrheitseigentümer von Deutschlands größter Kinokette Cinemaxx. Sein Auftrag, ATV rasch in die Gewinnzone zu führen, erwies sich als Steilvorlage: In Österreich muss ein Programm gegen den ORF und die deutschen Privatsender bestehen, die mit ungleich höheren Marketingbudgets in die Quotenschlacht ziehen. Dazu kam die tiefe Krise der gesamten Medienbranche nach dem Finanzkollaps vor drei Jahren. Doch nicht zuletzt mit Eigenformaten wie SNF, das erstmals im Frühjahr 2010 auf Sendung ging, gelang es ATV, seinen nationalen Marktanteil bei den 12- bis 49-jährigen Zusehern auf 5,3 Prozent zu verbessern. Gemessen an allen Zusehern über zwölf Jahren – dem Maßstab, den der ORF für sich anlegt –, sind es zwar nur 3,5 Prozent, allerdings interessiert dieser Wert ATV nicht sonderlich. Das Programm ist auf jene Zielgruppe zugeschnitten, mit der sich am meisten Geld verdienen lässt, und das sind die 12- bis 29-Jährigen, die sich in ihrer Mediennutzung zusehends im Internet verlieren und für die

Werber immer schwerer zu erreichen sind. steht bei den Dreharbeiten in allen BundesUmso größer die Freude, wenn nach einer Fol- ländern. Selbst wenn die Schauplätze wie im ge von SNF die Besucherzahlen der ATV-Web- Falle von SNF trostlose Parkplätze, öde Vorsite, wo die einzelnen Folgen abrufbar sind, in stadtstraßen oder sterile Sauftempel sind. Beldie Höhe schnellen. Derzeitiger Stand der an- lende Steirer kommen dabei relativ häufig vor. geklickten Episoden: 5,2 Millionen. Zwischen Krachende Tiroler bereits weniger. Und beim den Sauforgien läuft Werbung für Alkoholika, Casting von Vorarlbergern hat sich ATV zurückgehalten: Die könne man im übrigen Tampons oder den Raiffeisen-Club. In seinem Büro zieht Programmleiter Martin Österreich einfach nicht verstehen. Für kleine Sender ist es alltäglich, neue IdeGastinger entspannt an einer Zigarette. Herbert Kloiber holte den Fernsehmacher 2007 von Pre- en auszuprobieren. Die teuren Rechte an bemiere. Die längeren Haare und das souveräne reits etablierten Formaten wie der MillionenAuftreten verleihen dem 44-jährigen Niederöster- show, können sie sich nicht leisten. Dass man reicher die Aura eines Fernsehkommissars. Die mittlerweile selbst zu den Format-Exporteuren besten Formate ermitteln, lautet sein Auftrag, und gehört, hat die Verantwortlichen von ATV Gastinger hat gute Nase bewiesen. Seine Eigen- überrascht. RTL 2 produziert eine deutsche kreationen reüssieren – sogar im Match gegen den Version von Das Geschäft mit der Liebe, in der sich verzweifelte SingleGoliath ORF. Bauer sucht Frau Männer an Frauen aus Ostließ mit Zuschauerzahlen von europa heranmachen. Der mehr als 400 000 den MarktSozialvoyeurismus deutsche Sender hat sich zuführer regelmäßig hinter sich. dem die Rechte an Teenager Die vierte Staffel von SNF hat Blümchensex und werden Mütter gesichert, und sich bei 173 000 eingependelt. Alkoholorgien in der der Schweizer Sender 3plus Im Vergleich dazu erreichte Disco garantieren adaptierte unter dem Titel Helden von morgen, die zehnmal ATV Quotenerfolge. Jung, wild & sexy erfolgreich so teure Castingshow des ORF, den Partykracher SNF. Je nur knapp doppelt so viele Seher. Mittlerweile werden Auch mit anderen neuen Boulediese Rezepte auch ins nach Absatzmarkt und Format erhält ATV bei einem vardformaten konnte der öffentAusland verkauft Lizenzverkauf fünf bis zehn lich-rechtliche Sender gegen den Prozent der Produktionsprivaten Konkurrenten nicht summe. punkten: Single mit Kind sucht, Eine Folge von Bauer sucht Frau kostet bis Direkt – das Magazin und Contra – der Talk, blieben weit hinter den Erwartungen. Der ORF zu 80 000 Euro. Eine Episode SNF deutlich wisse einfach nicht, was er wolle, findet Gastinger. weniger. Die Erlöse aus dem Lizenzgeschäft Halbherzig die Privaten nachzuäffen sei zu wenig. sind bislang nicht mehr als ein Zubrot. Doch Mit SNF erreiche man zu Spitzenzeiten regel- soeben hat sich der Produktionsriese Fremantmäßig 20 bis 30 Prozent der angestrebten Ziel- le-Grundy die Vermarktungsrechte für Schwer gruppe: »Das ist so viel, dass selbst deutsche verliebt, einer weiteren Kuppelshow, gesichert. Kollegen bei uns anrufen. Ich erkläre ihnen dann, »Sollte es gelingen, damit weltweit Fuß zu fassen, könnten wir schön verdienen«, hofft ATVdass wir einfach die Realität zeigen.« Die Wirklichkeit von ATV ist das Produkt Geschäftsführer Ludwig Bauer. Die Burschen im VIP-Bereich bekommen langer Arbeit. »Das Wichtigste ist es, gute Typen zu finden«, erklärt Gastinger. »Ist das ein bis auf Spesen keinen Cent von ATV. Einzig fader oder spannender Mensch, hat er viel zu für ihre Auftritte im Rahmen der Discotour, erzählen? Natürlich gibt es einen Ablauf, eine die ihr Manager Martin Richter organisiert, Art Storyline, die man verfolgt. Ins Blaue zu werden sie honoriert. An der Bar, wo der Woddrehen wäre ja verrückt.« Wenn eine Idee als ka nie ausgeht, steigt die Stimmung. SchubReportage funktioniert, steht einer Serienkon- weise werden Trauben von Mädchen vorgelaszeption nichts mehr im Weg. Der Klassiker sen. Die Jungs schneiden Grimassen, klopfen sind Dating-Sendungen: Mann trifft Frau und Sprüche und geben Autogramme. Erst beim umgekehrt. Dann gibt es die Formate mit den Ausflug ans DJ-Pult, wo sie ihre Single Vollgas Uniformen: Polizei, Rettung, Soldaten. Ser- präsentieren, bekommen die Partykaiser die viceformate wie Pfusch am Bau sollen auch der Brüchigkeit ihrer medialen Prominenz zu spüInformation dienen. Und Bauer sucht Frau, das ren. »Wiener Schweine«, grölt es plötzlich. Sozugekauft und adaptiert wurde? »Das ist die gar Bierbecher fliegen. Ein paar Burschen reRosamunde-Pilcher-Welt, die Blümchensex- cken die Mittelfinger in die Höhe. In Graz komme das öfter vor, beschwichtigt der ManaGeschichte«, lächelt der Programmchef. Unabdingbar sei es, den Humor und die ger. Ob die Blase des Ruhmes platzen wird? »Ja Sprache des österreichischen Marktes zu tref- klar«, sagt er wie selbstverständlich in das fen. Das zielgruppengerechte Lokalkolorit ent- Dröhnen der Bässe. Irgendwann habe jedes

Reality-Format seine Sättigung erreicht. Die Party könnte mit einem bösen Kater auf dem Arbeitsamt enden. Dass die Protagonisten zermalmt und dem Publikum zum Fraß vorgeworfen würden, sieht man bei ATV freilich anders. Jeder sei mündig – Mitmachen auf eigene Gefahr. Gastinger appelliert an die Verantwortung der Eltern und fordert verstärkte Medienerziehung: »Ich wundere mich generell, was wir für ein Schulsystem haben. Wie kann es sein, dass es solche Leute gibt, die so eine Sprache haben?« Voyeurismus gäbe es auf allen Kanälen, wehrt er den Sozialporno-Vorwurf ab. Ebenso wenig habe ATV das Fernsehen neu erfunden. Tatsächlich scheinen beim Blick über die Grenzen die meisten Tabus bereits gebrochen. In der deutschen Show Das Supertalent malte ein Australier ein Porträt mit seinem Penis. Die Britin Jade Goody, bekannt durch ihren Auftritt in Big Brother, verkaufte ihr Schicksal ans Fernsehen, als sie Krebs bekam: Ganz Großbritannien sah ihr beim Sterben zu. In den Niederlanden zeigt Rehab drogensüchtige Jugendliche beim Entzug. Derweil torkeln in SNF die Kids über die Mattscheibe. »Oida«, »geh scheißen«, »was is, du Hur«, so der ganze normale Wortschatz in diesem Fernsehjuwel. Ein Mädchen erzählt, sie freue sich auf einen Dreier mit einem der Burschen: »Wenn er es nicht bringt, ist immer noch meine Freundin da.« Dass Reality-TV die Grenzen von sozialem Geschmack und Verhalten überschreitet, macht gerade seinen Reiz aus. Trotzdem habe Fernsehen als Leitmedium eine soziale Verantwortung, findet Soziologin Eva Flicker von der Universität Wien. Die Verantwortung der TV-Macher liege darin, wie die Szenen arrangiert würden. Spotzl, Molti, Eigi und Pichla behaupten, sie wüssten genau, was mit ihnen vor sich geht. Sie wirken interessiert, lesen Zeitung. Doch was ist schon wichtig in der Disco? Hinter den Kulissen sollen die Burschen manchmal die Sau rauslassen wie echte Rockstars. Ihre Familien stünden trotzdem hinter ihnen, sagen die vier. Einzig Spotzls Oma wollte plötzlich nichts mehr von ihrem Enkel wissen. »Shit happens«, sagt dieser lapidar. Beim Tanzen an der Stange reißt er sich das T-Shirt vom Leib. Quer über die Brust hat er sich ein Bibelzitat tätowieren lassen: ego sum qui sum – Ich bin der, der ich bin. Auch auf den Verdacht hin, nur Sternschnuppen einer absurden Medieninszenierung zu sein, halten die Burschen zusammen. ATV will indes seine Eigenformate noch größer herausbringen. Für den Jahreswechsel ist der Start eines zweiten Kanals geplant. Das langfristige Ziel: ein Marktanteil von acht Prozent. Und noch mehr Werbeeinnahmen.

IN DER ZEIT POLITIK 2

FDP Die Partei hat den

Liberalismus vergessen 3

Schafft Gesundheitsminister Philipp Rösler einen Neubeginn für seine Partei? Aufbruch mit alter Garde

4 5

Außenminister ohne Parteivorsitz: Was bleibt von Guido Westerwelle? Politische Lyrik Bundeswehr Die ersten frei-

willigen Wehrdienstleistenden 6

Atompolitik Das Moratorium

der Regierung ist Augenwischerei 7

Libyen Wie weiter nach der

militärischen Intervention? 8

13 Nachruf Zum Tode von Hilde von Lang VON HELMUT SCHMIDT

ÖSTERREICH 14 Privatfernsehen ATV feiert mit Eigenformaten Erfolge VON STEFAN MÜLLER

Donnerstalk ALFRED DORFER über die Selbstreinigung der Volkspartei

Elfenbeinküste Der Machtkampf

zwischen altem und neuem Präsidenten 10 Nigeria Der Wahlkampf des Hoffnungsträgers Nuhu Ribadu 11 Japanisches Tagebuch 12 Aus der Welt

GESCHICHTE 22 Raumfahrt Jurij Gagarin, der erste Mensch im All

38

26 »Focus« Blattreform am Abgrund 27 Weltwirtschaft Können wir dem Aufschwung trauen? 28 Uranabbau Schmutziges Geschäft

17 Gesellschaft Die Alten werden mächtiger – den Jüngeren wehren sich 20 WOCHENSCHAU Kachelmann Der Mannheimer Strafprozess als Lehrstück über Geld und blinden Feminismus

WISSEN

24 Ölmarkt Libyen ist nur eine kleine Macht/Förderung im Wattenmeer

16 Musik Wie die Wiener und die Berliner Philharmoniker dem NS-Staat dienten

DOSSIER

36 Was bewegt ... den Unternehmer Fred Langhammer?

37

Stuttgart 21 Der neue Bahnhof

30 Mode Kompromisslose Ökokleidung 32 EnBW Scheitern die grün-roten Umbaupläne an den Finanzen? 33 Boehringer Fragen an den Eigentümer 34 Kupfer Spekulanten entdecken das rote Metall

51

Psychologie

Die Realität des Treue-Ideals Die Utopie der Treue in Literatur und Philosophie/Historisch waren Liebespaare selten frei in ihrer Wahl

39 »Monogamie ist unnatürlich« sagen zwei Untreueforscher 40 Kernenergie Plutonium als heikler Brennstoff in Reaktoren 41 Infografik Die Abgase des Schiffsverkehrs 42 Wissenschaft TÜV für Messdaten 47 KINDERZEIT Revolution Wie zwei Kinder den Umbruch in Tunesien erlebten

FEUILLETON 49 Arabien Warum der Islamismus in der Revolte keine Rolle spielt

China Ai Weiweis Verhaftung und die Folgen

Ein Besuch in Ai Weiweis Künstlerdorf

Armut hängen eng zusammen

23 Libyen Ein Besuch beim Finanzminister der Rebellen

vor dem Aus?

Telekom Die Spitzelaffäre Entwicklungspolitik Krieg und

WIRTSCHAFT

25

VON FRITZ TRÜMPI

35

21 Mittelalter Die große Salier-Ausstellung in Speyer

15 ORF Interview mit Programmdirektor Wolfgang Lorenz

Polen Ein Jahr nach dem

Flugzeugunglück von Smolensk 9

12 Internet Wie gefährlich sind anonyme Lästerseiten?

52 Legende Carlo Pedersoli – der Mann, der Bud Spencer war 53

REISEN 65 Verantwortungsvoll reisen – ein Spezial auf drei Seiten

69 Literatur Wie DDR-Bürger illegal in die Sowjetunion reisten

Belletristik Peter Handke

CHANCEN

»Der große Fall« 54 Roman Dirk Kurbjuweit »Kriegsbraut« 55 KrimiZEIT-Bestenliste Sachbuch Suelette Dreyfus/Julian

Assange »Underground« 56 Diskothek 58 Theater »Bengal Tiger at the Bagdad Zoo« in New York 59 Kunstmarkt/Museumsführer 62 Geistesgeschichte Die seltsame Karriere des Hans Robert Jauss 63 Theater »Draußen vor der Tür« Kino »The Fighter«

64 GLAUBEN & ZWEIFELN Erinnerungskultur

Das Internet kennt weder Vergeben noch Vergessen

71

Gebührendebatte Was ist uns

Bildung wert? 72 Schule Bibliotheken sind unerlässlich 73 Studium Der erste Lehramtsstudiengang für Chinesisch Deutschlandstipendium 75 Beratung Hilfe für Entlassene Jobsuche Wie man verdeckte

Stellen findet 90 ZEIT DER LESER 62 Impressum 89 LESERBRIEFE Die so gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im »Premiumbereich« von ZEIT ONLINE unter www.zeit.de/audio

ÖSTERREICH

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

15

DRAUSSEN

Krokodile am Strand

Programmdirektor Lorenz: »Wir gehen von einem anderen Menschenbild aus als die privaten Sender«

»Es wird immer enger für uns« Programmdirektor des ORF, über Menschenverachtung im Privat-TV und die Unmöglichkeit, im Fernsehen intelligenter sein zu wollen, als es der Gesellschaft insgesamt entspricht

WOLFGANG LORENZ,

DIE ZEIT: Herr Lorenz, freuen Sie sich schon auf den Tag, an dem Sie Ihr Amt als Programmdirektor hinter sich haben und sich nichts mehr von dem ansehen müssen, was Sie jetzt täglich auf Sendung gehen lassen? Wolfgang Lorenz: Schon diese erste Frage ist eine Gemeinheit. Erstens schaue ich mir gerne an, was wir senden – jedenfalls überwiegend. Und zweitens bin ich voll im Geschäft und mache das bis zum letzten Tag, so als wäre ich noch zehn Jahre im Amt. ZEIT: Leidet ein kultivierter Mensch nicht ungeheuer an diesem Programmangebot? Lorenz: Warum sollte ich leiden? Das ist Ihr selektiver Blick des Feindes, der sich das herauspickt, was ihm nicht gefällt. Das, was an Qualität da ist, beispielsweise der Kulturmontag, kreuz und quer oder die Donnerstagnacht, das wird als ohnehin vorhanden vorausgesetzt. Wenn ich mir all das ansehe, so füllt das mein kulturelles Mütchen durchaus mit Wonne. Das hat niemand in Europa. Und das bei steigendem Marktanteil. ZEIT: Das ist ein wenig schönfärberisch. Es gehen doch eine Menge Programme auf Sendung, bei denen man sich vor Schmerzen windet, so dumm ist das Zeug. Lorenz: Das ist doch ganz klar, da öffentlichrechtlicher Rundfunk ein Abbild der Gesellschaft ist. Er entspricht dem Zustand der Gesellschaft, der insgesamt unbefriedigend ist. Insofern gebe ich Ihnen recht, dass der Spiegel nicht so glatt geputzt ist. Nur muss man dann eine gesellschaftspolitische Diskussion führen und nicht eine darüber, ob das ORF-Programm im Detail schwächelt. Nicht einmal die Politik versteht, was öffentlich-rechtlicher Rundfunk bedeutet. Er bedeutet nämlich nicht politisch korrekter Rundfunk, sondern er verlangt, im Auftrag der Gesellschaft für die Gesellschaft Programm zu produzieren. Und dabei muss man sich am Auftraggeber orientieren, der mitunter so aussieht, wie es Ihnen und mir nicht gefällt. ZEIT: Heißt das nun, in diesem gesellschaftlichen Umfeld muss Unterhaltung in einem Massenmedium so strohdumm sein, wie sie ist, damit sie überhaupt funktioniert?. Lorenz: Die Unterhaltung, die wir produzieren, ist nicht strohdumm, sondern in vielen Teilen sehr gefällig. Unterhaltung, die nicht gefällt, führt sich aber selbst ad absurdum. ZEIT: Sie muss so sein? Lorenz: Sie muss so sein, wollen wir nicht charaktervoll und erhobenen Hauptes untergehen und das Feld des Boulevards den Privaten kampflos überlassen. Klar ist es fatal, den öffentlichrechtlichen Rundfunk mit einem Bein am Markt und mit dem anderen im akademischen Milieu aufzustellen. Aber so, wie es ist, können wir die Rechnung nicht ohne den Wirt machen. ZEIT: Wer wäre da jetzt der Wirt? Lorenz: Das Publikum. Wir sind angehalten, auch Geld am Markt zu verdienen, sonst sterben wir. Wir sind ja nicht durch Gebühren ausfinanziert, sondern wir haben ein starkes Standbein in der Wirtschaft. Und dort herrscht Konkurrenz. Natürlich ist ein von Intellektuellen bejubelter Sender machbar. Der wäre aber nur eine Marginalie. Ich habe jedoch keine Lust, darüber nachzudenken, wie der ORF die Privaten lediglich ergänzen könnte. Die Schnittstellen nehmen nicht zuletzt deshalb zu, weil das Publikum das Match entscheidet. Es bewegt sich in guten Teilen dorthin, wo wir es uns nicht hinwünschen. Doch dieses Problem ist eher durch eine strikte Haltung des ORF zu beantworten denn durch Unterhaltung. Ich glaube noch immer, dass es keine einzige Sendung im ORF gibt, von der man sagen könnte, sie wäre im Set des Gesamtprogrammes öffentlich-rechtlich unverträglich. ZEIT: Heißt das, die Konkurrenz erzwingt eine Abwärtsspirale, in der die Standards erodieren? Lorenz: Gar nicht. Es ist ja nicht so, dass die Privaten von ihrer Befähigung her nichts anderes zusammenbrächten als eben Schweinestallfernsehen ... ZEIT: Also agieren sie zynisch?

Lorenz: Ich würde sagen, sie bewegen sich am

Markt. Privates Fernsehen findet statt, um Profit zu erwirtschaften. Und das macht es mittlerweile mit großem Geschick. ZEIT: Früher galt einmal der Satz: Ein Medienunternehmen ist keine Schraubenfabrik. Lorenz: Das ist auch heute noch richtig. ZEIT: Das bedingt aber, dass die Entscheidungsträger dafür Verantwortung tragen, welche Wirkung ihr Produkt auf die Öffentlichkeit ausübt. In diesem Fall ist der Markt nicht mehr das Maß aller Dinge, der vielleicht danach verlangen mag, besoffene Jugendliche aus bildungsfernen Schichten dem Publikum auszuliefern. Lorenz: Das würden wir ja nie machen. ZEIT: Ihre Konkurrenz, marktkonform wie sie ist, macht es aber. Lorenz: Der Markt teilt sich auf. Das ist das Prinzip des dualen Systems. Es findet eine Aufteilung der Gesellschaft statt, und wie sie sich aufteilt, entscheidet das Publikum. ZEIT: Private Sendungsverantwortliche sollten doch auch Verantwortung für ihre Programme übernehmen müssen, oder? Lorenz: Finde ich auch. Dann müssen wir aber darüber reden, mit welchen Menschen wir wie umgehen und welche Bilder und Texte wir darüber erzeugen. Hier liegt der Schlüssel für die Trennung zwischen den privaten und den öffentlich-rechtlichen Programmen. Dieses Thema liegt bei uns täglich auf dem Tisch. Unsere Unterhaltungssendungen unterscheiden sich in einem sehr einfachen Punkt: Die Leute, die bei uns auftreten, sind Akteure, und bei den Privaten sind sie Opfer, die einer johlenden Meute vorgeführt werden beziehungsweise zum Teil auch vernichtet werden. Das ist der entscheidende Unterschied, um den es geht. Deshalb kann die Diskussion nicht über Quoten und Bilanzen geführt werden, sondern darüber, dass öffentlichrechtlicher Rundfunk eine dezidierte Herausgeberschaft und eine ebensolche Haltung aller Mitarbeiter voraussetzt. Daran müssen wir arbeiten und dürfen uns nicht der Unterscheidungslosigkeit hingeben. ZEIT: Sie haben also unterschiedliche Menschenbilder vor Augen? Lorenz: Die Privaten tun so, als wäre der Mensch fertig, und weiden ihn aus. Wir sind der Meinung, dass der Mensch nicht fertig ist und weiter zivilisiert werden muss. Das heißt, wir haben auch eine gesellschaftliche Utopie zu befördern. Wir gehen von einem unfertigen Menschenbild aus, die Privaten von einem fertigen, das sie kommerziell ausnützen. Deshalb geben sie ausschließlich dem Affen Zucker. ZEIT: Dennoch importiert auch der ORF Formate, die außerhalb der Landesgrenzen vor allem bei Privatsendern erfolgreich sind. Lorenz: Das stimmt schon. Das sind internationale Lizenzen. Supertalent ist eine amerikanische Lizenz ... ZEIT: ... das amerikanische System ist aber kommerziell und privat. Lorenz: Ich finde unsere BBC-lizenzierten Dancing Stars viel besser als die RTL-Kopie und das Publikum, Gott sei Dank, auch. Ob Ihnen das gefällt, ist ebenso gleichgültig wie die Frage, ob es mir gefällt ... ZEIT: Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler? Lorenz: Das sag ich doch gar nicht. Ich bin für alles im Programm zuständig. Ich muss alles mögen, was ich mache. Sie werden von mir nicht hören, dass ich die Produktion X nicht ausstehen kann. Wir haben immer unsere Problemkinder, selbstverständlich auch solche, die ich in die Welt gesetzt habe. Ich weigere mich aber, hier eine Geschmacksdebatte zu führen. Die Frage lautet nicht: Welchen Geschmack transportieren wir? Sondern: Transportieren wir Geschmacklosigkeiten? ZEIT: In beiden Rundfunktypen ist allerdings auf lange Sicht eindeutig eine Trivialisierung des Massengeschmacks festzustellen. Lorenz: Das ist so, weil wir uns in einer äußerst kritischen Phase befinden, in der die Ge-

sellschaft beginnt, sich gegen sich selbst zu richten. Weil uns die Feindbilder ausgegangen sind, beginnt sich die Gesellschaft selbst zu kannibalisieren. ZEIT: Kannibalisieren? Lorenz: Indem wir aufeinander losgehen. Die Grundeigenschaft der Niedertracht nimmt zu. Speziell in Österreich hält man es für ein besonderes Talent, sich im Wesentlichen mies zu verhalten. Seit Nestroy ist ja bekannt, dass das sogenannte österreichische Wesen aus einer Mischung aus Verdächtigung und Unterstellung der anderen besteht. Wir leben heute nicht mehr in einer Lebensgemeinschaft, sondern in einer Überlebensgesellschaft. Jeder schaut, dass er gerade noch irgendwie über die Runden kommt. Deshalb war es um den gesellschaftlichen Diskurs noch nie so schlecht bestellt wie heute. ZEIT: Als Programmdirektor des ORF stehen Sie ja auch dafür in der Verantwortung. Sie werden sich doch nicht denken: Solange die Quote stimmt, ist alles bestens. Lorenz: Das ist eine Gemeinheit, mir das überhaupt als Frage anzubieten. Selbstverständlich nehme ich diese Verantwortung wahr, und es gibt genug Beispiele, die dies belegen. Nicht alles gelingt. Man tut, was man kann und was man verantworten kann. Und es gibt nichts in meinem Programm, wofür ich nicht die Verantwortung

übernehmen könnte. Aber selbstverständlich spüre auch ich, dass sich da eine Grenze immer näher an uns heranschiebt. ZEIT: Wird es enger? Lorenz: Es wird enger. Nicht wir nähern uns der Grenze, sondern die Grenze kommt immer näher auf uns zu. Nicht zuletzt auch deshalb, weil in den diversen Gremien auch Leute sitzen, die uns den Quotenerfolg dieser oder jener Abscheulichkeit als nachahmenswertes Beispiel unter die Nase halten. ZEIT: Hat die Grenze, die es nicht zu überschreiten gilt, einen Namen? Lorenz: Menschenverachtung. ZEIT: Der Sie bei der Konkurrenz begegnen? Lorenz: Selbstverständlich. In hohem Maße. Ich hasse es, dass Menschen in Fallen gelockt werden, weil sie nicht rechtzeitig die Gefahr erkennen können, in der sie schweben. Arenafernsehen, in dem Menschen mit faschistoiden Methoden als Opfer vorgeführt werden. ZEIT: Gibt es retrospektiv gesehen Augenblicke, wo Sie das Gefühl hatten, dieser Grenze mit Ihrem Programm gefährlich nahe gekommen zu sein? Lorenz: Die gibt es auch heute noch immer wieder. Das Gespräch führte JOACHIM RIEDL

Ich bin für das Rote Kreuz als Gesundheitsdelegierte in Osttimor tätig. Malaria, Denguefieber und Durchfallerkrankungen sind hier weit verbreitet. In Dörfern, die nicht oder nur notdürftig mit Wasser versorgt sind, unterstützen wir die Menschen beim Bau von Latrinen. Zu Beginn eines Projekts klären wir, welche Krankheiten am häufigsten sind. Auf dieser Basis versuchen wir, die Ortsbevölkerung so weit zu motivieren, dass sie sich selbst an der Lösung der Gesundheitsprobleme beteiligt. Wir stellen dabei das technische Know-how und bilden Freiwillige aus, die ihren Nachbarn dann in Gesundheits- und Hygienefragen Hilfe anbieten können. Früher war ich oft ungeduldig und enttäuscht, wenn etwas nicht geklappt hat. Nach vielen Jahren des Reisens, des Suchens und Ausprobierens fühle ich mich heute nicht mehr getrieben. Ich habe meine Balance gefunden. In mir ist große Zufriedenheit und Dankbarkeit dafür, dass ich mein Leben so gestalten kann und viel Schönes erlebe. Dass ich in meiner Tätigkeit so aufgehe, verdanke ich meinen Eltern. Meine Mutter spornte mich an, Auslandspraktika zu machen und Sprachen zu lernen. Wir haben Urlaube bei Freunden meines Vaters in Bosnien verbracht. Zu Hause hatten wir oft Besuch aus England, Frankreich oder Ex-Jugoslawien. Diese Einflüsse prägten mich früh und regten mich während der Schul- und Studienzeit zu Reisen an. Ich lebte an vielen Orten, war häufig auf mich allein gestellt und musste lernen, mit Verlust umzugehen, nachdem mein Bruder vor mehr als zehn Jahren plötzlich verstarb.

Martha Wirtenberger stammt aus Absam. In Osttimor arbeitet sie als Gesundheitsdelegierte

Foto: privat

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Foto [M]: Michael Rausch-Schott/picturedesk.com

Eine Tirolerin in Osttimor: Martha Wirtenberger, 34, Rot-Kreuz-Helferin

Wir wohnen aus Sicherheitsgründen in einer bewachten Anlage in der Hauptstadt Dili. Unsere Projektgebiete sind von hier aus innerhalb weniger Stunden zu erreichen. Die Stadt liegt direkt am Meer. Der Strand ist zwar schön, aber man kann nicht schwimmen, weil die Küste von Krokodilen verseucht ist. An den Wochenenden mache ich Bootsausflüge, gehe wandern oder treffe Freunde zum Brunch. Bei all dem genieße ich jeden Tag, so wie er kommt. Ich freue mich über die vielfältigen Details, über das Schöne und das Bunte. Im Lauf der Jahre habe ich gelernt, vertrauensvoll meinen Weg zu gehen. Aufgezeichnet von ERNST SCHMIEDERER A

16 7. April 2011

ÖSTERREICH

DIE ZEIT No 15

E

ZEITGEIST

Arabisches Wunder Krieg den Palästen, nicht dem Westen – ein ermutigendes Omen

Foto: Mathias Bothor/photoselection

Der Hund, der nächtens nicht gebellt hat, ist ein Sherlock-Holmes-Klassiker. Wie »kurios«, grübelt der größte aller Detektive in Silver Blaze, liegt doch das Bellen in der Natur des Tieres. Also die Perspektive wechseln: Der augenfällige Verdächtige kann es nicht gewesen sein; den kannte der Hund nicht und hätte deshalb angeschlagen. Holmes hätte auch mit Blick auf die arabischen Revolutionen neu nachgedacht. Denn das Erwartbare ist ausgeblieben. Es fehlten die Hassparolen auf Amerika und Israel; die übliche Verbrennung ihrer Flaggen fand nicht statt. »Zum ersten Mal«, notiert der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun, »haben sich arabische Demonstranten weder gegen den Westen noch gegen Israel gewandt« (siehe seinen Beitrag im Feuilleton). Die Überraschung ist umso größer, als gerade in den Aufstandsländern der Antisemitismus die wütendsten Orgien gefeiert hat. Nicht »Israelkritik«, sondern das europäische Original mit Ritualmordlegende und Weltverschwörung. Im Spiel war die klassische Ablenkungsstrategie. Je versteinerter das Regime, desto heftiger der offiziell geschürte Hass auf Amerika und Israel: Die sind schuld an eurem Unglück; keine Reformen, solange der Feind nicht besiegt ist. Das hat die Tyrannen und die Unterdrückten jahrzehntelang zusammengeschweißt. »Beschäft’ge stets die schwindlichten Gemüter / Mit fremdem Zwist«, heißt es schon bei Shakespeare. Mit den Regimen wackelt auch ein beliebter Glaubenssatz im Westen: dass alle Probleme der Region wie von Zauberhand verschwänden, wenn endlich das palästinensische gelöst würde. Die berüchtigte »arabische Straße« in Kairo, Damaskus, Amman, Tunis und Bengasi hat aber nicht für Palästina demonstriert – noch ein Hund, der hätte bellen müssen. Die Rebellen kämpfen für Freiheit in Ägypten, Syrien, Libyen, nicht in Palästina. Die Israelis haben das noch nicht erkannt; für sie galt der Satz »Mubarak gut, Masse böse«, weil er der Garant des Friedens war. Wenn aber die Revolution so ausgeht, wie sie zu verheißen scheint (ein großes Wenn), dann ist auch hier der Perspektivwechsel fällig. Dann könnte sich der Hass der »Straße« als Machtinstrument der Tyrannen entpuppen, dann könnten die Israelis zum ersten Mal aufatmen und Sicherheit nicht nur mit gefletschten Zähnen suchen. Oder in der Besatzung. Das zentrale Dogma der Nahostpolitik könnte sich in sein Gegenteil verkehren. Nicht die 60 Kilometer zwischen Jaffa und Jericho sind die Mutter aller Konflikte, sondern Despotismus und Dysfunktionalität vom Maghreb bis zum Maschrek. Das jedenfalls signalisiert die Jasmin-Revolution. Setzen sich die Demokraten durch, wird sicherlich kein Liebesfest ein Jahrhundert der Feindschaft ablösen. Aber legitime Herrschaft braucht keine

Josef Joffe ist Herausgeber der ZEIT

Feindbilder, erst recht nicht, wenn sie bringt, was fehlt: Teilhabe, Bildung, Wachstum, Chancen. Engelskreis statt Teufelskreis – das ist die Verheißung des Arabischen Frühlings. Ob es gut ausgehen wird? Die Geschichte der Revolutionen seit 1789 schreit nicht gerade »Ja!«. Aber die Hunde, die nicht gebellt haben, sagen uns stumm und doch sehr deutlich, welcher Seite der Westen und Israel helfen müssen. A

Fotos: Historisches Archiv der Wiener Philharmoniker (o.), Archiv Berliner Philharmoniker (u.)

