March 13, 2017 | Author: Christian Förstner | Category: N/A
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Skript zur
Einführung in die Musiktherapie Musikpsychologische und klinische Grundlagen des Helfens und Heilens mit Musik Universität Siegen Univ.-Prof. Hartmut Kapteina Musikpädagogik Musiktherapie 57068 Siegen Hölderlinstr.3 Raum H-D 7203 Tel. 0271/740-3212 Email:
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Januar 2006
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Inhaltsübersicht 1
Gesamtdarstellungen unterschiedlicher musiktherapeutischer Arbeitsansätze......................................... 4
2
Literaturdienst ................................................................................................................................................. 5
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Definition der Musiktherapie ......................................................................................................................... 7
3.1 Kasseler Thesen zur Musiktherapie .................................................................................... 9 3.2 Zusammenfassung der Kernaussagen aus den „Kasseler Thesen“...................................... 12 3.3 Zur Abgrenzung zwischen Musiktherapie und Musikpädagogik........................................ 14 4
Was geschieht, wenn wir Musik hören? ........................................................................................................ 15
4.1 Anmerkung zur Mechanik des Hörvorgangs ...................................................................... 16 4.2 Anmerkung zur Musikwirkung bei Pflanzen ...................................................................... 18 4.3 Anmerkung zur Musikwirkung auf Tiere............................................................................ 20 4.4 Anmerkungen zum Thema: Schädliche Wirkungen von Musik beim Menschen............... 21 4.5 Biophysik des Musikerlebens.............................................................................................. 24 4.6 Neurophysiologische Prozesse beim Musikerleben ............................................................ 27 4.7 Körperliche Reaktionen beim Musikerleben ...................................................................... 34 4.8 Anmerkungen zur emotionalen Wirkung von Musik.......................................................... 40 4.9 Kulturspezifische Aspekte des Musikerlebens.................................................................... 43 4.10 Wahrnehmungspsychologische Aspekte des Musikerlebens.................................... 44 4.11 Anmerkungen zum Thema „Musikerleben als Zeiterleben“ .................................... 45 4.12 Tiefenpsychologische Aspekte des Musikerlebens................................................... 47 4.13 Anmerkungen zur sozialen Dimension des Musikerlebens...................................... 51 4.14 Anmerkungen zur Ästhetik des Musikerlebens ........................................................ 57 4.15 Kognitive Aspekte des Musikerlebens ..................................................................... 62 4.16 Politische Aspekte des Musikerlebens...................................................................... 64 4.17 Anmerkungen zum religiösen/spirituellen Charakter von Musik............................. 66 5
Hörerfahrungen in Grenzbereichen............................................................................................................... 70
5.1 5.2 5.3 5.4
Hören vor der Geburt .......................................................................................................... 71 Erfahrungen mit dem „Pränatalraum“................................................................................. 75 Die Hörerfahrung von Gehörlosen und Ertaubten .............................................................. 76 Musiktherapie mit Koma - Patienten .................................................................................. 79
6
Schlaglichter auf die historische Entwicklung der musikalischen Heilkunst ............................................. 80
7
Musiktherapie in der Psychiatrie ................................................................................................................... 84
7.1 Musiktherapie bei Schizophrenie........................................................................................ 88 7.2 Musiktherapie bei Depression............................................................................................. 92 7.3 Musiktherapie bei Suchterkrankungen................................................................................ 102 2
7.4 Musiktherapie mit alten und demenzkranken Menschen.................................................... 110 8
Musiktherapie und Sozialpädagogik.............................................................................................................. 116
9
Neue Musik, Improvisation und ganzheitliche Musikpädagogik ................................................................ 122
10
Weitere Themen der Vorlesung...................................................................................................................... 128
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Anschriften, bei denen musiktherapeutische Weiterbildung, fachlicher Austausch und Interessenvertretung möglich ist:................................................................................................................... 129
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Gesamtdarstellungen unterschiedlicher musiktherapeutischer Arbeitsansätze
Leslie Bunt: Musiktherapie. Eine Einführung in psychosoziale und medizinische Berufe, Weinheim 1998 bietet einen Überblick über die weltweite Musiktherapie - Szene, Praxis und Theoriestand. Herbert Bruhn: Musiktherapie. Geschichte – Theorien – Methoden, Göttingen 2000 bietet ebenfalls einen umfassenden Überblick, wobei heil- und sonderpädagogische Aspekte besonders berücksichtigt sind. David Aldrige: Musiktherapie in der Medizin, Bern 1999 stellt „Forschungsstrategien und praktische Erfahrungen“ heraus und bearbeitet auch die ästhetischen Aspekte der Musiktherapie. Henk Smeijsters: Grundlagen der Musiktherapie, Göttingen 1999 hat eine Theorie und Forschungspraxis vorgelegt, die stark an der Diagnostik orientiert ist. Er geht von der Frage aus, warum bei welcher Krankheit oder Störung Musiktherapie etwas leistet, das keine andere Psychotherapie leisten kann. Wolfgang Strobel/Gernot Huppmann: „Musiktherapie“ (Göttingen 1978) ist stark historisch orientiert und die Bücher von R. Spintge und R. Droh: Musik in der Medizin (Berlin und Heidelberg 1987) und Musik-Medizin (Stuttgart 1992) informieren über die medizinisch orientierten Ansätze der Musiktherapie. Henk Smeijsters: Musiktherapie als Psychotherapie (Stuttgart 1994) stellt die verschiedenen aktuellen Richtungen der Musiktherapie dar. 1996 ist das „Lexikon Musiktherapie“ (Hogrefe Verlag Göttingen) erschienen; es enthält in alphabetischer Reihenfolge ca. 100 Beiträge von „Abwehr“ bis „Trance“ und ist das zur Zeit aktuellste Kompendium zur Musiktherapie. Schließlich ist in der Reihe der Gesamtdarstellungen zu nennen: der von Gerhard Harrer 1982 herausgegebene Sammelband „Grundlagen der Musiktherapie und Musikpsychologie“ (Stuttgart) mit einigen musikpsychologischen Beiträgen, einem geschichtlichen Überblick, einem theoretischen Grundlagenbeitrag zur Methodik der Musiktherapie von Christoph Schwabe und Praxisbeiträgen aus der Psychiatrie, Heilpädagogik, Arbeit mit hirngeschädigten, entwicklungsgestörten Kindern, mit Psychotikern und Neurotikern, bei psychosomatischen Erkrankungen, bei Depression und im Strafvollzug. Ein Beitrag zur Ausbildung an der Wiener Hochschule und über außereuropäische Heilmusik beschließt den Bogen den dieses Werk umspannt. Der 1998 von Werner Kraus herausgegebene Band „Die Heilkraft der Musik. Eine Einführung in die Musiktherapie“ (Beck, München) enthält neben allgemeinen Beiträgen zum Berufsbild und zu Ausbildungsmöglichkeiten Praxisschilderungen von der Kinder- bis zu geriatrischer Therapie ebenso das 1997 von Lotti Müller und Hilarion G. Petzold herausgegebene Buch „Musiktherapie in der klinischen Arbeit“ (Fischer, Stuttgart). Eine neue Gesamtdarstellung von Hans Helmut Decker-Voigt (Hrsg.) informiert über die Schulen der Musiktherapie, München 2001 Datenbanken zur Musiktherapie sind an der Universität Herdecke und der Universität Siegen vorhanden. Die Universität Witten - Herdecke gibt eine CD-ROM über Musiktherapie heraus, die beim dortigen Institut für Musiktherapie bestellt werden kann; Anschrift: Institut für Musiktherapie; Alfred Herrhausenstraße 50, 54884 Witten (Tel.: 02303/926782) Die Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie informiert über Musiktherapie auf einer Internet Homepage: „www.musiktherapie.de“
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Literaturdienst
Die Universität GH Siegen hat einen speziellen Literaturdienst eingerichtet: Dieser Service richtet sich zum einen an die Teilnehmer der "Musikalisch-therapeutischen Zusatzausbildung”, die sich in einen speziellen Bereich der Musiktherapie intensiver einarbeiten möchten. Für sie entstehen keine Kosten. Sonstige Interessenten können dieses Angebot gegen eine Gebühr in Höhe von 10,- DM (bitte als Schein der Literaturanfrage beifügen) in Anspruch nehmen. Bei mehr als sechs Stichwörtern schicken Sie uns bitte eine Diskette. Das Literaturverzeichnis umfasst mehr als 6000 Titel und wird ständig aktualisiert und erweitert. Es enthält Bücher (Artikel aus Sammelbänden werden einzeln aufgeführt), Artikel aus Fachzeitschriften und „graue Literatur”. Neben den Bibliographien nach DIN-Norm umfaßt die Recherche bei einem Teil der Veröffentlichungen eine Kurzzusammenfassung. Wenn Sie unsere Dienstleistung der Literaturrecherche nutzen möchten, richten Sie bitte einen schriftlichen Auftrag mit der genauen Beschreibung Ihrer Suchanfrage, unter Verwendung nachfolgender Stichworte an: Prof. Hartmut Kapteina, Universität Siegen, Hölderlinstraße 3, 57068 Siegen.
A
Adipositas, Adorno, Afrika, Afrikanische Musik, Aggression, Aids, aktive Musiktherapie, Alkoholabhängige, Altenarbeit, Altorientalische Musiktherapie, Alzheimer, Amusie, Anaesthesiologie, Angst, Anorexia nervosa, Anthropologie der Musik, Anthroposophie, Anthroposophische Musiktherapie, archetypische Klänge, Assoziation, Asthma, Atem, Audio-Psycho-Phonologie, Ausbildung, Ausdruckstherapie, Australien, Autismus, Autoaggression, Autogenes Training, Autonomie, Ästhetik, ästhetische Erziehung.
B
Behinderte Kinder, Behinderung, Belgien, Berimbao, Berufsbild des Musiktherapeuten, Bewegungserziehung, Bewegungstherapie, Bewußtseinsstruktur, Beziehung, Bibliographie, Bilderleben, Blasinstrumente, Blutdruck, Borderline, Brasilien, Bratsche, Bulimie.
C Cello, Cerebralparese, Chaos, China, Computermusik, Conga. D Dänemark, Demenz, Depression, Diagnostik, Dialog, Dialyse, Didgeridoo, DMVO, Dokumentation musiktherapeutischer Prozesse, Down-Syndrom, Dramatherapie, Drogenabhängige, Drogenabhängigkeit, Dyskalkulie.
E
Ehe, Einzelmusiktherapie, Ekstase, elektronische Musik, Eltern, Emotionalität, Entspannung, Entwicklungspsychologie, Epilepsie, Erotik, Erwachsenenbildung, Erziehung, Eskimo, Esoterik, Eßstörungen, Ethik, Evaluation.
F
Familientherapie, feministische Therapie, fernöstliche Medizin, Flöte, Flüchtlinge, Folteropfer, forensische Psychiatrie, Forschung, Frankreich, Frauen, Free Jazz, Freizeitpädagogik, frühe Störungen, Frühförderung, Frühgeborene.
G
Gamelan-Musik, Geburtshilfe, Geburtsprozess, Geburtsvorbereitung, Gegenübertragung, Gehemmtheit, Geige, geistige Behinderung, Genuß, Geriatrie, Gerontopsychiatrie, Geschichte der Musiktherapie, Gesetze, Gesprächsführung, Gestalttherapie, Gestaltung, Gestaltungstherapie, Gesundheit, Gewalt, Gitarre, Glocken, Gong, graphische Notation, Griechenland, Großbritannien, Grundschule, Gruppenimprovisation, Gruppenmusiktherapie, Gruppenpädagogik, Gruppentherapie.
H
Hauterkrankungen, Heilpädagogik, Heilpädagogische Musiktherapie, Heilritual, Heimerziehung, Herz, Hirnphysiologie, Hirnschädigung, Hospiz, Hören, Hörgeschädigte, Hypermotorik, Hypnose
I Identifikation, Imagination, Immunsystem, Improvisation, Indianer, Indien, Indikation, Indonesien, initiatische Musiktherapie, Instrumentalspiel, Instrumentenbau, integrative Musiktherapie, Intensivmedizin, interkulturelle Arbeit, intermediale Arbeit, Intermusiktherapie Inzest, Islam, Israel, Italien.
J Japan, Jazz, Jugendarbeit, Jugendliche, Jugendpsychiatrie. K Kalimba, Kanada, Karibik, Katathymes Bilderleben, Keyboard, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kindergarten, Kindermusiktherapie, Kindertherapie, Klang, Klangschalen, klassische Musik, Klavier, Koma, Kommunikation, Komposition, Konsum, Kontakt, Kontrabaß, Kopfschmerzen, Körperbehinderung, Körpererfahrung, Körperkontakt, Körpertherapie, Krankheitsbewältigung, Kreativität, Krebs, Kriegstrauma, Kuba, Kunst, Kunsttherapie, Kurzzeitmusiktherapie.
L Lautstärke, Lehrmusiktherapie, Leier, Lernbehinderung, Lese-Rechtschreibschwäche, Lieder, Ligeti, Linkshändigkeit, Logopädie. M Malen, Mallet-Instrumente, Manie, Manipulation, Massenmedien, Mädchenarbeit, Märchen, Meditation, Medizin, Melodie, Monocord, Morbus Huntington, Morphologie, morphologische Musiktherapie, Motivation, multimediale Arbeit, Multimorbidität, Multiple Sklerose, musikalische Früherziehung, Musikalische Gestaltung, Musikästhetik, MusikerInnen-Krankheiten, Musikerleben, Musikethnologie, Musikgeschichte, Musikhören, Musikinstrumente, Musikmalen, Musikpädagogik, Musikpsychologie, Musikschule, Musiksoziologie, Musikwirkung, Musikwissenschaft, Mutismus, Mutter-Kind-Interaktion.
N
Nachsorge, Narzissmus, Neid, Neue Musik, Neurologie, Neurose, Neuseeland, Niederlande, NLP, Nordoff-Robbins-Musiktherapie, Norwegen, Notation.
O Obdachlose, Obertöne, Ocean-Drum, Orff, Ostdeutschland, Österreich. P Paartherapie, Parkinson, Perkussionsinstrumente, Philosophie, Poesie, Pogrammusik, Polen, Politik, Posaune, pränatal, Prävention, Prozesse, Psychiatrie, psychische Krankheit, Psychoanalyse, Psychoanalytische Musiktherapie, Psychodrama, Psychologie, Psychomotorik, Psychopathologie, Psychose, Psychosomatik, Psychotherapie
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Q Qualitätssicherung. R Rassel, Regression, Regulative Musiktherapie, Rehabilitation, Religion, rezeptive Musiktherapie, Rheuma, Rhythmik, Rhythmus, Ritual, Rockmusik, Rollenspiel
S
Sansa, Säuglinge, Schamanismus, Schizophrenie, Schlaganfall, Schlagzeug, Schlitztrommel, Schmerz, Schule, Schwangerschaftsabbruch, Schweden, Schweiz, Schwerst-Mehrfachbehinderung, Schwirrholz, Sehbehinderung, Selbstmanagement-Therapie, Selbstwahrnehmung, Sexualität, sexueller Missbrauch, Shruti-Box, Singeleitung, Singen, Skandinavien, Sonderpädagogik, Sozialarbeit/Sozialpädagogik, Sozialmusiktherapie, Sozialpsychiatrie, Sozialpsychologie, Spiel, Spielesammlung, Spiritualität, Sprachentwicklung, Sprachstörung, Sterbende, Stille, Stimme, Strafvollzug, Streichinstrumente, Stress, Sucht, Suchtprävention, Suchttherapie, Suizid, Supervision, Südafrika, Symbol, Synthesizer, systemische Therapie, szenisches Spiel
T
Tamtam, Tanz, Tanztherapie, Theater, Theorie der Musiktherapie, therapeutische Beziehung, Tibet, Tinnitus, Tod, Tomatis, Trance, Transzendenz, Trauer, Traum, Trauma, Trommel, Türkei, TZI.
U Ungarn, Unterhaltungsmusik, USA, Utopie, Übertragung. V Vegetativum, Verhaltensauffälligkeit, Verhaltenstherapie, Vibraphon, Vibration, Videoarbeit, Videofilme zur Musiktherapie, Volkstanz, Vorschulerziehung.
W Wahrnehmung, Wahrnehmungsförderung, Werbung, Widerstand. X Xylophon. Y Yoga. Z Zahnmedizin, Zeit, Zwangserkrankungen.
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3
Definition der Musiktherapie
Für viele Menschen ist die Verbindung zwischen “Musik“ und “Therapie“ offensichtlich, vor allem wenn sie neben ihrem Unterhaltungswert entdeckt haben, wie Musik zur eigenen psychischen Stabilisierung beiträgt. In der Musiktherapie versuchen wir, über Musik Kontakt zu anderen Menschen herzustellen. Wir können beobachten, wie Klienten die Musik benutzen, um Probleme in der Kommunikation zu überwinden. Über viele Jahre galt als Standard der britischen Musiktherapie die Definition von Juliette ALVIN, nach der Musiktherapie als der gezielte Einsatz von Musik bei Behandlung, Rehabilitation, und Erziehung von Kindern und Erwachsenen, die an physischen, psychischen und emotionalen Störungen leiden, gilt (vgl. 1975,4).Die Definition verfolgt insgesamt einen eher therapeutenzentrierten Ansatz, bei dem die Therapie an Kindern und Erwachsenen vollzogen wird. Ähnlich orientiert ist BRUSCIAS Definition der Australischen Musiktherapie - Vereinigung: Musiktherapie sei der gezielte Einsatz von Musik, um therapeutische Ziele bei Kindern und Erwachsenen zu erreichen, die bestimmte soziale, emotionale, körperliche oder intellektuelle Probleme haben (vgl. 1989,172). Therapeutische Ziele stehen auch Definition des NAMT, der amerikanischen Musiktherapie - Vereinigung im Vordergrund (1980, 1): Musiktherapie ist der Einsatz von Musik, um die geistige, psychische und physische Gesundheit wieder herzustellen, zu erhalten und zu verbessern. Andere Definitionen heben Verhaltensänderungen hervor, die durch Musiktherapie bewirkt werden (vgl. FLESHMAN & FRYREAR 1981, 59) und die sich innerhalb des kreativen Verlaufs einer therapeutischen Beziehung entwickeln. (NORDOFF & ROBBINS 1986). Auch ALVIN betont: “Erfolg oder Versagen der Musiktherapie hängen sowohl von menschlichen wie musikalischen Faktoren der Beziehung ab” (1975, 82). Wie in den USA so verlief die Entwicklung der Musiktherapie auch in den europäischen Ländern so, dass zunächst die Betonung auf der Musik lag und die Rolle des Therapeuten vernachlässigt wurde; sodann wurde die Musik zugunsten der therapeutischen Beziehung vernachlässigt, und schließlich pendelte sich das Selbstverständnis der Musiktherapie irgendwo zwischen den beiden Extremen ein (vgl. BUNT 1998). Diese verschiedenen Schwerpunkte bestimmen die Diskussionen weiterhin auf nationaler und internationaler Ebene. In Großbritannien standen Musik und Musiker als Musiktherapeuten immer im Mittelpunkt der Überlegungen. In anderen Ländern wird Musiktherapie von Musikpsychologen, Ärzten und Pädagogen ausgeübt; die Musik wird von ihnen eher als Mittel einer anderen psychotherapeutischen Methode, eher als Teil eines übergeordneten Behandlungsansatzes denn als eigenständige therapeutische Intervention angesehen (vgl. BUNT 1998, S. 17f.). Der brasilianische Musiktherapeut BENENZON meint, dass ein Musiktherapeut als solcher besonders ausgebildet sein muss, nicht aber notwendigerweise ausgebildeter Musiker sein muss (vgl.1981, 50). International bestehen unterschiedliche Ausbildungsstandards mit unterschiedlichen akademischen und berufsrechtlichen Abschlüssen. Manche Studiengänge lassen nur Musiker mit Hochschulabschluss und langjähriger Praxiserfahrung zu, andere bilden Studenten direkt nach der Schule aus. Mit der internationalen Ausweitung des Berufes, etwa im Rahmen der Europäischen Union, wird es immer wichtiger, gemeinsame Grundlagen und international anerkannte Standards zu entwickeln. Dabei werden verschiedene Länder entsprechend ihrer jeweiligen Musik- und Kulturgeschichte unterschiedliche Definitionen für Musiktherapie entwickeln und die jeweiligen Besonderheiten ihres Gesundheitswesen berücksichtigen. Jedenfalls aber liegt die besondere Leistung der Musiktherapeuten in der “Bereitschaft und Fähigkeit zuzuhören” (STEELE 1988,3). Hinzu kommt die Fähigkeit, musikalisch und emotional zu begleiten und differenzierte Interaktionen im klanglichen und psychischen Geschehen zu gestalten (vgl. auch KENNY 1982,6). Insofern stellt Musiktherapie einen Kontext her, in 7
dem sich über gemeinsame musikalische Erfahrungen eine gegenseitige Beziehung zwischen Klienten und Therapeuten bildet, die ermöglicht, dass sich sowohl aufseiten des Klienten als auch im therapeutischen Prozess selbst Veränderungen ereignen (vgl. APMT 1990). Musiktherapie kann also als gezielter Einsatz von Klängen und Musik in einer sich entfaltenden Beziehung zwischen Klient und Therapeut definiert werden mit dem Ziel, das körperliche, geistige, soziale und emotionale Wohlergehen zu fördern (BUNT 1998, 18). Die Vertreter der wichtigsten musiktherapeutischen Vereinigungen in Deutschland haben 1998 in den sog. Kasseler Thesen Musiktherapie als “eine praxisorientierte Wissenschaftsdisziplin“ gekennzeichnet, “die in enger Wechselbeziehung zu verschiedenen Wissenschaftsbereichen steht, insbesondere der Medizin, den Gesellschaftswissenschaften, der Psychologie, der Musikwissenschaft und der Pädagogik.” Der Begriff Musiktherapie wird verstanden als “summarische Bezeichnung für unterschiedliche musiktherapeutische Konzeptionen, die ihrem Wesen nach als psychotherapeutische zu charakterisieren sind” und insofern “an die Entwicklung einer therapeutischen Beziehung gebunden” sind. In der musiktherapeutischen Beziehung wird Musik als subjektiver Bedeutungsträger verstanden, der “den Prozess des Wiedererkennens interiorisierter Erfahrungen” ermöglicht, “die im Zusammenhang der Menschheitsgeschichte, dem Enkulturationsprozess und der aktuellen Situation stehen.” Sie ist “Gegenstand und damit Bezugspunkt für Patient und Therapeut in der materialen Welt. An ihm können sich Wahrnehmungs-, Erlebnis-, Symbolisierungs- und Beziehungsfähigkeit des Individuums entwickeln. Rezeption, Produktion und Reproduktion von Musik setzen intrapsychische und interpersonelle Prozesse in Gang und haben dabei sowohl diagnostische als auch therapeutische Funktion. Das musikalische Material eignet sich, Ressourcen zu aktivieren und individuell bedeutsame Erlebniszusammenhänge zu konkretisieren, was zum Ausgangspunkt für weitere Bearbeitung genommen wird.” Die verschiedenen “musiktherapeutische Methoden folgen tiefenpsychologischen, verhaltenstherapeutisch-lerntheoretischen, systemischen, anthroposophischen und ganzheitlich-humanistischen Ansätzen” (KASSELER KONFERENZ, 1998). Literatur: ALVIN, J.: Music Therapy, London 1975 BENENZON, R.O.: Music Therapy Manual, Springfield, Illinois 1981 BRUSCIA, K.E.: Defining Music Therapy, Spring City, Pennsylvania 1989 BUNT, L.: Musiktherapie. Eine Einführung für psychosoziale und medizinische Berufe, Weinheim 1998 FLESHMAN, B. & FRYREAR, J.L.: The Arts in Therapy, Chicago 1981 KASSELER KONFERENZ MUSIKTHERAPEUTISCHER VEREINIGUNGEN IN DEUTSCHLAND: Thesen zur Musiktherapie. Musiktherapeutische Umschau 1998, 232-235 KENNY, C.: The Mythic Artery. The Magic of Music Therapy, Atuscadero, California 1982 NAMT (National Association of Music Therapy): Broschüre zur Berufslaufbahn 1980 NORDOFF, P. & ROBBINS, C.: Schöpferische Musiktherapie, Stuttgart 1986 SCHWABE, C.: Musiktherapie bei Neurosen und funktionellen Störungen, Jena 1969 STEELE, P.: Forward. Journal of British Music Therapy, 2/1988
MUSIC THERAPY IS POSSIBLE THE ONLY IMPROVISATORY TRADITION IN THE WORLD THAT ENCOURAGES TOTAL MUSICAL FREEDOM AND HAS NO UNDERLYING MUSICAL STRUCTURES TO UNDERPIN IT. June Boyce Tilman: Constructing Musical Healing. The wounds that Sing, London 2000, 246
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3.1
Kasseler Thesen zur Musiktherapie
Präambel Mit den vorliegenden Thesen haben die VertreterInnen der oben genannten acht musiktherapeutischen Vereinigungen in Deutschland den Versuch unternommen, einen schulenübergreifenden Konsens zur Musiktherapie herbeizuführen. Dieser besteht in Aussagen zu theoretisch-wissenschaftlichen Grundlagen der Musiktherapie, Ausbildungsschwerpunkten, konzeptionellen Voraussetzungen und Anwendungsbereichen. Die Thesen können nur in ihrer Gesamtheit verstanden werden, da die einzelnen Aussagen einander bedingen und ergänzen. Die darin enthaltenen Festlegungen lassen Raum für die unterschiedlichen musiktherapeutischen Konzeptionen und geben gleichzeitig eine verbindliche Basis für die Qualitätssicherung. Die Kasseler Thesen dienen einem gemeinsamen berufspolitischen Vorgehen zur Schaffung der gesetzlichen Grundlagen für die Ausübung von Musiktherapie. Gleichzeitig implizieren sie eine Abgrenzung zu anderen therapeutischen Verfahren, in denen ebenfalls Musik eingesetzt wird. Die Dynamik der fachlichen und verbandspolitischen Auseinandersetzung zur Erarbeitung der Kasseler Thesen wurde maßgeblich vorangetrieben durch die Begegnung der historisch gewachsenen ost- und westdeutschen Fachtraditionen. Dieser Prozess markiert den Beginn einer auf Integration und Kooperation ausgerichteten Entwicklung zwischen den VertreterInnen der unterschiedlichen Musiktherapierichtungen in Deutschland.
These 1 Musiktherapie ist eine praxisorientierte Wissenschaftsdisziplin, die in enger Wechselbeziehung zu verschiedenen Wissenschaftsbereichen steht, insbesondere der Medizin, den Gesellschaftswissenschaften, der Psychologie, der Musikwissenschaft und der Pädagogik. These 2 Der Begriff “Musiktherapie” ist eine summarische Bezeichnung für unterschiedliche musiktherapeutische Konzeptionen, die ihrem Wesen nach als psychotherapeutische zu charakterisieren sind, in Abgrenzung zu pharmakologischer und physikalischer Therapie. Musiktherapie näher zu definieren erfordert Aussagen zum zugrunde liegenden Psychotherapiebegriff und Musikbegriff. These 3 Ausgehend von einem bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnis ist Psychotherapie wissenschaftlich fundierte Behandlung mit psychologischen Mitteln. Sie gehört zum Bereich der Medizin und hat dort eine integrative Funktion. Psychotherapie beruht auf einem jeweils zu definierenden theoretischen Konzept, das Aussagen zum Menschenbild, zur Ethik und zum Krankheitsverständnis beinhaltet. Daraus ergibt sich ein System von Methoden, mit dem sie sich auf die therapeutischen, rehabilitativen und präventiven Gebiete des Gesundheits- und Sozialwesens einzustellen vermag. Somit ist das Erscheinungsbild psychotherapeutischer Methoden theorie- und kontextabhängig insbesondere im Bezug auf die Indikationsstellung, die Zielsetzung, das methodischdidaktische Therapeutenverhalten, den Umgang mit der Gruppendynamik bzw. den dynamischen Prozessen der Dyade. Psychotherapie begründet sich in der Konstituierung des therapeutischen Settings und ist an die Entwicklung einer therapeutischen Beziehung gebunden. Die Wirksamkeit der Psychotherapie entfaltet sich im Wahrnehmen, Erleben, Erkennen, Verstehen und im Handeln des Patienten. Keine psychotherapeutische Methode oder Technik folgt einem monokausalen Wirkprinzip. 9
These 4 Musik ist vom Menschen gestalteter Schall. Als akustisches, zeitstrukturierendes Geschehen ist sie Artikulation menschlichen Erlebens mit Ausdrucks- und Kommunikationsfunktion. Sie befindet sich im dialektischen Spannungsfeld individueller – körperlicher, psychischer, spiritueller, sozialer – und gesellschaftlich - kultureller Bedingungen und ist dort wirksam und bedeutsam. Musik wird zum subjektiven Bedeutungsträger über den Prozess des Wiedererkennens interiorisierter Erfahrungen, die im Zusammenhang der Menschheitsgeschichte, dem Enkulturationsprozess und der aktuellen Situation stehen. Zu “gestaltet” Bei der musikalischen Gestaltung werden Töne, Klänge und Geräusche in übergreifende rhythmische, melodische und harmonische Strukturzusammenhänge gebracht. Dieser Vorgang ist Grundlage aller künstlerischen Schaffensprozesse in der Musik. Gestaltung schließt auch unbeabsichtigte Schallereignisse ein, sofern diese vom Rezipienten als bedeutsam wahrgenommen werden. Zu “Schall” Schall ist die Bezeichnung für alle hörbaren Schwingungsvorgänge und schließt die Begriffe Ton und Klang als Phänomene universaler harmonikaler Gesetzmäßigkeiten und den Begriff Geräusch mit ein. Zu “zeitstrukturierend” Musik beinhaltet Erfahrungen von und mit Zeit. Zu “Artikulation” Diese Artikulation ist nonverbal und präverbal. Auch das Verständnis der Musik als präsentatives Symbolsystem ist darin enthalten (Maria Becker in: Lexikon der Musiktherapie 1996, 230); andere Zugänge sind aber ebenfalls abgedeckt, wie semiotische (Christoph Schwabe: Methodik der Musiktherapie, Leipzig 1978) oder ästhetische (z.B. Mukarowský, Lucács).
These 5 In der Musiktherapie ist Musik Gegenstand und damit Bezugspunkt für Patient und Therapeut in der materialen Welt. An ihm können sich Wahrnehmungs-, Erlebnis-, Symbolisierungsund Beziehungsfähigkeit des Individuums entwickeln. Rezeption, Produktion und Reproduktion von Musik setzen intrapsychische und interpersonelle Prozesse in Gang und haben dabei sowohl diagnostische als auch therapeutische Funktion. Das musikalische Material eignet sich, Ressourcen zu aktivieren und individuell bedeutsame Erlebniszusammenhänge zu konkretisieren, was zum Ausgangspunkt für weitere Bearbeitung genommen wird. These 6 Musiktherapeutische Methoden folgen tiefenpsychologischen, verhaltenstherapeutischlerntheoretischen, systemischen, anthroposophischen und ganzheitlich-humanistischen Ansätzen. Der Begriff “Ansätze” beinhaltet Theoriebildung und zugehörige Handlungskonzepte.
These 7 Musiktherapie wird in Institutionen des Sozial - und Gesundheitswesens durchgeführt: • •
im klinischen Bereich (z.B. in psychotherapeutischen Spezialkliniken für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, in stationären und semistationären Kliniken, in somatischen Fachkliniken) im rehabilitativen Bereich (z.B. in Fördereinrichtungen für psychisch, geistig und/oder körperlich behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene, in ambulanten psychiatrischen Nachsorgeeinrichtungen) 10
• •
im präventiven Bereich (z.B. in der prophylaktischen und metaphylaktischen Arbeit bei Kindern, Jugendlichen, und Erwachsenen in allen Lebensabschnitten) und in freier Praxis.
These 8 Voraussetzung für die Anwendung von Musiktherapie ist eine syndromatologische und eine therapieprozessbezogene musiktherapeutische Diagnostik. Daraus leiten sich Indikationsstellung und Zielformulierung ab. Das Wesen der musiktherapeutischen Diagnostik liegt in der Beschreibung der musikalischen Phänomene und ihrer Verbindung zu körperlichen, seelischen und sozialen Vorgängen. These 9 In der Musiktherapie werden spezifische Dokumentationsverfahren zur Therapieevaluation und zur wissenschaftlichen Forschung verwandt. These 10 Die Ausbildung von MusiktherapeutInnen umfaßt: • • •
•
einen Schwerpunkt in musiktherapeutischer Selbsterfahrung in Bezug auf den Umgang mit Musik, der eigenen Emotionalität und interaktionellen Prozessen, Theorie und Methodik musiktherapeutischer Konzepte und deren anthropologische, musikwissenschaftliche, medizinische, erziehungswissenschaftliche und andere Grundlagen Musikpraxis (therapeutisches Handeln mit musikalischen Mitteln), supervidierte Praktika im Berufsfeld. Kassel, den 04. Juli 1998 Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie e.V. (DGMT) Deutscher Berufsverband der Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten e.V. (DBVMT) Berufsverband Klinischer Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten e.V. (BKM) Deutsche Musiktherapeutische Vereinigung Ost e.V. (DMVO) Sektion des Berufsverbandes für Anthroposophische Kunsttherapie (BVAKT) Verein zur Förderung der Nordoff/Robbins Musiktherapie e.V. Bundesarbeitsgemeinschaft der staatlich anerkannten Musiktherapieausbildungen (AMA) Ständige Ausbildungsleiter-Konferenz privatrechtlicher musiktherapeutischer Ausbildungen (SAMT)
Veröffentlicht in Musiktherapeutische Umschau 1998, S. 232 - 235
11
3.2
Zusammenfassung der Kernaussagen aus den „Kasseler Thesen“
1. Definition der Musiktherapie Praxisorientierte und interdisziplinäre Wissenschaft Musiktherapie ist eine praxisorientierte Wissenschaftsdisziplin, die in enger Wechselbeziehung zu verschiedenen Wissenschaftsbereichen steht, insbesondere der Medizin, den Gesellschaftswissenschaften, der Psychologie, der Musikwissenschaft und der Pädagogik psychotherapeutische Konzeption Der Begriff „Musiktherapie“ ist eine summarische Bezeichnung für unterschiedliche musiktherapeutische Konzeptionen, die ihrem Wesen nach als psychotherapeutische zu charakterisieren sind, in Abgrenzung zu pharmakologischer und physikalischer Therapie. bio-psycho-soziales Krankheitsverständnis Ausgehend von einem bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnis ist Psychotherapie wissenschaftlich fundierte Behandlung mit psychologischen Mitteln. therapeutische Beziehung Psychotherapie begründet sich in der Konstituierung des therapeutischen Settings und ist an die Entwicklung einer therapeutischen Beziehung gebunden. Wahrnehmen, Erleben, Erkennen, Verstehen, Handeln Die Wirksamkeit der Psychotherapie entfaltet sich im Wahrnehmen, Erleben, Erkennen, Verstehen und im Handeln des Patienten.
2. Die Musik in der Musiktherapie „weiter Musikbegriff“ Musik ist vom Menschen gestalteter Schall. Als akustisches, zeitstrukturierendes Geschehen ist sie Artikulation menschlichen Erlebens mit Ausdrucks- und Kommunikationsfunktion. Wahrnehmungs-, Erlebnis-, Symbolisierungs- und Beziehungsgegenstand In der Musiktherapie ist Musik Gegenstand und damit Bezugspunkt für Patient und Therapeut in der materialen Welt. An ihm können sich Wahrnehmungs-, Erlebnis-, Symbolisierungs- und Beziehungsfähigkeit des Individuums entwickeln. Rezeption, Produktion und Reproduktion diagnostische und therapeutische Funktion Rezeption, Produktion und Reproduktion von Musik setzen intrapsychische und interpersonelle Prozesse in Gang und haben dabei sowohl diagnostische als auch therapeutische Funktion. Das musikalische Material eignet sich, Ressourcen zu aktivieren und individuell bedeutsame Erlebniszusammenhänge zu konkretisieren, was zum Ausgangspunkt für weitere Bearbeitung genommen wird. Das Wesen der musiktherapeutischen Diagnostik liegt in der Beschreibung der musikalischen Phänomene und ihrer Verbindung zu körperlichen, seelischen und sozialen Vorgängen.
12
tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutisch-lerntheoretische, systemische, anthroposophische und ganzheitlich-humanistische Ansätze Musiktherapeutische Methoden folgen tiefenpsychologischen, verhaltenstherapeutisch-lerntheoretischen, systemischen, anthroposophischen und ganzheitlich-humanistischen Ansätzen. 3. Indikation und Anwendung Indikation bei begrenzter sprachlicher Artikulationsmöglichkeit, schwerem Zugang zu Gefühlen und frühen Störungen Musiktherapie unterscheidet sich von anderen Psychotherapien darin, dass sie Musik als Kommunikationsmittel einsetzt. Sie hat dadurch den Vorzug, dass sie mit Hilfe des MusikErlebens sogar Patienten erreicht, die sich sprachlich kaum oder gar nicht artikulieren können oder die nur sehr schwer oder auf sprachlichem Wege überhaupt nicht Zugang zu ihren Gefühlen bekommen. Außerdem hat Musiktherapie besondere Möglichkeiten, Patienten mit frühen Störungen zu erreichen, da klangliche Erfahrungen und Musik früheste und pränatale Erlebnisschichten ansprechen. Anwendung in klinischen, rehabilitativen und präventiven Bereichen Musiktherapie wird in Institutionen des Sozial - und Gesundheitswesens durchgeführt: • • • •
im klinischen Bereich (z.B. in psychotherapeutischen Spezialkliniken für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, in stationären und semistationären Kliniken, in somatischen Fachkliniken) im rehabilitativen Bereich (z.B. in Fördereinrichtungen für psychisch, geistig und/oder körperlich behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene, in ambulanten psychiatrischen Nachsorgeeinrichtungen) im präventiven Bereich (z.B. in der prophylaktischen und metaphylaktischen Arbeit bei Kindern, Jugendlichen, und Erwachsenen in allen Lebensabschnitten) und in freier Praxis.
4. Die „vier Säulen“ der Ausbildung: Selbsterfahrung, Theorie und Methodik, Musikpraxis, supervidierte Praktika Die Ausbildung von MusiktherapeutInnen umfaßt: • • • •
einen Schwerpunkt in musiktherapeutischer Selbsterfahrung in Bezug auf den Umgang mit Musik, der eigenen Emotionalität und interaktionellen Prozessen, Theorie und Methodik musiktherapeutischer Konzepte und deren anthropologische, musikwissenschaftliche, medizinische, erziehungswissenschaftliche und andere Grundlagen Musikpraxis (therapeutisches Handeln mit musikalischen Mitteln), supervidierte Praktika im Berufsfeld.
13
3.3
Zur Abgrenzung zwischen Musiktherapie und Musikpädagogik
Björn Tischler schlägt die folgende Übersicht vor, um das Schnittfeld zwischen Musiktherapie und Musikpädagogik zu erfassen:
14
4
Was geschieht, wenn wir Musik hören?
Überblick 1. Zur Physiologie des Hörvorgangs 2. 3. 4. 5.
Musikwirkung bei Pflanzen ... und Tieren schädliche Wirkungen beim Menschen Biophysik des Musikerlebens
6. 7. 8. 9.
hirnphysiologische Vorgänge beim Musikhören Körperreaktionen emotionale Reaktionen wahrnehmungspsychologische Aspekte
10. musikspezifische Zeiterfahrung 11. tiefenpsychologische Aspekte 12. soziale Aspekte 13. Musikhören als Akt ästhetischer Aneignung 14. kognitive Aspekte 15. politische Aspekte 16. religiöse und spirituelle Aspekte
15
4.1
Anmerkung zur Anatomie des Hörvorgangs
Der Hörvorgang kann als vierfacher Transformationsvorgang schwingender Moleküle beschrieben werden: Akustische Vibration
Mechanische Vibration
Flüssige Vibration
Neuronale Energie
Außenohr Ohrmuschel Gehörgang
Mittelohr Trommelfell Ohrknöchelchen
Innenohr Cochlea Vestibulärsystem
Hörnerv Gleichgewichtsnerv Zentr. Nervensyst.
Während man generell davon ausgeht, dass die Vibrationen des Trommelfells auf die Gehörknöchelchen (Hammer, Amboß, Steigbügel) übertragen werden und von dort über das ovale Fenster die Innenohrflüssigkeit in Schwingung versetzen, geht Tomatis (s.u.) davon aus, dass der Schall im wesentlichen über die Vibration der Schädelknochen übertragen wird, wobei Trommelfell und Gehörknöchelchen die Funktion eines Anpassungs- und Ausgleichssystems erhalten (Alfred Tomatis 1987, S. 137). Diese Auffassung scheint die Erkenntnis von Zucarelli zu stützen, über die Stanislav Grof (Abenteuer der Selbstentdeckung, München 1987, S. 233 f.) berichtet, der zufolge „das menschliche Ohr nicht nur als Empfänger sondern auch als Sender“ von Klängen fungiert. Diese Theorie ist neuerdings durch Forschungen an der Technischen Universität München belegt worden, wonach die Ohren von Wirbeltieren und den Menschen nicht einmal bei völliger Stille ihre Ruhe haben; sie erzeugen selber Töne. „Tief aus dem Schneckengang schallt es in Richtung Trommelfell. Dieser ‚Rückschall’ erlaubt heute die präzise Messung der Hörfunktion. Die Emissionen spiegeln exakt die Sinnesverarbeitung im Innenohr wider.“ In der Schnecke gibt es innere und äußere Haarzellen (Corti-Zellen); die inneren machen nur ein Viertel aus „und doch sind vor allem sie es, die das Gehör über Nervenzellen mit dem Gehirn verbinden. Funktion der äußeren Haarzellen ist: „sie erzeugen die mysteriösen Emissionen, verstärken eintreffende Schallwellen und übertragen sie auf die inneren Haarzellen“ (Bild der Wissenschaft Heft 12, 1989, S. 21). Bei der genauen Untersuchung von 3000 Säuglingen während sechs Jahren haben Forscherinnen der University of California in Los Angeles und der University of Arizona herausgefunden, dass im linken Ohr Musik stärker verstärkt wird als im rechten und dass umgekehrt im rechten deutlich Sprache stärker verstärkt werde. Dabei nutzten sie das Phänomen der otoakustischen Emission (OAE), bei der das im Ohr vorverarbeitete akustische Material teilweise ins Außenohr wieder abgestrahlt wird. Die asymmetrische Verarbeitung von Geräuschen, Sprache und Musik im Gehirn habe daher bereits im Ohr seinen Ursprung. Details der Untersuchung sind im Wissenschaftsmagazin Science vom September 2004 veröffentlicht (MU 2005, 101). WEBER (2001, 422) weist darauf hin, dass Basilarmembran auf der dem ovalen Fenster zugewandten Seite schmal und unelastisch ist und im weiteren Verlauf breiter und elastischer wird. Daher müssen die Wanderwellen, die sich in der Cochlea bilden, vom Beginn der Schnecke an bis zu ihrem Ende eine bestimmte Form annehmen, die jeweils an einer Stelle eine maximale Amplitude aufweist. Dort ist die Reizung der Haarzellen am stärksten. Das Gehirn wertet diese Information aus, indem es Lautstärke, Tonhöhe und Dauer des Schallreizes rekonstruiert. 16
Joachim Ernst Berendt schreibt dazu: „Wir haben etwa zweimal 18000 Haarzellen in unseren Innenohren. Prof. Spreng von der Universität Erlangen hat unter dem Elektronenmikroskop erkannt: Sie stehen da ausgerichtet nebeneinander in mehreren Reihen (...). Wenn eine Zelle durch den Ton angesprochen wird, richtet sie sich auf“ und leitet den Impuls an das Gehirn weiter. „Das interessante ist dies: Nicht nur die Zelle des Grundtones richtet sich auf, sondern auch die Zellen der Obertöne (...). Spreng sagt: Es sieht so aus als warteten sie schon darauf, dass auch sie angesprochen werden. Als machten sie sich bereit –in den Tausendstel Mikrosekunden, auf die es hier ankommt-, weil sie wissen: Jetzt komme ich an die Reihe. Das heißt also: Unser Ohr will harmonikal hören.“ Es sei „etwas Muskelartiges“ in den Hörzellen, und „H.P. Zenner von der Universität Tübingen und andere Forscher haben diese kleinsten Muskeln nachgewiesen. Muskeln haben mit Willen zu tun, in diesem Fall deutlich mit Willen zum Aufnehmen der Schwingungen möglichst in harmonikalen Abläufen. Es ist ein „Wille“ von immerhin fast 30000 kleinsten mikro-Muskeln im Kern unseres Hörvorgangs“ (1996, 368 f). Die neuro-physiologische Verarbeitung von Hörreizen beschreibt auch Juliane Ribke in ihrem Buch „Elementare Musikpädagogik. Persönlichkeitsbildung als musikerzieherisches Konzept“ (Regensburg 1995, S. 67-90); es würden sich im Laufe der prä- und postnatalen Kindesentwicklung eine „sensorische Urmatrix“ entwickeln, die eng mit einer psychischen verbunden ist; aus dieser neuro-physiologischen Gesamtschau entwickelt sie das Konzept einer ganzheitlichen Musikpädagogik (s.S.96). Weitere Informationen in dem Beitrag von Karl Heinz Plattig im Handbuch Musikpsychologie, herausgegeben von Herbert Bruhn u.a. (Reinbek 1993, S. 613 ff) Eine umfassende und grundlegende Einführung in die vielfältigen Aspekte des Hörens gibt das Buch: Jürgen Hellbrück: Hören. Physiologie, Psychologie und Pathologie, Göttingen 1993; interessant zu lesen und etwas populärwissenschaftlich und esoterisch geprägt ist das Buch: Joachim-Ernst Berendt: Das dritte Ohr. Vom Hören der Welt, Reinbek 1985 ders.: Das Leben – ein Klang, München 1996 Die ersten Kapitel aus dem Buch Robert Jourdain: „Das wohltemperierte Gehirn. Wie Musik im Kopf entsteht“, Heidelberg 1998 beschreiben sehr detailliert den Hörprozess und vor allem auch die äußerst komplexen Steuerungsmechanismen, mit denen sich das Ohr vor Schallüberflutung schützt. Muskeln an den Gehörknöchelchen versteifen sich bei zu hoher Schallenergie und verhindern so die Überlastung des Innenohrs (S. 29 f). Diese Muskeln dämpfen auch die Wahrnehmung der eigenen Stimme (S. 34 f). Im Innenohr gewährleisten Nervenbahnen, die vom Hörzentrum zur Cochlea zurückführen das Zustandekommen von Feedbackschleifen, durch die wir störende Geräusche beim Zuhören ausblenden können (S. 35).
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4.2
Anmerkung zur Musikwirkung bei Pflanzen
Lore Auerbach berichtet, wie unter dem Vorspiel von Ragas (25 Minuten pro Tag) Balsampflanzen nach ca. einem halben Jahr 72% mehr Blätter entwickeln und 20% höher gewachsen waren als Kontrollpflanzen ohne Musikvorspiel. Stoffwechselprozesse der Pflanze würden unter dem Reiz von Musikklängen oder rhythmischen Erschütterungen beschleunigt und um mehr als 200% zunehmen; durch Beschallung mit Hochfrequenzwellen wird Wachstum derart beschleunigt, dass eine zweimalige Ernte möglich erscheint. (Lore Auerbach: Musik als Massendroge, intervalle, Heft 4, 1982, S. 43); sie bezieht sich dabei auf: Peter Tomkins/Christopher Bird: Das geheime Leben der Pflanzen, Berlin/ München 1973, S. 137 - 139 ff). Über die Wirkung von Musik auf Pflanzen berichtet ebenfalls Joachim-Ernst Berendt in "Nada Brahma. Die Welt ist Klang", Reinbeck 1985, auf den Seiten 102 ff. Tonius Timmermann schreibt in seinem Buch „Die Musik des Menschen. Gesundheit und Entfaltung durch eine menschennahe Kultur“ (München 1994) - übrigens auch eine gute Gesamtdarstellung der Musiktherapie -: „In die Natur noch integrierte Menschen singen für die Pflanzen, weil sie überzeugt davon sind, dass sich dieser Kontakt zum Wohle ihres Wachstums auswirkt“ (125f) und merkt dann an: „Wie die Hopi - Indianer erfolgreicher waren als staatliche Agrarspezialisten mit modernster Ausrüstung kann man nachlesen in Duerr 1983“ (Duerr, Hans-Peter: Der Wissenschaftler und das Irrationale, Band 1, Frankfurt a. M. 1983 und ders.: Traumzeit, Frankfurt a. M. 1983) Neuerdings werden eigens zur Wachstumsförderung komponierte Musiken als Patent angemeldet. Der französische Physiker Joel Sternberger hat die Vibrationen, die beim Zusammensetzen des Proteins aus einzelnen Aminosäuren entstehen, durch vielfaches Oktavieren so weit transponiert, dass sie als Musik in unseren Hörbereich gelangen. Cytochrome oxydase
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Bei der Beschallung mit diesen Melodien von drei Minuten pro Tag sollen Tomaten zweieinhalb mal schneller wachsen und auch süßer schmecken. (Bild der Wissenschaft 8/94, S. 12)
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1988 untersuchte der chinesische Biophysiker Z. X. Zhu die Verteilung der Intensität und Leitfähigkeit von Schallwellen auf der Oberfläche von Pflanzen, wie Wassermelonen, Bananen und Kürbissen. Dabei zeigte sich in überraschender Deutlichkeit, dass sich die akustische Energie in gleicher Weise auf dem Pflanzenkörper verteilte, wie die elektromagnetische.
