Dr. Seltsam in Teheran

September 2, 2017 | Author: Michael Albrecht | Category: N/A
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Nr. 3

DIE ZEIT

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Nr. 3 12. Januar 2006 61. Jahrgang

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Lesen, schauen, hören: www.zeit.de/musik

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M E N S C H N E A N D E RTA L E R

Der berühmteste Deutsche

Joschka Fischer:

Mein Scharon Wie der Mann des Krieges den Frieden vorbereitet hat Seite 3 Die Welt hätte Ariel Scharon noch länger gebraucht Seite 2 Josef Joffe Der Kampf um die Nachfolge entscheidet über Israels Zukunft Gisela Dachs Seite 2

Keiner hat unser Menschenbild so verändert wie der Neandertaler. 150 Jahre nach seiner Entdeckung sagen uns die Forscher, wie er lebte – und wie er wirklich aussah

Ab ins »Netz 2006«: Fußball berührt alle

Wissen Seite 33–35

Foto: Model-Kopf eines Neanderthalers, fotografiert in der Sonderausstellung »4 Millionen Jahre Mensch« im Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart; United Exhibits/Science Photo Library / Agentur Focus

Dr. Seltsam in Teheran Irans Führung will die Bombe. Gemeinsam könnten die Großmächte sie stoppen Von Michael naumann riel Scharon wird Israel nicht mehr regieren. Bis auf Ägyptens Diktator Mubarak sind die Führer des nahöstlichen Ancien Régime aus der Geschichte abgetreten: Palästinas Jassir Arafat, Iraks Saddam Hussein, Syriens Hafis al-Assad, Saudi-Arabiens König Fahd. Gemeinsam pflegten sie ihre ohnmächtige Feindschaft mit Israel. Doch keiner von ihnen verfügte (anders als die Israelis) über die ultimative Waffe, die Atombombe. Ihre Nachfolger sind militärisch schwach und registrieren den neuen Nachbarn: die U. S. Army, mit 140 000 Soldaten auf dubioser Demokratisierungsmission im Irak. Solange die Amerikaner da sind, so lange wird es keine konventionellen Kriege mehr auf der arabischen Halbinsel geben. Nur ein islamischer Staat in der Region, Iran, lässt sich nicht zurückhalten auf seinem Weg zur nuklear bewaffneten Mittelmacht. Die »sehr, sehr verhängnisvollen Signale«, die Außenminister Frank-Walter Steinmeier aus Teheran vernommen hat, waren die bekannten: Die Mullahs pfeifen auf völkerrechtliche Bedenken und nehmen ihre Uran-Anreicherung wieder auf. An deren Ende steht atomwaffenfähiges Bombenmaterial. Am Dienstag drohte der Minister Iran mit »Folgen«. Selbst Russland und China zeigten sich »besorgt«. Doch deren Sorge grenzt an Heuchelei.

Illustration: Smetek für DIE ZEIT, www. smetek.de; Foto o. r. [M]: Elizabeth Dalziel/AP

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Iran, viertgrößter Energielieferant der Welt mit 70 Millionen Einwohnern, wird 27 Jahre nach der Chomeini-Revolution immer noch geführt von einer alternden Mullah-Elite und neuerdings von einer nachdrängenden Kohorte vierzig- bis fünfzigjähriger gewalt- und kriegserprobter Revolutionsgardisten unter dem Präsidenten Mahmud Ahmadineschad. Im Parlament haben sie die Mehrheit. Im Kabinett sitzen mit Innenminister Pur-Mohammadi und »Informations«- (sprich: Geheimdienst-)Minister Mohseni Eschei zwei Schreibtischtäter, auf deren Konten die Leben von über 2800 iranischen Dissidenten gehen. Diese wurden 1988 ohne Gerichtsverfahren in ihren Gefängniszellen ermordet – Studenten, »linke« Oppositionelle, Regimegegner. Wenn Teherans Präsident fordert, »Israel von der Landkarte zu radieren«, dann meint er das ernst. Dass es verrückte Staaten gibt, wissen die Deutschen aus ihrer eigenen Geschichte. Irans Führung ist dabei, verrückt zu werden. Mit Nordkoreas Hilfe rüstet das Land seine Armee mit Raketen aus – ganz gewiss nicht für konventionelle Sprengköpfe. Mit Russlands Hilfe baut es Reaktoren, in denen waffenfähiges Plutonium hergestellt werden kann. Mit Pakistans Hilfe hat es gelernt, A-Bomben zu konstruieren. Ob es in einem halben Jahr (wie israelische Experten vermuten) oder erst in vier Jahren (wie die CIA glaubt) über Atomsprengköpfe verfügt, spielt kaum eine Rolle. Am 18. Januar sollte eigentlich in Wien die nächste Gesprächsrunde beginnen zwischen Delegierten Irans und Diplomaten Großbritanniens,

Frankreichs und Deutschlands. Bisher ging es um die Frage: Ist das Land bereit, seinen so offenkundigen A-Bomben-Plänen abzuschwören oder nicht? Wahrscheinlich nicht. Worüber also noch verhandeln? Achtzehn Jahre lang hatten die Iraner kritische Teile ihrer Nuklearforschungslabors vor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) verborgen. Hinter doppelten Wänden eines Kraftwerks in Teheran entdeckten die Inspektoren im Februar 2003 Tausende Zentrifugen zur Uran-Anreicherung. Im Oktober desselben Jahres handelte Joschka Fischer in Teheran mit seinen Kollegen aus Paris und London eine Verpflichtung Irans aus, dieses Programm zu suspendieren. Doch von Jahr zu Jahr wurde klarer, dass die Regierung der Mullahs weder durch westliche Handelsangebote und Sicherheitsgarantien noch durch die Drohung eines israelischen Präventivangriffs zu beeindrucken war. Im Jahr 1981 hatte die Luftwaffe des damaligen israelischen Verteidigungsministers Scharon zwei Reaktoren Saddam Husseins bei Bagdad zerstört. Teheran hatte daraufhin seine nuklearen Rüstungs- und Forschungsanlagen auf über 80 zum Teil unterirdische Orte verteilt. Die amerikanische Forderung, Iran wegen Vertragsbruchs vor den UN-Sicherheitsrat zu zitieren, verschlägt bei den Mullahs nicht; sie haben sich der wirtschaftlichen Kooperation Russlands und Chinas versichert. Moskau hat Teheran vor einem Monat für eine Milliarde Dollar hochmoderne Abwehrraketen verkauft, hat außerdem einen ira-

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Atomkraft? Vielleicht! Der Strompreis steigt, und die Atomlobby wittert ihre Chance

Cerstin Gammelin und Fritz Vorholz Nicht aus der Steckdose: Woher Deutschlands Energie kommt

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nischen Militärsatelliten ins Weltall befördert und baut den 1000-Megawatt-Reaktor in Buschir aus. Peking hat mit Teheran einen Öl- und Gaslieferungskontrakt über 20 Milliarden Dollar geschlossen. Beide Veto-Mächte werden UN-Sanktionen gegen Iran zu verhindern wissen. Israelische Militärs hatten sich selbst bis zum März dieses Jahres eine Frist gesetzt: Sollte bis dahin Iran nicht vor den UN-Sicherheitsrat zitiert worden sein, wäre der point of no return überschritten. Liegt er auf jener »Linie«, die Steinmeier am Dienstag ins Spiel brachte? Die israelische Luftwaffe besitzt 500 hochmoderne Bunkerknacker-Bomben aus dem US-Arsenal. Doch in Wirklichkeit gibt es für Israel keine ernsthaften militärischen Optionen: Weder kann es als Hilfssheriff Washingtons auftreten, noch könnte es eine iranische Wiederaufrüstung verhindern. Mehr noch, auf Bombardements würde Teheran mit verstärktem Terror von Hisbollah und Hamas, zwei alten Kunden der Mullahs, reagieren. Bleibt also nur eine politische Lösung. Die aber hat sich die westliche Allianz bisher selbst verbaut. Die EU-Troika legte allerlei politische und wirtschaftliche Zuckerbrot-Angebote im Tausch gegen nukleares Wohlverhalten Irans auf den Tisch. Die Amerikaner drohten von fern mit der Peitsche und mit Verwünschungen. Mit dieser kuriosen Arbeitsteilung ließ sich kein politisch-psychologischer Druck aufbauen. Iran hatte zudem das Beispiel des anderen, des nordkoreanischen »Schurkenstaats« (George W. Bush) vor Augen. Weil er Atomwaffen besitzt, wird er nicht angegriffen. Für die Mehrheit der Iraner wäre die eigene Atombombe ein nationales Symbol nicht nur militärischer, sondern auch kultureller Gleichwertigkeit mit dem Westen. Ein Regime-Wechsel mit Unterstützung des Volkes liegt darum in weiter Ferne. Für den Westen und für Israel bietet sich nur eine letzte Strategie an: Bei Strafe der völligen wirtschaftlichen und absoluten diplomatischen Isolation wird Iran aufgefordert, stehen zu bleiben im Kreis der nuklearwaffenfreien Nationen der Welt. Dies aber setzt voraus, dass sich Russland und China von ihren geopolitischen Träumen am Golf verabschiedeten – und dass die nuklearen Großmächte endlich selbst ein Vorbild gäben. Mehr als 27 000 nukleare Sprengköpfe in ihren Arsenalen ruinieren jedes Abrüstungsargument. So bleibt denn, wenn auch die nächste Gesprächsrunde ergebnislos verlaufen wird, nur eine Gewissheit: Iran wird sich atomar bewaffnen, und die Mächtigen unter den Nationen schauen zu, ohne etwas tun zu können – oder zu wollen. Doch wenn der politische Irrsinn zur Atombombe strebt, ohne dass ihm die Stärkeren und Vernünftigeren in den Arm fallen, wird das Verhängnis, von dem Berlins Außenminister spricht, seinen Lauf nehmen. Audio a www.zeit.de/audio

DIE ZEIT

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Der vermeidbare Tod Die Vogelgrippe kommt näher.Aber Deutschland ist auf die Seuche besser vorbereitet als die Türkei Von Andreas Sentker s sind Bilder wie aus dem Mittelalter, die uns aus der Türkei erreichen; so primitiv sieht die Hatz auf Hühner, Gänse und Enten aus. Wären da nicht die Schutzmasken der Häscher, ihre Plastiktüten, in die sie hastig das Geflügel stopfen, kopfüber und noch lebend. Wären da nicht Bulldozer, die Gruben zuschieben, in denen inzwischen mehr als 100 000 Tiere liegen. Es sind Nachrichten wie aus einer unaufgeklärten Zeit. Menschen sterben an Unwissen. Kinder zahlen mit ihrem Leben für die Armut und Ahnungslosigkeit der Eltern, die auch todkranke Tiere noch schlachten und auf den Tisch bringen. All dies hätte verhindert werden können. Erste Fälle von Vogelgrippe waren bereits im Oktober im Süden von Ankara bei Wildvögeln nachgewiesen worden. Die Nachricht vom Eindringen der Tierseuche hat Teile des Landes offenbar bis heute nicht erreicht. Mangelnde Aufklärung, Täuschung, Verschleppung von Informationen – die Vorwürfe an die türkischen Behörden sind berechtigt. In Asien wurden bisher vorsorglich mehr als 150 Millionen Tiere getötet, die Türkei zögerte viel zu lange. Noch heute verstecken Kleinbauern ihre Vögel, zu niedrig sind die von der Regierung versprochenen Entschädigungen für gekeulte Tiere. Noch heute sammeln Kinder die Eier aus dem Kot, rupfen auf den traditionellen Märkten das Federvieh.

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Das Entsetzen in Europa ist groß, die Pa-

nik hält sich in Grenzen – zu Recht. Die ersten Todesopfer des Grippevirus H5N1 außerhalb Asiens haben die Bedrohung stärker ins Bewusstsein gerückt – aber nicht wachsen lassen. Noch immer ist die Vogelgrippe eine Tierseuche. Noch immer wird der Erreger nicht von Mensch zu Mensch übertragen. Gerade die Todesfälle in der Türkei zeigen in grausamer Klarheit, wie leicht sich der Mensch vor der Tierseuche schützen kann: Hühner gehören nicht ins Haus, Schlachtabfälle sind kein Spielzeug, kranke Tiere keine Lebensmittel. Und doch wächst eine berechtigte Sorge: Die Tierseuche ist näher an Europa herangerückt und damit auch an die großen Geflügelbestände in Niedersachsen oder den Niederlanden. Die Tiere sind schwerer zu schützen als die Menschen. Sie zu impfen verbietet sich, weil bei den bisher zur Verfügung stehenden Vakzinen geimpfte Tiere

nicht von erkrankten zu unterscheiden sind – und sich eine mögliche Seuche so der Kontrolle entzieht. Die Parole wird also wieder lauten: Ab in den Stall. Wichtige Vogelzugrouten führen über das östliche Mittelmeer und die Türkei. Bald werden Gänse und Störche zurückkehren. Sollte die Türkei die Seuche bis dahin nicht in den Griff bekommen haben, droht Europa die Ausbreitung der Krankheit – mit gravierenden wirtschaftlichen Folgen. Schon jetzt hat Verbraucherschutzminister Horst Seehofer angekündigt, Hühner und anderes Federvieh von Anfang März bis Anfang April wieder in die Ställe zu sperren. Die Proteste dagegen dürften leiser ausfallen als noch im Spätherbst. Das Einsperren mag die Tiere belasten, die sich im Stress bedrängen. Es mag die Biobauern belasten, die ihren Freilandhühnern ein Dach über dem Kopf bauen müssen. Aber es ist unvermeidbar. Akut lauert die Gefahr anderswo: in Kof-

fern und Reisetaschen. Nach dem Ende des islamischen Opferfestes kehren Tausende von Heimreisenden aus der Türkei nach Deutschland zurück – viele von ihnen mit kulinarischen Mitbringseln im Gepäck. In illegalen Fleisch- und Tierimporten sehen Experten derzeit das größte Risiko für eine Einschleppung der Seuche. Aber Deutschland ist besser denn je auf einen möglichen Ausbruch vorbereitet. Grenzkontrollen und hohe Geldstrafen schrecken Schwarzimporteure ab. Schon vor drei Jahren haben deutsche Behörden zeigen können, dass sie für den Ernstfall gerüstet sind: Ein Ausbruch der Geflügelseuche in niederländischen Ställen traf nur einen einzigen deutschen Hof. Auch für die Bevölkerung ist besser vorgesorgt. Medikamente können Leben retten, sollte die Krankheit je auf den Menschen überspringen. Und nach langem Drängen der Weltgesundheitsorganisation liegt auch in Deutschland endlich ein nationaler Pandemieplan vor. Vor allem aber gibt es hierzulande ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Gefahr. Wissen rettet Leben. Daran hat es in der Türkei gefehlt. Siehe auch Wissen, Seite 36 Audio a www.zeit.de/audio

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Für jeden, der schon einmal gekickt hat: Das große Online-Spiel zur WM auf www.zeit.de und im Leben S. 61

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POLITIK

" WORTE DER WOCHE »Eigentlich interessiert mich Politik nicht, aber wir wollen nicht, dass Scharon stirbt. Er ist ein guter Politiker.« Dror Jaron, israelischer Jugendlicher, nachdem Israels Premierminister eine Gehirnblutung erlitten hatte

»Immer habe ich darauf gewartet, dass Scharon endlich stirbt. Aber ich hatte gehofft, dass er durch eine Kugel stirbt.« Eine Palästinenserin, die in einem libanesischen Flüchtlingslager lebt