JOSEF JOFFE:

s ist wahrscheinlich der erfolgreichste Exportartikel der Stadt. Wenn die Wiener Philharmoniker alljährlich am Vormittag des 1. Jänner das neue Jahr mit den Melodien der StraußDynastie begrüßen, nehmen rund um den Globus 45 Millionen Fernsehzuschauer an dem musikalischen Katerfrühstück teil. Die walzerselige Morgengabe sei, wie das Orchester stolz vermerkt, in aller Welt zu einem »Inbegriff wienerischer Musikkultur« geworden. Das traditionelle Neujahrskonzert ist allerdings keine genuine Grußbotschaft aus Wien, sondern eine Erfindung der NS-Zeit. Erstmals beging der Klangkörper im Kriegswinter 1939 (damals noch als »Silvesterkonzert«) den Jahreswechsel mit einem Melodienreigen im Dreivierteltakt. Von den Wiener Philharmonikern selbst wurde der neue Brauch anfänglich eher stiefmütterlich behandelt. Die Versammlungsprotokolle des Orchestervereins belegen, dass das vermehrte Eindringen von »leichter Musik« ins traditionell hochkulturell geprägte Repertoire der Philharmoniker unter seinen Mitgliedern höchst umstritten war. Immer wieder sorgte die neue Aufführungspraxis auf den Vereinsversammlungen für besorgte Debatten. Dass die historische Forschung überhaupt Zugriff auf diese Protokolle aus dem Historischen Archiv der Wiener Philharmoniker hat, ist ein Novum: Der ungehinderte Archivzugang erforderte langwierige Verhandlungen mit den zuständigen Orchesterstellen; die Versammlungsprotokolle galten bislang als unantastbarer Familienschatz der Philharmoniker. Wie diese Quellen belegen, handelte es sich bei der Einführung des Neujahrskonzerts keineswegs um ein Wunschprojekt der Wiener Philharmoniker. Sie war vielmehr Bestandteil einer Reihe von kulturpolitischen Maßnahmen, die auf die veränderten politischen Rahmenbedingungen nach dem »Anschluss« Österreichs an das Großdeutsche Reich im März 1938 zurückzuführen sind. Österreich wurde damals in Reichsgaue aufgelöst, wodurch Wien seinen Status als Hauptstadt verlor. Für die Wiener Philharmoniker bedeutete dies einen drastischen Einschnitt in ihre seit den 1920er Jahren verstärkt betriebene internationale Tourneetätigkeit, die oft im Zeichen einer außenpolitischen ÖsterreichWerbung stand. Vor allem im austrofaschistischen Ständestaat diente das Orchester der Wiener Regierung als Botschafter, der im Ausland die kulturelle Unabhängigkeit des Landes gegenüber dem benachbarten Nazi-Deutschland propagierte. Mit dem »Anschluss« wurde die Konzerttätigkeit im Ausland jedoch stark eingeschränkt. Die Philharmoniker widmeten sich darum vermehrt einer spezifischen Wien-Repräsentation, was ihnen umso leichter fiel, da sie bereits seit der Jahrhundertwende in großen Lettern in den Topos der Musikstadt Wien eingeschrieben waren. Bestärkt wurden sie darin auch von dem Gauleiter Baldur von Schirach. Als Reichsstatthalter verfolgte er mit Wien ehrgeizige kulturpolitische Ziele und war bemüht, die Stadt im innerdeutschen Städtewettbewerb möglichst vorteilhaft zu positionieren. Dazu bedurfte es auch der Herausbildung einer spezifisch wienerischen Note in der Musik, die sich unter anderem in einer prononciert geförderten Strauß-Rezeption ausdrückte. Die Wiener Philharmoniker nahmen nun Strauß-Walzer häufiger in ihre Programme auf und waren auch in Rundfunkkonzerten oft mit Werken der Strauß-Dynastie präsent. Außerhalb der traditionellen Abonnementkonzerte machten Walzer und Polkas zwischen 1938 und 1945 bis zu 50 Prozent des Repertoires aus. Der berühmte »Wiener Klangstil«, spieltechnisch auf die Wiener Klassik zurückgehend, verdankt paradoxerweise seinen Weltruhm der Provinzialisierung der Wiener Philharmoniker während der NS-Zeit. Diese Provinzialisierung war aber auch eine Folge der Kulturpolitik von Joseph Goebbels. Der Propagandaminister setzte alles daran, die kulturelle Außenrepräsentation des NS-Staates von der Reichshauptstadt aus zu lenken. In den Berliner Philharmonikern fand er rasch ein ideales Instrument zur Umsetzung seiner Strategie. Zunächst griff

Walzer für Nazis Die Wiener und die Berliner Philharmoniker dienten dem NS-Staat, so gut es die rivalisierenden Musiker jeweils konnten VON FRITZ TRÜMPI

Gauleiter Schirach gratuliert 1942 den Wiener Philharmonikern zum 100-Jahr-Jubiläum

Die Berliner Philharmoniker und ihr Protektor Goebbels eröffnen 1933 die Reichskulturkammer

Goebbels dem finanziell schwer angeschlagenen Klangkörper mit einem beispiellosen Sanierungsprogramm unter die Arme und machte dessen Mitglieder über Nacht zu den bestverdienenden Orchestermusikern Deutschlands – und damit zu willfährigen Helfern für seine kulturpolitischen Pläne. In der reichsweit gültigen Orchester-Tarifordnung war den Berliner Philharmonikern ein »Sonderklasse«-Status reserviert. Im Gegenzug leistete das Renommierorchester die Hauptarbeit der musikalischen Außenrepräsentation des NS-Staates. Um diese Arbeit auch in Kriegszeiten ohne Abstriche weiterführen zu können, bewahrte Goebbels die Musiker mittels Unabkömmlichstellung bis Kriegsende kollektiv vor dem Einzug in die Wehrmacht. Mit Kriegsbeginn nahm die Reisetätigkeit der Berliner rasant zu. Zwischen 1940 und 1944 war die Zahl der Auslandskonzerte bis zu dreimal so hoch wie in Vorkriegszeiten. Das Orchester lieferte je nach Anlass die Begleitmusik zum deut-

schen Kanonendonner in den eroberten Gebieten oder es beschwichtigte in neutralen Staaten mit seinen Schalmeienklängen. Den Wienern war das Tournee-Monopol ihrer Berliner Kollegen ein Dorn im Auge. »Wären die Berliner Philharmoniker gefahren, hätte es das Propagandaministerium gezahlt, wir sollen es aber selber zahlen«, vermerkt etwa das Protokoll im April 1943, drei Monate nach der Katastrophe von Stalingrad, als es darum ging, einen Finanzier für eine Konzertreise nach Schweden zu finden. In der Regel fehlte für ausgedehnte Reisen das Budget. Gauleiter Schirach verfügte nicht über die finanziellen Mittel von Goebbels. Dennoch beschützte er seine Philharmoniker nach dem Vorbild des Propagandaministers. Er erlangte für das Orchester ebenfalls eine bis Kriegsende geltende Unabkömmlichstellung. Zum 100. Geburtstag des Orchesters ließ er kurzerhand einen Teil der Wiener Augustinerstraße in Philharmonikerstraße umbenennen. Während der Jubiläumskonzerte der

Philharmoniker waren alle anderen Orchesterveranstaltungen verboten. Die Musiker dankten es ihm, indem sie ihrem Protektor den Ehrenring des Orchesters verliehen oder auf Schirachs privaten Empfängen unentgeltlich aufspielten. Die unterschiedliche Instrumentalisierung der beiden rivalisierenden Orchester erklärt sich aus ihren unterschiedlichen politischen Referenzen: hier der private Umgang der Wiener mit dem höchsten NS-Repräsentanten in Wien, dort das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Berlinern und dem für die reichsweite Propaganda zuständigen Minister. Damit gingen auch Unterschiede in den musikästhetischen Zuschreibungen einher. Wilhelm Furtwängler, dirigierende Zentralgestalt beider Orchester, betonte 1942 anlässlich des 100jährigen Jubiläums der Wiener Philharmoniker: »Den Grund zu Ihrer Ausnahmestellung sehe ich darin, dass die Philharmoniker ausschließlich ein Wiener Orchester sind.« In Berlin hingegen musiziere man nicht berlinerisch, sondern »deutsch«, so Furtwängler. Auch der damalige Orchestervorstand Wilhelm Jerger sah den spezifischen Klang der Wiener Philharmoniker an der Donau verwurzelt: »Es ist ein Herauswachsen aus dem Boden Wiens, aus altem Erbboden, dessen Musikalität ja sprichwörtlich ist!« Demgegenüber stellte der einflussreiche Berliner Musikschriftsteller Oswald Schrenk die Berliner Philharmoniker 1943 ausdrücklich in den Kontext des Staates: Sie seien die »bedeutendsten musikalischen Kulturträger des Großdeutschen Reiches« und hätten »der deutschen Sache unermessliche Dienste« geleistet. Die Politisierung der Wiener und Berliner Philharmoniker im Nationalsozialismus weisen jedoch Gemeinsamkeiten auf. An dem hohen Anteil an NSDAP-Mitgliedern lässt sich bei beiden Orchestern große Loyalität mit dem Regime ablesen. Vor allem bei den Wienern war der Anteil exorbitant hoch: Zählt man die Mitgliedschaften bei parteinahen Organisationen dazu, machten Parteiangehörige mit 47 Prozent fast die Hälfte des gesamten Orchesterpersonals aus. 25 Musiker, ein knappes Viertel, waren überdies sogenannte Illegale, die den Nazis schon während des Verbots der NSDAP im Ständestaat die Treue gehalten hatten. Demgegenüber war der Anteil bei den Berliner Philharmonikern mit rund 20 Prozent NSDAPMitgliedern deutlich geringer. Der folgenschwerste Aspekt ihrer Politisierung liegt bei beiden Orchestern jedoch in den Ausschlüssen der jüdischen Orchestermitglieder. Um ein Kollabieren des Orchesterbetriebs zu verhindern, griffen die Behörden mitunter zwar bei beiden Orchestern auf Sondergenehmigungen zurück, die Musikern ausgestellt wurden, wenn sie nur teilweise jüdischer Herkunft oder aber mit jüdischen Frauen verheiratet waren. Für die Orchestermitglieder jüdischer Herkunft gab es jedoch in beiden Orchestern keinen Platz mehr. Bei den Berliner Philharmonikern mussten die vier jüdischen Mitglieder das Orchester bis zur Spielzeit 1935/36 verlassen und wurden in die Emigration gezwungen – doch die Geschäftsführung der Berliner ließ bei der Durchsetzung der Ausschlüsse zumindest eine Verzögerungstaktik erkennen. Aus den Reihen der Wiener Philharmoniker wurden 1938 hingegen gleich 15 Orchestermusiker vertrieben, großteils aus »rassischen« Gründen, in wenigen Fällen aber auch aufgrund ihrer politischen Vergangenheit. Die Flucht gelang den jüdischen Mitgliedern der Wiener Philharmoniker nur teilweise: Sieben wurden in den Konzentrationslagern ermordet oder starben bei Verhaftung oder Deportation. Nach Hinweisen auf eine Anteilnahme am Schicksal der jüdischen Kollegen, geschweige denn auf Rettungsversuche seitens des Orchesters, sucht man in den Protokollbüchern der Wiener Philharmoniker allerdings vergeblich. Der Autor wurde in der Schweiz geboren und lebt als Historiker und Journalist in Wien. Diese Woche erscheint seine Studie «Politisierte Orchester. Die Wiener Philharmoniker und das Berliner Philharmonische Orchester im Nationalsozialismus.« (376 Seiten, 39 Euro) im Böhlau-Verlag

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DIE

ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

Ganz schön alt

Wie uns die SVP schadet

Sie sind oft unzufrieden, doch geht es vielen so gut wie nie zuvor: Die Macht der Alten in Deutschland Dossier Seite 17–19

Ein Topf, vier Stühle und 95 andere Dinge reichen zum Leben. Ein Designheft Magazin Seite 14 POLITIK SEITE 14–16

Leid der FDP

Am Ende reich

Liberalismus steht zur Stunde eher für Habsucht – und nicht für Generosität VON PETER SLOTERDIJK

Bei der Debatte über den Atomausstieg geht es jetzt darum, was er uns kostet. Aber was ist er uns wert? VON MARC BROST

Z

Die Freien Demokraten haben ihr ideologisches Eigenkapital verspielt Dies lässt sich zur Stunde an der Implosion der deutschen Liberalen beobachten. Ohne Zweifel haben die Freien Demokraten ihr ideologisches Eigenkapital im Rausch eines spekulativen Jahrzehnts verspielt. Sie haben den psychopolitischen Markt nicht mehr verstanden und sich in gefährliche Derivatgeschäfte mit den Enttäuschungen der anderen gestürzt, ohne sich ernsthaft auf die Aufgabe einzulassen, die eignen Werte zeitgerecht zu aktualisieren. Zu spät hat die Geschäftsführung die Wende zu einem »mitfühlenden Liberalismus« dekretiert, als die Partei selbst schon zu einem Objekt des Mitgefühls durch Dritte geworden war. Eine verblüffte Öffentlichkeit lernt nun, dass nicht nur überschuldete Banken unter Rettungsschirme gestellt werden können. Auch notleidende Parteien melden mit einem Mal ihr Interesse an einem Bail-out-Verfahren durch das politische Gemeinwesen im Ganzen an. Vieles spricht dafür, dem Partner in der Krise die nötigen Hilfen zu gewähren. Für den politischen Liberalismus gilt die Maxime too important to fail, selbst wenn es für too big to fail nicht reicht. Die Hilfe ist aber an Bedingungen geknüpft, die künftig vom Klienten zu erfüllen sind. Sollte es je zu einer intellektuellen Regeneration des politischen Liberalismus kommen, sie müsste von der Erkenntnis ausgehen, dass Menschen nicht nur habenwollende, giergetriebene, süchtige und brauchende Wesen sind, die freie Bahn für ihre Mangelgefühle und ihren Machthunger fordern. Sie tragen ebenso das Potenzial zu gebenwollendem, großzügigem und souveränem Verhalten in sich. Dieser Hinweis war nie so wichtig wie gegenwärtig. Nie zuvor haben Begriffe wie »liberal« oder gar »neoliberal« eine so niederträchtige Konnotation angenommen wie

in den letzten Jahren. Noch nie war das liberale Denken, vor allem in unserem Land, so weit vom vornehmen Pol der menschlichen Möglichkeiten entfernt. Noch nie hat man die Freiheit so eng und so fatal mit der Besessenheit der Menschen von dem Gier-Stress in Verbindung gebracht. Aber was beweist das? Nichts anderes, als dass die Sache der Liberalität zu wichtig ist, als dass man sie den Liberalen allein überlassen dürfte. Diese Einschränkung betrifft nicht nur eine einzelne Partei. Die Sache des Realen und seiner Reform ist zu wichtig, als dass man sie Parteien überlassen könnte. So ist die Sorge um die kulturelle Tradition zu umfassend, als dass man sie bloß Konservativen anvertrauen dürfte. Die Frage nach der Bewahrung der Umwelt ist zu bedeutsam, als dass man sie nur ins Ressort der Grünen überweisen sollte. Die Suche nach sozialem Ausgleich ist zu anspruchsvoll, als dass man Sozialdemokraten und Linken die alleinige Verantwortung dafür übertragen könnte. Doch braucht jedes dieser elementaren Motive eine parteiliche Hauptstimme. Was die Verteidigung der Freiheit angeht, so ist sie ein Projekt, das nicht ohne Partei und nicht ohne Parteilichkeit auskommt. Wer von der Freiheit etwas erfahren hat, weiß, dass es weiterhin darum geht, die beiden primären Tyranneien zurückzudrängen, die von alters her das menschliche Dasein deformieren: diejenige, die das Gesicht eines Despoten trägt, und die anonyme, die sich als jeweils herrschende Form des Notwendigen aufzwingen möchte. Wir müssen uns mit der Tatsache zurechtfinden, dass uns die Wirklichkeit stets als ein umfassendes StressKonstrukt umgibt. Die bekennenden Realisten haben recht, wenn sie auf der Verpflichtung zum Wirklichkeitssinn bestehen. Die wahren Liberalen fügen den Möglichkeitssinn hinzu: Sie erinnern uns daran, dass wir nicht wissen können, was alles noch möglich wird, wenn Menschen Wege finden, sich aus den kollektiv verfertigten Zwangskonstruktionen zu lösen. Ebendarum ist die aktuelle Welt so grenzenlos erstaunlich. Illiberalen Rückschlägen zum Trotz vollziehen sich in ihr, wie nie zuvor, unzählige Infiltrationen aus dem anderen Zustand, aus der Loslösung, aus der Leichtigkeit des Seins – Infiltrationen, die in die Strukturen des Bestehenden erhöhte Freiheitsgrade tragen. Wir verteidigen die Sache der Freiheit, indem wir daran arbeiten, das Wort Liberalismus, das leider zur Stunde eher für ein Leben auf der Galeere der Habsucht steht, wieder zu einem Synonym für Generosität zu machen – und das Wort Liberalität zu einer Chiffre für die Sympathie mit allem, was Menschen von Despotien jeder Art emanzipiert. Der Autor ist Professor für Philosophie und Medientheorie und Rektor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Zuletzt erschien von ihm »Die nehmende Hand und die gebende Seite« (Suhrkamp) www.zeit.de/audio

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s ist die Stunde der Revisionisten. Die Bilder der havarierten Atommeiler von Fukushima verschwinden allmählich von den Titelseiten, die Aufmerksamkeit der Medien nimmt ab. Damit ist die Gelegenheit günstig, Zweifel zu säen. Die Kernenergie sei eben doch unverzichtbar, heißt es nun wieder, und die Atomlobby führt dafür drei Gründe an: Geld, Moral und das Verhalten der anderen. Der Ausstieg koste zu viel. Atomstrom müsse dann importiert werden. Der deutsche Sonderweg sei verantwortungslos und gefährlich. Natürlich ist eine gewisse Portion Skepsis nicht schlecht. In der Außenpolitik etwa ist Deutschland jahrzehntelang gut damit gefahren, dass man vorsichtig und zurückhaltend agierte, dass nationale Alleingänge als falsch galten und man sich lieber einmal zu oft abstimmte, als andere zu verstimmen. Aber beim Ausstieg aus der Atomenergie? Beim Ausbau erneuerbarer Energien? Als die Regierung nach dem Atomunfall von Fukushima das vorläufige Aus für sieben deutsche Meiler beschloss und Zehntausende gegen die Kernenergie demonstrierten, war viel von Hysterie die Rede, von German angst. Nun macht sich die Atomlobby diese Angst zunutze – und behauptet, der Ausstieg werde uns ins Verderben stürzen.

Deutschland importiert Atomstrom? Das ist nur die halbe Wahrheit Dies ist die letzte Runde im Kampf um die Kernkraft in Deutschland, und wie ernst es mit dem Ende wirklich ist, zeigt schon, dass alles auf eine einzige Frage zuläuft: Überfordert uns die Abkehr von der Atomenergie? Die Frage suggeriert, dass ein Land ohne Kernkraft seine Zukunft verspielt; dass eine ganze Volkswirtschaft den Anschluss verliert; dass die Menschen stundenweise das Licht werden ausschalten müssen, weil Strom unfassbar teuer sein wird; und dass die Betriebe – und damit die Jobs – nach Osteuropa gehen, wo die Atommeiler groß und die Stromrechnungen klein sind. Es ist eine irritierende Frage, weil sie die Debatte seltsam verengt. Schließlich geht es nicht allein darum, was uns der Atomausstieg kosten könnte. Sondern darum, was er uns wert sein sollte. Man müsste also die Perspektive wechseln, aber das ist gar nicht so einfach, wenn die Atomfans weiter Ängste schüren. Es ist das letzte Mittel, das ihnen geblieben ist. Die vier großen Energiekonzerne handeln dabei aus geschäftlichem Kalkül: Atomstrom lässt sich günstig erzeugen und teuer verkaufen. Jeder zusätzliche Meiler am Netz maximiert ihren Gewinn. Die Hardliner in den Regierungsfraktionen wiederum handeln aus Überzeugung. Atomkraft war das letzte Alleinstellungsmerkmal der bürgerlichen Parteien. Und man legt die eigene Überzeugung nicht einfach so ab wie ein altes Jackett.

So wird getäuscht und getrickst, was das Zeug hält. Deutschland importiere jetzt Atomstrom aus den unsicheren Anlagen des Auslands, heißt es. Das stimmt zwar, war aber schon immer so. Zum vollständigen Bild gehört eben auch, dass wir gleichzeitig Strom aus den heimischen Kraftwerken und Windparks ausführen – in die Schweiz, in die Niederlande oder nach Polen. Und selbst wenn die abgeschalteten Atommeiler nicht wieder ans Netz gehen: Die maximale Leistungsfähigkeit unserer Kraftwerke wäre immer noch größer als der Bedarf. Am besten, man misst die Atomfans an ihren eigenen Zahlen und Prognosen. Als SchwarzGelb im vergangenen Herbst ein Gutachten zu den Folgen der Laufzeitverlängerung erstellen ließ, wurde nebenbei auch durchgerechnet, was beim vergleichsweise raschen Atomausstieg passieren würde. Das Resultat: geringfügig steigende Preise (weniger als ein Euro monatlich) und keine nennenswerten Auswirkungen aufs Wachstum. In der politischen Debatte blieben diese Zahlen unerwähnt, sie passten nicht zum Willen, die Meiler länger am Netz zu lassen. Da aber niemand aus Industrie und Politik damals am Gutachten zweifelte: Warum sollte man es jetzt tun? Reden wir lieber darüber, was uns der Atomausstieg wert sein sollte. Es wäre der Abschied von einer Technologie, die niemals ganz beherrschbar sein wird und deren Einsatz zu verheerenden Katastrophen führen kann. Es wäre das Ende von Kraftwerken, die nicht mal richtig versichert sind, weil kein Versicherer dieses Risiko übernehmen kann. Deswegen haftet am Ende der Staat – und das sind die Bürger. Es wäre der Beginn eines gewaltigen Umbaus des Landes. Interessant ist übrigens, dass im Augenblick kein einziger Betrieb wegen des Atomausstiegs mit Abwanderung droht. Es sind die Verbandsfunktionäre, die klagen. Die Unternehmer selbst sind viel zu klug, um nicht zu wissen, dass der ökologische Umbau der Gesellschaft – grüne Kraftwerke, Strom sparende Motoren, neue Erdkabel – große Chancen bietet. Umbau ist ein Wort, das Unternehmer lieben. Es ist die Chiffre für: Arbeit. Wettbewerb. Gewinn. Der Atomausstieg zwingt Deutschland in die Avantgarde der Zukunftstechnologie. Das kann im Extremfall auch nach hinten losgehen, dann nämlich, wenn die anderen Staaten Europas noch konsequenter auf Kernkraft setzen. Bislang aber hat deutsche Ingenieurskunst noch jedes Mal Nachahmer gefunden. Warum nicht diesmal auch? Deutschland wagt Zukunft. Das birgt Risiken, Garantien gibt es keine. Dennoch haben die Bürger ihre Entscheidung getroffen – trotz der Unwägbarkeiten des ökologischen Umbaus. German angst? Nennen wir es besser German cleverness. Siehe auch Politik Seite 6

Der gute Schläger

Ein Leben im Glück: Besuch bei Carlo Pedersoli, der im Kino Bud Spencer war Feuilleton Seite 52

ZEIT ONLINE Seit 50 Jahren blickt der Mensch aus dem All auf die Erde: Eine historische Galerie Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/weltraum-bilder

PROMINENT IGNORIERT

Schokotraum Sofihya aus Namibia hat mit ihrer Hautfarbe die Kunden einer ostdeutschen Bäckereikette gegen sich aufgebracht. So weit ist das nicht überraschend – doch die Begründung lässt aufhorchen: Rassistisch sei es, dass Sofihyas Bild für eine Schokotraum geheißene Süßspeise warb. Nur kein Neid! Lasst euch trösten: In Namibia könnte eine ostdeutsche Sahneschnitte vielleicht auch groß rauskommen. F. D. Kleine Fotos v.o.n.u.: Image Source/mauritius; Linus Bill; Bud Spencer in »Die rechte und die linke Hand des Teufels«/Impress; Rietschel/ dapd; Andersen/StudioX (l.)

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AUSGABE:

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Die größte Partei der Schweiz gibt sich heimatliebend. Mit ihrer Politik der Verweigerung und Verachtung aber gefährdet die SVP das Wohlergehen des Landes

u den Lektionen des an politischen Lehrstücken überreichen Frühjahrs 2011 gehört die Einsicht, dass Banken und Parteien viel mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, als man ihnen üblicherweise zugesteht. Wie man Bankhäuser als Kapitalsammelstellen definiert, aus deren Fundus die Unternehmen sich nötige Mittel für neue Projekte besorgen, sollte man Parteien als Kollektoren für die psychopolitischen Kapitale begreifen, in denen die Populationen moderner Nationalstaaten ihre Optionen für die künftige Gemeinwesengestaltung deponieren: als Zornsammelstellen, als Furchtsammelstellen, als Hoffnungssammelstellen. Ist dies erst zugestanden, so versteht man, wie es eben nicht nur zum Phänomen des Bankenkrachs, sondern auch des Parteienkrachs kommen kann: Letzterer tritt ein, wenn eine Partei allzu lange die Pflege des psychopolitischen Eigenkapitals vernachlässigt und ihre Geschäfte nur noch mit Illusionspapieren betrieben hat.

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Illustration: Roost & Hausheer für DIE ZEIT

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14 7. April 2011

SCHWEIZ

DIE ZEIT No 15

T I T E LG E S C H I C H T E

Wir haben deshalb Fachleute gebeten, sich das Parteiprogramm der SVP anzuschauen und zu analysieren, was die Folgen dieser Politik der Verantwortungslosigkeit sind. So schreibt etwa die Landwirtschaftsexpertin Claudia Wirz über die Doppelzüngigkeit der SVP-Bauernpolitik (Seite 16). Wir wollen versuchen, Wege aus einer Situation zu zeigen, die manchen bereits ausweglos erscheint. Zudem analysiert BDP-Nationalrätin Brigitta M. Gadient, die 2008 aus der SVP ausgeschlossen wurde, weil sie der Parteilinie nicht mehr folgen mochte, die Entwicklung der Nationalkonservativen, die ihr einst eine Heimat waren (Seite 15). Wir freuen uns über Zu- und Widerspruch unter [email protected]!

Ist das lustig? Die Schweiz im Banne des SVP-Kasperle-Theaters

Illustration: Roost & Hausheer für DIE ZEIT; Fotos: privat (l.), Martin Ruetschi/Keystone (r.)

Es mag ungewöhnlich sein, wenn eine Zeitung vor einer einzelnen Partei warnt. Aber die Schweizerische Volkspartei ist nicht irgendeine Partei. Sie hat es seit 1992, seit der Abwendung der Schweiz von Europa, mit einer millionenteuren Strategie der Diffamierung von Minderheiten geschafft, auf fast 30 Prozent der Wählerstimmen zu kommen – ohne je wirklich Verantwortung übernommen zu haben für die politischen Konsequenzen ihres Tuns. Dieser Erfolg hat die meisten anderen Parteien und viele Medien derart beeindruckt, dass sie Methoden und Gedankengut der Partei kopiert – und sich so in Geiselhaft der SVP begeben haben. Der Mainstream, gegen den die Partei angeblich ankämpfen will, gehorcht ihr heute. SVP-Themen und Figuren sind salonfähig geworden. Dank einer geölten Propagandamaschinerie sowie der Mut- und Ideenlosigkeit der politischen Gegner. Interessant ist auch, wie der Wähler die SVP zwar in den Parlamenten stärkt, sie in den Exekutiven aber häufig außen vor lässt. Dies paralysiert die Politik. Was von oben kommt, wird unten niedergemacht. Über dringende Themen wie die Europafrage, den Umbau des Sozialstaates oder Reformen in der Landwirtschaft lässt sich heute nicht mehr vertieft diskutieren. Das schadet der Schweiz, wirtschaftlich wie sozial.

In der Schuld

Dankbares Opfer

Die SVP verweigert sich einer echten Europapolitik. Andere sollen sich mit Brüssel rumschlagen. Damit muss nun Schluss sein VON NICOLA FORSTER

Eigentlich interessiert sich die SVP gar nicht für die Schule. Genau deshalb kann sie in Bildungsfragen punkten VON HANS ZBINDEN

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ie Volksschule war die institu- Einbettung und weitsichtige Ziele für eine tionalisierte Verkörperung des Schule der Zukunft fehlen. »Husch-husch helvetischen Gemeinsinns. Was gleich Pfusch«, würde ein Primarlehrer am dort gelernt oder vermittelt wur- Rand notieren, lieferte ihm sein Schüler eine de, war allgemein akzeptiert. solch schludrige Arbeit ab. Doch das SVP-Bildungsprogramm, getraWerte, Inhalte oder Lernziele: Darüber wurde kaum gestritten, es herrschte gutschweizerische gen von einem repressiven Zeitgeist und dem Einigkeit. In den letzten Jahren allerdings geriet weitverbreiteten Reformverdruss, kann leider die Volksschule unter Druck. Die große Inte- nicht unbeachtet bleiben. Obschon sein mangrationsmaschine, wo der Bankierssohn neben gelnder Realitätsbezug und die Wissenschaftsder Mittelständler-Tochter und dem Einwan- feindlichkeit einen dazu verleiten würden. Zu derermädchen vom Balkan das Einmaleins verlockend ist der Slogan »Mehr Drill, weniger lernt, wurde zu einer politischen Kampfzone. Kuschelpädagogik« in einer Zeit, da immer Und jeder kann mitreden, schließlich haben wir mehr Menschen das Bildungswesen nur noch als Lift für ihren persönlichen Aufstieg verstealle einst die Schulbank gedrückt. Gleichzeitig werden in der hoch mobilen hen. Schulen sind heute wichtige Faktoren in Wettbewerbs- und Wissensgesellschaft den einem verschärften globalen Wettbewerb um Schulen und Lehrern immer mehr Aufgaben die Gunst hoch mobiler Firmen, Finanzinvestoaufgebürdet. Vermitteln, Lehren, Anleiten al- ren und Steuerzahlenden. Doch auch ohne SVP-Programm sieht sich lein genügen längst nicht mehr. Heute sind Lehrpersonen auch Kindererzieherinnen und unsere Volksschule heute mit den vielfältigsten werden von der Elternschaft persönlich für den und widersprüchlichsten Partikularinteressen Misserfolg ihrer Sprösslinge verantwortlich ge- einer pluralistischen Gesellschaft konfrontiert. macht. Die Folge ist eine große Verunsiche- Sie verliert dabei nach und nach ihr Wesen rung. Unter den Lehrern, den Behörden und als universelles, sinnstiftendes Gemeinschaftswerk. Ihre Bedeutung als kultureller Klebstoff den Eltern. Das realisierte am schnellsten, wie so oft, die schwindet. Daran droht die Schweizer GeSVP. Sie entdeckte die Bildungspolitik für sich. sellschaft zu zerfallen. Der SVP kommt das Dabei ist die Partei nach dem gleichen Schema gelegen, schließlich rekrutiert sie ihre Sympathisanten genau unter diesen wie immer vorgegangen. Sie Modernisierungsverlierern. mimte Verständnis bei den VerAlso, was tun? ärgerten und Überforderten Dass die SVP in der Bilund ködert sie mit holzschnittdungspolitik überhaupt Fuß artig vereinfachten – also unfassen konnte, daran tragen wir, tauglichen – Lösungen. Davon die anderen Parteien und Bilerhofft sie sich Wählerstimmen. dungsexperten, Mitschuld. Der Und sie bekommt sie auch. beschleunigte gesellschaftliche Denn eigentlich interessiert Wandel und die Reformhektik sich die SVP nicht für Bildungs- Der Pädagoge Hans führten zu großem Unmut, der und Schulpolitik. So muss man Zbinden gilt als Vater in vielen Führungsgremien unihre jahrzehntelange Abwesen- der Bildungsverfassung terschätzt wurde. Wir müssen heit in diesem Politikfeld deuuns an der eigenen Nase nehten. Zukunftsfragen, erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse, neue Lernmo- men. Ohne aber in eine Schockstarre zu verfaldelle oder erprobte Bildungspraktiken: Das alles len und sämtliche Reformen auszusetzen. Denn lockte keinen SVP-Politiker hinter dem Ofen das Schweizer Bildungswesen ist reformfähig – hervor. Entsprechend dünn ist ihre Personal- und war dies schon immer. Wir öffneten uns zwischen 1895 und 1933 decke in Bildungsfragen. Sowohl seitens der Praktiker, in der Lehrerschaft, als auch in der den Ideen der Reformpädagogischen BewePolitik. Es geht um Stimmungsmache, nicht gung, die die Erziehung vom Kinde her dachte. um Inhalte. Weshalb die SVP-Parteioberen ein In den Jugendunruhen der sechziger und siebpaar Bildungspraktikern den Auftrag gaben, in ziger Jahre entwickelten sich diese Ideen weiter aller Eile die Schule von morgen auf dem Reiß- und hielten auch Einzug in Schweizer Schulstuben. Was die einen als »Kuschelpädagogik« brett zu entwerfen. Das ist wohl auch mit ein Grund, weshalb schimpfen, war in Tat und Wahrheit die Abder als Alternative zum Lehrplan 21 der Erzie- schaffung der militärischen Gepflogenheiten in hungsdirektoren-Konferenz gedachte SVP- den Klassenzimmern. Später stellte man die Lehrplan so schmalspurig, weltfremd und alt- Pädagogik auf ein wissenschaftliches Funbacken daherkommt. Zugespitzt formuliert, dament. Und seit den 1980er Jahren begann fordert er von der Schule von morgen: Mehr die Schweizer Bildungspolitik ihre Fühler nach Leistung, mehr Wettbewerb, mehr Autorität, Europa auszustrecken. Die Pisa-Studien und mehr Lehrtalent, mehr Drill und mehr Praxis. die Bologna-Deklaration sind die bekanntesten Dafür weniger Wissenschaft, Professionalität, Resultate dieser Öffnung. Ohne diese Studien hätten wir nie bemerkt, Expertise, Teamarbeit sowie Abwechslungen dass unsere Kinder wieder besser rechnen lerbeim Lehren und Lernen. Es erstaunt denn auch nicht, dass diesem nen müssen. Aber auch an dieser Erkenntnis Schnellschuss eine gesellschaftlich-kulturelle hat die SVP nicht den geringsten Verdienst.