(Zhang und Kapteina: Biophysik und Musiktherapie, Siegen 2002)
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4.3
Anmerkung zur Musikwirkung auf Tiere
Die unterschiedlichen Formen des Sozialverhaltens bei Mäusen unter Einwirkung von klassischer Musik und Rockmusik kommentiert Klaus-Ernst Behne in seinem Aufsatz "Wirkungen von Musik" (Musik und Unterricht Heft 18, 1993, S. 4-9) wie folgt: "Bei Klassik waren die Mäuse besonders freundlich, sozial und sexuell aktiv, steckten oft die Köpfe zusammen, aber keineswegs im Wettstreit und auch nicht in aggressiver Absicht" (S. 5). Auf Rock bzw. Rock 'n Roll reagierten sie "ausgesprochen aggressiv" und hatten für andere Tätigkeiten (Huddling, Sexual Behaviour) zwangsläufig weniger Zeit." (S. 6) Spintge und Droh berichten in ihrem Buch "Musik-Medizin“, Stuttgart 1992, dass "Ratten auf die Oktave eines bestimmten Tones genauso konditioniert reagierten, wie auf den ursprünglich konditionierten Ton" (S. 23); das bedeutet, dass Ratten gelernt hatten, bei einem bestimmten Ton eine bestimmte Aufgabe zu erledigen; wenn dieser Ton in seiner Tonhöhe verändert wurde, reagierten die Ratten nicht. Sobald jedoch diese Veränderung das Schwingungsverhältnis 1 zu 2 (Oktave) betrug, erkannten die Ratten offensichtlich den Ton wieder, (etwa so wie wir sagen das ist ein c und das ist ein hohes c) und reagierten
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4.4
Anmerkungen zum Thema: Schädliche Wirkungen von Musik beim Menschen
Stefan Evers trägt in seinem Aufsatz "Wenn Musik krank macht..." (in: Musik und Unterricht Heft 18/1993) in der Fachliteratur berichtete pathogene Wirkungen von Musik zusammen; es handelt sich dabei um musikogene Epilepsie, musikalische Halluzinationen und durch Musik ausgelöste Herzanfälle. Zu ergänzen wären diese Hinweise insofern, als Musik Streß und Hörschäden bewirken kann sowie als süchtiges Verhalten schädlich sein kann. Auf die Gefahren des süchtigen Musikverhaltens haben wir in unserem Buch „Musik und Malen in der therapeutischen Arbeit mit Suchtkranken“, Stuttgart 1993, S. 32 - 39 ausführlich hingewiesen. Bezüglich der Hörschäden, die durch das Hören lauter Musik verursacht werden, weisen Einstellungsuntersuchungen von Berufsanfängern in Nordrhein-Westfalen nach, dass rund 100 von 4000 Jugendliche einen durchschnittlichen Innenohr-Verlust von etwa 30 Dezibel aufweisen. Das entspricht einer Schädigung, wie sie bei Industriearbeitern mit einer Dauerbelastung von 90 Dezibel und 40 Stundenwoche nach 10 Arbeitsjahren festgestellt wurde. Da angeborene oder krankheitsbedingte Ursachen ausgeschlossen werden konnten, sieht man im Düsseldorfer Arbeitsministerium als Schadensquelle das Freizeitverhalten der Jugendlichen, insbesondere das Hören lauter Musik. Ein 4-stündiges Popkonzert etwa entspricht in seiner Belastung für das Ohr einer ganzen Woche Arbeit am Preßlufthammer (Sozialmagazin Heft 5, 1989, S. 10 f., Gesundheitsmagazin 1/96, S. 6-9). Zwar verfügt das menschliche Gehör über äußerst komplexe Steuerungsmechanismen, mit denen es sich vor Schallüberflutung schützt (Robert Jourdain: „Das wohltemperierte Gehirn. Wie Musik im Kopf entsteht“, Heidelberg 1998, S. 29 f); Muskeln an den Gehörknöchelchen ziehen sich „bei gefährlich lautem Schall reflexartig zusammen und vermindern damit die Schwingungsenergie ... um bis zu zwei Drittel. Dieser Reflex wird eine hundertstel Sekunde nach Auftreten des Impulses ausgelöst, er kann aber unter Umständen erst nach einer halben Sekunde seine volle Wirkung entfalten. Deswegen nutzt er wenig bei plötzlich auftretenden Geräuschen wie Schüssen. Außerdem erschöpfen sich die Muskeln, wenn das Ohr ständigem Lärm ausgesetzt wird.“ Einer Notiz in der Zeitschrift „Bild der Wissenschaft“ zufolge (3/2002, 32) erfüllt der Lärm bei Rockveranstaltungen den Tatbestand der Körperverletzung. Im einzelnen heißt es: „Wem nach einem Konzert noch Wochen später die Ohren dröhnen, der hat Anspruch auf Schmerzensgeld. Das Oberlandesgericht Koblenz gab einer 13-jährigen Besucherin Recht, die nach einem Konzert der Boy-Group NSYNC unter Hörschwierigkeiten litt. Der Ohrenarzt attestierte ihr eine Innenohrschädigung, beidseitiges Ohrenrauschen und Schwindelanfälle, die stationär behandelt werden mussten. Das Mädchen hatte sich nahe bei den Lautsprecherboxen aufgehalten. Die Richter verurteilten den Veranstalter zu 9000,-- DM Schmerzensgeld, da Besucher eines Rockkonzertes davon ausgehen dürften, dass ihnen selbst in Lautsprechernähe keine gesundheitlichen Schäden drohen (AZ 5 U 1324/00)“. Ebenfalls aus dem Magazin „Bild der Wissenschaft“ (4/2005) stammt die Information, dass belgische Lungenspezialisten vier Patienten mit Pneumothorax - Schäden behandelt haben. Drei hatten vorher ein Rockkonzert besucht, der vierte hatte eine extrem laute Stereoanlage in seinem Auto installiert. Dazu wird erläutert, dass „’hochenergetische Niedrigfrequenzen’1 – also lautes Bassgedröhne – auch die feinen Bläschen in der Lunge zum Platzen bringen kann. 1
Tiefe Frequenzen verändern den Schwingungszustand des Körpers. Sie können auch therapeutisch genutzt werden. S. dazu im Kapitel körperliche Reaktionen beim Musikhören.
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Schuld sind die rhythmisch wechselnden Luftdruckwerte. In Extremfällen kann das zu einem Pneumothorax führen: die Atemluft entweicht in den Brustraum, und der betroffenen Lungenflügel kollabiert wie ein undichter Fußball (33). Spatscheck u.a. heben in ihrem Buch „Happy Nation?!? Jugendmusikkulturen und Jugendarbeit in den 90er Jahren (Frankfurt am Main 1997) lediglich die aktivierende Wirkung von sehr lauter und rhythmischer Musik hervor, die zu rauschartigen Zuständen führen kann. Jedenfalls stelle „jugendzentrierte Populärmusik, besonders, wenn sie in hoher Lautstärke gehört wird, ein sehr mächtiges Stimulationsmedium“ dar (159). Möglichkeiten, hier aus sozialpädagogischer Sicht anzusetzen habe ich im Aufsatz „Musik im Jugendhaus - das Beispiel der pädagogisch initiierten Diskothek“ in: Klaus Finkel (Hrsg.), Handbuch Musik und Sozialpädagogik, Regensburg 1979, S. 123-145 beschrieben, und: im Buch „Musik und Malen in der therapeutischen Arbeit mit Suchtkranken“ befindet sich ab S. 253 ein Kapitel über suchtpräventive Musikpädagogik; unter anderem werden dort neuere Ansätze des sozialpädagogischen, sozialtherapeutischen und musiktherapeutischen Arbeitens mit Rockmusik beschrieben. Neuere Literatur zum Thema Musik und Sozialpädagogik mit Jugendlichen: Hans Peter Jantzer und Wolfgang Krieger: Rockmusik in der sozialpädagogischen Gruppenarbeit, Berlin 1995 Wolfgang Hering u.a. (Hg): Praxishandbuch Rockmusik in der Jugendarbeit, Opladen 1993 Elmar Nordmann: Musik in der Arbeit mit Jugendlichen, Münster, Hamburg 1993 Elmar Nordmann und Thorsten Heimann: Rockmusik und Jugend, Münster, Hamburg 1994 Christian Spatscheck, Markus Nachtigall, Robert Lehenherr, Wilfried Grüßinger: „Happy Nation?!? Jugendmusikkulturen und Jugendarbeit in den 90er Jahren, Frankfurt am Main 1997 Dieter Baake (Hrsg.) Handbuch Jugend und Musik. Opladen 1998 Karl Heinz Dentler: Party time, Rockmusikpraxis und Lebensbewältigung, Opladen 2002 Ders.: (2003). Rockmusik-Machen mit straffällig gewordenen Jugendlichen zur Förderung sozialer Kompetenzen (Forum Musiktherapie und Soziale Arbeit, Siegen). www.musiktherapiesasp.de/material/forum/3.4.pdf Ders.: Punkmusik als Musik sozialpädagogischer Arbeit (Forum Musiktherapie und Soziale Arbeit, Siegen). www.musiktherapie-sasp.de/material/forum/3.3.pdf Burkhard Hill: „Musik-Machen” in Gleichaltrigengruppen als sozialpädagogisches Angebot, www.musiktherapie-sasp.de/material/forum/3.1.pdf Das EARACTION Projekt an der FH München unter der Leitung von Bernhard Kurz tritt der Gefahr von Hörschädigung entgegen. Jeder vierte Jugendliche ist von Schwerhörigkeit bedroht. Hörschäden sind die Berufskrankheit Nummer 1. Allein in 2005 werden dadurch in Europa etwa 106 Milliarden Euro Kosten entstehen: www.earaction.de (MU 2005, 103). „Menschen, vor deren Schlafzimmer ein mittlerer Schallpegel von 55 Dezibel herrscht (etwa Zimmerlautstärke des Fernsehers), sind doppelt so oft wegen hohen Blutdrucks in Behandlung, wie Mitbürger, bei denen die Lärmbelästigung unter 50 Dezibel liegt (etwa Brummen des Kühlschranks)“ (Bild der Wissenschaft 7/2003, 50). Das ist das Ergebnis einer Studie des Robert Koch Instituts mit über 1700 Teilnehmerinnen und Teilnehmern (s. auch: Musiktherapeutische Umschau 3002, 191) „...das Risiko, an einem durch Lärm verursachten Herzinfarkt zu sterben, ist höher als die Gefahr, die von krebserzeugenden Autoabgasen ausgeht“ (Sonntag, Jan Peter: Akustische Lebensräume in Hörweite der Musiktherapie. Über das Sonambiente stationärer Betreuung von Menschen mit Demenz, MU 2005, 264). 22
R.M. Schafer (Soundscape und akustische Ökologie. In: Akademie der Künste Hrsg.: Klangkunst, Katalog des Festivals Sonambiente. München 1996, 209-212) berichtet: „In China glaubte man an die magische Kraft der Klänge, und so gab es sehr früh ein gut durchdachtes System, das den Zustand der Musik mit dem des Universums gleichsetzte. Kaiser Wuudih (141-87 v. Chr.) gründete das „Amt für Musik“, dem die Beaufsichtigung sowohl der Riten als auch der musikalischen Unterhaltung oblag. Da eine wesentliche Aufgabe dieses Amtes in der Überwachung der musikalischen Stimmung aller Klänge bestand, gehörte es zum Kaiserlichen „Amt für Gewichte und Maße“ ... In einem Lieg etwa sollte mit jedem aufsteigenden Intervall ein absteigendes Intervall gleicher Größe einer „friedlichen und freudigen Tonfolge korrespondieren, um eine geregelte Regierung sicherzustellen“ (209 zit. bei Sonntag s.o.). Sonntag kennzeichnet die klangökologische Misere unserer Lebenswelt folgendermaßen: „Aufgrund einer zunehmend lauten, gleich klingenden Umwelt und dem daraus folgenden Mangel an „Hörenswürdigkeiten“ (Schafer) hat der Mensch allmählich das Ohr aus dem alltäglichen Wahrnehmungszusammenhang ausgekoppelt (267).
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4.5
Biophysik des Musikerlebens
Indem die Musiker auf ihren Instrumenten spielen, bringen sie die Moleküle der sie und die Hörer umgebenden Luft in eine ganz bestimmte Ordnung, die wir als „Musik“ bezeichnen. Beim Hören wandeln wir die Vibrationen der Luft um; zuerst in mechanische Bewegungen des Mittelohrapparates, sodann in die auf- und ab brandenden Wellen der Innenohr - Flüssigkeit und schließlich zu neuronalen Energieflüssen im zentralen Nervensystem. Am Ende steht dann die Wahrnehmung: „Ich höre Musik“. Die Auffassung von Musik als geordnetem System, das die in Unordnung geratene, sprich die erkrankte Seele oder den Körper des Menschen wieder herstellt, wieder „in Ordnung“ bringt, geht u.a. auf die Forschungen des griechischen Philosophen Pythagoras zurück. Er fand in den Tonsystemen seiner Zeit den Aufbau des damals bekannten Planetensystems wieder. Diese als „harmonikal“ bezeichneten Strukturen sind durch das mathematische Verhältnis kleiner ganzer Zahlen bestimmt. Die Frequenzen (Obertöne), die den einzelnen Ton bilden, sind nach diesem Prinzip angeordnet. Und unser Gehör, ob musikalisch gebildet oder nicht, erkennt spontan, ob in dem gehörten Ton diese Ordnung gestört ist oder nicht. Im ersten Fall registriert es eine Trübung, Rauschen oder Unreinheit. Die auf diesen Erkenntnissen beruhende Ansicht, Musik sei ein Abbild der kosmischen Ordnung, wurde weitgehend als esoterisch abgetan. Sie hielt dem modernen Wissen über die planetarischen Gegebenheiten und des Weltalls insgesamt nicht Stand. Jedoch Vertreter der Teilchenphysik haben harmonikale Verhältnisse im Mikrokosmos der Atome aufgezeigt, so dass Musikhören durchaus wieder als Vorgang mikrostruktureller Ordnung und Umordnung aufgefasst werden kann. In Zusammenarbeit mit dem chinesischen Biophysiker Chang Lin Zhang konnten wir zeigen, dass sich die Charakteristik der Stromflüsse im menschlichen Körper im Sinne der durch die Musik gegebenen Ordnung verändert. Literatur: Zhang, C. L. et al (eds) (1996). Current Development of Biophysics, Hangzhou, Hangzhou University Press. ( in English ) Zhang, C. L. (2001). Dissipative Structure of Electromagnetic Field in Living Systems. MISAHA Newsletter #32-35, 18-21 Zhang, C. L. (2002). Skin Resistance vs. Body Conductivity (On the Background of Electromagnetic Measurement on Skin). Frontier Perspectives 11 (2), 15-25 Zhang, C. L. (2002). Invisible Rainbow and Inaudible Music: The Dissipative Structure of Electromagnetic Field in Living Systems
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Hier sehen wir das Messergebnis vor dem Hören von Klängen des 26-saitigen Monocords:
Dieser Verteilung entspricht die Verteilung der Frequenzen eines geräuschhaften Klanges:
Nach ca. fünf Minuten, in denen die Versuchsperson den Klängen zuhört, wird die folgende Verteilung der Stromflüsse gemessen:
Aus anderen Untersuchungen ist bekannt, dass das erste Messergebnis bei Stresszuständen auftritt, das zweite bei entspannter Aktivität, etwa nach Meditationsübungen.
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Wirklich überraschend war für die Biophysiker, dass die Anordnung der Stromflüsse nach der Log-normal Verteilung große Ähnlichkeit mit der Anordnung der Frequenzen des reinen Tones aufweist. Die Abbildung des Frequenzspektrums etwa eines Altsaxophon Tones macht das deutlich:
220 Hz Das Prinzip der harmonikalen Anordnung von Frequenzen; schematisch dargestellt für den Ton „a“
Lautstärke
440 Hz
660 Hz 880 Hz 1100 Hz
1320 Hz
1540 Hz
Frequenz
Die Idee, welche der Biophysik des Hörens zugrunde liegt, basiert auf der Vorstellung, dass alle Materie aus vibrierenden Teilchen besteht, die sich zu vielschichtig kombinierten Wellen verbinden. Die Wellen können nach stehendem Prinzip angeordnet sein, wie das in der Musik der Fall ist. Die nebenstehende Abbildung (Neil L. Carlson, 1988, 177) zeigt diesen Schwingungszustand, bei dem die einzelnen Frequenzen in symmetrischer Anordnung von den Begrenzungen des Raumes reflektiert werden. Der Energieverlust bei solchen stehenden Wellen ist wesentlich geringer als bei Wellen, die unsymmetrischer Anordnung auf die Raumgrenzen treffen. Beim Musikhören gilt dieses Prinzip sowohl in akustischer Hinsicht (die schwingende Luft im Raum) als auch in körperlicher Hinsicht (schwingende Moleküle in den einzelnen Organen). Die oben dargestellten Stromflussmessungen geben darüber Auskunft, welche Schwingungsform im Organismus überwiegt und sie zeigen gleichzeitig, wie die musikalischen Klänge die Schwingungsverhältnisse in den Zellen und Organen des Körpers verändern. 26
4.6
Neurophysiologische Prozesse beim Musikerleben
Spintge und Droh weisen in ihrem Buch: Musik - Medizin, Stuttgart 1992, darauf hin, dass zentrale Musikverarbeitungsprozesse in beiden Hirnhemisphären ablaufen. „Linkshemisphärische Leistungen sind dabei vor allem die Verarbeitung von Lautstärke, Klangfarbe, musikalischen Intervallen, Akkorden, Tondauer, Tonhöhe, Takt, Rhythmus. Rechtshemisphärische Leistungen sind insbesondere die Wahrnehmung von Tempoänderungen und der Ausdrucksmodalität von Tonhöhen“ (S. 17, ebenfalls s. S. 243 ff und Christoph Fassbender in Handbuch Musikpsychologie, hrsg. v. Bruhn u.a. 1993 S. 622 ff.). Geschlecht, Händigkeit, Spielen eines Instruments haben entscheidenden Einfluß auf die Lokalisation der Hirnaktivität beim Musikerleben. Helmuth Petsche hat nachgewiesen, dass beim Musikhören Frauen ihre linke und rechte Hirnhälfte wesentlich intensiver verschalten als Männer (Bild der Wissenschaft, Heft 12/1989, S. 17; auch 5/1996, S.46 ff: Bei Frauen arbeiten während des Redens beide Gehirnhälften, Männergehirne steuern das Sprechen nur im linken Hinterkopf; ebd. 10/2002, S. 72: beim Zuhören von vorgelesenen Geschichten arbeitet bei Männern „nur das Areal zur Sprachverarbeitung im linken Schläfenlappen. Bei weiblichen Testpersonen arbeiteten zusätzlich die Bereiche der rechten Hemisphäre, die für nichtsprachliche Höreindrücke zuständig sind, etwa für Musikverarbeitung und damit verbundene Vorstellungen). Auch interkulturelle Unterschiede spielen eine Rolle: "So findet die musikalische Verarbeitung westlicher Musik bei Japanern bevorzugt in der rechten Hirnhemisphäre statt, wohingegen japanische Musik bevorzugt linkshemisphärisch verarbeitet wird. Bei westlichen Probanden ist die Lateralität genau umgekehrt." Die Ursache dafür wird vor allem in der "durch Vokale geprägten japanischen Sprache" gesehen. (Spintge/Droh, S. 18) Helga de la Motte-Haber fasst im Handbuch der Musikpsychologie (Laaber 1985, S. 21 - 23) den Stand der Forschung so zusammen, dass für das Musikhören „beide Verarbeitungsmodalitäten der Hemisphären von Bedeutung sein“ können. „Denn deren grundsätzlich verschiedene Arbeitsweisen - rechts findet eine mehr holistisch-ganzheitliche Gestalterfassung und links ein mehr analytisch-begriffliches Denken in der Reihenfolge statt - ist in vollem Umfang zumindest für das Verständnis jener Musik nötig, deren syntaktische Bedeutung den analytisch zergliedernden Verstand voraussetzt“ (S. 23). Linke Gehirnhälfte Yang (männliches Prinzip)
Rechte Gehirnhälfte Yin (weibliches Prinzip)
• Intelligenz • Rationalität • Yang (männlich) • Bewusste Vorgänge • Intellektuelle Einsicht • Analytisches Denken • Abstrakte Begabung • Zeit • Aktivität • Digital • Analyse von Worten • Sprache • Zeitliche Abläufe
• Intuition • Gefühl • Yin (weiblich) • Unbewusste Vorgänge • Emotionale Verarbeitung • Ganzheitliche Betrachtung • Künstlerisch, kreativ • Raum • Passivität • Analog • Sprach- u. Sinnerkennung • Musik • Zeitlosigkeit
Quelle: http://www.medicrossover.de/abhoer.htm
Ein Musikstück aktiviert das Gehirn bei jedem Hören anders, fanden amerikanische Wissenschaftler. Ihre Beobachtung sei gleichzeitig der erste handfeste Beweis für die schon lange gehegte Vermutung, dass das Gehirn auch gleiche Informationen auf eine dynamische Weise immer wieder neu verarbeitet, schreiben sie im Magazin "Science" (Bd. 298, S. 2167).
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Die Forscher vom Dartmouth-Zentrum für kognitive Hirnforschung haben verschiedenen Testpersonen ein kompliziertes Musikstück vorgespielt, das innerhalb von acht Minuten alle Tonarten der westlichen Musik durchläuft. Gleichzeitig beobachteten sie die Aktivität im Gehirn der Probanden mit einem bildgebenden Verfahren. Die musikgeübten Versuchspersonen sollten während der Sitzungen eine bestimmte Melodie und einen Instrumentenwechsel aus dem Stück heraushören. Zur Überraschung der Forscher aktivierte das gleiche Musikstück bei den Testpersonen bei jedem Hören andere Areale im Gehirn. Mit Hilfe statistischer Methoden konnten die Wissenschaftler dennoch ein Zentrum im Gehirn ausfindig machen, das sich offenbar mit der Analyse von Musik beschäftigt. Während Melodien zunächst in Hirnregionen hinter den Schläfen verarbeitet werden, befindet sich das höhere Analysezentrum direkt hinter der Stirn, im so genannten rostromedialen Stirnhirn. Dieses Zentrum ist Wissenschaftlern schon länger bekannt als eine Region, in der das Gehirn emotional bewegende Eindrücke mit vernünftigen Erwägungen in Einklang bringt. Warum ausgerechnet diese Region auch Musik analysiert, konnten die Forscher jedoch nicht klären (Bild der Wissenschaft 12, 2002). Bei der genauen Untersuchung von 3000 Säuglingen während sechs Jahren haben Forscherinnen der University of California in Los Angeles und der University of Arizona herausgefunden, dass im linken Ohr Musik stärker verstärkt wird als im rechten. In rechten werde deutlich Sprache stärker verstärkt. Die asymmetrische Verarbeitung von Geräuschen, Sprache und Musik im Gehirn habe daher bereits im Ohr seinen Ursprung. Details der Untersuchung, die unter Verwendung der otoakustischen Emission (OAE) durchgeführt wurden, bei der das im Ohr vorverarbeitete akustische Material teilweise ins Außenohr wieder abgestrahlt wird, sind im Wissenschaftsmagazin Science vom September 2004 veröffentlicht (MU 2005, 101).
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Klaus-Ernst Behne u.a. kamen in ihrer Untersuchung „EEG-Korrelate des Musikerlebens“ in: Musikpsychologie, Heft 4, 1987, S. 49-63 und Heft 5, 1988, S. 95-105, zu dem Ergebnis, dass bestimmte Musik, nach Tempo, Dynamik und Stil ausgewählt, nicht zu systematischen Veränderungen in den EEG-Befunden führt. Dieses insgesamt negative Ergebnis erklären die Autoren dahingehend, „dass sich Unterschiede zwischen den Musikstücken nicht im oberen, kortikalen Bereich auswirken, sondern in tieferen Schichten, in denen verschiedene Aktivierungssysteme vermutet werden“ (S. 105). Mit diesen tieferen Schichten sind die Funktionen der Formatio retikularis bzw. das Limbische System im Zwischenhirn gemeint, über die Sinneswahrnehmungen zuerst und vor allem emotionale, vegetative, d.h. körperliche Reaktionen auslösen. Boris Luban-Plozza weist in diesem Zusammenhang auf die Funktion des linksseitigen Ammonshorn* hin, einer Schaltstelle für Gedächtnis und Gefühl. Es sei das „Tor zum Gedächtnisspeicher“, und beim Hören der Konsonanzen und Dissonanzen der Musik träten „verborgene, verschüttete und gefühlsbetonte Inhalte aus dem Unbewussten hervor. („Das Dritte Ohr - Musik und innere Harmonie“, Zeitschr. Musik-, Tanz- und Kunsttherapie, 3/1990, S. 119124) Ablauf der neuronalen Prozesse im Gehirn während des Musikhörens (Aus bild der Wissenschaft 7/2003) *(Cornu Ammonis, ein wulstartiger Gehirnabschnitt am Boden des Seitenventrikels, der wichtige Rindengebiete des Riechhirns enthält, Brockhaus 1966)
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Musikhören; Reizung der Sinnesorgane
Neurophysiologische Prozesse bei Musikhören
rechte Hemisphäre
linke Hemisphäre
Ammonshorn Langzeit Gedächtnis
operiert linear, sukzessiv, schrittweise nacheinander, wie die Sprache, bei der wir Gleichzeitiges in ein Nacheinander auflösen
Formatio retikularis
leistet das prompte gleichzeitige Integrieren vieler Informationen, beherbergt Fähigkeiten, wie Kreativität und Intuition und ist für das Hören von Musik, auch für das Nicht - Hören von Klängen verantwortlich
Limbisches System Prüft, ob die Wahrnehmung eine Chance oder eine Gefahr beinhaltet; setzt musikalische Informationen in Emotionen um, löst vegetative Reaktionen aus
Vegetativum Herz- Atem-, Darm- Blasen-, Haut- und andere Reaktionen (vgl. auch Elisabeth Haselauer: Berieselungsmusik. Droge und Terror, Wien 1986, S. 29 ff)
Diese spezielle Verarbeitung von Hörreizen hat sicherlich ihren Grund in der Funktion des Gehörs als „Frühwarnsystem“. „Die Schnellverbindung zwischen Wahrnehmen und Handeln existiert wahrscheinlich aus guten Gründen der Anpassung’ argumentiert Bargh, der zusammen mit Gollwitzer 1990 den Forschungspreis der Max-Plank-Gesellschaft erhielt. Es ist besser vor einem Hasen Reißaus zu nehmen, wenn es im Gebüsch raschelt, als erst einmal abzuwarten, ob sich ein Bär heranpirscht“ (Bild der Wissenschaft 11/2001, 74). Im Innenohr sind „in derselben Flüssigkeit: der Körper-, Bewegungs- und Gleichgewichtssinn (das vestibuläre System) und der Gehörsinn (das cochleare System)“ verbunden. ... „D.h. im Innenohr sitzt nicht nur ein extrozeptives Organ, das Informationen von außen aufnimmt, sondern auch ein mit diesem verbundenes propriozeptives, das über den inneren Zustand informiert“ (232). Bei Franz Amrhein (Musik und Bewegung, in: Hartogh, Theo und Wickel, Hermann (Hrsg.): Handbuch Musik in der Sozialen Arbeit, Weinheim 2004, 231-244) finden wir denselben neurophysiologischen Ablauf bei gleichzeitiger Akzentuierung der sensumotorischen Verarbeitung folgendermaßen dargestellt: „Was wir hören, wird (...) vom 8. Gehirnnerv, dem Nervus vestibulocochlearis, der sowohl Bewegungs- als auch akustische Informationen aufnimmt, zunächst in tiefere Regionen zur weiteren Verarbeitung transportiert. Das Stammhirn, das „Wachzentrum“, schützt vor Reizüberflutung und entscheidet, ob das Gehörte von Interesse ist. Im Mittelhirn (vor allem im Limbischen System, Thalamus und Hypothalamus) erfolgt die gefühlshafte Wertung, es werden 30
Verbindungen zum vegetativen System (... 232) und zu Zentren der visuellen Wahrnehmung hergestellt. Eine wichtige Station ist das Kleinhirn, das Zentrum für Bewegungsempfindung und –koordination. Die Großhirnrinde, das Zentrum des Bewusstseins, erreicht die Botschaft aus dem Ohr erst, nachdem sie die für Bewegungsempfindung und Gefühle zuständigen Zentren durchlaufen hat. Das, was wir letztlich hören, ist bereits mit Bewegungs- und Gefühlseindrücken ‚aufgeladen’. In der Rind selbst trifft der Höreindruck auf drei benachbarte Areale: die sensorischen und motorischen Rindenfelder sowie das Hörzentrum (233). Über die Aktivierung der beiden Hemisphären haben Altenmüller und Gruhn (Das Bild der Musik im Kopf. Musikverarbeitung in der Darstellung kortikaler Aktivierungspotentiale. In: H. Gembris, R.-D. Kraemer, G. Maas (Hrsg.): Physiologische und neurophysiologische Aspekte musikalischen Wahrnehmens, Verarbeitens und Verhaltens (Forum Musikpädagogik, Bd. 21) Augsburg: Wissmer, 1996, 11-40) bei musikalisch tätigen Kindern und Jugendlichen herausgefunden, dass „bei einer mehrtheoretisch-analytischen Beschäftigung mit Musik“ die linke Seite aktiver ist als die rechte, während „bei praktischer musikalischer Tätigkeit, bei Bewegung und Spiel (...) nicht nur die rechte Seite aktiv“ ist, sondern auch die linke deutlich beeinflusst. Amrhein sieht darin das „neuronale Korrelat“ für die Tatsache gegeben, „dass musikalische Bewegung, die ‚Musiksensomotorik’, auch strukturierende, ‚rationale’ Elemente enthält – ein auf Musik und Bewegung bezogener neurophysiologischer Beleg für Piagets These von der ‚sensumotorischen Intelligenz’“ (233). Michael Grossbach und Eckart Altenmüller (Musik und Emotion – zu Wirkung und Wirkort von Musik, in: Tillmann Bendikowski u.a. (Hrsg.): Die Macht der Töne. Musik als Mittel politischer Identitätsbildung im 20. Jahrhundert, Münster 2003, 13-22) erwähnen neuere Untersuchungen mithilfe von bildgebenden Verfahren zeigten, dass bei Jugendlichen von diesen als schön empfundene Musik stärker die linke Hirnhälfte aktiviert wird, während negativ bewertete Musik „mit stärkerer Aktivierung der rechten Stirnhirn- und Schläfenregion“ einhergeht (vgl. Eckart Altenmüller u.a.: Hits to the left, flops to the right: different emotions during listening to music are reflected in cortical lateralization patterns. Neuropsychologica 40 (13) 2002, 2242-56). Des weiteren zitieren sie Anna Blood und Robert Zatorre (Intensely pleasurable response to music correlate with activity in brain regions implicated in reward and emotion. Proc Nat Acad Sci USA 98 (20)(2201), 1181-23, 2001) mit bildgebenden Untersuchungen, die „eine starke Beteiligung des limbischen Emotions- und Selbstbelohnungssystems tief im Inneren des Gehirns“ belegen. Besonders intensive Reaktionen wurden z.B. von Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert (d-moll) oder Barbers Adagio für Streicher hervorgerufen. „Es kam zu einer Aktivierung des endogenen limbischen Selbstbelohnungssystems im Bereich der tief gelegenen Hirnregionen der Mandelkerne, des Mittelhirns, der inneren Anteile der Schläfenlappen und der unteren Stirnregion. Dieses Aktivierungsmuster entspricht exakt demjenigen, das bei Einnahme starker Rauschdrogen wie Heroin und Kokain entspricht“ (16). Reinhard Flender (Vom Dreifachen Ursprung der Musik, in: Peter Bubmann (Hrsg.) Menschenfreundliche Musik, Gütersloh 1993, 9-20) führt aus, dass sich bei Tieren die Funktion des Gehörs „als Gefahrenindikator noch weiter perfektioniert hat (Hunde, Katzen, Nachtvögel hören z.B. ultrahohe Frequenzen wesentlich besser als der Mensch),“ wohingegen „sich das menschliche Gehör in eine ganz andere Richtung“ weiterentwickelte. Es spezialisierte „sich 31
darauf, diejenigen Frequenzen, die wir beim Sprechen ausstoßen, das sind nämlich die Potenzen von 28 – 212 Herz, die die Vokale u, o, e, a, i ergeben, und die Anzahl von Mundgeräuschen, die wir Konsonanzen nennen, in einer Unzahl von Kombinationsmöglichkeiten herauszufiltern, in Großhirn zu leiten und dort zu decodieren. Kurz, das menschliche Ohr hat sich in Jahrtausenden physiologisch dazu entwickelt, Sprache zu verarbeiten“ (10). Plath formuliert: „Die im Rezeptor des Innenohrs durch Schallschwingungen ausgelösten Nervenpotentiale werden über den Hörnerv (Nervus statoacusticus, VIII. Hirnnerv) zum Gehirn geleitet. Erste Umschaltungen erfolgen im Hirnstamm, hier finden auch die Verknüpfungen mit der Hörbahn der anderen Seite statt. Im Hirnstamm bestehen Verbindungen zu den vegetativen Zentren, ferner zu motorischen Bahnen, die nicht der Willkür unterliegen. Auch das Richtungshören und das Erkennen von Signalen in Störgeräuschen werden als perzeptive Prozesse im Hirnstamm und dem ihm nachgeschalteten Mittelhirn geleistet“ (zit. n. PRAUSE, Manuela Carmen, Musik und Gehörlosigkeit. Therapeutische und pädagogische Aspekte der Verwendung von Musik bei gehörlosen Menschen unter besonderer Berücksichtigung des angloamerikanischen Forschungsgebiets. In: Kölner Studien zur Musik in Erziehung und Therapie, Band 5, Köln-Rheinkassel 2001, S. 58 f). Eine ähnlich direkte Verbindung zu den vegetativen Zentren besteht auch zwischen bestimmten Nervenzellen in der Haut, die Signale nur sehr langsam transportieren. „Sie sind verantwortlich für Streicheleinheiten an das Gehirn. Forscher vom Sahlgranska-Krankenhaus in Göteborg um Hakan Olausson hatten eine Patientin untersucht, der auf Grund einer Krankheit die wichtigsten Tastnerven in der Haut fehlten. Allerdings war das System der C-Fasern noch intakt.“ Sie konnte Streicheln mit einem weichen Pinsel spüren und fand es angenehm. Bei gleichzeitigem Scannen des Gehirns wurde deutlich, „dass beim Streicheln vor allem diejenigen Hirnareale aktiv sind, die Emotionen auslösen. Hirnareale, die Tastreize verarbeiten, reagierten auf die Zärtlichkeiten nicht“ (Bild der Wissenschaft 10/2002, 11). Christo Pantev vom Institut für experimentelle Audiologie an der Universität Münster hat mit einem Magneto-Encephalographen nachgewiesen, dass ausgebildete Musiker aufgrund ihres hervorragenden Gehörs mehr Nervenzellen für die Verarbeitung von Tönen der Tonleiter mobilisieren als andere Menschen. Dieser Tatbestand kann für die Wiederherstellung von beschädigten Gehirnfunktionen genutzt werden (nature Bd. 392, Nr. 6678, S. 811; Musiktherapeutische Umschau 1999, S. 64). Mit Hilfe von bildgebenden Verfahren haben Forscher des Gesellschaft für Neurologische Wissenschaften nachgewiesen, dass Musik verschiedene Seiten des Gehirns aktiviert, insbesondere auch die motorischen Zentren bei musizierenden Männern vergrößern sich sogar manche Hirnteile. das Kleinhirn von Musikern ist im Durchschnitt 5% größer als das von Nichtmusikern. Musiker werden mit dieser Eigenart nicht geboren. Das Gehirn passt sich durch die jahrelange Musikpraxis an. aus dieser Tatsache erscheint Musizieren als geeignetes Mittel zur Therapie neurologischer Schäden. 32
(für Musikerinnen können keine gesicherten Aussagen gemacht werden, weil an den Versuchen nur wenige Frauen teilnahmen. Leah Ariniello, Society for Neuroscience, Washington D.C.)
Der Chicagoer Neurologe John Hughes hat „bei Epilepsie-Patienten festgestellt, „dass eine Sonate für zwei Klaviere von Mozart nicht alleine die im EEG gemessene Hirnstromaktivität normalisieren konnte – selbst bei Patienten im Koma -, sondern tatsächlich auch die Zahl der Anfälle senkte. Bei anschließenden Computeranalysen zeigte sich, dass in der Mozartschen Musik die Lautstärke offenbar in besonders regelmäßigen Perioden an- und abschwillt und zudem Melodielinien häufig wiederholt werden. Genau diese Regelmäßigkeiten aber – die sich in geringerem Maß beispielsweise auch in der Musik Haydns und Bachs fanden – gingen parallel mit manchen im Gehirn selbst auftretenden rhythmischen Aktivitätsschwankungen“. Insofern würde durch die Musik „gewissermaßen der natürliche Takt des Gehirns aufgegriffen und stabilisiert“ (Bild der Wissenschaft 8, 2003, 41)
Eine wichtige Neuerscheinung zum Thema neurophysiologische Vorgänge beim Musikerleben ist: Manfred Spitzer: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, Stuttgart 2002 Außerdem: Robert Jourdain: Das Wohltemperierte Klavier. Wie Musik im Kopf entsteht, Heidelberg 1998 und: Robert J. Zatrone und Isabelle Peretz (Hrsg.): The biological foundations of music, New York (Academy of Science) 2000 Das Themenheft 1, 2004 der Musiktherapeutischen Umschau ist der Beziehung zwischen Musiktherapie und den Neurowissenschaften gewidmet. Im Internet: www.immm.hmt-hannover.de www.cns.mpg.de www.faculty.washington.edu/chudler/music.html www.nyas.de/wam56/ „Das Gehirn giert nach Musik. Melodie und Rhythmus sind Schlüssel zur Sprache, Heilmittel nach Schlaganfall“ ist Titelthema des Zeitschrift Bild der Wissenschaft 8, 2003; dort sind weitere Quellen angegeben.
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4.7
Körperliche Reaktionen beim Musikerleben
Musik bringt das Vegetativum zum Mitschwingen; und zwar auch dann, „wenn die Aufmerksamkeit der Versuchsperson abgelenkt ist, so dass sie das dargebotene Musikstück nicht einmal bewusst wahrnimmt.“ Körperreaktionen beim Musikhören sind: Pulsbeschleunigung, Veränderung von Blutdruck, Atmung, Hautwiderstand, Hormonhaushalt, Stoffwechsel und Verdauung. Mitbestimmend für die Körperreaktionen sind, „Einstellung zur Musik, die eigene Gestimmtheit, musikalische Vorbildung, Sensibilität, individueller Geschmack.“ Rhythmische Musik lässt Muskelpotentiale im Bein ansteigen; das Lösen von Rechenaufgaben z.B. aktiviert Muskelpotentiale im Stirnbereich; Bachs Musik steigert Muskelpotentiale sowohl im Beinals auch im Stirnbereich. (Vgl. dazu: Rüdiger Liedtke, Die Vertreibung der Stille, München 1985, S. 42) „Das Team um Thaut vom Zentrum für biomedizinische Musikforschung untersucht seit Jahren die Wirkung von Musik auf das Gehirn. Dabei entdeckten sie eine direkte und nach Thaut „erstaunlich schnelle" Verbindung zwischen den Hörzentren im Gehirn und den Bereichen, die Bewegungen steuern. Was Tänzer schon immer wussten, konnte Thaut in Experimenten nachweisen: Rhythmen dringen direkt und ohne Umweg über das Bewusstsein in die Glieder. Die Forscher ließen Freiwillige zum Takt eines Metronoms mit einem Finger klopfen. Änderte sich dabei der Rhythmus leicht, passten die Probanden die Bewegungen ihrer Finger sofort an, obwohl sie die Taktänderung bewusst gar nicht wahrgenommen hatten. Thaut vermutet, dass der Mechanismus dem Gehirn hilft, unsere Bewegungen an Geschehnisse in der Umwelt anzupassen. Das sei für unsere Vorfahren überlebenswichtig gewesen, meint der gebürtige Hamburger. Habe ein Zweig geknackt oder das Laub geraschelt, konnten sie ohne lange zu zögern wegrennen. Heute dagegen helfe die Direktverbindung im Gehirn Patienten beim Erlernen von Bewegungen, sagt Thaut. Neben Schlaganfall-Patienten üben auch Parkinson- und Huntingtonkranke in seinem Zentrum das Gehen mit Musik. Dabei hilft Musik nicht nur beim Erlernen von rhythmischen Bewegungen wie Gehen. Kürzlich konnte das Team zusammen mit Volker Hömberg von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf zeigen, dass Musik auch willensgesteuerte Armbewegungen verbessern kann. So konnten Schlaganfallpatienten nach einer Musiktherapie zielgerichteter nach einem Gegenstand greifen als zuvor. Offenbar unterstütze Musik alle Aspekte einer Bewegung, nicht nur die rhythmischen, sagt Thaut.“ (s.: Thaut, M.H.: Neue Entwicklungen der neurologischen Musiktherapie und ihre Bedeutung für Alterspatienten. Musik und Gesundheit, 3, 2002, 17-18; zit. aus: Bild der Wissenschaft, 20. September 2002, www.wissenschaft.de.). In Bild der Wissenschaft 8, 2003, 36 ff. wird die folgende Fallgeschichte der ParkinsonPatientin Alice H. weitergegeben: 34
„Immer wieder hatten die Krankheitsattacken sie überfallen. Ihr Gesicht zuckte dann, ihr Körper wackelte und zitterte, und kaum dass sie ihre Glieder bewegen wollte, schienen sie zu Eis zu erstarren. Wenn Alice eine Zimmertüre öffnen wollte, musste sie wie angewurzelt auf der Schwelle verharren, und wenn die Ampel auf Grün sprang, klebten ihre Füße am Boden, als gehorchten sie dem Willen nicht mehr. Doch nun trägt Alice bei all ihrem Tun einen Walkman.“ Wenn sie den aufsetzt, „werden ihre Bewegungen fließend und frei, und springt die Ampel auf Grün, überquert sie mit sicherem Schritt die Straße. Musik gibt ihr die Gewalt über ihren Körper zurück.
Die Forschungen von Michael Thaut und seinem Team zeigen, dass rhythmische Reize nicht nur die Hörrinde stimulieren, „sondern auch eine Vielzahl sogenannter senso-motorischer Rindenareale, ebenso wie das Kleinhirn – ein ganzes Netz von Nervenzentren also, die bekanntermaßen bei der Koordination motorischer Abläufe im Spiel sind. Offenbar fließen akustische Informationen direkt in das motorische System ein. Selbst die Aktivität von motorischen Nervenzellen im Rückenmark scheint durch akustische Reize beeinflusst zu werden.“ „Die Verbindungen zwischen Musik und Motorik funktionieren teilweise sogar unterhalb der Bewusstseinsschwelle“ (38). Daraus folgt, dass sich mit rhythmischen Reizen motorische Prozesse im Gehirn von außen steuern lassen. „Wenn die zeitlich hochkomplexen motorischen Abläufe im Gehirn nicht mehr ausreichend abgestimmt würden, könnte rhythmische Musik die Funktion eines Zeitgebers übernehmen – und gewissermaßen den Takt geben, der das Konzert der Neuronen koordiniert“ (41). Untersuchungen der Zusammensetzung des Speichels haben ergeben, dass durch Musikhören in Verbindung mit katathymem Bilderleben, besonders aber durch Improvisation auf Instrumenten in Musiktherapie-Sitzungen das Immunsystem deutlich gestärkt wird. (Anne Müller: Aktive Musiktherapie: Stimmungen, Therapieerleben und immunologisch relevante Speichelparameter, Frankfurt a. M. 1994). Maureen P. Reilly (Über den Einsatz von Musik gegen Operationsstress bei Alters-Patienten, Musik und Gesundheit 4/2002 15 f.) konnte die positive Beeinflussung des vegetativen Nervensystems und des Stress- und Schmerzempfindens bei Katarakt-Augen-Operationen in Lokalanästhesie durch Musik nachweisen. Bei einer Gruppe von 32 Patienten im Lebensalter über 65 Jahren wurde vor und während der Operation vom Patienten selbst gewählt Musik per Kopfhörer angeboten. Sowohl psychologische Tests als auch Messungen der biologischen Parameter, wie Blutspiegel des Stresshormons Cortisol, Blutdruck, Herzfrequenz, ergaben, dass die Musikanwendung vor und während des nicht ganz angenehmen Eingriffes in 4 Wirk-Ebenen der Musik: Lokalanästhesie zu einer signifikanten Senkung der Stress- und Schmerz- tiefe Körperentspannung, Reaktionen führte.“ Die Autorin betont in positive Imagination und diesem Zusammenhang vier wichtige Gedankenklarheit, die mit unklaren Wirkebenen der Musik: Befürchtungen unvereinbar sind, sowie „tiefe Körperentspannung, positive emotional-positives Erleben einer SituatiImagination und Gedankenklarheit, die on mit unklaren Befürchtungen unvereinbar Maureen P. REILLY: Über den Einsatz von Musik gegen Operasind, sowie emotional-positives Erleben tionsstress bei Alters-Patienten, Musik und Gesundheit 4/2002, einer Situation“ (16). Singen, Musizieren und bewusstes Zuhören ermöglichen Schmerz-Patienten zu entspannen, nachzudenken und neuen Mut zu schöpfen. Das bestätigen Forscher vom Memorial SloanKettering Cancer Center in New York. Der schmerzlindernde Effekt von Musik beruht darauf, dass schmerzleitende und akustische Nervenbahnen im Körper dicht beieinander liegen. Akustische Reize sind daher in der Lage, die Weiterleitung von Schmerzsignalen zu hemmen. 35
Die Musiktherapie bietet darüber hinaus dem Patienten durch eigenes Musizieren die Möglichkeit, die Behandlung aktiv mitzugestalten. Für Menschen, deren Leben häufig nur noch vom Schmerz bestimmt wird, bedeutet das wieder ein Stück Selbstbestimmung. Ein weiterer schmerzlindernder Aspekt liegt darin, dass Patienten beim Musizieren negative Gefühle ausleben können. Da beispielweise Trauer und Angst die Schmerzintensität steigern, schafft eine Verarbeitung dieser Gefühle Erleichterung und verringert dadurch das Leiden (aus: „Hören heute“, Musiktherapeutische Umschau 2002, 304). Zur ergotropen und trophotropen Wirkung von Musik: Nach einer bulgarischen Untersuchung wirkt klassische Musik mit dem Grundschlag 60 pro Min. beruhigend auf Körperrhythmen, löst Tiefenentspannung bei gleichzeitiger geistiger Leistungssteigerung aus. „Der Herzschlag verlangsamte sich um durchschnittlich 5 Schläge pro Min., der Blutdruck sank, wobei die Messung der Gehirnwellen ein ähnliches Bild zeigten wie bei meditierenden Personen“ (trophotrope Wirkung) (Vgl. Elisabeth Haselauer, Berieselungsmusik. Droge und Terror, Wien 1986). Ein Beispiel für ergotrope Musikwirkung gibt Klaus-Ernst Behne in seinem Artikel: Wirkungen von Musik (Musik und Unterricht, Heft 18/1993, S. 7): in einer Untersuchung aus dem Jahre 1911 wurde bei einem 6-Tage-Rennen festgestellt, dass immer, wenn die Band Musik spielte, die Radfahrer schneller fuhren; die Beschleunigung steigerte sich bis zu 14%. Bei diesen Körperreaktionen sind Emotionalität und Körper nicht voneinander zu trennen; bei der Veränderung des Hautwiderstandes etwa, der sich im berühmten „kalten Schauer“, durch leichtes Schwitzen, feuchte Handflächen, Aufstellen der Haare und ähnlichen zeigt, handelt es sich zugleich immer auch um Indikatoren für emotionale Einflüsse durch Musik. Karajan z.B. zeigte vegetative Körperreaktionen, die stärker waren als bei höchst riskanten Flugmanövern, während des Dirigierens der Leonoren - Ouvertüre Nr. 3 bei Stellen, von denen er selbst meinte, dass sie ihn besonders emotional berührten (Liedtke 1985, S. 46). Beim Hören von sehr lauter Musik entstehen Stressphänomene, der Blutdruck kann bis zu 240 Millimeter/Quecksilbersäule steigen, während er normalerweise bei 120 liegt; das geschieht durch das Antimusikalische stresshormon (ACTH), Eigenschaften: das langsam wieder zur Norm zurückgeführt Dur Moll werden muss. Wenn das dissonant konsonant nicht geschieht, sind polyphon homophon Kreislauf- und Herzüberstaccato legato großer Ambitus kleiner Ambitus belastung die Folge. akzentuierter Rhythmus melodischer Rhythmus (Vgl. Michael Schreiber: dramatisch lyrisch Musik - Trostspenderin Körperreaktion: Sympathische parasympathische oder Nervensäge. MediTonuslage: Tonuslage: zin und elektronische Blutdruck steigt fällt Musik aus der Sicht eines Atmung steigt fällt Münchner Arztes, Neue Herzfrequenz steigt fällt Hautwiderstand steigt fällt Musikzeitung, Oktober/ periphere Durchblutung fällt steigt November 1988, S. 44) Verdauungsmobilität fällt steigt Stefan Evers gibt eine innere Sekretion (Drüsen) gehemmt angeregt Zusammenfassung aller Muskelspannung steigt fällt nachgewiesenen weit Pupillen eng Körperreaktionen beim
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Musikhören in seinem Aufsatz „Was geschieht bei Musikhören im menschlichen Körper? Zur Physiologie des Musikerlebens“ (Musik und Unterricht 7/1991, S.16-18): Körperliche Reaktionen sind stark von der individuellen Disposition des Menschen abhängig. Dennoch kann folgendes grobe Reaktionsschema festgestellt werden: Polyphone Musik in Dur, mit Dissonanzen und Staccato-Klängen, mit großem Tonumfang, akzentuiertem Rhythmus und dramatischem Charakter ruft eine „sympathische Tonuslage“ hervor, bei der Blutdruck, Atem- und Herzschlagfrequenz sowie Muskelspannung steigen, die periphere Durchblutung, die Verdauungstätigkeit und Drüsensekretion abnehmen und sich die Pupillen weiten, während homophone, konsonante Musik in Moll mit legato geführter Melodiebildung, kleinem Tonumfang, melodischem Rhythmus und lyrischem Charakter eine „parasympathische Tonuslage“ hervorruft, die mit fallendem Blutdruck und Hautwiderstand, geringerer Atem- und Herzschlagfrequenz, abfallendem Muskeltonus, angeregter Drüsen- und Verdauungstätigkeit und Verengung der Pupillen einher geht. All diese Reaktionen können allerdings nicht verallgemeinert werden. So kommt etwa Cheryl Dileo Maranto in einer Untersuchung über rezeptive Musiktherapie zum Ergebnis, dass neben den Eigenschaften und Elementen der Musik auch der Vertrautheitsgrad, der musikalische Geschmack sowie biographische Erfahrungen und Assoziationen für die Wirkung von Musik verantwortlich sind. Bei der Gestaltung rezeptiver Musikbehandlungen müssen diese Faktoren neben der Beschaffenheit der gewählten Musik berücksichtigt werden (Applications of music in medicine, in: M. Heal and T. Wigram (Hrsg.) Music Therapy in Health and Education, St. Louis 1993, 157). Unabhängig von diesen Faktoren lösen tiefe Frequenzen vibratorische Tonempfindungen im Körper aus. Töne zwischen 40 und 80 Hz im Bauch, Töne zwischen 80 und 130 Hz in der Brust, Töne zwischen 130 und 250 Hz im oberen Brustbereich und Töne zwischen 250 und 500 Hz in der Kehle (Kölner Studien zur Musik in Erziehung und Therapie, Band 5, KölnRheinkassel 2001, S. 68). Aufgrund dieser Beobachtungen kann davon ausgegangen werden, dass durch Musik und einzelne Klänge der Schwingungszustand des Körpers sowohl auf der Haut als im Körper verändert wird.