»Nehmt meine zwei Frauen, aber bitte lasst mir meine Hühner. Sie sind mein Ein und Alles.« Ein türkischer Bauer, der nach dem Ausbruch der Vogelgrippe um sein Federvieh fürchtete

»Es ist immer noch eine Tierseuche, die sporadisch und bei engem Kontakt mit infiziertem Geflügel auf den Menschen übergreift.« Klaus Stöhr, Leiter des Influenza-Programms der WHO, zur Vogelgrippe und zu deren Gefährlichkeit für Menschen

»Für den Rest meiner Tage werde ich ungeheure Traurigkeit in meinem Herzen spüren und Bedauern über meine Fehler.« Jack Abramoff, amerikanischer Exlobbyist, der wegen Bestechung einflussreicher republikanischer Politiker vor Gericht steht

»Warum hat man uns angelogen? Man hat uns Hoffnung gemacht. So etwas tut man einfach nicht.« Anna Casto, Cousine eines bei einem Grubenunglück getöteten amerikanischen Bergmanns, von dem es erst geheißen hatte, er und seine Kollegen hätten überlebt

»Ich verliere langsam die Geduld, die internationale Gemeinschaft verliert langsam die Geduld.« Mohamed ElBaradei, Chef der internationalen Atomkontrollbehörde IAEA, zum Nuklearstreit mit Iran

»Russisches Gas bleibt das Rückgrat der Energieversorgung der EU.« Martin Bartenstein, österreichischer Wirtschaftsminister, zum europäischen Energiemix angesichts fehlender eigener Energiequellen

»Der Koalitionsvertrag ist das eine, die Zusammenarbeit über eine längere Wegstrecke das andere.« Michael Glos, Bundeswirtschaftsminister, CSU, zur Verbindlichkeit des Koalitionsvertrags, der am Atomausstieg festhält

»Die Wähler wollen keinen Streit.« Christoph Böhr, rheinland-pfälzischer CDU-Vize, zum aktuellen Gerangel in der Großen Koalition

»Der Konjunktur, die leicht anzieht, Schwung zu geben ist etwas Wichtiges und in diesem Programm vernünftig festgelegt.« Angela Merkel, Bundeskanzlerin, zum Maßnahmenpaket, das die Große Koalition bei ihrer Klausurtagung beschlossen hat

" ZEITSPIEGEL Gemischtes Golf Die Europäische Union lässt keine Gelegenheit aus, ihre Beliebtheit auf den Britischen Inseln zu steigern. Nachdem der Streit ums Geld gerade glücklich beendet wurde, trifft die neueste Attacke aus Brüssel mitten ins Herz britischer Traditionshüter: Viele Golfclubs haben ein Regelwerk, das der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinie widerspricht. Clubbars, die nur männlichen Mitgliedern zugänglich sind, oder begrenzte Spielzeiten für weibliche Clubmitglieder werden deshalb bald der Vergangenheit angehören. Schon trommelt die Presse zum Widerstand und sucht nach Wegen, die Brüsseler Regel zu umgehen. »Reine Männerclubs« könnten nicht verboten werden, war zu lesen, denn diese seien vom Recht auf Versammlungsfreiheit geschützt. »Das ist schon möglich«, antwortet der britische Zivilanwalt Lord Lester of Herne Hill, selbst Mitglied der traditionsverliebten Oberschicht. Allerdings würden diese reinen Männerclubs bestimmt eine traurige Exis- tenz führen. »Gemischtes Golf macht doch einfach viel mehr Spaß.« ish

Doppel-Gockel Der Geist François Mitterrands, des vor zehn Jahren verstorbenen Präsidenten der Französischen Republik, hat Paris noch nicht verlassen. Wie ehedem wird er glühend verehrt oder leidenschaftlich gehasst. Gleichgültig lässt er keinen. Auch nicht seine ehemaligen politischen Gegner. Denn der Wettlauf um die politische Macht glich lange Zeit jenem zwischen Hase und Igel: Wo immer die Konservativen hinkamen, François Mitterrand war schon da. Böse Zungen behaupten, Mitterrand müsse heute noch fester Bestandteil der Albträume seines Nachfolgers Jacques Chirac sein. Kein Wunder also, dass Innenminister Nicolas Sarkozy, der Chirac bei jeder Gelegenheit zusetzt, mit warmen Worten über Mitterrand spricht. Seine Lieblingserinnerung stamme aus dem Jahre 1994, erzählt Sarkozy dieser Tage. Damals seien sie spazieren gegangen und hätten über Politik geplaudert. Plötzlich habe der 78jährige Mitterrand dem 39 Jahre alten Sarkozy die Hand auf den Arm gelegt und ihn ermahnt: »Wissen Sie, ich habe 30 Jahre gebraucht, um dort anzukommen, wo ich jetzt bin.« Leider verrät Sarko nicht, ob dies der Augenblick war, in dem er beschloss, für seinen Weg ins Amt des Präsidenten unter allen Umständen weniger als 30 Jahre zu brauchen. ISH

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12. Januar 2006

er hätte je die betretenen Gesichter auf den Bildschirmen erwartet, als die Nachricht vom Todeskampf des Ariel (»Löwe Gottes«) Scharon um die Welt ging? Den respektvollen Ton, die gefurchte Stirn? Sprachen sie von jenem Mann, der noch vor kurzem den Gottseibeiuns geben musste, vom »Schlächter« und »Kriegsverbrecher«, den selbst israelische Linke mit Nero verglichen hatten? Menachem Begins Kassenwart Simcha Ehrlich (so sollte kein Finanzminister heißen) tobte gar, dass Scharon seine Gegner ins KZ sperren würde, wenn er könnte. Geradezu liebevoll klingt dagegen der Autor Joram Kaniuk: »Ich habe Scharon stets gemocht – aber auch Angst vor ihm gehabt.« Angst hat er immer verbreitet, seitdem er als Sechsjähriger mit einem Knüppel durch sein Heimatdorf Kfar Malal zog. Die Scheinermanns (so hießen die russischen Eltern) waren mangels sozialistischer Gesinnung nicht sehr beliebt in der Genossenschaft, und das kriegte auch der Kleine zu spüren, der so sehr früh zu kämpfen lernte. Ferndiagnostiker behaupten, dass auch Scharons Leibesfülle auf diese Kindheit zurückzuführen sei: Da er sich von Vaters Erdnüssen und Avocados ernähren musste, sei er zum Liebhaber kalorienund vor allem mengenreicher Kost geworden. Sie haben ihn den »Bulldozer« genannt, den Mann, der »bei Rot nie anhält« (so der Titel einer Biografie). Er selbst nannte sich »The Warrior« (»Krieger«) in seinen Memoiren. Den treffendsten Titel aber liefert das Boxkampf-Vokabular: the Comeback-Kid. Denn seit Lazarus ist kein Mensch so oft wieder auferstanden wie Ariel Scharon – außer seinem Erzfeind Jassir Arafat, der verbreitete, Scharon habe ihn 13-mal umbringen wollen. Wer gern in der Psyche stochert, wird in Latrun anfangen, bei der Kreuzfahrerburg auf dem Weg nach Jerusalem. Dort war Scharon als 20-jähriger Zugführer im Unabhängigkeitskrieg 1948 in einen schlecht vorbereiteten Angriff gezogen, den nur vier seiner 35 Mann überstanden. Schwer verletzt, schleppte er sich zu einem Schlammloch, wo sich das Blut der Verwundeten mit der dreckigen Brühe mischte. »Ich starb vor Durst, ich zögerte, dann trank ich gierig die grün-rote Soße. Das war die größte Anstrengung meines Lebens.« Und der Stempel, der ihn prägte: kämpfen bis zum Letzten, überleben bis zum Letzten.

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König von Israel Haudrauf, Kriegsheld, Expansionist, Friedensfürst – die wundersamen Wandlungen des Ariel Scharon Von Josef joffe

Seine charakterliche Mängelliste ist so lang wie die seiner Großtaten Der Tod hat ihn nie losgelassen. Seine erste Frau starb, seine zweite starb, ein kleiner Sohn kam bei einem Schießunfall ums Leben. Er hat in allen fünf Kriegen von 1948 bis 1982 gekämpft – mutig bis zum Leichtsinn, verwegen bis zur Verantwortungslosigkeit. Die Lehre? »Ich habe so viele Gefahren überwunden; es berührt mich nicht.« Das ist das Motto aller mythischen Helden von Achill bis Siegfried. Zum Heldendasein gehört freilich auch der mörderische Makel, der zum Verhängnis wird. Scharon aber, dessen 78. Geburtstag am 27. Februar ansteht, wird friedlich im Bett sterben – obwohl seine charakterliche Mängelliste so lang ist wie die seiner Großtaten. Mehr noch: Dieser Comeback-Artist hat immer wieder auch dem politischen Tod getrotzt. Zum Beispiel nach der Episode »Einheit 101«, einer Anti-Terror-Truppe, die ihm 1953 übertragen wurde. Sie hat die Araber das Fürchten gelehrt, aber auch 69 Zivilisten in dem Westjordan-

Scharon hat immer Angst verbreitet

land-Städtchen Kibbiah umgebracht. Nach heftiger Kritik wurde sie aufgelöst, Scharon, der Mann fürs Blutige und Riskante, aber nicht geschasst. Ebenso rücksichtslos ging er mit dem militärischen Reglement um. Im Sueskrieg 1956 hatte Scharon Order, im Sinai vor dem Mitla-Pass anzuhalten. Der Ruhmsüchtige aber provozierte ägyptische Angriffe, um so einen Vorwand für die Eroberung des Passes zu haben. Pech nur, dass dort eine überlegene Streitmacht auf ihn lauerte. 38 Israelis fielen, 120 wurden verwundet. Nur knapp schrammte Scharon am Kriegsgericht vorbei. Aus dieser Zeit stammt auch der Tagebucheintrag von »Gründervater« David Ben-Gurion: »Ein origineller, visionärer junger Mann. Wenn er den Fehler vermeidet, die Unwahrheit zu sagen und ins Gerede zu kommen, wird er zu einem außergewöhnlichen militärischen Führer heranwachsen.« Der wurde er. Jedenfalls gewann er im Sechstage- wie im Jom-Kippur-Krieg die entscheidenden Schlachten. Die Panzerschlacht von Abu Ageila öffnete 1967 den Weg zum Sueskanal, aber der Kriegsheld musste bald erkennen, dass sie ihn, den Ungezügelten, nicht zum Generalstabschef machen würden. 1973 nahm er Abschied – bis zum nächsten Comeback, als im Oktober der JomKippur-Krieg ausbrach. Israels Überleben schien im Zweifrontenkrieg auf der Kippe zu stehen. Wer wollte sich da noch um den militärischen comment sorgen? Scharon bekam eine Panzerdivision und stieß über den Sueskanal Richtung Kairo vor. Wieder hatte er gegen »Halt!«-Befehle verstoßen. Diesmal landete er vor einem Militärtribunal, das ihn, den die Soldaten als »König von Israel« feierten, freisprach, weil er, ja nun, den Krieg gewonnen hatte. Trotzdem musste er 1974 gehen. Karriere zu Ende? Jetzt fing sie erst richtig an. Er gründet eine Partei, Frieden für Zion, greift sich dann die müde Rechtspartei Cherut und vereint sie mit den Liberalen zu jenem Likud, der unter Begin 1977 die Linke aus der Macht vertreibt. In den nächsten Jahren mausert sich der General zum politischen Ein-Mann-Establishment – als Minister für fast alles: Agrar, Verteidigung, Handel, Bau, Außen. Als Verteidigungsminister führt (verführt) er sein Land 1982 in den törichtsten aller Kriege. Er wolle nur ein bisschen im Südlibanon aufräumen, gaukelt er Premier Begin vor. Tatsächlich marschiert Scharon bis Beirut, um dort ein genehmes Regime zu installieren. Der Vorstoß währt 18 Jahre, und Scharon muss demissionieren, weil ihm eine Untersuchungskommission »Mitverantwortung« am Massaker von 800 Palästinensern durch libanesische Falangisten bescheinigt. Ende? Es folgt das allergrößte Comeback. Von einem Vertrauten, Uri Dan, stammt der Satz: Wer Scharon nicht als Generalstabschef will, bekommt ihn als Verteidigungschef; wer ihm den verweigert, kriegt ihn als Premier. So geschah es am 6. Februar 2001, als Scharon gegen Ehud Barak triumphierte. Hat er die Intifada, die ihn an die Macht brachte, mit seinem Ausflug auf den Tempelberg provoziert? Marwan Barguti, der talentierteste Palästinenserführer, der wegen Mordes in Israel einsitzt, verneint es. »Die Explosion hätte auch ohne ihn stattgefunden. Aber Scharon lieferte einen guten Vorwand. Er ist ein verhasster Mann.« Trotzdem begann damals die wundersame Wandlung des Ariel Scharon, die vergangene Woche für Genesungswünsche aus aller Welt, inklusive der arabischen sorgte. Der Siedlungsstratege, der Mann, der immer nur bis zum nächsten Sieg denken konnte, als weltweiter Trauerfall?

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War es die Altersweisheit, der Wunsch, nicht als Kriegs-, sondern als Friedensherr in die Geschichte einzugehen? Plötzlich sprach Scharon von einem Palästinenserstaat, von schmerzlichen Zugeständnissen. »Glauben Sie mir,« beteuerte er im Gespräch mit der ZEIT Ende 2001, »ich verstehe den Vorrang des Friedens besser als viele Politiker, die nie im Krieg gewesen sind.« Die Wahrheit ist komplizierter. Wie alle überlebensgroßen Führer war auch Scharon einer, der zugleich zieht und gezogen wird, der das Volk führt, indem er spürt, wo es hinwill. Und das wollte weg von den Palästinensern, weg auch von den Siedlern, die Israel als Geisel genommen hatte. Hier begann der Gaza-Abzug zu keimen.

Scharon hat den Terror nicht besiegt, aber reduziert Der zweite Wandel war ein paradigmatischer: nicht mehr »Land für Frieden«, sondern »Land für Sicherheit«. Der Unterschied? Er lag in der Erkenntnis, dass Israel, obgleich regionale Supermacht, weder über ein fremdes Volk herrschen noch mit ihm Frieden schließen könne. Für Frieden war Arafat, der den Terror zugleich negierte und nutzte, der Falsche – und sein Nachfolger Machmud Abbas ebenfalls, weil er zu schwach war, Hamas et al. zu entwaffnen. Fazit: kein Krieg, kein Frieden, kein »Oslo«, kein »Camp David«, sondern Trennung durch Abzug und Zaun. Ein anonymer Berater drückte es im New York Times Magazine so aus: Die Barriere sei »eine physische und mentale Mauer; wir wollen den Arabern den Rücken zuwenden und mit ihnen nichts mehr zu tun haben. Wir wollen nicht mehr zum Nahen Osten gehören.« Oder so: Vielleicht schaffen sich die Palästinenser einen funktionierenden Staat, vielleicht nicht (zurzeit, da in Gaza der Machtkampf aller gegen alle tobt, eher nicht). Dann sehen wir weiter. Ein linker Literat wie Amos Oz sieht es ähnlich: »In Camp David offerierte Barak einen Palästinenserstaat auf 94 Prozent der besetzten Gebiete, plus Gebietsaustausch, plus Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Arafat lehnte ab. Jetzt befürchte ich, dass sie Palästina auf dem Schlachtfeld, nicht am Verhandlungstisch gründen wollen. Das ist heroischer, machomäßiger.« Das dritte Element war der »alte« Scharon par excellence: ein ebenso gnadenloser wie erfolgreicher Kämpfer gegen den Terror. Er ließ die Armee in das Westjordanland einmarschieren, machte »gezielte Tötungen« zum Programm gegen jene, die die Bomben auf zwei Beinen losschickten. Die Statistik gibt ihm Recht. 2002 wurden 452 Israelis umgebracht, 2003 waren es 214, 2004 117, 2005 nur noch 45. Scharon hat den Terror nicht besiegt, aber reduziert – auf ein Zehntel. Deshalb sind ihm die Israelis beim Gaza-Abzug gefolgt, deshalb waren sie nach Umfragen bereit, seiner neuen Partei Vorwärts die Löwenanteile der Sitze in den Märzwahlen zuzugestehen. Vor drei Jahren fragte ihn Vanity Fair, wie sein Nachruf beginnen sollte. »Ich weiß nicht, es ist noch zu früh.« Im April 2005 entschuldigte er sich bei seinem Kabinett, weil er seine Tante begraben müsse. »Freut euch nicht zu früh. Sie war 100; in meiner Familie sind wir sehr langlebig.« Heute wünscht sich die Welt, dass Scharon so zäh wäre wie seine Tante. Warum? Weil er einer der wenigen ist, die Führung nicht mit »Basta« und Wandlungsfähigkeit nicht mit Opportunismus verwechseln? Schon verschwindet die Antwort im Mythos. Ein Comeback wird diesmal nicht sein.