Zur geforderten Neuverhandlung der Personenir leben in martialischen Zeiten. Diesen Eindruck erhielt, wer freizügigkeit ist zweierlei zu sagen: Erstens würden Christoph Blocher an der letzten durch eine einseitige Kündigung des Abkommens SVP-Delegiertenversammlung in die Bilateralen I automatisch guillotiniert. Was Lugano zuhörte. Die Schlacht schon gewissen französischen Adligen denkbar der alten Eidgenossen gegen die Habsburger am schlecht bekam, hätte für die Schweiz als wirtMorgarten schien dem Vizepräsidenten eine ge- schaftlich stark in der EU integriertes Land draeignete Metapher für die Europapolitik unseres matische Folgen. Wettbewerbsfähigkeit, WirtLandes. Sein Appell für eine souveräne, unabhän- schaftswachstum und Beschäftigungslage würden gige Schweiz endete mit einem feurigen »Also arg in Mitleidenschaft gezogen. Zweitens wäre hütet euch und kämpft für die Schweiz!«. Bevor eine Neuverhandlung unrealistisch, da die EU nur wir jedoch den Morgenstern zücken, wäre eine auf Basis des Gemeinschaftsrechts verhandelt. politische Lageanalyse empfehlenswert. Denn die Doch die SVP fordert die Ungleichbehandlung SVP sieht sich zwar als Vorkämpferin in europapoli- von EU- und Schweizer Bürgern im Zugang zum tischen Fragen, doch Verantwortung hat sie bisher Arbeitsmarkt. Das verletzt einen zentralen Grundnoch nicht tragen müssen. Angenommen, das satz des Gemeinschaftsrechtes und könnte von interne SVP-Konzept »Strategie 51 Prozent« der EU daher unmöglich akzeptiert werden. Aukönnte verwirklicht werden und die SVP würde ßerdem müssten alle 27 Mitgliedsstaaten dem revon der Mehrheit des Schweizer Stimmvolkes ge- vidierten Abkommen zustimmen, was bei einem wählt – was würde dies für die Europapolitik der für die EU ungünstigeren Verhandlungsergebnis schlicht Wunschdenken ist. Schweiz bedeuten? Die SVP weiß genau, dass ihre europapolitiErstaunlich wenig, und zwar sowohl aus innenals auch außenpolitischen Gründen. Die Suche schen Forderungen nicht realisiert werden. Sie nach klaren Positionen im SVP-Programm ist kann es sich deshalb leisten, Fundamentalopposischwieriger als gedacht, denn konkrete Forderun- tion zu betreiben, und riskiert dabei nie, an den gen sind im Dickicht der harten Anti-EU-Rheto- Resultaten ihrer Politik gemessen zu werden. Die rik selten. Europapolitik dreht sich bei der SVP Partei schlägt politisches Kapital daraus, dass nicht hauptsächlich um die prinzipielle Ablehnung eines sie, sondern die anderen Parteien mit der EU zu unbequemen Lösungen finden müssen. EU-Beitritts. Darin liegt ihre größte Kraft: Nicht einmal Nationalrat und Aus innenpolitischen Gründen Hobbyschriftsteller Oskar Freysinwagen sich die Mitteparteien heuger scheint einen EU-Beitritt für te nicht mehr an die konstruktive realistisch zu halten, wie er in eiLösungssuche in außenpolitischen nem kürzlich erschienenen PamFragen. Die aufgebaute Drohphlet schreibt: »Von der EU träumt kulisse erlangt so – insbesondere außer Calmy und ihrer marxistiin der Vorwahlphase – normatischen Front niemand mehr.« ve Kraft: Die SVP erreicht ihr Die totale Verweigerung kann jedoch in Zeiten großmehrheitli- Nicola Forster präsidiert Ziel eines EU-Denkverbots, ohne selbst dafür Verantwortung tragen cher EU-Skepsis als europapoliti- den außenpolitischen zu müssen. sche Position nicht genügen. Die Thinktank »foraus« Wie könnte die SVP also dazu größte Schweizer Partei verabschiegebracht werden, Verantwortung det sich so selbst aus der Diskussion um die künftige Europapolitik. Sie stellt für ihre Europapolitik zu übernehmen? Da es undie Gretchenfrage zum EU-Beitritt über eine realistisch ist, dass Ulrich Schlüers Plan »Strategie sachpolitische Auseinandersetzung um konkrete 51 Prozent« in absehbarer Zeit aufgeht, bleiben faktisch zwei Möglichkeiten: entweder die BesetHandlungsoptionen. Aktive Forderungen erhebt die SVP momentan zung außenpolitisch bedeutsamer Stellen durch auf zwei Baustellen der Europapolitik: Schengen/ profilierte Persönlichkeiten der SVP – wieso nicht Dublin und das Abkommen zur Personenfreizü- Bundesrat Ueli Maurer ins Außendepartement gigkeit. Das Postulat, Schengen/Dublin zu kündi- transferieren? Oder eine mutige Politik der andegen, hat im Zuge der Umwälzungen im arabischen ren Parteien, die der Bevölkerung europapolitische Raum an Brisanz gewonnen. Die Haltung der Möglichkeiten auch jenseits der Beitrittsdiskussion Partei, das Dublin-Abkommen sei einerseits streng aufzeigt. Mit allen Vor- und Nachteilen der verdurchzusetzen und andererseits zu kündigen, ist schiedenen Optionen. So wäre die SVP gezwungen, aus der ideohingegen widersprüchlich. In Bezug auf Schengen mag eine eigenständige, logischen Deckung zu kommen und als Antwort verstärkte Grenzkontrolle in Zeiten der Angst vor ein eigenes Szenario für eine realistische EuropaFlüchtlingswellen verlockend scheinen. Die Kon- politik zu entwerfen. Sobald die SVP Verantworsequenzen einer Kündigung von Schengen/Dublin tung für ihre Politik tragen muss, entzaubert sie wären dem SVP-Parteiprogramm jedoch eher ge- sich selbst und verliert einen großen Teil ihres genläufig: Die Anzahl irregulärer Migranten würde Drohpotenzials. Es würde der Schweiz guttun, wenn wir in erheblich zunehmen, da Flüchtlinge, deren Gesuch in der EU abgelehnt wurde, in der Schweiz noch der Europapolitik die Kampfzone Morgarten ein zweites stellen könnten – die Schlagzeile »SVP hinter uns lassen könnten. Der Morgenstern fördert Asyl-Shopping« käme der Partei wohl we- eignet sich denkbar schlecht zur konstruktiven Lösungssuche. nig gelegen.

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T I T E LG E S C H I C H T E : Wie uns die SVP schadet

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

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Zum Fliegen reicht ein Flügel nicht BDP-Fraktionspräsidentin BRIGITTA M. GADIENT glaubt nicht, dass die kompromisslose Politik der SVP auf Dauer Erfolg haben wird

Illustration: Roost & Hausheer für DIE ZEIT; Foto: Gaetan Bally/Keystone

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as die Schweiz heute ist und den Partei eines Rudolf Minger oder Friedrich wofür sie mancherorts auf Traugott Wahlen hin zu einer Partei statt, die formell dieser Welt beneidet wird, ver- zwar noch in die Regierungsverantwortung eingedankt sie der konstruktiven bunden ist, inhaltlich aber aggressive Opposition Zusammenarbeit aller maßgeb- betreibt. Von 1991 an hatte sich die Situation zulichen Kräfte. Die direkte Demokratie in Ge- nächst parteiintern verschärft. 1992, nach der Abmeinden, Kantonen und Bund spiegelt ein Ver- stimmung über den Beitritt zum Europäischen antwortungsgefühl jedes einzelnen Bürgers und Wirtschaftsraum EWR, wurde den als Befürwortern jeder einzelnen Bürgerin gegenüber der staat- unterlegenen SVP-Vertretern aus Graubünden lichen Gemeinschaft, wie es weltweit einzigartig geraten, die Fraktion zu wechseln. Der Bündner ist. Es hat dem Land ein friedliches Zusammen- SVP-Nationalrat Simeon Bühler konstatierte schon leben von Kulturen, Sprachgruppen und sozialen damals eine »Verhärtung des Blocher-Flügels zu Schichten ermöglicht, auf das wir ohne Wenn einem kompromisslosen Block«. Christoph Blocher, und Aber stolz sein dürfen. Genauso wie auf den damals Nationalrat und Anführer des »Zürcher pragmatischen Erfindergeist, mit dem sich unser Flügels«, konterte mit Verachtung: Die EWR-Befürrohstoffarmes Land seinen hohen Wohlstand er- worter könnten nur ihre Niederlage nicht verkrafarbeitet hat. ten. Dahinter stecke die kleinliche Angst um die Aber die Schweiz ist nicht »gemacht«. Sie muss eigene Karriere. sich stets weiterentwickeln, um ein Erfolgsmodell Trotzdem empfahl sich die SVP im Wahlkampf zu bleiben. Ideologische Rechtdes Jahres 1995 noch mit einem haberei und Verweigerung der ZuMarienkäfer als Volkspartei, in der sammenarbeit durch eine starke alle bürgerlichen Positionen Platz politische Kraft gefährden diese haben sollten. Der eine Flügel des Weiterentwicklung. Gewiss, das Glücksbringers stand ausdrücklich politische System enthält mannigfür die liberaleren Kräfte, der andefache Sicherungen gegen überre für die konservativen. Inzwischen mäßige Machtansprüche Einzelner. sieht die SVP das Glück – weder ihr Wir haben ein Mehrparteiensystem eigenes noch jenes des Landes – und ein über drei staatliche Ebenen Nationalrätin Brigitta M. nicht mehr in Meinungsvielfalt und verwobenes Verhältnis- und Mehr- Gadient wurde 2008 aus Kompromiss. Die Kantonalpartei Graubünden, ein Gründungsmitheitswahlrecht mit direktdemokra- der SVP ausgeschlossen tischen Kontrollen. Wir haben eine glied der SVP Schweiz, wurde ausstabile, vielfältige Zivilgesellschaft geschlossen. Ein Flügel des Glücksund eine unabhängige Justiz. Die Grundrechte sind bringers ist amputiert. Und der andere taugt allein garantiert. Wie sollte da eine politische Partei dem nur noch, um Wind zu machen. Mit dem zunehmenden Einfluss des »Zürcher Land schaden? Und doch: Die Entwicklung der letzten Jahre Flügels« wuchsen die Spannungen. Die SVP bietet Anlass zu ernster Sorge. Die SVP spaltet mit pflegte einen Politikstil, der keine Rücksichten ihrer Strategie des Alles oder Nichts ohne Not das kannte; gipfelnd im Ausspruch des Parteichefbürgerliche Lager. Dass immer mehr Schweizer strategen Christoph Blocher, dass es weniger AnStädte von rot-grünen Mehrheiten regiert werden, stand in der Politik brauche. Wer sich durch solist zu einem guten Teil eine Reaktion auf den kom- che Äußerungen nicht abschrecken ließ, sah sich promisslosen Kurs der SVP im Land. Wer nicht allerdings inhaltlich mit hinreichend provoziebereit ist, wirtschaftsfreundliche Lösungen sozial renden Thesen konfrontiert. 2002 wurde nach abzufedern, der findet dafür keine Mehrheiten und der UNO-Abstimmung der Partei-Austritt der schadet letztlich der Wirtschaft, anstatt ihr zu helfen. »Ja-Sager« gefordert. Danach folgten die VerDas Gleiche gilt bei der Wahrung unserer Interessen schärfungen Schlag auf Schlag: Populistische Aufmachung der Argumente, Verteufelung der und unseres Ansehens im Ausland. Dies war nicht immer so. Erst in den letzten zwei politischen Gegner, grundsätzliche AbwehrhalJahrzehnten fand der Wandel von der mitgestalten- tung gegen jegliche internationale Zusammen-

Selbstgenügsamkeit

arbeit mit anderen Ländern sowie die Verweigerung einer konstruktiven Zusammenarbeit mit den anderen Regierungsparteien. In der Parteileitung vorgefasste Stellungnahmen wurden in der Form absoluter Wahrheiten verkündet. Abweichende Meinungen waren verpönt. Auf Versammlungen wurden Andersdenkende zuerst belächelt, später auch ausgepfiffen und massiv verbal attackiert, ohne dass die Parteileitung interveniert hätte. Dabei ging es keineswegs um Extrempositionen – sondern um bürgerliche Anliegen, wie sie vom Bundesrat oder von anderen bürgerlichen Parteien auch vertreten wurden. Etwa um das Einbringen der Interessen der Rand- und Bergregionen, der Minderheiten, der sozial Schwächeren oder schlicht um die Positionierung im Sinne des eigenen Kantons. Die Vertreter der SVPGraubünden, also der in den strukturschwächeren, kleinbäuerlichen, protestantischen Talschaften entstandenen Bündner Demokraten, standen besonders oft im Fadenkreuz der Schweizerischen SVP.

Dass die SVP mit ihrer Haltung bei vielen bedeutsamen Geschäften im Parlament durchfällt, scheint sie wenig zu stören. Aber auch in der schweizerischen Politik lebt der Staat von mehrheitsfähigen Lösungen. Solche sind nicht über sture Opposition und blinde Verweigerung zu finden. Die SVP behauptet, als einzige Partei die Ängste in der Bevölkerung ernst zu nehmen, und verteidigt damit ihre Kompromissverweigerung. Mit Extrempositionen lassen sich gezielt Ängste schüren und Wählerstimmen mobilisieren, sie haben aber mit echter Sorge ums Land wenig zu tun. Es ist reine Empörungsbewirtschaftung im Dienst des Politmarketings. Grenzen setzt sich die Partei kaum noch. Der ehemalige Bundesrat Samuel Schmid, der sich in der Regierung nicht an die Einheitsdoktrin hielt, wurde als »halber Bundesrat«, ja als »Blinddarm« der Partei verunglimpft. Die Missachtung demokratischer Grundrechte fand ihren Höhepunkt 2008 nach der Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf in den Bundes-

rat. Die Kantonalpartei Graubündens wurde ausgeschlossen, weil sie ihrerseits nicht bereit war, ihre demokratisch gewählte Bundesrätin auszuschließen. Die Folge ist bekannt: Die BDP wurde als neue Partei gegründet, und zahlreiche liberalere, offener und differenzierter denkende Parteimitglieder traten aus der SVP aus. Mit ihrer Art zu politisieren, riskiert die SVP traditionelle und menschliche Grundwerte, die zur Basis und zum Selbstverständnis unseres Landes gehören ebenso wie das Ansehen der Schweiz im Ausland. Nichtsdestotrotz werden sich auf Dauer die bewährten Prinzipien der Willensnation Schweiz wie Ausgleich, Berechenbarkeit, Stabilität, Chancengerechtigkeit und Solidarität durchsetzen. Das demokratische System der Schweiz und die Mündigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger sind zu stark, als dass die erwähnten Strömungen dauerhaft anhalten können. Der Marienkäfer kann mit einem Flügel zwar Wind machen, aber lange fliegen kann er nicht! CH

Können die rechnen? Die Wirtschaftspolitik der SVP gefährdet unseren Wohlstand. Das zeigt etwa ihre »Familieninitiative« VON GEBHARD KIRCHGÄSSNER

D

ie SVP hat eine sogenannte »Familieninitiative« lanciert, die nichts anderes beabsichtigt, als ihr traditionelles, noch aus dem 19. Jahrhundert stammendes Familienbild zu zementieren. Danach hat die Frau, solange kleine Kinder im Haushalt sind, zu Hause zu bleiben und die Kinder großzuziehen, während der Mann als Alleinverdiener für das Familieneinkommen zuständig ist und deshalb seinem Beruf nachgehen soll. Dieses Familienbild diskriminiert die Frauen, da es ihre beruflichen Karrierechancen gegenüber den Männern massiv reduziert. Gut ausgebildete Frauen lassen sich aber in zunehmendem Maße nicht mehr in dieses Schema pressen und sind immer weniger bereit, Kinder zu gebären – was inzwischen dazu geführt hat, dass 40 Prozent aller gut ausgebildeten Frauen in der Schweiz kinderlos sind. Nun kann man den Müttern die Schwangerschaft und alles, was damit zusammenhängt, trivialerweise nicht abnehmen. Man kann aber Bedingungen schaffen, die es ihnen ermöglichen, die Berufstätigkeit nur kurz zu unterbrechen und damit ihre Karrierechancen intakt zu halten. Dies ist ein Gebot der Gleichstellung von Mann und Frau, wie es unsere Verfassung fordert. Und es ist schlicht und ergreifend eine Frage der Gerechtigkeit. Dazu gehört zum einen eine ausgebaute Kinderbetreuung zu erschwinglichen Kosten. Genau das aber will die SVP nicht – und polemisiert gegen angebliche »Staatskinder«. Zweitens gehört dazu, dass Kinderbetreuungskosten in realistischer Höhe steuerlich absetzbar sind. Es geht hier nicht um eine Subventionierung von Familien, sondern um den Abbau einer Doppelbesteuerung. Das Einkommen, welches etwa eine berufstätige Mutter erzielt, wird zum ersten Mal bei ihr selbst besteuert. Muss sie, um berufstätig sein zu können, externe Betreuung in Anspruch nehmen, kann sie die Kosten dafür nicht oder nur in geringem Ausmaß als Gestehungskosten steuerlich geltend machen – obwohl der Staat dieses Einkommen bei den Erzieherinnen oder Kindermädchen, deren Einkommen daraus bezahlt wird, ein zweites Mal besteuert. Während es bei

Kapitaleinkommen offensichtlich einen breiten bürgerlichen Konsens gibt, dass Doppelbesteuerungen vermieden werden sollten, stellen bestimmte bürgerliche Kräfte beim Arbeitseinkommen auf stur. Wir sind heute in der Schweiz in einer Situation, die meine Kollegin Monika Bütler wie folgt beschrieben hat: »Arbeiten lohnt sich nicht – ein zweites Kind noch weniger.« Unter realistischen Bedingungen werden viele Mütter heute, wenn sie ihre Berufstätigkeit ausdehnen würden, nicht nur nicht belohnt, sondern bestraft. Denn real sinkt ihr Familieneinkommen. Unter diesen Umständen ist es wenig verwunderlich, dass zum einen die Geburtenrate der Schweizerinnen im internationalen Vergleich extrem niedrig ist und dass zweitens viele Mütter mit Kindern nicht oder nur mit sehr geringen Pensen berufstätig sind. Dies ist jedoch nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch eine Frage der Ökonomie. Die niedrige Geburtenrate verschärft den Alterungsprozess unserer Gesellschaft. Wenn wir weder die Beiträge für die Altersvorsorge deutlich erhöhen noch die Renten insbesondere der AHV massiv kürzen wollen, sind wir darauf angewiesen, dass die Frauen verstärkt erwerbstätig sind – und zwar nicht nur in geringem Umfang. Dies gilt auch dann, wenn wir, was sowieso unumgänglich sein wird, das reguläre Pensionsalter erhöhen. Hinzu kommt, dass es auch eine Verschwendung unserer Steuergelder bedeutet, wenn wir an den Universitäten in zunehmendem Maße Frauen gut ausbilden, ihnen dann aber im Moment des Mutterwerdens verwehren, ihre erworbenen Qualifikationen ins Berufsleben einzubringen. Somit gebietet der ökonomische Sachverstand, vom traditionellen Familienbild Abstand zu nehmen und den Frauen auch dann, wenn sie Kinder haben wollen, gleiche Chancen im Berufsleben einzuräumen. Die skandinavischen Länder zeigen, dass dies möglich ist. Der Autor ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen

16 7. April 2011

DIE ZEIT No 15

SCHWEIZ

T I T E LG E S C H I C H T E : Wie uns die SVP schadet

Illustration: Roost & Hausheer für DIE ZEIT; Foto, u.: privat

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Hauptsache, es stinkt: SVP-Jauchewagen im Schweizer Parlament

Der Bauer ist König Sie predigt den freien Markt. Aber die Landwirtschaftspolitik der SVP ist das genaue Gegenteil: Reiner Sozialismus VON CLAUDIA WIRZ

CH

s ist zwar eine Weile her, aber es bleibt unvergesslich. Da richtete Christoph Blocher in einer Rede auf dem Albisgüetli das Wort an die »Sozialisten in allen Parteien« und hielt ein flammendes Plädoyer für die Freiheit und die liberale Marktordnung. »Freiheit statt Sozialismus – Marktwirtschaft statt Planwirtschaft«, lautete seine Botschaft, die er der Nation diktierte. Während die SVP also anderen Parteien Lehrstunden in Liberalismus erteilt, nimmt man es mit den eigenen Getreuen nicht so genau. Würde Blocher es wirklich ernst meinen mit seinem Kampf für die liberale Sache, hätte er in den eigenen Reihen genug zu tun für die nächsten Jahrzehnte. Denn geht es um die Landwirtschaft, ist die SVP geradezu eine Musterschülerin des Antiliberalismus. Keine andere Partei fordert und fördert die Planwirtschaft in dieser Branche derart hartnäckig wie die ehemalige Bürger- und Bauernpartei. Als Juniorpartnerinnen hat sie allenfalls die CVP und die BDP im Schlepptau; schließlich gilt es, die bäuerliche Wählerschaft gnädig zu stimmen, zumal in einem Wahljahr. Unentwegt stemmt sich die SVP gegen alle Reformen, welche die Welt der Bauern liberalisieren sollen. Blickt man auf die Zusammensetzung der gegenwärtigen SVP-Fraktion im Bundeshaus, so ist das nicht erstaunlich. Von den 68 Mitgliedern der Fraktion bezeichnen sich von Andreas Aebi (Bern) bis Hansjörg Walter (Thurgau) immerhin 14 als Landwirte oder Agronomen. Die SVP stellt mit Walter den Präsidenten des Schweizerischen Bauernverbands (SBV), und auch der Vizedirektor des Bauernverbands besitzt das Parteibuch der Volkspartei. Doch damit nicht genug. In der SVP-Fraktion sitzt auch eine ganze Reihe »mentaler« Bauern, die sich offiziell nicht selbst Landwirte nennen, aber politisieren, als seien sie welche. Zum Beispiel der Jurist und Fürsprecher Rudolf Joder (Bern), groß geworden auf einem Landwirtschaftsbetrieb. An vorderster Front kämpft er gegen den Freihandel im Agrarbereich mit der EU. Im vergangenen Dezember hat er im Nationalrat damit einen Erfolg verbucht. Eine Mehrheit folgte seiner parlamentarischen Initiative, die praktisch auf einen Abbruch der Verhandlungen mit der EU hinzielt. Kein Freihandel indes hieße: kein Wettbewerb, oder nur sehr beschränkter, Reformstau, eine eingeschränkte Produktepalette und überhöhte Preise zulasten der Schweizer Konsumenten. Kurz: Planwirtschaft. Mehr noch, Joder denkt sogar daran, dem Bundesrat die Landwirtschaftspolitik zu entziehen und dem Parlament zu übertragen, wo die Bauern im Vergleich zur Bevölkerung stark übervertreten sind. Die SVP wäre nicht die SVP, wenn sie nur gegen laufende und neue Reformen wäre; sie will auch längst beschlossene wieder rückgängig machen. So will Andreas Aebi mit einer Motion die Milchkon-

tingente wieder einführen – und verbucht dabei erstaunliche Erfolge. Die Milchkontingentierung ist nichts anderes als eine von einer zentralen Stelle gesteuerte Produktion und damit ein Musterbeispiel für Planwirtschaft. Sie schaltet unter den Produzenten jeden Wettbewerb aus und erlaubt es – kombiniert mit der Marktabschottung –, den Milchpreis künstlich hochzuhalten. In einer Stunde der agrarpolitischen Vernunft hat das Schweizer Parlament dieses Relikt aus den siebziger Jahren abgeschafft. Und nun will ausgerechnet jene Partei, die sich selbst als einzige Heimat der »Liberal-Konservativen« sieht, die alte Staatswirtschaft in neuem Gewande aufleben lassen. Bei Aebis Vorstoß handelt es sich bereits um den zweiten Versuch, die Milchkontingente wieder einzuführen. Der erste, angetrieben von SVP-Nationalrat Josef Kunz (Luzern), scheiterte knapp. Im SVP-Jargon würde man das »Zwängerei« nennen. Auch lieb gewonnene Subventionen will man in der SVP nicht der liberalen Sache opfern. So unterstützt die Volkspartei (zusammen mit der CVP) das Vorhaben, den Viehexport wieder zu fördern. Das Vorhaben geht zurück auf einen Vorstoß von SVP-Nationalrat Elmar Bigger (St. Gallen). Diese Exportbeiträge erlauben es den Bauern und Händlern, für ihr Schweizer Vieh dank Geldern aus dem Steuertopf einen höheren Preis zu erzielen, als die Exportmärkte hergeben. Das Parlament hatte im Jahr 2007 diese Subventionen abgeschafft. Weil sie marktverzerrend und ineffizient sind und Märkte in anderen, vor allem ärmeren, Ländern schädigen können. Deshalb ist die Aufhebung solcher Instrumente im Rahmen der Doha-Runde der WTO beschlossene Sache. Das lässt die SVP jedoch unbeeindruckt. Und zu alledem sollen für die Finanzierung dieser Beiträge auch noch die Direktzahlungen herhalten. Die Direktzahlungen notabene, die gemäß Verfassung den Bauern für die Abgeltung von gemeinwirtschaftlichen Leistungen ausbezahlt werden. Was an Exportsubventionen gemeinwirtschaftlich sein soll, ist schleierhaft. Am Widerspruch zwischen Parteiideologie und -politik scheint sich in der SVP keiner wirklich zu reiben. Oder etwa doch? Schon im Jahr 1999 beklagte sich Nationalrat Toni Bortoluzzi (Zürich), seines Zeichens Schreinereiinhaber, in der NZZ über die Bauern, die immer mehr zu Sozialisten würden – aber wer sonst als die SVP ist die Bauernpartei im Land? Und vor Kurzem hat auch Christoph Mörgeli (Zürich) die agrarpolitischen Widersprüche seiner Partei thematisiert. Doch mehr als Rhetorik ist das nicht. Bortoluzzi wie Mörgeli haben die einschlägigen Vorstöße ihrer bäuerlichen Fraktionskollegen brav mitunterzeichnet. Die SVP, so muss man konstatieren, will zumindest in der Landwirtschaft den Sozialismus noch lange nicht überwinden. Die Autorin ist Journalistin und schreibt seit vielen Jahren über die Schweizer Landwirtschaft

Unsoziales Idyll Der Sozialstaat ist für die SVP bloß ein notwendiges Übel. Sie verhindert mit ihren Missbrauchskampagnen längst überfällige Reformen VON WALTER SCHMID

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ft tragen wir längst überkommene gefälle gibt und die Frage nach sozialer GerechVorstellungen mit uns herum. Seien tigkeit wenig Raum hat. Damit nimmt sie eine es Bilder der Familie, der Armut oder Eigenheit der Schweizer auf, die Diskretion der Arbeitswelt. Dabei besteht die schätzen, wenn es um Geld geht. Soziale UnTendenz zur Idealisierung des Vergangenen. Ge- gleichheiten waren und sind in diesem Land selnau hier setzt die Sozialpolitik der SVP an. Poli- ten ein Thema. Wegleitend für die Sozialpolitik der SVP ist tisch bewirtschaftet sie eine rückwärtsgewandte, nostalgische Vision der Schweiz. Dazu gehört das die Weigerung, den Sozialstaat auszubauen oder Bild der traditionellen Familie. Die bildet zwar umzubauen. Wo immer möglich, werden Steunach wie vor einen Pfeiler der Gesellschaft, aber ern gesenkt, Leistungen abgebaut und Beitragserhöhungen an Sozialversicherungen bekämpft. ist längst nicht mehr die alleinige Lebensform. Wo die Familie funktioniert, braucht es nach Dies erschwert es der Schweiz, ihre sozialpolitiAuffassung der SVP den Sozialstaat nicht. Ent- schen Instrumente den veränderten gesellschaftsprechend wehrt sie sich gegen Kindertagesstät- lichen Bedingungen anzupassen. Im Verbund ten, Betreuungsangebote für Familien und Früh- mit der Linken hat die SVP schon manche Vorerziehung. Sie betrachtet die wachsende Zahl von lage aus ideologischen Gründen versenkt, was zu Scheidung, Alleinerziehenden und Patchwork- einem Reformstau führt. Letztmals traf es eine familien als gesellschaftliche Fehlentwicklungen, Gesetzesnovelle zur Altersvorsorge. Der Spagat zwischen Volksnähe und Kapitalfür deren Folgen der Staat keine Mitverantworfreundlichkeit gelingt der wählerstärksten Partei, tung trägt. Gegen Ganztagesschulen – in den meisten indem sie soziale Probleme individualisiert und mit einer guten Portion Moralin Ländern eine Selbstverständlichversieht. Die längst überkommen keit – wehrt sich die SVP, weil geglaubte Unterscheidung zwisich »ihre« Familie immer noch schen »würdigen« und »unwüram Mittagstisch trifft, den die digen« Armen lebt in ihrem DisMutter für den Ernährer und die kurs wieder auf. Hilfe für die Kinderschar gedeckt hat. In der Rechtschaffenen ja, Härte daSVP-Arbeitswelt ist die Zeit stegegen für alle, die als Schmarothen geblieben, die Realität sieht zer betrachtet werden. So stellt längst anders aus. Die SVP vermittelt auch in Walter Schmid präsidiert sich die Partei etwa hinter die Altersvorsorge, wittert aber bei der Arbeitswelt den Eindruck, die Schweizerische Sozialversicherungen für Behinjede Person im erwerbsfähigen Konferenz für Sozialhilfe derte oder Arbeitslose und insAlter finde eine Arbeit und besondere bei Fürsorgeabhängiein ausreichendes Einkommen, wenn sie nur guten Willens sei. Dass der Arbeits- gen Missbrauch und Missmanagement. Mit ihren Missbrauchskampagnen hat die markt heute in der Schweiz längst nicht jeden brauchen kann, wird ausgeblendet. Eigenverant- Partei in den letzten Jahren maßgeblich dazu wortung, Unabhängigkeit und Rechtschaffen- beigetragen, Invalide, Asylsuchende und Fürheit stehen im Zentrum der sozialen SVP-Pro- sorgebezüger zu diskreditieren – und mit grammatik. Der Sozialstaat ist so gesehen ein ihnen die entsprechenden sozialstaatlichen Innotwendiges Übel. Strukturelle, gesellschaftliche stitutionen. Schließlich erlaubt es die Verknüpfung der Ursachen für Armut und Ausgrenzung gibt es in sozialen Fragen mit der Ausländerthematik der dieser Welt nicht. Ihre idealisierenden Bilder der sozialen Partei, die Zugewanderten als Hauptursache der Schweiz verbindet die SVP mit einem stramm sozialen Probleme darzustellen. Ob Arbeitslosigwirtschafts- und kapitalfreundlichen Kurs. Als keit, Wohnungsnot, überschuldete SozialversiPartei, die von vielen kleinen Leuten gewählt, cherungen oder Missbräuche – immer sind die aber im Kern von großen Kapitalbesitzern ge- Ausländer schuld daran. Mit diesen undifferenlenkt und finanziert wird, gelingt ihr ein sozia- zierten Zuschreibungen lassen sich bekanntlich les Sittengemälde, in dem es kein Reichtums- überall Wähler gewinnen, auch in der Schweiz.