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Klänge versetzen den Körper in Schwingung. Tony Wigram berichtet in seinem Aufsatz "Die Wirkung von tiefen Tönen und Musik auf den Muskeltonus und die Blutzirkulation" (Zeitschr. d. Östrr. Berufsverb. d. Mthp. 2/91, 3-12) von britisch - norwegischen Untersuchungen, die ergaben, dass Niederfrequenzklänge mit 30-40 Hz. in Knöcheln und Waden, mit 40-50 Hz in Knien, Schenkeln und Unterleib, mit 50-60 Hz im Bereich des Brustkorbs und mit 60-75 Hz in Kopf und Nacken gespürt werden. Aus diesen Erkenntnissen wurde eine "Vibrations-Akustik-Therapie" (VAT) entwickelt, die krampflösende Effekte, Schmerzlinderung, Besserung bei Rheumatismus und verlängerte Schlafdauer herbeiführt. Fallbeispiele belegen, dass Hilfe u.a. bei spastischen Reaktionen, Berufsstress und bei Neurosen eintreten. VAN UHDEN weist darauf hin, dass der ganze Körper als vibratorsicher Rezeptor dient. Dabei werden Töne zwischen 40 und 80 Hz im Bauch, Töne zwischen 80 und 130 Hz in der Brust, Töne zwischen 130 und 250 Hz im oberen Brustbereich und Töne zwischen 250 und 500 Hz in der Kehle empfunden (zit. n. PRAUSE, Manuela Carmen, Musik und Gehörlosigkeit. Therapeutische und pädagogische Aspekte der Verwendung von Musik bei gehörlosen Menschen unter besonderer Berücksichtigung des angloamerikanischen Forschungsgebiets. In: Kölner Studien zur Musik in Erziehung und Therapie, Band 5, Köln-Rheinkassel 2001, S. 68).
Auch die Obertöne der verschiedenen Vokale bringen Zentren im Körper zum Schwingen: Das I schwingt im Kopfbereich Das E im HalsDas A im BrustDas O im Bauch- und Das U im Gesäßbereich Inge Kritzer: Atem und Stimme. Die heilende Kraft der Obertöne in der Musiktherapie mit schwer behinderten Kindern (Forum Musiktherapie und Soziale Arbeit, Siegen). www.musiktherapie-sasp.de/material/forum/2.15.pdf
Singen führt zur Verbesserung des Atemvolumens, Steigerung der Gedächtnisleistung und des psycho-physischen Gesamtzustandes (Hans Sittner: Musikerziehung zwischen Theorie und Therapie, Wien 1974, 179, Karl Adamek: Singen als Lebenshilfe, Münster 1997). Im „Readers Digest (Sept 1987, S. 6) wird eine amerikanische Untersuchung zitiert, der zufolge Opernsänger ein größeres Lungenvolumen und eine effektivere Herzfunktion und eine deutlich höhere Lebenserwartung besitzen. Karl Adamek (Singen als Lebenshilfe, Münster 1996, S. 180 ff) wies in einer empirischen Untersuchung nach, dass „durch Singen temporär die physische Leistungsfähigkeit erhöht“ wird. „Eine körperliche Belastung, die gleichzeitiges Singen nicht ausschließt, kann singend 38
länger ausgehalten werden als nicht singend“ (185). Adamek untersuchte drei verschiedene Gruppen: die erste Gruppe bestand aus 51 Personen (30 Frauen, 21 Männer) im Alter von 16 bis 60 Jahren (Durchschn. 35), die einen ersten Testdurchlauf ohne Singen und einen zweiten nach einer halben Stunde Pause singend absolvieren sollte; die zweite Gruppe (48 Personen, 25 Frauen, 23 Männer, Alter 16 bis 64, Durchschn. 34) sollte zuerst die Aufgabe singend und nach der Pause nicht singend erledigen; eine Kontrollgruppe (52 Personen, 29 Frauen und 23 Männer im Alter von 16 bis 59, Durchschn. 37) bewältigten die Aufgabe ohne Singen, ebenfalls in zwei Abschnitten mit einer halben Stunde Pause dazwischen. Die Aufgabe bestand für alle darin, an waagerecht seitlich ausgestreckten Armen Gewichte von 500 Gramm so lange wie möglich zu halten. -
Die erste Gruppe konnte ihre Leistungen allein durch Singen um 132 % steigern, die nicht singende Gruppe lediglich um 73%; die zweite Gruppe erreichte bei ihrem zweiten Durchlauf ohne Singen lediglich nur 56% ihrer zuvor singend erbrachten Leistung. Adamek spricht dem Singen eine Energie kanalisierende, eine Energie generierende und eine Energie transformierende Funktion zu. Erstere betrifft das Abreagieren von Spannungen, zweites die Mobilisierung von Körperkräften und drittes die Umwandlung von psychischen Spannungen in Kräfte des Wachstums und der Genesung im musiktherapeutischen Prozess. Die enge Verbindung zwischen Musik und unbewussten psycho-physischen Vorgängen nutzen Werbestrategen in großem Stil. In Bild der Wissenschaft 11/2001 wird von einem Versuch berichtet , durch den Psychologen der Universität Leicester nachweisen, wie wir beim Einkaufen unbewussten Abläufen zum Opfer fallen. Sie „ließen in einem Supermarkt jeden zweiten Tag französische Akkordeon-Weisen erklingen – prompt wurde dreimal mehr französischer wein als deutscher verkauft. An den anderen Tagen beschallten sie den Laden mit bayerischer Blasmusik – schon griff die Kundschaft verstärkt zu Flaschen aus Deutschland“ (72). Isabelle Frohne-Hagemann (Fenster zur Musiktherapie, Wiesbaden 2001) hebt die enge Verbindung des Musikerlebens mit der Leiblichkeit hervor. „Der ganze Leib“, der wir sind, (nicht, den wir haben) sei „als totales Sinnesorgan“ bei der Wahrnehmung aktiv. Wir sind Leib, der im „Wahrnehmen und Empfinden von Tonverhältnissen und Tonbewegungen“ mitschwingt (266 f). Barbara Haselauer schreibt in ihrem Aufsatz „Leise rieselt der Beat“ (Zeitschr. d. Östrr. Berufsverb. d. Mthp.3/88, 21-27): „Wir beobachten, dass Menschen ihre gerade statthabende Befindlichkeit durch Musikwahl noch verstärken. In ruhigen, weichen, träumerischen Situationen wählen die Leute auch entsprechende ruhige, weiche Musik. Umgekehrt lässt ein hektischer Mensch im Auto, das ohnehin schon vibriert, aus dem Autoradio Musik in einem Tempo dröhnen, das geeignet ist, die Körperrhythmen auf ihre doppelte Frequenz zu treiben, statt sie herabzusetzen. Es besteht also eine Tendenz, Lebenslagen zu perpetuieren - grundsätzlich und daher auch vermittels Musik.
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4.8
Anmerkungen zur emotionalen Wirkung von Musik
Spintge und Droh (Musik-Medizin, Stuttgart 1992) weisen darauf hin, dass insbesondere im Limbischen System lokalisierbare Neuronen - Schaltkreise angelegt sind, durch die von allen Menschen "anscheinend gleich" verschiedene Emotionen wie Angst, Wut, Liebe, Freude, Neid, Trauer, Eifersucht, schlechtes Gewissen etc. erlebt werden (S. 22) - sogenannte „neurophysiologische patterns.“ Impulse des nervus acusticus beeinflussen direkt die im Limbischen System "lokalisierten emotional aktivierenden Strukturen." (S. 20) Klaus-Ernst Behne (Wirkungen von Musik, Musik und Unterricht, Heft 18/1993, S. 4 - 9) ist der Frage nachgegangen, in welchem Ausmaß Kinder im Alter von 11 bis 17 Jahren „über Strategien verfügen, Musik kompensatorisch, etwa zur Bewältigung unangenehmer Stimmungen und Gefühle einzusetzen.“ Sie sollten angeben, welche Art von Musik sie wählen würden, wenn sie von einem guten Freund bzw. einer guten Freundin enttäuscht worden seien und nun stinksauer seien. Das Ergebnis zeigt, dass Kinder in einer solchen Situation entweder Musik einsetzen, um sich mit ihr zu trösten, oder um in ihre Rachegefühle auszuleben. Zu ersterem neigen eher die Mädchen, zu letzterem eher die Knaben. Aufgrund von Leitfadeninterviews mit 21 Personen und einer repräsentativen teilstandardisierten Telefonbefragung von 150 Personen kommen H. Schramm und P. Vorderer (Musikpräferenzen im Alltag. Ein Vergleich zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, in: Müller, R. u.a. (Hrsg.): Jugend, Musik und Medien. Weinheim und München, in Vorb.) zu folgenden Ergebnissen: Ein Drittel der Befragten geben an, bei Wut und Ärger keine Musik hören zu wollen; darunter sind keine Jugendlichen Jugendliche benutzen bei Wut und Ärger primär aggressive Musik, wie Heavy Metal, um sich abzureagieren Bei Freude, Ruhe und Gelassenheit wird stimmungskongruente Musik gewählt („IsoPrinzip“) Bei Trauer, Melancholie, Wut oder Ärger (auch bei monotoner Hausarbeit) wird kontrastierende Musik nach dem Kompensationsprinzip gewählt, beispielsweise beruhigende Musik in Zuständen des Ärgers (überwiegend ältere Personen) Bei Trauer und Melancholie wählen 50% der Befragten nach dem Kompensationsprinzip lieber fröhliche, aktivierende Musik, während die andere Hälfte traurige Musik hört. Ein Drittel dieser Personen gibt an, dass die Musik ihnen helfe, die Trauerarbeit zu intensivieren und somit zu verkürzen. Frauen sind bei dieser Gruppe stärker vertreten Ältere Personen greifen bei Melancholie und Trauer eher zu fröhlicher Musik Jugendliche hören dann vorzugsweise traurige Musik, um die Trauer zu intensivieren, einige, um sie zu kompensieren. Musikalische Fähigkeiten scheinen bei diesen emotional motivierten Musikpräferenzen kaum eine Rolle zu spielen (Musiktherapeutische Umschau 2002, 271 ff.) Diese Beziehungen zwischen emotionalem Erleben und Musikwahl korrespondieren mit Gesetzmäßigkeiten bei musikalischen Tagträumereien (Melodien, die einem im Alltagsleben unvermittelt und unwillkürlich in den sinn kommen, auf deren tiefenpsychologische Bedeutung übrigens bereits C. G. Jung 1907 hinwies). Herma Petri-Wolde kommt in ihrer Dissertation „Wesen und Erscheinungsformen musikalischer Tagträumereien“ aus dem Jahre1958, 164 ff, zu dem Ergebnis dass uns Menschen in bestimmten Stimmungslagen „unbeabsichtigt“ und scheinbar ohne ersichtlichen Grund Melodien - in 80 % der Fälle Melodien mit Text - einfallen. Jedoch produzieren wir diese Melodien nicht immer richtig in Tempo und Tonlage son40
dern, je nach Gestimmtheit, zu schnell oder zu langsam, zu hoch oder zu tief. Petri-Wolde hat bei ihren Versuchspersonen herausgefunden, dass die Melodieproduktionen stets einen positiven Effekt auf die Stimmungslage haben; bei positiver Ausgangsstimmung bewirke die Melodieproduktion gleichbleibende oder gesteigerte positive Stimmung, bei negativer Stimmung Aufhellung. Dabei würden den Personen, wenn sie traurig sind, entweder traurige Melodien einfallen, die kathartisch entlasten, oder es fallen ihnen beschwingte Melodien ein, die sie aber zu tief und/oder zu langsam, also „stimmungsaffin“ produzieren. Im weiteren Verlauf würden sie das Tempo beschleunigen und die Tonlage anheben, wobei es zur Stimmungsaufhellung komme. Solche psychodynamische Selbststeuerungsmechanismen können musiktherapeutisch genutzt werden, wenn Liedauswahl sowie Tempo und Lage von den Patienten selbst bestimmt werden, wobei der Therapeut nur insoweit behutsam begleitend mitwirkt, dass der Gesang überhaupt zustande kommt. In verschiedenen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass Berufsmusiker Kompositionen so interpretieren können, dass Zuhörer die jeweils auszudrückenden Gefühle wie z.B. Freude, Trauer, Ärger und Feierlichkeit weitgehend identifizieren können. Mergl, Piesbergen und Tunner (Musikalisch - improvisatorischer Ausdruck und Erkennen von Gefühlsqualitäten, in Behne u.a. Hrsg. Jahrbuch der Musikpsychologie 13, 1998, S. 69-81) konnten in einer Studie mit 20 Gymnasialschülern im Alter von 17 bis 20 Jahren sowie mit 74 Studierenden und Bediensteten einer Behörde nachweisen, dass auch musikalische Laien in spontanen Improvisationen auf Xylophonen die Grundgefühle Wut, Trauer und Freude ausdrücken und als Zuhörer erkennen können. Eine ähnliche Untersuchung führten Cordelia Volland und Gabriele Hofmann mit Erwachsenen sowie Kindern mit und ohne psychischer Behinderung anhand der Gefühle Freude, Trauer und Wut durch. Dabei zeigte sich unter anderen, dass Kinder, insbesondere auch diejenigen mit psychischer Behinderung Darstellungen von Gefühle besser erkennen können als Erwachsene (Darstellung und Erkennen des emotionalen Ausdrucks in musikalischen Improvisationen bei Kindern und Erwachsenen, Musiktherapeutische Umschau 2003, 205-214) Das allgemein menschliche Vermögen, mittels Musik Gefühle zu kommunizieren zu können, führt Klaus Ernst Behne auf das Phänomen der Geste zurück; bestimmten Gefühlen entsprechen bestimmte Körpergesten, z. B. Handbewegungen, die in den Bewegungen der Klänge wiedererkannt werden. Anhand von Handzeichnungen zu bestimmten Gefühlen konnte Behne diesen Zusammenhang auch kulturübergreifend nachweisen (Musik - Kommunikation oder Geste?, Musikpädagogische Forschung 1982, S. 125-145).
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Karl Adamek bezeichnet in diesem Zusammenhang Singen als die Möglichkeit zur Bewältigung von emotionalen Spannungen und schwierigen Lebenssituationen und Lebenslagen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der betreffende Mensch Lieder singt oder nur „intonisiert“, d.h. Töne und Tonfolgen frei hörbar oder auch im Stillen vor sich hinsingt. Allerdings hängt es sehr von den musikalischen Vorerfahrungen ab, ob und in welchem Maße der Mensch diese Möglichkeit der emotionalen Regulation nutzen kann: Die„Formel des individuellen, durch Intonisation (Singen) erreichbaren Bewältigungspotentials“ macht das Zusammenspiel der dabei wirksamen Faktoren deutlich: (Singen als Lebenshilfe, Münster 1996)
GL + B + K + L Bi =
(
)
X (H + W + Ref + Bef)
1 + S Trauma Bi Bewältigungspotential erste Klammer: Elemente der Ontogenese GL Die Erfahrung der Gestaltungsmöglichkeit durch Lautgebärden im Säuglingsalter B Intensität und Häufigkeit des frühkindlichen Singens mit der Mutter oder einer anderen Bezugsperson K Intensität und Häufigkeit von vergangenen und aktuellen Erlebnissen in der persönlichen Lerngeschichte, in denen durch Singen kritische Lebenssituationen bewältigt wurden L Summe der Intensität und Häufigkeit aller vergangenen und aktuellen positiven Erlebnisse mit dem eigenen Singen in der persönlichen Lerngeschichte, die über B und K hinausgehen S Trauma Traumatische Verletzungen in Bezug auf das Singen in der persönlichen Lebensgeschichte zweite Klammer: Elemente der Aktualgenese H aktuelle physiologische Hörfähigkeit W aktueller Grad der erlernten Ausschöpfung der Fähigkeit zur Wahrnehmung Ref aktueller Grad der erlernten Ausschöpfung der Fähigkeit zur Reflexion Bef aktuelle physische und psychische Befindlichkeit
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4.9
Kulturspezifische Aspekte des Musikerlebens
Ruth Bright (Cultural aspects of Music Therapy, Springfield 1993) spielte Hörproben aus Europa und Asien verschiedenen Gruppen von kaukasischen Testpersonen vor: Studenten, Arbeitern und alten Menschen. Sie kam zu folgenden Ergebnissen: Vertraute Musikstücke wurden von den Testpersonen ähnlich wie von den Komponisten beabsichtigt aufgefasst, War die Musik unvertraut, wurde sie weniger differenziert beurteilt als vertraute Musik, Viele Teilnehmer, vor allem die Schüler, erkannten in unvertrauter Musik keine Ausdrucksqualität und hielten sie für dumm und bedeutungslos, In einem Fall hielten die meisten Hörer eine Musik für traurig, die in ihrem Herkunftsland als fröhlich gilt, Warum auch immer: Schüler sind deutlich weniger bereit, in asiatischer Musik einen Stimmungsausdruck wahrzunehmen als Erwachsene (vgl. June Boyce Tilman: Constructing Musical Healing. The Wounds that Sing, London 2000, 226).
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4.10 Wahrnehmungspsychologische Aspekte des Musikerlebens Paul Hindemith weist auf die besondere Beschaffenheit des Ohres hin: „Das Auge und das Tastgefühl können Größenverhältnisse und Mengen nur aufgrund der Erinnerung und des Vergleichens mit anderen Größen annähernd genau abschätzen. Auch das Gefühl für die zeitliche Ausdehnung erlaubt uns nur Urteile von ungefährer Treffsicherheit. Das Ohr hingegen erweist sich als das einzige Sinnesorgan, das die Fähigkeit besitzt, Abmessungen und Proportionen mit unfehlbarer Zuverlässigkeit zu erkennen und zu beurteilen.“ ( Paul Hindemith: Unterweisung im Tonsatz, Mainz 1940, S. 40) Zu diesem Phänomen siehe auch das Kapitel „Das Ohr rechnet“ in: J.E. Berendt: Das dritte Ohr, Reinbek 1985 Auf das Hören als kreativen, schöpferischen Vorgang weist Werner Pütz in seinem Aufsatz „Auf der Suche nach der verlorenen Ganzheit“ (Zeitschrift für Musikpädagogik, Heft 49/1989, S. 20-25) hin. Hören als „höchst aktive und individuelle Tätigkeit“ ist „von Anfang an bereits als interpretierender Akt zu verstehen“; „aus der Fülle der uns umgebenden Geräusche und Klänge wählt unser Ohr“ aus. „Der Mensch hört nicht etwas, das von außen auf ihn eindringt, sondern er schafft aktiv und individuell das, was er hört als ein Zusammenspiel in ihm liegender Fähigkeiten mit einem äußeren akustischen Angebot“. Das Ohr nimmt eine kreative Rolle „als ein Informationen suchendes Wesen“ ein. Wie Musik unser unbewusstes Handeln beeinflusst, konnten Psychologen der Universität Leicester zeigen: Sie „ließen in einem Supermarkt jeden zweiten Tag französische AkkordeonKlänge erklingen – prompt wurde dreimal mehr französischer Wein als deutscher verkauft. An den anderen Tagen beschallten sie den Laden mit bayerischer Blasmusik – schon griff die Kundschaft zu Flaschen aus Deutschland“ (Bild der Wissenschaft 11/2001, 72). Jörg Harries führt in seinem Aufsatz „Musikerleben als Herausforderung“ (in: Hermann J. Kaiser (Hrsg.): Musikalische Erfahrung, Essen 1992, S. 66-82) diesen Gedanken weiter: Musik sei, wie wir sie wahrnehmen, unsere Erfindung und für diese Wahrnehmung seien wir selbst verantwortlich. „Alle Antworten auf die Frage ‘was ist Hören?’ müssen unvollständig bleiben und führen immer zu neuen Fragen. Eine kognitionspsychologische Beschreibung des Hörvorgangs verdeckt eher, dass das Phänomen des Hörens letztlich ein Geheimnis bleibt (so wie das Leben)“. Es gehe nicht nur um die Art des Musikerlebens, sondern immer auch gleichzeitig um die Lebensmethode und das Selbstkonzept, das der musikalischen Erfahrung und „ihrer Art und Weise der Wahrnehmung zugrunde liegende Selbstkonzept“ also den „Erlebenden selbst.“(72,73) O.G. Wittgenstein zitiert in seinem Aufsatz „Kunst - Therapie und Kunst – Therapeuten“ (Zeitschr. d. Östrr. Berufsverb. d. Mthp. 1/89, 10-14) Martin Buber, der 3 Arten der Wahrnehmung kennzeichnet: 1. Wahrnehmen als Beobachter = katalogisch 2. Wahrnehmen als Betrachter = analogisch... mit "schwebender Aufmerksamkeit" (Freud) 3. Wahrnehmen als "Innewerden" = dialogisch... "wenn mir ein Mensch begegnet, der mir etwas sagt." Kunst sei von ihrem Ursprung her wesenhaft dialogisch: "alle Musik ruft einem Ohr, das nicht das eigene des Musikers, alle Bildnerei gilt einem Auge, das nicht das eigene des Bildners ist. Sie alle sagen dem Empfangenden etwas, was eben nur in dieser Sprache sagbar ist, - nicht ein Gefühl, sondern ein wahrgenommenes Geheimnis." (S. 12)
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4.11 Anmerkungen zum Thema „Musikerleben als Zeiterleben“ „Musikzeit ist eine intensiv erlebte Zeit“; die Wirksamkeit von Musik besteht darin, „dass sie in das Zeitgefühl und in das Zeitbewusstsein des Menschen eingreift und es durchgreifend modelliert...ein musikalischer Prozess ist eine Art Zeitreise, die ihr eigenes Tempo, die Phasen der Beschleunigung und Beruhigung, Anfang und Ende hat.“ Reinhard Schneider knüpft in seinem Aufsatz „Musikzeit“ (Musik und Unterricht, Heft 14, 1992, S. 4-11) an diese Kennzeichnung der Musikerfahrung als Zeiterfahrung den Hinweis auf die enge Beziehung zwischen Musik und den elementaren Grunderfahrungen des Lebens an: „Da der spezifische Umgang mit der Zeit - die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Messung und Planung von Zeit, die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, des Lebens und des Todes ein Hauptmerkmal der menschlichen Existenz ist, kommt einer Kunst..., deren Inhalt die Zeit ist, eine ganz besondere Bedeutung zu. Die Frage nach der zeitlichen Seinsweise der Musik lässt sich nicht trennen von der Frage nach der Seinsweise des Menschen.“ Für Wickel erschließt sich Musik „als Zeitkunst“ und als „gestaltete Zeit“ in ihrer „Ganzheit, indem Vergangenes, also bereits Verklungenes, Gegenwärtigen, also gerade Ertönendes und noch zu Erwartendes, aber bereits innerlich Vorgehörtes zusammensetzt. „Ein einmal erklungener Ton verschwindet unwiederbringlich im Medium Luft, eine musikalische Gestaltung bleibt damit streng genommen einmalig und unwiederholbar, sie löst sich auf in der Zeit (Musikpädagogik in der Sozialen Arbeit, Münster 1998, 141). „Das Leben bedeutet auf den Tod zuzugehen also sterben. So gibt es immer gegenläufiges, immer Spannung, immer beides: die Zeit aufhalten und das Verrinnen der Zeit. So geht es auch in der Musik um beides. Um trennen, also strukturieren, und verschmelzen, also wiedervereinen. Musik ist geordnete Zeit. Und gemeinsam musizieren (oder Musik hören, H.K.) bedeutet, an der gemeinsamen Zeit teilzunehmen, die gemeinsame Einteilung von Zeit zu akzeptieren, die gleiche Identität anzunehmen“ (Willms s.u. S. 161). Harm Willms hat in seiner Arbeit „Umgang mit der Zeit und musikalisches Verhalten bei Zwangsneurotiker“ (in: Klaus-Ernst Behne (Hg.): Musikwissenschaft als Kulturwissenschaft, Regensburg 1991, S. 157-166) die Zeiterfahrung in der Musik auf musiktherapeutische Problemstellungen angewandt. Eine eigene Zeiteinteilung zu haben sei Ausdruck des autonomen Selbst (Individuation); „in gleicher Zeit etwas zu erleben, das Eintauchen in die gleiche Zeit, bedeutet Vereinigung und nähert sich dem Zustand vor dem Bewusstsein von Zeit.“ (Verschmelzung/Auflösung) Nach Martin Drewer (Gestalt, Ästhetik, Musiktherapie, Münster 2000) hat Musik mit „ökologischer Zirkularität“ zu tun, weil „Prozesse der Durchdringung von Gegensätzen ... geradezu als eines ihrer Grundmerkmale angesehen werden können. ... Im Leben, in der Evolution, im Ästhetischen ist häufig der Umweg die in Wahrheit kürzeste Verbindung. In der Therapie versucht man heute zumeist, ein Ziel zu avisieren, um es sodann auf dem effizientesten Weg schnell zu erreichen. Das Schema der Gravitation, des technischen Zeitalters, modellhaft dafür unser Verkehrswesen: Die schnellste Verbindung zwischen Hamburg und Berlin sind eine gerade Autobahn, ein Flugzeug oder die Hochgeschwindigkeitstrasse. Hätte der Weg noch Erlebniswert, so reichte eine einfache Landstraße. Entscheidend ist aber nicht mehr wie wir irgendwohin gelangen, sondern wie schnell. Zeit, heute nicht mehr zirkulär begriffen, ist dadurch knapp geworden. Weder die biologische und die menschliche Evolution noch die Sozialgeschichte scheint dergestalt verlaufen zu sein; auch in der Musik bestimmt nicht der Wunsch, zu einer schnellen 45
Lösung zu gelangen. Verläufe werden gedehnt, Auflösungen verzögert und verschoben, Umwege verstärken die Spannung und erzeugen so erst die Sehnsucht nach ihrer Entladung. Vom Standpunkt eines konservativen Unternehmers wäre das pure Verschwendung“ (108 f). Bei Luis Zett heißt es: „Was gibt uns der Rhythmus? Ist es das Gefühl des Versichert seins – versichert gegen die dumpfe Angst, wir könnten aus der Welt herausfallen, aus der Ordnung von Raum und Zeit ins konturlose, haltlose Chaos? Oder ist Rhythmus ganz einfach ein biologischer oder überhaupt stofflicher Grundfaktor? Auch eine Zelle hat ja ihren Lebensrhythmus, auch ein Elektron schwingt im Takt. Was sagt uns der Mythos? Schon am Beginn der Genesis schied Gott Tag und Nacht, installierte den Wechsel, die Wiederkehr, das Gleiche, das niemals gleich ist, denn es ist jedes Mal ein anderer Tag und eine andere Nacht. (stimmen, einstimmen, übereinstimmen, unv. Ms. 2003, 54)
Alle Musikalischen Parameter2 Klangfarbe, Tonhöhe, Melodie (als Abfolge verschiedener Tonhöhen) und Harmonie (als gleichzeitiges Erklingen verschiedener Tonhöhen) stellen Quantensprünge des Rhythmus dar, und Rhythmus selbst ist strukturierte Zeit. Elemen- Atome Moleküle Ober- Ton- Rhythtarteiltöne höhe mus chen Klangfarbe
Mikrorhythmen in der Materie
MUSIK
Form
Lebensrhythmen Atem, Puls, Zeiteinteilung, Entwicklungsphasen, etc
Kosmische Rhythmen, Tag und Nacht, Jahreszeiten, Planetenphasen etc
Makrorhythmen in der Materie
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Musikalische Parameter: die Eigenschaftsmerkmale der Musik Klangfarbe, Rhythmus, Melodie, Harmonie, Lautstärke
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4.12 Tiefenpsychologische Aspekte des Musikerlebens Viele Autoren verbinden frühste Klang- und Musikerlebnisse des Menschen mit der Erfahrung von Angst und ihrer Bewältigung. Harm Willms weist auf die Besonderheit hin, in der der Säugling Geräusche im Gegensatz zu anderen Reizen erlebt: „Bei optischen Reizen kann er die Augen schließen, bei taktilen Reizen ist es ihm nach wenigen Tagen bereits möglich, sich zu entziehen. Dem Geräusch gegenüber besteht jedoch eine gewisse Wehrlosigkeit, die als Ausgeliefertsein oder ausgesetzt Sein erlebt werden muss. So kommt es zu einer frühen Verbindung zwischen dieser präverbalen akustischen Erfahrung, dem Geräusch, und einer als bedrohlich erlebten Außenwelt. Etwas später macht der Säugling auch noch andere akustische Erfahrungen, die angenehmer sind: die beruhigende Stimme und das Singen der Mutter. Das Kind erkennt die Stimme der Mutter wieder und wirkt durch die konstante Zuwendung beruhigt. Das Wiedererkennen bedeutet außerdem ein Lusterlebnis da es möglicherweise entstandene Angst wegen des Nichtvorhandenseins der Mutter wieder löst.“ (Harm Willms: Musiktherapie bei psychotischen Erkrankungen, Stuttgart 1975, S. 25 ff.) Umgekehrt schreit der Säugling bei Erfahrungen von Unlust und lernt bald, dass sein Schreien die Mutter herbeiruft, die ihn füttert und trocken legt usw.. Er macht die Erfahrung, dass er mit Hilfe seiner eigenen klanglichen Äußerung die bedrohliche klangliche Außenwelt beeinflußt, prägt, verändert und mit diesem akustischen Eingriff in die ihn umgebenden Klangwelt seine Lebensumstände verändert (die Mutter kommt herbei und wendet sich ihm zu). Insofern kann man auch sagen, dass der Schmerz die „ursprüngliche Quelle der Musik“ sei (Dezsö Mosonyi, Die irrationalen Grundlagen der Musik, in: IMAGO, S. 21, Leipzig 1935, S. 207), denn im Schmerz werde die Musik als wirksame Kraft erlebt, indem sie ihn einzuordnen versucht in einem größeren Sinnzusammenhang. So z.B. nimmt der Klagegesang „den erlebten Schmerz auf und bindet ihn ein in die im Gesang körperlich nah vergegenwärtigte Erfahrung des Geordneten, Guten und Sinnhaften, beruft sich auf sie und hält an ihr fest.“ (Frieder Harz: Musik, Kind und Glaube, Stuttgart 1982, S. 73) Für Sigmund Freud ging es bei der „Verbindung der Hörsphäre mit der Angst“ um die Angst „vor dem Über-Ich, vor den Stimmen der magisch-allmächtigen Eltern.“ Feuerbach schrieb 1851: „Das Ohr ist das Organ der Angst...hätte der Mensch nur Augen, Hände, Geschmacksund Geruchssinn, dann hätte er keine Religion, denn all jene Sinnesorgane sind Organe der Kritik und des Skeptizismus. Und Luther sagte: In der Kirche Gottes wird nichts verlangt außer hören - wir denken auch an gehorsam, gehorchen und Hörigkeit. Sowohl Luther wie Beethoven litten an quälendem Ohrensausen.“ (Felix de Mendelssohn: Von der Musik der Psychoanalyse zur Psychoanalyse der Musik, Zeitschr. d. Östrr. Berufsverb. d. Mthp. 3/1989, S. 20-40). De Mendelssohn hat beobachtet, dass auditive Patienten (insbesondere Frauen), die schreckhaft auf Geräusche reagieren, gleichfalls hohe Sensitivität für autoritäres Vatergehabe zeigten. (S. 32) Er weist auch auf die zwiespältige Erfahrung beim kindlichen Spracherwerb hin; auf der einen Seite sei die Erfahrung, dass das Kind an der sprachlichen Verständigung teilhaben kann, mit Befriedigung verbunden; gleichzeitig enthalte sie aber auch den Schmerz darüber, dass die ursprüngliche Übereinstimmung mit der Mutter im frühkindlichen Zustand der Symbiose vor und jenseits aller sprachlichen Verständigungsbemühungen verloren gegangen ist.
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Boris Luban-Plozza bringt in seinem Buch „Musik und Psyche“, Basel 1988 folgendes Zitat von C.G. Jung: „Das eröffnet eine ganz neue Forschungsrichtung, von der ich mir nie hätte träumen lassen. Das, was Sie mir heute gezeigt haben...lässt mich fühlen, dass Musik von jetzt an ein wesentlicher Bestandteil einer jeden Analyse sein müßte. Sie gelangt zu tiefem archetypischem Material, zu dem wir in unserer analytischen Arbeit mit Patienten nur selten gelangen.“ (S. 154) Nach Claudia Schumann (Musiktherapie und Psychoanalyse, Freiburg 1982) sind musikalische Erfahrungen „mit Erlebnissen oder Erinnerungen aus meist sehr frühen Stadien der individuellen Entwicklung“ verknüpft. Insofern hat die Musik „für jeden einzelnen, der sie hört oder ausübt, eine ganz individuelle Bedeutung.“ (S. 31) Nach Stanislav Grof (Das Abenteuer der Selbstendeckung, München 1987) kann das Musikerleben alte Emotionen mobilisieren, Erfahrungen intensivieren und vertiefen und psychische Abwehrmechanismen durchbrechen. (S. 224) Friedrich Klausmeier (Die Lust, sich musikalisch auszudrücken, Reinbek 1978) nennt als psychische Aktivitäten, die beim Musikhören wirksam werden: die Projektion und die Identifikation; bei der Projektion legen wir etwas in die Musik herein, die Musik wird zu einer Projektionsfläche, auf der sich psychisches Geschehen abbildet, als wäre es außerhalb des Hörers; bei der Identifikation erlebt der Hörer sich, bzw. Teile von sich in der Musik wieder, er erlebt musikalische Prozesse, als wären sie seine eigenen seelischen Bewegungen. Beide psychischen Aktivitäten, die Projektion und die Identifikation vollziehen sich im Zustand der Regression im Dienste des Ich, bei der der Hörer auf Projektion frühere Erlebnisweisen und (Wir „legen etwas in die Musik hinein“; Regression Gefühlszustände zurückgeht, die Musik wird zur Projektionsfläche, (im Dienste des Ich) auf der sich innerpsychisches Geschehen Phantasietätigkeit und Tagabbildet) träumerei. (S. 231) (wir gehen auf frühere Erlebnisweisen und Gefühlszustände zurück;
Überhaupt kann Musikhören mit der Phantasietätigkeit, Traumtätigkeit verglichen Tagträumerei) werden. Das legen auch Untersuchungen von Träumen nahe, in denen Musik als Trauminhalt auftaucht (vgl. Harrer, Gerhard Hrsg. Grundlagen der Musiktherapie und Musikpsychologie, Stuttgart 1992). Dann träumen die Versuchspersonen von ihr als solcher, „nicht aber –wie man annehmen würde- in verschlüsselter, symbolhafter Form. Die Musik wird also ohne die sonst übliche Übersetzung in die Traumsprache direkt in den Trauminhalt übernommen. Die Erfahrung, dass gerade die zum Teil aus primitiven Kulturkreisen stammende Musik, ohne das Tor des Verstandes passieren zu müssen, sozusagen direkten Eingang in die für die Steuerung der Emotionen und vegetativen Vorgänge verantwortlichen Hirnstrukturen findet“ (32), belegt nicht nur die zuvor ausgeführten neurophysiologischen Vorgänge, sondern lässt die besondere Bedeutung der Musikerfahrung für tiefenpsychologische Prozesse aufscheinen. Wenn man dem energetischen Modell Freuds folgend beim seelischen Geschehen zwischen Primärprozessen (Prozessen des Unbewussten) und Sekundärprozessen (bewusste Prozesse) ausgeht, stellt man fest, dass Musik „einzigartig mit der psychischen Energie“ korrespondiert. Klausmeier (1984) hat die Prozesse des Musikerlebens mit den neun Gesetzen, die Freud für Identifikation
(wir erleben die musikalischen Prozesse, als wären sie unsere eigenen seelischen Bewegungen)
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den seelischen Primärprozess festgestellt hat, verglichen und dabei viele Übereinstimmungen entdeckt. Zunächst verläuft die primärseelische Logik wie „alle Musik in der Zeit als Energiestrom ab und korrespondiert damit einzigartig mit der psychischen Energie“ (123). Die neun Gesetze im einzelnen können folgendermaßen auch im musikalischen Geschehen wiedererkannt werden: 1. Gegenstände können stellvertretend füreinander stehen. 2. Musik ist (im Gegensatz zur Sprache) präsentative Symbolik. 3. Sie existiert nur in der Gegenwart. 4. Es gibt keinen Ausdruck von Abwesenheit und Negation 5. Es gibt keine Konditionalia oder einschränkende Negationen 6. Ob etwas positiv oder negativ gemeint ist, ergibt sich nur aus dem Zusammenhang. 7. Es kann mehreres gleichzeitig geschehen. 8. Gegensätze können friedlich nebeneinander stehen. 9. In Teilen zeigt sich das Prinzip das Ganzen (Verdichtung) (vgl. Friedrich Klausmeier; Der psychische Primärprozess und die musikalische Interpretation, Musiktherapeutische Umschau 1984, 115-129). Nach Heinz Kohut ist das Musikerleben mit den ES - Funktion psychischen Funktionen Es, Ich und Über-Ich (Vitalität, Sexualität) drückt sich im verbunden, indem Musik sinnliche Lust verschafft, Rhythmus insbesondere in der Rhythmuserfahrung, die mit aus (Ausagieren motorischer Impulsivität). Sexualität in Beziehung steht (Es-Funktion); in Beziehung zum Ich steht das Musikerleben Ich - Funktion insofern, als es eine Freude spendende Form des (Verstand, Wille) drückt sich in der Beherrschens beinhaltet, insbesondere in der Melodie Melodiebildung. (Überwindung von Geräuschangst aus (die Freude spendende Fähigkeit, selbst durch die Fähigkeit, selbst Klänge hervorzubringen Klänge hervorzubringen und sie geordnet wahrzunehmen). und geordnet wahrzunehmen); die Beziehung zur Über-Ich-Funktion vollzieht sich in der Über - Ich - Funktion Unterwerfung unter eine Reihe ästhetischer Regeln (Moral) drückt sich in der (Harmonielehre) oder auch in kreativem Umgang Harmonie mit ihnen (Rebellion), wodurch der Musiker ein aus (im „richtigen“ Zusammenklang Gefühl von Befriedigung und Sicherheit erhält, verschiedener Klänge, nach den Regeln der „das verwandt ist mit der moralischen Befriediästhetischen Konvention oder dem bewußten Verstoß gegen diese). gung, recht gehandelt zu haben“ (Heinz Kohut: Introspektion, Empathie und Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1977, S. 218 - 243). Arbeiten über psychoanalytisches Verständnis von Musik beziehen sich nach Bernd Oberhoff (Psychoanalyse und Musik. Eine Bestandsaufnahme, Gießen 2002) in der Zeit von 1910 bis 1950 auf die sexuelle Triebdynamik, von 1950 bis 1975 auf die Bewältigungsmechanismen des Ichs und in der Zeit danach auf die präverbalen Prozesse der Mutter-Kind-Beziehung (vgl. Ludger Kowal-Summek, Musiktherapeutische Umschau 2003, 403). Wiesmüller, Edith weist in ihrem Aufsatz „Zum Umgang mit den Begriffen Übergangsobjekte und Objektbesetzungen in der Musiktherapie“ (Musiktherapeutische Umschau, 2005, 39-49) auf die Bedeutung und musiktherapeutische Relevanz von Objektbeziehungen hin. Anhand von Übergangsobjekten und Objektbesetzungen werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet und anhand von Therapiebeispielen beschrieben: 49
„Im musiktherapeutischen Prozess sollte die Therapeutin wissen, ob es sich bei Musik und beim Instrument um ein Übergangsobjekt oder um ‚bloße’ Objektbesetzung handelt: Das Übergangsobjekt ist durch den intermediären Raum gekennzeichnet. Diese Sphäre, die von der Therapeutin respektiert und geschützt wird, erlaubt der Patientin ein Regredieren auf eine frühkindliche Ebene. Das an Regression gebundene Übergangsobjekt tritt nur in solchen Zuständen in Erscheinung. Die Objektbeziehung muss nicht an Regression gebunden sein und kann sämtliche Entwicklungsstufen mit ihren jeweiligen Objektbeziehungen repräsentieren. Das Übergangsobjekt darf seitens der Patientin im musiktherapeutischen Geschehen von der Therapeutin und den Gruppenteilnehmern meist nicht verwendet (gespielt) werden. Bei Objektbesetzungen dürfen seitens der Patientin andere die Musik und das Instrument verwenden und verändern. Das Übergangobjekt hat Anfang und Ende. Es verliert im Laufe des Therapieprozesses an Bedeutung. Die Objektbesetzung ist dynamisch und kann innerhalb des Therapieprozesses ‚kommen und gehen’“ (49).
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4.13 Anmerkungen zur sozialen Dimension des Musikerlebens Wenn man bedenkt, dass "die Reaktionsstärke des menschlichen Organismus auf akustische Reize erheblich größer als die auf optische und taktile Berührungsreize" ist, dass "die Hörzellen schon auf Reizenergien, die rund 10 Millionen mal kleiner sind als die beim Berühren," reagieren, wenn man berücksichtigt, dass schon der Embryo "spezifische Reaktionen auf akustische Reize" zeigt, sich also "gegenüber dem, was die Mutter hört oder spricht - kurz, wie sie sich akustisch - kommunikativ verhält - nicht neutral verhält," und dass "das entscheidende pränatale Erlebnis Mutter ein akustisch - rhythmisches" ist, "erlebt im rhythmischen Wiegen des Ganges, im rhythmischen Auf und Ab der geräuschvollen Atmung und im rhythmischen Schlag des Herzens," so kann zusammengefasst werden, dass es vor allem auch das Medium Schall ist, welches dem Individuum jene ersten - und wohl intensivsten - passiven wie aktiven Kommunikationserfahrungen ermöglicht, die die Herausbildung eines sozialen Selbstverständnisses entscheidend prägen. (Hermann Rauhe, Bilden - Helfen - Heilen. Zur anthropologischen Begründung und Ausrichtung eines ausgewogenen Musikunterrichts für alle Stufen der allgemeinbildenden Schule, in: Musik und Bildung, Heft 1/1978, S. 4) Jene sozialen Urerfahrungen des ausgesetzt Seins, des Auf-sich-aufmerksam-machenKönnens und des angenommen Werdens sind soziale und zugleich akustische Erfahrungen. Später tritt die Sprache in die Sozial- und Kommunikationserfahrung hinein; sie wirkt wie ein Riß zwischen Mutter und Kind, der in Musikerfahrung symbolisch für kurze Zeit gekittet zu werden scheint. Sprache wirkt wie ein "zweischneidiges Schwert - einerseits werden durch das Verhandeln von Bedeutungen zwischen Eltern und Kind die Gefühle von Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit bereichert, andererseits verliert das Kind seine Ganzheit, indem es spürt, dass seine vorsprachlichen Erfahrungen nicht durchgängig in Sprache übersetzbar sind." In der Musikerfahrung ist dieser „Riß in unserem Dasein“, wenn auch nur für kurze Zeit, gekittet. Die Musik als vor- und außersprachliches Geschehen, "als Gefühlsausdruck von gelebter Zeit, von Lebzeit," verbindet uns auf dieser ursprünglichen Ebene des Gleichklangs und Gleichschwingens mit der Mutter; indem sie jedoch verklingt, "kann sie uns Trauer und Schmerz nicht ersparen, Trauer und Schmerz die uns nicht sprachlos machen dürfen." Deshalb erfordert musikalisches Erleben immer wieder die sprachliche Vergewisserung. (Felix de Mendelssohn, Von der Musik der Psychoanalyse zur Psychoanalyse der Musik, in: Zeitschr. d. Östrr. Berufsverb. d. Mthp. 3/1989, 27 f. und 38) Musikalisches Geschehen ist immer auch ein soziales Ereignis. Das hängt schon damit zusammen, dass Klänge in der Lage sind, Räume zu überschreiten und die Ohren und den Körper von anderen Menschen als Vibration zu erreichen, sei es gewollt oder ungewollt. Musikerleben ist auch immer mit sozialen Gesellungsformen verknüpft. Wir formieren uns zu einer hörenden Gemeinschaft oder einem singenden Chor, oder einem spielenden Orchester oder einer Improvisationsrunde. Jede Musik hat ihre speziellen Versammlungs- und Gesellungsformen. Klaus-Ernst Behne berichtet über eine israelische Studie, der zufolge Versuchspersonen "eine Stunde lang in sehr verschiedene Situationen gebracht wurden: einmal wurde gemeinsam gesungen (Musik/Aktivität), ein andermal wurden gemeinsam Gedichte rezitiert (nicht Musik/Aktivität), in einer dritten Situation wurde Musik vom Band gehört (Musik/Passivität) und in der letzten Gruppe wurde gemeinsam ein Film betrachtet (nicht Musik/Passivität). Nach diesen unterschiedlichen Erfahrungen sollten die Teilnehmer, die sich vorher noch nicht kannten, den Grad des Vertrauens zu ihrem Nachbarn in einem Fragebogen angeben und danach in 51
dem berühmten Gefangenendilemma-Spiel demonstrieren, zu wieviel Kooperation sie bereit wären.