Der Nachfolger des Riesen wird gesucht Tel Aviv atürlich träumte Ehud Olmert davon, ganz nach oben zu kommen. Aber er hatte sich bestimmt weniger tragische Umstände gewünscht, die ihm nachts plötzlich alle Verantwortung des Ministerpräsidenten übertragen haben. Seither sitzt Ariel Scharons Stellvertreter neben einem leeren Kabinettssessel und leitet mit staatsmännischer Gelassenheit die Geschäfte. Das vermittelt Kontinuität in der Krise. Ariel Scharons Schlaganfall beschäftigt das Land rund um die Uhr. Die Parallele zu dem Schock über Rabins gewaltsamen Tod vor zehn Jahren mag ein wenig überzogen sein, doch fühlen sich viele Israelis ähnlich verwaist. Wieder entschwindet eine Vaterfigur der Gründergeneration, die in der Krise Halt und Zuversicht ausstrahlte. Wie einst Rabin hatte auch Ariel Scharon gerade erst einen neuen Weg eingeschlagen, der eine bessere Zukunft verhieß. Olmert, früher einmal sein Parteirivale ohne Chancen, war dabei sein nächster Vertrauter. Ihm wird die Autorenschaft für den Abzug aus dem Gaza-Streifen zugeschrieben. Er folgte Scharon als Erster aus dem Likud in dessen neue Zentrumspartei Kadima. Olmert war seine inoffizielle Nummer zwei, die genauen Listenplätze hatte Scharon in diesen Tagen festlegen wollen. Dazu kommt es nun nicht mehr. Jetzt muss Olmert die Gruppierung aus prominenten Abtrünnigen aus Likud und Arbeitspartei zusammenhalten. Sie hatten sich ideologisch und persönlich um einen Mann geschart. Kann Olmert es schaffen, die Popularität von Kadima ohne ihren Gründer zu erhalten? Die jüngsten Umfragen zumindest sind optimistisch. Demnach würde Kadima auch mit Olmert an der Spitze bei den Wahlen Ende März mit Abstand die meisten Knesset-Sitze erhalten. Bis dahin aber kann noch vieles passieren. Es ist die große Prüfung für den 60-jährigen ehemaligen Bürgermeister von Jerusalem. In Scharons Fußstapfen wird er so schnell nicht treten können. Zwar gilt er als ein erfahrener Politiker, doch

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Ariel Scharons neue Kadima-Partei ist plötzlich ohne ihren Gründervater. Jetzt muss sein Nachfolger Ehud Olmert dessen Erbe sichern Von Gisela Dachs

der Image-Unterschied ist zu groß zwischen dem einstigen Kriegshelden Scharon und Olmert, der einen Teil seines Militärdienstes als Reporter für die Armeezeitung Bamahane verbracht hat. Eine große Anhängerschaft hatte er nie. Dass sich der einst jüngste Abgeordnete der Knesset ideologisch immer wieder im Zickzack bewegte, trägt dazu bei. In den achtziger Jahren war er schon einmal von der traditionellen Likud-Linie abgewichen, als er sich für eine palästinensische Autonomie einsetzte. Doch mit seinem Einzug ins Rathaus von Jerusalem wurde er schnell wieder zum SiedlerFreund. Heute ist er davon überzeugt, dass auf den Abzug aus dem Gaza-Streifen ein weiterer aus dem Westjordanland folgen muss. Mit oder ohne Abkommen mit den Palästinensern. Scharon mag ähnlich gedacht haben, doch hielt er sich mit solchen Erklärungen zurück. Mit seinem gewaltigen Vertrauensvorschuss bei den Wählern konnte er es sich erlauben, die Karten eng bei sich zu behalten. Olmert wird sein Erbe klarer formulieren müssen. Beim Abzug aus Gaza stand Scharon auch eine Ministerin zur Seite, Zipi Livni, der viele noch eine große Zukunft voraussagen. Ohne sie wäre der Abzug womöglich gar nicht zustande gekommen. Vor der wichtigsten Abstimmung im Kabinett hatte sie zwischen Scharon und seinen Gegnern vermittelt, um im letzten Moment doch noch eine Stimmenmehrheit zu erreichen. Der so genannte LivniKompromiss ermöglichte schließlich die Absegnung des Plans – und rettete Scharon. Livni, 47, zurzeit noch Justizministerin, stammt wie Olmert

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aus einem rechten Elternhaus. Beide Väter gehörten der Untergrundbewegung Etzel an und waren Abgeordnete der Herut-Partei, aus der später der Likud hervorging. Das von Rabin unterschriebene Osloer Abkommen vor zwölf Jahren betrachtete Livni, damals noch Rechtsanwältin beim Mossad, als schweren Fehler. In den vergangenen Jahren aber rückte sie immer mehr nach links, bis sie im Likud keinen Platz mehr fand. Sie sei in die Politik gegangen, um die Dinge zu verändern und nicht nur um als Politikerin zu überleben, sagte sie, nachdem sie sich Kadima angeschlossen hatte. Dort wird sie jetzt als künftige Außenministerin gehandelt. Aus ihrer Feder stammt das Parteiprogramm von Kadima. Allerdings ist dort vieles noch sehr vage gehalten. Fortschritte im Friedensprozess seien ein zentrales Ziel, heißt es dort. Von der Festlegung der künftigen Grenzen ist die Rede und von einem Palästinenserstaat. Israels Zustimmung aber werde davon abhängen, dass dieser »die komplette Lösung für alle Palästinenser ist, einschließlich der Flüchtlinge«. Scharon glaubte nicht an große Friedensabkommen. Er wollte lieber für Schritte sorgen, die zu weniger Reibungsfläche mit den Palästinensern führten. Er gehöre einer Generation an, die der anderen Seite prinzipiell nicht vertraue, hatte er einmal gesagt, was ihn von den jüngeren Politikern unterscheide. Offen ist, ob seine Nachfolger in Kadima, sollten sie Ende März tatsächlich das Ruder übernehmen, weiter seine Doktrin der einseitigen Schritte verfolgen oder doch wieder Verhandlungen mit den Palästinensern aufnehmen. Das wird aber nicht allein von ihnen abhängen. Zunächst muss Olmert darüber entscheiden, ob die Palästinenser bei den Wahlen am 25. Januar auch im (von Israel annektierten) Ostteil Jerusalems zur Urne gehen dürfen. Denn andernfalls droht Präsident Machmud Abbas mit einer Verschiebung der Wahlen. Seiner zerstrittenen FatahPartei, die große Verluste fürchtet, könnte das nur recht sein. Doch wäre Israel schlecht beraten, den

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Vorwand dafür zu liefern. Und sollten die Wahlen wie geplant stattfinden, weiß keiner, wie viele Stimmen die Hamas gewinnen wird. Ein Karikaturist fasste Olmerts weitere unmittelbaren Probleme in einer Sprechblase zusammen: »Katjuschas, Kassams und die iranische Bombe«. Tatsächlich feuerte Hisbollah vor kurzem eine Katjuscha auf Kirjat Schmonah, und nach einem Angriff aus Gaza wurde nun auch aus dem Westjordanland erstmals eine Kassam-Rakete abgeschossen. Erfahrungsgemäß intensivieren sich Angriffe auf Israel in Krisenzeiten. Scharons Abgang hat das Thema »Sicherheit« wieder ganz groß in den Vordergrund gerückt. Für Amir Peretz bedeutet das Verlust. Der Spitzenkandidat der Arbeitspartei hatte gehofft, dass in Israel endlich die Zeit gekommen wäre, die sozialen Nöte der Bevölkerung ins Zentrum eines Wahlkampfs zu stellen. Das war seine Trumpfkarte, die an Wert verloren hat – auch wenn linke ScharonFans jetzt wieder zur Arbeitspartei zurückkommen sollten. Nach den jüngsten Umfragen würde es die Arbeitspartei unter dem unerfahrenen Peretz auf weniger als 20 Knesset-Sitze bringen. Für Benjamin Netanjahu hingegen ist Scharons Abgang ein Gewinn. Der Likud-Chef, dem Scharon nur mehr eine drittklassige Rumpfpartei hinterlassen hatte (heute würde sie höchstens 15 Sitze erringen), denkt zurück an die Wahlen nach Rabins Tod, an die Serie von Selbstmordanschlägen, die ihn damals an die Macht bombten, und macht sich wieder Hoffnungen – auch wenn die allerwenigsten Israelis von ihm einen Gebrauchtwagen kaufen würden. Zwischen beiden repräsentiert Olmert die Kontinuität eines neuen, überaus populären Weges, den Scharon gerade erst eingeschlagen hat. Gäbe es jetzt Wahlen, wäre Kadima mit 40 Sitzen die stärkste Partei. Olmert verbleiben weniger als hundert Tage, um zu zeigen, dass die Zentrumspartei auch ohne ihren Gründer eine vielversprechende Zukunft hat.

Foto: Gil Cohen Magen/Reuters

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Fotos: Lefteris Pitarakis/AP; action press (u.)

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Ein jüdischer Siedler protestiert gegen die von Ariel Scharon angeordnete Räumung des Gaza-Streifens im August 2005

Es gibt keinen Weg zurück Ariel Scharon war nie ein Mann des Friedens.Trotzdem hat er mit dem Rückzug aus Gaza eine historische Wende eingeleitet Von Joschka Fischer srael bangt um das Leben seines Premierministers. An Ariel Scharons Person haben sich die Geister immer radikal geschieden. Denn er war weder als Politiker noch gar als Militär ein Mann des Friedens. Seine 1989 in Englisch erschienene Autobiografie hat er mit der Selbstkennzeichnung Warrior (Krieger) überschrieben, und dennoch sind es heute vor allem das Friedenslager und die politischen Kräfte der Mäßigung und der Vernunft, die in Israel und in der ganzen Welt um seine Gesundheit, ja um sein Leben bangen.

I

Ariel Scharon war unerschütterlich von der Notwendigkeit der militärischen Überlegenheit Israels überzeugt, weil er nur so das Überleben des Staates und der Nation gesichert sah. Er ist zuerst und vor allem immer Soldat gewesen, der durch die Kriege Israels um seine staatliche und nationale Existenz seit 1948 bis heute zutiefst geprägt wurde. Gleichwohl war und ist das Bild von Ariel Scharon ein extrem zwiespältiges. Sein militärischer Ruhm gründet auf die von ihm eigenmächtig befohlene Überquerung des Sueskanals im Jom-Kippur-Krieg 1973. Im krassen Gegensatz dazu steht seine Verantwortung als damaliger Verteidigungsminister Israels für den fatalen Libanonkrieg 1982 und die dadurch verursachten Tragödien. Er war der politische Ziehvater der territorialen Expansion und damit der israelischen Siedlungsbewegung. Und er glaubte niemals ernsthaft an die Möglichkeit eines Friedens mit den Palästinensern und schon gar nicht mit Jassir Arafat. Dennoch war es ebendieser »Krieger« und »Vater der Siedlungen«, der den Rückzug Israels aus Gaza gegen alle innenpolitischen Widerstände durchgesetzt hat. Und heute bangt die Welt um die Gesundheit von Ariel Scharon, weil mit ihm ganz wesentlich die Hoffnungen auf einen Fortschritt in den israelisch-palästinensischen Beziehungen verknüpft werden. Ich bin Ariel Scharon während der fünf Jahre seiner bisherigen Amtszeit als Premierminister Israels viele Male begegnet, meistens in seinem Büro im Amt des Ministerpräsidenten und fast immer unter vier oder acht Augen. Die Gespräche mit ihm waren immer vertrauensvoll und gerade deshalb offen und direkt in der Sache. Und »die Sache« handelte meistens vom israelisch-palästinensischen, vom israelisch-arabischen Konflikt und der Entwicklung der gesamten Region. Operative Zusagen, die er mir gegenüber gemacht hatte, hat er immer eingehalten, wobei es alles andere als einfach war, eine Zusage von ihm zu erhalten. Und es ist erst wenige Wochen her, dass ich ihm in seinem Büro in einem Gespräch gegenüber gesessen habe. Selten hatte ich ihn dabei so entspannt, ja fast schon in heiterer Stimmung erlebt. Die Dinge liefen nicht schlecht für ihn. Der Gaza-Abzug war gelungen, die Anklage in einer Korruptionsaffäre gegen ihn war fallen gelassen worden, und er schien bereits innerlich zur Trennung von seiner Likud-Partei entschlossen zu sein, wenn die Parteimehrheit ihm nicht folgen würde. Aber gerade deshalb war ihm auch anzumerken, dass das Alter zunehmend seinen Tribut einforderte. Seit dem Junikrieg 1967 hatte sich für Israel ein lange verdrängtes, gewaltiges Problem aufgebaut, das dringend der Lösung bedarf. Denn wenn Israel auf dem Hintergrund der jüdischen Verfolgungsgeschichte in der Diaspora der jüdische Nationalstaat bleiben soll, so darf es auf keinen Fall zu einem binationalen Staat mit einer durch ihre höhere Geburtenrate zahlenmäßig erstarkenden arabischpalästinensischen Bevölkerung werden, zumal absehbar war und ist, dass dann in einigen Jahren die Palästinenser die Bevölkerungsmehrheit zwischen Jordangraben und dem Mittelmeer stellen werden. Die Palästinenser andererseits waren und sind weder als Volk noch mit ihren legitimen Rechten durch Israel dauerhaft zu ignorieren, denn sie

gehören seit dem Beginn der jüdischen Nationalbewegung und definitiv seit der Staatsgründung zur Realität Israels, ja sind, ob dies gefällt oder nicht, sogar ein definierender Faktor der israelischen Realität und Geschichte. Und selbstverständlich gilt dies ebenso umgekehrt, das heißt, Israel ist ein definierender Faktor in der palästinensischen Wirklichkeit. Gerade in dieser existenziellen Abhängigkeit der beiden Konfliktparteien voneinander kann für die Zukunft die große Chance zum Ausgleich und damit zum Frieden liegen, aber es ist leider zu befürchten, dass es bis dahin noch eine schwer abschätzbare Zeit dauern wird. Die territoriale Expansion Israels seit 1967 war eben ohne eine Veränderung seiner demografischen Zusammensetzung zu seinen Lasten nicht zu bekommen. Dadurch wird aber perspektivisch nicht nur der jüdische Charakter Israels infrage gestellt, sondern auch die israelische Demokratie gefährdet, denn eine Minderheit müsste dann in nicht allzu ferner Zukunft über eine Mehrheit herrschen. Für die Parteien der israelischen Rechten und auch für Ariel Scharon waren die Verhandlungen mit den Palästinenern in Oslo und Camp David über viele Jahre nicht hinnehmbar und deshalb Anathema. »Kein Zurück zu Oslo!« hieß eine der zentralen Aussagen während der ersten Jahre von Scharons Amtszeit als Premierminister. Und die zweite Aussage lautete: »Keine Verhandlungen unter Terror!« Einmal an die Macht gekommen, vollzog der vernünftige Teil der israelischen Rechten in der strategischen Analyse nach, was die israelische Linke bereits seit längerem realisiert hatte: die Notwendigkeit eines unabhängigen, lebensfähigen palästinensischen Staates, um so der absehbaren