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DIE

ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR

Der Traum von der Treue Für die Monogamie gibt es in der Natur kaum ein Vorbild – sagen Wissenschaftler. Deshalb ist es eine der größten Zivilisationsleistungen, dass dem Menschen Treue hin und wieder auch gelingt

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

Ganz schön alt

Sie sind oft unzufrieden, doch geht es vielen so gut wie nie zuvor: Die Macht der Alten in Deutschland Dossier Seite 17–19

WISSEN SEITE 37–39

sc 10 0

höne Sachen

Ein Topf, vier Stühle und 95 andere Dinge reichen zum Leben. Ein Designheft Magazin Seite 14

Am Ende reich

Liberalismus steht zur Stunde eher für Habsucht – und nicht für Generosität VON PETER SLOTERDIJK

Bei der Debatte über den Atomausstieg geht es jetzt darum, was er uns kostet. Aber was ist er uns wert? VON MARC BROST

Z

u den Lektionen des an politischen Lehrstücken überreichen Frühjahrs 2011 gehört die Einsicht, dass Banken und Parteien viel mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, als man ihnen üblicherweise zugesteht. Wie man Bankhäuser als Kapitalsammelstellen definiert, aus deren Fundus die Unternehmen sich nötige Mittel für neue Projekte besorgen, sollte man Parteien als Kollektoren für die psychopolitischen Kapitale begreifen, in denen die Populationen moderner Nationalstaaten ihre Optionen für die künftige Gemeinwesengestaltung deponieren: als Zornsammelstellen, als Furchtsammelstellen, als Hoffnungssammelstellen. Ist dies erst zugestanden, so versteht man, wie es eben nicht nur zum Phänomen des Bankenkrachs, sondern auch des Parteienkrachs kommen kann: Letzterer tritt ein, wenn eine Partei allzu lange die Pflege des psychopolitischen Eigenkapitals vernachlässigt und ihre Geschäfte nur noch mit Illusionspapieren betrieben hat.

Die Freien Demokraten haben ihr ideologisches Eigenkapital verspielt Dies lässt sich zur Stunde an der Implosion der deutschen Liberalen beobachten. Ohne Zweifel haben die Freien Demokraten ihr ideologisches Eigenkapital im Rausch eines spekulativen Jahrzehnts verspielt. Sie haben den psychopolitischen Markt nicht mehr verstanden und sich in gefährliche Derivatgeschäfte mit den Enttäuschungen der anderen gestürzt, ohne sich ernsthaft auf die Aufgabe einzulassen, die eignen Werte zeitgerecht zu aktualisieren. Zu spät hat die Geschäftsführung die Wende zu einem »mitfühlenden Liberalismus« dekretiert, als die Partei selbst schon zu einem Objekt des Mitgefühls durch Dritte geworden war. Eine verblüffte Öffentlichkeit lernt nun, dass nicht nur überschuldete Banken unter Rettungsschirme gestellt werden können. Auch notleidende Parteien melden mit einem Mal ihr Interesse an einem Bail-out-Verfahren durch das politische Gemeinwesen im Ganzen an. Vieles spricht dafür, dem Partner in der Krise die nötigen Hilfen zu gewähren. Für den politischen Liberalismus gilt die Maxime too important to fail, selbst wenn es für too big to fail nicht reicht. Die Hilfe ist aber an Bedingungen geknüpft, die künftig vom Klienten zu erfüllen sind. Sollte es je zu einer intellektuellen Regeneration des politischen Liberalismus kommen, sie müsste von der Erkenntnis ausgehen, dass Menschen nicht nur habenwollende, giergetriebene, süchtige und brauchende Wesen sind, die freie Bahn für ihre Mangelgefühle und ihren Machthunger fordern. Sie tragen ebenso das Potenzial zu gebenwollendem, großzügigem und souveränem Verhalten in sich. Dieser Hinweis war nie so wichtig wie gegenwärtig. Nie zuvor haben Begriffe wie »liberal« oder gar »neoliberal« eine so niederträchtige Konnotation angenommen wie

in den letzten Jahren. Noch nie war das liberale Denken, vor allem in unserem Land, so weit vom vornehmen Pol der menschlichen Möglichkeiten entfernt. Noch nie hat man die Freiheit so eng und so fatal mit der Besessenheit der Menschen von dem Gier-Stress in Verbindung gebracht. Aber was beweist das? Nichts anderes, als dass die Sache der Liberalität zu wichtig ist, als dass man sie den Liberalen allein überlassen dürfte. Diese Einschränkung betrifft nicht nur eine einzelne Partei. Die Sache des Realen und seiner Reform ist zu wichtig, als dass man sie Parteien überlassen könnte. So ist die Sorge um die kulturelle Tradition zu umfassend, als dass man sie bloß Konservativen anvertrauen dürfte. Die Frage nach der Bewahrung der Umwelt ist zu bedeutsam, als dass man sie nur ins Ressort der Grünen überweisen sollte. Die Suche nach sozialem Ausgleich ist zu anspruchsvoll, als dass man Sozialdemokraten und Linken die alleinige Verantwortung dafür übertragen könnte. Doch braucht jedes dieser elementaren Motive eine parteiliche Hauptstimme. Was die Verteidigung der Freiheit angeht, so ist sie ein Projekt, das nicht ohne Partei und nicht ohne Parteilichkeit auskommt. Wer von der Freiheit etwas erfahren hat, weiß, dass es weiterhin darum geht, die beiden primären Tyranneien zurückzudrängen, die von alters her das menschliche Dasein deformieren: diejenige, die das Gesicht eines Despoten trägt, und die anonyme, die sich als jeweils herrschende Form des Notwendigen aufzwingen möchte. Wir müssen uns mit der Tatsache zurechtfinden, dass uns die Wirklichkeit stets als ein umfassendes StressKonstrukt umgibt. Die bekennenden Realisten haben recht, wenn sie auf der Verpflichtung zum Wirklichkeitssinn bestehen. Die wahren Liberalen fügen den Möglichkeitssinn hinzu: Sie erinnern uns daran, dass wir nicht wissen können, was alles noch möglich wird, wenn Menschen Wege finden, sich aus den kollektiv verfertigten Zwangskonstruktionen zu lösen. Ebendarum ist die aktuelle Welt so grenzenlos erstaunlich. Illiberalen Rückschlägen zum Trotz vollziehen sich in ihr, wie nie zuvor, unzählige Infiltrationen aus dem anderen Zustand, aus der Loslösung, aus der Leichtigkeit des Seins – Infiltrationen, die in die Strukturen des Bestehenden erhöhte Freiheitsgrade tragen. Wir verteidigen die Sache der Freiheit, indem wir daran arbeiten, das Wort Liberalismus, das leider zur Stunde eher für ein Leben auf der Galeere der Habsucht steht, wieder zu einem Synonym für Generosität zu machen – und das Wort Liberalität zu einer Chiffre für die Sympathie mit allem, was Menschen von Despotien jeder Art emanzipiert. Der Autor ist Professor für Philosophie und Medientheorie und Rektor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Zuletzt erschien von ihm »Die nehmende Hand und die gebende Seite« (Suhrkamp) www.zeit.de/audio

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s ist die Stunde der Revisionisten. Die Bilder der havarierten Atommeiler von Fukushima verschwinden allmählich von den Titelseiten, die Aufmerksamkeit der Medien nimmt ab. Damit ist die Gelegenheit günstig, Zweifel zu säen. Die Kernenergie sei eben doch unverzichtbar, heißt es nun wieder, und die Atomlobby führt dafür drei Gründe an: Geld, Moral und das Verhalten der anderen. Der Ausstieg koste zu viel. Atomstrom müsse dann importiert werden. Der deutsche Sonderweg sei verantwortungslos und gefährlich. Natürlich ist eine gewisse Portion Skepsis nicht schlecht. In der Außenpolitik etwa ist Deutschland jahrzehntelang gut damit gefahren, dass man vorsichtig und zurückhaltend agierte, dass nationale Alleingänge als falsch galten und man sich lieber einmal zu oft abstimmte, als andere zu verstimmen. Aber beim Ausstieg aus der Atomenergie? Beim Ausbau erneuerbarer Energien? Als die Regierung nach dem Atomunfall von Fukushima das vorläufige Aus für sieben deutsche Meiler beschloss und Zehntausende gegen die Kernenergie demonstrierten, war viel von Hysterie die Rede, von German angst. Nun macht sich die Atomlobby diese Angst zunutze – und behauptet, der Ausstieg werde uns ins Verderben stürzen.

Deutschland importiert Atomstrom? Das ist nur die halbe Wahrheit Dies ist die letzte Runde im Kampf um die Kernkraft in Deutschland, und wie ernst es mit dem Ende wirklich ist, zeigt schon, dass alles auf eine einzige Frage zuläuft: Überfordert uns die Abkehr von der Atomenergie? Die Frage suggeriert, dass ein Land ohne Kernkraft seine Zukunft verspielt; dass eine ganze Volkswirtschaft den Anschluss verliert; dass die Menschen stundenweise das Licht werden ausschalten müssen, weil Strom unfassbar teuer sein wird; und dass die Betriebe – und damit die Jobs – nach Osteuropa gehen, wo die Atommeiler groß und die Stromrechnungen klein sind. Es ist eine irritierende Frage, weil sie die Debatte seltsam verengt. Schließlich geht es nicht allein darum, was uns der Atomausstieg kosten könnte. Sondern darum, was er uns wert sein sollte. Man müsste also die Perspektive wechseln, aber das ist gar nicht so einfach, wenn die Atomfans weiter Ängste schüren. Es ist das letzte Mittel, das ihnen geblieben ist. Die vier großen Energiekonzerne handeln dabei aus geschäftlichem Kalkül: Atomstrom lässt sich günstig erzeugen und teuer verkaufen. Jeder zusätzliche Meiler am Netz maximiert ihren Gewinn. Die Hardliner in den Regierungsfraktionen wiederum handeln aus Überzeugung. Atomkraft war das letzte Alleinstellungsmerkmal der bürgerlichen Parteien. Und man legt die eigene Überzeugung nicht einfach so ab wie ein altes Jackett.

So wird getäuscht und getrickst, was das Zeug hält. Deutschland importiere jetzt Atomstrom aus den unsicheren Anlagen des Auslands, heißt es. Das stimmt zwar, war aber schon immer so. Zum vollständigen Bild gehört eben auch, dass wir gleichzeitig Strom aus den heimischen Kraftwerken und Windparks ausführen – in die Schweiz, in die Niederlande oder nach Polen. Und selbst wenn die abgeschalteten Atommeiler nicht wieder ans Netz gehen: Die maximale Leistungsfähigkeit unserer Kraftwerke wäre immer noch größer als der Bedarf. Am besten, man misst die Atomfans an ihren eigenen Zahlen und Prognosen. Als SchwarzGelb im vergangenen Herbst ein Gutachten zu den Folgen der Laufzeitverlängerung erstellen ließ, wurde nebenbei auch durchgerechnet, was beim vergleichsweise raschen Atomausstieg passieren würde. Das Resultat: geringfügig steigende Preise (weniger als ein Euro monatlich) und keine nennenswerten Auswirkungen aufs Wachstum. In der politischen Debatte blieben diese Zahlen unerwähnt, sie passten nicht zum Willen, die Meiler länger am Netz zu lassen. Da aber niemand aus Industrie und Politik damals am Gutachten zweifelte: Warum sollte man es jetzt tun? Reden wir lieber darüber, was uns der Atomausstieg wert sein sollte. Es wäre der Abschied von einer Technologie, die niemals ganz beherrschbar sein wird und deren Einsatz zu verheerenden Katastrophen führen kann. Es wäre das Ende von Kraftwerken, die nicht mal richtig versichert sind, weil kein Versicherer dieses Risiko übernehmen kann. Deswegen haftet am Ende der Staat – und das sind die Bürger. Es wäre der Beginn eines gewaltigen Umbaus des Landes. Interessant ist übrigens, dass im Augenblick kein einziger Betrieb wegen des Atomausstiegs mit Abwanderung droht. Es sind die Verbandsfunktionäre, die klagen. Die Unternehmer selbst sind viel zu klug, um nicht zu wissen, dass der ökologische Umbau der Gesellschaft – grüne Kraftwerke, Strom sparende Motoren, neue Erdkabel – große Chancen bietet. Umbau ist ein Wort, das Unternehmer lieben. Es ist die Chiffre für: Arbeit. Wettbewerb. Gewinn. Der Atomausstieg zwingt Deutschland in die Avantgarde der Zukunftstechnologie. Das kann im Extremfall auch nach hinten losgehen, dann nämlich, wenn die anderen Staaten Europas noch konsequenter auf Kernkraft setzen. Bislang aber hat deutsche Ingenieurskunst noch jedes Mal Nachahmer gefunden. Warum nicht diesmal auch? Deutschland wagt Zukunft. Das birgt Risiken, Garantien gibt es keine. Dennoch haben die Bürger ihre Entscheidung getroffen – trotz der Unwägbarkeiten des ökologischen Umbaus. German angst? Nennen wir es besser German cleverness. Siehe auch Politik Seite 6

Musterschüler In Meißen soll die neue Elite des Landes heranwachsen Politik Seite 15

ZEIT ONLINE Seit 50 Jahren blickt der Mensch aus dem All auf die Erde: Eine historische Galerie Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/weltraum-bilder

PROMINENT IGNORIERT

Schokotraum Sofihya aus Namibia hat mit ihrer Hautfarbe die Kunden einer ostdeutschen Bäckereikette gegen sich aufgebracht. So weit ist das nicht überraschend – doch die Begründung lässt aufhorchen: Rassistisch sei es, dass Sofihyas Bild für eine Schokotraum geheißene Süßspeise warb. Nur kein Neid! Lasst euch trösten: In Namibia könnte eine ostdeutsche Sahneschnitte vielleicht auch groß rauskommen. F. D. Kleine Fotos v.o.n.u.: Image Source/mauritius; Linus Bill; Stephan Floss für DIE ZEIT; Rietschel/dapd; Andersen/StudioX (l.)

ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail: [email protected], [email protected]

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6 6 . J A H RG A N G www.zeit.de/audio

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SACHSEN

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Titelbild: »Francesca da Rimini (1255-1285) und Paolo«, gemalt von William Dyce um 1837; Öl auf Leinwand; © National Gallery of Scotland, Edinburgh, Foto: bridgemanart.com

14 7. April 2011

POLITIK

MEINUNG

DIE ZEIT No 15

ZEITGEIST

Arabisches Wunder Krieg den Palästen, nicht dem Westen – ein ermutigendes Omen

JOSEF JOFFE:

Foto: Mathias Bothor/photoselection

HEUTE: 5.4.2011

Deutung Der ausgestreckte Arm mit einem ebensolchen Zeigefinger, das ist eine bewährte Geste der Staatskunst. Wer so richtlinienkompetent die Luft durchbohrt, der signalisiert nicht nur Orientierung, sondern leadership: Vorne ist, wo ich hinzeige. Um wie viel eindrucksvoller dieselbe Geste ausfällt, wenn sie nicht bloß mit der Hand, sondern mit technischem Gerät ausgeführt wird, das hat die Bundeskanzlerin, die sich einer Knieoperation unterziehen musste, jetzt bei einem Empfang in ihrem Amtssitz demonstriert. Wo die Krücke hinzeigt, da geht’s lang, Widerspruch zwecklos. Natürlich ist das auch eine – medizinisch indizierte – Antwort auf die Implosion der Koalition: Wenn auf meine Fingerzeige niemand mehr reagiert, rüste ich halt auf, wird sich Angela Merkel gedacht haben – die Gehhilfe als Bedeutungsprothese und Machtdemonstration. Die Republik geht am Stock? Von wegen! Alle Krücken fliegen hoch! WFG

Fotos: [M] Thomas Peter/Reuters

Der Hund, der nächtens nicht gebellt hat, ist ein Sherlock-Holmes-Klassiker. Wie »kurios«, grübelt der größte aller Detektive in Silver Blaze, liegt doch das Bellen in der Natur des Tieres. Also die Perspektive wechseln: Der augenfällige Verdächtige kann es nicht gewesen sein; den kannte der Hund nicht und hätte deshalb angeschlagen. Holmes hätte auch mit Blick auf die arabischen Revolutionen neu nachgedacht. Denn das Erwartbare ist ausgeblieben. Es fehlten die Hassparolen auf Amerika und Israel; die übliche Verbrennung ihrer Flaggen fand nicht statt. »Zum ersten Mal«, notiert der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun, »haben sich arabische Demonstranten weder gegen den Westen noch gegen Israel gewandt« (siehe seinen Beitrag im Feuilleton). Die Überraschung ist umso größer, als gerade in den Aufstandsländern der Antisemitismus die wütendsten Orgien gefeiert hat. Nicht »Israelkritik«, sondern das europäische Original mit Ritualmordlegende und Weltverschwörung. Im Spiel war die klassische Ablenkungsstrategie. Je versteinerter das Regime, desto heftiger der offiziell geschürte Hass auf Amerika und Israel: Die sind schuld an eurem Unglück; keine Reformen, solange der Feind nicht besiegt ist. Das hat die Tyrannen und die Unterdrückten jahrzehntelang zusammengeschweißt. »Beschäft’ge stets die schwindlichten Gemüter / Mit fremdem Zwist«, heißt es schon bei Shakespeare. Mit den Regimen wackelt auch ein beliebter Glaubenssatz im Westen: dass alle Probleme der Region wie von Zauberhand verschwänden, wenn endlich das palästinensische gelöst würde. Die berüchtigte »arabische Straße« in Kairo, Damaskus, Amman, Tunis und Bengasi hat aber nicht für Palästina demonstriert – noch ein Hund, der hätte bellen müssen. Die Rebellen kämpfen für Freiheit in Ägypten, Syrien, Libyen, nicht in Palästina. Die Israelis haben das noch nicht erkannt; für sie galt der Satz »Mubarak gut, Masse böse«, weil er der Garant des Friedens war. Wenn aber die

Josef Joffe ist Herausgeber der ZEIT

Revolution so ausgeht, wie sie zu verheißen scheint (ein großes Wenn), dann ist auch hier der Perspektivwechsel fällig. Dann könnte sich der Hass der »Straße« als Machtinstrument der Tyrannen entpuppen, dann könnten die Israelis zum ersten Mal aufatmen und Sicherheit nicht nur mit gefletschten Zähnen suchen. Oder in der Besatzung. Das zentrale Dogma der Nahostpolitik könnte sich in sein Gegenteil verkehren. Nicht die 60 Kilometer zwischen Jaffa und Jericho sind die Mutter aller Konflikte, sondern Despotismus und Dysfunktionalität vom Maghreb bis zum Maschrek. Das jedenfalls signalisiert die Jasmin-Revolution. Setzen sich die Demokraten durch, wird sicherlich kein Liebesfest ein Jahrhundert der Feindschaft ablösen. Aber legitime Herrschaft braucht keine Feindbilder, erst recht nicht, wenn sie bringt, was fehlt: Teilhabe, Bildung, Wachstum, Chancen. Engelskreis statt Teufelskreis – das ist die Verheißung des Arabischen Frühlings. Ob es gut ausgehen wird? Die Geschichte der Revolutionen seit 1789 schreit nicht gerade »Ja!«. Aber die Hunde, die nicht gebellt haben, sagen uns stumm und doch sehr deutlich, welcher Seite der Westen und Israel helfen müssen.

Links und einsam

BERLINER BÜHNE

Wer braucht eigentlich noch die Linke? Die jüngsten Wahlen haben gezeigt: Keiner Nun wird auch die Linke grün. Angesichts der niederschmetternden Wahlergebnisse in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg verlegen sich einige ihrer Strategen sogar darauf, die Grünen als »Atom-Partei« zu verteufeln, weil sie sich mit dem Ausstieg viel länger hätten Zeit lassen wollen als die Linke. Die will am sofortigsten von allen aussteigen. Die West-Ausdehnung der Linkspartei ist gestoppt. Wie groß die Verzweiflung jetzt ist, das lässt sich an dem Gerücht ablesen, die Rückkehr von Oskar Lafontaine stehe unmittelbar bevor. Zwar glaubt niemand wirklich daran. Aber der Name des saarländischen Fraktionschefs kündet von den goldenen Zeiten, als man sich um das Kerngeschäft der Linkspartei kümmern konnte: den Bruderkampf gegen die Sozialdemokratie. Etwas Besseres als eine rot-grüne Regierung, die Arbeitsmarktreformen in Angriff nahm und deutsche Soldaten auf den Balkan schickte, konnte der Linken nicht passieren. Tausende von Mitgliedern verließen die SPD, aus Wut und Enttäuschung. Das ging so lange gut, wie es keinen Lagerwahlkampf gab. Das war schon in Hamburg anders und in Baden-Württemberg erst recht. »Rechts« und »Links« sind wieder da, diesmal als Schwarz-Gelb und Grün-Rot. Jetzt zeigt sich: Die Linke ist nichts ohne eine regierende SPD; aber wo die SPD regiert, braucht der Wähler keine Linke mehr. Das ist die selbstzerstörerische Dialektik im Leben Oskar Lafontaines: Er hat so viel Kraft auf den Erzfeind SPD verwandt, dass sein eigener Verein nun kurz vor dem Ausbluten steht.

Weil seine Partei nur Bruderkampf kann, ist sie so ähnlich verarmt wie die FDP. Die Linke hat bloß noch ein Thema: die Eigentumsfrage. Was als »Kommunismus«-Debatte bizarre Formen angenommen hatte, enthielt eben doch einen wahren Kern: Die Systemfrage ist es, die die Linke letztlich von der SPD unterscheidet, ihr Distinktionsmerkmal, ihre Existenzberechtigung. Aber der nackte Materialismus, das lernt auch die FDP gerade, passt nicht mehr in die Landschaft, hat vielleicht noch nie gepasst. Als die Bürger in Stuttgart für mehr Beteiligung auf die Straße gingen, wollte die Linke darüber reden, wem die Parkbäume gehören. Aus Fukushima hat die Linke gefolgert, dass Atomenergie nicht in Privatbesitz sein darf (wie hieß es in der DDR: »Kernkraft in Arbeiterhand ist sicher«). Die Verkäuferin bei Schlecker, so findet die Linke, braucht keine Frauenquote – das ist was für Studienrätinnen –, sondern gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Und so weiter. Aber die Verkäuferin bei Schlecker will womöglich mehr von ihrem Leben als nur gleichen Lohn. Acht Stunden sind kein Tag. Wer nur die Systemfrage stellen will, kann in den Parlamenten nicht mitmachen. Sein politischer Aktivismus ist zur Folgenlosigkeit verdammt; die Gegenwart bleibt immer öde, leuchten tut es erst hinter dem Horizont. Wer Bürgerbeteiligung will, braucht auch keine Kümmerer-Partei, als die sich die Linke in Ostdeutschland gern präsentiert. Wer seine Wähler am liebsten als Opfer des Neoliberalismus sieht, kann mit einer umtriebigen Zivilgesell-

VON MARIAM LAU

schaft nichts anfangen. Es ist keineswegs nur die West-Ausdehnung, die gestoppt ist. Auch in Sachsen-Anhalt, wo man eigentlich auf einen fabelhaften Start ins Super-Wahljahr gehofft hatte, musste die Linke Verluste hinnehmen. Eine parteiinterne Erklärung dafür lautet, die Klientel der Partei – die working poor – hätten die Linke gewählt in der Hoffnung auf kurzfristige Sozialgewinne, die man dann nicht liefern konnte. Seither schmilzt das zweistellige Plateau, an das man sich bei der Linken gewöhnt hat, auf bundesweit ungemütliche acht Prozent, Tendenz weiter fallend. In ihrer Verzweiflung war die Linke in BadenWürttemberg darauf verfallen, sich selbst als unverzichtbar für einen Politikwechsel anzupreisen. Wer Rot-Grün wolle, wer »den Mappus weghaben« wolle, der müsse die Linke wählen. Dann zeigte sich: Wer Grün-Rot wollte, wählte eben Rot oder Grün, die Linke war überflüssig. In dieser Lage, in der nichts Geringeres als ihre Existenz auf dem Spiel steht, wollen einige Parteistrategen sich auf die Konkurrenz zu den Grünen kaprizieren. Die Grünen seien die Latte-macchiato-Partei. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann werde schon bald von der schroffen Realität entzaubert. Das mag sein. Nur wird es den Charme des Selbermachens, wie er von grüner Kommunalpolitik verströmt wird, oder den Erfolg in Sachen Atomwende nicht ungeschehen machen. Der gemeinsam gerettete Fluss, die intelligente Verkehrsführung, eine lebendige Innenstadt – eine Zivilgesellschaft, die so etwas gemeinsam ins Werk setzt, braucht keine Linkspartei mehr.

Pink ist das neue Grau Kein Feindbild, nirgends: Was ist bloß los mit den Windmachern der CSU? Wenn man schon nicht mehr weiß, wer man selbst ist, und wenn ja, wie viele, dann braucht man als moderner Mensch wenigstens ein ordentliches Feindbild. Doch unter den Trümmern von Fukushima werden derzeit ganze Weltbilder begraben. Merkels einst kernige schwarz-gelbe AusputzerTruppe (»Durchregieren!«) präsentiert sich als vergrübelter Haufen von Stuhlkreis-Nachbarn. Wind ist das neue Atom, die Schwarzen sind die neuen Grünen und Pink das neue Grau. Jedenfalls in der CSU. Die Landesgruppe der Christsozialen im Bundestag, der früher Männer wie Michael Glos und Hans-Peter Friedrich vorsaßen, die die Welt zuverlässig sortierten (CSU großartig, Trittin schlimm, Sozis immer noch besser als Rita Süssmuth), wird nun von einer Frau regiert, Gerda Hasselfeldt. Sitzt da, knallbonbonfarben gewandet, lächelt wie ein Schmunzelhase, redet freundlich über die FDP und milde über die Grünen. Wo sind bloß die Beißreflexe geblieben? Die gesetzlich garantierten Reststrommengen, die der CSU noch für Guttenberg zustanden, müssen nach Abschaltung von Isar I auf die letzte arbeitsfähige Windmaschine übertragen werden, auf Söder II. Die deutsche Rating-Agentur Wähler and Poors hat sich unterdessen entschieden, die schwarz-gelbe Koalition auf Triple B herabzustufen. Zur Begründung hieß es, diese habe sich als nicht ansatzweise grundlastfähig erwiesen. Alles Weitere regelt ein Moratorium, natürlich streng ergebnisoffen. Über die Berufung einer Ethikkommission wird noch verhandelt. TINA HILDEBRANDT

S

IN DER ZEIT POLITIK 2

FDP Die Partei hat den

Liberalismus vergessen 3

Schafft Gesundheitsminister Philipp Rösler einen Neubeginn für seine Partei?/Aufbruch mit alter Garde

4

Außenminister ohne Parteivorsitz: Was bleibt von Guido Westerwelle?

5

6

Politische Lyrik

8 9

13 Nachruf Zum Tode von Hilde von Lang VON HELMUT SCHMIDT 14 Die Linke Noch eine grüne Partei

15 Bildung Sachsens Elite soll in Meißen zur Schule gehen VON SUSANNE KAILITZ

Bundeswehr Die ersten freiwilligen

Wehrdienstleistenden

Sachsen-Lexikon Ordnung

Atompolitik Das Moratorium

VON CHRISTOPH DIECKMANN

16 Architektur Der Kampf um Dresdens Kulturpalast

Libyen Wie weiter nach der

VON JULIANE SCHIEMENZ

militärischen Intervention?

Stanislaw Tillich Im Ausland

Polen Ein Jahr nach dem

blüht der Ministerpräsident auf

Flugzeugunglück von Smolensk

VON STEFAN SCHIRMER

Elfenbeinküste Der Machtkampf

DOSSIER

zwischen altem und neuem Präsidenten 10 Nigeria Der Wahlkampf des Hoffnungsträgers Nuhu Ribadu 11 Japanisches Tagebuch 12 Aus der Welt

GESCHICHTE

17 Gesellschaft Die Alten werden mächtiger – den Jüngeren wehren sich 20 WOCHENSCHAU Kachelmann Der Strafprozess als Lehrstück über Geld und Feminismus

35

22 Raumfahrt Jurij Gagarin, der erste Mensch im All

36 Was bewegt ... den Unternehmer Fred Langhammer?

WISSEN

23 Libyen Ein Besuch beim Finanzminister der Rebellen

37

24 Ölmarkt Libyen ist nur eine kleine Macht/Förderung im Wattenmeer

38

Stuttgart 21 Der neue Bahnhof

vor dem Aus? 26 »Focus« Blattreform am Abgrund 27 Weltwirtschaft Können wir dem Aufschwung trauen? 28 Uranabbau Schmutziges Geschäft 30 Mode Kompromisslose Ökokleidung 32 EnBW Scheitern die grün-roten Umbaupläne an den Finanzen? 33 Boehringer Fragen an den Eigentümer 34 Kupfer Spekulanten entdecken das rote Metall

51

Psychologie

Die Realität des Treue-Ideals Die Utopie der Treue in Literatur und Philosophie/Historisch waren Liebespaare selten frei in ihrer Wahl

39 »Monogamie ist unnatürlich« sagen zwei Untreueforscher 40 Kernenergie Plutonium als heikler Brennstoff in Reaktoren 41 Infografik Die Abgase des Schiffsverkehrs 42 Wissenschaft TÜV für Messdaten 47 KINDERZEIT Revolution Wie zwei Kinder den Umbruch in Tunesien erlebten

FEUILLETON 49 Arabien Warum der Islamismus in der Revolte keine Rolle spielt

China Ai Weiweis Verhaftung und die Folgen

Ein Besuch in Ai Weiweis Künstlerdorf

Armut hängen eng zusammen

WIRTSCHAFT

25

Telekom Die Spitzelaffäre Entwicklungspolitik Krieg und

21 Mittelalter Die große Salier-Ausstellung in Speyer

SACHSEN

Ostkurve

der Regierung ist Augenwischerei 7

12 Internet Wie gefährlich sind anonyme Lästerseiten?

52 Legende Carlo Pedersoli – der Mann, der Bud Spencer war 53

REISEN 65 Verantwortungsvoll reisen ein Spezial auf drei Seiten

69 Literatur Wie DDR-Bürger illegal in die Sowjetunion reisten

Belletristik Peter Handke »Der große Fall«

54 Roman Dirk Kurbjuweit »Kriegsbraut« 55 KrimiZEIT-Bestenliste Sachbuch Suelette Dreyfus/Julian

Assange »Underground« 56 Diskothek 58 Theater »Bengal Tiger at the Bagdad Zoo« in New York 59 Kunstmarkt/Museumsführer 62 Geistesgeschichte Die seltsame Karriere des Hans Robert Jauss 63 Theater »Draußen vor der Tür« Kino »The Fighter«

64 GLAUBEN & ZWEIFELN Erinnerungskultur

Das Internet kennt weder Vergeben noch Vergessen

CHANCEN 71

Gebührendebatte Was ist uns

Bildung wert? 72 Schule Bibliotheken sind unerlässlich 73 Studium Der erste Lehramtsstudiengang für Chinesisch Deutschlandstipendium 75 Beratung Hilfe für Entlassene Jobsuche Wie man verdeckte

Stellen findet 90 ZEIT DER LESER 62 Impressum 89 LESERBRIEFE Die so gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im »Premiumbereich« von ZEIT ONLINE unter www.zeit.de/audio

ZEIT FÜR SACHSEN

7. April 2011 DIE ZEIT No 15

15

OSTKURVE

Kölsch und Bockwurst Am 13. Dezember 1986 hörte ich mein erstes BAPKonzert, in Leipzig, Messehalle 2. Es spielte die BAP-Coverband Zapfen, deren Kölsch-Sänger ein unverfälschtes Pleiße-Sächsisch sprach. Weiterhin genoss ich Amor & Die Kids (teils später Die Prinzen) mit ihrem Hit Komm doch mit zu ’nem Ritt auf dem Sofa, von der Amiga-LP No more Bockwurst. Es war nicht schön. Es war Bockwurst. Mein jüngstes BAP-Konzert erlebte ich am 31. März 2011, in Köln. BAP-Kopf Wolfgang Niedecken feierte seinen 60. Geburtstag, zu Wasser. Die Sonne sank hinter den Dom, die MS Rheinenergie legte von der Deutzer Brücke ab. Unter Deck enterte die Band die kleine Bühne und berockte ein paar Hundert Glückliche mit dem neuen Album Halv su wild, das Sentiment und Vitalität aufs Bekömmlichste vereint. Niedecken sang selig, schwadronierte, empfing eine Delegation des 1. FC Köln und Poldi Podolskis Fußballschuhe. Draußen glitten die Christoph Dieckmann, 1956 in Rathenow geboren, ZEIT-Autor, schreibt hier im Wechsel mit der Journalistin Jana Hensel

Sankt Sachsenschlau Am Afra-Gymnasium in Meißen soll des Freistaats neue Elite heranwachsen – doch viele Schüler dort können mit dieser Rolle nichts anfangen VON SUSANNE KAILITZ Schule des Strebens: Sankt Afra, sonntags. Nur einmal im Monat dürfen die Schüler heimfahren

Fotos: Stephan Floss für DIE ZEIT; Nicole Sturz (Portrait r.)