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(A. Anshel & D.A. Kipper: The influence of group singing on trust and cooperation, Journ. Of music therapy 3/88, 145-155
Soziale Wirkungen des Musikerlebens „Vertrauen“
„Kooperation“
Film Betrachten
Gedicht Rezitieren
Musik Hören
Singen
Den Versuchspersonen war nicht bewusst, dass „Vertrauen“ und „Kooperationsbereitschaft“ die relevanten Aspekte in dieser Studie waren, und ihnen war auch nicht bewusst, dass sie sich jeweils in einer von vier unterschiedlichen Situationen kennengelernt hatten. Die Ergebnisse zeigen ganz eindeutig, dass ein musikalischer Kontext (Singen oder Hören) uns dazu veranlaßt, mehr Vertrauen zu einem Nachbarn zu haben als in einer nicht musikalischen Situation, dass hingegen Aktivität (Singen oder Rezitation) die Bereitschaft zur Kooperation erhöht. Insgesamt ergaben sich für die beiden Aspekte beim Singen in der Gruppe die höchsten Werte (Klaus-Ernst Behne, Wirkungen von Musik, in: Musik und Unterricht, Heft 18/1993, S. 7 f.). Michael Grossbach und Eckart Altenmüller (Musik und Emotion – zu Wirkung und Wirkort von Musik, in: Tillmann Bendikowski u.a. (Hrsg.): Die Macht der Töne. Musik als Mittel politischer Identitätsbildung im 20. Jahrhundert, Münster 2003, 13-22) erinnern daran, dass Menschen die miteinander musizieren, „ein starkes Gefühl der zumindest vorübergehenden Verbundenheit“ empfinden, „das oft als auf einer anderen Ebene lokalisiert oder intensiver wahrgenommen wird als alltägliche Interaktionen mit Mitmenschen. Die Wirkung beispielsweise von Marschliedern wird dem Umstand zugeschrieben, dass, wer singt, keine Zeit zum Nachdenken hat, also keine angst davor bekommen kann, was ihm möglicherweise im Feld erwartet – ein ähnliches Phänomen wie bei dem pfeifenden einsamen Spaziergänger, der im Wald von der Dunkelheit überrascht wurde-; die Synchronizität der marschierenden Mitkämpfer unterstreicht möglicherweise beim Individuum den Eindruck des einheitlichen Handelns und stärkt so das Gefühl der Geborgenheit in der Gruppe mit einem gemeinsamen Ziel. Letzteres spielt wahrscheinlich ebenfalls eine Rolle bei den Stadiongesängen von Fußballfans, die allerdings je nach aktueller Spielsituation zwischen Unterstützung des Vereins, Beschimpfungen der gegnerischen Mannschaft und Spielkommentierungen wechseln (vgl. R. Kopiez / 53
G. Brink: Fußballfangesänge. Eine Fanomenologie, Würzburg 1998). Die Synchronisierung der gemeinsamen Arbeit, wie z.B. des Straßenbaus, war Ziel der ‚chain-gang’-songs der Gefangenen in nordamerikanischen Gefängnissen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Bei politischen Liedern kann zunächst eine Meinungsbeeinflussung vermutet werden, also Schaffung einer Stimmungskongruenz einander persönlich häufig unbekannter politisch Ähnlichdenkender. Einen noch stärker manipulativen Charakter haben Nationalhymnen, die gerade in Kriegszeiten die Loyalität gegenüber den Herrschenden sowie die Opferbereitschaft erhöhen sollen, sowohl bei der Zivilbevölkerung als auch bei der kämpfenden Truppe“ (17). Die Autoren vermuten auch, dass sich die genetische Verankerung der Fähigkeit, und „erhöhte Bereitschaft zum gemeinsamen Singen (Grunzen, Schreien etc.) bei den Frühmenschenvorteilhaft auf die Überlebenskraft und kulturelle Entwicklung der Frühmenschen ausgewirkt hat. „Auf diese Weise wird eine anstrengende, häufig monotone und manchmal sogar gefährliche Tätigkeit erleichtert durch emotionale Aufhellung und verstärktes Zusammengehörigkeitsgefühl. Letzteres führt wiederum zu einer Selbstbelohnung“ (18). Hans Günther Bastian weist in einer 1999 veröffentlichten Studie nach, dass Kinder, die aus Schulklassen mit Musikgruppen (Chor oder Orchestergruppen) sozialer eingestellt sind als Kinder ohne solche besondere Förderung (Musiktherapeutische Umschau 1999, S. 64 f). Die Studie selbst hat den Titel: Musikerziehung und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen, Mainz 2000. Eine ähnliche Langzeitstudie ist in der Schweiz durchgeführt worden und unter dem Titel Patry, Jean-Luc u.a. (Hrsg): Musik mach Schule. Bericht an den Schweizer Nationalfonds über den Schulversuch „ Bessere Bildung durch mehr Musik“, Freiburg/CH, 1993. Beide Studien werden ausführlich diskutiert in dem Sammelband Gembris, Heiner u.a. (Hrsg.) Macht Musik wirklich klüger? Musikalisches Lernen und Transfereffekte, Augsburg 2001. Transfereffekte zwischen Musik und sozialem Verhalten sind nicht leicht sicher nachzuweisen. An ihrem Zustandekommen sind immer viele Faktoren beteiligt, die nicht nur ausschließlich etwas mit Musik zu tun haben, wie etwa die Einstellung und das Verhalten der Lehrer, die Situation im Elternhaus etc.
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In seiner frühen Entwicklung stellt der Mensch unterschiedliche Beziehungsqualitäten im Kontakt mit sich selbst, den ihn umgebenden Dingen und mit seinen Bezugspersonen her. In Anlehnung an Daniel N. Stern hat Karin Schumacher in ihrer Arbeit mit autistischen Kindern 6 Modi der Beziehung beschrieben, mit deren Hilfe sie die Entwicklung des behandelten Kindes und den Fortgang der Musiktherapie einschätzt (Musiktherapie und Säuglingsforschung, Frankfurt am Main 1999, 249 f). Musiktherapeuten verwenden diese Modi auch als Diagnose- und Evaluationsinstrument für jede Musiktherapie: Einschätzung der Beziehungsqualität aus Sicht des Kindes: Modus 0 Modus 1 Modus 2 Modus 3 Modus 4 Modus 5 Modus 6
Ich ohne mich Ich bemerke etwas Ich verwende Personen oder Instrumente für meine Bedürfnisse Ich höre mich und bemerke, dass ich der Urheber des Spiels bin Ich höre mich und will wissen, ob der Andere mein Spiel wahrnimmt Ich höre dich und mich
Kontaktlosigkeit Kontakt-Reaktion Funktionalsensorischer Kontakt Kontakt zu sich Kontakt zum Anderen Beziehung zum Anderen Begegnung
Ich höre uns und freue mich über das gemeinsame Spiel s. Folie: Beziehungsqualität in der Musiktherapie
Einschätzung der Beziehungsqualität aus Sicht des Therapeuten: Modus 0 Modus 1 Modus 2 Modus 3 Modus 4 Modus 5 Modus 6
Du bemerkst mich und meine Angebote nicht. Du bemerkst etwas. Du verwendest mich wie einen Gegenstand und die Instrumente als wären sie ein Teil deiner selbst. Du hörst dir zu, und ich achte darauf, dass du bemerkst, dass du der Urheber des Spiels bist. Ich verfolge mit großer Aufmerksamkeit dein Spiel und zeige die meine Anteilnahme. Ich spiele mit dir und du mit mir. Wir erfreuen uns am gemeinsamen Spiel, wir spielen zusammen.
Kontaktlosigkeit Kontakt-Reaktion Funktionalsensorischer Kontakt Kontakt zu sich Kontakt zum Anderen Beziehung zum Anderen Begegnung
Hans-Helmut Decker-Voigt (Schulen der Musiktherapie, München 2001) sieht in diesen entwicklungspsychologischen Erkenntnissen Begründungen dafür, warum Musik als nonverbales Medium auf besondere Weise heilsam wirken kann: „Die Erfahrungsstufen des Säuglings in der Entwicklung vom auftauchenden Selbst zum verbalen Selbst und synchron im Bereich seiner Bezogenheit zur Mutter und anderen Bezugspersonen, bedeuten das Erlernen von Kompetenzen und Ausprägen erster Potentiale im auditiven, elementar-musikalischen Bereich (...), die wir bereits mit in diese Welt aus der des Uterus bringen, über weitestgehend mediale Ebenen des Fühlens, Hörens, Bewegens, Sehens, Lautlallens, Singens, aktiv wie rezeptiv. Un55
sere lebenslange Dialogfähigkeit mit uns selbst und anderen haben wir im Uterus und in früher Kindheit im prä- und elementar musikalischen Ein- und Ausdruck disponiert, und diese Disposition ist Basis für sämtliche verbalen und nonverbalen Kompetenzen des gesamten Lebens, bis es uns verlässt“ (31) (Hervorhebung H.K.). In Interaktionszusammenhängen betrachtet, lassen sich nach Wolfgang Mahns (Das Musikkonzept in der Musiktherapie. In: Musiktherapeutische Umschau, 1984, 295-305) vier übergeordnete Funktionen für Musik benennen: 1. Musik dient der Abkapselung von der Umwelt. (Funktion der Einhüllung) Beispiel: Lallmonologe des Säuglings, der – sich selbst einhüllend – sich in den Schlaf singt. 2. Musik dient der Verdoppelung des eigenen Selbst. (Funktion der Selbstverdoppelung). Indem ich auf meinem Instrument spiele, verschaffe ich mir ein Gegenüber, werde zu zwei „Personen“: Körper-Ich und musikalischer Symbolausdruck. (...) 3. Musik dient der symbolischen Berührung mit den anderen Menschen. (Kontaktfunktion) Im Singen oder Spielen eines Tons berühre ich einen anderen Menschen, sofern dieser anwesend ist. Auf symbolischer Ebene findet Berührung statt (...) 4. Musik dient der Auseinandersetzung mit der äußeren Natur. (Funktion der Auseinandersetzung) Durch die Erforschung der äußeren Natur der Gegenstände erfahren Menschen ihre eigenen Möglichkeiten und Grenzen (301).
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4.14 Anmerkungen zur Ästhetik des Musikerlebens Alexander Gottlieb Baumgarten (1717-1762) gilt als Begründer der deutschen wissenschaftlichen Ästhetik. Neben Logik (Erkenntnislehre; was ist Wahrheit? Was ist richtig, was ist falsch?) und Ethik (Morallehre; was ist gut, was ist böse?) als Lehre von der sinnlichen Erkenntnis (was ist schön, was ist hässlich?) gilt sie als eine der drei Fundamentaldisziplinen der Philosophie. Im Laufe der Geschichte wurde Ästhetik zur „Lehre vom Schönen“ verkürzt und lediglich auf die Bewertung künstlerischer Produkte bezogen. Die Phänomene des Ästhetischen hingegen sind wie denken und wollen als Empfindung von schönem und hässlichem im gesamten Leben des Menschen gegenwärtig. Sie betreffen nicht nur die Kunst. „Das Ästhetische stellt einen festen Bestandteil des gesamten Lebens dar“; es ist „integraler Bestandteil“ der Entwicklung der Menschheit wie des einzelnen Menschen. Es gehört zur Grundausstattung der Gattung Mensch; so wie er denken und erkennen, so wie er sich sozial entwickeln kann, so vermag er seine „immateriellen Emotionen und Phantasien“ in Symbolen zu kodifizieren (Martin Drewer, Gestalt, Ästhetik, Musiktherapie, Münster 2000, 80 ff). Das sind nicht nur Bilder, Musikstücke etc., das ist auch die je spezielle Art, wie der Mensch sich wohnlich einrichtet, kleidet etc. (Alltagsästhetik). In diesen Symbolen kommen auch Utopien zum Ausdruck; das Ästhetische transzendiert die bloße Zweckdienlichkeit. Drewer charakterisiert das Ästhetische auch als „Suchbewegung“ zwischen Chaos und Ordnung, was besonders in den musikalischen „Polaritäten von Konsonanz und Dissonanz, Harmonie und Disharmonie“ u.s.f. zu Ausdruck kommt. Das gesamte Leben vollzieht sich in solchen Bewegungen. Und die Art, „wie wir Musik wahrnehmen und einordnen, ob als schön oder hässlich, sagt etwas aus über das Verhältnis einer Person zu sich selbst, zum Anderen, zur Welt“ (Drewer 83 f.). Damit ist die Brücke geschlagen von der Kunst zum Leben; gleichzeitig liegt hier die eigentliche Begründung der Musiktherapie. Die ästhetische Auseinandersetzung ermöglicht erst die Vorstellung des Transfers zwischen Musikerfahrung und Alltagsleben, das meint die Vorstellung davon, dass sich durch die musikalische Erfahrung, die der Patient in der Musiktherapie macht, etwas in seinem Leben verändert. Auch Paolo Knill, der Begründer der Ausdruckstherapie vertritt eine „nicht-restriktive Kunstauffassung“, der zu Folge Kunst „nach dem direkten unmittelbaren Gefühlsausdruck das ursprünglichste Ausdrucksmittel des Menschen ist, um dem, was ihn emotional in seinem Sein bewegt, um seiner Selbst und der Welterfahrung äußere Gestalt zu geben und es in dieser Veräußerung mitteilbar zu machen“. In archaischen Kulturen sei der 2künstlerische Ausdruck nicht von dem direkten Gefühlsausdruck abgespalten (Sabine Bach, Musik in der Ausdruckstherapie, in: Hans Helmut Decker-Voigt: Schulen der Musiktherapie, München 2001, 294). Während Wissenschaft die Gesetze sowie die Ordnungen dieser Welt entwerfe und Philosophie sinnstiftende Zusammenhänge herstelle, bringe der Mensch in der Kunst „seine kreative Wahrnehmung der Dinge und seiner selbst“ zum Ausdruck. „Der ursprüngliche Gefühlsausdruck ermöglicht dem Menschen eine gesunde regulierende und sinnstiftende Kommunikation mit sich und der Welt. Ist dieser Ausdruck gestört, erlaubt Kunst, der Notwendigkeit von Ausdruck und dem Bedürfnis nach Mitteilung eine Weg zu bahnen.“ Insofern seien Kunst und Heilkunst öriginär miteinander verknüpft und sei „künstlerischer Ausdruck nicht nur Medium, sondern Methode zugleich“ (ebd. 295). Ästhetik definiert Moissej Kagan „als die Wissenschaft von der ästhetischen Aneignung der Wirklichkeit durch den Menschen.“ (Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik, Berlin 1974, S. 13) Ästhetische Aneignung ist gebunden an die Voraussetzung eines sinnlichen Kontaktes, an Geistestätigkeit und an „Uneigennützigkeit“. (S. 105 ff.) Für den psycho57
therapeutischen Prozess sind ästhetische Erfahrungen deshalb so bedeutsam, weil sie nicht zweckgebunden sind und deshalb Zugänge zu Möglichkeiten eröffnen, „die dem zielgerichteten Verhalten aufgrund dessen Einengung verschlossen sind“ (Drewer 91). So kann Neues, noch nicht Gedachtes, noch nicht Erkanntes entstehen und erfahren werden. Ich habe diese Dinge in unserem Buch „Musik und Malen in der therapeutischen Arbeit mit Suchtkranke“ unter dem Kapitel „Musiktherapie als besondere Form der ästhetischen Aneignung“ (S. 45 - 52) im einzelnen erläutert. Auch Drewer bemüht sich um eine solche ästhetische Begründung der Musiktherapie und warnt vor einer bloßen Orientierung an den etablierten Therapierichtungen (Psychoanalyse, Gestalt oder Verhaltenstherapie). So betont er , „dass musikalisch-improvisatorische Prozesse primär der (Organ-)Logik folgen“ und dass Erkenntnis nicht nur im Organischen wurzelt, sondern bereits dort stattfindet (z.B. als Engrammierung in den Zellen) (96 f). Das Ästhetische ist für ihn ein „auf allen körperlichen und geistigen Ebenen vermittelter Austausch von Systemen, Individuen, Subjekt und Mitwelt“, Erkenntnis, die auf dissipativen Strukturen im molekularen, zellulären und organischem Bereich basiert. Auch Isabelle Frohne-Hagemann (Fenster zur Musiktherapie, Wiesbaden 2001, 259-294) hält die Untersuchung der von vielen Theoretikern vernachlässigten ästhetische Dimension der Musiktherapie für hilfreich bei der Entwicklung einer musiktherapeutischen Metatheorie. ausgehend von den alten Griechen, Pythagoras, Heraklit, Platon, Aristoteles, in Mittelalter, Renaissance, Barock, Romantik bis Kant, Nietzsche und Adorno und hebt dabei den metaphysischen Charakter der verschiedenen Auffassungen hervor, bei dem Leiblichkeit zugunsten von Bewusstseinsleistungen vernachlässigt wird, bzw. als im Artifiziellen zu transzendieren erscheint. Vor dem Hintergrund der ursprünglichen Bedeutung von aisthesis, als der Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung seien die metaphysischen Richtungen eigentlich als „anästhetisch“ zu betrachten, weil Sinnlichkeit Teil der Physis ist, mehr noch, der ganze Leib totales Sinnesorgan ist (vgl. die Organ-Logik bei Drewer). Sie plädiert deshalb für eine „Ästhetik vom Leibe aus“ (289), die Leiblichkeit als zentrale Instanz für künstlerische Verstehensprozesse anerkennt. Isabelle Frohne-Hagemann betont, dass die Patienten beim Spielen und Experimentieren mit Klängen ihre Wirklichkeit ästhetisch hervorbringen. Ihr ästhetisches Handeln sei „Erzeugung, Darstellung, Erkenntnis und Gestaltung von Wirklichkeit“ und habe „existentielle Bedeutung“. Als „ästhetische Konstruktion“ seien sie „eine ständige Suchbewegung und Auseinandersetzung mit Erfahrungen, Vorstellungen, mit Möglichkeiten, Impulsen, Wünschen, Ängsten, Reflexionen, die durch die vorfindliche Gegenwart ausgelöst werden“ (ebd. 287). Der Ästhetik Adornos folgend, die das Hässliche umschließt, „das weh tut, weil es die Unwahrheit der Gesellschaft ans Licht bringt“ (Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973, 53, zit. n. Frohne-Hagemann, 2001, 289) sei „auch in der Musiktherapie die Kakophonie legitimiert. Damit ist nicht nur ein in Kauf nehmen missklingender oder chaotischer Musik gemeint, sondern die Wertschätzung des Mühsamen, Hässlichen, Verqueren, des Haderns und Trotzens, des zeitweiligen Steckenbleibens und Resignierens, u.s.w., weil das alles ebenso zur Ästhetik gehört wie das Schöne, Erfreuliche, Stimmige, Ausgewogene, Leichte und Erleuchtete. Heilung bedeutet unter ästhetischen Gesichtspunkten nun, auch tief in die Abgründe hineinzuschauen und sie nicht zu verdrängen, sondern sie zuzulassen und auszudrücken. Das ist für den/die Klienten/in oft schambesetzt, schmerzvoll und unerträglich und verlangt vom Therapeuten bzw. der Therapeutin Kraft, Zuversicht und Liebe bei der Begleitung. Und wenn dies dazu beiträgt, dass das sich öffnende Bewusstsein für die tieferen und höheren Dimensionen unseres Seins auch die Dimension der Spiritualität einbezieht, dann soll 58
das Irdische und Sinnliche nicht ausgeklammert werden, sondern willkommen geheißen“ (289 f.). Grundlage der Ästhetischen Situation ist die „Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt“, denn „das ästhetisch Empfundene haftet den Gegenständen nämlich nicht an, sondern es entwickelt sich erst in der Beziehung zum Subjekt“ (ebd. 264). Wie jedes Kunstwerk, wie jedes Musikstück sind auch die Improvisationen der Patienten „ein komplexes Symbol“, welches „von den Bedingungen, unter denen wir es betrachten, abhängt.“ Jede Wahrnehmung sei bereits eine Interpretation, die von unseren „eigenen ästhetischen und therapietheoretischen Vorannahmen“ bestimmt ist (ebd. 287). Daraus resultiert die besondere Qualität der therapeutischen Beziehung in der Musiktherapie. Diese Auffassungen basieren auf semiotischen Analysen zu Musik und Sprache von Peter Faltin, die verdeutlichen, dass die Bedeutung musikalischer Gestalten sich auf völlig anderem Wege ereignet als die von Sprache (Bedeutung ästhetischer Zeichen, Musik und Sprache, Aachen 1985). Musik ist zwar auch „sinnvolle Struktur, aber sie „bedeutet“ zunächst einmal nichts. Bedeutungen legen wir in Abhängigkeit von unserem Vorwissen, (auch Vorurteilen), der Situation und den ablaufenden Konsensprozessen in sie hinein, und jeder hört nur dann und nur das aus der Improvisation heraus“, was er selbst in das Werk hineingelegt hat (Frohne-Hagemann 2001, 290 f.). Deshalb müssen die Improvisationen der Musiktherapie hermeneutisch interpretiert werden, das heißt, dass man „sowohl von der gegenstandsnahen Wahrnehmung als auch von der leiblichen Empfindung und Resonanz auf die ästhetischen Phänomene ausgeht, bevor in einem elevatorischen Vorgang von dieser aisthesis zur ästhetischen Sinngebung fortgeschritten wird“ (ebd. 291), d.h.: zuerst wahrnehmen, Wahrnehmungen beschreiben, sowohl im Blick auf die Musik als auch im Blick auf den Körper, Emotionen, Gedanken, Einfällen, Atmosphären, Gruppenprozessen, und erst dann nach Bedeutungen fragen und Bedeutungen finden. Der tschechische Philosoph Jan Mukarovský kennzeichnet die ästhetische Aneignung, dh. die Fähigkeit des Menschen, die Wirklichkeit ästhetisch zu erleben, als die Fähigkeit, „ästhetische Zeichen“ herzubringen und zu rezipieren; ästhetische Zeichen sind z.B. Musikstücke:
ästhetische Zeichen ... ... bilden die Wirklichkeit als Ganzes ab ...
... nach dem Bild der Einheit des Subjekts unifiziert
d.h.: in ihnen können prinzipiell alle Aspekte der Wirklichkeit enthalten sein
d.h.: sie enthalten die Wirklichkeit als Ganzes nach der subjektiven Sichtweise des einzelnen vereinheitlicht
... zielen auf eine vereinheitlichende Verhaltensweise d.h.: sie provozieren Bewegungen der Sinne, des Körpers, des Denkens, in denen eine bestimmte Art, sich der Wirklichkeit gegenüber zu verhalten, erlebt wird 59
Mukarovský, Jan: Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt am Main 1971 Boris Assafjew beschreibt das Musik - Erleben (das Anhören einer Musik) als Prozess der Umwandlung von Energie: „Wenn ein Komponist bei seinem Schaffen eine Arbeit durchführt und dabei ein Teil seiner Lebensenergie aufwendet, dann wird die konkrete Form dieser Arbeit, das musikalische Werk, zu einer Form der Umwandlung der Energie des Komponisten.“ Es geschieht eine Reihe von Energie - Unwandlungen, „angefangen von ihrem ersten Keimen in der Vorstellungskraft des Komponisten unter dem Einfluss seiner Umwelt bis hin zur ihrer Rezeption durch den aufmerksamen Hörer.“ (Die musikalische Form als Prozess, Berlin 1976, S. 57 f., s. hierzu auch John Diamond: Lebensenergie in der Musik, Zürich 1981.) Eine Musik zu verstehen bedeutet für Assafjew: „Die Zweckdienlichkeit der Vorwärtsbewegung des gehörmäßig wahrgenommenen Klangflusses erfassen und sich darüber klar zu sein, warum sich die Bewegung, bald konstatierend, bald ausdehnend, fortsetzt.“ Um ein musikalisches Werk zu verstehen, vergleichen die Menschen instinktiv die Momente der vorbeifließenden Musik miteinander und prägen sich im Gedächtnis ähnliche und häufig wiederkehrende Klangkomplexe ein. Allmählich fixieren sich diese Klangkomplexe im Bewusstsein und werden zu leicht erkennbaren, bekannten und angenehmen gebildet. Beim Hören jedes neuen Musikwerkes vergleichen die Menschen die unbekannten Klangkomplexe mit den bekannten und treffen eine Auswahl, wobei sie besonders ungewohnte Verbindungen ablehnen. Wiederholtes Hören führt jedoch allmählich dazu, dass in Ungewohntem Beziehungen zu bekannten Klangelementen erkannt werden... . Ein ähnlicher Prozess des Anklammerns an gewohnte Klangverbindungen oder deren Zurückweisung, Vergleich und Auswahl vollzieht sich auch beim Komponisten während der schöpferischen Arbeit. Trägheit oder Aktivität im kompositorischen Schaffen hängt mit ab von einer solchen Wahl zwischen den passiv im Gedächtnis gespeicherten, seit eh und je befestigten Klangverbindungen einerseits... und "noch nicht bewältigtem Material" andererseits, also zwischen einerseits völlig rational begründeten Klangverbindungen und andererseits einstweilen unerklärbar, irrational erscheinenden Einfällen." (S. 34 f.) „Musik klingt nicht als Summe einzelner hörbarer Töne, sondern sie wird in unseren Ohren Musik durch ein sinnenhaftes Wahrnehmen und Empfinden von Tonverhältnissen und Tonbewegungen. ... Musik besteht nicht aus Tönen, sondern aus ‚Kraftfeldern’, Zwischenräumen, Beziehungen. ... Wenn wir Musik ästhetisch hören, hören wir Beziehungsgefüge und dieses er-fahren wir mit dem Leib als totalem Sinnesorgan.“ Das geht nur, „wenn wir uns dafür öffnen und leiblich mitschwingen“ (Frohne-Hagemann 2001, 267). Georg Böhme, betont in einem Interview mit Eckhard Weymann und Martin Deuter die Notwendigkeit einer ökologischen Ästhetik ... eine „Theorie des Empfindens“ ... atmosphärische Erfahrung sei zugleich eine Erfahrung der eigenen leiblichen Anwesenheit ... unsere ganzen Bewegungs- und Kommunikationsformen sind technikvermittelt, und das drängt die Atmosphären immer in den Hintergrund ... Musik ist eigentlich das mächtigste Mittel zur Erzeugung von Atmosphären ... Atmosphären sollten auch klanglich und damit in zeitlicher Dimension begriffen werden und nicht immer nur räumlich (letzteres sein geradezu eine Berufskrankheit der Architekten). ... Die Industrie hat ungefähr seit den 1950er Jahren eine „Eskalation der Speicher- und Wiedergabegeräte“ betrieben. Aus dem Grundbedürfnis nach Musik ist heutzutage „ein Kompensationsbedürfnis geworden, weil ja die technische Zivilisation im Grunde darauf abzielt, das Normalleben möglichst ereignisarm, das heißt auch affektiv neutral zu machen. Alle Menschen müssen sich ja sehr funktional und cool verhalten, so dass durch die Musik, aber auch 60
die Fernsehindustrie eine Kompensationsleistung erbracht wird: es wird ein harmloser Bereich des Auslebens von Gefühlen bereit gestellt. Die Industrie entwickelt hier die Steigerungsmöglichkeiten über die Geräte und auch über die musikalischen Moden, die sich ständig erneuern müssen. Es wird von der Kulturindustrie ein systematischen Veralten geplant, sowohl der Geräte als auch der Musik.“ So müsse „das Bewusstsein vom Lebensvollzug wieder gewonnen werden“ und „die Musik hätte, so ähnlich wie das Atmen, die Möglichkeit, den Menschen die Erfahrung zu vermitteln, gegenwärtig zu sein (Die Musik modifiziert mein Gefühl, im Raum zu sein, Musiktherapeutische Umschau 2005 307-313
MUSIC THERAPY IS POSSIBLE THE ONLY IMPROVISATORY TRADITION IN THE WORLD THAT ENCOURAGES TOTAL MUSICAL FREEDOM AND HAS NO UNDERLYING MUSICAL STRUCTURES TO UNDERPIN IT. June Boyce Tilman: Constructing Musical Healing. The wounds that Sing, London 2000, 246
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4.15 Kognitive Aspekte des Musikerlebens In ihrem Aufsatz „Musikalität und Leistungen in nichtmusikalischen Bereichen“ (Zeitschrift für Musikpädagogik, Heft 40, 1987, S. 22 - 28) referieren Arnold Feil und Marianne Hassler die Ergebnisse vieler Untersuchungen, die alle zum Ergebnis kommen, dass musikalisch praktizierende Menschen im allgemeinen höhere Intelligenz aufweisen als andere. Ihre eigene Untersuchung in Tübingen mit 60 Jungen und Mädchen ergibt, „dass Jungen und Mädchen mit musikalischer Begabung, die überwiegend musikalisch ausübend sind, einen deutlichen Entwicklungsvorsprung in nichtmusikalischen Bereichen haben, verglichen mit ihren Freunden,...die musikalisch nicht ausübend sind. Und obwohl die Nichtmusiker nach Eintritt der Pubertät dank eines großen Entwicklungsschubes die Musiker - zumindest teilweise - wieder einholen, kann in einer Schülerlaufbahn in der Zeit vor der Pubertät schon einiges geschehen sein, bei dem die Musiker einen Vorteil hatten.“ (S. 28) Helmut Moog weist in einer Untersuchung "Transfereffekte des Musizierens auf sprachliche Leistung" (in Kemmelmeyer / Probst: Quellentexte zur pädagogischen Musiktherapie, Regensburg 1981, S. 307-320) nach, dass durch regelmäßiges tägliches Singen das Sprach- und Lesevermögen von sprach- und lernbehinderten Kindern sehr deutlich verbessert werden konnte. Psychologen der Universität Hongkong fanden heraus, dass frühzeitiger Musikunterricht die sprachlichen Fähigkeiten eines Menschen dauerhaft verbessere (Nature Bd. 396, S. 128, Musiktherapeutische Umschau 1999, S. 64) In einem Schulversuch von 1972 bis 1979 in der Schweiz erhielten die Schüler 5 Stunden Musik- und Gesangsunterricht wöchentlich und dafür je eine Stunde weniger Unterricht in den sprachlichen Hauptfächern Deutsch und Französisch sowie Mathematik. Dennoch verbesserten sich ihre Leistungen in diesen Fächern (Ernst Weber, Intelligenter durch Musik? Zeitschr. f. Musikpäd. 23/1983, S. 33-36. Eine Dissertation an der Universität Washington (D.T. Lu, 1986) kommt zu demselben Ergebnis. Eine Langzeitstudie, die in der Schweiz durchgeführt wurde, kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Sie ist erschienen unter dem Titel Patry, Jean-Luc u.a. (Hrsg): Musik macht Schule. Bericht an den Schweizer Nationalfonds über den Schulversuch „ Bessere Bildung durch mehr Musik“, Freiburg/CH, 1993. Eine Studie zu diesem Thema von Hans-Günther Bastian zeigt, dass Kinder in Klassen mit regelmäßigem Musikunterricht zwei Stunden pro Woche und zusätzlicher Musikpraxis im Chor oder Musikgruppen verbunden mit Instrumentalunterricht in allen übrigen Schulfächern deutlich bessere Lernfortschritte machen, als Kinder in Klassen ohne Musikgruppen. An diesem Versuch nahmen 2400 Schüler aus Berliner Stadtteilen teil, die zu großen Teilen auch aus sozialen Brennpunkten kamen (Musiktherapeutische Umschau 1999, S. 64 f, Bastian: Beeinflusst intensive Musikerziehung die Entwicklung von Kindern? Zwischenbilanzen einer Langzeitstudie an Berliner Grundschulen, Musikforum 86/1997, S. 4-22). Die komplette Studie trägt den Titel: „Musikerziehung und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen“, Mainz 2000. Die Studie zeigte auch, dass Kinder mit mehr Musikerfahrungen in besseres Sozialverhalten zeigten, insbesondere gab es in diesen Klassen weniger Außenseiter. Amerikanische Studien, wonach regelmäßiges Anhören von Mozart Musik Intelligenzleistungen, vor allem das räumliche Vorstellungsvermögen steigerten („Mozart Effekt“), werden von Sozialwissenschaftlern bisher noch mit Skepsis betrachtet. Überhaupt ist fraglich, inwieweit solche „Transferleistungen“ überhaupt einzig auf die Musikerfahrung zurückzuführen sind und wie lange sie Bestand haben. 62
Naheliegend erscheint der positive Einfluss des Musikerlebens auf die kognitive und soziale Entwicklung besonders, wenn man das von Luc Ciompi beschriebene Phänomen der Affektlogik zu Grunde legt. Dem zufolge wirken Fühlen und Denken zirkulär zusammen: „Einerseits lösen bestimmte Erlebnisse, Wahrnehmungen oder Gedanken bestimmte Gefühle aus, und andererseits beeinflussen diese Gefühle dann ihrerseits das Denken und Wahrnehmen in einem viel höheren Ausmaß, als wir gemeinhin für wahr halten“. Die hohe affektive Qualität des Musikerlebens erscheint in diesem Zusammenhang als „Energielieferant“ für kognitive Entwicklung, denn es handelt sich bei Affekten „um bestimmte biologisch sinnvolle Energieverteilungen sowohl im Körper wie in der Psyche und im Gehirn. Sie „sind evolutionär gekoppelt mit wichtigen Verhaltensweisen wie Flucht, Kampf, Kommunikation, Geselligkeit, Sexualität, Nahrungssuche u.s.w.“ Sie „koppeln sich erlebnis- und situationsabhängig mit bestimmten Wahrnehmungs- und den entsprechenden Denk- und Verhaltensweisen. So bilden sich funktionell integrierte ’Fühl – Denk - Verhaltensprogramme’, die in ähnlichen Situationen immer wieder aktiviert werden“ („Wer nicht sucht, findet!“ Das Phänomen aus Sicht der Affektlogik. Interview mit Luc Ciompi in: ringgespräch über gruppenimprovisation LXIX, 2003, 33). s. zur Affektlogik im einzelnen das Kapitel „Das Schizophrenieverständnis der Affektlogik und seine therapeutischen Implikationen“ (in: Luc Ciompi u.a. (Hrsg.): Wie wirkt Soteria, Bern 2001, S.49-68) sowie Luc Ciompi: Die emotionalen Grundlagen des Denkens, Göttingen 1997 Neuerdings stellt man enge klangliche Beziehungen zwischen Sprachklang und Musik fest. „In praktisch allen menschlichen Sprachen werden bestimmte Tonhöhen lauter gesprochen als andere“, und diese hervorgehobenen Frequenzen bilden genau die chromatische Tonleiter, welche die Grundlage fast aller Formen von Musik darstellt (Musiktherapeutische Umschau 2003, 409 f.). Andererseits erscheinen manche Tonfolgen „dem Menschen harmonischer als andere, weil sie physikalisch den Mustern der Schallenergie ähnlich sind, die den Hörern von der Sprache her vertraut sind (ebd. 411).
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4.16 Politische Aspekte des Musikerlebens „Politisches impliziert Kunst jedenfalls insofern, als in ihr ein formaler Zusammenhang zwischen einzelnen Teilen hergestellt wird; Form als Zusammenhang alles Einzelnen vertritt im Kunstwerk das soziale Verhältnis. Es gibt kein Formales ohne inhaltliche Implikate und diese reichen bis zur Politik“ (Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1979, S. 379). Das heißt, die Art und Weise, wie im musikalischen Kunstwerk die Töne zueinander gefügt sind, wie die Musizierenden sich zueinander verhalten, miteinander umgehen, das alles ist ein Abbild eines gesellschaftlichen Zustandes. Nun können diese Beziehungen hierarchisch, nach dem Muster von Herrschaft organisiert sein oder demokratisch bzw. anarchistisch. Politisches kann also in Musik einmal insofern enthalten sein, als bestehende gesellschaftliche Verhältnisse sich in ihr abbilden oder insofern, als diese bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse transzendiert, abgeschafft werden und ein utopischer (noch nicht realisierter) gesellschaftlicher Zustand dargestellt wird. Ersteres ist „Alte Musik“ (die bestehende gesellschaftliche Zustände lediglich abbildet) - letzteres ist „Neue Musik“ (die bestehende gesellschaftliche Zustände überwindet). Einen historischen und politischen Kontext zwischen Musik und Politik sieht Joachim Ernst Berendt (Das Leben – ein Klang, München 1996) in den von Ilya Prigogine beschriebenen dissipativen Strukturen und Prozessen der Selbstorganisation, wie sie für die Improvisation in der Musik typisch sind. „Er hat gezeigt, dass Störungen, Fluktuationen, Turbulenzen, die ein System bestürmen, dieses eher befestigen und kräftigen, solange sie nicht über eine bestimmte Grenze hinausgehen. Überschreiten sie diese Grenze, ‚kippt’ das System um. Es entsteht Chaos, das aber kreativ ist, denn chaotische Systeme tendieren dazu, neue, noch ‚höhere’ Ordnungen und Strukturen aus sich heraus neu zu erschaffen. Sie tun das in – dies wurde ein Schlüsselwort – ‚Selbstorganisation’. Dissipative Strukturen sind allgegenwärtig. Nicht nur in der Physik und Chemie. Auch in der Gesellschaft (zum Beispiel bei der Bildung von Lichterketten, bei einem sich auflösenden Verkehrschaos, bei einem sich herausschälenden Konsens, in Sitzungen, Versammlungen etc.) Und natürlich in der Musik. Dieses letztere zu untersuchen, könnte durchaus ein paar Generationen von Musikwissenschaftlern in Atem halten. Selbstorganisation ist auch hier ein sehr viel stärker herausforderndes Konzept als alles, was der Musikwissenschaft bisher am Herzen lag“ (371 f). Allerdings ist „die Vorstellung, ästhetisch anspruchsvolle und fortgeschrittene Kunstmusik transportiere automatisch positive politische Grundwerte (...) eher Wunschtraum denn Wirklichkeit (Peter Bubmann, Tönend bewegte Freiheit, in ders. Hrsg.: Menschenfreundliche Musik, Gütersloh 1993, 35-57, 50). „Beide, politisches Ethos und ästhetische Kunst zehren von der kommunikativ begriffenen Freiheit der Handelnden und Hörenden. Musik kann spielerisch Erfahrungen der Freiheit und Gemeinschaft für die Dauer des Erklingens stimulieren. Sie wird in solchen musikalischen Freiheits- und Kommunikationsprozessen zum Hoffnungszeichen des politischen Ethos, ohne selbst diese Hoffnungen einlösen zu können“ (ebd. 54). „Das spielerische Musizieren fördert die Konzentration und die Geduld, ermöglicht eine ganzheitliche Persönlichkeitsentfaltung“, allerdings garantiert es „noch keine politische Mündigkeit.“ „Ohne diesen sozialisierenden Beitrag der Musik zur Gesellschaft jedoch wäre die Welt sicher fried- und trostloser als sie es ist. So unterstützt Musik zunächst auf indirekte Weise die Bemühungen um eine menschenfreundlichere Gesellschaft“ (ebd. 55). Für Adorno gehört auch zur Ästhetik das Hässliche, „das weh tut, weil es die Unwahrheit der Gesellschaft ans Licht bringt“ (Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973, 64
53). Deshalb ist es auch Aufgabe der Musiktherapie, „nicht nur die Erscheinungen und Hintergründe, sondern die Bedingungen für bestimmte gesellschaftlich determinierte Lebenswirklichkeiten aufzuspüren. Musiktherapie befasst sich ja mit dem Unerhörten und Ungehörten auch nicht nur im Seelenleben, sondern auch im gesellschaftlichen Kontext. Man muss vorsichtig sein mit ‚rein’ klinischen Diagnosen, die das Individuum stigmatisieren. Eine musiktherapeutische Improvisation kann zwar das Weben und Walten einer sich im Individuum manifestierenden Störung sozialer und gesellschaftlicher Genese hinweisen, doch muss diese immer vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen, sozialen und politischen Geschehnisse gesehen werden. Die Improvisation ‚bedeutet’ in ihrer ästhetischen Gestaltung also nur etwas vor diesem Hintergrund“ (Frohne-Hagemann, Fenster zur Musiktherapie, Wiesbaden 2001, 290).
Zum Verhältnis von wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung eines Volkes und seiner Tanzkultur: (Interview mit dem Choreograf und Theoretiker Alphonse Tiérou von Jasmina Sopova in: UNESCO-Kurier 7/8, 2000, 65 f) „Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eines Landes hängt nicht allein von Geld und Arbeit ab“. Die großen Theorien sind überholt, denen zufolge „Faktoren wie Rohstoff, Kapital, Arbeit, Produktion, Investition und Wachstumsrate als Triebfeder der Volkswirtschaft sehen.“ Stattdessen sind „kulturelle Werte, die bislang nur eine Nebenrolle spielten, als entscheidender Katalysator des Fortschritts“ hervorzuheben. (vgl. Alain Peyrefitte: La Société de confiance, 1995) Gerade „die immateriellen Werte“ prägen „die Mentalität eines Volkes“. „Der schöpferische Akt ist für die Emanzipation des Einzelnen bekanntlich von entscheidender Bedeutung.“ „Der Tanz kann in der Gesellschaft etwas bewegen. Denn nur eine Gesellschaft, die sich aus freien, selbstbewussten Menschen zusammensetzt, wird ihre Schwierigkeiten meistern.“ Allein bereits „die Tatsache, dass wir über den Tanz nachdenken, bedeutet ja, dass wir uns selbst zu akzeptieren beginnen.“
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4.17 Anmerkungen zum religiösen/spirituellen Charakter von Musik „Musik gestattet es uns, an die Grenze des Lebens zu treten und wieder zurück zu kommen, einen Übergang zu erleben, einen Moment der Veränderung und Transzendenz. Musik belebt wie Sauerstoff, sie spricht von der Folge der Dinge. Sie ist der Bogen, der sich von der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft spannt.“ (Susan Munro, Musiktherapie bei Sterbenden, Stuttgart 1986, S. 88) Musik hat es mit dem Unsagbaren, dem Unsichtbaren und Vergänglichen zu tun. (s. dazu auch: Hartmut Handt: Vorspiel der Ewigkeit. Musik und Transzendenz, in: Peter Bubmann, Hrsg.: Menschenfreundliche Musik, Gütersloh 1993, 84-99) Das Musikerleben hat es mit dem „Unaussprechlichen“ zu tun: „Die Grenzen der Sprache sind nicht die Grenzen der Welt; es gibt nichts 'Genaueres' als das „ästhetische Zeichen“ selbst, das man sieht, hört, fühlt oder riecht.“ Man kann ein Musikstück mit den Mitteln der Sprache nicht durchdringen, um es genauer zu fassen; es besteht nur eine Möglichkeit: haltmachen und hinnehmen. Denn im Bereich des Ästhetischen gibt es kein 'Weil' oder 'Denn', da wir am Ursprung des 'Denn' sind. Die Welt des Ästhetischen unterscheidet sich von anderen Welten - etwa von der Verstandeswelt - eben dadurch, dass hier kein Erklären möglich ist." Wenn überhaupt: man beschreibt den tönenden Prozess, nicht aber die Musik; könnte man es, wäre Musik damit überflüssig. Außerdem: Aussagen des Gefallens oder Mißfallens, weinen oder stöhnen, können weder richtig noch unrichtig sein. Das Musikerleben konfrontiert uns unausweichlich mit der Tatsache, „dass es auch jenseits der beschreibenden Sprache eine Welt gibt, deren Teil die ästhetische Welt ist, dass es hier nicht nur das gibt, worüber man streng logisch sprechen kann, sondern auch das, worüber man nur dichten oder eben schweigen kann, und dass man nicht über alles, was man nicht beschreiben kann, unbedingt schweigen muss.“ (L. Wittgenstein, in: Peter Faltin: Bedeutung ästhetischer Zeichen. Musik und Sprache. Aachen 1985, S. 149 ff.) Für Isabelle Frohne-Hagemann (Fenster zur Musiktherapie, Wiesbaden 2001) vermittelt Musik „sozusagen zwischen Himmel und Erde“, weshalb Musiktherapeuten ihre eigene Haltung zur Entwicklung von Bewusstsein und Spiritualität reflektieren sollten, damit Patienten wissen, auf was sie sich einlassen. Sie zitiert Helen Bonny mit der Definition von Spiritualität als innere und äußere Suche nach dem Sinn des Lebens, nach Antworten über Leben und Tod, nach tieferem Wissen über sich selbst, aus dem Hingabe und die Akzeptanz der anderen folgt und die Erfurcht vor der Heiligkeit des Lebens“ (Bonny, 2001, 60 (übers. H.K.) in FrohneHagemann 2001, 271).“ Für Carolyn Kenny „Wird spirituelle Weisheit als „embodied spirituality“ erfahrbar (ebd. 272). Heilung bedeutet für Isabelle Frohne-Hagemann auch, „tief in die Abgründe hineinzuschauen und sie nicht zu verdrängen, sondern sie zuzulassen und auszudrücken. Das ist für den/die Klienten/in oft schambesetzt, schmerzvoll und unerträglich und verlangt vom Therapeuten bzw. der Therapeutin Kraft, Zuversicht und Liebe bei der Begleitung. Und wenn dies dazu beiträgt, dass das sich öffnende Bewusstsein für die tieferen und höheren Dimensionen unseres Seins auch die Dimension der Spiritualität einbezieht, dann soll das Irdische und Sinnliche nicht ausgeklammert werden, sondern willkommen geheißen“ (289 f.). Musik und ästhetisches überhaupt konfrontiert uns mit „dem Gefühl für das Unbegreifliche des Seins.“ Sie führt uns in Situationen, wo „der Horizont des Erwartbaren durchbrochen wird“ und wo „sich das Gefühls- und Begriffsvermögen mit dem netzlosen Hier und Jetzt konfrontieren“ muss. „Für MusiktherapeutInnen bedeutet dieser Aspekt von Ästhetik, dass 66
sich ein traumatisierter Mensch nach dem ersten Schock nicht vom Fühlen abspaltet, sondern dem Leibe die Möglichkeit gibt, dem Trauma einen musikalischen, d.h. in der Zeit eingebetteten Ausdruck zu ermöglichen, welcher das Leid, die Angst und die Trauer so bindet, dass die Erlebnisse intersubjektiv geteilt werden und dadurch verarbeitet werden können“ (ebd. 293). Der Aufbau von Hoffnung ist Grundvoraussetzung jeder Therapie. In der Musiktherapie kann Hoffnung entstehen, indem konsequent und verlässlich die Auffassung gilt, dass es keine richtigen und falschen Antworten auf musikalisches Geschehen gibt und dass die Improvisation als ein Spiel in sicherem und geschütztem Rahmen erlebt wird (June Boyce Tilman: Constructing Musical Healing. The wounds that Sing, London 2000, 219). Einmal fragte mich eine Patientin: „Glauben Sie an mich?“ Und, als ich mit der Antwort zögerte, fuhr sie fort zu fragen: „glauben Sie, dass ich gesund werde?“ Schwierig, ehrlich zu antworten, wenn man den schulmedizinisch – psychiatrischen Befund kennt und die Auffassung der psychiatrischen Fachleute, der zufolge Schizophrenie nicht heilbar ist. Ich konnte ehrlich sagen, dass ich in ihrem musikalischen Spiel so viele „gesunde Anteile“ erkenne, die mich an sie glauben lassen, die mir den Mut geben, mich auf ihre Selbstheilungskräfte zu verlassen. Das war noch aus der Rolle des Musiktherapeuten gesprochen. In der Tat habe ich in ihren musikalischen Aktionen, auch in ihrer Fähigkeit, ihre Träume zu bearbeiten, Bilder zu gestalten und ähnlichem, immer wieder Ansatzpunkte gefunden, destruktive und neurotische Handlungs- und Denkmuster zu überwinden. Aber würde dieses Potential ausreichen, die hoffnungslose medizinische Prognose zu annullieren? In meinem Inneren spürte ich, dass es um noch etwas anderes ging. Glaube und Hoffnung waren gefragt und die Zuversicht, dass auch Unerwartetes geschehen kann. Von diesem Tag an habe ich begonnen, für diese Patientin zu beten. Heute, nach einem Prozess von etwa vier Jahren, sind die psychotischen Symptome verschwunden, und die Ärzte haben ihre Diagnose korrigiert. Ich will damit nicht behaupten, die Patientin sei durch das Gebet geheilt worden. Ich weiß es im Letzten nicht, was die Heilung in diesem Symptombereich bewirkte. Ich könnte auf eine empirische Studie mit 191 Testpersonen und einer Kontrollgruppe mit 201 Personen aus den USA verweisen, die belegt, dass es bei den Patienten, für die gebetet wurde, signifikant weniger Komplikationen, Bedarf an Antibiotika und Todesfälle gab (Randy Byrd, Medical Tribune, Jan. 1986) Eine andere Untersuchung von Platon J. Collipp kommt ebenfalls zu positiven Ergebnissen (Medical Times; alles nachzulesen in der Zeitschrift „esotera essenz, S. 48-51). Für das therapeutische Selbstverständnis scheint mir wichtig zu sein, dass solche Dinge nicht instrumentalisiert werden können, aber dass man in seinem Gegenübertragungserleben an einem bestimmten Punkt der Therapie die „Energie der Hoffnung“ benötigt, um die therapeutische Beziehung fortsetzen zu können, und das war für mich in diesem Falle nur auf dem Wege der seelsorgerlichen Auseinandersetzung mit der Patientin, mit mir und mit Gott (sprich: im Gebet) möglich. Zynismus und Resignation, denen wir bei Therapeuten allzu oft begegnen, haben auch darin ihre Ursache, dass den Helfern die spirituelle Sinngebung für ihr Handeln fehlt.
„Gegenüber der meinenden Sprache ist Musik eine von ganz anderem Typus. In ihm liegt ihr theologischer Aspekt. Was sie sagt, ist als Erscheinendes bestimmt und zugleich verborgen. Ihre Idee ist die Gestalt des göttlichen Namens. Sie ist entmythologisiertes Gebet, befreit von der Magie des Einwirkens; der wie immer auch vergebliche menschliche Versuch, den Namen selbst zu nennen, nicht Bedeutungen mitzuteilen“ (Theodor W. Adorno, Fragment über Musik und Sprache, ges. Schr. Band 16, S. 252). Sabine Bach hebt hervor, dass es in künstlerischen Therapien zu echten Begegnungen im zwischenmenschlichen Bereich kommt, deren Qualität sich dadurch auszeichnet, „dass die beteiligten Menschen unter Verzicht auf ein Machtgefälle ganz bewusst und offen für Unbestimmtes, Unvorhersehbares in der Begegnung eintreten“ (Musik in der Ausdruckstherapie, in Decker-Voigt, Schulen der Musiktherapie, München 2001, 299). Unvorhersehbares ist die wörtliche Übersetzung von Improvisation; wenn in der therapeutischen Beziehung Offenheit für Unvorhersehbares besteht, kann sich etwas für alle Beteiligten Überraschendes, Neues ereignen. Es fassendes, aber eben auch nicht zu leugnendes Phänomen“ (ebd.). 67
Im Zusammenhang mit therapeutischen Prozessen stellt sich immer auch die Frage nach dem Glauben. Jesus wies viele der Patienten, die er heilte darauf hin, dass ihm „sein Glaube“ geholfen habe. Der SPIEGEL berichtete in seiner Ausgabe 45/1994 zusammenfassend über Ergebnisse der Placebo - Forschung. Vielfach wird die Wirksamkeit des Glaubens des Patienten an die Wirksamkeit eines Medikaments bestätigt, auch wenn das Medikament objektiv nicht wirksam ist. Auch wird über die Wirksamkeit des Glaubens des Therapeuten berichtet, wenn z.B. der Arzt ohne es zu wissen ein Placebo verabreicht, das dem Patienten hilft. „Stewart Wolf von der Oklahoma University berichtet über einen Patienten, dessen Asthma auf erprobte Medikamente nicht anspricht. Als der Arzt von einer Pharmafirma Proben eines neuen, vielversprechenden Mittels bekommt, probiert er es gleich bei dem Asthmatiker aus. Die Symptome verschwinden umgehend, kommen aber, als Wolf das Medikament stoppt, sofort zurück. Er versucht es mit Placebo, doch die Krankheitszeichen bleiben. Etliche Male wiederholt er den Wechsel vom Wirkstoff zum Placebo und zurück, jedesmal hilft nur das Mittel. Nunmehr sicher, ein wirksames Pharmakon für den Asthmatiker gefunden zu haben, bittet der Arzt die Herstellerfirma um Nachschub. Zu seinem Erstaunen erfährt er, das Unternehmen habe ihm vorher wegen fälschlich gemeldeter Bedenklichkeiten gar keine Arznei, sondern nur Placebos geschickt.