»Ich bin Ariel Scharon viele Male begegnet. Die Gespräche waren vertrauensvoll und gerade deshalb offen

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Erosion der eigenen Mehrheit in Israel zu entgehen. Die Linke war allerdings bei der politischen Umsetzung ihrer richtigen Analyse gescheitert, an sich selbst, am palästinensischen Terror und nicht zuletzt an Jassir Arafat. Mehr und mehr wurde diesen vernünftigen Teilen des Likud und der israelischen Rechten klar, dass Israel eine strategische Grundsatzentscheidung treffen musste, die gerade für die nationale Rechte extrem schmerzhaft sein würde: ein binationales Israel oder ein palästinensischer Staat. Ariel Scharons Verwandlung von einem der umstrittensten Politiker seines Landes zu einem Staatsmann und zur zentralen Figur der nahöstlichen Politik hing genau von der Beantwortung dieser Alternative ab, nämlich von seinem (mit vielen Wenn und Aber und Hintertüren versehenen) grundsätzlichen Ja zu einem palästinensischen Staat. In der praktischen Politik hieß ein palästinensischer Staat aber nichts anderes als Israels Rückzug aus den besetzten Gebieten, und dies bedeutete auch den definitiven Abschied von allen auf der politischen Rechten gepflegten Träumen von Großisrael. Es war Ariel Scharon, es war eine Likud-Regierung, die zum ersten Mal nicht Land gegen Frieden tauschte, sondern einfach besetztes Gebiet ohne Gegenleistung der anderen Seite aufgab! Dies war ein unerhörter, ja fast revolutionär zu nennender Vorgang. Dies ist Ariel Scharons bleibendes Verdienst. Der zweite Grund für die politische Wende von Ariel Scharon ergab sich als ungewollte Konsequenz seiner entschlossenen Absage an Verhandlungen unter Terror. In Wirklichkeit war dies eine

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Absage an Verhandlungen mit den Palästinensern schlechthin. Diese Politik der ausschließlichen Terrorbekämpfung ohne politische Verhandlungsperspektive hatte in Israel und auch international ein politisches Vakuum entstehen lassen, das mit der Vorlage des Friedensplans der Genfer Initiative im Dezember 2003 sichtbar gemacht wurde. Diese Initiative – entstanden aus der Zusammenarbeit zivilgesellschaftlicher Gruppen auf der israelischen und der palästinensischen Seite – sah einen Endstatus überwiegend entlang der Grenzen von 1967 vor. Innen- wie außenpolitisch barg dieses Vakuum für die Regierung Scharon eine wachsende Gefahr bis hin zum Machtverlust bei den kommenden Wahlen und zur internationalen Isolierung, vor allem in den USA. Israel ist in nahezu allen Belangen – militärisch, politisch, wirtschaftlich, technologisch – den Palästinensern und seinen arabischen Nachbarn haushoch überlegen, aber dennoch drohte ein weiteres passives Festhalten am Status quo jene Fundamente, auf denen die israelische Überlegenheit ruht, nachhaltig zu belasten. Denn die Kosten, die sich aus den beiden damals zentralen Faktoren des israelisch-palästinesischen Konflikts – Demografie und ein strategisch-politisches Vakuum – ergaben, gingen mehr und mehr zulasten Israels. Was also tun? Ariel Scharon entschied sich für eine strategische Initiative, und deren wesentliche Elemente fand er bei seinem Amtsvorgänger, bei Ehud Barak. Der so genannte Barak-Plan setzte – bei grundsätzlicher Anerkennung des Rechts der Palästinenser auf einen eigenen Staat – auf eine Politik der Trennung, dass heißt auf eine Kombination von massiven Grenzsicherungen zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten und einem weitgehenden Rückzug Israels. Barak hatte mit diesem Plan allerdings nicht die Absicht verbunden, durch den Verlauf der Sperranlagen einseitige Vorfestlegungen für den Verlauf der späteren Grenze Israels zu treffen. Er wollte vielmehr dadurch einige Jahre Zeit für einen politischen Verhandlungsprozess um den Endstatus zwischen Israel und den Palästinensern gewinnen, der nicht immer wieder vom Terror radikaler Palästinenser sabotiert werden konnte. In Ehud Baraks Plan bildeten die Komponenten Trennung, Grenzsicherung und Verhandlungen eine Einheit. Ariel Scharon dachte an diesem Punkt allerdings völlig anders. Er sah in Arafat und der palästinensischen Führung keinen Partner, und er wollte nicht verhandeln. Wir haben uns oft über diesen Punkt unterhalten, und dabei brachte der Premierminister immer wieder seine Überzeugung zum Ausdruck, dass erstens die arabische Seite auf absehbare Zeit Israel nicht wirklich akzeptieren würde und dass zweitens auf beiden Seiten die Vorstellungen über einen Endstatus zu weit auseinander lägen und deshalb in Verhandlungen nicht überbrückbar wären. Damit würde dann lediglich der Fehler Baraks und Clintons wiederholt werden, nämlich Erwartungen zu wecken, die absehbar von beiden Seiten nicht erfüllt werden konnten. Es ist einfach Unfug, wenn immer wieder behauptet wird, Scharon habe sich nicht wirklich in

Fischer war von 1998 bis 2005 Außenminister

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die Karten blicken lassen. Der Verlauf der Grenzsicherungsanlagen und der Siedlungsbau machen seine realen Überlegungen mehr als deutlich. Aber Ariel Scharon hat sich auch im wahrsten Sinne des Wortes in die Karten blicken lassen, ja er hat seine Karte sogar selbst gezeigt. Er erläuterte sehr detailliert seine territorialen Vorstellungen, die allerdings nicht von den Palästinensern akzeptiert worden wären, und er hat sie in seinem Briefwechsel mit Präsident Bush sogar öffentlich gemacht. Und in der Frage Jerusalem war und ist er völlig unbeweg-

»Was passiert in Gaza nach einem Rückzug Israels? Darauf gab es in Jerusalem nie eine befriedigende Antwort

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lich. Andererseits aber durfte Israel aus den oben angeführten Gründen den Status quo nicht weiter hinnehmen, sondern musste die Initiative ergreifen. Also verband Ariel Scharon die Strategie der Trennung, wie sie sein Amtsvorgänger entwickelt hatte, mit einem dritten Grundsatz, nämlich dass Israel mit Arafat keinen Partner auf der palästinensischen Seite habe und deshalb einseitig agieren und dauerhafte Fakten schaffen müsse. Trennung durch massive Grenzsicherung und Teilrückzug einerseits, keine Verhandlungen über den Endstatus, sondern eine Politik der einseitigen Schritte, um die für Israel akzeptablen Grenzen zu schaffen andererseits. Das waren die Komponenten des ScharonPlans, der zum Rückzug aus Gaza führte. Dieser Plan verfügt allerdings über entscheidende Schwächen. Die erste Frage betrifft die Lage und die Zukunft der Palästinenser jenseits der Grenzsicherung. Was wird aus ihnen ohne die Perspektive einer politischen Verhandlungslösung werden? Was passiert in Gaza nach einem israelischen Rückzug? Darauf gab es niemals eine befriedigende Antwort von der israelischen Seite. Sie erschöpfte sich in der knappen Feststellung, Gaza und seine Entwicklung wäre dann fortan eine Sache der Palästinenser. Aber Israel kann sich nicht wirklich von den Palästinensern trennen, und insofern bleibt die Zukunft eines palästinensischen Staates eine der ganz zentralen Fragen für die Sicherheit und die Interessen Israels, die nicht ausgeklammert werden kann. Ein de facto palästinensischer Staat als so genannter failing state, das heißt von Israel militärisch aufgegebene, zerstückelte, miteinander kaum verbundene und nicht wirklich lebensfähige palästinensische Territorien, die in Radikalisierung und Chaos zu versinken drohen, ist ein Albtraum für die Sicherheit Israels und seine langfristigen Interessen. Die jüngste Entwicklung in Gaza und die Kassam-Raketen, die auf Israel aus dem Gaza-Streifen abgefeuert werden, haben diese Befürchtungen sehr schnell Realität werden lassen. Zweitens wirft eine Strategie der einseitigen Schritte die Frage nach der internationalen Akzeptanz dieser Politik und ihrer Konsequenzen am Boden auf. Bisweilen sind in außenpolitischen Konflikten einseitige Schritte zur Überwindung einer blockierten Lage unvermeidbar, aber immer nur als taktische Überbrückung, um einen Stillstand zu überwinden. Wird die Politik der einseitigen Schritte allerdings strategisch verstanden, dann muss sie letztendlich in einseitigen Grenzfestlegungen enden. Es wäre jedoch kein Problem aus palästinensischer Sicht, wenn sich Israel einseitig auf die Grenzen von 1967 zurückziehen würde, für Israel ist diese Option aber völlig inakzeptabel. Ein solcher einseitiger Rückzug ohne

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Verhandlungslösung wäre angesichts der mit dem einseitigen Rückzug aus dem Südlibanon gemachten negativen Erfahrungen zudem keineswegs wünschenswert. Eine Strategie der einseitigen Schritte muss letztendlich auf territoriale Annexionen seitens Israels hinauslaufen. Dies wäre dann lediglich ein Teilrückzug Israels, ein einseitiges Disengagement und kein belastbarer Frieden. Die internationale Staatengemeinschaft hat nach dem Zusammenbruch aller bisherigen Friedensbemühungen, angeführt von den USA und den drei anderen Mitgliedern des so genannten Quartetts (EU, UN-Generalsekretär und Russland), einen Stufenplan (Roadmap) für Verhandlungen entwickelt, der genau aus den genannten Gründen auf einen beidseitigen und eben nicht auf einen einseitigen Prozess setzt. Beide Seiten haben diesen Stufenplan zumindest formell akzeptiert. Der Scharon-Plan geht nun von der Annahme aus, dass Israel über keinen Partner auf der anderen Seite verfügt und behauptet deshalb, dass Israel alle seine Verpflichtungen aus der Roadmap einseitig erfüllen würde, soweit ihm dies möglich sei. Solange Israel dieser Position folgt, bleibt seine Politik noch innerhalb der Roadmap. Mit einseitigen Annexionen allerdings wäre die Roadmap definitiv erledigt, und der Konflikt würde in der Folge erheblich eskalieren. In dem Briefwechsel mit Präsident Bush setzte Premierminister Scharon auf die amerikanische Zustimmung zu den Konsequenzen dieser Politik der einseitigen Schritte, aber sowohl die amerikanischen Interessen als auch die internationale Reaktion haben hier sehr enge Grenzen gesetzt. Angesichts zunehmender Schwierigkeiten der USA im Irak und in der arabischen Welt dürfte sich dies auch in Zukunft nicht wesentlich ändern. Was wird die Zukunft ohne Ariel Scharon im Nahen Osten bringen? Iran, der Irak, Syrien, Ägypten, die Arabische Halbinsel, der Dschihad-Terrorismus – die gesamte Region rutscht mehr und mehr in eine hochgefährliche Schräglage. Israels Interesse muss es sein, sich von diesem negativen Trend in der arabisch-islamischen Welt so schnell und so weit wie möglich abzukoppeln, und auch dafür sind Fortschritte mit den Palästinensern unverzichtbar. Die Wahlen in Israel und auf palästinensischer Seite werden für die Beantwortung dieser Frage von großer Bedeutung sein. Stagnation und Rückschritt, wie nach Rabins Tod, drohen an dem einen Ende des Spektrums zusätzlicher Optionen, und an dessen anderem Ende besteht die Hoffnung auf eine Verstärkung der Dynamik im israelisch-palästinensischen Prozess. Und zwischen diesen beiden Polen liegt ein weites Spektrum von weiteren Möglichkeiten, die genutzt werden können. Eines scheint mir aber gewiss zu sein: Hinter die strategische Wende Israels von der Offensive zum Rückzug, die Ariel Scharon eingeleitet hat, wird es kaum einen Weg zurück geben, gleich, wie die kommenden Wahlen auf beiden Seiten ausgehen werden. Freilich bleibt eine Frage unbeantwortet: Wie wird Israel reagieren, wenn Demografie, Chaos, Terror und Radikalisierung in den geräumten palästinensischen Gebieten und bis nach Israel hinein die Zukunft auf der palästinensischen Seite bestimmen werden? Die Verbindung von Demografie, Chaos und Radikalisierung ist eine hochgefährliche Mischung. Wie auch immer, die Verhältnisse und die sie antreibenden Kräfte haben den Strategiewechsel Ariel Scharons erzwungen, und er hatte die Größe und die Weitsicht, den Imperativen der Realität zu folgen. Diese Imperative werden sich auch unter jedem denkbaren Nachfolger nicht ändern. Ariel Scharon hat mit dem Rückzug aus Gaza eine historische Wende angestoßen, vollenden müssen diesen Weg nun vermutlich andere. i Außenpolitik, täglich kommentiert: www.zeit.de/kosmoblog