M

orgens um halb acht wird am venten hat ergeben, dass ihr Weg sie eher in die Meißner Burgberg der König alten Bundesländer geführt hat«, sagt Schulleiterin verteidigt. Begeistert erklärt ein Ulrike Ostermaier. Die 53-Jährige stammt aus Achtklässler des Landesgymnasi- Thüringen, hat nach der Wende als Mitarbeiterin ums Sankt Afra mit Laptop und des Regionalschulamts die sächsischen Gymnasien Beamer die Rochade, einen Schachspielzug. Nach mit aufgebaut. Von den ehemaligen Afranern, sagt zehn Minuten steht eines fest: Unkundigen wird Ostermaier, lebten viele in Berlin, dagegen nur das komplizierte Regelwerk auch heute ein Rätsel wenige in Leipzig oder Dresden. bleiben. Das Niveau ist hoch am Sankt Afra, und Dass die Afra-Absolventen sich dem Freistaat zwar schon im Frühkonzil, das an Sachsens Schu- offenbar nicht übermäßig verpflichtet fühlen, mag le für Hochbegabtenförderung sowohl für Schüler daran liegen, dass Schüler und Lehrer die hohen wie auch für Lehrer Pflicht ist – egal wie lang der Erwartungen, die man in sie setzt, nur bedingt erArbeitstag noch werden wird. füllen wollen. Als Teil der sächsischen Elite versteht Nicht nur für die 300 Schüler, sondern auch für sich hier kaum einer: »Das klingt so abgehoben«, Maria Degkwitz, 48, Lehrerin für Latein, Theater sagt die 14-jährige Lisa. »Wir sind hier doch ganz und katholische Religion, steht heute einiges auf normal.« Normal zu sein, das ist für Afraner oft ein dem Stundenplan. Seit zehn Jahren ist sie hier an- wichtiges Ziel, waren sie das doch an ihren alten gestellt, seit zehn Jahren beginnen ihre Tage beim Gymnasien selten: Den Status des sonderbaren morgendlichen Treffen in der Aula, bei Presseschau Strebers zu haben, schon aufgrund der guten Maund Kulturprogramm. Am Sankt Afra unterrichtet the-Note jede Coolness abgesprochen zu bekomsie fächerübergreifend, in einer Sechstagewoche. men – das sind die Erfahrungen vieler hier aus Degkwitz passt schon auf den ersten Blick zu die- ihren früheren Schulen. In Meißen ist Klugheit gefordert. Das finden sem Ort. Groß und schlank, kerzengerade Haltung, druckreife Rhetorik: So stellt man sich eine Lehre- viele Schüler nur fair: Es sei nicht in Ordnung, sagt die Zehntklässlerin Dinah, dass alle Welt nur rin an einem Elitegymnasium vor. Und genau das ist Sankt Afra nach dem Plan über die Förderung lernschwacher Schüler spreseiner Gründerväter: Die Begabtenschule, erklärte che. »Klar ist es schön, wenn die Stärkeren die der damalige Kultusminister Matthias Rößler Schwächeren hochziehen. Aber was ist, wenn es (CDU) zur Eröffnung im Jahr 2001 immer wieder, keinen mehr gibt, an dem man sich nach oben stehe für das Bemühen der Sachsen, das Beste aus orientieren kann?« In ihrem vorherigen Gymnasich zu machen. Die Afraner sollten als »zukünfti- sium habe sie sich »unglaublich gelangweilt«. ge sächsische Elite« zur »Revitalisierung der Region« Auch für den 16-jährigen Justin ging es nicht beitragen. Ähnliches schwebte auch dem Minister- mehr nur ums Wohlbefinden im Unterricht. Er präsidenten vor, der zu dieser Zeit noch Kurt kam in anderen Schulen weder mit Mitschülern noch mit Lehrern klar – und stand kurz vor dem Biedenkopf hieß. Die Nachwende-Neugründung berief sich auf Abbruch seiner Schulkarriere. Der Umzug nach eine jahrhundertelange Tradition: 1543 von Kur- Meißen war Justins letzter Versuch, einen Abschluss zu schaffen. Sankt Afra sei fürst Moritz von Sachsen gegrünfür ihn keine Eliteschule, sagt er, det, sollte die Fürstenschule nahe »ich bin jetzt einfach auf einem der Meißner Burg seit je besonders Gymnasium, wo ich so lernen gelehrte Landeskinder hervorkann, wie es für mich richtig ist«. bringen. Nach 1989 griff man Maria Degkwitz, die Lehrediese Idee wieder auf – und knüpfrin, sieht das ähnlich. »Wir te ungehemmt an eine Eliten-Vorunterrichten Kinder mit einem stellung an, die in den alten Bununglaublichen Wissenshunger«, desländern verpönt war, in der DDR aber selbstverständlich zum Seit Afra vor zehn Jahren sagt sie. »Denen muss man Futter geben, sonst gehen sie ein.« Bildungswesen gehört hatte: Be- eröffnet wurde, lehrt Den Traum von einer Schule sonders begabte Schüler wurden Maria Degkwitz dort für alle träumt man auch in Meiauf Spezialschulen geschickt und ßen gelegentlich – doch die Praxis sollten später als Spitzenforscher dem sozialistischen Staat international Glanz ver- sieht anders aus. »Natürlich wäre es schön, wenn leihen. Der Staat ist heute ein anderer, am Prinzip alle Schüler mit ihren Begabungen an einer hat sich jedoch nicht viel geändert. Doch auch Schule gleichermaßen gefördert werden könnwenn sächsischen CDU-Politikern solch ein Elite- ten«, sagt Direktorin Ostermaier, »aber alle Erbegriff gefällt, tut die Schule sich schwer damit. fahrungen aus mehr als 15 Jahren Lehrerdasein Bescheidener will sie nach außen wirken, auf kei- zeigen mir, dass man in Klassen mit Schülern alnen Fall elitär-dünkelhaft. Ein besonderes Lern- ler Leistungsniveaus allenfalls auf Normalmaß umfeld will sie bieten, dabei den Bedürfnissen nivellieren kann.« In Meißen hingegen ist das Niveau permanent hoch: Wenn die Neuntklässhochbegabter Kinder gerecht werden. Schüler aus ganz Deutschland besuchen heute ler im Altgriechisch-Unterricht über das Denken dieses Gymnasium, immerhin ein Viertel der Af- der Sophisten diskutieren, liegen Welten zwiraner stammt nicht aus Sachsen. Auf die 48 Plätze schen Sankt Afra und einer Regelschule. Sankt Afra ist intensiv, bedeutet Unterricht jährlich kann sich nur bewerben, wer erwiesenermaßen hochbegabt ist, die Empfehlung eines Fach- bis in den Abend, bedeutet mindestens drei lehrers mitbringt – und sich vorstellen kann, unter Fremdsprachen, Projektarbeit und soziale Diensstrengsten Internatsregeln zu leben. Mobiltelefone te. Schüler der Oberstufe müssen eine »besondere und Alkohol sind in der Schule verboten, Heim- Lernleistung« erbringen, das heißt: eine wissenfahrten nur alle vier Wochen erlaubt. Dennoch schaftliche Arbeit, die in die Abiturnote einbewerben sich auf jeden Platz zwei Schüler. Der fließt. An anderen sächsischen Gymnasien ist finanzielle Hintergrund der Familien spielt dabei diese Zusatzarbeit freiwillig. Die Teilnahme am Frühstudium der TU keine Rolle: Landeskinder aus Sachsen zahlen 225 Euro pro Monat für Unterkunft und Verpflegung, Dresden oder an diversen Wettbewerben gehört alle anderen 390 Euro. Teure westdeutsche Elite- in Sankt Afra zum guten Ton. Eine Trennung von Schul- und Privatleben ist bei dieser AufInternate kosten locker das Zehnfache. Der Freistaat hofft, dass sich seine Investitionen gabenfülle nicht drin und auch nicht gewünscht. irgendwann rechnen werden. Rund 300 Afraner Sich auf Afra einzulassen, das sei für Schüler und haben bislang ihren Abschluss gemacht. Erfüllt sich Lehrer eine grundlegende Entscheidung, sagt Rößlers Wunsch? Kommt aus Meißen die neue Maria Degkwitz. »Aber dafür mache ich wähsächsische Elite? »Eine Umfrage unter 180 Absol- rend meiner Arbeitszeit auch Dinge, die andere

sich in ihrer Freizeit wünschen würden.« Gerade inszeniert einer ihrer Schüler Schillers Räuber, mit einer 15-jährigen Schülerin hat sie ein Shakespeare-Stück vom Englischen ins Deutsche übersetzt. »In Versen!«, ruft Degkwitz. »Da geht es nicht um Punkte, das ist pure Leidenschaft.« Diese Leidenschaft wird wenige Meter weiter oft als Spinnerei wahrgenommen. Während man innerhalb des Schulgeländes gern von der »verbundenen Verschiedenheit« spricht, die den »afranischen Geist« spiegele, ist das Band, das die Schule und ihre Stadt verbindet, weit weniger fest. Von einer »traditionell schwierigen Kommunikation« spricht Lehrerin Degkwitz; ihre Schülerin Dinah wird deutlicher: »Für die Leute hier sind wir die Idioten vom Berg. Die sind immer überrascht, dass wir gar nicht so abgehoben und eingebildet sind, wie sie dachten.« In Meißen wurde schon die Gründung von Sankt Afra kritisch beäugt: Als der Freistaat die ehemalige Fürstenschule zum Sitz des neuen Hochbegabteninternats erkor, residierte dort noch ein

Kreisgymnasium. Dessen Personal sollte, so der Kabinettsbeschluss, nicht in der Schule bleiben. So wurde dieses Gymnasium erst ausgelagert und später geschlossen. Auch dass der Freistaat in den Umbau der Schule und das Internat 35,5 Millionen Euro investierte – zu einer Zeit, in der überall Schulen geschlossen wurden –, ließ Neid aufkommen. Doch das Gefühl von Luxus stellt sich nicht ein, wenn man Maria Degkwitz bei einem Rundgang begleitet: simple Tafeln in den Klassenzimmern, klassische Labortische, unkaputtbare Kunststoffmöbel in den Aufenthaltsräumen. Nichts deutet darauf hin, dass in Sankt Afra viel Geld für Komfort ausgegeben worden wäre. Auch die Personalkosten entsprechen denen jeder anderen staatlichen Schule in Sachsen, gezahlt wird nach Tarif. Die Währung, die für sie den Job so attraktiv mache, sei nicht Geld, sagt Maria Degkwitz, sondern die Neugier der Afraner. Sie könne sich im Unterricht mit den Hochbegabten nicht durchlavieren: »Die machen sehr deutlich, wenn sie sich nicht genügend gefordert fühlen.«

nächtlich illuminierten Ufer an uns vorüber, oder war es umgekehrt? Zur Mitternacht erschienen die Bläck Fööss, und alles sang Für ’ne Moment. Wer da nicht tränte, musste Preuße sein. Anderntags habe ich Niedeckens 800-MeterLebensradius ausgeschritten: Chlodwigplatz, Severinstor, Teutoburger Straße, das Eckhaus mit dem väterlichen Gemüseladen ... Hässliches, beneidenswertes Köln, das sich in lokalen Mythen als Mittelpunkt der Welt empfindet. Begnadeter Jubilar, dessen Kunst der Heimat ihn bis Afrika und China trug. Ein BAP-Musiker ist Sachse: Keyboarder Michael Nass. Gitarrist Helmut Krumminga stammt aus Ostfriesland. Unglaublich, rief Niedecken, ein Sachse aus Borna und ein Ostfriese singen meine kölschen Refrains! Der Schweiger Krumminga griff das Mikro und sprach: Normal.

SACHSEN-LEXIKON

Ordnung, die. Zustand der Aufgeräumtheit, in welchem sich die Welt gerade nicht befindet; die Welt mit Ausnahme von: Sachsen. Nach Japan-GAU und Grünen-Sieg wirbt Tillichs Regierung in BadenWürttembergs Presse um Investoren: »In Sachsen ist die Welt noch in Ordnung!« steht da: »Kommen Sie zu uns!« Der Freistaat, so die Begründung, »unterstützt ohne Dogma und Ideologie moderne Techniken«. Wann etwa das erste Atomkraftwerk an der Zwickauer Mulde in Betrieb gehen soll, verkündete die undogmatische Staatsregierung bislang nicht. MAC S

16 7. April 2011

ZEIT FÜR SACHSEN

DIE ZEIT No 15

Unser Mann in Hanoi Stanislaw Tillich ist in Hochform – als Sachsens Außenministerpräsident

Fotos: bildstelle, Arno Burgi/dpa (Ausschnitt, u. r.)

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Er leuchtet. Doch hört der Kulturpalast auf, eine Bühne des Volkes zu sein?

Kulturpalastkampf Dresdens Lustspielhaus soll zum Hort der Klassik umgebaut werden. Die Stadt ringt um ihr DDR-Denkmal

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er Mann, der seinem Dresden jetzt an den Kragen will, ist 82 Jahre alt. Er hat graues Haar, trägt eine Brille und schüttelt den Kopf: Nein, einen Präzedenzfall habe er nie schaffen wollen, sagt Wolfgang Hänsch. Jedoch ist er gerade dabei, genau das zu tun. Hänsch pocht, als erster DDR-Architekt überhaupt, auf sein Urheberrecht an einem Haus, das umgebaut werden soll. Am 3. Mai wird der Fall vor dem Leipziger Landgericht verhandelt, das unter anderem auf Urheberrechtsfragen spezialisiert ist. Hänsch steht vor seinem Kulturpalast in der Dresdner Innenstadt, er ist der Schöpfer dieses Gebäudes. Er sagt: »Dieser Eingriff ist barbarisch.« Die Stadt will das Festspielhaus der Schlagerfeste, den Konzertsaal des schunkelnden Volkes zum Spielort der Hochkultur umbauen. Es soll Stammhaus der Philharmonie werden, mit perfekter Akustik statt riesiger Ränge. Auch das Kabarett Herkuleskeule und die Stadtbibliothek sollen einziehen. Hänschs Kulturpalast muss dafür entkernt werden; in die alte Hülle wird ein neuer Saal gepflanzt, so ist es besiegelt. Geplanter Baustart ist 2012. »Eine ganz tragische, schlimme Geschichte!«, sagt Hänsch. »Es tut weh, wie da ein Gesamtwerk zerstört werden soll.« Seit Wochen treffen sich regelmäßig UmbauGegner vor dem Haus und protestieren mit Megafon und Transparenten im Sinne Hänschs. Denn der Streit um den Kulturpalast ist ein Kampf der Kulturen geworden; es geht um mehr als Architektur. Es geht um DDR-Erinnerung und um die Frage, ob man sie austauschen soll gegen die Bedürfnisse der Touristenstadt. Will man in Dresdens Zentrum nur noch klassische Musik? Will man Robert Schumann, Matthias Reim aber nicht? Will man die Vertreibung der Kastelruther Spatzen, die am Montag ihr nächstes Konzert im »Kulti« genannten Gebäude geben? Die Außenwirkung des Kulturpalasts soll künftig eine andere sein. Der Mix aus Volksmusik, Kochshows und Klimbim ist Dresden zu provinziell für seine City. Das Spitzenorchester bekommt einen neuen Spitzensaal, die Innenstadt noch S

mehr Glanz. Die leichte Musik, das ist der Plan, man doch Konzertstadt mit Weltniveau sein. Auch soll künftig in der Messe spielen. Am Stadtrand. Kulturbürgermeister Ralf Lunau (parteilos) glaubt, Im Gerichtsprozess Anfang Mai wird es nicht um es brauche einen Saal von internationalem Rang. Geschmacksfragen gehen, sondern ums Copyright Einen Saal, »dessen Akustik Orchester nicht verdes Architekten. Gewinnt Wolfgang Hänsch, muss treibt, sondern sie anlockt«. Als weithin beachtetes der Mehrzwecksaal bleiben. Denn einst war der Orchester forderte die Philharmonie seit Jahren eiKulturpalast als zentraler Gemeinschaftsbau für die gentlich sogar eine gänzlich neue Spielstätte. DaInteressen aller gedacht gewesen, als großer Raum gegen wehrte sich der Stadtrat aus Kostengründen. für Schlagerfeste, Jugendweihen und philharmo- Man könne unmöglich neben Kulturpalast und nische Konzerte. Hänsch errichtete das Haus 1969: Semperoper ein drittes Haus betreiben, der Unterhalt ein flacher Glasquader auf einem Granitsockel, 2400 sei nicht finanzierbar, erklärten mehrere Fraktionen. Plätze im großen Saal. Die Fachwelt, nicht nur die Kulturbürgermeister Lunau ließ sich zu der Äußesozialistische, feierte das schlichte Gebäude als Be- rung hinreißen: »Wenn ich ein neues Konzerthaus geschenkt bekäme, ich würde ginn der Nachkriegsmoderne in es nicht haben wollen.« Dumm Dresden; die Einwohner nahmen es begeistert an. nur, dass WirtschaftsbürgermeisWertschätzung Laut einer Studie des Instituts ter Dirk Hilbert (FDP) im Wahlfür Kommunikationswissenschaft kampf einen Konzerthaus-Neu»Im Umgang mit den bau versprochen hatte. »Schon der TU Dresden von 2008 hat sich an der Begeisterung nichts Zeugnissen der DDR- Richard Wagner forderte ein separates Konzerthaus, schon dageändert: Über 70 Prozent der Baugeschichte sollte mals ist es nichts geworden«, Bürger sind für den Erhalt des die Zeit der Bilderschimpft Architekt Hänsch. Kulturpalasts in seiner jetzigen stürmerei vorbei sein«, Der Stadtratsbeschluss zum Form. Der Streit um das Haus Kulti-Umbau fiel 2008: Mehrwird emotional geführt. Jüngst, mahnt die Sächsische zwecksaal raus; Konzertsaal rein; auf einer eilig einberufenen BürAkademie der Künste Hülle bleibt. 70 Millionen Euro gerversammlung, meldete sich ein sollen in den Umbau des Kulturfrüherer Bauarbeiter, der in den sechziger Jahren selbst am Haus mitgebaut hatte. Er palasts für die Philharmonie investiert werden. drohte, eine Mauer um den »Palast« zu errichten, Knapp die Hälfte des Geldes kommt von der Stadt, sollte jemand versuchen, das Gebäude auch nur an- den Rest hat der Freistaat in Aussicht gestellt. Es gibt zurühren. Dabei muss der Kulturpalast dringend allerdings bis heute keine Fördermittelzusage. Das saniert werden. 2012 läuft seine Betriebsgenehmi- Hochbauamt behauptet, der Umbau sei gar günstiger gung aus, weil er die Brandschutzvorgaben der als eine bloße Sanierung des alten Kultis. Hänsch neuen Zeit nicht erfüllt. Wäre der Bau barock – man hält das für Unsinn. Doch eine seltene Allianz aus hätte ihn wohl längst gerettet. Dresden aber, scheint FDP, CDU und Grünen treibt das Projekt voran. Die Umbau-Ausschreibung gewann der Hames, wählt zwischen seinen Vergangenheiten. Die Dresdner Philharmonie, die sich heute den burger Architekt Meinhard von Gerkan. In seinem Kulturpalast noch mit der Populärkultur teilt, jubi- Entwurf sind die Zuschauerränge wie Weinbergterliert über den geplanten Totalumbau, der einen rassen angeordnet, die Bühne rückt in die Mitte des langen Streit beenden könnte. »Hochwertige Säle Raumes. Ein schöner Saal. Aber klingt er auch schön? kennen die Musiker nur von ihren Tourneen«, sagt Hartmut Haenchen, Dirigent und einstiger IntenAnselm Rose, Chef der Philharmonie. Dabei wolle dant der Dresdner Musikfestspiele, gibt zu bedenken,

VON JULIANE SCHIEMENZ

die Optik sei im Gerkan-Plan wichtiger als die Akustik. Erst nachträglich habe eine Firma überprüft, ob die schicke Architektur Spitzenklang bietet. »Damit disqualifiziert sich der Entwurf als Saal mit Weltklasse-Akustik selbst«, sagt Haenchen. Der neue Saal wird etwa 500 Menschen weniger fassen als der alte. Separate Säle für Proben und Kammermusik fehlen. Die Hülle des alten Kulturpalasts begrenzt die Möglichkeiten. Nicht zuletzt deshalb lehnt es die Sächsische Staatskapelle ab, das Haus mitzunutzen. Die Populärkultur indes fühlt sich abgeschoben. Der Konzertveranstalter Bernd Aust bezweifelt, dass die Messehalle den Kulturpalast ersetzen kann: So optimale Bedingungen wie in der Dresdner City, sagt er, »habe ich in keinem anderen Saal Deutschlands erlebt. Wenn wir mit dem Rückbau unseren Standortvorteil aufgeben, dann werden die Künstler in anderen Städten auftreten, so einfach ist das.« In der Messehalle, dem Ausweichstandort, ist die Akustik besonders mies, es muss teuer nachgerüstet werden. »Das ist momentan eher eine große Garage«, gesteht selbst Messechef Ulrich Finger ein. Die nächste Baustelle. So ist auch Aust gespannt auf Hänschs Prozess. Und für den Architekten ist es die letzte Hoffnung: Das Haus der Presse, einer von Hänschs wichtigsten Bauten, wurde vor Jahren bereits massiv umgestaltet. Seine Häuser in der Webergasse hat man gar abgerissen. »Das war jedes Mal wie ein kleiner Infarkt«, sagt Wolfgang Hänsch. »Infarkte schmerzen, aber töten nicht.« Nun jedoch geht es um sein Meisterstück. »Die Stadt macht mit dem Tafelsilber, den Gebäuden aus der monarchistischen Zeit, weltweit Werbung, aber beachtliche Leistungen der Nachkriegsarchitektur werden verändert, weil sie in der DDR-Zeit entstanden sind«, sagt Hänsch. Der Gerichtsprozess, glaubt Hänsch, »wird ein hartes Aufeinanderprallen.« Ausgerechnet Meinhard von Gerkans Beispiel könnte ihm Hoffnung machen. Der verklagte vor einigen Jahren die Deutsche Bahn. Sie hatte im Berliner Hauptbahnhof das Dach verkürzt – und dadurch Gerkans Urheberrecht verletzt. Der Architekt siegte.

ie Sache könnte als »Hanoi-Erlebnis« in die sächsische Politikgeschichte eingehen. Oder als »Ho-Chi-Minh-Verhalten«. Es geht um ein Phänomen, das bei Stanislaw Tillich auftritt, wenn er im Dienste des Freistaats das Ausland bereist; wie vorige Woche, als der Ministerpräsident tagelang durch Vietnam tourte (ZEIT Nr. 14/11). Danach fand selbst die stets scharfzüngige Grünen-Fraktionschefin Antje Hermenau, die den CDU-Politiker in Asien begleitet hatte, anerkennende Worte: Tillich gebe für Sachsen einen prima Außenminister ab. Ähnlich unerhörtes Lob kam vor vier Monaten vom Oppositionsführer André Hahn (Linkspartei) nach einer wirtschaftspolitischen Dienstreise mit Tillich nach Abu Dhabi und Qatar. Statt wüster Worte über den Regierungschef, wie sie in Dresden an der Tagesordnung sind, stand am Ende das Urteil: tadellose Vorstellung. Tatsächlich macht Tillich als führender Außendienstmitarbeiter des Freistaats eine gute Figur, die seine politische Performance in der Heimat locker übertrifft: Geduldig lächelnd, absolviert er den Austausch von diplomatischen Höflichkeiten bei Scheichs oder Ministern (anders als in Dresden zeigt er in Ho-Chi-Minh-Stadt kaum Berührungsängste gegenüber Postkommunisten). Schnell findet er jeweils einen persönlichen Draht. Geistesgegenwärtig flicht er in Gesprächen die Vorzüge von Waren und Wissen made in Saxony ein. Tillich ist bestens vorbereitet, in Hanoi weiß er etwa den Prozentanteil der Wasserkraft an Vietnams Energiemix auswendig. Es ist, als stehe Sachsens Premier im Ausland ständig unter Strom. Anders als jener Tillich, der kürzlich die Jahrespläne seiner Regierung so teilnahmslos referierte, als lese er die EU-Gurken-Verordnung vor. Wieso aber läuft der Ministerpräsident außer Landes zu Hochform auf? Mag sein, dass Tillich sich auf internationalem Parkett sicherer fühlt, seit er im Jahr 2009 zur allgemeinen Überraschung seinen Vertrauten Johann-Adolf Cohausz, einen erfahrenen Diplomaten, zum Regierungssprecher machte; überdies kann er sich auf das tüchtige Auslandsreferat seiner Staatskanzlei stützen. Mag sein, dass die Tausende Kilometer Abstand zum oft als lästig empfundenen Koalitionspartner FDP Tillich beflügeln. Mag sein, dass das Wesen der Auslandstrips seinem Wesen entgegenkommt: »Seid nett zueinander« lautet das Prinzip dieser Reisen; Konfrontationen sind nicht vorgesehen. Konfrontationen geht Tillich im politischen Alltag gerne aus dem Weg. Ihm liegt eher das Präsidentielle. Erfolge im Außendienst misst Tillich auch an seinem Zugang zu Mächtigen. Gerade war er zu Gast bei Pekings PropagandaChef. Es soll nett gewesen sein. Als der regimekritische Künstler Ai Weiwei verhaftet wurde, war Tillich schon außer Landes. STEFAN SCHIRMER

Beschwingt: Tillich beim Zwischenstopp in Hongkong

Wir hängen an gutem Design

Nr. 15 7. 4. 2011

Auf zu unserem großen Kochwettbewerb! Seite 48

Eine Garderobe, drei Messer und 96 andere Dinge zum Leben Ein Designheft

Inhalt Nr. 15 DAS DESIGNHEFT Was brauchen wir wirklich zum Leben? Weniger, als man glaubt. Wir haben genau 100 Dinge gefunden: Vom Abfalleimer bis zur Zahnbürste, vom Bett bis zum Kleiderschrank. In diesem Heft sind unsere Design-Favoriten versammelt, die schönsten und praktischsten Alltagsgegenstände. Alles, was eine Person braucht (ausgenommen Kleidung und jene Dinge, die man in einer Mietwohnung ohnehin vorfindet). Mehr als 100 Gegenstände muss man also gar nicht besitzen – es kommt nur darauf an, dass es die richtigen sind. Auf den Rest könnte man verzichten. Aber muss man zum Glück nicht. Ab Seite 14

Titelfotos Linis Bill

Außerdem in dieser Woche:

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Martenstein reist nach Südafrika, wo ihm vieles bekannt vorkommt

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Diesmal erheitert uns ein »William & Kate«-Geschirrtuch

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Viele heißen Meier, Meyer, Mayer und Maier – wo leben sie?

13

Was macht Karl-Theodor zu Guttenberg eigentlich im Wald?

50

Dave Grohl träumt: »Oh Gott, mein Leben wird immer komplizierter«

Und so sieht unser Zeichner Ahoi Polloi die Welt

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HARALD MARTENSTEIN

Über Sexismus, Rassismus und Kapitalismus in Südafrika: »Im Kinderladen ertönte der Karnevals-Hit ›Rucki Zucki‹« Was meinen Migrationshintergrund betrifft, bin ich Afrikaner, ich bin der weiße Massai. Mein Großvater lebte in Namibia, mein Vater lebt in Südafrika. In der vergangenen Woche war ich in Südafrika unterwegs. Ich durfte eine Studentendelegation auf einer Studienreise begleiten. Die Studenten erforschten Kultur, Politik und Soziales. In Kapstadt hörten wir einen Vortrag, es ging auch um den Toilettenskandal, der Südafrika seit Längerem erschüttert. Die örtliche Regierung wollte in einem der Slums, die hier »Townships« heißen, Toiletten für die Bewohner errichten, mit Wasserspülung. Das Geld reichte aber nur, um für jeweils fünf Häuser eine Toilette zu bauen. Die Regierung hatte die Idee, nur die Leitungen zu verlegen, die Installationen einzurichten und das Fundament zu gießen. Das Häuschen sollten die Bewohner selber hinstellen. Die meisten sind arbeitslos, Zeit ist vorhanden. Auf diese Weise konnte man, so der Plan, für jedes Haus eine Toilette bereitstellen. Die Regierung war stolz auf ihre Kreativität. Kaum waren die ersten Fundamente fertig, tauchten in den Zeitungen Fotos auf. Sie zeigten Bewohner der Township, die vor Blicken fast ungeschützt, quasi auf offener Bühne, ihr Geschäft verrichteten. Sie sahen unglücklich aus. Sie benutzten die Installationen, das Häuschen aber fehlte. Dies sei, so erklärte die Opposition, ein Beweis für den Rassismus der Regierung. Nach Ansicht der Regierung hätten schwarze Menschen keinen Anspruch auf Schutz ihrer Intimsphäre. Die Provinzchefin Helen Zille ist nämlich weiß. Ein anderer Vortrag ging über Frauen. Eine afrikanische Feministin sprach über Winnie Mandela, Spitzenpolitikerin im Ruhestand. Winnie Mandela war in einen Kriminalfall verstrickt. Sie

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hat einen 14-Jährigen von ihrem Leibwächter ermorden lassen und wurde deshalb zu einer Geldstrafe verurteilt. Ich bin kein Jurist, aber dies scheint mir kein übertrieben hartes Urteil zu sein. Sie ist aber immer noch bis oben hin voller Charisma und sehr beliebt. Die Feministin erklärte, die Verurteilung sei ein weiterer Beweis dafür, dass die Sexisten Frauen in Führungspositionen einfach nicht ertragen. Falls Winnie Mandela die Tat begangen habe, wofür manches spricht, dann nur deshalb, weil sie unter dem Apartheid-Regime seelische Schäden erlitten hat. Schuld an Winnies Tat hätten erstens die Männer, zweitens die Apartheid. Ich dachte an Berlusconi, an Berlusconis juristischen Problemen sind bekanntlich die Frauen schuld, warum lassen sie ihn nicht in Ruhe. Dann sprach ein Professor über Simbabwe. In Simbabwe wurden die weißen Farmer vertrieben, jetzt ist der Staat pleite, und viele hungern, für die Freunde des Präsidenten trifft dies nicht zu, sie haben den Spitznamen »die fetten Katzen«. Die fetten Katzen schnurren den ganzen Tag. Der Professor sagte, die Krise der Landwirtschaft hänge eher damit zusammen, dass Simbabwe keine Entwicklungshilfe mehr bekommt. Wenn die Kapitalisten Simbabwe genug Geld geben würden, dann hätte Simbabwe keinerlei finanzielle Probleme. Eine gewisse Logik kann man dieser Argumentation nicht absprechen. Wir waren auch in einem Kinderladen. Die Kindergärtnerin machte Musik an. Es ertönte der Mainzer Karnevals-Hit Rucki Zucki, und zwar mit englischem Text, der Refrain lautete »Räcki Zäcki, Räcki Zäcki«. Die Kinder tanzten den Räcki Zäcki, und ich dachte, in Afrika gibt es exakt die gleichen Probleme wie bei uns auch. In erster Linie sind es Sexismus, Rassismus und Kapitalismus.