Die Wirkung von Placebos untermauert eine im Journal of Psychiatry (Nr. 159, 2002, S. 122-129) veröffentlichte Studie der Universität von Kalifornien. Sie enthält den Nachweis, dass Placebos den Stoffwechsel im Gehirn beeinflussen. „Bei depressiven Patienten, die positiv auf die Scheinmedikamente reagierten, war ein bestimmtes Areal der Großhirnrinde – der präfrontale Kortex – besser durchblutet als vor der Studie. Keine veränderte Hirnaktivität fanden die Ärzte bei Patienten, bei denen weder das Placebo noch der echte Wirkstoff erfolgreich war. Vermutlich beruhen 50 bis 75 Prozent der Wirkung von Antidepressiva auf dem Placebo - Effekt“ (Bild der Wissenschaft 4, 2002, S. 33), das bedeutet also, auf der psychischen Aktivität des Patienten, davon überzeugt zu sein, dass die Zuwendung des Arztes, und geschehe sie auch nur auf dem Wege der Medikation, ihm helfen werde. Für Herzkranke zu beten hat eine nachweisbar heilende Wirkung - das behaupten zumindest amerikanische Mediziner. Ihre Studie lege außerdem nahe, dass streng wissenschaftliche Untersuchungen über den Nutzen ungewöhnlicher Behandlungen wie etwa das Beten möglich seien, schreiben sie in der angesehenen Fachzeitschrift "American Heart Journal". Die Forscher um Mitch Krucoff vom medizinischen Zentrum der Duke Universität beobachteten 150 Patienten mit akuten Herzproblemen, die alle für eine Herzoperation vorgesehen waren. Alle Patienten erhielten eine Standardtherapie. Einige Patienten bekamen zusätzlich unkonventionelle Behandlungen, wie aktiven Stressabbau, "heilende Berührungen" oder fürsprechende Gebete. Gebetet haben bei den Versuchen Buddhisten, Katholiken, Juden und Vertreter anderer Religionen. Ob für einen Patienten gebetet wurde oder nicht, wussten dabei weder die Ärzte noch die Patienten. Nach dem Abschluss des Versuches zeigte ein Vergleich: Die besten Heilerfolge hatten Patienten, für die gebetet wurde. Sie starben nicht so oft und litten seltener unter Herzversagen oder Herzattacken als die anderen Patienten. "Geistige Unterstützung wie Stressabbau oder heilende Berührungen helfen den Leuten, sich zu entspannen", vermuten die Forscher. "Das unterstützt die Genesung." Warum die Gebete den stärksten Effekt zu haben scheinen, können sie jedoch nicht erklären. In weiteren Studien wollen die Mediziner das Phänomen genauer erforschen. "Wir wissen, dass sich Patienten sehr für diese Art der Behandlung interessieren – vor allem für den Einfluss von Spiritualität und Gebet auf die Gesundheit", sagt Krucoff (Bild der Wissenschaft 11, 2001). 68
Peter Bubmann konstatiert, dass „nahezu alle Theorien zur Verbindung von Musiktherapie und Religion den therapeutischen Wert der Musik schöpfungstheoretisch bzw. kosmologisch begründen: Die Musik könne die Ordnung des Kosmos und dessen Harmonie widerspiegeln, sie spreche die universale Schöpfungssprache und ermögliche die Erfahrung der Urtöne des Lebens. Dabei transzendiere sie die Möglichkeiten des rationalen Verstandes und führe in tiefere (z.B. archetypische) Bewusstseinsschichten (Heilender Klang II, Der Kirchenmusiker 1993, 130). In diesem Zusammenhang führt er insbesondere Joachim-Ernst Berendt, Peter Michael Hamel, John Beaulieu, Steven Halpern, Marianne Kawohl, Ingo Steinbach, John Diamond und andere an (vgl. Heilender Klang I, Der Kirchenmusiker 1993, 91). Von diesen kosmologischen Theorien abgesetzt entwickelt er eine christlich-theologische Begründung des therapeutischen Musikeinsatzes. Dabei wird die transpersonale Qualität der Musiktherapie nicht mit einer spekulativen Kosmologie erfolgen begründet sondern „von dem durch das Evangelium ergriffenen geschichtlichen Menschen und damit letztlich von Jesus Christus her“ (130 f.). Der Mensch sei „als ‚der erste Freigelassene der Schöpfung’ (J.G. Herder) ... auch in seiner musikalischen Tätigkeit befreit von der Knechtschaft kosmischer Gesetzmäßigkeiten. Als Christ und Christin jedoch ist sie und er gleichzeitig ‚Knecht’ Christi und damit allen und allem in Liebe und Verantwortung ‚untertan’. Christ/innen/en sind befreit zum therapeutischen Dienst am anderen Menschen. Dazu können sie sich durchaus solcher Musik bedienen, die sich durch ihre Nähe zu kosmischen oder psychisch-archetypischen Strukturen als heilsam-ordnend für den Menschen erwiesen hat. Kein kosmo-religiöser ideologischer Überbau, sondern allein geschichtliche Erfahrungswerte sowie Ergebnisse der musikwissenschaftlichen Wirkungsforschung bestimmen die Wahl der für Heilungsprozesse geeigneten Musik und Techniken. Weder Rockmusik noch Zwölftonkompositionen sind daher prinzipiell auszuschließen“ (ebd.). Die christlich begründete Anwendung von Musik ergebe sich aus der Tatsache, dass der Mensch sowohl Teil der Schöpfung als auch „in die Freiheit gesetzt und mit der verantwortlichen Kultivierung des Erdkreises beauftragt“ ist. „Der Mensch ist befreit von vollständiger Instinktsteuerung und damit von vielen Zwängen der Natur. Wie bereits die Vögel ein über die rein signalhafte Verständigung hinausgehendes zweckfreies Singen kennen, so kann der Mensch mit Tönen, Klängen und Rhythmen im freien Spiel zielund zweckfrei umgehen. Die Freiheit der Totalbestimmung durch Naturgesetze findet im musikalischen Spiel, in freier Improvisation wie in der Ästhetik der autonomen Kunstmusik (des l’art pour l’art) einen charakteristischen Ausdruck. Die aus der Funktionalisierung unserer Welt herausgelöste freie Musik wird damit auch zum Symbol für die voraussetzungslose Annahme der Menschen durch Gott“ (ebd.). Die Freiheit der Christen, so Bubmann weiter, sei allerdings „keine selbstgenügsame oder gar egoistische Freiheit.“ In ihrem Kontext ist „Musik für und mit anderen“ ... „diakonische und therapeutische Musik.“ Bei der diakonische Musik gehe es „um den Protest gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Sexismus, Rassismus etc.“ Therapeutische Musik ziele auf die „Heilung von Schädigung aller Art, auf Stabilisierung der Identität, auf eine ganzheitliche Lebensweise und auf mehr Lebensfreude“ (ebd.)
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Hörerfahrungen in Grenzbereichen
Überblick: 1. Hören vor der Geburt 2. Erfahrungen im „Pränatalraum“ und zum „Snoozelen“ 3. Zum Hören von Gehörlosen und Ertaubten 4. Musiktherapie bei Patienten in komatösen Zuständen
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5.1
Hören vor der Geburt
Anmerkungen zum Thema: „Ich höre - also bin ich“ (Berendt) - Ausführungen über die Ursprünge des Hörens. Intrauterines Hören, das Hören vor der Geburt. Über erste intrauterine Hör- und Kommunikationserfahrungen berichtet u.a. Bernd Vogel im Kapitel „Pränatale Psychologie“ (S. 57 ff.) seines Buches „Lebensraum: Musik“ (Stuttgart 1991). Er berichtet, dass der Embryo in den ersten Tagen seines Lebens mit dem Stoffwechsel der Mutter verbunden ist und so „permanent Anteil an ihrer Gefühlswelt“ hat. Die Mutter informiert das Kind unbewusst mittels der Variationen ihres „Hormonspiels“ „über die reale Lage in der Welt um sie herum“. Man hat nachgewiesen, dass der Embryo in dieser frühen Entwicklung bereits Reaktionen zeigt, indem z.B. „sein Herz schneller schlägt, während er sich sonst ganz still verhält(58).“ Der französische Hals-Nasen-Ohren-Arzt Alfred A. Tomatis stellt in seinem Buch „Der Klang des Lebens. Vorgeburtliche Kommunikation - die Anfänge der seelischen Entwicklung“ (Reinbek 1987), heraus, dass entgegen der bisherigen Ansicht, zuerst würden vom Fötus die tiefen Klänge gehört, erste Hörerfahrungen eher im Bereich um 4000 Herz anzunehmen sind. Tonfall und emotionale Prägung im Obertonbereich der mütterlichen Stimme werden über das Knochengerüst in die Flüssigkeit des Uterus als subtile Information eingegeben; dort sei es die Corti-Zelle, jene erste spezialisierte Zelle des Embryos, die imstande ist, mechanische, chemische und molekular/atomare Prozesse mit Hilfe feinster Zilien in der sie umgebenden Umwelt zu registrieren und als Information aufzunehmen, in einem „zellulären Gedächtnis“ zu speichern und in neuronale Energie umzuwandeln, mit Hilfe derer sich alle weiteren sensorischen und neurologischen Prozesse beim Wachstum des Embryos entfalten. Dieser Urklang wird von Tomatis als „Klang des Lebens“ bezeichnet; in fernöstlichen Meditationstraditionen wird die Aufmerksamkeit gezielt auf diese Urerfahrung gerichtet; siehe dazu auch die entsprechende Schilderung von Joachim-Ernst Berendt in „Nada Brahma. Die Welt ist Klang“ (Reinbek 1983, S. 28 - 36). Dieses Urhören wird als harmonikales Ereignis angenommen, da die atomaren bzw. molekularen Schwingungsprozesse harmonikale Struktur haben. Harmonikal bedeutet Schwingungen im Verhältnis kleiner ganzer Zahlen. Harmonikal strukturiert sind aber auch die Vokale der Sprache sowie die Töne der Musik. Hören bedeutet insofern auch: Aufnehmen von Energie, mit deren Hilfe die Hirntätigkeit aktiviert wird. „In der Schnecke befinden sich im Bereich der Wahrnehmung hoher Frequenzen vielmehr Sinneszellen als im Bereich der tiefen. Hohe Frequenzen setzen sich somit in eine unverhältnismäßig größere Zahl von Impulsen um, die eine wahre Aufladung, eine Belebung der kortikalen Tätigkeit bewirken; d.h. Bewusstseinsprozesse wie Denken, Engrammierung (Gedächtnis), Vitalität, Emotionen, Kreativität.“ (Gela Brüggebors, Einführung in die Holistische Sensorische Integration (HSI), Dortmund 1992, S. 92). „Die Wahrnehmung der Mutterstimme in Verbindung mit rhythmischen Erfahrungen, die über die Fortbewegung der Mutter erworben werden, haben hohen Anteil an der Bildung des neuronalen Netzes und hinterlassen Spuren, auf denen neue erfahrungen aufgebaut werden können“ (Peter Brünger: Singen im Kindergarten, Augsburg 2003, 29). Näheres hierzu in: R. Parncutt: Pränatale Erfahrung und die Ursprünge von Musik, in: L. Janus und S. Haibach (Hrsg.): Seelisches Erleben vor und während der Geburt, Neu-Isenburg 1997, 225-240). s. auch Folie „Das Klangspektrum der Mutterstimme“ 71
„Pulsschläge während der Schwangerschaft“ „Mutterleib musikalisches Milieu“ In der sechsten Woche sind äußeres, Mittel- und Innenohr angelegt. In der siebten Woche bilden sich die Synapsen, welche Informationen von Zelle zu Zelle weiterleiten (Vogel, 58), zwischen 6. und 8. Woche nimmt das Hautsinnesorgan „als erstes Wahrnehmungssystem“. In der zehnten Woche ist der Fetus etwa vier Zentimeter groß. Sein Vestibularsystem („Labyrinth“) „ist dann so weit differenziert, dass es u.a. Reflexe, fetale Bewegungsabläufe und Muskeltonus steuert“ (59). In der 18. Woche ist das Corti-Organ reaktionsfähig; damit sind die anatomischen Voraussetzungen für das Hören vollständig gegeben. Ab der 24. Woche hat sich der Hörnerv so weit ausgebildet, dass das Gehör funktionstüchtig ist. s. auch Folie „Pränatale Entwicklung des Gehörs“ Mehr als 25 Millionen Mal ereignet sich während der Schwangerschaft der Pulsschlag der Mutter. Dieser Rhythmus hat prägende Bedeutung, die man darin erkennen mag, dass auf der ganzen Welt die ersten Kinderworte eine zweisilbige Rhythmik besitzen: Mama, Papa. Ein Puls von ca. 72/min hat auf Säuglinge beruhigende Wirkung (Die Untersuchung von Lee SALK, 1960: „Einer Gruppe von Neugeborenen wird ein gleichmäßiger Herzschlag von 72/min vorgespielt. Die meisten Säuglinge schlafen ein bzw. werden sehr ruhig. Wird das Tonband abgeschaltet, wachen die meisten Säuglinge auf und fangen an zu weinen. Läuft das Tonband wieder weiter, , beruhigen sie sich spontan. Den Kontrollgruppen wird bei gleicher Lautstärke ein Herzschlag mit 128/min und ein Galopprhythmus vorgespielt. Die Reaktionen sind sehr eindeutig: die meisten Säuglinge beginnen zu schreien, die bereits schlafen, wachen auf“, Vogel a.a.O. 61). Bei einem anderen Versuch wurde 102 Säuglingen von Geburt an bis zum vierten Tag rund um die Uhr der 72/min Herzschlag vorgespielt. Bei diesen Kindern schien ein oder mehrere Kinder während 38,4 % der Zeit, in der Kontrollgruppe während 59,8 %. Außerdem zeigten die „Herzschlag-Kinder“ deutlich stärkere Gewichtszunahme. Rechtshändige Mütter nehmen zu 83%, linkshändige zu 78% ihre neugeborenen Kinder an die linke Brust bzw. auf die linke Schulter (SALK 1973, in Vogel). MUROOKA fand heraus, dass die Beschallung mit dem gesamten intrauterinen Klanggeschehen stärkere beruhigende Wirkung besitzt, als nur der bloße Herzschlag. Sänger berichten, dass Ungeborene während des Singens ruhiger sind. Instrumentalisten beobachten größere Aktivität des Fetus während bzw. kurz nach dem Spielen – insbesondre während der letzten drei Schwangerschaftsmonate (BUNT 1994, 76). Feten reagieren mit scharfen, kantigen und aufgeregten Bewegungen bei stimulierender und mit fließenden, sanften Bewegungen bei ruhiger Musik. Tempowahrnehmung scheint ein sehr früh angelegtes Vermögen und eine angeborene Musikkompetenz zu sein (BUNT, ebd.). Kinder prägen sich Geräusche und Klänge ein, die sie während der Schwangerschaft aufgenommen haben, und gewöhnen sich an sie. ANDO und HATTORI (1970) stellten fest, dass 13 % der Säuglinge von Müttern, die während der ersten fünf Monate ihrer Schwangerschaft in unmittelbarer Nähe eines Flugplatzes wohnten, bei Fluglärm aufwachen, während 85 % der Säuglinge von Müttern aufwachen, die erst während der letzten vier Schwangerschaftswochen in das gleiche Wohngebiet gezogen sind (Vogel ebd.). Eine auf sieben Jahre angelegte Untersuchung von Donald SCHELTER hat ergeben, dass Kinder, die einer großen vorgeburtlichen musikalischen Stimulation ausgesetzt waren, höher organisiertes und artikuliertes Sprachvermögen besitzen (BUNT ebd.). 72
Martin DORNES berichtet in seinem Buch „Der kompetente Säugling“ (Frankfurt am Min 1994 (41 f.): Hohe Töne sind beruhigender als tiefe, leise beruhigender als laute Bereits intrauterin werden akustische Zeichen mit bemerkenswerter Genauigkeit wahrgenommen, und unmittelbar nach der Geburt besteht eine ausgeprägte Präferenz für die mütterliche Stimme: Eine Geschichte, die intrauterin gehört wurde, wird einer neuen vorgezogen, insbesondere, wenn sie mit der mütterlichen Stimme vorgetragen wird. Weniger als 24 Stunden alte Babys orientieren sich bereits zur Mutterstimme hin (BUNT, ebd.). Schon Neugeborene bemerken den Unterschied zwischen synthetisch erzeugten Geräuschen und der menschlichen Stimme. Sie erzeugen mehr Geschrei bei echtem Säuglingslärm als bei synthetischem. Säuglinge erkennen ihre Mutter am Geruch und bevorzugen den Geruch der Mutter. s. auch Folie „Das Klangspektrum der Mutterstimme“ Hans Helmut Decker-Voigt fasst in seinem Buch „Mit Musik ins Leben“ (Kreuzlingen 1999) viele Erkenntnisse über das pränatale Hören zusammen. Er empfiehlt, in der Schwangerschaft zu singen, zu tönen und Musik zu genießen. Monika Nöcker-Ribaupierre berichtet in der Musiktherapeutischen Umschau (Heft 4, 1992, S. 239-248) und in ihrem Buch „Auditive Stimulation nach Frühgeburt“ (Stuttgart 1995) über die pränatale Wahrnehmung akustischer Phänomene. Sie setzt gezielt Tonbandaufnahmen mit der Mutterstimme bei Frühgeborenen ein. Dabei bezieht sie sich u.a. auf die Entdeckung, dass pränatal gehörte Texte wieder erkannt werden können. „Studien haben ergeben, dass die intrauterinen Erfahrungen den Fötus noch vor der Geburt in die Lage versetzen, männliche und weibliche Stimmen zu unterscheiden. Schon wenige Tage nach der Geburt kann der Säugling die Klangstruktur der Mutterstimme wiedererkennen. Darüber hinaus zeigen Neugeborene schon zwei Tage nach der Geburt eine Präferenz für die Muttersprache, die sie aufgrund ihrer prosodischen Struktur als solche wahrnehmen“ (Brünger a.a.O.). Siehe dazu ebenfalls: H. Papousek: „Anfang und Bedeutung der menschlichen Musikalität“, in: H. Keller: Handbuch der Kleinkindforschung, Bern 1997. In dem von Monika Nöcker-Ribaupierre herausgegebenen Buch „Hören – Brücke ins Leben. Musiktherapie mit früh- und neugeborenen Kindern. Forschung und klinische Praxis“ (Göttingen 2003) sind Beiträge zur Entwicklung des intrauterinen und postnatalen Hörens, der präund postnatalen Mutter-Kind-Interaktion, der Traumatisierung durch Frühgeburt und zur musiktherapeutischen Arbeit im Kontext der Neugeborenen-Intensivmedizin enthalten. Was hört der Fetus tatsächlich? Die fetale Geräuschwelt besteht aus einer Vielzahl im Körper erzeugter Geräusche und aus Lauten, die aus der Umgebung der Mutter stammen. Sie werden durch das flüssige Medium in der Gebärmutter modifiziert. Während das erwachsene Hörvermögen im Bereich von 20-20.000 Hz liegt und seine größte Empfindlichkeit im Bereich von 300-3000 Hz aufweist, hört der Fetus in einem wesentlich eingeschränkteren Bereich. Der Überblick über Forschungen zum pränatalen Hören ergibt, dass Feten über Knochenleitung und aus der akustischen Außenwelt unterschiedlich hören und auf akustische Signale reagieren. Dabei scheinen tiefe Signale eher das Hörvermögen zu erreichen als hohe. Lärm scheint die Entwicklung des Hörvermögens bereits im Uterus zu beeinträchtigen. Auf einer Intensivstation für Frühgeborene müssen schädliche Wirkungen durch 73
das akustische Milieu besonders beachtet werden (vgl. Gerhardt, Kenneth J., Abrams, Robert: Das fetale Hören: Implikationen für das Neugeborene Suzanne Maiello stellt fest, dass die ausgeprägten rhythmischen und klanglichen Hörerfahrungen des Fetus, insbesondere auch im Bezug auf die Mutterstimme psychoanalytische Entwicklungsspuren bis in die vorgeburtliche Zeit hinein zu verfolgen erlauben. Bei zu früh geborenen Säuglingen ist diese Entwicklung unterbrochen und muss durch geeignete auditive Stimulation gefördert werden (vgl. „Die Bedeutung pränataler auditiver Wahrnehmung und Erinnerung für die psychische Entwicklung – eine psychoanalytische Perspektive. Das doppelte Trauma des frühgeborenen Kindes“, in: M: Nöcker-Ribaupierre, Monika 2003, a.a.O. 85-108). Forscher um Rochelle Newman von der Universität von Maryland haben herausgefunden, dass zu viel Krach und laute Hintergrundgeräusche Kleinkindern das Erlernen von Sprache schwer machen (Development Psychology 41/2, 2005). Kinder lernen Sprache vor allem durch Zuhören. Ist zu viel Krach im Raum, bemerken die Kinder nicht, dass mit ihnen geredet wird. Bei geringem Hintergrundgeräusch konnten 5 Monate alte Kinder noch gut ihren Namen heraushören: sie wandten den Blick Richtung Stimme. Bei höherem Geräuschpegel ging das schon nicht mehr (vgl. MU 2005, 333 f).
74
5.2
Erfahrungen mit dem „Pränatalraum“
Zugrunde liegt die Idee des argentinischen Musiktherapeuten Rolando O. Benonzon, der ausgehend von den frühsten intrauterinen Klangerfahrungen Musik und Tanz versteht als „unbewusste Versuche des Menschen, ähnliche sensorische Erfahrungen wieder zu machen, wie er sie aus seiner pränatalen Existenz kennt“ (Einführung in die Musiktherapie, München 1983, S. 26). „Die Musik ist wie die Erinnerung an die Mutter und ein Wiederaufnehmen der Beziehung zu ihr und zur Natur“ (25). Frank Rotter bezeichnet Musik als „Mutterersatz“ (Musik und Kommunikation 10, 1985, 25). Benonzon hat Kinder während des Spielen oder Malens mit Uterusgeräuschen beschallt und die therapeutische Wirkung beschrieben. Die Weiterentwicklung und konsequente Umsetzung dieses Ansatzes finden wir in der Pränatalraum – Therapie von Berndt Vogel ,beschrieben im Aufsatz „Der Pränatalraum. Ein Therapieansatz für schwerst und mehrfach Behinderte, Musiktherapeutische Umschau 1987, S. 204 - 224) und außerdem im Buch: Lebensraum: Musik, Stuttgart 1991. Die Anschrift von Berndt Vogel: Feldbusch 2, 74934 Reichartshausen.
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5.3
Die Hörerfahrung von Gehörlosen und Ertaubten
Auch Gela Brüggebors (Einführung in die Holistische Sensorische Integration (HSI), Dortmund 1992, S. 92 f.) unterstellt Apathie und Depressivität bei Gehörlosen mit zunehmender Schwerhörigkeit. Sie begründet dies folgendermaßen: "In der Schnecke befinden sich im Bereich der Wahrnehmung hoher Frequenzen vielmehr Sinneszellen als im Bereich der tiefen. Hohe Frequenzen setzen sich somit in eine unverhältnismäßig größere Zahl von Impulsen um, die eine wahre Aufladung, eine Belebung der kortikalen Tätigkeit bewirken, d.h. Bewusstseinsprozesse wie Denken, Engrammierung (Gedächtnis), Vitalität, Emotionen, Kreativität." Bei Gehörlosen würde diese energetische Aufladung des Gehirns nachlassen bzw. fortfallen. Jedoch schränkt sie diese Auffassung zugleich wieder ein, indem sie fortführt: „Direkt neben der Cochlea (Schnecke) sitzt der Vestibularis-Apparat, das Gleichgewichtsorgan. Labyrinth und Schnecke vereinen sich zu einem Nerven (vestibulo cochlearis) und bilden sozusagen eine Funktionseinheit. Die Cochlea ist nach Schätzung von Tomatis mit ca. 30 % und das Labyrinth mit ca. 60 % an der energetischen Hirnaufladung (= 90 % aller Prozesse) beteiligt.“ Auf die Bedeutung des Vibrationssinns bei Gehörlosen weist Antonius van Uden hin. (Das gehörlose Kind, Heidelberg 1980) Der Frequenzumfang, der über den Vibrationssinn aufgenommen wird, liegt bis zu 500 Hz. Der Frequenzbereich der Lautsprache beginnt erst bei der Obergrenze dieser Körperrezeption mit den Vokalen. Die Konsonanten sind in einem höheren Frequenzbereich zu finden. Demnach ergibt sich, dass tiefe Töne, von 16 bis 380 Hz ausgehend als Vibrationen von Becken an aufwärts beginnend bis in den Kopf im Körper zu spüren sind. Im Kopfbereich sind die hohen Frequenzen zu spüren. (S. 45) Gehörlose beschreiben z.B. die Vibration des Tamtams (Gongs) „als Prickeln auf und unter der Haut...mehr rechts als links...man fühlt sich "von innen her massiert“ und berichtet über eine „angenehme Wärme im Rumpfbereich“; die Wirkung der großen Baßtrommeln wird als "Vibrieren der Knochen des Skeletts" beschrieben. „Die Muskulatur scheint sich in der Folge um die Knochen zu lockern. Als satter tiefer Ton wird die Baßtrommel eher im Beckenbereich gespürt.“ (Gerd Treschhaus, Musiktherapie mit Gehörlosen, Diplomarbeit Siegen 1993) Bei der Frage, inwiefern „Gehörlose“ fähig sind, Musik zu erleben ist auch zu berücksichtigen, dass die Hörtests sich im allgemeinen auf die Fähigkeit beziehen, Sprache zu vernehmen. Der Klangschwerpunkt der Sprache liegt allerdings nur im Bereich von etwa 80 bis 380 Hz, also einem relativ kleinen Ausschnitt des gesamten Hörbereichs, der von 16 bis 20.000 Hz. liegt. Mit Hilfe von Hörresten können manche als gehörlos diagnostizierte Menschen beträchtliche Teile der Musik (die ja über das gesamte Hörspektrum reicht) wahrnehmen. 16 Hz 80 Hz
800 Hz 380 Hz
1.600 Hz
20.000 Hz
menschlicher Hörbereich
Sprachklangschwerpunkt
Klangbereich der Musik 76
Das Frequenzspektrum der Musik gibt Prause mit ca. 16-4608 Hz, das der Sprache mit ca. 200-2000 Hz an (2001, 180) Jedenfalls erreicht die Musik Hörreste, die vom Sprachklang nicht erfasst werden. Deshalb können von Hörminderung betroffene Menschen über noch bestehende Hörreste von Musik eher erreicht werden als durch Sprache. Jutta Polzius (Afrodance in der Schule, Beispiele aus Tansania, in: Hörgeschädigten Pädagogik Heft 2, 1992, S. 110 - 116) beschreibt folgendes Beispiel aus der afrikanischen Musikpädagogik mit Gehörlosen: „Um den Vibrationssinn zu sensibilisieren, wird folgende Übung eingesetzt: Die Schüler stehen mit dem Rücken zum trommelnden Lehrer. Auf ein optisches Zeichen hin beginnen die Schüler zu tanzen. Nun dürfen sie nicht mehr zum Lehrer schauen. Dann stoppt der Lehrer seine Tätigkeit. Die Gehörlosen sollen das Fehlen der Trommelrhythmen wahrnehmen und aufhören zu tanzen. Trotz des Zementbodens in den Klassenräumen konnte eine Reihe von Schülern die Aufgabe erfüllen." (S. 113) Die Musikpädagogik mit Gehörlosen von Claus Bang wird im Heft 2, 1984 der Zeitschrift Hörgeschädigtenpädagogik sehr ausführlich beschrieben. Claus Bang kommt jährlich einmal nach Deutschland und hält Weiterbildungen in Musiktherapie und musikalische Sprachtherapie bei Hörgeschädigten und mehrfach behinderten Kindern in der Deutschen LandjugendAkademie in Fredeburg; Kontaktadresse: Internationale Gesellschaft für musikpädagogische Fortbildung IGMF e.V., Johannes Hummel Weg 1 57392 Schmallenberg (Telefon-Nr. 02974 9110), Email:
[email protected] Die Musiktherapeutische Umschau (2002, S.93) berichtet von Forschungsergebnissen, die an der University of Washington (Neuroscience Letters, 28.11.2001) veröffentlicht wurden. Danach können Gehörlose mit jenem Teil des Gehirns, der eigentlich Töne verarbeitet, Vibrationen wahrnehmen. Die Wissenschaftler hatten verglichen, wie zehn Gehörlose und elf hörende Testpersonen auf Vibrationen an den Händen reagierten. Hirnstrommessungen zeigten, dass bei allen Personen die für Vibration zuständige Hirnregion aktiviert wurde. Bei den Gehörlosen wurde aber zusätzlich auch die Hörrinde, der auditive Kortex, angesprochen. Die Region ist eigentlich auf die Verarbeitung von Tönen spezialisiert. Die Hörrinde ist aber offenbar nicht von Geburt an auf diese Aufgabe beschränkt. Die Versuche mit Gehörlosen zeigen, dass das Gehirn brach liegenden Bereichen neue Aufgaben zuweisen kann. Die Verarbeitung von Vibrationen ist nicht mit dem Hören identisch, eröffnet aber Gehörlosen zusätzlichen Sinnesreize. Die Betroffenen sollten deshalb schon im Kindesalter regelmäßig diese Fähigkeiten schulen, raten die Forscher. Manuela-Carmen Prause (Musik und Gehörlosigkeit. Therapeutische und pädagogische Aspekte der Verwendung von Musik bei gehörlosen Menschen unter Berücksichtigung des angloamerikanischen Forschungsgebiets, Köln Rheinkassel 2001) hebt Ansätze und Möglichkeiten hervor, jenseits der musikalischen Förderung zum Sprachtraining und Sprachentwicklung unter Ausnutzung von Vibrationssinn, Bewegung und Visualisierung die „Musik (auch) als Wert an sich, als Kulturgut zu vermitteln“, „welche vielfältige „Möglichkeiten der Teilhabe eröffnet, die es auszunutzen gilt“ (440). In ihrem Aufsatz: „Hörschädigungen im Alter und ihre Konsequenzen für das Musikerleben und die musiktherapeutische Arbeit“ (in: Tüpker, Rosemarie; Wickel, Hans Hermann (Hrsg.): Musik bis ins hohe Alter, Münster 2001, 177-197) schreibt Manuela-Carmen Prause: „Der besondere Vorteil der Musiktherapie in der Arbeit mit altersschwerhörigen Menschen besteht 77
darin, dass zum einen die nach der Hörminderung dringend erforderliche psychologische Betreuung erfolgen kann und zum anderen die sich in der rein verbalen Therapie ergebenden Kommunikationsprobleme aufgrund der im Vergleich zur Sprache besseren Zugänglichkeit von Musik ausgeschaltet werden können. Im Gegensatz zur verbalen Situation, bei der der altersschwerhörige Mensch stets unterlegen ist, findet er hier eine autonome, stressfreie Handlungsmöglichkeit, bei der er gleichwertig mit seinem Gegenüber (bzw. den Mitspielern) agieren und kommunizieren kann“ (191). Bei der Improvisation können „von der Hörminderung verursachte psychosoziale Konflikte“ aufgegriffen werden. Es kann „zum Entstehen eines Gemeinschaftsgefühles“ beigetragen „und damit einem weiteren Rückzug Altersschwerhöriger in die Isolation“ entgegengewirkt werden (ebd.). In Anlehnung an Fengler hebt sie hervor, dass es letztlich um die Versöhnung mit sich selbst gehe (vgl. Hörgeschädigte Menschen. Beratung, Therapie und Selbsthilfe, Stuttgart 1990), und in der Musiktherapie „ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass das Hören und die Hörschädigung ‚Prozesse der Aneignung und des Verlernens, des Unterscheidens, Verlierens und Wiederfindens’ sind“ (Fengler ebd.) und man sich nicht als „Opfer der Hörschädigung betrachtet“ sondern sich ihr gegenüber stellt, „’sie als Begleiter zu betrachten und mit ihr ins Gespräch zu kommen, wie die z.B. von manchen Personen mit Tinnitus berichtet wird’“ (Fengler ebd.). Zur Realisation der Musiktherapie mit Hörgeschädigten und Gehörlosen empfiehlt Prause, dass nur wenige und ausgewählte Instrumente zum Einsatz kommen sollten; besonders geeignet sind „einfache Rhythmus- und Melodieinstrumente wie Sopran-, Alt- und Bassxylophon, Metallophone, Gitarren und mittelgroße Trommeln“; auch ist bei der Instrumentenauswahl an die „vibratorische Ergänzungsinformation“ zu denken (193). „Frauenstimmen werden von Altersschwerhörigen häufig als ‚schrill’ empfunden (194). Bei der Musiktherapie mit altersschwerhörigen Menschen in Gruppen ist darauf zu achten, dass a) möglichst nur eine Person spricht und zu allen Blickkontakt hat, b) der altersscherhörige Mensch beim Sprechen angeschaut wird und c) nicht von hinten und von der Seite angesprochen wird, d) man ruhig und etwas langsamer als normal, nicht zu laut spricht, e) man das von anderen Gesagte wiederholt, f) dafür zu sorgen, dass der Betroffene alles Gesagte versteht (keine Zensur im Sinne von „egal, ist nicht so wichtig“), g) auf das Pfeifen von Hörgeräten einfühlsam hingewiesen wird damit die Einstellung korrigiert werden kann, h) Störgeräusche und Lärm weitestgehend ausgeschaltet wird (194 f.)
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5.4
Musiktherapie mit Koma - Patienten Musiktherapie mit komatösen Patienten Dissertation von Dagmar Gustorff (Universität Witten Herdecke), sowie das Buch, das sie zusammen mit Hans-Joachim Hannich herausgegeben hat: Jenseits des Wortes. Musiktherapie mit komatösen Patienten auf der Intensivstation, Göttingen 2000 außerdem ein Gutachten zur Wirksamkeit der Musiktherapie in der Zeitschrift „not“, 4/1996, herausgegeben vom „Schädel-Hirnpatienten in Not e.V.“, Bayreuther Straße 33 in 92224 Amberg wichtige Arbeiten auch von Silke Jochims unter anderem in der Musiktherapeutischen Umschau; Silke Jochims hat viele Musiktherapie - Stunden mit Patienten im sog Wach - Koma auf Video aufgenommen, die auf eine Auswertung warten. Die Aufnahmen belegen, dass mit Koma Patienten über die Musik Kommunikation hergestellt werden kann und sie die Musik nutzen können, um den Prozess der Trauerarbeit zu führen, insbesondere die Gefühle Schmerz und Wut ausleben können. Silke Jochims, Claudiusring 4i, 23566 Lübeck (Tel. und Fax: 0451/6110238) Man beachte auch die Arbeiten von Dümpelmann (Musiktherapie mit Patienten auf der Intensivstation) und Klettke-Drawert (Musiktherapie mit Menschen im Wachkoma) im FORUM MUSIKTHERAPIE UND SOZIALE ARBEIT.
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6
Schlaglichter auf die historische Entwicklung der musikalischen Heilkunst
Frühgeschichte
Felsmalerei ca. 24000 v. Chr. Heilungszeremonien bei „Naturvölkern“
Musiktherapie in der altjüdischen Tradition David und Saul; zwei musiktherapeutische Modelle einer Therapeut – Patient - Beziehung ca. 1000 v. Chr. Pythagoreer
mathematische Ordnung in Kosmos, Natur, Körper und Seele ca. 550 v. Chr. Plato Das harmonikale Prinzip in Wille, Charakter, Moral und Gesellschaft ca. 300 v. Chr. Aristoteles Das Element der Katharsis ca. 280 v. Chr. Stoiker Lehre vom Pneuma ca. 180 v. Chr. Korpus Hippocratium Elemente- und Säftelehre ca. 0 v. Chr. Boethius Mittelalter Renaissance
Aufklärung
Romantik
20. Jahrhundert
„musica mundana - musica humana musica instrumentalis“ ca. 500 n. Chr. Krankheit als göttliche Fügung Psalmodie und Krankenheilung pneumatische und Säfte - Lehre in Verbindung mit Intervall- und Tonartenlehre ca. 1500 n. Chr. „iatromechanisches Menschenbild“; Ablösung der musikalischen Kosmologie durch Affektenlehre ca. 1650 n. Chr. Gegenbewegungen gegen das iatromechanische Menschenbild; Vitalismus; Körper – Seele - Ganzheit statistische Empirie in Medizin, Psychologie und Musikwissenschaft. Revolution des Musikbegriffs; Neue Musik und Gruppenimprovisation als Ausgangspunkt für neue Konzepte der Musiktherapie
Geschichte und gegenwärtiger Entwicklungsstand der Musiktherapie Musik wurde während aller Epochen der Menschheitsentwicklung und in allen Kulturräumen umfassend genutzt, um zu heilen bzw. Krankheit und Not zu lindern. Ausführlich dokumentiert sind der Einsatz von Musik bei den Naturvölkern und in den Hochkulturen des Altertums.
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Bei den Naturvölkern ist die Behandlung von Krankheiten an die Anwesenheit der musizierenden und tanzenden Stammesangehörigen gebunden. Es besteht eine unauflösliche Einheit von Religion, Medizin, Musik, Tanz und Öffentlichkeit. Die Musik besteht aus der Wiederholung von immer gleichen übereinandergeschichteten Rhythmen (patterns), durch die sich die Menschen, oft noch mit zusätzlichem Gebrauch von psychotropen Substanzen in Trance oder Ekstase versetzen. („Alle rhythmischen Figuren in der afrikanischen Musik beziehen sich auf durch 2 oder 3 teilbare Perioden von z.B. 10, 12 oder 24 Grundschläge.“ Solche „Periodizität ist aber genau das Element, das bewusstseinsverändernde Wahrnehmung hervorruft.“ FLENDER 1993, 14). In allen Hochkulturen, seit dem 5. Jahrtausend v. Chr., z.B. bei den Chinesen, Babyloniern oder Ägyptern, gibt es „die Symbiose von Musik und Zahl. ... Die ewige Wiederkehr der Sternenkonstellation wird entdeckt“ und die Musik gilt als Wiederspiegelung der kosmischen Ordnung. Pythagoras war „das letzte Glied in der Kette“ von Vertretern der Einheit von Kosmologie und Musik. FLENDER sieht noch in unserem heutigen Tonsystem frappierende Verbindungen zur modernen westlichen Zeitrechnung: „Die zwölf Töne werden abgeleitet aus der Abfolge von 12 Quinten. Sind jedoch diese Quinten rein, d.h. genau im Verhältnis 2/3 gestimmt, erreichen wir nicht genau den Ausgangston. Eine Differenz, kleiner als ein Halbton, das sogenannte pythagoreische Komma, bleibt als Differenz. Ebenso müssen wir jedem Monat ein paar Tage hinzufügen, um auf 365 Tage zu kommen, die das Sonnenjahr dauert. Mondjahr (=Quintenzirkel) und Sonnenjahr (=Oktavzirkel) müssen aufeinander abgestimmt werden. Genau das tun wir im sogenannten temperierten Tonsystem“ (17). Berühmt und immer wieder angeführt werden die Behandlung des an einer schweren Depression erkrankten König Saul durch David im alten Israel (ca. 1000 v. Chr.) oder die von Pythagoras, Plato und Aristoteles angeregten musikalischen Praktiken zur Heilung und Prävention von körperlichen und seelischen Krankheitszuständen (vgl. LINKE 1977, KÜMMEL 1977, MÖLLER 1971, 1974, SPINTGE & DROH 1992, 2-12). Der Blick in die Musikgeschichte offenbart zwei unterschiedliche Ansätze bei der Verwendung von Musik im therapeutischen Kontext: Mal steht stärker die der Musik innewohnende Ordnung im Vordergrund (Musik gilt als Abbild der natürlichen Strukturen des Mikro- und Makrokosmos), die auf den körperlich oder seelisch “in Unordnung geratenen“ also erkrankten Menschen einwirkt; mal wird mehr die expressive Funktion der Musik hervorgehoben, die es dem Menschen erlaubt, sich von Emotionen und sprachlich nicht oder nur schwer fassbaren Erlebnisinhalten zu befreien und sie mit anderen zu teilen. FROHNE-HAGEMANN beschreibt die Entwicklung ästhetischer Positionen in der Geschichte, ausgehend von den alten Griechen, Pythagoras, Heraklit, Platon, Aristoteles, in Mittelalter, Renaissance, Barock, Romantik bis Kant, Nietzsche und Adorno und hebt dabei den metaphysischen Charakter der verschiedenen Auffassungen hervor, bei dem Leiblichkeit zugunsten von Bewusstseinsleistungen vernachlässigt, bzw. transzendiert wird. (2001, 275-288) Auch in der modernen Musiktherapie wird die Frage nach den Wirkfaktoren der Musiktherapie immer wieder aufgeworfen; wirkt die Musik oder wirkt die therapeutische Beziehung? Inzwischen werden Verfahren, bei denen ausschließlich die Beeinflussbarkeit des Organismus’ durch Klänge genutzt wird, wie etwa in der Anästhesie oder bei chirurgischen oder zahnmedi81
zinischen Behandlungen, als “Musik Medizin“ und nicht als Musiktherapie bezeichnet (vgl. DECKER-VOIGT & ESCHER 1994, HARRER 1982, SPINTGE & DROH 1987, 1992, STERN 1987). Der Beginn der neuzeitlichen Musiktherapie - Entwicklung kann auf den Anfang des 20. Jahrhunderts datiert werden. In Londoner Krankenhäusern spielten Gruppen von Sängerinnen und Instrumentalisten den Patienten beruhigende Musik vor (vgl. BUNT 1998, S.13). Wie in solchen frühen angloamerikanischen Projekten entwickelten auch in Deutschland Therapeuten Konzepte für solchen eher unspezifischen Einsatz der Musik (vgl. KOHLER 1971, SCHWABE 1969). Im angloamerikanischen Bereich beeinflusste der hohe Anteil an Veteranen des 2. Weltkriegs in den Krankenhäusern die Entwicklung der Musiktherapie nachhaltig. Musiker und Musiklehrer wurden als reguläre Teammitglieder in Krankenhäusern eingestellt. Gleichzeitig wurde es erforderlich, musiktherapeutische Behandlungen indikationsspezifisch zu systematisieren und Musiker oder Mediziner für die spezielle musiktherapeutische Arbeit auszubilden. So entstanden die ersten Schulungskurse für Musiker, die ihre Fähigkeiten im therapeutischen Gebrauch von Musik weiterbilden wollten, 1944 in den USA, 1958 in Großbritannien (vgl. BUNT 1998), in den Siebziger Jahren in Ost- und in den Achtziger Jahren in Westdeutschland. Heute ist Musiktherapie als wissenschaftliche Disziplin an Universitäten und Hochschulen in fast allen europäischen Ländern in den USA, in Südamerika, Südafrika, Israel, Australien, Japan, China und in osteuropäischen Ländern vertreten und erscheint als eine global vernetzte Wissenschaftsdisziplin. Musiktherapie ist von der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen als förderungswürdiges Verfahren der Psychotherapie anerkannt. Eine umfassende wissenschaftliche Fachdiskussion findet in vielen Monographien, Sammelbänden, Periodika und Fachzeitschriften sowie auf regelmäßigen nationalen und internationalen Konferenzen ihren Niederschlag. Musiktherapie ist heute fester Bestandteil des Psychotherapieangebots an vielen Allgemeinkrankenhäusern, an fast allen psychiatrischen Landeskrankenhäusern, an Universitätsklinken und an den verschiedensten Fachkliniken. Dort wird sie unter der Verantwortung habilitierter Chefärzte angewandt und evaluiert bzw. gelegentlich auch von promovierten und habilitierten Medizinern oder Psychologen, jedenfalls von gründlich ausgebildeten Musiktherapeuten durchgeführt. In Großbritannien gibt es eine eigene gesetzlich geregelte Berufs- und Besoldungsstruktur für Musiktherapeuten. In anderen Ländern, so auch in Deutschland werden Musiktherapeuten im Rahmen von privatrechtlichen Vereinbarungen tätig. Die Qualität der musiktherapeutischen Leistungen wird durch Berufsverbände sichergestellt. Literatur zur Geschichte der Musiktherapie Bunt, L.: Musiktherapie. Eine Einführung für psychosoziale und medizinische Berufe, Weinheim 1998 Decker-Voigt, H.H. & Escher, J. Hrsg.: Neue Klänge in der Medizin, Bremen 1994 ders.: Geschichtlicher Abriss der Musiktherapie in der BRD – aus höchst persönlicher Sicht, in ders. (Hrsg.): Schulen der Musiktherapie, München 2001 Flender, Reinhard: Vom Dreifachen Ursprung der Musik, in: Peter Bubmann: Menschenfreundliche Musik, Gütersloh 1993, 9-20 Frohne-Hagemann, Isabelle: Fenster zur Musiktherapie, Wiesbaden 2001 Harrer, G. HE: Grundlagen der Musiktherapie und Musikpsychologie, Stuttgart 1982 Kohler, C. Hrsg.: Musiktherapie, Theorie und Methodik, Jena 1971 Kümmel, Werner Friedrich: Musik und Medizin, Freiburg 1977 Linke, Norbert: Heilung durch Musik? Wilhelmshaven 1977 ders.: Musik gegen Wahnsinn, Stuttgart 1971 Möller, Hans-Jürgen: Psychotherapeutische Aspekte der Musikanschauung der Jahrtausende, in: W.J. Revers u.a. (Hg.): Neue Wege der Musiktherapie, Düsseldorf 1974, 51-160 Schwabe, Christoph.: Musiktherapie bei Neurosen und funktionellen Störungen, Jena 1969 Schwabe, Christoph: Aktive Musiktherapie für erwachsene Patienten, Stuttgart 1983
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Spintge, R. & Droh, R. Hrsg.: Musik in der Medizin, Berlin 1987 Spintge, Rolf & Droh, Rolf: Musik-Medizin, Stuttgart 1992, 2-12 Stern, R.: Musiktherapie in der zahnärztlichen Praxis, in: SPINTGE, R. & DROH, R. Hrsg. a,a,O. 217-222
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Musiktherapie in der Psychiatrie
Aus dem Merkblatt einer psychiatrischen Klinik: Musiktherapie ergänzt und vertieft das psychotherapeutische Angebot der psychiatrischen Abteilung. Sie verfolgt den bio-psycho-sozialen Ansatz einer ganzheitlichen Psychotherapie. Aufgrund ihres nonverbalen Charakters (Improvisation und Interaktion mit Musikinstrumenten) wird sie tiefenpsychologisch genutzt, um den Patientinnen und Patienten zu introspektiven Verstehensprozessen verhelfen. Aber auch in verhaltenstherapeutischer Hinsicht liefert sie über das gemeinsame Spiel an Musikinstrumenten wertvolle Beiträge zur Modifikation pathologischer Einstellungs- und Lebensmuster. Musiktherapie erreicht besonders Patienten, die sich sprachlich kaum oder gar nicht artikulieren können oder die nur sehr schwer und auf sprachlichem Wege gar nicht Zugang zu ihren Gefühlen bekommen. Darüber hinaus werden in der Musiktherapie Patienten mit frühen Störungen erfolgreich behandelt, da klangliche Erfahrungen und Musik früheste und pränatale Erlebnisschichten ansprechen.
1. Was geschieht in der Musiktherapie? In der Musiktherapie leiten wir die Patientinnen und Patienten an, auf leicht spielbaren Musikinstrumenten miteinander zu musizieren. Im allgemeinen spielen wir den Patientinnen und Patienten keine Musik vor, weil die Erfahrung lehrt, dass die Patientinnen und Patienten intuitiv die Instrumente wählen, die ihnen in der jeweiligen Situation gut tun und auch entsprechend auf ihnen spielen. Die auf der Klangwirkung und den Aktionen an und mit den Instrumenten beruhenden Effekte psycho-physischer Beruhigung, Belebung oder Abreaktion werden zugelassen, begleitet und - sofern möglich- reflektiert.
2. Ablauf der Musiktherapie-Sitzungen In den Musiktherapie-Sitzungen wechseln Musikphasen, in denen wir musikalische Gruppenspiele mit Instrumenten oder auch mit der Stimme durchführen, je nach Wunsch der Patientinnen und Patienten auch Lieder singen und instrumental begleiten, Bewegungsspiele oder Musik-Mal-Aktionen durchführen, mit Gesprächsphasen ab, in denen wir das Erlebte beschreiben und in Beziehung setzen zu unseren sonstigen Lebenserfahrungen. Das führt zum Einstieg in eine weitere Musikphase, in der neue Handlungsmöglichkeiten ausprobiert werden können, über die anschließend wieder gesprochen wird u.s.f.