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DIE ZEIT: Herr Kauder, Sie haben bei der Klausurtagung des Kabinetts so eifrig Harmonie mit Ihren neuen sozialdemokratischen Freunden demonstriert – können Sie jetzt überhaupt mit voller Überzeugung Landtagswahlkampf gegen die SPD machen? Volker Kauder: Bis zu den Landtagswahlen im März werde ich viele Veranstaltungen besuchen und werde mich dabei nicht zurückhalten müssen. In Baden-Württemberg werde ich sagen, dass die erfolgreiche Politik der schwarz-gelben Landesregierung fortgesetzt werden muss. Das Gleiche gilt für Sachsen-Anhalt: Gut funktionierende Regierungen wechselt man nicht aus. Über die SPD muss man dabei gar nicht so viel reden. ZEIT: Zum Wahlkampf gehört normalerweise die Behauptung, der politische Gegner könne nicht regieren. Geht Ihnen das noch über die Lippen? Kauder: Wir wollen mit der Großen Koalition das Land voranbringen und stoßen bisher bei den Wählern damit auf Zustimmung. Das ist ein Verdienst von Union und SPD. Aber die Große Koalition in Berlin zeigt auch, dass es gut ist, wenn die Union in einer Regierung die Führung übernimmt. Im Übrigen muss ja nicht überall im Land die gleiche Koalition regieren. ZEIT: Das klingt fast, als sei egal, mit wem Sie koalieren – mit FDP, SPD oder Grünen. Ist FDPChef Guido Westerwelle Ihr politischer Gegner? Kauder: Die FDP war unser Wunschpartner, sie ist es in den meisten Ländern, und es gibt mit ihr viele Gemeinsamkeiten. ZEIT: Sie ist also kein politischer Gegner? Kauder: Wissen Sie, ich habe zwanzig Jahre lang aus tiefster Überzeugung die SPD als unseren Hauptgegner und Erzrivalen bekämpft. Jetzt sitze ich mit denen in einer Koalition und muss sagen: Man kann mit den Sozialdemokraten eine Menge erreichen. Die Frage von Gegnerschaft beurteile ich nach dieser Erfahrung ganz neu. Müssten wir mit der FDP eine Gesundheitsreform vereinbaren, würde das zu riesigen Auseinandersetzungen im Land führen. In einer Großen Koalition können wir die Sozialsysteme so reformieren, dass große Teile der Bevölkerung zustimmen. Und keiner braucht Angst zu haben, dass beim nächsten Regierungswechsel wieder alles ganz anders kommt. ZEIT: Sie wollen mit SPD-Fraktionschef Peter Struck Lösungen für die Gesundheitsreform vorbereiten. Welche Ziele muss die Reform erreichen? Kauder: Wir sollten erst intern sprechen, statt öffentlich Vorschläge zu machen. Aber einige Eckpunkte habe ich im Kopf. Erstens: Der Gesundheitsbereich muss ein Wachstumsmarkt werden. Mittelfristig wird mehr Geld ins System fließen, schon deshalb dürfen wir die Ausgaben nicht vollständig als Sozialabgaben an die Löhne koppeln. Zweitens: Der technische Fortschritt muss schneller als bisher für alle Patienten nutzbar sein. Es darf keine Zweiklassenmedizin geben, bei der einige Menschen neue Medikamente oder Therapien viel später als andere bekommen. Drittens: Wir brauchen mehr Wettbewerb und Transparenz. Viertens: Der Arztberuf muss für junge Mediziner wieder attraktiver werden. Es arbeiten heute schon etwa 12 000 hier ausgebildete Mediziner im Ausland, weil die Arbeitsbedingungen in Deutschland nicht mehr stimmen. Gleichzeitig haben wir einen Ärztemangel in Ostdeutschland. ZEIT: Stimmt die Bezahlung nicht? Kauder: Auch das. Aber vor allem fühlen sich viele Ärzte durch die Bürokratie behindert. Wir dürfen die Gesundheitsreform jedenfalls nicht gegen die Ärzte, sondern nur mit den Ärzten machen. Deshalb halte ich auch wenig von Vorschlägen, die Kassenärztlichen Vereinigungen abzuschaffen. Wenn die Krankenkassen mit den Ärzten Einzelverträge machen könnten, wäre der einzelne Arzt

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Foto: Götz Schleser/Visum

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Volker Kauder im Begriff, sich zu positionieren

»Das ist eine Frage der Gerechtigkeit« Wenn der Sozi nicht mehr der »Hauptgegner« ist – ein Gespräch mit CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder über die Große Koalition und eine neue Gesundheitspolitik

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völlig der Macht der Krankenkasse ausgesetzt. Das wäre so, als wollten wir die Gewerkschaften abschaffen und den Arbeiter allein mit dem Großkonzern über seinen Lohn verhandeln lassen. ZEIT: Müssen Sie für die Reform die Steuern erhöhen, zum Beispiel mit einem Gesundheits-Soli? Kauder: Die Gesundheitsversorgung für Kinder muss in Zukunft von allen finanziert werden und nicht nur von denen, die in der gesetzlichen Krankenkasse versichert sind. Das ist vor allem eine Frage der Gerechtigkeit. Später, wenn die Kinder erwachsen sind, werden ja auch alle von den Arbeitskräften und Beitragszahlern profitieren. Dafür brauchen wir etwa 14 Milliarden Euro, über deren Finanzierung wir noch beraten. Aber in jedem Fall wird der Beitrag für die gesetzliche Krankenversicherung gleichzeitig sinken. ZEIT: Nur sind Gewinner und Verlierer nicht identisch, weil es mehr Steuer- als Beitragszahler gibt. Kauder: Mit Widerständen rechne ich. Aber damit kann eine Große Koalition fertig werden. Man kann dieses Vorhaben doch gut erklären: Es käme ja auch niemand auf die Idee, bei der Finanzierung des Kindergeldes ausgerechnet – wie bei der Krankenversicherung – einen Großteil der Gutverdienenden nicht zu beteiligen. ZEIT: Anfang 2007 kämen neben der höheren Mehrwertsteuer also vermutlich neue Abgaben für die Gesundheit – woher wollen Sie noch Geld für die geplanten Kombilöhne nehmen? Experten rechnen mit zweistelligen Milliardenbeträgen. Kauder: Wir werden keine zusätzlichen Steuermittel für Lohnsubventionen einsetzen. Wir geben jetzt schon für Hartz IV und Sozialhilfe rund dreißig Milliarden im Jahr aus und damit weit mehr als erwartet. Ein Teil dieses Gelds muss so eingesetzt werden, dass Arbeitslose, die schlecht bezahlte Arbeiten übernehmen, mehr als bisher davon behalten können und so einen stärkeren Anreiz zur Arbeitsaufnahme erhalten. ZEIT: Sie wollen also nur die Zuverdienstmöglichkeiten für Hartz-IV-Empfänger erhöhen – und das war’s zum Thema Kombilohn? Kauder: Es gibt heute schon über 700 000 Empfänger von Hartz IV, die vom Staat ergänzende Sozialleistungen bekommen. Wenn wir diesen Ansatz mit besseren Zuverdienstmöglichkeiten weiterentwickeln, werden möglicherweise mehr Menschen zu einem Job zurückfinden. Vielleicht spart das mittelfristig sogar Geld. ZEIT: Frau Merkel hält bei der Einführung von Kombilöhnen einen gesetzlichen Mindestlohn für nötig. Wie hoch soll er sein? Kauder: Ich werde mich hüten, Zahlen zu nennen. Aber es darf durch die neuen Lohnsubventionen nicht zu sittenwidrigen Löhnen zu kommen. Schon jetzt werden in Teilen Ostdeutschlands für bestimmte Arbeiten gerade einmal vier Euro pro Stunde gezahlt. Wenn wir niedrige Einkommen mit Staatsgeld aufstocken, darf das nicht dazu führen, dass die Arbeitgeber die Löhne senken. ZEIT: Außer den Chefgesprächen zur Gesundheit soll es demnächst auch einen Energiegipfel geben. Ist das der neue Regierungsstil: Schröder regierte mit Kommissionen, Merkel mit Spitzentreffen? Kauder: Ach was. Beim Energiegipfel geht es um einen Gedankenaustausch über die langfristige Sicherung der Versorgung. Der Koalitionsvertrag regelt sehr klar, dass bei der Nutzung der Atomenergie in den kommenden vier Jahren in Deutschland die Gesetze nicht verändert werden. ZEIT: Mehrere CDU-Ministerpräsidenten werben gleichwohl für längere AKW-Laufzeiten. Ist das störend oder für die Partei sogar ganz hilfreich? Kauder: Ich finde das legitim. Es ist doch so: Wenn beide Partner sich einig sind, können CDU und SPD auch etwas anderes machen, als in der Koalitionsvereinbarung steht. Deswegen ist der Ver-

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such, unter dem Eindruck der aktuellen Energiedebatte dafür zu werben, nicht koalitionsfeindlich. Aber wenn das bei der SPD keinen Erfolg hat, bleibt es bei den Verabredungen. ZEIT: Soll die Union nun für den Ausstieg aus dem Ausstieg werben oder still sein und sich an die Koalitionsvereinbarung halten? Kauder: Da ich als Fraktionsvorsitzender dafür sorgen muss, dass die Regierungspolitik im Parlament Mehrheiten findet, halte ich mich an den Koalitionsvertrag … ZEIT: … während der Parteipolitiker Volker Kauder im Wahlkampf das CDU-Profil schärft. Kauder: Nein, für mich persönlich gilt der Koalitionsvertrag rund um die Uhr und überall in Deutschland. Trotzdem müssen wir über die Energieversorgung der Zukunft neu nachdenken, und das ist auch ein Thema für die Partei. Ich werde jedenfalls dagegen kämpfen, dass die Energie irgendwann zu einer neuen sozialen Frage wird, weil sich nicht alle eine ausreichende Energieversorgung leisten können. ZEIT: Die Grünen wollen wegen der Kernenergie auf die Straße gehen. Fürchten Sie eine Neuauflage der Atomkraft-Auseinandersetzung der achtziger Jahre? Kauder: Wenn die Grünen demonstrieren, weil ich sage, dass eins und eins zwei ist, ändert das trotzdem nichts an der Richtigkeit der Aussage, dass wir neben Gas und erneuerbaren Energien andere Energiequellen brauchen. Das ist eine Frage des Realitätssinns. Ich halte nichts von ideologischen Auseinandersetzungen über diese Frage. ZEIT: Frau Merkel findet Gefallen am Mindestlohn, Sie reden von der sozialen Dimension der Energiedebatte, und die gesamte CDU will sich verstärkt der Gerechtigkeitsfrage widmen. Wildern Sie bei den Wählern der SPD? ANZEIGE

Kauder: Die Union hat sich schon immer um die Menschen bemüht, die sich allein nicht ausreichend helfen können. Das ist für eine christliche Volkspartei selbstverständlich. Nach dem Krieg ist so die soziale Marktwirtschaft entstanden. ZEIT: Ist die neue Parteilinie, diese Tradition sichtbarer zu machen als im Wahlkampf? Kauder: Unser Wahlkampf war auf eine ganz besondere Situation zugeschnitten, es ging um Konzepte gegen die hohe Arbeitslosigkeit. Die Reformideen standen im Vordergrund, die soziale Tradition war möglicherweise weniger sichtbar. ZEIT: Und jetzt wird die CDU mit einem roten Mäntelchen versehen? Kauder:Wir brauchen unsere Programme nicht zu korrigieren. Die Union wird jetzt wieder in ihrer ganzen Breite gezeigt. DIE FRAGEN STELLTEN ELISABETH NIEJAHR UND PATRIK SCHWARZ

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Gerda Schröder Die Kanzlerin auf SPD-Kurs Angenommen, Platzeck und Müntefering, die beiden Frontmänner der SPD, stellten derzeit die Schneewittchen-Frage – »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der größte Sozialdemokrat im Land?« –, sie würden vor Schreck erblassen. Denn die ehrliche Antwort müsste lauten: »Matthias und Franz, ihr wart zwar einmal die besten Sozis hier. Aber Angela Merkel, die Kanzlerin zu Berlin, ist im Augenblick tausendmal sozialdemokratischer als ihr!« Im November 1993, auf dem Parteitag in Wiesbaden, schrieb der damalige SPD-Vorsitzende Rudolf Scharping den Genossen noch ins Stammbuch: »Wir müssen in unserer gesamten politischen Praxis immer klar machen, dass die Sozialdemokratie soziale Gerechtigkeit wiederherstellen will.« Doch zwölf Jahre später, nach einem ernüchternden Wahlergebnis für beide großen Volksparteien, scheint es, als mache sich vorrangig die Union auf die Suche nach der »neuen Gerechtigkeit«. Die Konservativen und allen voran Angela Merkel besetzen derzeit öffentlich jene Themen und Kernbegriffe, die üblicherweise linke Herzen höher schlagen lassen. Zudem sind ihre Minister im Kabinett für Familie & Wohltaten, die SPDler dagegen für Sparen & Härten (Finanzen, Arbeit, Gesundheit) zuständig. Da kann es auch wenig trösten, dass in der Großen Koalition das SPD-Programm regiert, solange beim Wähler davon nur die Union profitiert.

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Genshagen, eine Welt in Watte Z

Genshagen wanzig Katzen habe sie, sagen die Nachbarn. »Zehne sind’s«, sagt sie selbst, »die heißen alle Moppel.« Die Nachbarn nennen sie »die Katzenoma«, und auf ihre Art hat die Katzenoma durchaus schon dazu beigetragen, den Optimismus zu befeuern, den Angela Merkel sich so sehr wünscht für Deutschland. »Hohes Leistungswachstum durch steigende Arbeitsproduktivität, Effektivität und Qualität. Alles für das Wohl des Volkes und den Frieden!« So steht es auf einer Urkunde, die die Arbeiterin 1983 vom volkseigenen Gut Genshagen bekam, »der Kollegin wird für 25jährige Betriebstreue Dank und Anerkennung ausgesprochen.« Neben der Auszeichnung von 1983 gibt es die von 1978 (»20jährige Betriebstreue«) und von 1973 (»15jährige Betriebstreue«). Die 78-Jährige hat sie ins Fenster gehängt, eine neben der anderen. »Ick war jut jewesen, klar, ick war Bestarbeiter.« Jetzt kann jeder die Urkunden besichtigen, der sich ihrer kleinen Parterrewohnung nähert, gegenüber vom Schloss, wo Angela Merkel mit Franz Müntefering und dem Kabinett in Klausur sitzt. »Soll’n se kieken«, sagt die Katzenoma, »mein Leben.« Sie hat Tradition in Genshagen, die Prosa von Aufbruch, Neuanfang und immer währender Anstrengung. Man muss ja nicht so weit gehen wie die Berliner Zeitung. Das einstige SED-Bezirksblatt stellte kürzlich die kühne These auf, die Kanzlerin pflege einen Restbestand an appellativer DDR-Rhetorik, etwa in ihrer Neujahrsansprache: Mach mit, mach’s nach, mach’s besser! Doch angesichts des demonstrativen Fortschrittsglaubens

Kabinettsklausur: Beobachtungen zwischen Politikern, Katzen und Heißluftgebläsen Von Patrik Schwarz

der neuen Regierung reibt sich auch so mancher bundesrepublikanisch erzogene Zeitgenosse verwundert die Augen. Auf der Pressekonferenz zum Ende der Klausur wird Angela Merkel gefragt, was denn das gerade verkündete Investitionsprogramm so besonders mache, schließlich habe doch die Union bisher derartige Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft gern als Staatssozialismus gegeißelt. Merkel gibt eine längere Antwort, die kurz gefasst auf einen Kern hinausläuft: Es ist ein gutes Programm, weil es mein Programm ist. »Die Schleife ist gebunden, das Paket ist geschnürt.« Wie ein verspätetes Weihnachtsgeschenk hatte Vizeregierungssprecher Thomas Steg nach dem ersten Tag von Genshagen die Investitionen von 25 Milliarden Euro präsentiert. Tatsächlich wurde das Paket dem Bürger bereits zum dritten Mal überreicht. Im Wesentlichen waren die Beschlüsse schon Teil der Koalitionsvereinbarung im Herbst. Für alle, die das nicht bemerkt hatten, wies die Kanzlerin in ihrer großen Serie von Zeitungsannoncen zum Jahreswechsel noch mal auf den Geldsegen hin: »Schon in wenigen Tagen beschließen wir ein Sofortprogramm für höheres Wachstum und mehr Beschäftigung über insge-

samt 25 Milliarden Euro.« Genshagen brachte demgegenüber nur noch Präzisierungen im Detail. In der Tagesschau, diesem täglichen Wichtigkeitsbarometer der politisch-publizistischen Klasse, wurde Stegs großer Durchbruch denn auch von der Vogelgrippe verdrängt. Die Katzenoma hatte ohnehin gänzlich andere Fernsehpläne: »Der Bud Spencer kommt heute, den kiek ick.« Vielleicht rührt eine gewisse Skepsis gegenüber dem großen Gipfel von Genshagen auch einfach daher, dass sich die Kabinettsklausur als Konzept überholt hat. Erfunden von der rot-grünen Regierung, konnte sie sich nie ganz vom Ruch befreien, womöglich nur ein Reklametrick rot-grüner Politiker zu sein: ein Festival der simulierten Ernsthaftigkeit. Wie zur Strafe entging diesmal fast kein Sozialdemokrat, der sich vor dem Schloss zeigte, der Frage, was denn schöner gewesen sei, Genshagen oder Neuhardenberg, die rot-grüne Agenda-Klausur im Frühjahr 2003. Gelegenheit für eine neue Sentenz von Franz Müntefering, dem Lao-tse der Großen Koalition: »Neuhardenberg war schön. Genshagen war schön. Aber anders schön.« »Wir haben zum ersten Mal in dieser Runde länger als eineinhalb Stunden geredet«, rühmte Merkel. Eine Klausur ist ein Versprechen, ein doppeltes sogar: Eine Auszeit aus dem Normalbetrieb, soll der Gedanke suggerieren, an deren Ende ein größerer Wurf steht, als ihn der Alltag erlaubt. Doch die Realität unter Rot-Grün wie SchwarzRot sah und sieht anders aus. Anreise 12.30 Uhr, Abreise etwa zur selben Zeit am Folgetag, da bleibt für Rückzug, Kontemplation und eine neue Sicht der Dinge kaum Luft. Und so werden eben schnell