Zu hören unter www.zeit.de / audio Illustration Fengel

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Die ZEITmagazin-Entdeckungen der Woche

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Ach, wie lieben wir NAGELLACKFarbnamen – etwa diese aus der Kollektion Wonder Woman von Mac. Der rote heißt »Obey me« (»Gehorch mir«), der blaue »Spirit of Truth« (»Geist der Wahrheit«) »Tanze, wenn das Glück dir pfeift.« Ein Ratschlag aus dem schönen BUCH »Deutsche Sprichwörter« (Reclam Verlag)

Die Berliner Designerin Svenja Specht hat schon mit Topshop und Onitsuka Tiger zusammengearbeitet. Sie macht auch großartige MODE für ihr Label Reality Studio – wie diese Decke, die man als Plaid tragen kann

»Ich mache kein Yoga, rauche nicht, trinke weder Alkohol noch Kaffee. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich Französin bin.«

Wir erinnern uns mit Gruseln an die »Charles & Diana«-Tassen von 1981 und freuen uns über dieses »William & Kate«-Geschirrtuch (www.benpentreath.com)

EMMANUELLE ALT, die neue Chefredakteurin der »Vogue Paris«

Wie das mit Jesus wirklich war, erklärt James Frey pünktlich zu Ostern in seinem neuen ROMAN »The Final Testament of the Holy Bible« (herausgegeben von der Gagosian Gallery)

Die »Minibar for the Mind« in den Zimmern der Morgans-Hotels enthält Lesetipps und APHORISMEN, unter anderem von Samuel Beckett. Erst Minibar leer trinken, dann darüber nachdenken, was Beckett mit »besser scheitern« gemeint hat

Fotos Reality Studio; mac cosmetics; Ben Pentreath Ltd; purplepr.com;

Deutschlandkarte

MEIER, MEYER, MAYER UND MAIER

Die Verteilung und Verbreitung der Namen: Maier Mayer Meier Meyer

Es ist kein großer Zufall, dass Lena MeyerLandrut, die Deutschland auch in diesem Jahr beim European Song Contest vertritt, Meyer heißt. So heißen Niedersachsen oft, weil es dort früher schon viele Bauernhöfe gab. Alle Schreibweisen dieses in Deutschland (nach Schmidt) zweithäufigsten Namens gehen nämlich auf den lateinischen maior zurück,

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den Vorsteher eines Bauernhofs. Der gleiche Beruf hieß im heutigen Hessen und nördlichen Bayern Hofmann und im Osten Schulze. Namenkundler sprechen von einem »Meyer-Loch« mitten im Land. Wie man Meyer schrieb, war, als man Namen erfand, nirgends festgelegt. Die Norddeutschen bevorzugten – warum, weiß niemand – »ei« und »ey«, die

Südwestdeutschen »ai« und »ay«. Diese Verteilung hat sich bis heute gehalten, weil es über die Jahrhunderte nur wenige Meyers und Co. in die Fremde zog. Damals waren Doppelnamen unüblich, und niemand ahnte, dass man sich einmal so umständlich vorstellen müsste: Meyer-Landrut, Landrut ohne H, Meyer mit E und Ypsilon. Matthias Stolz

Illustration Jörg Block Quelle »dtv Namenkunde«; K. Kunze

Gesellschaftskritik

Wald is all you need: Karl-Theodor zu Guttenberg meldet sich zurück

Über Guttenbergs Wald Waldfriedhöfe und Waldpädagogik sind nicht zufällig deutsche Erfindungen. Keine andere Kultur pflegt ein so inniges Verhältnis zum Wald wie die deutsche. In keiner anderen wählen so viele Dichter und Denker (Martin Heidegger, Ernst Jünger, Arno Schmidt, Botho Strauß) ein zwischen Wald und Wiesen verstecktes Domizil als Ort des Lebens und der geistigen Entfaltung. Dass sich Karl-Theodor zu Guttenberg jüngst für den Zuspruch seiner zigtausend Facebook-Freunde mit einem Video bedankte, das vor dem Hintergrund eines Waldes (oder Waldparkplatzes) aufgenommen wurde, lässt verschiedene Deutungen zu. Vielleicht möchte Guttenberg, das wäre eine Lesart, seine Bereitschaft demonstrieren, sich an deutschen Dichtern und Denkern ein Beispiel zu nehmen und in der Waldeinsamkeit jene intellektuelle Muße zu suchen, die ihm bei der Arbeit an seiner Promotion bekanntlich fehlte. Guttenberg sitzt, anders gesagt, nach. Er erledigt seine in der Vergangenheit versäumten Hausaufgaben. Hierin lässt sich ein Zeichen von Demut erkennen. Sie aber ist bei Guttenberg auf verwirrende, schwer unterscheidbare Weise häufig verschmolzen mit ihrem Gegenteil, dem Hochmut. Die Ambivalenz

Foto YouTube

zwischen dienender und dünkelhafter Haltung prägte seine politische Karriere. Sie trug nicht unwesentlich zum viel beschworenen Charisma des oberfränkischen Aristokraten bei, und sie zeigt sich auch im Facebook-Video. Denn der Wald erinnert im Fall Guttenberg ja nicht nur an geistige Abgeschiedenheit. Er erinnert vor allem auch an die materielle Unabhängigkeit seines jahrhundertealten Adelsgeschlechts. Zum Familienbesitz der Guttenbergs gehören außer Schlössern, Weinbergen und Unternehmensbeteiligungen nun einmal einige tausend Hektar Wald. Indem Karl-Theodor zu Guttenberg den Wald als Kulisse wählt, stellt er klar, was er ursprünglich ist: ein millionenschwerer Landbaron. Weder dem Bankkonto noch dem Ego eines solchen hat das Politikgeschäft etwas zu bieten, was er nicht schon vom Tag seiner Geburt an in großem Umfang besessen hätte. Er ist auf das Ministergehalt so wenig angewiesen wie auf Chauffeur und Abgeordnetendiäten. Mag es sein ‒ so fragt man sich ‒, dass er uns mit seinem Auftritt in waldiger Kulisse noch einmal zeigen wollte: Ich bin aus anderem Holz geschnitzt als all die anderen Politiker, ich brauche Amt und Würden nicht, herrsche ich doch über mein eignes kleines Reich. Ursula März

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Eine Garderobe »Hang it all« von Eames für Vitra

Der erste unserer 100 Einrichtungsgegenstände: Diese Garderobe haben Charles und Ray Eames 1953 für ihre Kinder entworfen – aber natürlich, um Kleider dran aufzuhängen. Bunt und immer noch schön

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100 Dinge, die man braucht Was gehört in eine Wohnung? Nur die Stücke, die wir hier zeigen – sie sind die schönsten

Fotos Linus Bill Illustrationen Thorsten Klapsch 15

Ein Buch Gesammelte Werke von Shakespeare

Eine Pendelleuchte für das Wohnzimmer »E27 Socket Lamp« von Muuto

Dass die einfachsten Dinge immer die schwersten sind, erkennt man auch daran, wie lange man auf eine so schöne, schlichte Lampe warten musste. Endlich ist sie da – ausgerechnet jetzt, da es mit der Glühbirne zu Ende geht. Diese Pendelleuchte ist im Prinzip nichts anderes als ein Lob des reinen Glühfadens. Sie ist die erste von vier Lampen in dieser Strecke, denn eine Wohnung ist ja groß. Die Pendelleuchte will vor allem eines: Licht ins Dunkel bringen, was sie auf ziemlich unaufgeregte Weise tut, indem sie an das Provisorische der ersten Nacht nach einem Umzug erinnert. Ausgedacht hat sich die Leuchte der schwedische Designer Mattias Stahlbom, ein Mitglied jener Kreativen, die man New Nordic nennt und die die große Tradition des skandinavischen Designs weiterführen. Aber Tradition hin oder her: Wer es doch ein bisschen crazy haben möchte, der kann bei Fassung und Kabel dieser Leuchte zwischen allen möglichen Farben wählen: Gelb, Grün, Violett, Grau, Blau, Schwarz, Weiß. Das Kabel ist übrigens vier Meter lang.

Ein Bett »Mo« von Philipp Mainzer für e15

Im Bett verbringen wir mehr Zeit als an jedem anderen Ort der Welt. Im Bett wollen wir uns sicher fühlen und nicht von der Apokalypse träumen. Deshalb sollte man sich ein Modell wählen, das nie den Eindruck macht, dem Zusammenbruch nahe zu sein. Das »Mo« von e15 ist aus massiver Kerneiche, extrem stabil – und sieht auch nach 20 Jahren nicht abgegriffener aus als man selber.

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Zwar gibt es heute alles Wissen im Internet. Trotzdem sollte jeder ein Buch besitzen, in dem er schmökern kann, wenn der Computer mal aus ist. Tatsächlich gibt es ein Buch, das ausreicht, den Menschen bis ans Ende seiner Tage zu erheitern, zu erschüttern, zu beglücken: William Shakespeares gesammelte Werke. Wer sich einlässt auf Shakespeares Komödien, Dramen, Sonette, wird mit Erlebnissen belohnt, die man nicht googeln kann.

Eine Tubenseife »Nummer 18« von San Floriano

Diese Seife duftet nach Jasmin, Rosengeranie und erdigen Hölzern und enthält Olivenöl und Kakaobutter. Weder Tenside noch Konservierungsstoffe verstecken sich in dieser Mischung. Sie verbreitet Freude bis zum letzten Tropfen. Oder bis man die Seifentube mal mit der Zahnpastatube verwechselt.

Ein Buch genügt, den Menschen bis ans Ende der Tage zu erschüttern

Ein Einwegfeuerzeug von BIC

Man verliert sie oft, also sollten sie billig sein – aber nicht beliebig. Der Klassiker unter den Feuerzeugen stammt von BIC und ist Teil der Sammlung des New Yorker Museum of Modern Art.

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Ein Bürocontainer »Boby« von Joe Colombo für B-Line

Als der Visionär Joe Colombo 1970 den Rollcontainer Boby entwarf, hatte er den Menschen der Zukunft im Sinn – deswegen wählte er auch Kunststoff als Material. Der Designer sah sich als »Entwickler der Umgebung der Zukunft« und entwarf dynamische Möbelstücke, wandelbar und flexibel. Ob wir wirklich die Menschen sind, die Colombo im Sinn gehabt hat, wissen wir nicht – aber zumindest haben wir dieselben Probleme. Jeder Mensch kämpft mit einem Wust von Kleinkram, Unterlagen und Papieren, die man alle in ein Behältnis stopfen möchte, aus dem sie nie mehr ausbrechen. Eine Art moderne Büchse der Pandora. Schön, dass dieses Problem seit mehr als 40 Jahren gelöst ist. Denn Boby nimmt wirklich alles vom Stift bis zur Papierrolle in seinem Bauch auf. Wenigstens eine Konstante in dieser Welt, die sich ständig wandelt.

Der Designer des Containers hatte den Menschen der Zukunft im Sinn Eine Zahnpasta von Marvis Mint

Der Mundraum ist heute ständigen Revolutionen unterworfen: 3-D-Whitening-Formel, Mikrokristalle mit Massageeffekt – Zahncremes haben heute so viele Zusätze, dass die empfohlenen »2-mal 2 Minuten am Tag« gerade mal zum Lesen der Tubenaufschrift ausreichen. Ob die tollen Features zu schöneren Zähnen führen, ist ungewiss – ganz bestimmt aber sind die Tuben heute hässlich wie nie. Außer der von Marvis Mint aus Florenz. Und auch diese Zahnpasta macht die Zähne sauber – wenn man denn putzt (2-mal 2 Minuten). Ein Fernseher Samsung LE 40 C750

Eine Deckenlampe für jeden Raum Halbkugel, matt, Glashütte-Limburg

Natürlich gibt es alle sechs Monate einen noch tolleren, noch besseren, noch schöneren Fernseher, aber wenn man genau jetzt die Zeit anhält, dann kann man nur diesen Fernseher kaufen, der in Kategorien wie Preis, Design, Handhabung, Ausstattung nicht zu schlagen ist. Wenn man allerdings unbedingt was zum Meckern sucht, dann vielleicht, dass die Fernbedienung dieses Gerätes ein müder, alter, dummer Witz ist.

Auch im Lampenbereich gibt es Allzweckwaffen – diese hier wäre eine: Ob an der Decke oder an der Wand, ob im Schlafzimmer oder in der Küche oder im Flur – diese Lampe dient dem Raum und nicht umgekehrt. Und das Licht ist warm und trotzdem hell.

Ein Messbecher »Rosti« von Mepal

Ohne Messbecher ist man beim Kochen verloren. Wer einen guten Messbecher hat, kann an ihm nicht nur ablesen, wie viel ein halber Liter ist, sondern hat auch allerlei andere Schöpfmaße für Grundnahrungsmittel wie Mehl und Zucker. Wer den besten aller Messbecher hat, kann von ihm lernen, dass Mehl auf Italienisch »farina« heißt. Zwei Handtücher »Grace« von Luiz

Eine Waschmaschine Miele ECO W 5000 WPS

Wer aus der Dusche steigt, ist einen Moment lang ganz allein mit sich und seinem alternden Körper: mit Falten, Orangenhaut oder Stellen, wo keine Haare mehr wachsen. Dann möchte man getröstet werden, aber leider ist nicht immer jemand da, der das übernehmen würde. Helfen kann da ein großes, sehr weiches Handtuch wie das Grace von Luiz. Sobald man sich, umschmiegt von diesem Riesenhandtuch, im Spiegel erblickt, findet man sich gleich wieder viel schöner.

Waschmaschinen sahen noch nie gut aus. Der erste Vollautomat von Miele 1956 war ein weißer Kasten mit Loch im Bauch – und so ist es auch heute noch. Doch die Schönheit einer Maschine erklärt sich von innen heraus. Und wenn man Waschmaschinenreparateure nach den inneren Werten einer Miele-Maschine fragt, wird ihre Stimme weich wie Wasser nach der Beigabe von Calgon: Die Waschmaschinen-Männer erzählen dann, wie viel schönes, schweres Metall die Apparate im Bauch haben und wie logisch alles angeordnet ist. Sie schwärmen davon, dass die ganze Konstruktion auf Langlebigkeit und Zuverlässigkeit ausgelegt sei. Eine Waschmaschine, die verspricht, dass man sich lange Zeit keine Gedanken mehr über Waschmaschinen machen muss. Miele-Waschautomaten kommen aus Gütersloh, der unaufregendsten Stadt Deutschlands. Wer sich einen kauft, holt sich ein kleines bisschen Gütersloh ins Haus. Mehr will niemand im Leben haben, aber weniger auch nicht.

Vielleicht sollte man nur so viel Geld besitzen, wie hier reinpasst

Eine Geldbörse »Two-Sided Zip Wallet« von Comme des Garçons

Hat man kein Geld, sinkt die Laune, hat man sehr viel davon, macht man sich auch Sorgen. Es kommt auf das richtige Mittelmaß an. Vielleicht sollte man immer gerade so viel besitzen, wie in die ReißverschlussGeldbörse von Comme des Garçons hineinpasst: ein paar Münzen, ein paar Scheine und eine Kreditkarte. Wenn die Stimmung trotzdem aus Geldmangel düster ist, helfen vielleicht die vielen Farben, in denen das Portemonnaie erhältlich ist. Jede Saison kommen neue Varianten dazu. Und weil es für einen Comme-des-Garçons-Artikel mit rund 60 Euro sehr günstig ist, kann man sich öfter mal ein neues leisten.

Ein Kochlöffel »Nummer 621« von Scanwood

Foto Jens Bangbo; ScanWood

Ein Hund kam in die Küche / und stahl dem Koch ein Ei / da nahm der Koch den Löffel / und schlug den Hund zu Brei: Aus diesem brutalen Kinderlied lässt sich ersehen, dass Hunde nicht immer überall willkommen waren – und auch welche Stabilitätsanforderungen einst an Kochlöffel gestellt wurden. Heute sollten Löffel einzig zum Traktieren von Eintöpfen verwendet werden. Kaputt gehen dürfen sie trotzdem ein Leben lang nicht. So wie dieser Löffel aus Olivenholz.

Kochlöffel sollte man einzig zum Traktieren von Eintöpfen verwenden Eine Tischlampe »Falling Star« von Tobias Grau

Eine kleine Leuchte braucht der Mensch auf dem Tisch, mehr nicht. Nur das Buch soll ausgeleuchtet werden, das man gerade liest. Der Lichtkegel soll genauso auf das Wesentliche konzentriert sein wie man selbst. Entsprechend reduziert ist diese Tischleuchte von Tobias Grau. Eine Linse bündelt das LEDLicht, das einen angenehm warmen Ton hat. Normalerweise machen LED-Leuchten wenig Freude, weil ihre Lichtleistung im Vergleich zur klassischen Glühbirne oder zur Halogenleuchte gering ist. Die »Falling Star«-Tischleuchte nimmt sich aber nicht mehr vor, als sie zu leisten imstande ist. Sie ist sofort hell – anders als die verbreiteten Energiesparlampen. Sie brennt nie durch, und sie macht keinen Kummer, wenn Nachtfalter gegen ihren Leuchtkopf fliegen. Am fallenden Stern kann sich kein Falter verbrennen: Poetischer als diese Lampe kann kein Buch sein.

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Eine Gesichtscreme »Quitte« von Dr. Hauschka

Ein Fußabtreter »Chunky Bouclé« von Habitat

Soll man doch im Ausland darüber lachen, dass wir Deutschen nicht verstehen, warum man einen Doktortitel nicht auf eine Visitenkarte drucken sollte. Oder auf eine Cremetube. Dr. Hauschka ist inzwischen auch in New York eine Autorität. Naturkosmetik aus Eckwälden bei Esslingen, das klingt auf der ganzen Welt exotisch. Nur nicht in Deutschland. Uns verführt die Schlichtheit dieser Creme. Riecht gut, macht weiche Haut.

Fußmatten tragen heute Aufdrucke wie: »Oh, nein, Du schon wieder«, »Meine Geräte sind angemeldet« oder »Bier steht im Kühlschrank«. Damit sagen sie mehr über ihren Besitzer, als dem recht sein kann. Diese Matte hält den Dreck ab. Auch verbalen.

Ein Wäschekorb »Two Hands« von Authentics

Industriedesigner gestalten nur noch selten Alltagsgegenstände. Eine Ausnahme ist Konstantin Grcic, der schon früh für den Kunststoffhersteller Authentics den Wäschekorb »Two Hands« entwarf, der die Form eines Weidenkorbes aufgreift. Dieser Korb ist nicht nur praktisch – er entbindet einen auch davon, die Wäschearbeit zügig hinter sich zu bringen. Einen Korb, der so schön aussieht, kann man auch mal gefüllt irgendwo herumstehen lassen. Ein Bücherregal »Billy« von Ikea

Ein Beistelltisch »FAT« von Patricia Urquiola für B&B Italia

»Wer ein anderes Bücherregal kauft als Billy, ist ein Idiot«, hat Florian Hufnagl, der Hüter einer der größten Designsammlungen, gesagt. Billy wurde 1979 von Ikea auf den Markt gebarcht – als Abbild des Systemregals »T550«, das Bruno Paul 1908 entworfen hatte. Es wurde nie mehr ein besseres und billigeres Bücherregal erfunden. Die Vernünftigen freuen sich darüber, kaufen Billy und widmen sich wichtigeren Fragen. Etwa dem Aufbau.

Der Couchtisch ist dem Menschen nützlich, während sich dieser auf dem Sofa fläzt. Das führt dazu, dass er im Grunde wenig beachtet wird, denn die meiste Zeit des Lebens verbringt man nicht auf dem Sofa. Allerdings fällt einem sofort auf, wenn er fehlt. Wer, auf dem Sofa sitzend, die Teetasse auf den Fußboden stellen muss, ist gezwungen, sich ungemütlich vorzubeugen. Und stößt er die Tasse mit dem Fuß um, der Tee fließt über den Teppich: Gemütlichkeit ade. Dann besser einen kleinen Tisch, am besten den hier von der Spanierin Patricia Uriqiola.

Ein Esstisch »BAC« von J. Morrison für Cappellini

Am Tisch kommen die Menschen zusammen. Und ein guter Esstisch sollte auch alle Menschen verkraften können, die sich an ihn setzen, sonst kommt keine Gemütlichkeit auf. Er soll keine Glasplatte haben, die einen frösteln lässt, und es darf sich nicht der Abdruck jeder Tasse auf seiner Oberfläche abbilden. Der Tisch BAC, den Jasper Morrison für die italienische Marke Cappellini entworfen hat, erfüllt all das. Er hat eine Oberfläche aus Linoleum und Beine, an denen man sich nicht die Knie stößt. Ein herzlicher Gastgeber. Ein Teppich »Avedon« von Minotti

Ein Heimkino Samsung HT-D5100

Wer nackten Fußboden schön findet, soll in einen Ausstellungsraum gehen. Alle anderen brauchen einen dicken Wollteppich, der bequem genug ist, dass man darauf liegend seinen Shakespeare lesen kann.

Das hier ist die ideale Anlage für alle, die auch nicht wissen, was Hi-Fi eigentlich bedeutet: Ziemlich unauffällig lassen sich die sechs Boxen und der Blue-Ray-Player in jedes Wohnzimmer integrieren. Und hässliche Stereoanlagen fallen dank Radio und iPod-Anschluss sowieso weg.

Dieses Sofa ist ein Ausgangspunkt für einen aufregenden Abend Ein Sofa »Strictu Sensu« von Ligne Roset

Ein Sofa zu finden, das zu einem passt, ist ungefähr so schwierig, wie einen Partner zu finden, aber es bleibt einem wahrscheinlich länger erhalten. In der Liebe ist es meist falsch, zu hohe Ansprüche zu haben. Bei Sofas dagegen ist es genau die richtige Haltung, sehr wählerisch zu sein. Denn am Ende einer zermürbenden Tour durch unzählige Einrichtungshäuser könnte dieses Sofa stehen: Das Strictu Sensu von Ligne Roset ist das richtige Möbel für alle, die es nicht nur bequem haben wollen, sondern auch eine ästhetische Herausforderung suchen. In dem leicht schimmernden weißen Stoff, in dem es einfach am besten aussieht, verströmt es die Eleganz der sechziger Jahre, die Füße verweisen dagegen auf Zeitgenossenschaft. Man lümmelt darauf nicht herum, sondern sitzt relativ aufrecht. So wird man nie dazu verführt, den ganzen Abend sitzen zu bleiben. Es ist ein Sofa, das eher Aufbruch verspricht als Fernsehödnis. Es ist mehr ein Ausgangspunkt für einen aufregenden Abend als eine Endstation. Und man freut sich über seinen Anblick ganz besonders, wenn man dann spät in der Nacht wieder nach Hause kommt.

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Ein Regenschirm »Pagoda Shaped Black« von Lisbeth Dahl

Es ist normalerweise schwer, mit einem Regenschirm würdevoll auszusehen – außer mit diesem, der aussieht wie ein kleines Tempeldach.

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Ein Dosenöffner »Profi« von Silit

Wer den falschen Dosenöffner kauft, büßt ein Leben lang. Er geht nie kaputt, es gibt nie Grund, einen neuen zu kaufen. Es gibt welche, bei denen man einen Dorn mit Wucht in die Dose rammen muss, und solche, die den Dosendeckel in den Ravioli versenken. Der Öffner von Silit schneidet die Dose unterhalb des Randes auf, der Deckel lässt sich einfach abheben. Wer dieses Gerät erwirbt, geht mit der Gewissheit ins Grab, wenigstens eine richtige Entscheidung im Leben getroffen zu haben. Ein Telefon »Gigaset« von Siemens

Ein Wasserkocher »Bistro« von Bodum

Eigentlich hatten wir ein anderes Telefon ausgewählt: Ein wunderschönes neues Gerät, das einem Freudentränen in die Augen treibt. Ein Gerät – viel zu schön zum Telefonieren! Und tatsächlich: Konnte man auch nicht. Deshalb gehört in eine Wohnung ein Gigaset. Optisch pfui – akustisch hui!

Dieses Gerät braucht der Mensch immer dann besonders, wenn er sich gebrechlich fühlt: um eine Wärmflasche zu füllen oder einen Kräutertee zuzubereiten. Der richtige Wasserkocher ist ein Freund fürs Leben, er begleitet uns bis ins hohe Alter, er verkalkt sogar solidarisch mit uns.

So ein Tisch ist ein Segen, er hilft die Arbeit zu vergessen

Ein Schreibtisch »Doppelleben« von Ahha Project

Arbeit ist das halbe Leben – aber zum Glück nicht das ganze. Aus diesem Grund führt dieser Schreibtisch ein »Doppelleben«. Am Tag ist er ein geräumiger Arbeitstisch. Aber wenn das Werk vollbracht ist, lässt er sich mit zwei Handgriffen in einen Allzwecktisch verwandeln. Dazu werden zwei Paneele an den Seiten einfach über die Arbeitsplatte geschoben. Dafür muss nicht einmal aufgeräumt werden, die Arbeitsutensilien lassen sich diskret unter der Tischplatte verstecken und bleiben dort unberührt, bis sie am nächsten Tag wieder hervorgeholt werden. Dieser Tisch ist ein Meister der Transformation, ein Held des Tages und der Nacht. Und ein Segen für alle, die einen Heimarbeitsplatz haben. Dieses Möbel nämlich ermöglicht es, dass man seine Schreibtischarbeit nicht in einem abgeschiedenen Kämmerlein verrichten muss, sondern in den gleichen Räumlichkeiten arbeiten kann, wo man auch mit seinen Freunden zusammensitzen oder zu Abend essen möchte. Und es erlaubt uns, die Arbeit kurz verschwinden zu lassen, wenn wir sie vergessen wollen.

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Eine Haarbürste »Paddle Brush« von Aveda

Um eines vorwegzunehmen, Frauen haben keine Riesenhaarbürsten, weil sie damit angeben möchten. Da habt ihr, liebe Männer, etwas falsch verstanden und vorschnell von euch auf uns geschlossen. Haarbürsten sind keine Autos und keine Armbanduhren. Und, nein, wir nehmen keine großen, schweren Haarbürsten, weil wir hoffen, daneben zarter und schlanker zu wirken (eine wirklich abwegige Idee). Es geht um etwas ganz anderes: Große, schwere Haarbürsten aus Holz regen durch die Kopfhautmassage das Haarwachstum an, und die Haare glänzen ganz wunderbar. Diese hier ist aus Honigholz und von Aveda, und wenn man sie gut pflegt, nämlich regelmäßig mit Shampoo wäscht, muss man sich nie wieder eine neue kaufen. Wäre es nicht zu seltsam, könnte man sie später sogar mal der eigenen Tochter vererben.

Frauen wollen mit Riesenhaarbürsten nicht angeben, liebe Männer! Eine Deckenleuchte für den Flur »Wan« von Flos

Ein Wäscheständer »Mama« von side by side

Wäsche aufhängen ist keine schöne Arbeit. Daher hat der Mensch ein negatives Verhältnis zum Wäscheständer. Und vermutlich hat sich deshalb niemand die Mühe gemacht, einen schönen zu entwerfen: Wäscheständer sind klapprig, aus dünnem Stahlrohr und rächen sich für ihre Hässlichkeit, indem sie alsbald zusammenbrechen. Das Modell »Mama« ist wenigstens aus Holz. Ein lebenslanger Begleiter – wenn auch ein ungeliebter.

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Nicht täuschen lassen: Diese Deckenlampe ist klitzeklein. Und genau das macht sie unwiderstehlich. Denn sie passt überallhin und drängt sich nicht auf – sie übernimmt in Räumen nicht die Hauptrolle. Aber wenn Kenner nach oben schauen und die Lampe entdecken, werden sie staunen, wie weich zentriertes Licht sein kann. Die Leuchte ist ein Entwurf von Jasper Morrison, der damit wieder einmal beweist, dass in der Reduktion der Schlüssel zum guten Design liegt. Sogar in der Reduktion von Größe. Ein Schlüsselbrett von Pension für Produkte

Leider hat sich Laotse nicht mit Schlüsselbrettern beschäftigt. Sonst hätte er gesagt: »Ohne Schlüssel findet man auch nicht durch unverschlossene Türen.« Tausende stürmen morgens fluchend durch ihre Wohnungen, weil sie ihren Schlüssel verlegt haben. Ein Brett, an dem er immer zu finden ist, ist der Steg, auf dem wir dem inneren Frieden entgegengehen.

Drei Küchenmesser »TWIN 1731« von Matteo Thun für Zwilling

Nach langen Forschungen, nach kompliziertesten Berechnungen, durchgeführt von namhaften Wissenschaftlern, steht jetzt endlich und gültig fest, wie viele Messer man braucht: nicht sieben, nicht fünf – sondern drei: ein Brot-, ein Fleisch-, ein Garniermesser.

Ein Kleiderschrank »Base« von Interlübke

Ein Schrank ist der Zauberer unter den Möbelstücken, denn er ist dazu da, Dinge zum Verschwinden zu bringen. Er muss daher selbst nicht unbedingt großspurig daherkommen, sonst wirkt der Zauber läppisch (auch wenn das natürlich Geschmackssache ist). Ein guter Schrank bleibt selbst im Hintergrund. Und solch einer ist schwer zu finden. Die meisten Modelle muten, der gängigen Mode entsprechend, zwar puristisch an, sind aber mit kleinen Details aufgehübscht – immer ein Zeichen mittelmäßigen Designs: Da gibt es Glanzlackoberflächen, oft schwarz oder grau, mit querlaufenden Metallzierstreifen, oder wuchtige Schiebetüren aus mattgrünem Glas. Wie so oft ist konsequente Reduktion eine Seltenheit, außer man ist bereit, einen sehr hohen Preis zu bezahlen. Sehr schön anzusehen ist das Einsteigermodell »Base« von Interlübke in »Kristallweiß«, einer der Standardfarben, einem leicht abgetönten Weiß. Dieser Schrank wirkt selbst in mehr als zwei Meter Breite elegant und zurückhaltend und ist imstande, erstaunlich viel Kleidung wohlgeordnet zu verschlucken. Statt der langen Griffe kann man kleine runde Aluknöpfe wählen, die vorn weiß lackiert sind. Es ist, als wären sie gar nicht da – auch ein schöner kleiner Zaubertrick.

Wer hat schon dieselbe Zahnbürste wie die Queen? Ein Laptop »MacBook Pro« von Apple

Sieht gut aus. Funktioniert. Stürzt nicht ab. Das sind schon drei Gründe für die Wahl des MacBooks als Computer. Wem das nicht reicht, der kann ausgiebig Computerzeitschriften durchlesen, Testergebnisse studieren, Grafikkarten, Schnittstellen, Gigahertz-Werte, Preistabellen vergleichen und am Ende womöglich mit einem anderen Klapprechner glücklich werden. Wer aber ein MacBook besitzt, zeigt damit, dass ihm seine Zeit für solche Forschungsprojekte zu schade ist. Und ihn andere Sachen glücklich machen. Eine Deckenlampe für den Esstisch »Flower Pot« von Verner Panton

Eine Zahnbürste von Kent Brushes

Flower Pot? Blumenkübel? Als Name für eine Lampe? Ist das Ironie? Hat das einen Sinn oder gar einen Hintersinn? Das sind so Fragen, die man sich stellt, wenn es um diese von Verner Panton entworfene Lampe geht. Der Entwurf selbst allerdings lässt keine Fragen zu, die Antworten sind offensichtlich: Ja, die muss über dem Esstisch hängen. Ja, die ist wirklich so schön wie auf unserem Bild. Nein, der Name passt.

Kent Brushes werden seit 1777 von Hand hergestellt. Die Bürstenmanufaktur ist eines der ältesten britischen Unternehmen und natürlich Hoflieferant. Wer kann schon sagen: Ich und die Queen, wir haben dieselbe Zahnbürste?