3. Wirkung der Musiktherapie Je nach praktizierter Arbeitsweise treten folgende drei Wirkungsbereiche der Musiktherapie in den Vordergrund: a) vorbewusste psycho-vegetative Regulation 84
Physiologische Reaktionen beim Musik-Erleben sind durch vielfältige Forschungen belegt und beschrieben. Der Einfluss auf Vitalfunktionen wie Atmung und Blutdruck bedingt verändertes Körpergefühl und Ich-Bewusstsein. Psychische Erlebnisbereiche können im Spiel symbolisch und vorbewusst verarbeitet werden. b) 2. Bewusstwerden pathogener Lebenserfahrungen Die Patientinnen und Patienten werden dazu angeregt, über ihre musikalischen Erfahrungen zu sprechen (sofern das möglich ist) bzw. sie tun es auch von sich aus. Indem sie das musikalische Geschehen beschreiben oder mit ihm verbundene Einfälle mitteilen, können unbewusste Erlebnisinhalte ins Bewusstsein treten, die dann mit gesprächspsychotherapeutischen und mit musikalischen Mitteln bearbeitet werden. c) Bewusstwerden pathogener Verhaltensweisen Das Handeln am und mit dem Instrument, in Beziehung zu den Mitgliedern der Gruppe und zu den Therapeutinnen und Therapeuten symbolisiert und thematisiert sinnfällig Verhaltensmuster, die auch das sonstige Leben bestimmen; Grenzen, Ängste, Hemmungen und schädliche Reaktionsweisen bei der Gestaltung von sozialen Beziehungen und auch im Umgang mit sich selbst können erkannt und im musikalischen Spiel verändert werden, wobei soziale Kompetenzen entdeckt und auf das Leben außerhalb der Therapie angewandt werden. 4. Indikationsstellung für die Musiktherapie Für Patientinnen und Patienten in chronischen oder akuten psychotischen Zuständen bieten wir eine Gruppe an, in der der Wirkungsbereich der psycho-vegetativen Regulation im Vordergrund steht; die musikalischen Aktionen sind vorstrukturiert (Spiele mit Instrumenten nach vorgegebenen Regeln, Lieder singen und mit Instrumenten begleiten), kurze Gesprächsphasen dienen als Feed-back-Möglichkeit. Bei erkennbarer Introspektionsfähigkeit und -bereitschaft und einer absehbaren Verweildauer von mindestens vier Wochen bieten wir für Patientinnen und Patienten in post-akut psychotischen Phasen und bei reaktiven Depressionen, Neurosen und psychosomatischen Störungen Gruppen an, in denen neben psycho-vegetativer Regulation auch an pathogenen Lebenserfahrungen und Verhaltensweisen, sofern sie von Patientinnen und Patienten thematisiert werden, gearbeitet wird. Das musiktherapeutische Behandlungsprinzip ist hier die freie musikalische Improvisation (z.B.: „wir spielen, wie uns heute zu Mute ist und versuchen dabei, mit unseren Klängen Kontakt zueinander herzustellen;“ oder: „wir führen ein Gespräch ohne Worte, nur mit Klängen“); bei der verbalen Aufarbeitung leiten wir die Patientinnen und Patienten dazu an, die Musikerfahrung zu beschreiben (d.h. sich bewusst zu machen, was sie gespielt haben, wie sie mit sich selbst, mit den Musikinstrumenten und der Gruppe umgegangen sind und wie das Handeln der anderen auf sie eingewirkt hat). Wir bearbeiten Lebensthemen, Assoziationen, Erinnerungen etc., die von den Patientinnen und Patienten genannt werden, indem wir weiterführende Musikaktionen (z.B. ich spiele einmal nach dem Motto „ich lasse mich nicht mehr bevormunden“, oder: „wir spielen Angst“, oder wir machen ein musikalisches Rollenspiel etc.) anbieten. Diese neuen musikalischen Erfahrungen werden anschließend wieder im Gespräch aufgearbeitet werden usf. Maximale Gruppengröße: 6 Patientinnen und Patienten. An den Gruppen nimmt stets eine Vertreterin/ein Vertreter des Personals in Co-TherapeutenFunktion teil, die die Informationen über den Therapieverlauf bei den Stationsbesprechungen weitergibt. 85
5. Ärztliche Anordnung und Evaluation Die Musiktherapie wird nur auf Anordnung der Ärzte und Psychologen durchgeführt. Der jeweils behandelnde Arzt oder Psychologe gibt ein dafür vorgesehenes Formular, auf dem er die erforderlichen diagnostischen und indikationsspezifischen Angaben einträgt und sich über mögliche Behandlungsziele äußert, an die Station, von wo aus zurückgemeldet wird, ob und ab wann die Musiktherapie möglich ist. Ärzte und Psychologen, die musiktherapeutische Behandlungen zu verschreiben beabsichtigen, sollten einige Sitzungen in der Musiktherapie hospitieren, um die Möglichkeiten dieser Behandlungsform sicher einschätzen zu können. Von den Ärzten und Psychologen, die musiktherapeutische Behandlungen verschreiben, wird erwartet, dass sie die Patienten über die Musiktherapie informieren und sich insbesondre mit ihnen über die Behandlungsziele verständigen; in den Arzt- und Psychologengesprächen sollen auch die Erlebnisse aus der Musiktherapie thematisiert werden. Die Musiktherapie wird in den Pflegeakten dokumentiert. Die Musiktherapeuten sind bei den großen Übergaben zugegen, um über die Therapien zu berichten und mit dem therapeutischen Team das weitere Vorgehen zu beraten. 6. Ergänzende musiktherapeutische Angebote Ergänzende Angebote der Musik haben präventiven Charakter und steigern die Lebensqualität während der psychiatrischen Stationärbehandlung und sowie in der nachstationären Zeit.. Sie bestehen aus regelmäßigen offenen Gruppenangeboten in folgenden Bereichen: a) Musik und Bewegung, Tanz Das Erleben von einfachen Folkloretänzen, meditativen Tänzen und Sitztänzen vermittelt das Erlebnis von Genuss und Lebensfreude in der Gemeinschaft. Körperliche Lockerung, Entspannung und Stärkung sowie emotionale Aktivierung und positive soziale Erfahrungen unterstützen den Heilungsfortschritt und helfen, den Rückfall in pathogene Verhaltensweisen zu vermeiden. b) offenes und geselliges Singen Singen aktiviert Atem- und Kreislauffunktionen und belebt durch die Vibration des Stimmorgans den gesamten Körper. Es aktiviert positive Gefühle und die Bereitschaft, zu anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. Bei Demenzstörungen aktiviert das Singen bekannter Lieder Fähigkeiten des Gedächtnisses und der Sprache. 7. Ambulante Anschlussbehandlung Patientinnen und Patienten, die nach der Entlassung aus dem Krankenhaus die Fortsetzung der Musiktherapie wünschen, können mit den Musiktherapeuten entsprechende Vereinbarungen über ambulante Einzel- oder Gruppenmusiktherapie treffen. Außerdem vermitteln wir an niedergelassenen Musiktherapeuten weiter. Zur Wahrnehmung der ergänzenden musiktherapeutischen Angebote wird die Teilnahme an Gruppen außerhalb der Klinik empfohlen, die von niedergelassenen Musiktherapeuten geleitet werden, mit denen die psychiatrische Abteilung des Kreiskrankenhauses zusammenarbeitet.
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Literatur Musiktherapie bei Depression Jürgen Preckel: Das Erscheinungsbild der Depression. Wege zum Verständnis, in Musiktherapeutische Umschau 1993, 126-133 Musiktherapie bei Psychosen Wolf Schmidt: Mit der Mundharmonika gegen den Wahnsinn, in Musik und Kommunikation 6 / 1981 Wolfgang Strobel: Musiktherapie mit schizophrenen Patienten, in Musiktherapeutische Umschau 1985, 177-208 und im READER MUSIKTHERAPIE, Wiesbaden 1999, S. 25-64 Harm Willms: Musiktherapie bei psychotischen Erkrankungen, Stuttgart 1975 Außerdem: die entsprechenden Kapitel in Leslie BUNT, Musiktherapie, Weinheim 1998
Peter Hess (Die Rolle archaischer Musik in der Musiktherapie, in: Einblicke 13, 2002, 72-86) fasst die Organisation der Musiktherapie in der Psychiatrischen Abteilung des Städtischen Allgemeinkrankenhauses in Frankenthal in folgender Tabelle zusammen: AufBehandlung von Krankheitsursatrag chen Setting Gongtherapie Tischtrommelkonferenz
Ziele
Verständnis für die Erkrankung gewinnen Herausarbeiten von Vulnerabilitätsfaktoren Entschlüsselung pathologisch wirkender innerpsychischer Systeme Traum-Bearbeitung „Korrigierende Erfahrung“ Reinstallierung innerer Grenzen
Behandlung von Krankheitsfolgen Musiktherapie auf der Akutstation „offene“ Musiktherapiegruppe „Freitags-„ Musiktherapiegruppe Märchen & Musiktherapiegruppe Loslösen aus der Isolation Zurückkommen in das Hier und Jetzt Schaffung einer angstfreien Begegnungsebene Aufbau basaler Beziehungsstrukturen Reflexion der Eigen- und Fremdwahrnehmung Entwicklung von Verhaltensalternativen
Förderung von Ressourcen Morgen-Musikgruppe Trommel-Gruppe Instrumentenbau Förderung von Instrumentalspiel, z.B. Didgeridoo, Gitarre
Entdecken von Ressourcen Kreativitätsförderung Spielfreude
(Hess 2002, 80)
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7.1
Musiktherapie bei Schizophrenie
Im Gegensatz zu den neurotischen Störungen, bei denen Probleme im Bereich der Emotionalität vorrangig sind, stehen bei den psychotischen Störungen, deren wichtigste die Schizophrenie ist, Störungen des Denkens und der Wahrnehmung im Vordergrund. Grundsymptome der Schizophrenie Störungen des Denkens zerfahren, zusammenhanglos, Gedanken abreißen, Begriffszerfall, Kontaminationen, Begriffsverschiebung, Symboldenken (Gespräche unter gesunden Angehörigen klingen nicht selten wie der zerfahrene Gedankengang eines Schizophrenen) geordnetes und zerfahrenes Denken nebeneinander Die Sprache wirkt manieriert, gespreizt, verschroben, Wortneuschöpfungen Bei der Wahrnehmung erhalten Wesens- und Ausdruckseigenschaften ein Übergewicht gegenüber Struktur und Beschaffenheit der Gegenstände Störungen der Affektivität Verstimmungen verschiedenster Art; dabei karikaturhaft, albern, läppisch (Hebephrenie), enthemmt, laut, ausgelassen; daneben: depressive Verstimmungen Angst ist sehr häufig vorherrschendes Gefühl inadäquate Affektivität (Parathymie); Stimmungslage und gegenwärtige Situation passen nicht zusammen, die Einheit des Erlebens, die Zusammengehörigkeit von Gefühl und Ausdruck ist aufgehoben. Ambivalenz; unvereinbare Erlebnisqualitäten stehen beziehungslos nebeneinander, wie es im „normalen“ nicht möglich ist Autismus Ich - Versunkenheit und Verlust der Realitätsbeziehungen Passivität Wahnerleben Ich - Störungen Depersonalisation Desintegration Akzessorische Symptome der Schizophrenie Wahnerleben (Beziehungs- Beeinträchtigungs-, Verfolgungs-, Eifersuchts-, Größenwahn u.a.); die Wahnidee gehört der Vorstellungswelt des Kranken an. Einer richtigen Wahrnehmung wird eine abnorme Bedeutung beigelegt. Wesens- und Ausdruckseigenschaften am wahrgenommenen Gegenstand erhalten Übergewicht. Eigenschaften der Struktur und Beschaffenheit treten in der Wahrnehmung zurück Halluzinationen akustische Halluzinationen; Stimmen, die den Pat. Ansprechen, seinen Namen rufen, Handlungen kommentieren etc. optische Halluzinationen; Trugwahrnehmungen des Gesichtssinns olfaktorische Halluzinationen; z.B. Wahrnehmung von ausströmendem Gas etc. gustatorische Halluzinationen; Trugwahrnehmungen des Geschmacks taktile Halluzinationen; z.B. elektrischer Strom im Körper, ferngesteuerte Schläge, Stiche, sexuelle Manipulationen an Genitalien etc. Zönästhetische Halluzinationen; Störungen des Körperschemas akustische Halluzinationen; Stimmen, die den Pat. Ansprechen, seinen Namen rufen, Handlungen kommentieren etc. 88
Katatone Symptome psychomotorische Phänomene der Schizophrenie Stupor; Pat. Ist weitgehend reglos Mutismus; ohne sprachliche Äußerung wichtig: Patienten haben auch in dieser Verfassung ein völlig waches Bewusstsein und können später ihre Erlebnisse genau schildern Katatonismen; Leerlaufstereotypien und Dyskinesien, Echophänomene Quelle: Schulte, Tölle 71985, Mundt, in Faust 1995, 96 f
Hinweise zur Musiktherapie: Schizophrenie kann man verstehen als die Unfähigkeit, geeignete Symbole für Emotionen zu finden. In der Therapie wird der musikalische Ausdruck zur Symbolisierung bedrängender Gefühle, die in der Improvisation mitgeteilt werden können, seien es Gefühle der Übertragung, der Gegenübertragung oder neu geschaffene Symbole der therapeutischen Beziehung (vgl. Hanne Mette Kortegaard: Music Therapy in Psychodynamic Treatment of Schizophrenia, in Heal and Mead (eds) Music Therapie in Health and Education, London 1993, 61 zit. n. June Boyce Tilman: Constructing Musical Healing. The wounds that Sing, London 2000, 222). Bei schizophrenen Patienten sollte zuerst einmal ein sicherer, relativ reizarmer therapeutischer Rahmen hergestellt werden. Auch die musikalischen Erfahrungen sollten überschaubar und vertraut sein. Die Sitzungen werden von wiederkehrenden Eingangs- und Abschiedsritualen umrahmt. Wenig Instrumente. Einfache Improvisationsspiele oder auch Lieder und Tänze finden Verwendung. Bei längerer Therapiedauer können auch freie Improvisationen hilfreich sein. Vielfach wird bei akuten Zuständen von Musiktherapie abgeraten. Es gibt aber Erfahrungen, die belegen, dass hilfreiche Therapieschritte gerade in akuten Phasen mit Musik gemacht werden. Gerade wenn Patienten sprachlich nicht erreichbar sind, können Klänge helfen, ihre Gefühle auszuagieren und sich in einer basal stimulierenden Atmosphäre zu entängstigen. Peter Hess arbeitet als Oberarzt und Musiktherapeut an der Psychiatrischen Abteilung eines Städtischen Allgemeinkrankenhauses (Frankenthal) mit rezeptiven und aktiven Methoden unter Verwendung von archaischen Klängen von Trommeln, Monocord, Gongs, Klangschalen, Didgeridoo, Berimbao und anderen. Über die „Bedingungen, unter denen eine solche intensive Therapie mit schwer gestörten Patienten überhaupt möglich ist“ schreibt er: (Einblicke, 13, 2002, 72-86) „Entgegen den alten Dogmen der Psychiatrie, nämlich, dass die Psychose uneinfühlbar sei und unverständlich und nach eigenen Gesetzen ablaufe, die nur durch drastische Mittel, wie Neuroleptika und Elektrokrampftherapie zu beeinflussen sei, gehen wir davon aus, dass die Psychose von Erfahrenen einfühlbar und unter Einbeziehung aller Bewusstseinsschichten auch voll erklärbar ist. Die alte Psychiatrie hielt eine Heilung, außer mit biologischen Methoden, die es noch zu entdecken gilt, für nicht möglich und aufdeckende Therapie und Entspannungsverfahren seien besonders bei Psychosen contraindiziert. Wir dagegen sind der Auffassung, dass eine kausale Therapie und echte Heilung möglich ist, weiche Behandlungsmethoden erfolgreich sind, besonders, wenn man spirituelle transpersonale Dimensionen der Psychose mit ein bezieht. Selbstverständlich sind psychodynamische und familientherapeutische Therapiemethoden unverzichtbar“ (79). Während des Akutstadiums der Psychose wird „großer Wert gelegt auf die Schaffung einer schützenden, geborgenheitsvermittelnden Atmosphäre. Die Instrumente sind gut aufeinander abgestimmt, meist pentatonisch und dienen vor allem dazu, wieder auf die Erde zurückzu89
kommen und Wege aus der Isolation zu eröffnen. Im Remissionsstadium der Psychose geht es dann mehr um die Entdeckung und Ausbau kreativer Fähigkeiten mit gemeinsamen Musizieren mit leicht spielbaren Instrumenten. Es geht aber auch um Eröffnung neuer Handlungsspielräume in der freien Gruppenimprovisation. Je gesünder der Patient wird, um so mehr Chaos kann in den Gruppen dann wieder zugelassen werden. Die Skalen sind dann nicht mehr begrenzt. Außerdem geht es dann in der Gongtherapie auch um einen kausalen Behandlungsansatz“ (81). Indikationen und Kontraindikationen ergeben sich „weniger aus dem Krankheitsbild an sich, sondern eher an der individuellen Bereitschaft, sich auf körperorientierte Therapie einzulassen.“ „Eine besondere Behandlungschance ergibt sich immer dann, wenn akustisch gespeicherte Traumata vorliegen“ (83). (Peter Hess: Die Rolle archaischer Musik in der Musiktherapie, in: Einblicke 13, 2002, 72-86) Einzelheiten zur Organisation der Musiktherapie bei Hess s. unter Kapitel 7. Aufbau der Gongtherapie (Ritual mit Life-Musik) nach Hess (2002, 78): Einstimmen der Instrumente und der Teilnehmer Verbale Trance-Induktion mittels geführter Meditation Klangtrance Monocord Monocord und Obertongesang Tanpura und Gesang (Wiegenliedähnlich) Tanpura und Tabla Tanpura, Didgeridoo und Oceandrum Gong Stille Rücknahme der Trance Koto oder Flöte und Tabla unterstützt von der Shrutibox Aktive Gruppenimprovisation Spontanes Maler und/oder Gedicht Verbale Integration mittels Kreisritual mit zweimaliger Runde Schriftliche Integration mittels Eigenprotokoll 1-2 Tage nach der Sitzung
Thomas Wosch (in: Hans-Helmut Decker-Voigt (Hrsg): Schulen der Musiktherapie, München 2001, 183-207) beschreibt musiktherapeutische Einzelmusiktherapie mit schizophrenen Patienten in der Akutpsychiatrie auf Grundlage von „verstehender Psychiatrie“. Dieser Ansatz geht auf antipsychiatrische Reformbewegungen der sechziger Jahre zurück und basiert auf der Erkenntnis, dass „die schizophrene Störung nicht primär als Denkstörung“ zu verstehen ist, „wie sie als Phänomen im ICD 10 und DSM IV als ein notwendiger Faktor beschrieben wird, sondern vor allem als affektive Störung.“ Die beschriebene Auflösung des Denkens und der Sprache sei eine Folge der Affektstörung und nicht umgekehrt, wie allgemein beschrieben, dass die Affektlabilität Folge einer Grundstörung im Bereich der Kognition sei. Mit Hilfe von EEG-Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass bei „Menschen mit akuten schizophrenen Störungen eine intensive Überlagerung der Gefühlslandschaft mit dem Affekt Angst“ gegeben ist (195). Als weiteres Argument gegen die Auffassung des Primats einer Denkstörung bei Schizophrenen führt Thomas Wosch Ergebnisse von Untersuchungen mit dem Integrierten Psychologischen Therapieprogramm (ITP) an, bei dem der angenommene kognitive Symptomkomplex (Denkstörungen) mit kognitiver Therapie durch Training von semantischen Bezügen und Re90
aktionsfähigkeit beeinflusst werden sollte. Dabei zeigte sich, dass die Patienten zwar neue Denkmuster lernen konnten, sich aber im Bereich der sozialen Wahrnehmung und Problemlösung keinerlei Veränderungen zeigten. Die beiden Autoren (Roder und Brenner, a.a.O.) kamen auf diesem Wege „zu der Annahme, dass zu Beginn der Therapie ‚an eine stärkere Beachtung psychophysiologischer und emotionaler Prozesse’“ zu denken ist, denn es seien „starke emotionale Blockaden im späteren Verlauf des Erlernens sozialer Fertigkeiten zu beobachten“ gewesen (196). Die positiven Erfahrungen im Bereich der Soteria Projekte in Amerika (Mosher, L.R. und Burti, L. Psychiatrie in der Gemeinde, Bonn 1992) und Schweiz (Aebi, E., Ciompi, L., Hansen, H.: Soteria im Gespräch, Bonn 1994) erhalten durch diese Untersuchungen zusätzliche Begründung und Bestätigung. Hier „wird dem gestörten überdimensionalen Affekt Angst mit den Mitteln zwischenmenschlicher Beziehungen und einer Wohngemeinschaft begegnet. Zu dem besonderen Milieu gehört für die verstärkt akuten Erscheinungen von Schizophrenie ebenfalls das ‚weiche Zimmer’ mit der 1:1-Begleitung rund um die Uhr“ (196). Aus alledem folgert Wosch die Indikation einer musiktherapeutischen Einzelmusiktherapie für Patienten in akuten schizophrenen Zuständen, deren Wirksamkeit er an Hand von zwei stilisierten Fallbeispielen nachweist (198-204). Das Setting ist: zweimal wöchentlich jeweils eine Zeitstunde in der verlässlichen Dyade mit Methoden der musikalischen Improvisation auf Instrumenten und anderen vom Patienten angeregten musikalischen Aktivitäten. In diesen Fällen erwies es sich auch als sinnvoll, „die pharmakologische Behandlung nur gering zu halten und der Klientin eine Möglichkeit des Ausagierens und Verstehens ihres Zustandes zu geben“ (201).
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7.2
Musiktherapie bei Depression
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zum Thema Depression“ aus Henk Smeijsters: Grundlagen der Musiktherapie, Göttingen 1999 Versteht man „abnorme Trauer“ als Ausgangspunkt depressiver Erkrankungen, haben sich „die Psychoanalyse und Interpersönliche Therapie (Klerman)“ insofern bewährt, als sie „durch Äußerung der nach innengekehrten Aggressionen einen Trauerprozess in Bewegung“ bringen. Die bei Depressiven zu beobachtenden „disfunktionellen Kognitionen beeinflussen Emotionen“ und „negative Ereignisse“ werden „dem eigenen Unvermögen“ zugeschrieben. Sie leiden unter einem „Defizit an Verstärkung“. In der Therapie haben sich emotionale Äußerung, insbesondere von gegen sich selbst gerichteten Aggressionen, bewährt, ebenso der „Ersatz von disfunktionellen Kognitionen durch funktionelle Kognitionen“ (kognitive Therapie), die Verhinderung von Hilflosigkeit und die Vermehrung von angenehmen Aktivitäten (Verhaltenstherapie) (147). Bei der Musiktherapie lassen sich tiefenpsychologische, kognitive und verhaltenstherapeutische Zugänge nicht voneinander trennen, weil musikalische Erleben einerseits eng mit primärpsychischen Prozessen, mit Emotionen und präverbalen Erfahrungsinhalten verbunden ist und andererseits interaktive Handlung und symbolischer Ausdruck von sozialen Beziehungsmustern ist. Die depressiven Symptome zeigen sich im musikalischen Verhalten der Patienten 1. durch Analogien, „die in der Musiktherapie noch nicht spezifisch musikalisch sind“, z.B. nicht auswählen können oder keine Initiative ergreifen 2. durch Analogien, die in der Behandlung einzelner musikalischer Parameter durch die Patienten erkennbar werden, „z.B.: leise klingende Instrumente auswählen (Xylophon); extrem empfindlich sein für Dynamik (sich abwenden von Klavier, Schlagzeug); innerhalb eines begrenzten melodischen Umfanges spielen; monotones und nicht rhythmisches Spiel; in einem langsamen Tempo spielen; musikalische Symbiose“ (149). Theoretisch wäre zu erwägen, wie sich im Verlauf der Therapie die Bereitschaft, zu wählen und Initiative zu ergreifen, Lautstärke zuzulassen, Melodien zu entdecken und zu gestalten, Rhythmen und Tempi bewusst und abwechslungsreich zu gestalten, und eigenständig zwischen musikalischer Verschmelzung und Übereinstimmung (Symbiose) sowie Abgrenzung und Kontrast (Individuation) entwickelt (vgl. 148). Die oben dargestellte Symptomübersicht verdeutlicht, dass es bei der Therapie darum gehen muss, einen Zugang zu abgespaltenen und nicht mehr zugänglichen Emotionen zu öffnen, sowie neue Erfahrungen im Bereich der sozialen Beziehungen zu finden. Das beinhaltet die Auseinandersetzung mit biographischen Situationen, in denen Verlusterfahrung nicht ausreichend betrauert wurde, in denen die natürlichen Gefühle nicht ausgelebt wurden und in denen persönliche Kränkungen nicht wahrgenommen und verarbeitet wurden. Die nachfolgende Fallgeschichte verdeutlicht einen solchen Therapieprozess:
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Fallbeispiel Frau N; Diagnose „Depression“ (endogen?) Alter: 62 Jahre, verheiratet; eine Tochter, Mitte 30, ledig; der Ehemann ist Stahlarbeiter. ___________________________________________________________________________ 1. Sitzung (12.11./S.63): Es sind sechs Patientinnen gekommen. Ich stelle die Instrumente vor und lasse sie von Patientin zu Patientin weitergeben und ausprobieren. Anschließend sprechen wir darüber. Eine Mitpatientin (Frau W.) berichtet, dass sie beim Klang der großen Klangschale und den Glockeninstrumenten Angstgefühle und eine „Friedhofsstimmung“ erlebt hat sowie starke Unruhe; den Impuls verspürte „Raus! Nichts wie weg hier!“; dabei ist sie sehr aufgeregt und presst ihre Fäuste in den Nacken; ich halte ihr die Handtrommel hin und bitte sie, darauf zu spielen, was sie in den Händen spürt; es kommt daraufhin zu drei wilden Aggressionsausbrüchen auf der Trommel. Anschließend ist Frau W. erleichtert, äußert aber auch Schuldgefühle, dass sie sich so habe gehen lassen. Daraufhin sagen Frau N. und ebenso Frau S., sie wünschten sich, auch einmal so aus sich herauszukommen. Wir beschließen nach dieser Sitzung, Frau N. zusammen mit Frau S. und Frau W. in einer Musiktherapiegruppe zu behandeln. ___________________________________________________________________________ 2. Sitzung (19.11./S.67): Ich bitte die drei Patientinnen, jede solle sich ein bis zwei Instrumente wählen, um darauf zu spielen, wie es ihnen geht; Frau N. will auf der Mundharmonika Lebensfreude spielen aber sie wisse nicht, wie das geht; ich gebe ihr die Hilfe, sie solle sich vorstellen, wie ein vierjähriges Kind das machen würde. Wir spielen dann alle gemeinsam mit ihr „Lebensfreude“. Beim anschl. Austausch sagt Frau W., es gehe ihr schlecht, sie hätte am liebsten das Instrument (Glockenspiel und Flöte) in die Ecke geworfen; sie befinde sich „in einem Loch.“ Sie spielt, wie sie sich fühlt; kurze Tonfolgen auf dem Glockenspiel mit Filzschlegel. Danach sagt sie, das seien „klagende Hilferufe“; ich frage: „wer klagt da?“; Frau W. sagt, ein kleines Mädchen auf einer Wiese, das verzweifelt ist, keinen Weg sieht, im Kreis herum läuft und weint. Wir spielen die Wiese; Frau W. das Mädchen. Frau N. berichtet von einem Bild, das sie irgendwo einmal gesehen habe, sie wisse aber nicht mehr wo; es zeige eine abschüssige Wiese, die an einen Abgrund stößt; am Rand des Abgrundes steht ein kleines Mädchen, und hinter ihm ihr Schutzengel. (Am Ende der Sitzung fällt ihr ein, dass dieses Bild über ihrem Kinderbettchen hing.) Frau W. wird während des Erzählens unruhig; sie wirft plötzlich das Glockenspiel auf den Boden, nimmt sich eine Handtrommel, auf die sie mit den Fäusten einschlägt, bis das Trommelfell reißt. Ich bitte sie, auf der Conga weiterzutrommeln, was sie auch tut, wobei es ihr allerdings zunehmend schwerer fällt zu stehen; schließlich sinkt sie an der Conga zusammen und kauert am Boden. Sie sehe ihre Mutter und Schwester vor sich, die sie verspotten, mit den Fingern auf sie zeigen und ihr sagen, sie solle sich zusammenreißen, sich nicht so gehen lassen u.s.f.. Sie setzt sich auf einen Stuhl; sie sei „ganz unten“. Sie hat die Augen geschlossen, und ich frage sie, was sie sieht; sie stehe wieder am Abgrund; jetzt trete sie allmählich zurück; jetzt drehe sie sich um und laufe über die Wiese einen Weg entlang; sie sehe jetzt auch Blumen und Schmetterlinge. Die anderen spielen die Wiese. Jetzt komme sie an einen Bach, den sie mit Hilfe einer schmalen Brücke, die aus zwei Planken besteht, überquere. Sie sehe ein Haus; dort stehe eine Gestalt, die ihr zuwinkt und sie zu sich ruft; es sei ihr Vater. Der habe sich vor sieben Monaten das Leben genommen. Ich frage, was sie jetzt tun wolle. Sie geht nicht zu ihm; sie sagt ihm, was er ihnen angetan habe, sie so einfach im Stich zu lassen, macht ihm Vorwürfe und läuft dann wieder fort, den Weg zurück, der Tod hinter ihr her, bis sie wieder vor dem Abgrund steht. Dort entschließt sie sich, zu leben; sie sagt dem Tod und dem Vater: „Ich will leben.“ Sie erzählte dann noch über die näheren Umstände des Suizids ihres Vaters, über die Beerdigung, an der sie nicht teilgenommen habe. Am Ende der Sitzung sprechen wir über Ursachen der Depression, z.B. unerledigte Trauerarbeit. ___________________________________________________________________________ 3. Sitzung (26.11./S. 81): In dieser Sitzung ist das Thema die Familien der Patientinnen; die einzelnen Rollen werden mit Musikinstrumenten dargestellt. Im Verlauf der Arbeit thematisiert Frau N. die Beziehung zu ihrem Ehemann; wir stellen die musikalisch dar; sie wählt für ihre Rolle die Klanghölzer; mir weist sie die Rolle des Ehemannes zu, die ich auf der Handtrommel musikalisch darstellen soll; sie spielt mit leisen Schlägen und sanftem Reiben, wobei sie mich zu äußerst leisem Spiel zwingt, um sie nicht zu übertönen. Am Ende schlägt sie deutlich und für alle vernehmlich gegen das hintere Ende des Instruments; ich beschreibe ihr Spiel; vorne leise und sanft spielen und von hinten einen Schubs geben. Dabei wird viel gelacht. Frau N. erkennt, wie sie den Kontakt bestimmt und dass ihr Mann dabei durchaus nicht immer in der stärkeren Position ist. ___________________________________________________________________________ 4. Sitzung (3.12./ S. 96): Frau N. kommt nicht zur Musiktherapie. ___________________________________________________________________________
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5. Sitzung (9.12./S. 103): Frau W. kommt sehr bald zum Thema; zunächst äußert sie Wut auf eine Mitpatientin; dieses Gefühl drückt sie mit Rasseln aus; ich antworte ebenfalls mit Rasseln; dann kommt die Wut gegen ihren Schwager zum Ausbruch; zugleich empfindet sie Schuldgefühle und macht sich Vorwürfe wegen ihres Wunsches nach Zärtlichkeit und sexueller Befriedigung. Über diese Thematik kommt sie an die Wut gegen ihren Ehemann, von dem sie sich vernachlässigt fühlt. Es kommt zu einem Dialog zwischen 2 Seiten in ihr: Die eine die sich abgrenzt, Wut empfindet gegen die Männer, von denen sie sich schlecht behandelt fühlt; die andere, die sich nach Zärtlichkeit und sexueller Befriedigung sehnt, der sie nun auch ihrer Berechtigung zuspricht; bisher habe sie diese nur abgewehrt bzw. sich ihrer geschämt oder sie moralisch abgewertet („schmutzig, dreckig, etc.“), zugleich ihr aber in Form von Selbstbefriedigung oder Nachgiebigkeit dem Schwager gegenüber Raum gegeben. Im Akzeptieren dieser Seite empfindet sie zugleich die Wut gegen ihren Mann; als sie die ausagiert (in Form eines tätlichen Angriffs gegen mich), spürt sie die Verlassenheitsangst und, dass sie ihren Mann sehr liebt. Zum Abschluss spricht sie ihre Angst an, sie könne „zum Triebtäter werden“, die sich nach diesem Erleben aber auflöst. Wir betrachten die Beziehung Wut - kalte Wut - Hass - Entladung nach innen oder außen. Die Notwendigkeit, ihrem Ehemann in diesen Prozess mit einzubeziehen und zu lernen, Wut zu zeigen wo sie entsteht in den einzelnen Situationen (z.B. gegenüber den Mitpatienten). Frau N. begleitet den ganzen Prozess und erkennt die Parallelen zu ihrem eigenen Leben; „mein Mann würde mich auf der Stelle verlassen wenn ich ihm offen meine Wut zeigen würde; er liebt mich nicht; andererseits aber ist er eifersüchtig; d. h., er liebt mich wohl doch.“ Die Problematik besteht darin, dass die verhüllte Wut auch die Liebe verhüllt. ___________________________________________________________________________ 6. Sitzung (16.12./S. 116): Frau N. beschreibt die Beziehung zu ihrem Ehemann; insbesondere dass sie seit 2 Jahren nicht mehr bei (und mit) ihm schläft („wegen Alkohol“; - sie hat ihn irgendwann einmal vor die Alternative gestellt: „entweder die Kneipe oder ich“) - sie hat deswegen Schuldgefühle. Andererseits ist diese Abgrenzung notwendig gewesen, vielleicht aber nicht konsequent genug; Frau N. betont ihre Schwierigkeiten Konflikte konsequent auszutragen. Wir spielen dann „Streit“, wobei Frau N. sich anschließend nicht erleichtert fühlt; sie spürt Angst („das dicke Ende kommt nach“). In diesem Zusammenhang berichtet sie über ihre Kindheit und ihren jähzornigen und frommen Vater, der sie mit einem Riemen verprügelte, an dessen Ende sich eine Schnalle mit der Aufschrift befand: „Gott mit uns.“ Diese alte Angst ist jetzt noch spürbar, wenn sie sich mit ihren Angehörigen auseinandersetzt. Frau W. spürt einen spitzen, schwarzen Kloß mit vielen Zacken im Magen; mit den Fingernägeln macht sie ein kratzendes, nagendes Geräusch auf der Handtrommel. Bei Unterstützung mit der Stimme kommt der Kloß heraus; sie wirft ihn symbolisch hinter sich, ist erleichtert und Gesicht und Schultern entkrampfen sich. Sie bringt im Gespräch den Kloß mit den permanenten „Sticheleien und Verletzungen durch den Ehemann“ in Beziehung. 1. Musikmalen (18.12./S. 122): Frau N. malt zur Musik von Jade Warrior mit Wachsmalstiften eine Bildergeschichte; die Herzschlagkurve mit unterschiedlichen Phasen; die Herzschmerzen (ein rotes Herz), dass die ihr immer dazwischen kommen. Ein Baum und eine grüne (Hoffnung) und eine dunkle (traurige) Blume, die eigentlich so schön hell sein könnte, als Ausdruck für die „Sehnsucht nach einem natürlichen Leben“. Ein farbenfroher Kreis von vielen Gefühlen, der aber schwarz eingerahmt ist („da bekomme ich immer eins auf den Hut“), ein „Schwänzchen von den Gefühlen“ ragt aus dem schwarzen Kasten, der rechts unten leicht durchbrochen ist, heraus. ___________________________________________________________________________ 7. Sitzung (21.12./S. 124): Frau N. spielt die Traurigkeit mit Klanghölzern; eine Art „klagender Kreislauf“ - vor und zurück, vor und zurück..; die Aufgabe, solange zu spielen bis sie den Wunsch spürt, etwas zu verändern, führt sie aus, indem sie sehr lange das monotone, anhaltend klagende Spiel fortsetzt, das dann ganz allmählich in einen anapästischen Rhythmus einmündet, in dem sie sich ganz wohl fühlt; wir, die anderen in der Gruppe, stimmen in diesen Rhythmus ein (Tabla, Schellenring, Xylophon); es entsteht „eine richtige Melodie“ (Frau N.), der sie sich gern überlässt; sie berichtet dann, dass es ihr zu Hause wesentlich besser gegangen sei; keine Symptome seien aufgetreten; sie habe an scheinbar kleinen Dingen (Adventskranz, Plätzchen, zum Kaffeetrinken fahren) Freude gehabt. ___________________________________________________________________________ 8. Sitzung 28.12./S.127):
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Frau N. und Frau W. nehmen an der Sitzung teil; außerdem eine Schülerin und Frau Dr. K. als Co-Therapeutin; beide Patientinnen wählen Rasseln als „ihr“ Instrument; Frau N. (sie sagt sie sei sehr müde) die hölzerne (leisen), Frau W. die laute (aus Plastik); im Spiel findet eine Auseinandersetzung statt, in deren Verlauf Frau W. kurzzeitig heftig spielt, Frau N. aber dreht das Instrument beständig, „ausdauernd“ (Frau W.) leise, so dass Frau W. schließlich „aufgibt“ („hör auf damit - das ist als wenn ständig jemand um mich herumschleicht!“); sie (Frau N.) sei die stärkere. Frau N. sagt, dass dies nur so scheine, in Wahrheit sei sie schwach und sehr traurig (weint); zu Hause könne sie sich (insbesondere vor ihrem Mann) nie schwach zeigen; am dicken Ende müsse sie doch immer wieder alles ausbügeln, sie müsse die Starke sein; ihr Mann habe sie wohl noch nie schwach gesehen. Frau W. wiederum hat Frau N. auch nie so schwach gesehen, sie komme ihr ganz fremd vor; sie selbst habe sich zuerst von Frau N’s Tönen (langsames Drehen der Rassel) bedrängt gefühlt, dann will sie sie trösten, was ich aber verhindere; sie solle langsam Schritt für Schritt auf sie zugehen; sie zuerst anschauen, dann fragen, ob sie zu ihr kommen solle, und dann erst auf sie zugehen, wenn sie es will. Das aber kann sie nicht; sie benennt ihre Schwierigkeit, Blickkontakt zu haben. Solange Frau N. ihrem Mann nicht ihre schwache Seite zumutet, kann dieser nicht auf eigenen Füßen stehen, wird er auf seine schwache Seite festgelegt. Nun habe sie hier ihre schwache Seite gezeigt und fühle uns gegenüber Scham. Sie holt sich Feedback von jedem aus der Gruppe, dass sie sich nicht zu schämen braucht. Frau W. beschreibt ein „Feuer“ in sich, das ihr sagt, sie solle weiter vorangehen und nicht zurück oder seitwärts ausweichen. Sie habe Mühe mit einem schwachen Gegenüber umzugehen, es sei alles in ihr verwirrt (früher hat Frau W. gesagt, Frau N. sei der ruhende Pol, der allen Halt gibt; nun kann die Beziehung in der alten Weise nicht mehr fortbestehen. Es muss etwas neues gefunden werden; das sollen, so meine Anweisung, sie in den nächsten Tagen üben: Einander Schwachheit zuzugestehen und sich zu sagen, was sie brauchen, wenn sie schwach sind.) ___________________________________________________________________________ 9. Sitzung (6.1./S. 133): Frau W. ist zuversichtlich und teilt mit, sie habe bei Frau N. die Beobachtung gemacht habe, dass sie stärker und sicherer geworden sei, sich besser durchsetzen könne etc. Frau N. kann diese Fremdbeobachtung nicht annehmen und teilt mit, dass sie sich ausgesprochen schwach und elend fühle, Angstgefühle (auf der Brust) spüre. Sie weint. Es gelingt ihr auch, die Kränkung zurückzumelden darüber, dass Frau W. etwas anderes in ihr sehen will, als tatsächlich der Fall sei. Sie spricht die Angst aus, dass Frau W. sie nicht mehr mögen würde, wenn sie wirklich ihr Schwachsein zur Kenntnis nähme. Frau W. spricht von Schuldgefühlen (weil sie Frau N. verletzt habe) und von Verwirrung und innerer Leere („ich spüre nichts in mir“); da wo das Bild der starken Frau N. war, ist es nun leer. Sie könne Frau N. nicht mehr verstehen. Ich frage ob sie sie denn verstehen wolle und wie sie das bewerkstelligen wolle. Ich rege an, dass sie sie anschaut und sich klarmacht, was sie sieht; soweit kommt sie. Dann spürt sie ihre Schuldgefühle und schaut nach innen; sie solle sich entscheiden was sie nun anschauen wolle, Frau N. oder ihre Schuldgefühle; sie berichtet, dass sie sich ihrer Familie gegenüber schuldig fühle, weil sie nun schon solange weg sei etc. Nun spüre sie ihre eigene Schwachheit. Ich richte die Frage an Frau N., was sie an Frau W. sehe und was sie machen wolle; wir üben detailliert wahrzunehmen (ist traurig), zu fragen, (was wünschst du dir von mir?) und zu entscheiden (was will ich, was kann ich von dem Wunsch erfüllen?) und Rückmeldung geben und es dann tun. Zusammenfassend gesehen war es ein nachträgliches Erledigen der Weisung vom letzten Mal (wahrzunehmen wie es dem anderen geht und was er wohl auch tatsächlich braucht); beim abschließenden musikalischen Gespräch spielt Frau W. dieselbe Musik, die sie bei der schwachen Frau N. aufgeregt hat und die sie unter keinen Umständen mehr hatte hören wollen („hör auf damit, das ist als ob jemand um mich herum schleicht und was von mir will!“, 28.12.): Holzrassel leise umdrehen. Damit hat Sie Frau N’s Frage, ob sie sie auch als schwaches Gegenüber mögen würde, bereits musikalisch beantwortet. _________________________________________________________________________________________ 10. Sitzung (13.1./S. 147): Frau N. äußert Angst, dass sie bereits nun schon entlassen werden soll, wo sie sich noch unfähig fühlt. Ich frage, was sie mit der Angst machen wolle? Sie versucht sie zu verharmlosen, sie wegzuerklären, sie weint, sie malt sich alles mögliche aus, nur handeln tut sie nicht und die zuständige Ärztin fragen, die ja (als Co-Therapeutin) neben ihr sitzt (!); als ich sie darauf hinweise, sagt sie, dass sie wohl auch daran gedacht habe aber nicht wisse, „ob man das hier dürfe.“ Außerdem, als klar ist , dass sie es darf, hat sie nicht den Mut, zu fragen („vielleicht später, wenn ich sie mal zufällig treffe, frage ich ob sie mal Zeit für mich hätte“); schließlich fasst sie allen Mut zusammen und fragt; anschließend fühlt sie sich „um 6 Zentner erleichtert“. Im weiteren Verlauf erzähle ich das Märchen von der Frau mit dem schweren Korb; wir spielen dieses Märchen mit den Instrumenten; Frau W. meint, das Abladen (des schweren Korbes) sei Stück für Stück in der Musiktherapie geschehen. Frau N. sagt sie könne nicht „schreien, wenn sie wütend ist.“ ___________________________________________________________________________
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2. Musikmalen (15.1./S. 154): Frau N. malt zur Musik von „Rondo Veneziano“ ein „Meer von Traurigkeit“ mit einem einsamen schwarzen Raben und einer kleine roten Sonne (Fingerfarbe). _________________________________________________ 11. Sitzung (20.1./S. 159): Heute nehmen wir Abschied von Frau W., die entlassen wird. Wir spielen alle Gefühle des Zauberspruchs. Bei der Darstellung des Gefühls Wut sind alle hinterher sehr erheitert. Frau N. spielt danach das Lied „An der Saale hellem Strande“, zum Thema Freude. Ich gebe ihr zum Schluss der Sitzung die Mundharmonika mit, damit sie für sich selbst üben kann. ___________________________________________________________________________ 12. Sitzung (21.1./S. 164): Auf Wunsch der Patientin eine Einzelsitzung; sie übe das Spiel auf der Mundharmonika, doch ihr Mann nehme sie ihr immer wieder weg, um selbst zu spielen. Er hat zwei Wünsche zu seinem Geburtstag: eine Mundharmonika und mit ihr zu schlafen (nach 2 Jahren); sie sei dazu noch nicht weit genug, sie würde seine Unsauberkeit (lange Fingernägel und zotige Witze) ekeln; sie wünsche sich vielmehr Zärtlichkeit, die er ihr nicht zu geben gelernt habe. Vorschlag meinerseits: zu sagen, dass sie wohl gerne mit ihm schlafen wolle, aber dazu ihre Bedingungen und Wünsche formulieren solle. In der jetzigen Therapiephase sei es wichtig, nachdem sie die Traurigkeit zulassen könne, auch die Aggressionen anzunehmen. ___________________________________________________________________________ 3. Musikmalen (22.1./S. 168): Frau N. malt (mit Fingerfarben) zum 2. Satz der 6. Sinfonie von Beethoven einen Wildwasserfluss, ein Kanu, eine Wiese, keinen Berg (!), obwohl sie einen habe malen wollen; dann hätte sie aber nicht mit dem Boot bei den Steinen ans Ufer gehen und der Gefahr ausweichen können; aufgrund technischer Unzulänglichkeiten (?!) sei es ihr nicht gelungen, den Berg und die Felsen zu malen, die das verhindert hätten. Das Bild zeigt deutlich Möglichkeiten, mit Aggressionen umzugehen. _________________________________________________ 13. Sitzung (27.1./S. 175): Es ist die letzte Musiktherapiesitzung vor der Entlassung aus der Klinik; Thema Abschiednehmen. Ich lade sie ein, sich damit auseinander zu setzen, was sie mitnimmt und was sie hier lässt. Was sie mitnimmt, sei das Gefühl bzw. die Erfahrung, Verständnis und Geduld von uns bekommen zu haben außerdem: ihre Krankheit; diese (als Klangschale symbolisiert) enthält: Angst (Trommel), Verzweiflung (Holzrassel), Kummer (Plastikrassel), Traurigkeit (Melodie „Die alte Kapelle“ auf der Mundharmonika. Letztere legt sie nicht in die Klangschale (Klangschale gleich Krankheit), sondern legt sie neben sich; später kommt ihr Mann in der Sitzung dazu und setzt sich ihr gegenüber; die Schale steht zwischen ihnen; ich frage Frau N., was sie sich von ihm wünsche; sie wünscht sich von ihm, dass er, wenn sie Angst hat, nahe bei ihr ist - aber (im Bild) die Klangschale ist beiden im Weg; die Schale steht zwischen ihnen wenn er etwa zu ihr sagt, sie solle sich zusammenreißen etc.; das wäre so als wenn sie die Schale allein auf dem Schoß hätte. Ich sage, es sei ihre gemeinsame Aufgabe, die Schale beiseite zu schaffen; mit dieser Aufgabe lassen wir sie eine Weile allein im Raum und warten, bis sie uns wieder herein holt; danach holt Frau N. uns wieder in den Raum: Sie hätten den Weg zueinander freigemacht. Damit endet die Therapie. Sie sitzen nebeneinander auf der Couch und haben die Mundharmonika zwischen sich liegen. Ich empfehle ihnen zum Abschluss, mit der Therapeutin ihrer Tochter Kontakt aufzunehmen und eine psychotherapeutische Weiterbehandlung anzustreben.
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Die nachfolgende Übersicht zeigt, wie der therapeutische Prozess zwischen Themen aus dem Bereich der Emotionalität und des Beziehungsgeschehens hin- und herpendelt. Neue Zugänge zur Emotionalität ermöglichen Veränderungen auf dem Gebiet der Beziehungsgestaltung. Unterschiedliche Instrumente dienen hierbei als emotionale Katalysatoren. Sitzung Nr.: 1. 2.
3.
Ereignisse im Bereich der Emotionalität „ich möchte aus mir herauskommen können“ Lebensfreude als Ziel klagendes Mädchen am Abgrund
Ereignisse im Bereich der Beziehungen
Musik-instrument
Mundharmonika
Kontakt zum Ehemann: „zurückziehen und einen kleinen Schubs von hinten“
„ich kann nicht wütend sein“, Sehnsucht nach Liebe 5. Angst Ehebeziehung: Alkohol, kein Sex, Erlebnisse mit dem prügelnden Vater 1. Musik- Herzschmerzen, Hoffnung, Malen froher Kreis von Gefühlen in schwarzem Kasten, mit „Schwänzchen“ 6. Traurigkeit; aus klagendem Kreislauf wird eine richtige Melodie 7. Schwäche zeigen, Bedürfnisse äußern, 8. Abgrenzung gegen Mitpatientinnen 9. Angst vor Entlassung Mut gegenüber der Ärztin 2. Musik- „Ein Meer von Traurigkeit“ Malen 10. Lied mit der Mundharmonika Wut spielen erheitert 11. Ekel gegenüber Ehemann, erotische Wünsche 3. MusikWildwasserfuß, Wiese, Malen Boot, kein Berg 12. gemeinsame Sitzung mit (Integration von emotionaler dem Ehemann und sozialer Thematik)
Klanghölzer
4.