Die Sozialdemokraten wirken momentan ausgelaugt und ideenlos. Am Sonntag ziehen sie sich endlich zur Klausur zurück; sie haben es bitter nötig, ihr Gleichgewicht zu finden zwischen Schröders kühler Agenda-2010Rhetorik und Platzecks warmen Beschwörungen der solidarischen Gesellschaft. Dreimal nacheinander hat die Union bei Bundestagswahlen eine Niederlage erlitten, dreimal musste sie erfahren, dass man mit Untergangsbotschaften und der Verheißung von »Zumutungen« allein nicht gewinnen kann. Jetzt scheint Angela Merkel, die im Wahlkampf noch die unbeirrbare Reformerin gab, sich selbst und ihrer Partei einen neuen Kurs vorzugeben: Mehr soziales Mitgefühl, bitte! Ihr Reden und Handeln wirken laut Umfragen bis tief hinein ins linksliberale Milieu. Neue Gerechtigkeit, sagt sie in bester sozialdemokratischer Tradition, heiße vor allem: Kampf der Kinderarmut und dem Bildungsnotstand unter Sozialhilfeempfängern; Schluss mit der Arbeitslosigkeit jenseits des 50. Lebensjahres. Und fast wie eine Gewerkschafterin streitet sie für Investitionsprogramme und Mindestlöhne. Damit nicht genug: Angela Merkel bietet Amerikas Außenministerin die Stirn und sagt vor ihrem Besuch in Washington: Schluss mit Guantánamo! So deutlich hat man weiland nicht einmal Gerhard Schröder vernommen. Natürlich handelt es sich hier nicht um eine seltsame Metamorphose, auch wurde Angela Merkel keiner Gehirnwäsche unterzogen. Nein, mit nüchternem Pragmatismus und Kalkül verfolgt sie ihr Ziel: Sie will regieren, möglichst lange und erfolgreich. Dazu braucht sie jetzt die Harmonie mit der Lebensabschnittspartnerin SPD; aber eines nicht allzu fernen Tages benötigt sie vor allem eine starke CDU, die es im Bund wieder locker über die 40-Prozent-Marke schafft. Wie erreicht sie das? Vielleicht mit der BoaStrategie: die SPD umarmen und erdrücken. Die Sozialdemokraten müssen also aufpassen, dass neben ihnen keine bessere SPD entsteht, die sie verschlingt. Aber ebenso sollte die Union auf der Hut sein. Gestern oberste Antreiberin eines radikalen Umbaus, heute erste Heizerin der sozialen Wärmestube – dieser Rollenwechsel war schon für die SPD schwer verdaulich und ist es erst recht für CDU und CSU. Zumal bereits jetzt die Frage drängt: Wer spielt denn angesichts der vielen noch ausstehenden Erneuerungen im Arbeitsmarkt, im Gesundheits-, im Rentenund Steuersystem den wichtigen Part des beharrlichen und beständigen Reformers? Nur der unvermeidliche Guido Westerwelle, draußen vorm Kanzleramt? Oder etwa, verkehrte Welt, die SPD? Schon jetzt warnt mancher Sozialdemokrat leise, die Union möge doch bei all ihrer neu entdeckten Liebe zum Sozialen nicht völlig die Grenze zwischen Staat und Markt verwischen. Wer also muss sich um sein Profil sorgen? Beide Volksparteien. Die SPD darf ihren Platz nicht freiwillig preisgeben. Und die Union muss darauf achten, dass sie im politischen Wettkampf doch irgendwie »rechts« von den Sozialdemokraten herauskommt, sonst geht es an ihre Substanz. Ihr neues Motto könnte ihr dabei helfen, es heißt nicht nur »neue Gerechtigkeit«, sondern enthält den für eine konservativ-liberale Partei wichtigen Zusatz »neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit«. Auf den Unterschied kommt es an. Denn wer wollte in den Geschichtsbüchern über deutsche Kanzler dereinst lesen: Auf Gerhard Schröder folgte – Gerda Schröder. Martin Klingst Audio a www.zeit.de/audio

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alte Pakete neu verschnürt. Aber gerade weil die neue Koalition sich so ehrlich um Ernsthaftigkeit bemüht, steht ihr die simulierte Ernsthaftigkeit einer Klausur vielleicht besonders schlecht zu Gesicht: Das Versprechen eines großen Wurfs passt nicht zum Kabinett der kleinen Schritte. Vor Ort sind in Genshagen zwei parallele Universen zu besichtigen gewesen. Die Wirklichkeit der Kanzlerin, die Wirklichkeit der Katzenoma und dazwischen ein Zelt voller Reporter. Von Heißluftgebläsen beheizt, weiß und weithin leuchtend, liegt das Pressezentrum wie ein gestrandetes Ufo in der winterwüsten Ödnis. Bei ihren raren Besuchen verbreiteten die Berater der Regierung den Optimismus ihrer Herren und der Dame. »Gut, verlässlich, angenehm«, sagt dann der eine über das Klima im Märchenschloss, »freundlich, kollegial, vertraut«, sagt der andere. Wo sind die echten Konflikte, wo die fingierten? Es ist nicht leicht zu unterscheiden in dieser Welt aus Watte. Selbst der Streit um die Atomkraft, einst erbittert ausgetragen auf der Straße, ist nicht mehr, was er scheint. Hat nicht vor ein paar Tagen erst Edmund Stoiber den Ausstieg aus dem Atomausstieg erwogen? Und hat Sigmar Gabriel, der Umweltminister von der SPD, nicht heftig widersprochen? »Unter PR-Aspekten tut die CSU uns mit dem Thema einen Gefallen«, sagt einer aus dem SPD-Lager ganz kühl. Begrenzte Konflikte helfen beiden Seiten, ihr Profil zu schärfen, so etwas mag der Wähler. »78 bin ich, 80 werd’ ich auch noch«, sagt die Katzenoma und wird philosophisch. Viel hat sich geändert in diesen 78 Jahren. »Nur der Mond, der Fette, der scheint immer noch.«

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Deutschland braucht sich nicht allein auf Russland zu verlassen. Europa hat die größten Erdgasreserven der Welt in greifbarer Nähe.Wer heute Pipelines plant, hat morgen die Wahl Von Michael Thumann

Schwarzes Meer

Aserbajdschan

Türkei

Kaspisches Meer

Gaspipelines

Mittelmeer

bestehend geplant/im Bau

Irak Algerien

an muss Wladimir Putin fast dankbar sein, dass er zu Jahresbeginn mit einigen Mythen aufgeräumt hat. Russland, das Westeuropa während des Kalten Krieges zwei Jahrzehnte ohne Unterbrechung mit Erdgas belieferte, hat zu Neujahr den Gasdruck in den Leitungen gesenkt – Richtung Ukraine und Westeuropa. Russland, das versprochen hatte, Gas nie als Waffe, nur als Ware zu benutzen, hat versucht, die demokratisch gewählte Regierung in Kiew per Gashahn fernzusteuern. Ist der größte Erdgaslieferant Europas ein unsicherer Kantonist geworden? Sprecher der Internationalen Energieagentur warnen Deutschland und Europa vor wachsender Abhängigkeit von dem Land, in dem 30 Prozent der Weltgasvorkommen liegen. Anfang kommender Woche fliegt die Bundeskanzlerin nach Moskau. Sicherlich, Angela Merkel wird die so genannte Energiepartnerschaft mit Russland überdenken müssen. Doch noch ist Deutschland von russischem Erdgas nicht abhängig. In der Kurzkrise um Gaslieferungen nach Westeuropa hatten die deutschen Versorger Reserven für mehrere Monate. Die in den siebziger Jahren angelegte Strategie, Gas aus mehreren Ländern zu beziehen, zahlt sich heute aus. Russland stellt zwar schon rund 40 Prozent der deutschen Importe. Liefert Moskau weniger, bleiben aber noch Norwegen, die Niederlande und eigene Quellen. Deshalb gibt es keinen Anlass, nun hurtig von Gas auf Kaminholz und Kaschmirdecken umzustellen. Gefragt ist hingegen eine auf Jahrzehnte hinausblickende Energiestrategie. Denn die Reserven in der Nordsee erschöpfen sich, und gleichzeitig beginnt ein Wettlauf um die letzten großen Erdgaslager der Welt. Russland wird wichtiger, der Mittlere Osten und das Kaspische Meer werden an Bedeutung gewinnen. Die großen Energiekonzerne der Welt sind überall präsent. Die Deutschen hingegen haben sich unter Führung des Exkanzlers und künftigen GaspromManagers Schröder allein auf Russland kapriziert. Von »Verflechtung« war da die Rede, von »gegenseitigen Abhängigkeiten«. Diese Strategie ist von gestern. Deutschland wird nicht mehr Abhängigkeit, sondern mehr Flexibilität brauchen. Und es hat dafür alle Voraussetzungen, denn seine geografische Lage ist günstig für den Gasimport aus vielen Richtungen. Die Deutschen müssen ihren Vorteil nur erkennen und nutzen. Erdgas gilt als Rohstoff der Zukunft. Es ist emissionsärmer als Öl, sein Transport sauberer. Zukunft, das sind die nächsten vierzig bis sechzig Jah-

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re. Dann werden sich voraussichtlich auch die Erdgasreserven erschöpfen. Die EU produziert heute die Hälfte ihres Gases selbst, doch wird sie in fünfzehn Jahren schon drei Viertel ihres Verbrauchs einführen müssen. Andere Länder versuchen heute, von vergleichsweise schlechteren Standorten ihre künftige Energieversorgung zu sichern. Amerika importiert seit längerem Gas aus Kanada. Doch nun wollen sich die USA auch ihren Anteil an den Gasreserven Eurasiens sichern. Gas von der russischen Halbinsel Sachalin soll künftig Kalifornien versorgen. Amerika verhandelt mit Moskau über Rohstoffe aus dem Stokman-Feld in der Barentssee, mit dem Emirat Qatar über Erdgas aus dem Persischen Golf. China und Japan konkurrieren um Gaspipelines aus Russland, sie lassen sich heute aus Indonesien und Malaysia beliefern. Für ihre künftige Versorgung wetteifern sie um Vorzugslieferungen vom Persischen Golf, auch aus dem Iran, sowie Schürfrechte in Zentralasien. Diese Regionen hat auch Indien entdeckt, zusätzlich plant das Land, Pipelines aus Myanmar zu bauen.

Im Fluidum von Öl und Gas blühen korrupte Diktaturen Ein Problem haben alle großen Industrie- und High-Tech-Nationen. Sie müssen ihren Energiehunger in Ländern befriedigen, in denen Krieg, Aufruhr und Knechtschaft zu Hause sind. In den Staaten am Golf könnten schiitische Unruhen oder Umstürze von Fundamentalisten den Rohstoffexport behindern, in Indonesien drohen Terroranschläge, in Russland und am Kaspischen Meer sind Warlords und chronische Kriege wie in Tschetschenien oder Nagornyj-Karabach eine Gefahr auch für Rohstoffexporte. Eine westliche Politik, die Menschenrechte und Demokratie förderte, würde auch die Energieversorgung sicherer machen. Bislang blühen im Fluidum von Erdöl und Gas autoritäre Regime und korrupte Bürokratien. Norwegen ist die Ausnahme, Russland dagegen das Musterbeispiel für Fehlentwicklungen. Die Sowjetunion war ein zuverlässiger Energielieferant. Nicht weil sie kommunistisch war, sondern weil Gasexporte für sie im Wesentlichen wirtschaftliche Bedeutung hatten. Für die Machtentfaltung nach außen hatten die Sowjets die Armee, den Warschauer Pakt und die Atomwaffen. Auch in der kurzen Phase des demokratischen Pluralismus unter Boris Jelzin waren Öl und Gas Einnahmequellen, nicht mehr. Doch mit Wladimir Putins Aufstieg 1999 meldeten sich Geopolitiker zu Wort, die – aus

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dem demokratischen Winterschlaf erwacht – in den Rohstoffen die neue Machtwährung Russlands erkannten und Gaslieferungen als politische Waffe empfahlen. Solche Entwicklungen interessierten bis vor kurzem nur Fachmedien wie die SWP-Zeitschriftenschau, die darauf Anfang 2003 hinwies. Jetzt, nach dem Gasstreit mit der Ukraine, weiß jeder, wie Putin daraus Politik aus einem Guss macht. Zu dieser Politik gehören die Wiederverstaatlichung der Energiekonzerne, die Monopolstellung von Gasprom, die korrupt-bürokratische Verflechtung des Kremls mit dem Konzern, die Übernahme von strategischen Energiebetrieben in den Nachbarstaaten. Gasprom will auf dem eurasischen Gasmarkt unersetzbarer Produzent und Händler zugleich sein. Treten Konkurrenten auf wie Turkmenistan, so kauft Gasprom dessen Produktion weitgehend auf, um sie zu eigenen Bedingungen weiterzuvermarkten. Deshalb strebt Gasprom nach der Herrschaft über die Pipelines, nicht nur in Russland. Gerade hat Moskau in Weißrussland eine strategische Rohrleitung gegen Billiggas eingetauscht. Der Streit mit der Ukraine hatte auch die Übernahme der dortigen Gasleitung zum Ziel, was misslang. Mit dem Bau der Putin-Schröder-Pipeline auf dem Ostseegrund nach Deutschland will Gasprom direkten Zugang zu den Abnehmern erlangen – um am Ende die Preise zu kontrollieren. Das alles ist weder besonders durchtrieben noch besonders verwerflich. Man muss diese Politik nur zur Kenntnis nehmen, wenn man mit Russland Geschäfte macht. Genauso wichtig ist es, zu begreifen, dass Russland kaum in der Lage sein wird, die stark wachsende europäische Erdgasnachfrage voll zu befriedigen. Weil die meisten Russen die Zimmertemperatur mangels Thermostat durch geöffnete Fenster regulieren und Gas wenig kostet, wächst der Energieverbrauch im eigenen Land. Russland macht Versprechen in alle Richtungen. Die föderale Energiekommission plant Exportsteigerungen vor allem nach China, Japan und Amerika, Europas Anteil an der Ausfuhr soll sinken. Das ist das gute Recht Russlands: Es möchte nicht von Europa als einzigem Abnehmer abhängig sein. Dem Schröder-Projekt »gegenseitiger Abhängigkeiten« fehlt also auf lange Sicht die Gegenseite. Umgekehrt ist Russland bei Europas Suche nach Energiequellen nicht die Lösung, wohl aber ein wichtiger Lieferant. Einer von mehreren. Denn ein Blick auf die Karte Europas und Westasiens zeigt, dass der alte Kontinent einen strategischen Vorteil gegenüber den USA und China hat: Alle großen Erdgaslagerstätten der Welt liegen an

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Europas Peripherie. Man muss nur Rohre dorthin bauen. Von Russland führen zwei große Pipelinetrassen nach Europa, in fünf Jahren werden es drei sein. Wie werden Nordafrika, das Kaspische Meer und der Golf an Europa angebunden?