Vier Messer, vier Gabeln und vier Löffel Knife/Fork/Spoon von Alessi

Manchmal scheitert die Liebe am Besteckkasten. Wir stellen uns vor: Ein junges Paar, beide Mitte/Ende 20, zieht zusammen. Wichtige Fragen lauten: Welche Möbel kommen mit, welche werden aussortiert, welche schafft man sich gemeinsam neu an? Entscheidende Fragen lauten: Welche Bücher und Platten hat man doppelt? Wer trennt sich wovon? Und vor allem: Wer bringt das schönere Besteck mit in den neuen Haushalt? Bevor es in dieser Frage zum Streit kommt, zum ersten Zerwürfnis, zum großen Knall, raten wir dazu, gemeinsam ein neues Besteck

zu kaufen und das alte zu entsorgen. Das Besteck, auf das sich jeder einigen kann, ist dieses Set von Alessi, das so aussieht, wie Kinder Besteck malen würden: Das Messer sieht aus wie ein Messer. Der Löffel sieht aus wie ein Löffel. Die Gabel sieht aus wie eine Gabel. Das ist Besteck in seiner reinsten Form. Das ist Besteck, das nicht dem Geschmack folgt, sondern der Logik. Und das deshalb in all seiner Nüchternheit im Besteckkasten eines jungen Paares daran erinnert, wie schön es ist, wenn Dinge einfach zusammenpassen.

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PAOLO PELLEGRINS EXPEDITIONEN

Ich stand im vergangenen Jahr an einer großen Straßenkreuzung in Tokyo und beobachtete die Leute in den vorbeifahrenden Autos. Es war gegen Abend, die meisten von ihnen fuhren allein, vielleicht kamen sie gerade aus dem Büro. Ich fragte mich, was ihnen wohl

durch den Kopf gehen mochte, und beschloss, eine Serie von Porträts aus der Ferne zu fotografieren. Besonders fasziniert hat mich dieser Mann: sein ernster Blick, seine kontrollierte Haltung, seine strenge Eleganz. Sah er mich an, oder blickte er in den Rückspiegel?

An einer Kreuzung, mitten in Tokyo

Während ich diese Worte schreibe, bin ich wieder in Japan unterwegs. Diesmal, um die Zerstörung durch den Tsunami zu dokumentieren, im Norden des Landes, inmitten der Ängste vor radiozeitmagazin aktiven Strahlen. nr . 

Paolo Pellegrin, 46, in Rom geboren, ist ein vielfach ausgezeichneter Magnum-Fotograf. Er erzählt jede Woche von dem Bild, das er sich von Mensch und Natur macht. Die Fotos sind in Deutschland zum ersten Mal zu sehen

Ein Staubsauger »Dyson DC 32«

Seit es Staubsauger gibt, gibt es auch Staubsaugerbeutel. Die Staubsaugerindustrie lieferte zu jedem neuen Modell auch einen neuen Beutel, denn ein anderer Beutel passte nicht hinein. Wollte man den passenden Beutel kaufen, musste man sich lange Zahlencodes notieren, sonst war man chancenlos. Alle Ansätze, dieses Chaos zu beseitigen, wurden abgewehrt. So lange, bis ein Mann namens James Dyson uns befreite. Er entwarf einen Staubsauger, der einfach nur saugt, bei dem der Dreck in einem Tank landet und bei dem nie mehr ein Beutel gewechselt werden muss. Ein Dyson-Staubsauger saugt und saugt und saugt und saugt. Ist er auch schön anzusehen? Zumindest lässt sein Design so sehr an kräftigen Wind denken, dass der japanische Modedesigner Issey Miyake einmal eine ganze von Dyson-Geräten inspirierte Kollektion geschaffen hat. Die war zugegebenermaßen ziemlich hässlich.

Ein Bettwäsche-Set »Kaiku« von Marimekko

Bei der Wahl der Bettwäsche kann ein Mensch ähnliche Sünden begehen wie bei der Wahl der Kleidung – seit den achtziger Jahren kann man folgende Bettwäschesünden beobachten: Eine hieß »Satin«, die nächste »Weiß«, dann »Weiß« und danach »Weiß«. Die finnische

Firma Marimekko zaubert jetzt schon seit Jahrzehnten Muster auf Schürzen, Handtücher und Kleider – ihre Entwürfe für Bettwäsche aber sind die Meisterstücke. Natürlich aus Baumwolle, die Farben sind frisch. Unser Lieblingsmuster heißt »Kaiku«.

Vier Teller »Lotos Bisquit Weiß« von Nymphenburg

Ein Aschenbecher Arne-Jacobsen-Ascher von Stelton

Im Prinzip kann man ja fast alles in seiner eigenen Wohnung machen, also auch rauchen, empfehlenswert ist das aus vielerlei Gründen allerdings nicht. Und doch sollte es in jeder Wohnung einen Aschenbecher geben, ein kleines Symbol der Gastlichkeit, denn Besuch schickt man bei Kälte nicht auf den Balkon. Dieser Aschenbecher der Firma Stelton wurde 1967 von dem Dänen Arne Jacobsen designt. Zigarette und Asche verschwinden im Inneren, zurück bleibt die schöne, pure Form.

Wir haben mit kaum einem Gegenstand öfter zu tun als mit dem Teller, von dem wir essen. Warum geben wir ausgerechnet dafür kaum Geld aus? Tischkultur gibt es nicht für fünf Euro beim Discounter. Es ist nicht falsch, sich selbst etwas Besonderes zu gönnen. Denn wirklich gutes Essen schmeckt nur von gutem Geschirr. Das wohl beste Geschirr stellt die Münchner Manufaktur Nymphenburg her. Jedes Stück wird in Handarbeit gefertigt. Beim schlichten Modell »Lotos Bisquit« hebt sich der matte Tellerrand von der glasierten Essfläche ab, was die Speisen gewissermaßen umrahmt. Von so einem schönen Teller schmeckt sogar schlechtes Essen ein bisschen besser. Eine Zitronenpresse von Rösle

Schön, wie diskret diese Saftpresse in der Schublade verschwindet

Designer scheinen eine Schwäche für Saftpressen zu haben. Die wohl bekannteste ist die von Philippe Starck entworfene »Juicy Salif«: ein imposantes Objekt, das aber leider kaum funktioniert. Populär sind auch Entsafter, bei denen ein mächtiger Hebel gedrückt wird, um die Frucht bis aufs Letzte auszuquetschen. Solche Geräte haben vor allem die Aufgabe, weithin sichtbar zu demonstrieren, dass ihr Besitzer sehr gesund und vitaminreich lebt. Denn wann hat man schon mal wirklich so viel Obst, Muße und Durst beisammen, um sich mehr als nur ein Glas frischen Saft zu pressen? Viel wahrscheinlicher ist, dass man hin und wieder eine Zitrone zum Kochen entsaftet. Schön, dass es eine Saftpresse gibt, die genau dafür gemacht ist. Und danach einfach diskret in der Schublade verschwindet.

Zwei Töpfe von Le Creuset

Ein Wandspiegel »Convex« von Established & Sons

Im Prinzip sollte man sich alle Spiegel in seiner Wohnung von einem Glaser anfertigen lassen, die kleinen wie die großen. Es geht – zur Not – aber auch ohne einen Fachmann: Dieser Spiegel, der an einen Autorückspiegel erinnern soll, wirkt an der Wand wie eine Skulptur, denn er ist riesig, und er macht, tatsächlich, eine gute Figur.

Dumme Sprüche über Töpfe, auf die immer irgendein Deckel passt, sollten Küchenverbot bekommen. Ebenso wie das zwanzigste Küchengerät in der Farbe Silber. Diese roten Töpfe von Le Creuset erfüllen zum einen ihren eigentlichen Bestimmungszweck ideal: Dinge zum Kochen zu bringen. Und zum anderen sehen sie auch noch ziemlich gemütlich aus. So passen sie perfekt in eine Zeit, in der die Küche das neue Wohnzimmer ist und der heimische Herd nicht an die Großküche einer Kantine erinnern soll. Ein Fahrrad »Viva Bellissimo«

Dieses Fahrrad ist so, wie Frauen sich Männer gerne vorstellen. Es ist schick, ohne eitel zu wirken. Es sieht sportlich aus, aber gleichzeitig entspannt. Es ist traditionsbewusst – aber nicht altbacken. Für Männer empfiehlt es sich, ein »Viva Bellissimo« zu kaufen und damit jeden Tag zu fahren – und darauf zu hoffen, dass sie am Ende des Sommers ein bisschen so geworden sind wie ihr Fahrrad.

Der Stuhl will beachtet werden, als wäre er ein Mensch

Vier Stühle »Monza« von Konstantin Grcic für Plank

Ein Stuhl ist ein Platzhalter für Menschen. Deswegen braucht jedes Zimmer Stühle. Wer keine Stühle hat, hat keine Freunde oder erwartet zumindest keine. Aber welcher Stuhl ist der richtige? So ein Möbel soll nicht mehr auffallen als die Person, die darauf sitzt, es soll komfortabel sein – aber vor allem soll es auch gut aussehen, wenn es gerade nicht benutzt wird. Der Stuhl »Monza«, den Konstantin Grcic für Plank gestaltet hat, verbindet Zweckmäßigkeit mit Schönheit. »Monza« ist aus Eschenholz gefertigt, lässt sich bestens mit anderen Möbeln kombinieren und gut stapeln. Seinen besonderen Charme bekommt er allerdings durch die Kunststofflehne, die an eine Steilkurve erinnert. Die Kunststofflehne gibt ihm etwas Aufmüpfiges. Solch ein Stuhl lässt sich nicht einfach in die Ecke stellen, er will beachtet werden, er hat eine Persönlichkeit. Wer sich mit genügend »Monza«-Stühlen umgibt, braucht eigentlich gar keine Freunde mehr.

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Ein Schreibtischstuhl »Soft Pad« von Eames

Es gibt Schreibtischstühle, die aussehen wie Schreibtischstühle – und es gibt den »Soft Pad«, den Charles und Ray Eames 1969 in verschiedenen Ausführungen entworfen haben. Lässig, auch für Kinder.

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Eine Espressokanne »Bialetti Moka Express«

Wenn man es ganz genau nimmt, ist es nicht sehr einfach, einen guten Espresso zu machen. Das Kaffeemehl muss die richtige Mahlstärke aufweisen. Es muss auch der Brühdruck passen, mit dem der Dampf auf die gemahlene Bohne trifft, und die Brühtemperatur muss stimmen, sonst werden die ätherischen Öle nicht gelöst. Und sollte das Espressomehl im Sieb nicht richtig aufbereitet worden sein, wenn etwa Klümpchen für Verdichtungen gesorgt haben – dann ist eigentlich alles dahin: Crema, Aroma, alles. Demnach dürfte es außerordentlich unwahrscheinlich sein, mit der kleinen BialettiKanne einen genießbaren Espresso auf der Herdplatte zu brühen. Und trotzdem, wenn man das Wasser in ihr köcheln hört und sich schon der Kaffeegeruch in der Küche verbreitet, bevor man den ersten Tropfen Espresso genießt, wenn man ihr heiseres Geräusch vernimmt, nachdem der Dampf sich durch das Kaffeesieb gequält und sich schließlich oben in der Kanne der Kaffee gesammelt hat – dann ist man sich ganz sicher, nie einen besseren Espresso zubereitet zu haben.

Andere Tassen sehen gestapelt aus wie der Schiefe Turm von Pisa Vier Tassen »Java« von Sagaform

Ein Radio »DAB-26PLUS« von Denver

In einer Zeit, in der man vor seinem Laptop sitzt und mit seinen Freunden Videokonferenzen abhält, mag ein Radio wie ein Anachronismus wirken. Und doch ist es unersetzlich. Man hört Radio, während man kocht oder die Zähne putzt. Man könnte natürlich den Sender öfter mal wechseln, aber das wäre zu anstrengend. Besser, man liefert sich entspannt aus, nimmt hin, was kommt. Ganz genau so ist das Leben.

Wer einmal eine dieser Tassen in der Hand gehalten hat, muss das Konzept der runden Henkel infrage stellen. Was macht diese Tassen mit dem abgewinkelten Griff besser? Sie sind praktischer, weil sie sich sauber ineinanderstapeln lassen, ohne unfreiwillig eine Miniaturversion des Schiefen Turms von Pisa nachzubilden. Sie wirken selbstbewusst und zeitlos schön. Das genügt schon, um ein wenig Abwechslung in den alltäglichen Kaffeegenuss zu bringen. Mehr kann eine Tasse nicht leisten. Ein Stift »uni-ball eye« von Faber-Castell

Ein Stift ist ein Stift. So weit, so logisch. Wer aber einen wirklich guten gefunden hat, braucht keinen zweiten. Der »uni-ball eye« ist so einer. Er ist nicht exaltiert wie ein Füllfederhalter, nicht vergänglich wie ein Bleistift, sondern einfach verlässlich, wie ein Stift es sein sollte: Er kleckst nicht, kratzt nicht, enttäuscht nie. Ein Stift für alles. Keiner ist auf unprätentiöse Art so glamourös wie er.

Ein Spültuch von Manufactum

Möglicherweise erkennt man gerade am lapidaren Lappen, wie viele Gedanken sich einer darüber macht, wie er wohnen will, wie er leben will – was Lebensqualität eigentlich bedeutet. Dieser hier erinnert an die Lappen der Großeltern, an eine Zeit, als noch nicht jeder eine Putzfrau oder eine Spülmaschine hatte. Er reinigt dank seiner Größe und Waffelstruktur perfekt – vor allem aber hält er jahrelang. Und natürlich war früher nicht alles besser, aber vielleicht war es sauberer. Könnte am Lappen liegen. Ein Korkenzieher Kellnermesser von Laguiole

Ein Handy »iPhone 4« von Apple

Es gibt Korkenzieher, mit denen man sich einen Tennisarm holt, es gibt solche, bei denen man mit aller Gewalt zwei Flügelarme herunterdrücken muss. Und dann gibt es solche, die immer funktionieren, das sind die sogenannten Kellnermesser: Damit lässt sich jede Flasche ohne roten Kopf und zerfledderte Korken öffnen. Man kann das abgebildete Kellnermesser von Laguiole nehmen oder warten, bis man eines als Werbegeschenk vom Weinhändler bekommt.

»Think different«, denke anders, lautete mal ein Slogan der Computer- und Designfirma Apple, mit dem sie sich an bestimmte konsumfreudige Rebellen wandte, die trotz und neben ihrer Rebelliererei genug Geld gescheffelt hatten, um sich die stets etwas teureren Apple-Produkte leisten zu können. Man konnte ein schickes Gerät sein Eigen nennen, hatte aber gleichzeitig das tolle Gefühl, Teil einer besseren Welt zu sein, die nicht von Bill Gates und seinen Schergen regiert wird. Als echter Rebell müsste man heute eher zum Blackberry greifen oder sogar, demnächst, zum Nokia-Smartphone auf Windows-Basis – so sehr hat sich das iPhone als StandardMobilfunkgerät durchgesetzt. Aber warum sollte man sich das antun? Mit seinen Apps ersetzt das iPhone Hunderte andere Gadgets, von der Eieruhr bis zur Wasserwaage, von der Wetterstation bis zum Terminkalender, vom Diktiergerät bis zur Videokamera, vom Navigator bis zur Taschenlampe, vom Wörterbuch bis zum Musiklexikon, vom Taxiruf bis zum U-Bahn-Plan. Dank des iPhones ist es heute eben leichter denn je, nicht mehr als 100 Dinge zu brauchen. Das ist viel befriedigender als Rebellentum.

Natürlich war früher nicht alles besser, aber vielleicht sauberer

Ein Mülleimer »Pushboy« von Wesco

Eigentlich ein Skandal, dass Mülleimer heutzutage in Schränken versteckt werden, sodass sie niemand sieht. Will man sich vormachen, dass es keinen Müll in unserem Leben gibt? Will man sich des Problems entledigen nach dem Motto: »Aus den Augen, aus dem Sinn«? Wo man wohnt, entsteht Müll, da kann man machen, was man will, da kann man noch so umweltbewusst leben, und vielleicht ist dieser Mülleimer von Wesco dann auch ein stiller Mahner: Er erinnert daran, dass wir in einer Wegwerfgesellschaft leben. Vor allem aber sieht er besser aus als die üblichen Plastikkanister, die so hässlich sind, dass man sie tatsächlich im Schrank verstecken muss. Dieser Mülleimer ist ein stolzer Mülleimer.

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Es kommt eigentlich nur darauf an, viel Wind zu machen

Ein Haartrockner »Salon Dry Pro 2300 W« von Philips

Ein Föhn ist eine wunderbar einfache Angelegenheit: Warme Luft lässt das Haar trocknen. In den vierziger Jahren waren Trockner Apparate, in denen mächtige Turbinen die Luft in Wallung brachten. Wie alle Technologien entwickelte sich auch diese weiter, und die Haartrockner wurden immer eleganter und kleiner. Es gab ein wunderschönes Gerät aus den siebziger Jahren, das Dieter Rams für Braun entworfen hatte. Es hieß HDL 4 und sah aus wie ein kleines, buntes Transistorradio, nur dass keine Musik herauskam, sondern heiße Luft. Man hätte an diesem Punkt aufhören können, Föhne zu entwickeln. Aber leider kann der Mensch selten aufhören, wenn es am schönsten ist. Und so entwickelte man den Föhn weiter beziehungsweise zurück. Die Geräte wurden wieder größer, denn die Menschen glaubten, wenn der Föhn größer sei, dann sei er auch stärker, und wenn er stärker sei, dann verschaffe er einem womöglich ohne Mühe Locken wie in der Werbung für DreiWetter-Taft. Und bald genügte es auch nicht mehr, dass der Haartrockner heiße Luft erzeugte. Er brauchte neue Funktionen. Es gibt einen Haartrockner von Remington, der nebenbei die Haare mit Vitaminspray einnebelt. Und das aktuelle Spitzenmodell von Russell Hobbs hat eine eingebaute Ionenkanone, ein Digitaldisplay und eine Joystick-Steuerung. Außerdem trocknet er auch Haare. Aber viel Wind machen kann der von uns empfohlene Haartrockner von Philips auch sehr gut.

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Ein Rasierer »Senso Touch 3D« von Philips

Ein Handfeger von Normann Copenhagen

Knallrot! Schreiorange! Plastik! Um nichts scheinen sich Produktdesigner so wenig Gedanken zu machen wie um praktische Gegenstände, die jeder täglich braucht. Aber sollten nicht gerade die Dinge, die man jeden Tag in der Hand hat, höchsten ästhetischen Ansprüchen genügen? Der Einwand »Aber es ist doch nur ein Handfeger!« kann hier leider nicht ernst genommen werden, denn dann könnte man bei anderen Dingen auch behaupten, es handle sich ja »nur« um ein Sofa, »nur« um einen Schreibtisch, »nur« um eine Tasche. Und tatsächlich sind es gerade die kleinen, die unscheinbaren Dinge, die das Wohnen angenehm machen. Und Individualität erkennen lassen. Denn ein schönes Sofa ist vielleicht doch nicht so schwer zu finden – ein schönes HandfegerSet hingegen schon. Wer sich bei der Suche nach so etwas Mühe gibt, der gibt sich auch anderswo Mühe. Gerade beim Erwerb kleiner, unscheinbarer Dinge kann man beweisen, dass man sich Gedanken macht über die Frage, wie man leben will. Dieses Handfeger-Set ist in Wahrheit ein philosophisches Werkzeug.

Sechs Kleiderbügel von Muji

Wer schafft sich schon bewusst Kleiderbügel an? Sie kommen eben irgendwie daher. Sammeln sich als Beifang von Shoppingzügen und Reinigungsbesuchen im Kleiderschrank. Schiefe Gesellen aus Holz, aus Draht, aus Plastik – so hängen sie halt herum. Dabei sähe es schöner aus, wenn man ein einziges Mal im Leben bewusst Kleiderbügel einkaufen würde. Und zwar nur diese von Muji.

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Rolling Stones oder Beatles? – So hieß in den sechziger Jahren die Frage, die vor allem Jungs trennte. Heute trennt Jungs eher die Frage: trocken oder nass? Das ist nur zum Teil eine praktische Entscheidung, die mit der Beschaffenheit der Haut zu tun hat. Es ist vor allem eine ideologische Entscheidung, um die es hier nicht gehen soll. Rein ästhetisch gesehen, heißt die Antwort: trocken. Mit diesem Rasierer, der der Haut schmeichelt. Coole Jungs antworteten in den sechziger Jahren übrigens: Beach Boys.

Eine Taschenlampe »Mag-Lite 3 D-Cell«

Tiefste Nacht , der Mond scheint nimmer / nicht einmal der kleinste Schimmer / lacht in unser finst’res Zimmer. / Doch der Taschenlampe Schein / gleißend helles, weißes Licht / rettet uns vor Seelenpein. / Und so fürchten wir uns nicht. / Dunkle Mächte müssen schweigen / nennst ein Mag-Lite du dein Eigen.

Wenn man nur ein Mal im Leben Kleiderbügel kaufen würde!

Eine Pfanne »Maxeo Comfort« von Fissler

Die Pfanne, nicht das Messer ist das männlichste aller Küchenutensilien. Deshalb sollte Pfannenkauf Männersache sein: Wie liegt sie in der Hand? Ist sie schwer genug? Schmeichelt der Griff der Hand? Diese hier ist ideal. Zur Freude der Frauen.

Eine Matratze »Schlaraffia Basic Moon 7«

Zum Glück geht es hier nicht darum, welche Namen die Dinge tragen. Diese Matratze heißt »Schlaraffia Basic Moon 7«, und man muss sich nur mal vorstellen, eine Gitarre würde »Hendrixala Expert Woodstock 9000« heißen. Das Verrückte ist aber: Diese Matratze ist tatsächlich so, wie sie heißt! Ein kleines Schlaraffenland für Schläfer.

Eine Tasche »Simply« von Bree

Wer keine Tasche hat, ist verloren, wer eine kaufen will, aber auch. Es gibt so viele Modelle in so vielen Ausführungen, dass es fast unmöglich ist, zu bestimmen, welche zu einem passt. Wir schlagen deshalb einen TaschenReset vor. Wir fangen einfach noch einmal von vorn an: Eine Tasche ist dazu da, Dinge von A nach B zu tragen. Und die schlichteste Lösung dafür ist »Simply« von Bree.

Ein Shampoo »Rosemary Mint« von Aveda

Das einzig Wahre: zarter Rosmarin-MinzeDuft im Haar. Für Mann und Frau gleichermaßen übrigens.

Welche Tasche? Diese Frage braucht eine einfache Antwort Vier Gläser »Picardie« von Duralex

Es gibt Gläser, die eigens für Longdrinks gemacht sind oder für Shortdrinks, für Champagner, für Riesling, für Bordeaux, für stilles Wasser, für Hefeweizen, für Whiskey, für Calvados, für Pils, für Dessertweine, für Aquavit. Und es gibt die Picardie-Gläser von Duralex, in die man einfach jedes Getränk gießen kann, ohne dass es unpassend aussähe. Sie eignen sich genauso für den morgendlichen Orangensaft wie für Rotwein am Abend. Nur für Rotwein am Morgen sind sie ungeeignet. Wie alle Gläser dieser Welt. Ein Vorschlag von Ihnen: Das 101. Ding, das man zum Leben braucht

Jedes Leben ist anders, darum ist unsere Liste unvollständig. Was ist Ihr Favorit? Schicken Sie ein Foto des Gegenstands mit Begründung an: [email protected]. Wir veröffentlichen die Vorschläge auf unserem Blog »Heiter bis glücklich« (http://blog.zeit.de/zeitmagazin).

Texte von Nina Bengtson, Jörg Burger, Matthias Kalle, Tillmann Prüfer, Elisabeth Raether, Jürgen von Rutenberg, Lisa Strunz

ZEITMAGAZIN-KOCHWETTBEWERB 2 011

Kochen Sie mit uns – fleischlos! Man muss kein Vegetarier sein, um fleischloses Essen zu genießen. Deshalb lautet das Thema des ZEITmagazin-Kochwettbewerbs in diesem Jahr: »Wir kochen ohne Fleisch«. Ab sofort können alle Hobbyköchinnen und Hobbyköche ihre Rezeptvorschläge einsenden. Wobei die Einschränkung »Hobbykoch« bedeutet: Nicht teilnehmen dürfen Köchinnen und Köche, die mit dem Kochen Geld verdienen oder die einmal eine entsprechende Lehre absolviert haben. Schicken Sie uns die ausführlichen, genauen Rezepte für ein dreigängiges Menü (alle Mengenangaben für vier Portionen), und – wichtig! – erzählen Sie uns bitte auch etwas über sich selbst: Seit wann und warum Sie gern kochen, wo Sie einkaufen, was Sie besonders gern mögen, für wen Sie am liebsten kochen. Außerdem, wie alt Sie sind und was Sie beruflich machen. Und mit wem Sie kommen würden, falls wir Sie im Juli zum Wettkochen einladen. Die Rezepte müssen natürlich Ihre eigenen Rezepte sein: Sie sollten sie selbst er-

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funden oder weiterentwickelt haben. In den Rezepten dürfen weder Fleisch noch Fleischprodukte vorkommen. Fisch und Meeresfrüchte sind erlaubt, aber nicht notwendig. Schicken Sie Ihren Wettbewerbsbeitrag bitte bis Freitag, 29. April 2011, per E-Mail an:

Die Jury wird die Einsendungen diskutieren, wird das eine oder andere nach Ihren Rezepten zubereiten und probieren. Und sie wird schließlich entscheiden, welche vier Einsender zum Wettkochen eingeladen werden (mit Begleitung). Dieses findet statt am:

[email protected]

4. Juli 2011 im Hotel Hyatt Regency, Düsseldorf

oder per Post an: ZEITmagazin-Kochwettbewerb 20079 Hamburg Aus allen gültigen Einsendungen wählt eine kompetente Vorjury die zwanzig besten und interessantesten aus und legt sie der Jury vor, die am 31. Mai in Hamburg zusammentritt: Barbara und Wolfram Siebeck, die Köche Cornelia Poletto und Ali Güngörmüs (beide Hamburg), Ernst Petry (Düsseldorf ) und Josef Eder (Berlin) sowie Martina Olufs (Koch Kontor Hamburg) und Christoph Amend, Chefredakteur des ZEITmagazins.

11. Juli 2011 im Hotel Grand Hyatt, Berlin Unterstützt von den Köchen des Hotels, werden Sie Ihr Wettbewerbsmenü für sechzig geladene Gäste zubereiten, die zum Schluss darüber abstimmen, welches Menü ihnen besser geschmeckt hat. Zu gewinnen gibt es für die beiden Sieger jeweils ein langes GourmetWochenende in Hamburg für zwei Personen – mit zwei Übernachtungen im Hotel Park Hyatt, je einem Essen bei Cornelia Poletto und bei Ali Güngörmüs, einem Besuch des Fischgroßmarkts und der ZEIT-Redaktion.

Foto Silvio Knezevic

Ich habe einen Traum

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Am häufigsten träume ich von einem Ort, an dem ich noch nie war. Es ist jedes Mal derselbe: ein Haus aus der Zeit um 1900. Es steht auf einem Hügel. Von außen betrachtet scheint es klein zu sein, doch wenn ich es im Traum betrete, ist es riesig. Es ist zwar immer dasselbe Gebäude, aber irgendetwas ist immer anders. Ich entdecke jedes Mal neue Räume. Ich kann mich sofort gut orientieren und erinnere mich daran, wie ich in die Räume gelange, in denen ich im Traum schon mal war. Das Studio ist hinten. Da das Bad. Im Erdgeschoss gibt es zwei lange Korridore, sie verlaufen parallel. Dort liegen die Schlafzimmer, an deren Wänden hängen Gemälde. Als ich klein war, lebten wir in einem winzigen Haus in Springfield, in der Nähe von Washington. Meine Mutter war Lehrerin, sie zog meine Schwester und mich allein groß. In den USA verdienen Lehrer nicht viel. Wir waren nicht arm, aber wir hatten nie Geld, um in Restaurants zu gehen oder in den Urlaub zu fahren. Meine Mutter stand morgens um fünf auf, machte Frühstück und weckte uns, kurz danach stiegen wir ins Auto und fuhren zusammen zur Schule. Als Teenager jobbte ich nach dem

42, war bis 1994 Schlagzeuger der Band Nirvana. Nach dem Tod des Sängers Kurt Cobain startete er mit den von ihm gegründeten Foo Fighters eine erfolgreiche zweite Karriere – diesmal als Sänger und Gitarrist. In diesen Tagen erscheint das neue Album der Foo Fighters, »Wasting Light«

Dave Grohl,

Leben wird immer komplizierter. So wie das Haus immer größer und größer wird. Das ist eigenartig, weil es von außen immer noch das kleine, schöne, einfache Haus ist. Doch wenn ich es betrete, stoße ich ständig auf Dinge, die mich überraschen. Wenn ich im Keller nach links gehe, gibt es eine Art Tunnel. Und da ist eine kleine, enge Wendeltreppe, die in ein Apartment unter dem Dach führt. Ich habe in diesem Haus niemals Fremde getroffen. Aber als ich das letzte Mal davon träumte, führte ich jemanden durch das Haus. Da bemerkte ich, dass es zum Verkauf stand. Mir wurde klar: Jetzt könnte ich es endlich kaufen.

Aufgezeichnet von Ralph Geisenhanslüke Foto David Fischer Zu hören unter www.zeit.de / audio

Unterricht in einem Möbelhaus und dachte, ich würde den Rest meines Lebens in dieser Gegend leben. Es war okay, wir waren glücklich. Ich hatte nie das Gefühl, mehr zu brauchen. Manchmal war es mir trotzdem peinlich, so wenig zu haben. Die Häuser, in denen meine Freunde wohnten, waren größer. Als ich klein war, log ich meine Kumpel manchmal an und erzählte ihnen, die Tür am Kleiderschrank würde zur Treppe in den Keller führen. Eines Nachts träumte ich, dass ich den Kleiderschrank öffnete – und da war eine verdammte Kellertreppe. Ich ging hinunter, und dort unten stand ein Schlagzeug. Ich hatte mir immer eines gewünscht. Und es gab ein riesiges Fenster, das den Blick freigab auf eine weite, hügelige Wiese. Ich konnte es nicht glauben, ich war so glücklich wie nie zuvor. Ich glaube, Träume von Häusern handeln von einem selbst. Das Haus, die verschiedenen Stockwerke, die Räume – das alles hat mit dir zu tun, mit deinem inneren Selbst. Jedes Mal, wenn ich von diesem Haus träume, ist es gewachsen. Jedes Mal, wenn ich aus einem dieser Träume erwache, denke ich: Oh Gott, mein

Dave Grohl »Oh Gott, mein Leben wird immer komplizierter«

Der Stil Die einfache kurze Jacke hat ein Imageproblem – dabei gibt es so schöne Modelle. Dieses ist von Henry Cotton’s, 408 Euro 52

Foto Peter Langer

Eine für alle Fälle Tillmann Prüfer über die Übergangsjacke Einer Studie der Entwicklungshilfe-Organisation Oxfam zufolge verschwinden die Jahreszeiten. Irgendwann wird es nur noch Sommer und Winter geben, nur noch heiß und kalt, nur noch Kleidchen oder Mantel. Auf den Laufstegen spielen die Jahreszeiten ohnehin keine Rolle mehr. Sommer- und Winterkollektionen lassen sich kaum noch unterscheiden. Es gibt Pelz im Sommer und kurze Ärmel im Winter. Denn die Mode hat sich von der ursprünglichen Funktion von Kleidung, den Menschen gegen Wind und Wetter zu schützen, weitgehend verabschiedet. So verkauft die Marke Moncler Daunenjacken zu jeder Jahreszeit überall auf der Welt, die meisten in Italien, wo es eigentlich kaum so kalt wird, dass man eine dicke Jacke benötigt – die Italiener meinen einfach, dass sie cool aussehen in Daunen. Nun hört das Wetter leider nicht auf die Mode. Deswegen gibt es weiterhin Jahreszeiten, die zu warm sind für Mäntel, aber zu windig und zu nass, um sich sommerlich zu kleiden. Es ist die Zeit der Übergangsjacke. Sie ist gut für fast jedes Wetter – und trotzdem wird sie weniger geschätzt als etwa der Mantel. Das mag daher kommen, dass die einfache kurze Jacke traditionell ein Kleidungsstück für arme Leute war. Ursprünglich war sie die Tracht der Bauern und der niederen Stände. Noch heute steht sie für eine einfachere Lebensart, weshalb sich wohl auch Mahmud Ahmadineschad immer in Übergangsjacke zeigt. Das größere Problem mit der Übergangsjacke ist aber, dass sie ein Kleidungsstück für eine Zeit ist, die wir nicht gern durchleben. Man kann sich im Kalten und im Warmen einfacher zu Hause fühlen als zwischen den Jahreszeiten. Man mag es, dick eingemummelt durch Schneewehen zu stapfen oder halb nackt am Strand durch die Brandung zu patschen. Im Übergang aber, da mussten wir als Kinder den »Anorak« tragen, jene Jacke, die allein schon deswegen missfällt, weil man ihren Namen unmöglich schön aussprechen kann. Und seitdem gefallen uns Jacken, die wir im April anziehen müssen, nicht mehr so gut, sollten sie auch noch so schön geschnitten sein. Trotzdem brauchen wir dieses grundvernünftige Kleidungsstück. Jedenfalls so lange, bis das Wetter endlich so ist, wie Oxfam es prophezeit.