Trommel
Klanghölzer
Rassel Rassel
Mundharmonika Trommel
Alle Instrumente in der Klangschale
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„Aufgrund der oft massiven Kontakt- und Beziehungsschwierigkeiten“ bei depressiven Patienten hält auch Cornelia Tonn (Musiktherapeutische Umschau 2003, 120-133) Gruppenmusiktherapie für „in der Regel indiziert“ (122). In Anlehnung an Yalom folgt sie der These, „dass eine Depression für sich alleine nicht behandelbar sei. Yalom übersetzt den Begriff ‚Depression’ in ihre interpersonalen Elemente: Passivität, Abhängigkeit, Isolierung, Unterwürfigkeit, Überempfindlichkeit gegenüber Trennung und Unfähigkeit, Wut auszudrücken.“ In ihrer langjährigen Praxis an der psychosomatischen Klinik in Bad Saulgau hat sie festgestellt, dass sich in den musiktherapeutischen Gruppen mit Frauen „depressionsspezifische Themen“ zeigen die besonders sinnvoll mit musiktherapeutischen Mitteln, insbesondere der freien Improvisation, bearbeitet werden können: -
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Leistungsorientierung Aggression und Aggressionshemmung Außenorientierung „Die Fähigkeit zu verschmelzender Einfühlung in die tatsächlichen oder vermeintlichen Ansprüche und Gefühle des Anderen, die häufig mit der Unfähigkeit einhergeht, sich abzugrenzen und eigene Bedürfnisse wahrzunehmen“ (125). Harmoniestreben Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein „Depressive haben gelernt, „schmerzliche Situationen hilflos zu ertragen und eine aktive Bewältigung ihrer Situation, die das Risiko des Scheiterns und der Enttäuschung in sich birgt, von vornherein eher zu vermeiden“ (126). Bedürftigkeit „Hinter dem scheinbaren Altruismus depressiver Patienten stehen unbewusste überhöhte Erwartungen an die Umwelt gegenüber“ (127). Neid und Schuldgefühle Realitätsflucht Rücksichtnahme und unterdrückte Selbstbehauptung Kontaktvermeidung
Markus Münsterteicher: Musiktherapie mit einer depressiven Patientin, in: Rosemarie Tüpker, Hans Hermann Wickel (Hrsg.): Musik bis ins hohe Alter, Münster: Lit, 2001, 168-176 Es geht dem Autor darum, musiktherapeutische Prozesse und Behandlungsmethoden vorzustellen und an einer konkreten Behandlungssituation beispielhaft zu verdeutlichen und zu erklären. Die musiktherapeutische Behandlung bezieht sich dabei auf eine 62-jährige Patientin, die über einen Zeitraum von 2 Monaten einzel- und gruppentherapeutisch behandelt wurde. Sie war zu dieser Zeit Patientin der gerontopsychiatrischen Abteilung einer psychiatrischen Landesklinik und bereits das dritte Mal wegen einer depressiven Erkrankung in Behandlung (168). Zum Behandlungsprinzip des Autors gehört, „gemeinsam einen Behandlungsauftrag schon im ersten Vorgespräch miteinander zu entwickeln“ . Er sieht darin „den Vorteil, Verlässlichkeit und Überprüfbarkeit der Patientin gegenüber zu gewährleisten (169) Außerdem würden die Patienten in der Klinik nur allzu oft erfahren, „dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird“ (170). Nun sollen sie einen Raum erleben, in dem sie ihre psychosozialen Prozesse autonom gestalten können. 99
Musikalisches Verhalten Die erste Improvisation über spielt sie auf dem Xylophon durchgängig denselben Rhythmus:
(170) Therapeut spielt dazu auf dem Klavier stützend und „Halt gebend“, indem er „langsam, akkordisch und ruhig“ das Spiel der Patientin untermalt; das Spiel der Patientin kommt ihm wie ein „Festhalten an einer Idee“ vor, von dem sie sich auch nicht abbringen lässt, als er sie durch größere Melodiebögen und vielseitigere Motive zu musikalischer Weiterentwicklung animieren wollte, was aber bei der Patientin nicht verfing (171). Während der weiteren Sitzungen: Das musikalische Prinzip, die ganze Improvisation über an einer Idee festzuhalten zeigt sie auch in der zweiten Sitzung. Sie wählte die Harfe, und spielte sie so leise, dass der Therapeut Mühe hatte, sie nicht zu übertönen (vgl. 173). neue musikalische Ideen: z.B. Harfe mit Schlägeln spielen anderen Instrumente Das starre Motiv wird flexibler ausgeführt; es erklingen Melodiefragmente aus Kinder- und Volksliedern. bei der Abschiedsimprovisation am Xylophon gleichbleibende Struktur,
die aber ihre starre Eingebundenheit zu Gunsten flexibler gehandhabter Rhythmik verändert, Variationen und größere Melodiebögen enthält.(176) Emotionen: Über sich selbst sagt sie: „Ich muss immer weinen und weiß nicht warum ...“ (169). fällt ihr schwer, über Gefühle und inneres Erleben zu sprechen; stattdessen thematisiert sie somatische Beschwerden: Schmerz im linken Arm, für die es aber keine physische Erklärung gibt. Der Autor versteht die als „Nebenschauplatz“, der die eigentlichen Probleme „nur sehr oberflächlich berührt“, dennoch aber für die Patientin wichtig ist, weil man ihre depressive Stimmungslage nicht sieht, wohingegen die Schmerzen im Arm ihr Ausdruck verleihen, der zu respektieren ist (172). Mit der Harfe in der zweiten Improvisation findet sie eine Möglichkeit, „ihre körperlichen Schmerzen nicht zum Handicap werden zu lassen. Indem sie sich für die Harfe entschied, entschied sie sich für den Umgang mit ihrem Leiden. ... Beim Spielen waren die Schmerzen nun kein Thema mehr“ (173). Die Abschlussimprovisation findet wieder am Xylophon statt, ohne dass von Schmerzen im linken Arm die Rede ist. Verändertes Zeiterleben: dass die Musiktherapiesitzung so schnell um sei (174) auch Spaß taucht auf (175) Lebensthemen: Zu Anfang gilt ihre Sorge „fast ausschließlich der Sorge um ihren Ehemann, der „ohne sie zu Hause zurecht käme“ (169). „unvollständig verarbeitete Tod der Mutter und häusliche Konflikte“ (174); das Ausblenden von eigenen Erfolgen oder Fortschritten (Leistungen, die sie beim Ausrichten des Geburtstags ihres Ehemannes vollbracht hat (174). Kindheitserinnerungen Szenen aus Kindheit und Jugend werden zur Musik assoziiert. 100
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7.3
Musiktherapie bei Suchterkrankungen
Die Wirksamkeit der Musiktherapie bei Suchtkranken resultiert aus der Tatsache, dass sich im nicht sprachlichen Melodie-, Klang- und Rhythmusereignis der Musik die frühe prä- und postnatale Mutter-Kind-Symbiose reinszeniert. “Musik ist Mutterersatz” (ROTTER 1984, 25). Auch die Droge kann die frühe Mutterbeziehung symbolisieren: Sie bietet Trost, befreit von Angst (z. B. Alkohol), sie gibt das Gefühl von Wärme und Geborgenheit (z.B. Heroin), sie wiegt in Träumen, erzählt Märchen und Phantasiegeschichten (etwa Haschisch oder LSD) oder sie stimuliert und euphorisiert (z.B. Kokain). So wird kurzzeitig im Rauscherlebnis der existentielle Mangel aufgehoben “die Sehnsucht nach Verschmelzung der Gegensätze und der Gegenüber” gestillt; wie sich der Säugling einer guten Mutter, so kann sich der Konsument der Droge überlassen: Ihre Wirkung tritt zuverlässig ein, die Wünsche werden erfüllt, die Sehnsucht gestillt, das “Absolute” verwirklicht “ohne Weg dorthin” (DÖRNER 1984, 247). Auch insofern kann die Droge frühe Muttererfahrungen symbolisieren, als sie immer wieder aufs Neue traumatische Verletzungen reinszeniert, indem sie am Ende die Rauschwirkung entzieht und den Süchtigen sich selbst überlässt, schutzlos und allein. Der Suchtmittelgebrauch ist verbunden mit einer malignen Form von Regression, bei der sich Ich-Funktionen allmählich auflösen. Auch das Musikerleben ist mit Regression verbunden. Insbesondere beim Hören von Musik geht der Hörer auf frühere Erlebnisweisen und Gefühlszustände zurück, Phantasietätigkeit und Tagträumerei. Er benutzt die Musik als Projektionsfläche, auf der er psychisches Geschehen abgebildet erlebt, oder er identifiziert sich mit der Musik und erlebt musikalische Prozesse so, als seien sie seine eigenen seelischen Bewegungen (vgl. KLAUSMEIER 1978, 231 ff.). Bei musikogener Regression fühlt man sich verstanden und aufgehoben vor und jenseits des sprachlichen Begriffs. Wie die Droge ist auch die Musik mehr als bloßer Symbolisierungsgegenstand; sie besitzt quasi die Qualität eines Medikamentes, indem sie direkt auf vegetative Prozesse Einfluß nimmt: Pulsschlag- und Atemfrequenz, galvanischer Hautwiderstand, Hormonhaushalt, Stoffwechsel, Verdauung, Muskelpotentiale, Blutdruck und anderes werden unter ihrer Wirkung modifiziert, und der psychophysische Gesamtzustand des Menschen wird so durch sie verändert (vgl. AUERBACH 1982,45, BOLIN, 1994,32ff, EWERS, 1994, HASELAUER 1986, 85, LIEDTKE, 1985,219ff, RAUHE, 1977,12, ZIMMERSCHIED 1982,38). Musik erfüllt insofern “die Voraussetzung zur Suchtentwicklung” als sie “Regression in den primären Zustand, Einschränkung der Ich-Funktion, Kompensation struktureller Mängel durch narzißtische Ersatzbefriedigung” ermöglicht (Frohne 1987, 246). Ihr Einsatz in der Arbeit mit Suchtkranken bedarf daher besonders kritischer Prüfung. Indiziert ist Musik und Musiktherapie, wenn neben der psychotropen Wirksamkeit auch der ihr innewohnende Appell an die Ich-Funktionen zur Geltung kommt. Dann öffnet sie nicht nur den Weg in die Regression, wie die Droge, sondern auch den in die Progression; sie ermöglicht Regression im “Sinne vorübergehender Rekreation“, bei der der Mensch neue Kräfte sammelt, Ideen oder Visionen erhält, mit denen er sich gestärkt und motiviert der ihn umgebenden Wirklichkeit zuwendet (vgl. HASELAUER 1986,89). Unter Betonung dieser Qualität kann man lernen, das Erleben von Musik für benigne Regression zu nutzen. Dabei sollte der bewusste Umgang mit Musik das therapeutische Milieu bestimmen: Stille und Musik gemeinsam und bewusst zu genießen, anstatt einsam, nebenbei und permanent zu konsumieren (vgl. KAPTEINA & HÖRTREITER 1993, 38 ff). Deshalb werden die Patienten zur aktiven Teilnahme an der Musikkultur, zu eigenem musikalischen Ausdruck und Erleben animiert; gleichzeitig schränken viele Einrichtungen den privaten Konsum von Musik während der stationären Behandlung z.T. bedeutend ein. So gilt etwa in Kliniken, dass Musik nur im Aufenthaltsraum gehört werden darf, also nicht auf den Zimmern und in den Nebenräumen der Ein102
richtung, wobei die Mitarbeiter die Musikauswahl vornehmen. Dabei vermeiden sie Underground-Titel, wahrscheinlich wegen ihrer z.T. okkulten, Drogen und Gewalt verherrlichenden und psychedelischen Inhalte (vgl. ROTH 1977, 58, auch FORMANN-RADL & KRYSPINEXNER 1976, 88f). Auch Rauscherfahrungen und Rauschbedürfnisse können beim Musikerleben aufgenommen und konstruktiv integriert werden, wenn dabei die Qualität des “rituellen” Rausches erlebt wird: “Während beim rituellen Rausch das Ich, das seine Grenzen zum Unbewussten hin und nach außen öffnet, von einer begleitenden Gruppe umgeben ist, die die zum Teil außer Kraft gesetzten Kontrollfunktionen des Ich übernimmt, indem sie Schutz vor Verletzung, Begleitung durch Nähe und Resonanz sowie anschließend Feedback gibt und so den kognitiven Nachvollzug der Rauschinhalte ermöglicht, fließen beim süchtigen Rausch Energie und Erlebnisse ab”, ohne dass sie für die Weiterentwicklung des Individuums und der Gruppe genutzt werden können (KAPTEINA & HÖRTREITER 1993, 27, vgl. GEIER 1987, 41 f.). Die Qualität der rituellen Rauscherfahrung ist vor allem bei der musikalischen Gruppenimprovisation gegeben, der wichtigsten Methode, der sich die moderne Musiktherapie bedient. Dabei steht der Gruppe ein Sortiment von leicht spielbaren Musikinstrumenten zur Verfügung, auf der die Patienten ihre momentane Befindlichkeit, biographische Erlebnisse und Phantasien ausdrücken können. Unter Einbeziehung von Tanz und Bewegung, szenischen Darstellungen und Malaktionen kann es zu ausgeprägten Erfahrungen von Trance und Ekstase kommen, die sich von drogeninduzierten Rauschzuständen darin unterscheiden, dass sie durch Eigenaktivität und -verantwortung und gemeinschaftlich hervorgebracht werden. Nach der musikalischen Erfahrung wird das Erlebte im therapeutischen Gruppengespräch aufgearbeitet. Dabei werden weitergehende Themen deutlich, die Ausgangspunkt für weitere musikalische Improvisationen werden. Das können biographische Inhalte sein, die mit musikalischen Mitteln dargestellt, ausgedrückt und erneut erlebt werden. In diesem Falle hat die Musiktherapie vorrangig psychoanalytische Qualität. Es können aber auch alltagspraktische Inhalte sein, die im Setting der musikalischen Improvisation geübt werden, z.B. Durchsetzungsvermögen, Konfliktbereitschaft o.ä.; dann erhält die Musiktherapie verhaltenstherapeutische Qualität (vgl. KAPTEINA & HÖRTREITER 1993, 28 ff, 93 ff, 131 ff., KAPTEINA 1989 und 1999). Ambulante Musiktherapie mit Suchtkranken In den Einrichtungen der ambulanten Suchtkrankenberatung und Behandlung wird vereinzelt auch auf musiktherapeutische Methoden zurückgegriffen. KAPTEINA & HÖRTREITER beschreiben ausführlich, wie musikalische und bildnerische Prozesse während der einzelnen Phasen des Beratungs- und Behandlungsgeschehens genutzt werden (1993). In der Motivationsphase verhilft musikalische Improvisation während der Beratungsgespräche zu deutlicherer Exploration, in der Behandlungsphase kann Kontakt zu sehr frühen Traumata hergestellt und der Umgang mit angstbesetzten und vermiedenen Gefühlen gelernt werden und in der Rehabilitationsphase, die sich nachstationären Behandlungen anschließt, können alltagspraktische Problemstellungen probehandelnd bearbeitet werden (vgl. auch KAPTEINA 1996, 8 ff). Besonders wirksam ist die Alltagsnähe, mit der die Themen bearbeitet werden können, da die Patienten die Therapie – Erfahrungen direkt in ihrem sozialen Umfeld umsetzen können. Auch können die Angehörigen sowie die Kinder von Betroffenen in die Therapie einbezogen werden. Insbesondere bei jugendlichen Drogenabhängigen hat sich die praktische Bandarbeit mit Rockmusik als hilfreich erwiesen. Das lockere Spiel mit den Instrumenten ermöglicht die Erfahrung, dass man sich “den Kick“ eines befriedigenden und sinnerfüllendes Erlebnisses selbst verschaffen kann, ohne auf den Konsum der musikalischen Waren oder der Droge an103
gewiesen zu sein. Bei vielen Jugendlichen ist das “so sensationell, dass sie ihre Drogenproblematik u.U. geregelt kriegen” (HARTGENBUSCH 1993, 161, vgl. auch KAPTEINA & HÖRTREITER 1993, 255 ff, MARX 1985, 169 und 179). Die Musikerfahrung bietet ihnen “einen gesunden Ersatz für die Drogen” und zugleich ein “Lernfeld für das Leben ohne Drogen” (Butzko 1979, 148; vgl. auch DENTLER 1993). Stationäre Suchttherapie Musiktherapie wird in Kliniken für Entwöhnungsbehandlung suchtkranker Patienten in den überwiegenden Fällen unter die begleitenden Therapien eingereiht, wie Sport-, Beschäftigungs- oder Arbeitstherapie. Ältere Konzepte weisen eher freizeit- und kulturpädagogische Zielstellungen auf wie etwa “Erziehung zur Selbstdisziplin, Steigerung der Lern- und Merkfähigkeit, Verbesserung des Konzentrations- und Auffassungsvermögens, Erweiterung des Interessenhorizontes, Hinführung zu kultureller Tätigkeit, Vermittlung eines Gemeinschaftserlebnisses, Aufbau mitmenschlicher Kontakte, Mobilisierung des Pflicht- und Verantwortungsbewusstseins, Förderung der Fähigkeit zur Teilnahme an einem echten Leistungswettbewerb, Anregung zur Mit- und Selbstgestaltung sowie Förderung der Wissensbildung” bei FORMANN-RADL & KRYSPIN-EXNER (1976,91), wobei die Musikerfahrung als “Ersatzbefriedigung gegenüber der Droge” angesehen wird (ebd. 92, vgl. auch LECOURT 1979, 101). Das Handlungsrepertoire besteht aus “Musik hören, gemeinsamem Singen und Musizieren, Improvisation, Rollenspiel und Musiktheater.” Es soll das Gemeinschaftserlebnis fördern und zum gemeinsamen Gespräch über persönliche Probleme anregen (BULLINGER & WILL 1981, v. SCHULZ 1982, 101, vgl. auch BREITENFELD 1971, 141f, ROTHENBACHER & TRUÖL 1981, 201ff). Wolfgang MUNDERLOH hebt die Bedeutung von Rockmusik-Praxis in der Therapie mit Drogenabhängigen hervor. Blues Kadenzen und Rockriffs ermöglichen schon bei relativ geringem Instrumentalkönnen Erfolge im Zusammenspiel. Der Wunsch vieler Jugendlicher, ein Instrument zu spielen und sich musikalisch auszudrücken, wird dabei erfüllt. Außerdem können “Gefühle wie Wut, Ärger, Aggression oder Trauer” erlebt werden, die bis dahin mit Rauschmitteln unterdrückt oder reguliert wurden. Große Lautstärke und Rhythmus erzeugen eine Art “High-Zustand,” der als “Gegenentwurf zur Praxis des Drogenkonsums zu sehen” sei. Die Skepsis, durch Rockmusik-Praxis werde die Gefahr von Rückfällen erhöht, sieht MUNDERLOH in seinen therapeutischen Erfahrungen nicht bestätigt. Vielmehr würden die Jugendlichen, je länger sie aktiv musizieren, desto eher beginnen, langfristige Perspektiven für ihr Leben zu entwickeln. Sie lernen, dass sie in der Lage sind, “auch Situationen mit hohem Anforderungscharakter zu bewältigen,” sie erleben die “eigene Kreativität und Schaffenskraft” und entwickeln Kooperations- und Konfliktfähigkeit z.B. bei Auftritten (1993, 154f). Rezeptive Musiktherapie ist dann indiziert, wenn die Hörerfahrung in ein psychotherapeutisches Setting integriert ist, bei dem die Patienten in eine aktive Hörhaltung geführt werden (z.B. durch Entspannungsübungen) und die in solch aktivem Zuhören aktualisierten Gefühle aufgefangen werden. KAPTEINA & HÖRTREITER schlagen hierfür die Methode des Musikmalens vor, bei dem die durch das Hörerlebnis aktualisierten Gefühle und Lebensthemen im vorbewussten Vollzug von Bildern aufgenommen werden, die die Patienten während des Hörens malen (vgl. 1993, 53ff, 211ff). PFEIFFER, TIMMERMANN et al. schlagen folgendes Setting vor: Jeder Patient der Gruppe bringt in einer Sitzung eine Lieblingsmusik zu Gehör. Zuvor soll er der Gruppe mitteilen, welche Beziehung das Musikstück zu ihm selber hat und wie es in Zusammenhang mit seinem Suchtmittel Konsum steht. Nach dem Hören sollen die anderen Patienten über ihren Höreindruck berichten und ihn mit dem Bild zusammenbringen, „das sie sich bisher vom Mitpatienten gemacht hatten.“ In einem zweiten Teil der Sitzung im104
provisieren die Patienten ihren Musikeindruck mit Instrumenten oder setzen andere, durch das Hörerlebnis aktualisierte Themen in der Improvisation um. In einem dritten Teil der Sitzung wird das Erlebte besprochen (1986,237f, zit. in. KAPTEINA 1996, 357). Alle Autoren, die Musiktherapie als Psychotherapie verstehen, wenden die freie musikalische Gruppenimprovisation an. PURDON & HUTSCHENREUTER (1983) verbinden sie mit Entspannungsübungen, die durch das Klavierspiel der Musiktherapeutin induziert werden. Die dabei aktualisierten Bilder, Erinnerungen und Gefühle dienen als Ausgangspunkt für die Improvisation. Das anschließende Gespräch konzentriert sich auf die “beschreibbaren musikalischen Phänomene wie Form, Rhythmus, Lautstärke usw.”, die die Musik als wahrnehmbare Realität kennzeichnen und erst dann werden auch die Gefühle, Assoziationen und körperlichen Reaktionen, die bei der Musik erlebt wurden, beschrieben. Die freie Improvisation gilt als Schutzraum, in dem “man nichts falsch spielen” und jeder “seinen Weg in der Musik finden” kann (199f). Fritz HEGI (1986) betont für seine gestalttherapeutisch orientierte musiktherapeutische Arbeit mit Drogenabhängigen die Gefahr, dass die Musik zur “Ersatzdroge” und der Musiktherapeut zum “Dealer” werden kann, wenn es nicht gelingt, die süchtige Versorgungs- und Konsummentalität zu durchbrechen (vgl. 1986,194 und 199). Deshalb sollen sich die Patienten in einer Entspannungsübung zuerst ihrer Wünsche bewusst werden, bevor sie mit Improvisationsspielen beginnen. Für Holger ERHARD (1985) stehen in der Musiktherapie die Entwicklung von Phantasie und Aktivität, emotionale Erlebnisse, Beziehungsstörungen, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle sowie Zukunftsprojektionen und Verhaltensmodelle im Vordergrund. Er verbindet die Improvisation mit Spielregeln, die vom Therapeuten vorgegeben werden. Dabei wird zwischen “musikbezogenen Regeln, die die Aktionsebene festlegen” und “beziehungsbezogenen Regeln, die das Handeln in einem überschaubaren Rahmen halten” unterschieden (249). Die Improvisationen gelten dabei als Spiegel, in dem “Verhaltensweisen und Einstellungen (...) erlebbar und damit korrigierbar” werden. (251). Mit diesem verhaltenstherapeutischen Ansatz lehnt sich der Autor direkt an Christoph SCHWABE, den Mentor der Musiktherapie der DDR, an, der einen regelrechten musiktherapeutischen Behandlungsplan für die stationäre Behandlung Suchtkranker vorschlägt. Dieser besteht aus Instrumentalimprovisation als der “musiktherapeutischen Basistherapie,” die zwei Mal pro Woche stattfinden soll; hinzu kommt jeweils einmal pro Woche Bewegungsimprovisation nach “klassischer” Musik als musiktherapeutische Intensivtherapie sowie einmal pro Woche Gruppensingtherapie als Training geselligen Miteinanders ohne Droge. In der Anfangsphase der Therapie soll durch die Instrumentalimprovisation “lustbetonte Spannungsbzw. Affektabfuhr” ohne Suchtmittel erfahren, kreative Gestaltungsfreude zugelassen und entwickelt und emotional betonte “Ausdrucksgestaltung bezogen auf Sachobjekte, andere Personen und sich selbst” entwickelt und differenziert werden (1983, 193). Die Improvisation erfolgt nach “Handlungsanweisungen” des Therapeuten. An den drei genannten Förderungsbereichen orientiert enthalten sie “Darstellung von Gefühlen und affektbesetzten Situationen” zur Spannungs- und Affektabfuhr, die “Darstellung von Naturstimmungen, Tieren, Pflanzen, Tageszeiten” zum Zulassen und Entwickeln kreativer Freude an selbst bestimmtem Gestalten und die “Darstellung von Beziehungen zu bzw. innerhalb von Alltagssituationen ... zur Entwicklung und Differenzierung emotional betonter Ausdrucksgestaltung” (194). Bei Klaus FINKEL wird die musikalische Gruppenimprovisation mit dem Psychodrama ver105
bunden, (vgl. 1980, 175f), bei Ursula JETTER zusätzlich mit musikalischem und szenischem Rollenspiel, Puppen-, Masken- und Schattenspiel, Malaktionen, Bewegungsimprovisationen u.a.m. Durch diese vielfältigen Handlungsanreize sollen die Risikobereitschaft gefördert werden, die individuellen Ausdrucksmöglichkeiten und -bedürfnisse der Patienten berücksichtigt werden und das Prinzip der Improvisation als auf andere Erlebnisbereiche übertragbar und schließlich als Lebensprinzip erfahren werden, das neue Möglichkeiten im Umgang mit sich selbst, mit Natur und sozialem Kontext enthält (vgl.1986). Selten werden Einzeltherapien beschrieben (vgl. LANGENBERG 1983, TIMMERMANN 1983), was Anlaß gibt, die Stellung der Musiktherapie in der stationären Suchttherapie als Begleittherapie zu problematisieren. Oft ereignen sich in der Musiktherapie wesentliche psychotherapeutische Prozesse, ohne dass sie unbedingt in die psychotherapeutische Gesprächsgruppe, die in den meisten Kliniken das Kernstück der Behandlung ist, berücksichtigt werden. Viel günstiger ist die in die Gesprächstherapie integrierte Musiktherapie, bei der die jeweiligen Themen gleichzeitig verbal reflektierend und nonverbal handelnd bearbeitet werden. Gerade die suchtspezifischen emotionalen Abwehrmechanismen können auf diese Weise eher erreicht und genutzt werden als beim bloßen gesprächstherapeutischen Diskurs. Entsprechende Versuche werden bei KAPTEINA & HÖRTREITER (1993) und KAPTEINA (1989) dokumentiert. Bei dieser integrierten Musiktherapie sind die Musikinstrumente im Prozess der Gesprächsgruppe als zusätzliches Aktionspotential griffbereit und ermöglichen die unmittelbare Umsetzung von Gedanken, Gefühlen und Entschlüssen in praktisches Handeln. Seit den Achtziger Jahren fortschreitende Einsparungen auf dem Gebiet der SuchtkrankenBehandlung haben zur Folge, dass Musiktherapie kaum bei Suchtpatienten zur Anwendung kommt (vgl. Engelmann 1995, Fleming-Rabe, 1990). 2002 legt Klaus LEIDECKER die Ergebnisse zweier Praktika mit Musiktherapie auf einer Station für chronisch Abhängige und Patienten mit Korsakow-Syndrom vor. An einer Fallstudie macht er deutlich, wie er in einer morphologischen Methode Texte, Bilder, Collagen und Regelspiel auf Musikinstrumenten miteinander verbindet, um Vertrauen zu schaffen, Kraftquellen zu erschließen und zusammen mit dem Patienten in eine „schöpferische Suchbewegung“ zu kommen, bei der sie die hinter dem Alkoholismus liegenden seelischen Themen kennenlernen und gestalten (Wiesbaden 2002, 85-154). Suchtprävention Die Weltgesundheitsorganisation unterscheidet zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention. Tertiäre Prävention zielt auf die Reduktion der Rückfallgefahr bei Süchtigen nach der Therapie. Die ambulante Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe sowie Selbsthilfegruppen und ambulante Rehabilitationseinrichtungen nehmen sich dieser Aufgabe an. Sekundäre Prävention wendet sich an „bereits latent oder auch manifest Gefährdete, sogenannte Risikopersonen oder Risikogruppen” (FESER 1981,48), und primäre Prävention meint alle Bemühungen, die darauf gerichtet sind, alltägliche Lebensumstände so zu gestalten, dass die Menschen in ihren alltäglichen Realbezügen ihre emotionalen, geistigen, ideellen und sozialen Bedürfnisse in einer Weise befriedigen können, die süchtiges Verhalten überflüssig macht. Primäre Prävention müsste aus Sicht der Musiktherapie vor allem Aufgabe eines ganzheitlichen Musikunterrichts in der Schule und der sozialpädagogischen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sein. Dabei wären musikalische Erfahrungen, wie Tanzen, Singen, Musizieren, Musik Hören, nach Musik Malen von Pädagogen in einer Weise zu organisieren und zu begleiten, die sicher stellt, 106
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dass die psychophysischen Wirkungen des Musikerlebens als positive Alternative zur Drogenwirkung erfahrbar werden (vgl. EWERS 1991); dass Musik als körperliche Enervierung und Klangvibration, als Bewegung, als Schwingen im Rhythmus, als Mitvollziehen von melodischen und formalen Abläufen allein und im Miteinander der Gruppe als Zeit genussvollen Lebens erfahren wird; dass darin Gefühle angstfrei und ohne Bewertung, aber unter empathischer Begleitung, zugelassen, ausagiert und integriert werden können, auch und insbesondere aggressive und schmerzhafte, die sonst eher abgewehrt oder in der Sucht scheinbefriedigt werden; dass emotionale Erfahrungen auch Gegenstand bewussten Denkens und sein können und in geordnetem Dialog besprochen werden können; indem wir uns über die gemeinsamen musikalischen Erfahrungen austauschen, erhalten wir einen Eindruck von der Vielfalt subjektiver Erfahrung und dem Reichtum menschlicher Daseinsmöglichkeiten; dass in der musikalischen Erfahrung Begegnung und Auseinandersetzung, Konflikte und Konfliktlösung in der Gruppe erlebt werden, die Mut machen, auch im Alltag Konflikten nicht auszuweichen, und dass in der Musik symbolisch die Suche nach dem Sinn des Lebens stattfinden kann. „Sucht” kommt von „Suchen”, und der Suchtkranke verfolgt in seiner Sucht auch die verzweifelte Suche nach einem sinnerfüllten Leben. Die vielfältigen Situationen des musikalischen Erlebens können als symbolische Darstellung der unterschiedlichsten Lebenssituationen verstanden werden, die der Mensch zu erfassen und zu meistern hat; auch die letzten Fragen der menschlichen Existenz (wo kommen wir her, wo gehen wir hin, warum sind wir hier?) sind kaum in einer anderen Kunst so nachdrücklich aufgeworfen, wie in der Musik: “Musikzeit” steht in enger Beziehung zur Lebenszeit und damit zu den elementaren Grunderfahrungen des Lebens: “Da der spezifische Umgang mit der Zeit - die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Messung und Planung von Zeit, die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, des Lebens und des Todes ein Hauptmerkmal der menschlichen Existenz ist, kommt einer Kunst (...), deren Inhalt die Zeit ist, eine ganz besondere Bedeutung zu. Die Frage nach der zeitlichen Seinsweise der Musik lässt sich nicht trennen von der Frage nach der Seinsweise des Menschen” (Schneider 1992). “Das Leben bedeutet auf den Tod zuzugehen also sterben” (Willms 1991, 161), und in gleicher Weise strebt jede Musik unwiderruflich ihrem wie auch immer gestalteten Ende zu; indem wir einen musikalischen Prozess gestalten, thematisieren wir implizit die Endlichkeit und die grundlegenden Themen unseres Lebens.
Literatur: AUERBACH, L.: Musik als Massendroge unserer Zeit. Intervalle 4/1982, 41-48 BOLIN, N.: Musik - eine Droge? Musik und Unterricht 24/1994, 29-35 BREITENFELD, D.: Erfahrungen mit Musiktherapie bei hospitalisierten Alkoholikern: In: BULLINGER, M.E. & WILL, D.: Wirkungen von Musiktherapie im Rahmen der Behandlung Alkoholkranker, Diss. Heidelberg 1981 BUTZKO, H.: Freie Gruppenimprovisation mit Drogenabhängigen, in: FINKEL HE: Handbuch Musik und Sozialpädagogik, Regensburg 1979, 147-160 DENTLER, K.H.: Rockmusik-Machen als sozialpädagogisches Handeln. Musikthp. Abschlußvortrag, Siegen 1993 (inzwischen liegt zu dieser Thematik eine Dissertation des Verfassers vor) DÖRNER, K. & PLOG, U.: Irren ist menschlich, Bonn 1986 ERHARD, H.: Musiktherapie innerhalb eines Modellversuchs zur Therapie Abhängigkeitskranker: In: BSMT (Berliner Studiengruppe für Musiktherapie, HE): Musiktherapeutische Ausbildung und Praxis, Berlin 1985, 246268 ENGELMANN, I.: Musiktherapie in psychiatrischen Kliniken. Fragebogenuntersuchung zur Verbreitung und Durchführung, in: Der Nervenarzt 66, 1995, 217-224
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EWERS, S.: Musik als biologische Droge? Musik und Unterricht 24/1994, 40-42 FESER, H.: Drogenerziehung. Handbuch für pädagogische und soziale Berufe, Eltern und Studenten, Langenau Abbeck 1981 FINKEL, K.: “Einer spielt, wir alle spielen.” Musikalisch erweitertes Psychodrama mit Suchtkranken. Musik und Medizin 1/1980, 33-45 FLEMING-RABE, B.: Musiktherapie in der stationären Behandlung von Alkoholabhängigen, in: DECKERVOIGT HE: Musik und Kommunikation, Lilienthal 1990, 114-116 FORMANN-RADL, I. & KRYSPIN-EXNER, K.: Möglichkeiten der Musiktherapie bei Drogenabhängigen. Psychotherapie und Psychologie 26/1976, 85-95 FROHNE I.: Musik in der Therapie Drogenabhängiger. In: SPINTGE & DROH HE: Musik in der Medizin, Berlin 1987 243-252 GEIER, R.: Rausch als Identitätsersatz, in: SCHEIBLICH HE: Rausch, Ekstase, Kreativität, Freiburg 1987 HARTGENBUSCH, K.: Erfahrungen mit Rockmusik in der Drogenarbeit, in: HERING. et al. HE: Praxishandbuch Rockmusik, Opladen 1993, 159-161 HASELAUER, E.: Berieselungsmusik. Droge und Terror, Wien 1986 HEGI, F.: Improvisation und Musiktherapie, Paderborn 1986 JETTER, U.: Musiktherapie in einem psychiatrischen Landeskrankenhaus, in: LAUX et al. HE: Klinische Psychiatrie, II, 1986, 306-323 KAPTEINA H.: Heilendes und heilsames Musikerleben. Musiktherapie als Fachgebiet der “Ästhetik und Kommunikation” und Element des Qualifikationsprofils helfender Berufe, in: MARCHAL HE: Ästhetik und Kommunikation heute, Siegen 1999, 93-115 KAPTEINA, H. & HÖRTREITER, H.: Musik und Malen in der therapeutischen Arbeit mit Suchtkranken, Stuttgart 1993 KAPTEINA, H.: Ambulante Suchtkrankenberatung und -behandlung, in: DECKER-VOIGT et. al. HE: Lexikon Musiktherapie, Göttingen 1996, 8-13 KAPTEINA, H.: Musiktherapie für Suchtkranke. Musiktherapeutische Umschau 1/1989, 17-32 KAPTEINA, Hartmut: Musikunterricht und Suchtprävention: Musik und Unterricht 27/1994, 12-15 KLAUSMEIER, F.: Die Lust sich musikalisch auszudrücken, Reinbek 1978 LEIDECKER, K.: Studie „Klänge der Betäubung“ – Musiktherapie mit Alkoholikern, in ders.: Musik als Begegnung. Schöpferisches Handeln zwischen Pädagogik und Therapie, Wiesbaden 2002, LANGENBERG, M.: Grenzenlosigkeit als Verführung. Musiktherapeutische Umschau 2/1983, 117-134 LECOURT, E.: Praktische Musiktherapie, Salzburg 1979 LIEDTKE, R.: Die Vertreibung der Stille, München 1985 LEIDECKER, K.: Musik als Begegnung. Schöpferisches Handeln zwischen Pädagogik und Therapie, Wiesbaden 2002 MARX, H.: Gruppenunterstützte außerstationäre Therapie, in: KRAUSS & STEFFAN HE: “...nichts mehr reindrücken”. Drogenarbeit, die nicht bevormundet, Weinheim 1985, 167-177 MUNDERLOH, W.: “With a little help of my friends” - Rockmusik in der stationären Drogentherapie, in: HERING et al. HE: Praxishandbuch Rockmusik, Opladen 1993, 151-156 PFEIFFER, H., TIMMERMANN, T. et al.: Fallstudie: Gruppentherapie bei Süchtigen mit musiktherapeutischen Elementen: Gruppenpsychother. Gruppendynamik, 21/1986, 236-247 PURDON, C. & HUTSCHENREUTER, U.: Musiktherapie bei der Entwöhnungsbehandlung von alkohol- und medikamentenabhängigen Patientinnen und Patienten, in: SCHRAPPE HE: Methoden der Behandlung von Alkohol-, Drogen- und Medikamentenabhängigen, Stuttgart 1983, 197-203 RAUHE, H.: Aspekte einer Umweltverschmutzung durch Musik: Musik und Bildung 1/1977, 12-16 ROTH, D.: Modelle der Drogentherapie. Theorien und Praxisberichte. Köln 1977 ROTHENBACHER, H. & TRUÖL, L.: Ein differenzielles Behandlungsprogramm für Suchtkranke im stationären Bereich, in: KNIESCHEWSKI HE: Alkoholismustherapie. Vermittlung von Erfahrungsfeldern im stationären Bereich, Kassel 1981, 185-204 ROTTER, F.: Sozialpsychologie der Musik - einige Grundannahmen und Überlegungen. Musik und Kommunikation, 10/1984, S. 25-26 SCHNEIDER, R.: Musikzeit. Musik und Unterricht, 14/1992, 4-11) SCHULZ, J. v.: Heilende Kräfte in der Musik, München 1982 SCHWABE, C.: Musiktherapie bei Neurosen und funktionellen Störungen, Jena 1969 SCHWABE, Christoph: Aktive Musiktherapie für erwachsene Patienten, Stuttgart 1983 TIMMERMANN, T.: Einzelmusiktherapie mit einem suchtkranken Rockmusiker. Musiktherapeutische Umschau 1/1983, 39-50 WILLMS, H.: Umgang mit der Zeit und musikalisches Verhalten bei Zwangsneurotikern, in: BEHNE HE: Musikwissenschaft als Kulturwissenschaft, Regensburg 1991, 161 ZIMMERSCHIED, D.: Musikunterricht zwischen Klampfe und Walkman. Musik und Bildung 1/1982, 37-41
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Musiktherapie als Element der Qualifizierten Entgiftungstherapie ERSTE STUFE: MILIEUTHERAPIE (Keine Abspielgeräte auf den Zimmern. offene Hörprogramme für die ganze Station 30 - 40 min. 2-3 x tägl.; offene Hörstunden, 30 min. 2-3 x wöchentlich mit einführenden Erläuterungen und kurzen Feedback - Runden, mit thp. Personal) ZWEITE STUFE: “GENUSSTHERAPIE” (ärztl. verordnet, 2 x wöchentlich an den neun Kriterien für das genussvolle Musik Erleben orientiert; offene Therapiegruppe, mit Musik- und Cotherapeut) “SINGTHERAPIE” (1 x wöchentlich verpflichtende Teilnahme an der offenen Singgruppe mit Musik- und Cotherapeut) “MUSIK UND BEWEGUNG” (1 x wöchentlich verpflichtende Teilnahme an der offenen Tanzgruppe mit Musik- und Cotherapeut) DRITTE STUFE: MUSIKTHERAPIE (Sensibilisierung für Klang und Körpererfahrung, musikalische Kommunikation in der Gruppe mit Musik- und Cotherapeut)
Das Angebot der Qualifizierten Entgiftung richtet sich an suchtkranke Patienten, die bei einer Verweildauer von maximal 18 Tagen die Entgiftung in einer Suchtstation mit dem Einstieg in eine psychotherapeutische EntwöhnungsBehandlung verbinden wollen. Für diese Form der Entgiftung habe ich im Team der psychiatrischen Abteilung eines Allgemeinkrankenhauses das nebenstehende Konzept einer begleitenden Musiktherapie entwickelt. Die Erste Stufe gilt für alle Patienten der Entgiftungsstation und bestimmt das therapeutische Klima der Einrichtung. Die zweite Stufe gilt für Patienten, die in einen psychotherapeutischen Behandlungsprozess eintreten wollen, und die dritte Stufe können Patienten nutzen, die aus besonderen Gründen (z.B. wegen einer
Doppeldiagnose) längere Verweildauern haben. Musik Erleben - Genießen Lernen - Suchtverhalten Abbauen Der Unterschied zwischen Sucht und genießendem Verhalten liegt im Wechsel von Askese und Befriedigung (R. Lutz 1987, 415) Voraussetzung für musikalischen Genuss ist das Zulassen von Stille (Liedtke 1985, 214) Grundsätze für den genußvollen Umgang mit Musik: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Zeit Schaffen und Zeit Lassen Nichts anderes tun, als nur der Musik zuhören Das Verbot des genußvollen Müßiggangs aufheben Nicht nebenbei hören Der Wahrnehmung gestatten, sich der Musik uneingeschränkt zuzuwenden Die Eigenschaften der Musik beschreiben Eigene Bewertungskriterien herausfinden (was tut mir gut, was nicht?) Bewußt Ruhephasen für den Genuß von Musik im Alltag schaffen Einiges Wenige aus dem Angebot musikalischer Genussmöglichkeiten auswählen
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7.4
Musiktherapie mit alten und demenzkranken Menschen Zum Hören bei älteren Menschen: Mit zunehmendem Alter nimmt die Lautstärkewahrnehmung ab; Bei den über 50-Jährigen kann man feststellen, „dass Männer schlechter hören als Frauen.“ Trotz der Möglichkeiten, Hördefizite mit Hörgeräten auszugleichen, „ergeben sich Probleme für das Musikhören. Ein alternder Mensch hat trotz des Nachlassens seines Gehörs eine Präferenz für ein Klangspektrum von Musik. Die Korrektur der Hördefizite mit einem Hörgerät verändert den subjektiven Höreindruck gravierend. So ist es nicht verwunderlich, dass berichtet wird, wie ältere Menschen im Konzertsaal ein anderes (möglicherweise älteres) Hörgerät verwenden oder den Apparat sogar vollständig ausschalten“ (Herbert Bruhn: Musikalische Entwicklung im Alter, Musiktherapeutische Umschau 2003, 134-149, 135 f).
„Ältere Menschen hören Musik lieber leiser als jüngere, obwohl sie schlechter hören.“ Das hat mit den Hörgewohnheiten zu tun; erst Verstärkeranlagen der letzten zwanzig Jahre geben Musik laut und unverzerrt wieder. Außerdem gibt es auch physiologische Gründe: höhere Lautstärke verbessert nicht den Höreindruck bei Schwerhörigen, „sondern führt im Gegenteil zu Verzerrungen, die als unangenehm empfunden werden“ (ebd. 143 f.). „In Institutionen für ältere Menschen wie Pflegeheimen und Tagesstätten lässt sich Musik nicht einfach verordnen. Effekte hat Musik nur, wenn sie auf den individuellen Musikgeschmack eingehen kann. Vor Hintergrundmusik ist im Allgemeinen abzuraten“ (ebd. 143). „Grundsätzlich spricht nichts dagegen, noch in hohem Alter mit dem Musizieren zu beginnen. Es gibt keine signifikanten Korrelationen zwischen den Ergebnissen von Begabungstests und dem Alter. Auch die Lernfähigkeit scheint mit dem Alter nicht nachzulassen. Klavierunterricht mit Erwachsenen zwischen 60 und 84 Jahren erwies sich als erfolgreich, wenn die Teilnehmer daran interessiert sind. Der Lernfortschritt übertraf die Erwartungen der Teilnehmer oft, obwohl sie bedauerten, zu wenig Zeit zum Üben einsetzen zu können“ (ebd. 142). „Das Hören von Evergreens aus der Jugendzeit aktiviert signifikant wirksam die Erinnerung an frühere Lebensereignisse“. Das resultiert daraus, dass die für das Langzeitgedächtnis zuständigen Speicherareale mit den Sinnesorganen verbunden sind. „Auch der emotionale Gehalt von Musik wird in dieser Gehirneinheit verarbeitet (ebd. 139). „Bei Demenz bleiben die rhythmischen Fähigkeiten bei Musik am längsten erhalten“. Rhythmus scheint als „motorische Repräsentation“ in einer Art Körper-Gedächtnis unabhängig von gestörten kognitiven Fähigkeiten lange funktionstüchtig zu bleiben (ebd.). 110
Eine Besprechung von 38 klinisch empirischen Studien im Zeitraum von 1986-1998 aus dem angloamerikanischen Raum (M. Brotons: An overview of the Music Therapy Literature Relating to Elderly People, in: David Aldrige (Hrsg.): Music therapy in dementia Care, London and Philadelphia 2000, 33-62) belegt, dass durch Musik in der Pflege von an Demenz erkranken alten Menschen Verbesserungen in folgenden Bereichen herbeigeführt werden können: der Beteiligung an musikalischen Aktivitäten überhaupt, den sozial-emotionalen Fähigkeiten, der physische Begleitsymptomatik sowie bei den kognitiven Fähigkeiten. (vgl. Susanne Landsiedel-Anders: Ein Triptychon: Fallstudie eines schwer dementen Altenheimbewohners, Einblick 14, 2003, 116).
Nachgewiesene Effekte aktiven Musizierens und Musikhörens auf das Verhalten von Demenzkranken: Musikhören verringert Verwirrtheit, Ängstlichkeit und Depression Musiktherapie in Verbindung mit Verhaltenstherapie verbessert die Orientierung, die soziale Kommunikation und das Schlafverhalten Musikhören und aktive Musiktherapie reduzieren zielloses Herumirren und agitiertes Verhalten Das Anhören von ruhiger Musik wirkt beruhigend, schnelle Musik ist eher ohne Effekt Musikhören reduziert unruhiges Verhalten bzw. agitiertes Reden beim Essen Musikhören beim Essen veranlasst alte Menschen, mehr zu sich zu nehmen Musikhören beim Waschen und Baden verzögert den Ausbruch aggressiver Abwehr, so dass die Dementen kooperativer erscheinen, Musikhören vermindert das unvermittelte Schreien von dementen Klienten Tägliches Musikhören hat positiven Einfluss auf die Länge und Ruhe des Nachtschlafs zusammengestellt von Herbert Bruhn 2000 (121)
Ziele musiktherapeutischen Handelns mit alten Menschen: Emotionale Aktivierung Erinnerungsaktivierung Förderung sozialer Verhaltensweisen und Kommunikation Freude Gedächtnistraining / Realitätsorientierung Musikalische Kreativität / Ausdrucksfähigkeit / Fantasie Steigerung des Selbstwertgefühls Trauerarbeit nach Grümme (1997) zusammengestellt von Herbert Bruhn 2000 (121)
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Konsequenzen für die Pflege ein passendes musikalisch – klangliches Milieu herstellen Stille Phasen herstellen Naturklänge ermöglichen Vertraute Geräusche zulassen, fremde Geräusche meiden Biographie der musikalischen Präferenzen (wann und in welchen Zusammenhängen wurde welche Musik gehört) ein Musikprogramm herstellen (zusammen mit Bewohnern und Angehörigen) mit kurzen Musikzeiten (max. ½ Stunde) den Tagesablauf strukturieren gemeinsames Musikhören in regelmäßig gestalteten Musikstunden (Höratmosphäre schaffen, Kommentare, Gedichte etc.) mit Konzerten, Choreinladungen etc. den Jahresablauf markieren im häuslichen Umfeld: welcher Sender, bevorzugte Sendungen, bevorzugte Hörzeiten berücksichtigen musikalische Aktivitäten Singen Biographie des Singens erstellen Liedpräferenzen ermitteln Gesangssituationen ermitteln Singen in Sondersituationen (Singstunde) Alltägliches Singen Musizieren Mit Alltagsgeräuschen Tätigkeiten begleiten Mit Perkussionsinstrumenten Lieder begleiten Fantasieren am Klavier An musikalischen Kompetenzen anknüpfen Bruce Barber (Musik im Alter, Musik und Gesundheit 4/2002, 12-14) berichtet von Forschungen aus dem nationalen Alterns-Forschungsinstitut in Melbourne, bei denen „hirnelektrophysiologische Untersuchungen (EEG) über musikinduzierte funktionale Veränderungen in verschiedenen Strukturen und Regionen des Neokortex“ bei Alzheimer-Patienten durchgeführt werden. Trotz der im Labor gegebenen beeinträchtigenden Rahmenbedingungen (Messinstrumente, Skalp-Elektroden, Druckmesskammer am Arm) zeigen die Untersuchungen, dass die „Patienten sehr stark auf die eingesetzten musikalischen Stimuli reagieren, wobei aus früheren Lebensabschnitten bekannte Musik die größten Reaktionen hervorruft.“ Er schildert exemplarisch den Fall von Dorothy, einer Alzheimer-Patientin: „üblicherweise sitzt sie in ihrem Krankenzimmer mit dem Blick ins Leere gerichtet, ohne Wünsche zu äußern, ohne Erwartungen auszudrücken, sie hat keine besonderen Bedürfnisse nach Komfort, menschlicher Begleitung oder intellektueller Ansprache. Soziale Kontakte finden nicht statt. Versuche sprachlicher Kommunikation scheitern an entweder fehlenden Antworten oder an Antworten ohne jeden erfassbaren Sinn.“ Im Labor verhält sie sich völlig passiv, duldet aber das Anlegen der Untersuchungsinstrumente. Nach dem Anhören eines Stückes von Edward Elgar äußert sie sich mit einem einzigen Wort: „Liebe“ und lächelt. Als ihr aber eine Aufnahme von Art Tatum „Gone with the wind“ aus dem Jahre 1938 vorgespielt wird, beginnt ihre linke Hand, den Beat der Musik zu klopfen, sie lächelt und der Ausdruck der Gleichgültigkeit schwindet aus ihrem Gesicht. Auf Anfrage schildert Dorothy, wie sie früher mit ihren drei Freundinnen samstags zum Tanzen ging. „Für die folgenden 5 Minuten sprach Dorothy im Wechselgespräch
112
ohne erkennbare Beeinträchtigungen über Erinnerungen aus ihrem Leben. Danach fiel sie in ihren alten Zustand zurück“ (13).