Die Großmächte der Welt umwerben das kleine Gasemirat Qatar Algerien liefert heute bereits über zwei Pipelines unter dem Mittelmeer Gas nach Südeuropa. Spanien und Italien aber bauen längst an weiteren Direktverbindungen. Algerien leitet heute rund ein Fünftel des europäischen Gasbedarfs zu, es wird also auf dem nach EU-Willen liberalisierten europäischen Gasmarkt ein wichtiger Spieler sein. Die Kunden sind vor allem Spanien, Italien und Frankreich, doch bei Bedarf könnte es auch Deutschland sein. Algerien verfügt zwar nur über ein Zehntel dessen, was Russlands frostiger Boden an Gas verheißt, aber das Maghrebland hat immerhin doppelt so viele nachgewiesene Gasreserven wie Deutschlands zweiter Großlieferant Norwegen. Nebenan, noch ohne Pipeline nach Europa, schickt sich Libyens Diktator Muammar alGadhafi an, Gas zu exportieren. Keinen Anschluss nach Europa zu haben ist das große Problem der Kaspischen Region und Zentralasiens. Neue Probebohrungen im Kaspischen Meer haben viel Erdgas in Gebieten nachgewiesen, wo zuvor Öl vermutet wurde, vor allem in Aserbajdschan. Vor seiner Küste liegen noch große unerschlossene Felder. Turkmenistan auf der östlichen Seite des Kaspischen Meeres ist reich an Erdgas, allerdings durch Gasprom-Verträge gebunden und mit einem unberechenbaren Diktator geschlagen. In Kasachstan werden neue Gasquellen entdeckt. Der Champion der Region ist unzweifelhaft Iran, das Land mit den zweitgrößten Vorkommen der Welt. Mit seinem Präsidenten Ahmadineschad und dem provozierenden Atomprogramm wird es zwar vorerst nicht zum geschätzten Lieferanten des Westens werden, aber China und Indien dürfte das nicht bekümmern. Sie werden sich an Rohstoffsanktionen des Westens nicht beteiligen, Indien plant eine große Pipeline. Iran wird deshalb, mit oder ohne Atomwaffen, einer der drei größten Gaslieferanten der Welt sein. Doch wie kann Europa vom Reichtum der Kaspischen Region profitieren? Die Antwort kommt aus Österreich. Der OMV-Konzern hat sich mit mehreren südosteuropäischen Energiefirmen zusammengetan und eine Pipelinetrasse entworfen,

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die von der Türkei über Bulgarien, Rumänien und Ungarn nach Mitteleuropa verläuft. Das so genannte Nabucco-Projekt wird mit 4,6 Milliarden Euro wohl weniger kosten als die Ostseepipeline und kürzer sein als die Trassen aus Sibirien. Bereits im Bau ist eine Pipeline am südlichen Kaukasus von Aserbajdschan über Georgien in die Türkei. Daran ließen sich Iran und – in besseren Zeiten – auch der rohstoffreiche Irak anschließen. Das mag heute utopisch klingen, doch wer von dort in fünfzehn Jahren mit Gas beliefert werden will, muss heute Entscheidungen treffen. OMV verhandelt mit deutschen Energiefirmen über eine Beteiligung – bisher ohne greifbares Ergebnis. Am meisten umworben von den Großmächten ist derzeit ein winziger Staat, das Erdgasemirat Qatar am Golf. Es verfügt über die drittgrößten Gasvorkommen der Welt. Amerikaner, Japaner, Franzosen arbeiten schon länger in der Hauptstadt Doha, Chinesen und Inder kommen hinzu. Die langen Wege vom Golf nach Amerika und Ostasien machen den teuren Flüssiggastransport rentabel. Dabei wird das Erdgas bei minus 160 Grad verflüssigt und sein Volumen verkleinert. So lässt es sich auf Tanker verladen. Im Zielhafen wird es in den Gaszustand zurückverwandelt. Flüssiggas macht den Rohstoff genauso flexibel wie Öl. Das ist attraktiv für Produzenten und Abnehmer zugleich, denn sie sind nicht über Jahrzehnte durch Pipelines aneinander gekettet. Fällt ein Lieferant aus, kann kurzfristig Gas bei anderen Produzenten gekauft werden. Bisher zeigte Deutschland daran kein Interesse, auch wegen der hohen Kosten. Doch nun hat sich der E.on-Konzern nach langem Nachdenken zum Bau eines Anlandeterminals für Flüssiggas in Wilhelmshaven durchgerungen. Weitere sollten folgen, damit Deutschland nicht nur auf starre Pipelines festgelegt bleibt. Die Verflechtung mit einem einzigen Produzenten, und mag er so große Reserven haben wie Russland, ist also die falsche Strategie. Europa und Deutschland sind in der glücklichen Lage, Gas aus allen Richtungen importieren zu können. Dass Energieträger aus Risikoländern kommen, ist erst zu ändern, wenn alternative Energien endlich schneller entwickelt werden. »Energiesicherheit« bedeutet einstweilen nicht mehr, als die chronische Unsicherheit beim Verbrauch fossiler Brennstoffe einzudämmen. Und das geht am besten, indem man sein Erdgas aus möglichst vielen der gefährdeten Rohstoffländer bezieht – um ganz sicher zu gehen. Siehe auch Wirtschaft, Seite 19

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Der Präsident und die Kanzlerin werden einiges zu bereden haben. Zumal seitens der Deutschen schon vor der Abreise einige klare Dinge in aller Öffentlichkeit gesagt worden sind. »Fehler« und »Guantánamo« waren die Stichwörter, also der Umgang der Amerikaner mit dem Deutschen ElMasri und mit anderen gefangenen Terrorverdächtigen. Daneben werden gewohnte Konfliktthemen auftauchen wie der EU-Beitritt der Türkei oder die geringeren Verteidigungsausgaben der Europäer. Sodann gibt es Zonen gemeinsamer Sorge, drängend – nach dem politischen Aus für Ariel Scharon – der Nahe Osten, drängend ebenfalls das verstärkte Streben Teherans nach einer Atombombe. Auch Putin hat sich mit seiner Gas-Machtpolitik wieder zum Thema gemacht. Und so wird es weitergehen durch die Brennpunkte dieser Erde, von denen es zurzeit besonders viele zu geben scheint. Das klingt nach Krisenroutine. Dennoch geschieht mit diesem Besuch auch etwas Unerhörtes, das weniger mit den Personen zu tun hat als mit einer Vorgeschichte und ein wenig auch mit Geschichte. Dass ein deutscher Regierungschef mit einer derartigen Bugwelle von Kritik nach Amerika reist, das ist schon außerordentlich. Und dass die Kanzlerin trotzdem eine erfolgreiche Reise absolvieren kann, hätte sich keiner ihrer Vorgänger träumen lassen. Vor allem Gerhard Schröder nicht. Er hat mit seinem Nein zum Irak-Krieg den entscheidenden Schritt der deutschen Emanzipation vom nationalen Übervater Amerika getan. Und zwar genau so, wie das erstmalige grundsätzliche Nein des Sohnes gegen den Vater auch in Familien oft abläuft: überzogen, schroff, zum falschen Zeitpunkt. Und mit hohen Folgekosten. Schröder musste sich nach seinem dramatischen Nein zu nah an Frankreich und an Russland anlehnen, konnte den Irak-Krieg dennoch nicht verhindern, musste sich hernach mit seiner Amerika-Kritik sehr zügeln und wurde dort dennoch nie wieder gern gesehen. Der Kanzler erzielte mit seinem Nein innenpolitisch einen großen Nutzen, außenpolitisch erreichte er das Gegenteil. Bei der Kanzlerin ist es genau andersherum, sie hatte hierzulande lange daran zu knapsen, dass sie bei ihrer letzten Washington-Reise im Jahre 2003 zu Bush- und zu kriegsfreundlich wirkte. Nun profitiert sie von Schröders Nein gleich doppelt: gegenüber den USA, weil dort ihre harten Worte besser ankommen als Schröders verkniffenes Schweigen in den letzten Jahren. Innenpolitisch wiederum haben ihre kritischen Äußerungen sie von dem Verdacht zu großer Bush-Nähe befreit. Dialektik der Geschichte: Der Emanzipationsakt, den Schröder zu Recht vollzogen, der aber zunächst viel Schaden angerichtet hat, wird nun bei Merkel zu etwas Gelungenem. Nur Emanzipation ohne Trotz macht offenbar wirklich frei. Dass die Kanzlerin mit kritischen Worten und dennoch guten Erfolgsaussichten nach Washington aufbrechen konnte, hat jedoch nicht

nur mit der richtig-falschen Irak-Politik ihres direkten Vorgängers zu tun, sondern auch mit ihrer Partei. Die CDU pflegte vierzig Jahre lang ein weitgehend ungetrübtes Verhältnis zu den USA. Von Adenauers Westbindung über die Wiederbewaffnung bis hin zu Kohls Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen war es – mit Ausnahme der Entspannungspolitik – meist die Union, die den Wünschen und Überzeugungen der Amerikaner nahe stand. Erfüllt hat sich diese historische Linie aus Sicht der Christdemokraten dann 1989, als George Bush die Deutschen mit ihren befreundeten europäischen Nachbarn nicht allein ließ und die deutsche Einheit – gegen französischen Willen und englische Ablehnung – ermöglichte. Damit vollendete sich gewissermaßen die transatlantische Freundschaftsbeziehung, und von da an kühlte sie sich merklich ab. Wer heute eine Umfrage startet unter den Außenpolitikern der Union (das geht schnell, es sind nicht viele), der hört einiges über Freundschaft, mehr jedoch über Interessen, gemeinsame und gegensätzliche. Die gewachsene transatlantische Distanz wird an zwei Faktoren festgemacht, einem historischen und einem biografischen. Nach dem 11. September 2001 haben die USA einen Kurs eingeschlagen, den die meisten Wähler der Union nicht nachvollziehen konnten. Markantester Punkt war der 20. März 2003, der Beginn des Irak-Kriegs. Doch ging die moralische Selbstverstümmelung der US-Regierung weiter: Saddams fehlende Massenvernichtungswaffen, die Folter in Abu Ghraib, Guantánamo und die Verschleppung von Verdächtigen. Distanz schafft aber auch der Generationswechsel, hüben wie drüben. In Washington haben nur noch wenige Politiker europäische Erfahrungen, etwa als Besatzungssoldaten, während in Deutschland die Zahl derer abnimmt, die noch eine eigene Erinnerung an die Berlin-Blockade haben, denen also Dankbarkeit nicht bloß politische Selbstverständlichkeit, sondern emotionales Bedürfnis ist. So verwundert es kaum, wenn heute unter Christdemokraten davon gesprochen wird, die USA seien für Deutschland »nicht mehr von existenzieller Bedeutung«. Die Regierung Bush sei eine »glücklicherweise verlöschende Administration«. Ohnehin sei Bush, so ein anderer, »international verbrannt«. Besser könne es erst nach ihm werden. Das alles hat bei der Union selten einen triumphalen Beiklang. Vielmehr sorgt man sich, dass »die neue Verwundbarkeit der USA viel folgenreicher ist als die neue Stärke«. An diesem Punkt scheint sich auch unter Christdemokraten ein neues USA-Bild herauszubilden. Fürchtete man vor drei Jahren noch die amerikanische Hypermacht, so verblüfft neuerdings deren Schwäche. Lateinamerika macht, was es will. Der Irak lässt sich nicht ordnen, Iran stört sich so wenig an amerikanischen Drohungen wie Nordkorea. Zudem haben die Amerikaner mit dem Irak-Krieg sich selbst mehr abgeschreckt als die »Schurkenstaaten«. Das führt zu mehr deutschem Selbstbewusstsein gegenüber dem Partner, aber auch zu mehr Verunsicherung, weil bisher niemand in das Vakuum zu stoßen vermag, das durch die amerikanische Schwäche entsteht.

Foto (Ausschnitt): BPA/ullstein

nterschiedlicher könnten die beiden kaum sein. Er, der Asket und Frühsportler. Sie, die genussfreudige Spaziergängerin. Er, der gegenüber der Außenwelt ein gewisses intellektuelles Desinteresse pflegt. Sie, die stets neugierige Blitzmerkerin. Er, der gern seine Macht demonstriert und Siege schon feiert, wenn sie noch gar nicht errungen sind. Sie, die ihre Karten verdeckt hält und Erfolge gern im Stillen genießt. Natürlich gibt es auch Ähnlichkeiten zwischen George W. Bush und Angela Merkel. Vor allem ihre Emphase für die Freiheit. Einem Amerikaner ist sie ohnehin angeboren und dieser Ostdeutschen eben auch, jedenfalls mehr, als es der bundesdeutschen Mehrheit gefällt. Allerdings wird sich die Kanzlerin fragen, warum George W. Bush, wenn er die Freiheit so sehr liebt, dass er sie allen bringen möchte, dann so wenig Geduld und Sorgfalt dafür aufwendet, sie ihnen auch zu erklären. Die zweite Ähnlichkeit dürfte sich beim Washington-Besuch von Angela Merkel als die wichtigste herausstellen: Beide lieben das offene Wort, speziell unter vier Augen.