Schmutzfänger Marc Brost fährt den Toyota Land Cruiser V8 Zwanzig Sekunden nachdem ich losgefahren bin, fragt mich das Auto, ob ich gesoffen habe. Auf dem Bildschirm in der Mittelkonsole blinkt die Warnung: Manövriersicherheit prüfen! Man muss dazu wissen, dass die Tiefgarage der ZEIT in Berlin sehr eng und das Auto sehr breit ist. Und ja, ich bin schnell unterwegs. Aber alles läuft ohne Schrammen und Kratzer ab. Und getrunken habe ich auch nichts. Es fängt einfach nicht gut an mit dem Land Cruiser und mir. Ohnehin beginnt dieser Test mit einem Missverständnis. Man hatte mir einen Land Rover versprochen – zumindest hatte ich das so verstanden. Ich hatte mir eine Barbourjacke geborgt, einen Picknickkorb mit Champagnerflaschen gefüllt und die Fährverbindungen nach England herausgesucht. Ich wollte den Wagen dort testen, wo man solche Wagen fährt: in Cornwall. Im Rosamunde-Pilcher-Land. Dann stand der Land Cruiser in der Garage. Nix Barbourjacke. Nix Cornwall. Statt zum nächsten Fährhafen begebe ich mich in die Einsamkeit Mecklenburg-Vorpommerns: ein tiefes Schlammloch suchen. Der Land Cruiser ist ein richtiger Wühler. Mit einem unscheinbaren Knopf am Lenkrad kann man einstellen, auf welchem Untergrund man gerade unterwegs ist – Matsch, Geröll oder Stein –, und je nach Einstellung reagieren dann Motor, Bremse und Getrie-

be. Rundherum eingebaute Kameras helfen beim Rangieren. Oder beim Wenden, wenn man sich auf der Suche nach einem Schlammloch verfahren hat. Die riesige, in der Mittelkonsole eingebaute Kühlbox fasst mindestens sechs Literflaschen Mineralwasser. Man läuft also nicht Gefahr, zu verdursten, wenn man den Wagen aus einem Schlammloch frei schaufeln muss. Und die Seitenspiegel des Land Cruiser sind so groß, dass man hinterher, beim Waschen des verdreckten Gesichts, sich garantiert von jedem Spritzer reinigen kann. Ich bin also vorbereitet. Allein: Es regnet nicht. Vierzehn frustrierende Tage lang sind alle Schlammlöcher Mecklenburgs so trocken, als habe man sie mit Löschpapier ausgelegt. Ich wähle die Untergrundeinstellung »Schlamm«, fahre in eine Waschanlage und fühle mich verwegen. Am letzten Tag, wieder zurück in Berlin, steht ein Land Rover neben mir an der Ampel. Der Fahrer trägt ein Flanellsakko und raucht Zigarillo. Wir blicken uns kurz an. Sein Wagen ist schlammbespritzt.

Marc Brost ist Leiter des Hauptstadtbüros der ZEIT Technische Daten Motorbauart: 8-Zylinder-Dieselmotor Leistung: 210 kW (286 PS) Beschleunigung (0–100 km/h): 8,2 s Höchstgeschwindigkeit: 210 km/h CO2-Emission: 270 g/km Durchschnittsverbrauch: 10,2 Liter Basispreis: 87 000 Euro

Foto Toyota Deutschland GmbH Gestaltung Thorsten Klapsch

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Wolfram Siebeck kocht vegetarisch (6) Zum Abschluss der Serie gibt es ein fleischloses 3-Sterne-Menü

NEU AUFGEROLLT

Sterneküche à la Nils Henkel ist eine Revolution: Gemüse in Röllchen- und Kugelform Ein Meister der Kochkunst kann aus jedem halbwegs essbaren Gegenstand eine Köstlichkeit machen. Egal, ob das Kaviar ist, ein Gartenschlauch oder ein Kilo Kalbskutteln. Nils Henkel gehört zu den Großmeistern, die für den Ruhm unserer Spitzengastronomie gesorgt haben. Er ist der Nachfolger von Dieter Müller in der Küche von Schloss Lerbach, dem Sonnyboy des deutschen Küchenwunders. Nachdem ich mich in den letzten Wochen der vegetarischen Küche genähert habe, wollte ich jetzt zum Abschluss meiner Serie von Henkel erfahren, wie gut ein vegetarisches Menü schmecken kann. In gewöhnlichen Restaurants bestehen vegetarische Gerichte aus Gemüse mit Nudeln, Reis oder Hirse. Das ist banal und auf Dauer langweilig. Nils Henkel sollte mir zeigen, dass einem großen Koch gelingen kann, woran andere scheitern: ein Menü ohne Fleisch und Fisch. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sei gesagt, dass seine Speisekarte die Paradestücke der großen Küche enthält. Also Edelfische und die besten Stücke vom Lamm, Kalb und Rind. Dafür hat der Michelin ihm die drei Sterne seines Vorgängers weitergereicht. Mit Recht. Und wie dieser durch seine genialen, nur aus »Küchengrüßen« zusammengestellten Menüs stilbildend war, so versucht auch Henkel, mit seinem »Menü pures Gemüse« das Repertoire der Hochküche zu bereichern. Dabei handelt es sich um ein achtgängiges Menü für 145 Euro. Ein weiches Eigelb ist schon mal dabei, und der

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Erfolg seiner Idee ist riesig: Die Hälfte der Gäste wollen wissen, wie es schmeckt, wenn sich einer von Deutschlands besten Köchen dem vegetarischen Trend anschließt. Ich wollte es auch, und ich kann nur sagen: Es schmeckt sehr gut. Das liegt daran, dass Henkel jedes einzelne Gemüse extra kocht und würzt. Während der ersten vier Akte merkt man gar nicht, dass die gewohnte Fleisch-Fisch-Kombination fehlt. Danach wird es etwas schwierig. Da Henkel Deftigkeiten wie Bohnenkerne, Nudeln und Risottos nur sparsam einsetzt, überwiegt auf der Zunge das Gefühl von Gemüsecremes und -gelees. Es gibt Petersiliengel und Trüffelsaftmacarons, während das Auge sich an der Buntheit sattsieht, die sich auf dem Teller präsentiert wie durch ein Kaleidoskop. Dass diese Gerichte im Vergleich zum Sonntagsbraten eine ungeheure Mehrarbeit bedeuten, erkennt jede Hausfrau sofort. Der Gourmet registriert, dass die grandioseste Würzung eines Stengelkohls (wilder Brokkoli) ihn nicht das Fehlen einer Languste vergessen lässt. Wenn bei Beginn zum Brot statt der doofen Bärlauchpaste eine Ruccolacreme gereicht wird und auch ein Petersilienwurzelsüppchen sich als Meisterstück aus der Küche entpuppt, so kann das den Frust nicht überdecken, der sich auf der Suche nach einem passenden Wein einstellt. Die Tafelrunde war sich einig: Vier vegetarische Gänge, dann ein Brathuhn, das wär’s gewesen. Einen Vegetarier wird wohl auch Nils Henkel nicht aus mir machen.

Foto Silvio Knezevic; Hintergrund: Grafiche Tassotti

Die großen Fragen der Liebe Nr. 136 Warum ist er so passiv? Karin und Rolf sind seit zehn Jahren ein Paar, aber im Bett geschieht nichts, wenn Karin nicht die Initiative ergreift. Wenn sie sich beklagt, sagt Rolf, er sei eben passiv, Hauptsache, sie verstünden sich gut. Einmal hat Karin zu ihrer Verblüffung Pornohefte bei ihm gefunden. Sie wollte mit ihm reden, aber Rolf wehrte ab. Jetzt ist Karin 35 geworden. Sie hätte gerne ein Kind, ehe es zu spät wird, sie will nicht mehr verhüten und regelmäßig mit ihm schlafen. Rolf sagt, er wäre ein schlechter Vater. Und er gesteht, dass er Kontakt zu Prostituierten hatte und täglich Pornos im Internet schaut. »Widerlich!«, schimpft Karin, »und mich lässt du verhungern!« – »Ich weiß schon, dass ich gestört bin«, entgegnet Rolf.

Wolfgang Schmidbauer antwortet: Es ist kein Zufall, dass Karin sich mit Rolfs dunklen Seiten erst auseinandersetzen muss, als sie sich ein Kind wünscht. Bisher haben sich beide »verstanden« im Sinn einer Harmonie, die durch Abspaltung aller Befremdungen entsteht. Frauen schüchtern Rolf ein. Er ist in seinem sexuellen Selbstgefühl so unsicher, dass er übersteigerte Reize braucht, um sich als Mann zu fühlen. Bereits Freud hat Männer beschrieben, welche die Übermacht ihrer Mutter dadurch schwächen, dass sie zwei Frauen haben, die Madonna und die Hure. Wenn Rolf mit Karin über seine Versagensängste spricht, haben sie eine Chance. Bisher versucht er sich nur durch das Beharren auf einer Pseudoeinsicht aus der Verantwortung zu stehlen.

Wolfgang Schmidbauer ist einer der bekanntesten deutschen Paartherapeuten. Sein neues Buch »Das kalte Herz. Von der Macht des Geldes und dem Verlust der Gefühle« ist im Murmann Verlag erschienen

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Spiele Logelei »Mark Buzkashi hat eine Rundreise auf der Insel Ööd gemacht; allerdings weiß ich nicht, durch welche Orte, da er statt Ortsnamen nur Codebuchstaben verwendet hat. In diesem Code verlief die Rundreise wie folgt:« M, P, B, K, L, G, N, V, H, ? (neu), ? (neu), V, H, M, D, B, M, ? (alt), X, ?, ?, P, E, ? (alt), F, M »Bei den Fragezeichen war noch nicht mal der Codebuchstabe angegeben, aber manchmal konnte ich herauslesen, ob er den Ort zum ersten Mal besucht hat oder ob er vorher schon mal dort war; das habe ich mit »alt« und »neu« gekennzeichnet.« – »Na dann vergleichen wir das doch mal mit einer Karte von Ööd«: Wie verlief die Rundreise? Coq Jog

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Lösung aus Nr. 14 Xofuss, Weruss und Sefuss sind Beramier, die anderen sind alle Asbiren

Sudoku

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Füllen Sie die leeren Felder des Quadrates so aus, dass in jeder Zeile, in jeder Spalte und in jedem mit stärkeren Linien gekennzeichneten 3 x 3-Kasten alle Zahlen von 1 bis 9 stehen.

Logelei und Sudoku Zweistein

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WAAGERECHT: 6 Bewundert für Bizeps-, vielleicht auch Stimmeinsatz eben über Normalnull 10 Krautiger Start militärischer Botschaftenübermittlung 15 Rechnungserledigung, mit mitteleuropäischem Kleingeld 17 Gib deine ... nicht auf, ohne sie magst du zwar existieren, aber du hast aufgehört zu leben (Mark Twain) 19 Kurz: Resultat abgefeimter Geduldsfaden-Experimente 20 Haben den Vorsprung in den Neue-Wege-Angelegenheiten 21 Wohl in jedem Waldeck-Urlaubsbericht wird von der Vorwärts die Rückwärts sein 22 Als Belle zur Stelle nicht fern von Loiremünde 23 Die innere Ursache manch einer Kleckerei 24 Speisenansammlung bei Vielfraßens zu Haus? Herausragend insbesondere an südlichem Landzipfel 25 Ob der so heißt, ... keine Davonwandersiedlung ist? 26 Viele verschieden gestimmte Saiten geben erst ... (J. v. Eichendorff ) 27 Sprichwörtlich: Fetter ... macht fette Hasen 29 Auf Zehntelcent genau kalkuliert wird stets aufs Neue sein Preis 30 Die im Gulasch? Da dürften sich die Gäste rasch nach anderen Gerichten ...! 33 Um Nummern zu groß für den Kleine-Brötchen-Bäcker 34 Für den Wohlklang vom Gedicht hat sie prinzipiell Gewicht 36 Ist in Buxtehude, was die 21 waagerecht in Fritzlar 37 Post vom Gläubiger, kopflos: Leute mit Erspürsinn haben genug davon 39 Des Gefangenen Liebste, unter ihrem Männernamen im Spielplan geführt 40 Wer Schlechtes nicht ... kann, wird Gutes nie erleben (Sprichwort) 41 Keiner von uns sage, er habe die Wahrheit schon gefunden. Lasst sie uns vielmehr so

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suchen, als ob sie uns beiden ... sei (Augustinus) 42 Die übliche Quellenangabe zur Ruhe-nach-dem-sechsten-Schaffenstag-Regel SENKRECHT: 1 Menschen, die sich dort kratzen, wo es andere juckt (Samuel Beckett) 2 Karl schrieb von der offenen Gesellschaft und ihren Feinden 3 Klingeln, falls ankommt, woran viele drehtagelang arbeiteten 4 Mit einiger Amtshandlung verbunden in der ersten Zeit 5 Arbeitsweise bei Faul & Mäßig: Was dieser verpfuscht, lässt ... liegen 6 Fand bei Morgenstern im Bache statt, wo Marderchen gesonnt sich hat 7 Teil der Zimmermannsprüfung? Leererfolgsbeweis! 8 Weniger schwierig: kriegt Schub im Verband 9 Mag aufs Klopfen folgen – im Falle eines Falles ist sein ... meist noch nicht alles 10 Bringen den Schlammschlamassel am Fuß des Berges mit sich 11 Mehr als eine soll tierischen Beitrag zu Kleopatras Schönheitsbädern geleistet haben 12 Laut Sprichwort: Die ... macht auch kluge Leute zu Narren 13 Das Drumherum bei den Berichten über Helios-Koloss oder Hippokrates’ Wiege 14 Der Sinn des ...: Echte Reue sollte nie ... sein 16 Wallt namentlich bei Wallfahrern, insbesondere beim Regen im Regen zugegen 18 War bei Oasis, was Phil bei 42 waagerecht 28 Das bringt die Festigkeit ins pflanzliche Dasein 31 Leistete viel Vorarbeit für die Welt der Drahtlosigkeit 32 Sprichwörtlich: Lieber einen Schatz an ... als an Gold 33 Und trug zusätzlich zur Enttäuschung des Getäuschten bei 35 Heiße Ware – oder bloß Ware zum Heizen 38 Vornämlich bekannt für den Sang: Glück ist wie ein Schmetterling

Lösung von Nr. 2061 WAAGERECHT: 7 VERSAEUMNIS 12 GENRE zu Re-gen wie Ta-del zu Del-ta 14 POLITUR 16 FELDVERWEIS 19 DEUTELEI 20 DESSOUS 21 TADEL 23 FURTEN 24 APHEL 25 BRUMMER = Schmeißfliege, Musca domestica = Stubenfliege 27 STERNE 30 ILLER, Baden-Württemberg 32 ASA (American Standards Association) in W-asa 33 PHASE 34 REINEKE Fuchs 37 BEGIERIG 39 NORM 41 GLASER 42 GAEREN 43 ROD Stewart, in Rod-eo 44 BESTIEN 45 »Brenner-Ei« und BRENNEREI 46 STARRE – SENKRECHT: 1 Gel + Daus + Gabe = GELDAUSGABE 2 HAUT 3 Wasser-, Geld-ZUFLUSS 4 WIDDER im Tierkreis 5 VERSPIELT 6 TREUE 7 VORTRAEGE und »vor träge« 8 RIED 9 STUEMPEREI 10 MEER (»Seemann«) 11 SVEN und Svenja 12 GES in Ges-ang 13 »Eis-Leben« und Luthers Geburtsort EISLEBEN 15 REFRAIN 17 LITER aus D-r-i-t-t-e-l 18 WOHL 22 das LEHREN 24 AENGSTE 26 Nationaltorhüter Sepp MAIER 28 TENOR in Operngestal-tenor-dnung 29 NIMES 31 LESER 35 ERBIN in V-erbin-dung 36 KAIRO 38 Earl-GREY-Tee 40 ODE in M-ode-rne

Kreuzworträtsel Eckstein

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Spiele Schach

Lebensgeschichte

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Im Schach Magazin 64 fiel mit eine Überschrift auf: Max Stadlers Rezept: Vernunft in der Politik - Leidenschaft im Schach. Nun wollen wir hier einmal unerörtert lassen, inwieweit auch Leidenschaft in der Politik und Vernunft im Schach eine gute Rezeptur ergeben, und uns besagtem Max Stadler, der offenbar beide Lebenskreise miteinander verbindet, zuwenden. Deutsche schachspielende Politiker sind ja keine Seltenheit, man denke nur an Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Peer Steinbrück, Otto Schily, Peter Struck, Jürgen Trittin und Peter Müller, von denen der eine oder andere schon einmal bei einer langwierigen – oder gar langweiligen?! – Parlamentsdebatte über einer Schachaufgabe ertappt wurde. Max Stadler, Staatssekretär im Justizministerium, jedenfalls sei eine Stimme der Vernunft im Berliner Politikbetrieb, immer sachlich und abgewogen urteilend. Doch wehe, man lässt ihn ans Schachbrett! Da liebt er das scharfe Angriffsspiel, das Wolga-Gambit und den »Drachen«. Allerdings kann er seine FDP-Zugehörigkeit selbst beim Schach nicht immer verleugnen, wenn er die (eher dröge) Abtauschvariante im Damengambit spielt: »Schließlich ist der Minoritätsangriff so sicher wie das Geld auf einer Schweizer Bank.« Hoffentlich liest dies nicht Peer Steinbrück. Wann immer es geht, spielt Stadler für die niederbayerischen Schachfreunde Haselbach, deren Vereinsmeisterschaft er letztes Jahr zum sechsten Mal gewonnen hat, in der Bezirksliga. Mit welch herrlichem Schlag gewann er als Schwarzer 1984 im Deutschen Bundestag gegen R. Autengruber?

Lösung aus Nr. 14

Nach einem Vierteljahrhundert der Erschütterungen und Umwälzungen waren die Zeiten ruhig geworden. Einige revoltierten zwar gegen die staatlich beaufsichtigte Behaglichkeit, die meisten genossen sie jedoch. Auch seine Familie bot das Bild bürgerlicher Wohlanständigkeit, hinter der Fassade aber bröckelte es. Nach dubiosen Geschäften starb sein Vater verarmt, aus den Geschwistern wurde nichts Rechtes, und so undramatisch sein Leben auch verlief, rüttelte er mit Macht an den Grundfesten des schönen Scheins. Schon in seiner Jugend fiel seine Singstimme auf, sie sicherte ihm Auftritte in Liebhabertheatern. Die Aussicht auf eine Opernkarriere ließ ihn nach zwei verbummelten Jahren das Jurastudium abbrechen. Er debütierte als Sänger, ein Rezensent bestätigte ihm »schönste Hoffnungen«, andere bekrittelten hingegen seine mangelnde Ausbildung. Engagement reihte sich an Engagement, sogar im Ausland heimste der junge Mann Erfolge ein. Wäre da nicht seine Lust am Extemporieren und an Frivolitäten in den Sprechpartien gewesen. Sie bescherte ihm Probleme mit der Zensur, die ihm »polizeiwidriges Verhalten« vorwarf und für die Annullierung seines Vertrags sorgte. Für ihn war es Anstoß, das Fach zu wechseln, denn die harte Konkurrenz, der blühende Nepotismus und vielleicht auch die Einsicht in die Beschränktheit seiner stimmlichen Mittel hatten ihm gezeigt, dass er keine große Karriere vor sich hatte. So machte er, wofür er gescholten wurde, zum Hauptberuf. »Da ergoss sich urplötzlich über die Stadt der spezifischen Sorglosigkeit und ›Gemütlichkeit‹ ein Schwefelregen von infernalischem Witz, eine Sturmflut ätzender Lauge brauste heran, ein Wirbelwind dialektischer Bravourade erfasste sie …«. Freilich brauchte es eine Zeit des Tastens und Suchens, aber dann stieg er zum ungekrönten König der listig genutzten Freiräume und lustig verpackten Provokationen auf. Dabei schaute der hinterfotzige Menschenfreund dem Volk aufs Maul und den Reichen in die Taschen. Als ihm eine aufmerksame Behörde attestierte, er trage zur allgemeinen »Entsittlichung« bei, hatte er schon einen Schwenk vollzogen: Nun präsentierte er sich als Bürger, der sich in seiner Ruhe gestört fühlt. Der rastlose Unterhaltungskünstler fand immer wieder Zeit, einer merkwürdigen Vorliebe zu frönen: Reisen in den Norden, wo er sich am liebsten auf einer kleinen Insel erholte. Wie ein verirrter »strange bird« muss der lange Kerl den wenigen Einheimischen und Behörden dort vorgekommen sein. Sein erfolgreiches Leben beschloss er in »Pensionopolis«. In den zwei relativ ruhigen Jahren dort raunzte er herum und schrieb Briefe voller Vorurteile gegen Italiener, Preußen und Ungarn. In seinem Testament hatte er in einer Mischung aus sachlicher Akribie und neurotischer Furcht festgelegt, was alles unternommen werden solle, damit er nicht lebendig begraben würde. Bei seiner pompösen Beerdigung soll er richtig tot gewesen sein. Wer war’s?

Lösung aus Nr. 14

Mit welchem Paukenschlag setzt Weiß in 4 Zügen matt? Nach dem Turmopfer 1.Txf7+! Kxf7 öffnet sich mit 2.d6+! die furchtbare Läuferdiagonale b3-f7. Schwarz bleibt nur 2...Te6, aber nach 3.Dxe6+ Kg7 (3...Kf8 4.Dg8 matt) ergibt 4.Dh6 matt

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Hape Kerkeling (* 9.12.1964 in Recklinghausen) schrieb schon als Schüler Sketche und bereitete sich auf eine Laufbahn als FernsehEntertainer vor. Die Sendung »Total normal« machte ihn berühmt, sein Auftritt als falsche Königin Beatrix auf Staatsbesuch, die vor Schloss Bellevue nach einem »lecker Mittagessen« fragt, schrieb 1991 TV-Geschichte. Etliche seiner Kunstfiguren (Hannilein, Horst Schlämmer) wurden Kult. 2006 pilgerte Kerkeling über den Jakobsweg, sein daraus entstandenes Buch »Ich bin dann mal weg« wurde ein Millionen-Seller. Zum Anschauen: Kleingärtner Riko Mielke youtube.com/watch?v=RSLe2Oy-dUg&feature und Paartherapeutin Evje van Dampen: youtube.com/watch?v=yq7gWEV7Y7c&feature

Schach Helmut Pfleger Lebensgeschichte Wolfgang Müller

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Scrabble

Impressum Chefredakteur Christoph Amend Stellvertr. Redaktionsleiterin Tanja Stelzer Art Director Katja Kollmann Creative Director Mirko Borsche Berater Matthias Kalle, Andreas Wellnitz (Bild) Textchefin Christine Meffert Redaktion Jörg Burger, Wolfgang Büscher, Daniel Erk (Online), Heike Faller, Ilka Piepgras, Tillmann Prüfer (Style Director), Jürgen von Rutenberg, Matthias Stolz Fotoredaktion Michael Biedowicz (verantwortlich) Gestaltung Nina Bengtson, Jasmin Müller-Stoy Mitarbeit Markus Ebner (Paris), Elisabeth Raether, Annabel Wahba Autoren Marian Blasberg, Carolin Emcke, Herlinde Koelbl, Louis Lewitan, Harald Martenstein, Paolo Pellegrin, Wolfram Siebeck, Jana Simon, Juergen Teller, Moritz von Uslar, Günter Wallraff, Roger Willemsen Produktionsassistenz Margit Stoffels Korrektorat Mechthild Warmbier (verantwortlich) Dokumentation Mirjam Zimmer (verantwortlich) Herstellung Wolfgang Wagener (verantwortlich), Oliver Nagel, Frank Siemienski Druck Prinovis Ahrensburg GmbH Repro Twentyfour Seven Creative Media Services GmbH Anzeigen DIE ZEIT, Matthias Weidling (Gesamtanzeigenleitung), Nathalie Senden Empfehlungsanzeigen iq media marketing, Axel Kuhlmann, Michael Zehentmeier Anzeigenpreise ZEITmagazin, Preisliste Nr. 5 vom 1. 1. 2011 Anschrift Verlag Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg; Tel.: 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11; E-Mail: [email protected] Anschrift Redaktion ZEITmagazin, Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin; Tel.: 030/59 00 48-7, Fax: 030/59 00 00 39; www.zeitmagazin.de, www.facebook.com/ZEITmagazin, E-Mail: [email protected]

Scrabble-Schule (30) Wer sein Scrabblespiel verbessern will, sollte lernwillig sein. Ganz junge Akteure stöbern gern im Duden und freuen sich diebisch über jede Entdeckung einer neuen Vokabel (um sie sogleich mit Respekt heischenden, weit geöffneten Augen zu platzieren). Ehrgeizige Turnierspieler wissen, wenn sie wirklich gut sind, dass Erfolg nur mit Übung, Abschauen, Recherche, Wortschatz, Grammatikkenntnissen und Taktik möglich ist. Doch hinsichtlich der Quellen ist Obacht geboten, besonders beim Fernsehen. Beim »Deutsch-Test« etwa fällt häufig etwas Verwertbares ab. Wenn jedoch, wie neulich geschehen, in der Sportschau von der »einzigsten Chance« eines Stürmers die Rede ist, ist das kontraproduktiv – nicht nur fürs Scrabbeln. In der hier abgebildeten Situation fuhr ein Neuling mehr als 50 Punkte ein – wobei er die Wahl zwischen zwei ähnlich lautenden Wörtern hatte. Wie lauten die Züge, die auf ein gutes Auge schließen lassen?

Dreifacher Wortwert Doppelter Wortwert Dreifacher Buchstabenwert Doppelter Buchstabenwert

Lösung aus Nr. 14

Im nächsten Heft Was Journalisten anrichten: Im Kritisieren sind wir Medien meistens ganz gut, in Selbstkritik eher weniger. Warum ist das eigentlich so? Ein Spezialheft mit Fallbeispielen, auch aus unserem eigenen Alltag

60 bzw. 62 Punkte brachte STRENGER auf 7A-7H resp. 6A-6H, 68 Punkte SENGRIGE (4B-4I), 70 bzw. 72 Punkte SENGERIG resp. GESTRENG auf 4A-4H und 77 Punkte SEIGERND auf 1H-1O

Deutschlandkarte: Die größten Naturkatastrophen der letzten zehn Jahre

Es gelten nur Wörter, die im Duden, »Die deutsche Rechtschreibung«, 25. Auflage, verzeichnet sind, sowie deren Beugungsformen. Die Scrabble-Regeln finden Sie im Internet unter www.scrabble.de

Auf www.zeitmagazin.de Abenteuer am fremden Herd: Wie viel Spaß es macht, mit Freunden in der für einen Abend gemieteten Gemeinschaftsküche zu kochen

Scrabble Sebastian Herzog Foto Thomas Traum

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Herr Bach, Sie sind 1938, zwei Wochen vor der Reichspogromnacht, in die Niederlande geflohen. Nur einen Monat bevor dort die Deutschen einmarschierten, wanderten Sie nach Palästina aus – und zwar auf dem Schiff »Patria«, das auf der nächsten Fahrt dann gesunken ist. Warum, glauben Sie, sind Sie immer rechtzeitig entkommen? Also, dass jemand über mein Schicksal bestimmt hätte, das kann ich nicht glauben. Ebenso wenig, dass ich es verdient hätte, von einem Herrgott beschützt zu werden, während es die Millionen jüdischen Kinder, die umgekommen sind, nicht verdient hätten. Nein, es war einfach Glück. Und in gewisser Weise hat mich auch der britische Premierminister Neville Chamberlain gerettet. Wie das? Mein Vater war Generaldirektor in der Schwerindustrie. Als die Tschechei-Krise ausbrach, nahm uns die Gestapo unsere Pässe weg, damit er als kriegswichtige Person das Land nicht verlassen konnte. Erst nach der Kapitulation Chamberlains im Münchner Abkommen bekamen wir sie wieder zurück. Wenn Chamberlain heute kritisiert wird, bin ich rational damit einverstanden. Aber ich bin dann ganz still, weil uns das wahrscheinlich gerettet hat. Wie alt waren Sie, als Sie Deutschland verließen? Elf. Und ich erinnere mich noch genau, wie an der holländischen Grenze SS-Leute in den Zug kamen und sagten: Familie Bach, raus! Wir mussten in einer Baracke die Koffer öffnen, und sie warfen alles in eine Ecke. Erst als sich der Zug wieder in Bewegung setzte, durften wir gehen. Wir liefen dem Zug nach, und ein SS-Mann trat mich in einen gewissen Körperteil. So wurde ich mit einem Fußtritt aus Deutschland hinausbefördert. Wie lange blieben Sie in Holland? Noch bis zum März 1940, weil mein Vater die ganze Familie retten wollte. Und das ist ihm auch gelungen. Er hat alle Onkel, die in Dachau und Buchenwald waren, herausgeholt und ihnen Einreisebewilligungen für Palästina verschafft. Dann verdanken Sie und Ihre Familie die Rettung auch ihm? Ja, er hat die Dinge vorausgesehen. In Israel sagten die Leute, mein Vater habe einen sechsten Sinn, wann man sich absetzen muss. Aber es war eben auch Glück. Hitler hatte den Einmarsch in Holland siebenmal ver-

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Das war meine Rettung

»Mein Vater hatte den sechsten Sinn« Der Eichmann-Ankläger Gabriel Bach über seine jüdische Familie, die den Nazis in letzter Minute entkam

Gabriel Bach, 84, geboren in Halberstadt, ist ein israelischer Jurist und war im Prozess gegen Adolf Eichmann stellvertretender Ankläger. Eichmann hatte die Vertreibung und Deportation der Juden im Deutschen Reich organisiert. Nachdem er in Argentinien gefasst worden war, wurde am 11. April 1961 in Jerusalem der Prozess gegen ihn eröffnet Herlinde Koelbl gehört neben dem Coach und Buchautor Louis Lewitan und dem ZEIT-Redakteur Ijoma Mangold zu den Interviewern unserer Gesprächsreihe. Die renommierte Fotografin wurde in Deutschland durch ihre Interviews bekannt

schoben. Bevor er beim achten Mal wirklich einmarschierte, hatten wir Holland soeben verlassen. Vor genau 50 Jahren waren Sie stellvertretender Staatsanwalt im Eichmann-Prozess. Sie beschrieben das als traumatisches Erlebnis. Auf jeden Fall war es das. An dem Tag, an dem ich Eichmann zum ersten Mal begegnete, las ich gerade in der Autobiografie von Rudolf Hess, wie er in Auschwitz jeden Tag tausend Kinder in die Gaskammern stoßen musste und davon manchmal Kniezittern bekam. Er schämte sich für diese Schwäche, nachdem er mit Eichmann gesprochen hatte. Dieser erklärte ihm, dass man die Kinder zuerst töten müsse, da sie die Keimzelle für die Wiedererrichtung der Rasse seien. Zehn Minuten nachdem ich das gelesen hatte, wollte mich Eichmann sprechen. Ich höre noch immer seine Schritte da draußen und sehe, wie er sich mir gegenübersetzt. Eichmann war ein absolut Besessener gewesen, der sich ganz mit seinem Tun identifizierte. Noch am Schluss, als er den Krieg längst verloren glaubte, fuhr er persönlich nach Auschwitz, um die Zahl der Tötungen von zehn- auf zwölftausend täglich heraufzusetzen. Während des Prozesses haben Sie einmal fast einen Kollaps erlitten. Ja, als ein Ungar, der als einziger seiner Familie überlebt hatte, mir erzählte, wie er nach Birkenau kam. Und wie sich dort sein Töchterchen, das einen roten Mantel anhatte, in der Menge von ihm entfernte, bis es als roter Punkt ganz aus seinem Leben verschwand. Erst zwei Wochen davor hatte ich meiner eigenen Tochter einen roten Mantel gekauft. Es verschlug mir völlig die Stimme. Ich konnte keinen Ton mehr herausbekommen ... Welche Spuren haben all diese Erfahrungen bei Ihnen hinterlassen? Ich denke noch heute sehr oft daran. Jeden Tag gibt es irgendetwas, das mich daran erinnert. Zum Beispiel wenn ich ein Kind im roten Mantel sehe. Oder wenn ich nach Deutschland komme. Vielleicht konnte und kann ich das alles ja nur deshalb ertragen, weil meine eigene Familie nicht dieses Schicksal erleiden musste – weil mein Vater die Onkel rechtzeitig aus den Lagern holte und uns alle damals rettete.

Interview und Foto von Herlinde Koelbl

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