Anschließend führt Barber aus, dass die fortschreitenden und irreversiblen pathologischen Veränderungen der Alzheimer Demenz zu Störungen des Gedächtnisses, zu Verhaltensabweichungen, emotionalen Störungen und sozialer Isolation führen. Dennoch scheint es bei der Musikwirkung zu zeitlich begrenzten, aber nachweisbaren Überbrückungen der gestörten Verbindungen zwischen Primärbewusstsein (Formatio Reticularis und Limbischem System) und den Funktionen des Neokortex zu kommen. „In Dorothys Fall hat die Musik eindeutig ihren Bewusstseinszustand auf ein höheres Niveau anheben können. Möglicherweise kann Musik so intensiv als Stimulus einwirken, dass limbische, subkortikale und kortikale Strukturen des Gehirnes auf ein quasi normales Aktivitätsniveau vorübergehend angehoben werden können, in dem neue Pfade geöffnet werden, die ihrerseits zuvor beeinträchtigte Funktionen des ZNV wieder möglich machen. Fragen der Forschung: In jedem Fall sind derartige Veränderungen Auch anhaltende Veränderungen durch des Bewusstseinszustandes, wie wir sie bei Musikwirkung? Dorothy beobachten konnten, ein wichtiges Musikwirkung auf andere Personen Ziel für zukünftige Forschung. Zum Beispiel übertragbar? ist die Frage zu klären, ob derartige Ist nur autobiographisch bedeutsame Musik Veränderungen auch anhaltend sein können wirksam? und auf andere Personen übertragbar sind. Sind spezifische musikalische Strukturen Kann eine noch zu entwickelnde musik- maßgeblich für die Verbesserung der Wirtherapeutische Methodik Demenz-Patienten kung? auch längerfristig auf einer höheren neurofunktionalen Leistungsebene halten? Kann nur autobiographisch bedeutsame Musik wirken, oder gibt es spezifische musikalische Strukturen, mit denen man die Wirksamkeit verbessern kann? Sicher ist, dass bei der zunehmenden Pharmakologisierung der Demenz-Behandlung auch Raum sein muss für nicht-pharmakologische Interventionen, will man dem Menschen als Ganzem gerecht werden“(14).
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„Was das Musikerleben von Altersschwerhörigen betrifft, so kann grundsätzlich gesagt werden, dass Musik für sie besser zugänglich ist als Sprache: Aufgrund des erheblich größeren Umfangs des Frequenzspektrums von Musik(ca. 16 bis 4608 Hertz) verglichen mit Sprache 250 bis2000 Hertz) ist ein Zugang über das Ohr selbst dann noch möglich, wenn Sprache nicht mehr auditiv wahrgenommen werden kann“ (180). Manuela-Carmen Prause: Hörschädigungen im Alter und ihre Konsequenzen für das Musikerleben und die musiktherapeutische Arbeit, in: Rosemarie Tüpker, Hans Hermann Wickel (Hrsg.): Musik bis ins hohe Alter, Münster: Lit, 2001, 177-197 Prause, Manuela-Carmen: Hörschädigungen im Alter und ihre Konsequenzen für das Musikerleben und die musiktherapeutische Arbeit, in: Tüpker, Rosemarie; Wickel, Hans Hermann (Hrsg.): Musik bis ins hohe Alter, Münster 2001, 177-197 "Der besondere Vorteil der Musiktherapie in der Arbeit mit altersschwerhörigen Menschen besteht darin, dass zum einen die nach der Hörminderung dringend erforderliche psychologische Betreuung erfolgen kann und zum anderen die sich in der rein verbalen Therapie ergebenden Kommunikationsprobleme aufgrund der im Vergleich zur Sprache besseren Zugänglichkeit von Musik ausgeschaltet werden können. Im Gegensatz zur verbalen Situation, bei der der altersschwerhörige Mensch stets unterlegen ist, findet er hier eine autonome, stressfreie Handlungsmöglichkeit, bei der er gleichwertig mit seinem Gegenüber (bzw. den Mitspielern) agieren und kommunizieren kann" (191). Bei der Improvisation können "von der Hörminderung verursachte psychosoziale Konflikte" aufgegriffen werden. Es kann "zum Entstehen eines Gemeinschaftsgefühles" beigetragen "und damit einem weiteren Rückzug Altersschwerhöriger in die Isolation" entgegengewirkt werden (ebd.). Frequenzspektrum der Musik: ca. 16-4608 Hz; der Sprache: ca. 200-2000 (180) Therapeutische Aspekte: ...letztlich geht es um die Versöhnung mit sich selbst (vgl. Fengler, Hörgeschädigte Menschen. Beratung, Therapie und Selbsthilfe, Stuttgart 1990), .. in der Musiktherapie „ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass das Hören und die Hörschädigung ‚Prozesse der Aneignung und des Verlernens, des Unterscheidens, Verlierens und Wiederfindens’ sind“ (Fengler ebd.) und man sich nicht als „Opfer der Hörschädigung betrachtet“ sondern sich ihr gegenüber stellt, „’sie als Begleiter zu betrachten und mit ihr ins Gespräch zu kommen, wie die z.B. von manchen Personen mit Tinnitus berichtet wird’“ (Fengler ebd.). Es sollten wenige und ausgewählte Instrumente zum Einsatz kommen; besonders geeignet sind „einfache Rhythmus- und Melodieinstrumente wie Sopran-, Alt- und Bassxylophon, Metallophone, Gitarren und mittelgroße Trommeln“; auch ist bei der Instrumentenauswahl an die „vibratorische Ergänzungsinformation“ zu denken (193). „Frauenstimmen werden von Altersschwerhörigen häufig als ‚schrill’ empfunden (194).
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Bei der Musiktherapie mit altersschwerhörigen Menschen in Gruppen ist darauf zu achten, dass 1. möglichst nur eine Person spricht und zu allen Blickkontakt hat, 2. der altersscherhörige Mensch beim Sprechen angeschaut wird und 3. nicht von hinten und von der Seite angesprochen wird, 4. man ruhig und etwas langsamer als normal, nicht zu laut spricht, 5. man das von anderen Gesagte wiederholt, 6. dafür zu sorgen, dass der Betroffene alles Gesagte versteht (keine Zensur im Sinne von „egal, ist nicht so wichtig“), 7. auf das Pfeifen von Hörgeräten einfühlsam hingewiesen wird damit die Einstellung korrigiert werden kann, 8. Störgeräusche und Lärm weitestgehend ausgeschaltet wird (194 f.) Jan-Peter Sonntag (MU 2005, 261-274) weist auf die Bedeutung der Hörwelt (das Sonambiente) hin, das auf demente Bewohner von Pflegeheimen einwirkt. Es sei „leicht vorstellbar, dass manch aggressives Verhalten oder auch Zustände von Apathie der Pflegeempfangenden besser verstanden werden können, wenn die Betreuenden ihre eigenen Sinne einsetzen, um die verursachenden (Schall-) Quellen auszumachen.“ Die Entwicklung der Wahrnehmungskompetenzen derer, die mit der Betreuung dementiell Erkrankter tätig sind, ist dafür erforderlich (267). Bei seinen Vorschlägen für die Entwicklung einer „ambientalen Perspektive“ am Beispiel des Altenpflegeheims betont Sonntag, „dass Klänge eine Beziehung zwischen uns und unserer Umwelt herstellen“, für die wir sensibel werden müssen. „Wir sind aktiv an der Gestaltung der Soundscapes beteiligt,“ ... auch wenn wir „Stille in die Klanglandschaft hinein“ komponieren (271). „Nähern wir uns dem Lebensraum Pflegestation aus musiktherapeutischer Perspektive, so wrid sich an dem Wohlbefinden der dort lebenden und arbeitenden Menschen einschätzen lassen müssen, ob sie ihren Bedürfnissen entspricht. Hierbei müssen wir uns auf unsere Beobachtungsgabe und intaktes Einfühlungsvermögen verlassen können.“ Man kann mit „Musikeinspielungen als Klangkulisse“ experimentieren, z.B. während der gemeinsamen Mahlzeiten. „Anregungen, im klingenden Miteinander zu experimentieren (272 f): Anbindung an vertraute Klänge Verwendung von geräuschdämpfenden Stoffen Anpassung an veränderte Hörfähigkeit Berücksichtigung des Bedürfnisses nach Sicherheit und Geborgenheit ... Einhüllung von Klängen“ Verwendung klanglicher Stimuli Klangquellen, die zu Begegnung und Interaktionen einladen Unterstützung zeitlicher und räumlicher Orientierung
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Musiktherapie und Sozialpädagogik
Christoph Schwabe, Ulrike Haase: Die Sozialmusiktherapie, Crossen 1998 Hartmut Kapteina: Dimensionen der Gruppenimprovisation, in: Hans-Helmut Decker-Voigt (Hrsg.): Musik und Kommunikation. Hamburger Jahrbuch zur Musiktherapie und intermedialen Therapie, Lilienthal 1988, 73-94 ders.: Musiktherapie in der Sozialarbeit, in: Peter Marchal (Hrsg.): Einführung in das Fach „Ästhetik und Kommunikation“, Veröffentlichungen des Forschungsschwerpunkts Massenmedien und Kommunikation (MuK) an der Universität GH Siegen 1989, 100-118 ders.: Heilendes und heilsames Musikerleben. Musiktherapie als Fachgebiet der „Ästhetik und Kommunikation” und Element des Qualifikationsprofils helfender Berufe, in: Marchal (Hrsg.): Ästhetik und Kommunikation heute, Siegen 1999, 93-115 Klaus Finkel (Hrsg.) Handbuch Musik und Sozialpädagogik, Regensburg 1979 Hans Hermann Wickel: Musikpädagogik in der sozialen Arbeit. Eine Einführung, Münster 1998 Klaus Leidecker: Musik als Begegnung. Schöpferisches Handeln zwischen Pädagogik und Therapie, Wiesbaden 2002
Aus dem Titel: Christine Mann u.a.: „Selbsterfahrung durch Kunst“ (Weinheim 1995) gebe ich nachfolgend unter dem Stichwort „Methodik ästhetischer Aneignung in der Sozialpädagogik“ eine kleine Zusammenfassung, die auch mit der Überschrift „ganzheitlicher Unterricht in Kunst, Musik und allen anderen Fächern“ versehen sein könnte: Methodik ästhetischer Aneignung in der Sozialpädagogik
1. ausreichend Raum und Zeit geben zur sinnlichen Erfahrung 2. es gibt kein richtig und falsch; jede subjektive Lösung würdigen 3. ausgewogenes Verhältnis zwischen sinnlichem Erleben und Reflexion anregen 4. Beziehung zwischen ästhetischer Erfahrung und Alltagsleben herstellen 5. über großes Repertoire an Möglichkeiten, ästhetische Erfahrungen anzuregen, verfügen 6. Vielschichtigkeit (Universalität) ästhetischer Erfahrung anerkennen: Sachaussagen, Assoziationen, Erinnerungen, Identifikationen, Projektionen, direkte Gefühlsäußerungen der Teilnehmer annehmen 7. Methoden der Gesprächsführung beherrschen und anwenden clientzentrierte Gesprächsführung (Rogers) themenzentrierte Interaktion (Cohn)
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In den Jahren 1987 und 1988 haben wir im Kreis Siegen Wittgenstein eine Befragung bei allen Trägern sozialer Arbeit über den Bedarf an musikbezogenen Kompetenzen bei Sozialpädagogen und Sozialarbeitern durchgeführt (vgl. Musiktherapie in der Sozialarbeit. Gegenwärtiger Stand und Konsequenzen für die Aus- und Weiterbildung, in: Marchal, Peter (Hg): Einführung in das Fach Ästhetik und Kommunikation, Siegen 1989, 100-118); die Ergebnisse zeigten Kompetenzbedarf auf den vier „Säulen der Musiktherapeutischen Ausbildung“ (Kasseler Konferenz): A. B. C. D.
Musikpraxis (Instrumente spielen können, singen können, improvisieren können ...) Selbsterfahrung (sich selbst kennen, wissen, wie Musik auf einen selbst wirkt, sich selbst annehmen und einbringen können ...) Praxiserfahrung (musiktherapeutische Settings kennen, Gruppen leiten können, Interaktionen gestalten können, Praxis reflektieren können, Supervision ...) Soziologisches, psychologisches und medizinisches Wissen (psychosoziale Konfliktfelder, Krankheitsbilder, Musikpsychologie ...)
Je nach Klientel werden verschiedene Kompetenzen zusätzlich genannt; z.B. für die Arbeit mit Heimkindern: A. Instrumentenbau, musikalische Hörstunden veranstalten können, Singen, Tanzen, Improvisation nach Regeln B. Einfühlungsvermögen, Frustrationstoleranz, Kreativität, Realitätssinn, konsequentes Verhalten C. Begeistern können
D.
In der Jugendarbeit: Sich musikalisch ausdrücken können, bestimmte Instrumente mit geringem Schwierigkeitsgrad spielen können (Gitarre, Schlagzeug, Keyboard3), damit man den Jugendlichen eigene Rockmusik – Praxis ermöglichen kann; außerdem wird verlangt: Singen, Liederrepertoire beherrschen, Tanz und Bewegung Reflexion der eigenen Jugendphase Sensibilität für die Geschichte und die besondere Entwicklungssituation der Jugendlichen Entwicklungspsychologie des Kinder- und Jugendalters, Jugendsoziologie
A.
Bei der Arbeit mit Behinderten: Selbst eine enge persönliche Beziehung zur Musik haben
-
A.
B. C.
3
Zur Frage der „Neuheit“ im Bereich der Rock- und Popmusik belegt Wolfgang Jaedke eine ganze Reihe musikalischer Konstanten, die für die Szene seit den 50er mit geringfügigen Abweichungen unverändert gültig sind: das Schlagzeug grundiert ein Stück von Beginn bis zum Ende das Instrumentarium besteht aus Schlagzeug, E-Bass, einer oder mehreren Gitarren, Keyboard, Gesang und ggf. ein Soloinstrument diese „spezifische Klangfarbe“ wird durch hinzukommende elektronisch erzeugte Klangeffekte modifiziert. Rock- und Popmusik ist Vokalmusik mit lyrischer Grundhaltung (Ausdruck eines fühlenden Subjekts), Varianten sind bei der Behandlung gesellschaftlicher Themen gegeben. Formales Kompositionsprinzip ist die Liedform (Strophen, Refrain) Rhythmisch dominiert der 4/4 Takt. „Tempo und Lautstärke variieren fast nie, höchstens in Abhängigkeit von Schlagfolge bzw. Besetzung“; die Rhythmische Gestaltung ist den bekannten afroamerikanischen Merkmalen verpflichtet: Offbeat, Synkopen, Schwerpunkt-Antizipationen, Kreuzrhythmen etc. (Wolfgang Jaedke: Popmusik als Epochenstil. Versuch einer musikhistorischen und musiktheoretischen Aufarbeitung. In: Helmut Rösing und Thomas Phleps (Hrsg.): Populäre Musik im kulturwissenschaftlichen Diskurs. Beiträge zur Popularmusikforschung 25/26, Karben: CODA Musikservice + Verlag, 2000, 201-206)
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B. C. D.
Eine positive Einstellung zu Behinderungen haben Abgestimmte Einstiegesmöglichkeiten kennen und anwenden können, auf die Geschichte und die behinderungsbedingten Besonderheiten eingehen können Krankheiten und Behinderungsarten kennen In der Beratungsarbeit: Offene musikalische Spielsituationen personenbezogen gestalten, begleiten und auswerten können Persönliche Ausstrahlung, die Mut macht zu musizieren Sensibel sein für Situationen, in denen man mit Musik besser weiter kommt als mit Gespräch -
A. B. C.
A. B. C. D.
In der Altenarbeit Musik flexibel einsetzen können (im Krankenzimmer, in der Gruppe, bei offenen Veranstaltungen) Existenzfragen, z.B. Tod, Glaube, bearbeitet haben Liebe, Verständnis für alte Menschen, Geduld Alterseinschränkungen und -krankheiten kennen
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Text zum Stichwort MUSIK aus dem Wörterbuch „Soziale Arbeit“, Weinheim 2003: Mit einem Erlass zum Studienfach „Ästhetik und Kommunikation“ legte 1976 das Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein Westfalen fest, dass zur sozialpädagogischen Ausbildung zwingend auch Vorlesungen, Seminare und Übungen gehören, welche die Studierenden befähigen, ästhetische Gegenstände differenziert wahrzunehmen und in den kommunikativen Prozessen des beruflichen Handelns schöpferisch zu nutzen. Obwohl der damals festgelegte Umfang des Lehrangebots nie erreicht wurde, ist noch heute die Fähigkeit, Musik reflektiert und methodisch anzuwenden, Bestandteil des sozialpädagogischen Qualifikationsprofils. Das belegt ein Blick in die aktuellen Vorlesungsverzeichnisse: Von 22 Hochschulen mit sozialpädagogischen Studiengängen in Deutschland erbringen lediglich zwei kein musikpädagogisches Angebot. Im Wintersemester 2002/2003 werden von den untersuchten Hochschulen 17 Vorlesungen und Seminare mit theoretischen Einführungen angeboten. Das Spektrum der Themen reicht von allgemeinen historischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Fragestellungen bis hin zu adressatenspezifischen Reflektionen über „Jugend und Musik“, „Geschlechterrollen in musikalischen Jugendkulturen“ und allgemeine didaktische Grundlagen der Musikpädagogik oder der Musiktherapie in Sozialarbeit und Sozialpädagogik sowie für einzelne Praxisprojekte. In 14 Veranstaltungen werden Praxisprojekte begleitet, wie Rockmusik mit Jugendlichen, Kindermusical, Kinderkunstwerkstatt, musikalische Spielgruppen und Konzerte mit Kindern, Radiosendungen, Fest- und Feiergestaltung, Musik oder Folkloretanz mit Senioren. In 52 Methodenseminaren und Übungen erhalten die Studierenden das methodische Rüstzeug für die musikpädagogische Arbeit mit den verschiedenen Klientengruppen. Es reicht von speziellen musikalisch handwerklichen Angeboten, wie Musiktheorie, Gehörbildung, Rhythmusarbeit, Singen und Instrumentalspiel mit Blockflöte, Gitarre, Rockmusikpraxis, auch Musik am Computer und digitale Medien, Hörspiel- und Videopraxis über Verbindungen mit anderen Ausdrucksformen, wie Bewegung, Tanz, Sprache, szenischem Spiel, Instrumentenbau oder Malen nach Musik, bis hin zu musikalischen Selbsterfahrungsgruppen und Einführung in die Orff-Musiktherapie. Mehrfach begegnet uns in den Vorlesungsverzeichnissen die musikalische Gruppenimprovisation. Sie ist nicht nur eine bewährte musikalische Methode in der Sozialpädagogik, sie repräsentiert vielmehr ein ganzheitliches ästhetisch-didaktisches Prinzip im Umgang mit Musik, welches in der Sozialen Arbeit als verbindlich anzusehen ist. „Gruppenimprovisation“ ist ein schöpferisches musikalisches Vorgehen, bei dem musikalisches Handeln und Lernen mit seelischem und sozialem Erleben unauflösbar verknüpft entwickelt und reflektiert wird. Dabei werden implizit die lebensweltlichen Beziehungen des Menschen und die grundlegenden Bedingungen seiner Existenz thematisiert. Musikalisches, emotionales, soziales, ästhetisches und politisches Lernen bilden dabei im Einklang mit psychischer Entwicklung und spiritueller Orientierung eine sozialökologische Einheit (Kapteina 2001). Die Gruppenimprovisation bietet als „elementare Musik ... einen Rahmen, der es möglich macht, als Einzelner, als Partner, als Gruppe, Erfahrungs- und Entwicklungschancen wahrzunehmen“ (Leidecker 2002, 28). Die Merkmale der Gruppenimprovisation sind generell auf kreative soziale Gruppenarbeit übertragbar: es muss, ausgehend von den vorhandenen ästhetischen Fähigkeiten der Adressaten, ausreichend Raum und Zeit zur sinnlichen Erfahrung gegeben werden. Dabei können Spielregeln oder freie situations- oder personenorientierte Ideen zu Grunde gelegt werden. Die Ergebnisse werden grundsätzlich nicht nach den Kategorien richtig oder falsch bewertet. 119
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Jede subjektive Lösung wird gewürdigt. Der Prozess wird in einem ausgewogenen Verhältnis zwischen sinnlichem Erleben und Reflexion gestaltet, wobei die ästhetischen Erfahrungen zum Alltagsleben in Beziehung gebracht werden. (vgl. Mann et. al. 1995)
Die Kompetenz des Sozialpädagogen besteht darin, dass er über ein großes Repertoire an Möglichkeiten verfügt, ästhetische Erfahrungen anzuregen. Er ist in der Lage, die Vielschichtigkeit (Universalität) ästhetischer Erfahrung anzuerkennen und Sachaussagen, Assoziationen, Erinnerungen, Identifikationen, Projektionen sowie direkte Gefühlsäußerungen der Teilnehmer anzunehmen und für die Entwicklung der Einzelnen und der Gruppe zu nutzen (vgl. Mann 1995). Musik in der Sozialen Arbeit befindet sich somit im Schnittfeld zwischen Musikpädagogik, „deren Ziel die Befähigung zum bewussten Umgang mit Musik, dem Verstehen von Musik und der Erlangung von Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Interpretieren, Komponieren und Improvisieren von Musik ist“, auf der einen Seite und Musiktherapie als Psychotherapie auf der anderen Seite (Wickel 1998, 10). Soziale Berufskarrieren verlaufen dementsprechend nach drei unterschiedlichen Orientierungen: Entweder werden die in der Ausbildung erhaltenen Kompetenzen in die Sozialpädagogik mit einem bestimmten Klientel integriert oder es werden künstlerische und musikpädagogische Fähigkeiten im Rahmen von gemeinwesenorientierter Kulturarbeit und –Management umgesetzt oder sie kommen in therapeutischen, rehabilitativen oder präventiven Maßnahmen des Gesundheitswesens zum Tragen. Entsprechende Zusatz- und Weiterbildungsangebote sind auf dem Markt (vgl. Seidel, 1992, Kapteina 2003) Musik und Soziale Arbeit mit Kindern wird von Sozialpädagogen in Vorschuleinrichtungen, Frühförderstellen und im Rahmen von Schulsozialarbeit praktiziert, um die Entwicklung ästhetischer sowie sozialer Kompetenz zu fördern und um bei der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten vorbeugend oder korrigierend einzugreifen. Spezielle Angebote für gefährdete Kinder werden als begleitende Fördermaßnahmen in Kindergarten und Kinderhort, Tageseinrichtungen und Schule eingeführt. Spielgruppen für Kinder und ihre Eltern sowie Familienorientierte Angebote, wie Musikfreizeiten, Familienwochenenden etc. unterstützen die familiäre Sozialisation (vgl. Forum Musiktherapie und Soziale Arbeit, in Kapteina 2003). „Mobile Musikschulen“ stellen Projekte der Gemeinwesenarbeit dar, die Konzepte für die musikalische Breitenbildung aus der Nachkriegszeit für die Jugendmusikschule aktualisieren. Musikpädagogisch qualifizierte Sozialpädagogen führen in Stadtteilen oder in abgelegenen ländlichen Gebieten Musikkurse durch, die sich explizit an Kinder aus benachteiligten Familien richten (vgl. Schreiber 2003). Auch bei der Jugendarbeit haben sich mobile Projekte bewährt. Rockmobile sind fahrende Musikstudios, zum Beispiel ausrangierte Linienbusse, die soziale Brennpunkte, Schulen oder abgelegene ländliche Ortschaften anfahren und dort Musikworkshops für Jugendliche und Unterricht im Gitarren-, Bass, Keyboard-, Schlagzeugspiel und Gesang durchführen (vgl. Hill, 1996, Dentler 2001). Entwicklungsbedingt spielen in der Jugendarbeit musikpädagogische Maßnahmen auf dem Gebiet der Pop- und Rockmusik eine zentrale Bedeutung. Sie bestimmen auch in stationären Jugendhäusern unter kommunaler oder kirchlicher Trägerschaft die musikalische Praxis. Sie werden meist in übergeordnete sozialpädagogische Zielstellungen eingebunden, wie Gewaltprävention und Entwicklung von sozialer Kompetenz und Basisqualifikationen (Dentler 2001) oder Prävention. 120
Neben den bereits erwähnten bei Mann et. al. beschriebenen musikalischen Angeboten in der Erwachsenenbildung kommt Musik im Bereich der Sozialen Arbeit bei der Beratung von Erwachsenen immer denn zum Tragen, wenn der verbale Diskurs die eigentlichen psychosozialen Problemstellungen nicht hinreichend erreicht. Das wurde für die ambulante Beratung und Behandlung von Suchtkranken und ihren Angehörigen von Kapteina und Hörtreiter exemplarisch dargestellt (1993). Auch in der Ehe- und Familienberatung können Rollenkonflikte, problematische Konstellationen im musikalischen Rollenspiel deutlich erkennbar und Lösungen erarbeitet werden. In stationären Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe bietet Musiktherapie in den Händen von Sozialarbeitern und –Pädagogen mit entsprechender Zusatzausbildung wichtige Beiträge zur wirksamen Bearbeitung vermiedener Emotionen und verdrängter Erlebnisinhalte. Des weiteren leistet Musik bei der Altenhilfe in Heimen und Pflegeeinrichtungen einen wichtigen Beitrag zur psychophysischen Gesundheit. Dabei kommt vor allem dem gemeinsamen Singen herausragende Bedeutung zu. Im Rahmen des Gruppen übergreifenden Dienstes organisieren Sozialpädagogen Singrunden und Tanznachmittage. Sie organisieren Kulturprogramme oder entwickeln zusammen mit Bewohnern Konzepte für die Gestaltung akustischen und des musikalischen Milieus in den Einrichtungen. Literatur: Dentler, K. H.: Partytime. Musikmachen und Lebensbewältigung. Eine lebensgeschichtlich orientierte Fallstudie der Jugendarbeit, Opladen 2001 Hill, B. : „Rockmobil“ - eine ethnographische Studie aus der Jugendarbeit. Opladen 1996 Kapteina, H. / Hörtreiter, H.: Musik und Malen in der therapeutischen Arbeit mit Suchtkranken, Stuttgart 1993 Kapteina, Hartmut: Gruppenimprovisation als Element des Qualifikationsprofils helfender Berufe. In: Ringgespräch über Gruppenimprovisation LXVII 2001, 35-44 Kapteina, H.: Musik zum Erleben, Helfen, Heilen, www.musiktherapie-SASP.de 2003 Leidecker, K.: Musik als Begegnung, Wiesbaden 2002 Mann, C. et. al.: Selbsterfahrung durch Kunst, Weinheim 1995 Schreiber, B.: MOMU, die Mobile Musikschule,
[email protected] 2003 Seidel, A.: Sozialpädagogische Musiktherapie. Anmerkungen zu einem Praxis- und Ausbildungskonzept, in: Musiktherapeutische Umschau 1992, 298-306 Wickel, H. H.: Musikpädagogik in der sozialen Arbeit. Eine Einführung, Münster 1998
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Neue Musik, Improvisation und ganzheitliche Musikpädagogik
Ökologie der Gruppenimprovisation Hartmut Kapteina „Gruppenimprovisation“ ist ein schöpferisches musikalisches Arbeitsprinzip, bei dem musikalisches Handeln und Lernen mit seelischem und sozialem Erleben unauflösbar verknüpft entwickelt und reflektiert sowie die Beziehung des Menschen zur Gesellschaft, in der er lebt, und die grundlegenden Bedingungen seiner Existenz thematisiert werden. Musikalisches, soziales, ästhetisches, politisches Lernen bilden im Einklang mit psychischer Entwicklung und spiritueller Orientierung eine sozialökologische Einheit. „Ökologie“ bedeutet in diesem Zusammenhang die ausgewogene und gleichrangige Berücksichtigung aller Aspekte menschlichen Erlebens, entsprechend der aktuellen Situation der beteiligten Personen im Sinne bedürfnisund situationsorientierter Pädagogik. Lernen erfolgt nicht nach einem vorgegebenen Lehrplan sondern orientiert sich an den Bedürfnissen und Fähigkeiten der betroffenen Personen sowie ihrer Lebenslage. Das Bild des Baumes veranschaulicht den musikalischen Lernprozess. Der Baum entfaltet sich mit seinem Ast- und Blattwerk dem Licht entgegen. So entfaltet der improvisierende Mensch seine musikalischen Fähigkeiten; er lernt Klänge differenziert wahrzunehmen, zu beschreiben und zu benennen; er lernt die verschiedenen Instrumente kennen und entwickelt die Fähigkeit, auf ihnen die Klänge und die musikalischen Verläufe zu realisieren, die seinen Vorstellungen entsprechen. Er lernt, mit seinen musikalischen Beiträgen auf den musikalischen Gestaltungsprozess der Gruppe einzuwirken, musikalische Formbildungen zu erfassen und die Musik der Gruppe zu analysieren. Die musikalischen Kompetenzen, die sich die Spieler bei der Gruppenimprovisation aneignen, können mit den Begriffen Musikalische Sensibilität Musikalische Phantasie und Kreativität Musikalisches Differenzierungsvermögen Musikalische Kritikfähigkeit zusammengefasst werden. 122
Das besondere am musikalischen Lernprozess bei der Gruppenimprovisation kommt jedoch in der besonderen Charakteristik der Baum – Metapher zum Ausdruck. Sein Ast- und Blattwerk vermag sich nur insoweit zu entfalten, wie sich gleichzeitig sein Wurzelwerk unter der Erde entwickelt. In gleicher Weise „wurzeln“ bei der Gruppenimprovisation die musikalischen Kompetenzen in seelischen Entwicklungen der Introspektion, der biographischen Verarbeitung und des emotionalen Ausdrucks. Bei der Gruppenimprovisation ist nicht vorgegeben, wer wann was wie zu spielen hat. Das hat zur Folge, dass jeder Spieler selbst entscheiden muss, wann er was wie spielt. Woher aber nimmt er die Kriterien für diese Entscheidungen? Nun, es gibt schlechterdings keine Instanz für sein musikalisches Verhalten in der Gruppe als nur seine ureigensten Intentionen. Und die kommen einzig aus seiner persönlichen Disposition. Die veranlasst ihn, dieses oder jenes Instrument zu wählen, diese oder jene Klänge zu bevorzugen oder zu vermeiden, diese oder jene Klänge seiner Mitspieler zu übergehen oder wahrzunehmen und sein Spiel an diesem oder jenen Klängen zu orientieren, sich hier oder dort anzuschließen, diesem oder jenem mit einem Kontrast zu begegnen, mit diesem oder jenem zu beginnen oder aufzuhören u.s.w. Das gemeinsame Gespräch über die Improvisationen offenbart, wie unterschiedlich die Intentionen der einzelnen Mitspieler während der verschiedenen Situationen des Spielverlaufs waren. Dabei wird implizit deutlich, wie sich Unterschiede in Charakter und Temperament im Spiel dargestellt haben. Es werden aber auch Grenzen der Wahrnehmung und des Verhaltens deutlich. Die Analyse der eigenen musikalischen Beiträge und der Musik der Gruppe wird so zum Prozess der Introspektion: So bin ich, so verhalte ich mich, so werde ich von anderen wahrgenommen, so reagiere ich auf andere. Gleichzeitig können solche Prozesse der Selbsterkenntnis Neugier und Lust wecken, es Kritische Anmerkung zur herkömmlichen Musikpädagoeinmal ganz anders zu machen, also neue gik: Verhaltensweisen auszuprobieren. Dann Die Metaphorik des Baumes legt nahe, dass bei der Verkann es zur Erweiterung es Verhaltensrenachlässigung der psychosozialen Implikationen des Musikerlebens die musikalischen Kompetenzen sich nur pertoires kommen und zur Entwicklung unzureichend entwickeln können. Sie sind nicht organeuer Einstellungen zu und Umgangsweinisch im Inventar der Persönlichkeit implantiert. Vielen sen mit sich selbst und anderen. Musikern dienen die Musikalischen AusdrucksmöglichDie musikalische Arbeit ist in der Grupkeiten zu Verdrängung und Eskapismus. Es ist zum Beipenimprovisation also immer zugleich spiel nicht möglich, ernsthaft mit ihnen über die bei der Musik erlebten Gefühle zu sprechen, ja, die Beachtung Auseinandersetzung mit der eigenen Perder emotionalen Beteiligung wird als störend bei der Erson; parallel zur musikalischen Kompeledigung der technischen Funktionen des Musizierens tenz entwickeln sich psychische Kompeempfunden. tenzen der Selbsterkenntnis und des UmZumindest für die Schulmusik ist diese Einstellung ungangs mit sich selbst. Die präventive Beangemessen. Schüler sollten Musik als Bereicherung ihrer Persönlichkeit erleben, kennen und nutzen lernen. deutung der Gruppenimprovisation ist damit unterstrichen. Nun haben es aber musikalische Ereignisse an sich, dass sie die Menschen oft tiefer und nachhaltiger berühren, als ihnen das lieb ist. Klänge rufen, bevor sie von den Instanzen des Bewusstseins verarbeitet werden, in den Steuerungszentren des Limbischen Systems in vegetative und emotionale Reaktionen hervor und verknüpfen sich mit Inhalten des Langzeitgedächtnisses; so kann es immer wieder bei der Gruppenimprovisation 123
vorkommen, dass Spieler mit frühen traumatischen Erlebnissen in Kontakt kommen. Dann erhält die Gruppenimprovisation tiefenpsychologische Qualität. Es muss Raum, Zeit und Zuwendung gegeben sein, damit die betreffende Person die durch die Klänge aktivierten Erinnerungen mitteilen und die mit ihnen verbundenen Gefühle ausdrücken kann. An dieser Stelle wird die Gruppenimprovisation zur Musiktherapie. Die Instrumente, die Klänge, die Musik und die gesamte Gruppensituation erhalten symbolische Bedeutung, Prozesse der Übertragung und Gegenübertragung werden wirksam, Regression auf frühere Phasen der Entwicklung. Im Bild ist dieser Bereich als unterirdischer Vulkan dargestellt. Bei einer guten Kanalisation der darin gebundenen Energie kann er zu einer warmen Quelle werden, die mit ihrem Mineralienreichtum das Wachstum des Baumes zusätzlich zu fördern vermag. In der Horizontalen ist der Baum mit seinem ökologischen Umfeld verbunden. Andere Pflanzen stehen mit ihm in Konkurrenz oder Kooperation. Damit soll angedeutet werden, dass die Prozesse der Gruppen Improvisation immer auch Prozesse der Auseinandersetzung mit anderen, mit der eigenen Rolle und dem sozialen Verhalten sind. Die Wahl des jeweiligen Instruments, die jeweilige Art es zu spielen sind zugleich Darstellungen der jeweiligen Eigenarten, wie sich der einzelne Spieler im sozialen Kontext verhält, sich Geltung und Aufmerksamkeit verschafft, seine Interessen geltend macht und realisiert. Die Gruppe als „Mini – Gesellschaft“ ist nicht nur Ort des sozialen sondern auch des politischen Lernens. Das Spiel der Klänge wird zur Stimmabgabe. Die Spieler erkennen, wie sie sich im Spiel an den allgemeinen Trend anpassen, unzufrieden werden, ihre Unzufriedenheit in Protest oder Resignation ummünzen, wie erfolgreich ihre Versuche verlaufen, das ganze zu verändern, sich einzurichten oder die eigenen Interessen zu vertreten. Das Spiel der Gruppenimprovisation wird zum gesellschaftspolitischen Planspiel. Eine Untersuchung bei ca. 80 Personen, die längere Zeit die musikalische Gruppenimprovisation praktizierten, zeigte, dass sie sich häufig in Parteien und Verbänden engagieren, ein Gespür für unhaltbare politische Zustände entwickeln und den Mut, dagegen vorzugehen (Kapteina 1976). Dieselbe Untersuchung ergab, dass diese Personen kritischer beim Umgang mit den Gegenständen des täglichen Lebens werden, insbesondere bei ihrem musikalischen und sonstigen Konsumverhalten die Strategien der Werbung und der Massenmanipulation durchschauen, wählerisch und genussfähig werden. Die differenzierte Wahrnehmung auf dem Gebiet der Musik übertragen sie als allgemeine ästhetische Kompetenz auf alle Bereiche der sinnlichen Erfahrung. Ästhetische und insbesondere die 124
musikalischen Erfahrungen der Gruppen Improvisation aktualisieren immer auch transzendente Themen der Spiritualität. Musik als gestaltete und vergehende Zeit wirft implizit die Fragen nach der Vergänglichkeit der Lebenszeit, nach der Flüchtigkeit des Lebens und der Beziehungen und danach, was jenseits dieser Grenzen liegt. Die Musik hat es mit dem Unaussprechlichen zu tun, mit Erfahrungsräumen vor und jenseits der Begrifflichkeit. Menschen erleben bei der musikalischen Improvisation Momente, in denen sie zeit- und raumvergessen den Ursprung ihrer Existenz erahnen und erspüren. Literatur: Hartmut Kapteina: Musikpädagogik und Alltagsleben, in: Archiv für Angewandte Sozialpädagogik 1976 Hartmut Kapteina: Dimensionen der Gruppenimprovisation, in: Hans Helmut Decker Voigt (Hrsg.): Musik und Kommunikation, Seevetal 1988, S. 73-94 Hartmut Kapteina: Heilendes und Heilsamens Musikerleben. Musiktherapie als Fachgebiet der „Ästhetik und Kommunikation“ und als Element des Qualifikationsprofils helfender Berufe, in: Peter Marchal (Hrsg.): Ästhetik und Kommunikation heute. Beiträge zu einem Studienfach und seinen Teilbereichen, Siegen 1999 s. außerdem Literatur im Lexikon Musiktherapie, Göttingen 1996 (Hrsg. Decker-Voigt): Hartmut Kapteina: Improvisationsbewegung, in Decker-Voigt (Hg), 137-139 Tilmann Weber: Improvisationsgestalt, ebd. 141-143 Eckhard Weymann: Improvisation, ebd. 133-137
Gesundheit / Leben
Vitalität
Ausgeglichenheit RITUAL
IMPROVISATION
Regelmäßigkeit
offenes Spiel
Ordnung
Chaos
Gewöhnung
Entgrenzung
Abhängigkeit
Zerfall Verwahrlosung
Zwang
Zerstörung
Erstarrung Krankheit / Tod
Fritz Hegi, Vortrag über Musiktherapie zwischen Improvisation und Ritualen Mai 1999
Fritz Hegi: Improvisation und Ritual; Schaubild aus „Komplex Welt der Sinne“, Wilhelmsdorf 2000
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Einiges zur Improvisation in der Musiktherapie
MUSIC THERAPY IS POSSIBLE THE ONLY IMPROVISATORY TRADITION IN THE WORLD THAT ENCOURAGES TOTAL MUSICAL FREEDOM AND HAS NO UNDERLYING MUSICAL STRUCTURES TO UNDERPIN IT. June Boyce Tilman: Constructing Musical Healing. The wounds that Sing, London 2000, 246
Auszüge aus Tilmann 2000 in der Übersetzung von H. Kapteina: Die Verantwortung des Therapeuten besteht darin, musikalische Strukturen zu finden, in denen die Ideen des Patienten aufgehoben sind (Tilman 2000, 217). Der Fähigkeit des Klienten, sich frei auszudrücken, mitzuteilen und zu entfalten, entspricht die Fähigkeit des Therapeuten, auf diese Freiheit mit den passenden stilistischen Mitteln einzugehen (216). Irving Yalom, dem Vater der Gruppenanalyse, folgend ist die Grundvoraussetzung jeder Therapie der Aufbau von Hoffnung. In der Musiktherapie kann Hoffnung entstehen, indem konsequent und verlässlich die Auffassung gilt und erlebt wird, dass es keine richtigen und falschen Antworten auf musikalisches Geschehen gibt und die Improvisation als ein Spiel in sicherem und geschütztem Rahmen erlebt wird (219). Zur Musiktherapeutischen Arbeit mit Gefühlen Smeijsters und van den Hurk (in: M. Heal and T. Wigram (eds): Music Therapy in Health and Education, London 1993) haben Vorschläge für die Behandlung von Gefühlen in der Musiktherapie vorgelegt. 1. Bei Aggressionen: Ermutige zum Ausdruck der Wut, bis sie „verraucht“ ist, das heißt, bis die Vehemenz nachlässt –hörbar in Lautstärke, Rhythmus und Tempo. Nach nicht allzu langer Zeit soll ein Ausgleich zwischen musikalischer Entspannung und Erleichterung entstehen. Ein solcher Vorgang nur einmal pro Sitzung. -
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Wenn die Vehemenz des musikalischen Ausdruck nicht nachlässt und zu erwarten ist, dass der Gefühlsausdruck eskaliert und in unkontrolliertes regressives Verhalten abgleitet, soll der Prozess gestoppt werden, indem man das musikalische Spiel in eine andere Richtung lenkt. Wenn das nicht gelingt, muss der Klient bei seinem Spiel auf dem gewählten Instrument gestoppt werden und ihm ein anderes angeboten werden. Nach dem Prozess des Zulassens rege den Klienten an, „eine Linie zu ziehen“, das heißt zu erkennen, wie weit man den Affektausdruck zulassen kann, ohne die Kontrolle zu verlieren. Hierbei ist es hilfreich, den Wechsel von musikalischer Spannung und Lösung im Zusammenhang mit emotionaler Entwicklung zu üben. Das Zulassen von Aggressionen sollte man unterlassen, wenn kein Verständnis entsteht zwischen dem Gefühl und der Lebenserfahrung und wenn der Gefühlsausdruck kein neues Material hervorbringt (255). 126
2. Bei Trauer Rege den Patienten an, symbolisch Abschied zu nehmen und zu geben, musikalisch in der Musiktherapie und nicht musikalisch außerhalb der Musiktherapie, z.B. mit einem geeigneten Ritual. Schätze den emotionalen Ausdruck vor dem Hintergrund ein, welche Möglichkeiten des emotionalen Ausdrucks der Patient in der Vergangenheit hatte (255). 3. Bei Gefühlen der Nutz- und Wertlosigkeit ist die Haltung des „musikalischen Nährens und Pflegens“ erforderlich. Drücke die Gefühle musikalisch aus. Wenn der Therapeut das mit dem Patienten und für ihn tut, soll er empathischen Techniken und seiner Gegenübertragung folgen. Wenn erforderlich, mache dem Klienten ein musikalisches Geschenk, das Eigenschaften besitzt, die ihn emotional berühren. Nimm symbolisch die Rolle der frühsten Pflegeperson des Patienten ein. Versuche die Gefühle des Patienten zu kompensieren, indem du die Improvisation so gestaltest, dass der Patient wahrnimmt, wie notwendig sein eigener musikalischer Beitrag ist (256). 4. Für den Aufbau von Selbstvertrauen Unterstütze den Patienten in einer weise, dass er sein eigens Spiel als einen wichtigen Beitrag für das Zustandekommen der Musik erlebt. Räume dem Patienten zur rechten Zeit die Rolle ein, selbst initiativ zu werden und den musikalischen Prozess zu bestimmen. Konfrontiere den Patienten mit abweichendem Material, wenn er sich wiederholt und auf ein und dieselbe Ausdrucksweise festgelegt hat (257). 5. Zur Beeinflussung von Verhaltensweisen Verbreitet ist die Auffassung, dass Verhaltensmuster mit musikalischen Mitteln beeinflusst werden können. Mit anderen Worten: Wenn sich musikalische Verhaltensmuster verändern, ändern sich die entsprechenden allgemeinen Verhaltensmuster. Hierbei ist das Konzept der „Integration“ zu Grunde gelegt: Nicht gelebte Möglichkeiten des Verhaltens werden erkannt, musikalischerlebt und auf generelles (Alltags-)verhalten übertragen. Dieser Vorgang kann durch folgendes therapeutisches Vorgehen gefördert werden: Rege den Patienten in der Improvisation zu Formen an, die verschiedene Elemente enthalten. Ermutige den Patienten, Motive zu variieren. Beziehe Ausdrucksweisen in das Spiel ein, die der Patient vermeidet. Lade den Patienten ein, andere Personen musikalisch darzustellen, auf die er Teile von sich projiziert hat. Ermutige den Patienten, über unbekannte und unverständliche Anteile von sich selbst zu improvisieren. Finde Instrumente, die entgegengesetzte Verhaltensmuster und Gefühlsäußerungen zum Ausdruck bringen (257 f).
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10 Weitere Themen der Vorlesung Rezeptive Musiktherapieverfahren Christoph Schwabe (Hg): Regulative Musiktherapie, Jena 1996 ders.: Entspannungstraining mit Musik, Leipzig 1987 Hermann Rauhe: Musik hilft heilen, München 1993 Musiktherapie bei Autismus Juliette Alvin: Musik und Musiktherapie für behinderte und autistische Kinder, Stuttgart 1988 Paul Nordoff, Clive Robbins: Musik als Therapie für behinderte Kinder, Stuttgart 1975 dies.: Schöpferische Musiktherapie, Stuttgart 1986 Karin Schumacher: Musiktherapie mit autistischen Kindern, Stuttgart 1994 dies.: Musiktherapie und Säuglingsforschung, Frankfurt am Main 2000 Musiktherapie mit Kindern Jutta Brückner u.a. Musiktherapie für Kinder, Berlin 1991 Beate Mahns: Musiktherapie mit verhaltensauffälligen Kindern, Stuttgart 1997 Und im FORUM MUSIKTHERAPIE UND SOZIALE ARBEIT: Musikalisch-therapeutische Gruppen- und Einzelarbeit in einem Kindergarten (Beate Mayerle-Jarmer) „Pass auf, dass du nicht auf einen Vulkan stößt!“ Musiktherapie mit Vorschulkindern dokumentiert anhand des Beispiels eines emotional verhaltensauffälligen Kindes in einem Kindergarten. (Ingrid Kolb) „Ich schenke Dir einen Klang“. Musiktherapeutische Einzelförderung in einem Kindergarten (Beate Mayerle-Jarmer) Musikalisch-therapeutische Arbeit mit Kindern in der Sozialpädagogik (Katja Brockhaus-Albrecht) Musikalisch-therapeutische Maßnahmen im Förderunterricht der Grundschule (Ursula Ufer) Musiktherapie bei Kindern mit ADS (Katja Fraaß) Musiktherapie mit Kindern an einer Schule für Sprachbehinderte (Elisabeth Heymann-Röder) Beziehung – Klang – Resonanz. Musiktherapie mit verhaltensauffälligen Grundschulkindern (Susanne Schmidt-Poschinski) Musiktherapie bei sexuellem Missbrauch (Doris Marnach) Musiktherapie mit verhaltensauffälligen Kindern (Daniela Münch) Musiktherapie mit krebskranken Kindern (Bettina Schreiber) Möglichkeiten und Grenzen musikalisch-therapeutischer Arbeit mit „verhaltensauffälligen Kindern (Renate Kowald) Atem und Stimme. Die heilende Kraft der Obertöne in der Musiktherapie mit schwer behinderten Kindern (Inge Kritzer) Zum Einsatz von Musik während der Dialyse von Kindern und Jugendlichen (Dorothea Strietzel)
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11 Anschriften, bei denen musiktherapeutische Weiterbildung, fachlicher Austausch und Interessenvertretung möglich ist: Neben der Akademie für Angewandte Musiktherapie Crossen, c./o. Klinik Klosterwald, Bahnhofstraße 33 in 07639 Bad Klosterlausnitz und der Universität in Siegen wäre hier zuallererst zu nennen: Die Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie (DGMT e.V.) Libauer Straße 17 10245 Berlin Telefon 030/29 49 2493 Fax 030/29 49 2493 Email:
[email protected] http://www.musiktherapie.de Für einen Mitgliederbeitrag von DM 200,- im Jahr (Studierende unserer Ausbildung bekommen Ermäßigung) erhält man das meiner Meinung nach wichtigste musiktherapeutische Fachorgan in deutscher Sprache, die Musiktherapeutische Umschau; 4 Hefte pro Jahr im Gesamtumfang von ca. 370 Seiten, außerdem zweimal im Jahr den „Info-Dienst“ mit aktuellen Insider-Informationen. In der Deutschen Gesellschaft für Musiktherapie gibt es eine Sektion Studenten. Die DGMT gliedert sich in Regionalverbände, ungefähr entsprechend den Bundesländern, sogenannten Landesarbeitsgemeinschaften. Die Landesarbeitsgemeinschaften für Musiktherapie und die Sektionen veranstalten Weiterbildungsveranstaltungen, Projektwochen etc. Über die Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie erhält man aktuelle Informationen über den gesamten Musiktherapiemarkt, Praktikumplätze, freie Stellen für Musiktherapeuten, Literatur, Ressourcen und vieles andere mehr.
Für jeden, der sich langfristig im Bereich der Musiktherapie engagieren und weiterentwickeln will, ist eine Mitgliedschaft in der DGMT sehr zu empfehlen. Für Fragen der berufsrechtlichen Anerkennung ist der " Berufsverband der Musiktherapeuten und Musiktherapeutinnen in Deutschland e.V." (BVM) maßgeblich. Der BVM veranstaltet auch Fachtagungen. Die Aufnahme in BVM als Mitglied beinhaltet die Berechtigung, den Titel Musiktherapeut/Musiktherapeutin BVM zu führen. Anfragen sind an die Geschäftsstelle des BVM, Bianca Thünemann, Steinfurter Straße 4 in 48268 Greven zu richten (Tel.: 02575/2282; Fax: 02575/970672; Email: BVM-Geschä
[email protected], http://www.musiktherapie-bvm.de ). Weitere Institutionen, die musiktherapeutische Fortbildungen durchführen sind: Freies Musikzentrum e.V. Ismaninger Str. 29 in 81675 München 80 Fritz Perls Institut für Integrative Therapie, Gestalttherapie und Kreativitätsförderung Wefelsen 5 in 42499 Hückeswagen und Internationale Gesellschaft für Musikpädagogische Fortbildung e.V. (IGMF) Postfach 14 43 in 57319 Bad Berleburg Informationen über Gruppenimprovisation erhält man als Mitglied im Ring für Gruppenimprovisation Matthias Schwabe Wilskistr. 56 14136 Berlin 37 und schließlich: über den aktuellen Berufs-, Aus- und Weiterbildungsmarkt informiert die Broschüre 2-II-A 3 „Blätter zur Berufskunde. Diplom-Musiktherapeut / Diplom-Musiktherapeutin“ der Bundesanstalt für Arbeit, zu beziehen über die Arbeitsämter.
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