Zumindest das Thema Freiheit verbindet den Amerikaner und die Ostdeutsche

Gegenüber Russlands Staatschef könnte das etwas anders aussehen

Distanz aus nächster Nähe Angela Merkel profitiert bei ihrem Antrittsbesuch in Washington von Schröders Fehlern – und in Moskau auch Von Bernd Ulrich

Angela Merkel steht in der christdemokratischamerikanischen Tradition, auch sie ist bestimmt von dieser ernüchterten Nähe, durchaus mit einer gewissen verbliebenen Fähigkeit zur Emphase für das Land hinter und nach Bush. Macht das noch einen Unterschied zur Vorgängerregierung? Kurz vor Weihnachten traf sich die Kanzlerin zu einem Vieraugengespräch mit einem Mann, der lange dachte, er sei ganz anders als sie. Zum Beispiel meinte er, sie könne maximal einen politischen Sechstausender erklimmen, während er selbst in der Lage sei, jeden Achttausender zu nehmen, ohne Sauerstoffmaske und in Turnschuhen. Mittlerweile ist Joschka Fischer herabgestiegen und sie hinauf, kurzum, man konnte sich auf Augenhöhe begegnen. Die beiden sprachen über Außenpolitik und stellten wohl weniger Differenzen fest als erwar-

" BERLINER BÜHNE

Gesegnete Nilpferde Zwei Schreckensmeldungen in nur einer Woche erschüttern die Hauptstadt: Töpfer kommt nicht, Bulette ist tot. Nur Ahnungslose sehen den Zusammenhang nicht. Den Eingeweihten tun sich apokalyptische Ahnungen auf. Zum Glück verfügt Berlin über den seelischen Beistand des Landesbischofs, des EKDVorsitzenden Dr. Wolfgang Huber, der seiner Betroffenheit über die notwendig gewordene Einschläferung Bulettes mit nur 53 Jahren in der BZ bewegenden Ausdruck gab: »Wäre nicht schon ein Bär das Wappentier der Stadt, dieses Nilpferd hätte alle Chancen, dazu gewählt zu werden. Die große Anteilnahme am Tod des Nilpferds zeigt, wie groß unsere Sehnsucht nach der Harmonie der Schöpfung ist. Vorbilder des Gottvertrauens können die Tiere für uns sein. Auch Bulette. An uns ist es, für sie Verantwortung zu übernehmen. Nicht nur für unser Wohlbefinden sind wir verantwortlich, auch für unsere Umwelt. Damit verbindet sich der Segen Gottes.« Gesegnet seien die Nilpferde. Doch ein Fluch liegt auf der Berliner CDU. Bischof Huber hat Recht: Bulette wäre gewählt worden – als Wappentier, als Landesbischof, als Regierender Bürgermeister, whatever! Doch nun ist das Tier tot, und Klaus Töpfer will

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Foto (Ausschnitt): Henning Schacht/action press

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gar nicht erst kommen. Töpfers Auftritt als Spitzenkandidat bei den Abgeordnetenhauswahlen im September wäre die letzte Chance der Union gewesen, am Thron von Klaus »Lebensfreude pur« Wowereit zu rütteln, dessen Beliebtheit in Berlin fast schon an Bulettes heranreicht. Nun wird »Wowi« wohl so lange die Hauptstadt regieren, bis er die linke Mehrheit auf Bundesebene beisammenhat, um Merkel aus dem Kanzleramt zu jagen. Händeringend sucht der Berliner Unionsvorsitzende Ingo Schmitt nach einem geeigneten Ersatzkandidaten für Töpfer. Friedbert Pflüger ist trotz Empfehlung Richard von Weizsäckers bei der Berliner Union nicht durchzusetzen. Es fehlt der Stallgeruch. Bessere Chancen kann sich nach Einschätzung von Kennern der Hauptstadtunion der Friseur der Kanzlerin, Udo Walz, ausrechnen. Noch ziert er sich ein wenig, aber die Einstellung stimmt. »Wenn ein Bürgermeister in guter Haltung durchs Brandenburger Tor geht, ist er auch schon ein guter Bürgermeister«, so Walz auf die Frage nach seinem Amtsverständnis. Die Obduktion ergab übrigens als Todesursache, dass Bulette ein rätselhaftes großes Loch im Kopf hatte. Was das wohl wieder bedeuten mag? Bischof Huber, übernehmen Sie! Jörg Lau

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tet. Das liegt, so mutmaßt der Ex-Außenminister, daran, dass Angela Merkel im Amt ihre Naivität gegenüber den Amerikanern verloren habe. Das allerdings würde die Kanzlerin bestreiten, weil sie naiv nie gewesen sei. Spätestens nicht mehr seit dem 10. Dezember 1997, als im japanischen Kyoto das Klimaprotokoll unterschrieben wurde, unter anderem von der deutschen Umweltministerin Merkel. Sie hatte hart dafür gekämpft und während der Konferenz erlebt, wie bullig und protzig die Amerikaner – damals regierten die Demokraten! – auftraten, nur um nachher das Abkommen doch nicht zu ratifizieren. Ob einstmals naiv oder immer schon klarsichtig – diese Woche im Weißen Haus blickt die Kanzlerin gewiss mit ebenso viel Nüchternheit wie Freundlichkeit auf den Präsidenten. Ihre Spielräume sind größer geworden, seine nicht, sie braucht die Amerikaner als politische Freunde nach wie vor, er hat nicht mehr viele Freunde zu verlieren. Man wird sich also verstehen. Besonders nah sind sich Präsident und Kanzlerin beim Thema internationaler Terrorismus. Hier teilt Merkel die Bedrohungsanalyse des Präsidenten – nur eben seine Methoden nicht. Seine operative Ungeduld und sein internationales Auftreten lehnt sie ab. Wie relativ nah sich trotz alledem Amerikaner und Deutsche noch sind, das wird schon drei Tage nach der USA-Reise zu besichtigen sein. Am Montag ist Merkel in Moskau. Dort hatte sich Schröder in eine echte Freundschaft verrannt, die doch maximal eine politische »Freundschaft« hätte sein dürfen. Dankenswerterweise hat Wladimir Putin mit dem Abdrehen des Gashahns daran erinnert, was er unter Politik versteht, aber auch, wie man mit ihm auskommen kann. Die Drohungen der Europäer, man könne einen unzuverlässigen Energielieferanten nicht brauchen, haben Putin einlenken lassen. Allenfalls Interessenpolitik scheint mit ihm möglich zu sein. In der Union hört man zum Thema jedenfalls nur grätige Formulierungen: »Wichtig« sei Moskau, die Beziehungen seien »komplex«. Wenn bei der kühl-komplexen Interessenpolitik ein bisschen diplomatische Freundschaftsfolklore helfen kann, dann wird Angela Merkel in Moskau gewiss auch Russisch sprechen. Mehr wohl kaum. Denn dass sie mit Putin gut über Freiheit reden kann, lässt sich schwer denken.

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Foto: Georg Schönharting/Ostkreuz

Chaos in Kiew Das ukrainische Parlament feuert die Regierung Von Johannes Voswinkel as ukrainische Parlament hat sich seit langem durch die Lust am Meinungskrawall bis hin zum Faustkampf ausgezeichnet. Am Dienstag gönnten sich die Abgeordneten das Spektakel einer Regierungsentlassung – vorgeblich aus Empörung über die Kompromisslösung im Gaskonflikt mit Russland. Doch das Gas dient nur als Brennstoff, um den Wettkampf für die Parlamentswahl am 26. März anzuheizen. Premierminister Jurij Jechanurow, der vor vier Monaten als Übergangskandidat den Dienst angetreten hatte, wurde noch früher als erwartet zum kommissarischen Regierungschef herabgestuft. Da konnten sich die Geostrategen des Kremls, die das Abdrehen des Gashahns am Neujahrstag als weltweiten Imageschaden für Russland verbuchen mussten, doch über einen kleinen Erfolg freuen: die fortschreitende innenpolitische Zerrüttung des Nachbarlandes. Das ukrainische Parlament machte sich die am 1. Januar in Kraft getretene Verfassungsänderung zunutze, welche die Vollmachten des Präsidenten begrenzt. Das Draufgängertum der Abgeordneten, die mit ihrem neuen Knüppel der Regierungsentlassung sogleich dreinschlugen, lässt allerdings an ihrer politischen Reife zweifeln. Denn dank der Vieldeutigkeit der alten Gesetze und der neuen Verfassungslage vor der Parlamentswahl stehen der Ukraine chaotische Wochen bevor. Eine neue Regierung kann vermutlich nur Präsident Wiktor Juschtschenko vorschlagen. Der aber ließ verlauten, er erkenne die Absetzung der alten Regierung erst gar nicht an, da sie verfassungswidrig sei. Zugleich drohte er mit der Auflösung des Parlaments, das sowieso in gut zwei Monaten neu gewählt werden soll. Die ukrainische Politik verwildert zum Mensch-ärgere-Dich-nichtSpiel ohne Regeln, bei dem es den Hauptfiguren ausschließlich ums Rauswerfen geht. Die Heldin der Revolution, Julia Timoschenko, gibt sich als alleinige Hüterin des orangefarbenen Geistes und nimmt nebenbei an Juschtschenko Rache, der sie im Herbst als Regierungschefin absetzte. Parlamentspräsident Wladimir Litwin versucht, sich als Mann der politischen Mitte zu profilieren, die er offenbar mit purem Opportunismus gleichsetzt. Juschtschenkos Gegenkandidat vor einem Jahr, Wiktor Janukowitsch, reklamiert nun lautstark die Stimmen der Revanchisten für sich. Den Gasstreit musste er noch in beklommener Stille aussitzen, da seine prorussische Haltung kaum mit dem geforderten Maß an ukrainischem Patriotismus vereinbar war. Der abgewählte Premierminister wiederum macht der Partei des Präsidenten Mut: Der Konflikt komme letztlich dem düpierten Juschtschenko zugute, da das ukrainische Volk die Erniedrigten liebe. Doch vielmehr fühlen sich die Ukrainer von ihrer verantwortungslosen politischen Klasse erniedrigt. Das erste Jahr nach der orangenen Revolution sieht rückblickend eher wie ein Austausch der Eliten als ein Richtungswechsel aus. Den Wählern bleibt noch die Chance, der Entrüstung mit dem Stimmzettel Luft zu machen. Erst wenn die Menschen in Apathie verfielen, hätten Kiews Politiker den demokratischen Geist von unten endgültig auf dem Gewissen.

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Die Bundesregierung will die Integration zu ihrem »ganz großen Thema« machen

Dürfen Türken schwul sein? S

tellen Sie sich vor, Ihr volljähriger Sohn kommt zu Ihnen und möchte gern mit einem anderen Mann zusammenleben. Wie reagieren Sie? Was halten Sie davon, dass in Deutschland Homosexuelle öffentliche Ämter bekleiden? Welche Berufe sollte Ihrer Meinung nach eine Frau auf keinen Fall ausüben? Genau solche Fragen möchten die Einbürgerungsbehörden in Baden-Württemberg nach einem neuen Leitfaden des dortigen CDU-geführten Innenministeriums gerne von muslimischen Bewerbern um die deutsche Staatsbürgerschaft beantwortet wissen. Die Antworten können, wenn sie nicht fortschrittlich genug ausfallen, zur Verweigerung der Einbürgerung führen. Auch Jahre später noch droht die Rücknahme der Einbürgerung, sollte der Bewerber seine liberale Aufgeschlossenheit nur vorgetäuscht haben. Der Stuttgarter Fragebogen ist keine Satire, sondern – in seiner Mischung aus berechtigter Sorge, kulturkämpferischer Drohgebärde und obrigkeitsstaatlicher Schnüffelei – ein sich selbst entlarvendes Dokument der integrationspolitischen Ratlosigkeit. Der ungeschickte Fragebogen bringt allerdings Fragen auf den Tisch, die endlich offen debattiert werden müssen. Es gibt – durch den näher rückenden Terrorismus und das Aufblühen von Parallelgesellschaften – eine neue Dringlichkeit des Themas Integration. Wie stark sollen sich Migranten der deutschen Kultur anpassen, wie sehr muss sich im Gegenzug das deutsche Selbstbild durch Einwanderer verändern? Wie führt man muslimische Migranten näher an die Verfassung dieses Landes und westliche Werte heran? Was kann und darf der

Fragebögen, Deutschkurse, Kopftuchverbot:Wie stellen wir uns den Neubürger vor, der zu unserer Gesellschaft passt? Von Jörg Lau

Staat erzwingen, was bleibt der Eigeninitiative der Zuwanderer überlassen, wenn wir eine freiheitliche Gesellschaft bleiben wollen? Die Deutschen schauen voller Sorgen auf ihre sich abkapselnden Zuwanderer. Und die Migranten, die sich zusehends unerwünscht empfinden, erwidern diesen bangen Blick. Die Herkulesaufgabe, das wechselseitige Unbehagen aufzubrechen, fällt in der neuen Regierung den Christdemokraten zu – dem Innenminister Wolfgang Schäuble und der Integrationsbeauftragten Maria Böhmer. Darin liegt eine gewisse historische Gerechtigkeit. Die Union war die treibende Kraft der Anwerbepolitik. Zugleich pflegte sie fahrlässig lange die Illusion, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Geradezu atemberaubend, wie umstandslos diese Lebenslüge jetzt abgeräumt wird. Wolfgang Schäubles erste Äußerungen als Innenminister sind auf eine neue Art werbend und fordernd zugleich. Wir sind auf weitere Zuwanderung angewiesen, hämmert er den Einheimischen in jedem Interview ein, und wir sollen den Fremden »nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung« verstehen. Auf der anderen Seite verlangt er von den Zuwanderern den sichtbaren »Willen, hier heimisch zu werden«. Das Nachzugsalter für Ehegatten will Schäuble auf 21 Jahre erhöhen, um Zwangsehen vorzubeugen. Zwischen Gefühl und Härte gibt es fast keinen Übergang in den Äußerungen des Innenministers. Früher wurden die harten und die weichen Töne in der Integrationsdebatte meist mit verteilten Rollen vorgetragen: Schily gegen Beck, »Sheriff gegen Minderheitenschützer«. Unwahrscheinlich, dass sich zwischen Schäuble und Böhmer ähnliche Szenen abspielen werden. Und die Aufwertung des Amts der Integrationsbeauftragten durch ihre machtnahe Ansiedlung im Kanzleramt lässt hoffen, dass Zuwanderung auch jenseits von Sicherheitsfragen endlich ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit rückt. Nach dem 11. September wurde Einwanderung zum Sicherheitsthema. Die politische Fantasie verlegte sich auf die Erleichterung von Ermittlung, Repression, Strafverfolgung, Sicherungshaft und Abschiebung. Unter Muslimen wurde dies zunächst als Islamophobie gebrandmarkt. Doch unterdessen hat in islamischen Organisationen ein Umdenkungsprozess begonnen. Zwei der wichtigsten Verbände – der Zentralrat der Muslime und die türkeinahe Ditib – arbeiten intensiv mit dem BKA und dem Verfassungsschutz zusammen. Sie predigen in den Moscheen gegen Extremismus, organisieren Informationsveranstaltungen mit Sicherheitsbehörden, bilden Verfassungsschützer fort. Die muslimischen Verbände haben verstanden, dass der Kampf gegen den Terrorismus auch – und gerade – die moderaten Muslime angeht. Mussten sie früher oft gedrängt werden, sich vom islamistischen Terrorismus laut und deutlich zu distanzieren, so sind sie mittlerweile dabei, selbstbewusste zivilgesellschaftliche Akteure im Kampf gegen die islamistische Perversion ihres Glaubens zu werden. Im Fall Osthoff bildeten sie zur Beschämung der Mehrheitsgesellschaft die Avantgarde des Protests. Die Politik muss ihre abwartende und überängstliche Haltung aufgeben und zusammen mit den Organisationen dafür sorgen, dass die breite Mehrheit der gesetzestreuen deutschen Muslime

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stärker als bisher im öffentlichen Leben repräsentiert wird. Wolfgang Schäuble hat angekündigt, Integration zu einem »ganz großen Schwerpunkt« der Regierungsarbeit zu machen (ZEIT Nr. 46/05) und alle Anstrengungen darauf zu richten, »Separatgesellschaften« zu verhindern. Wer französische Verhältnisse verhindern will, braucht aber gut verankerte Partner in den Migranten-Communities. Die muslimischen Verbände bemühen sich, solche Partner zu werden. Es wird an einer transparenten, demokratisch legitimierten Gesamtvertretung der deutschen Muslime gearbeitet. Mitte des Jahres soll sie ihre Arbeit aufnehmen. Die Beheimatung des Islams in Deutschland bleibt vor allem die Aufgabe der Muslime. Aber die Politik muss diesen Prozess nicht nur mit Druck und Argwohn, sondern auch mit einer neuen Kultur der Anerkennung positiv beeinflussen. Integrationspolitik wird in Zukunft einen neuen Ton finden müssen – jenseits von Gutmenschentum und trompetender Kulturkämpferattitüde, auch jenseits der Scheinalternative von Leitkultur versus Multikulti. Eine demokratische, republikanische Leitkultur ist kein Gegensatz zur multikulturellen Gesellschaft, sondern die Voraussetzung ihres Funktionierens. Eine weltoffene Leitkultur, wie sie der Bundestagspräsident Norbert Lammert fordert, kann den gemeinsamen Bezugspunkt für eine Gesellschaft bereitstellen, die ihre kulturelle Diversität als Bereicherung zu erkennen lernt, ohne dabei in Werterelativismus abzugleiten. Ihr Kanon muss immer wieder neu verhandelt werden, auch mit den jeweiligen Neuankömmlingen. Eine Schlüsselfunktion kommt dabei der Religion zu. Rot-grüne Berührungsängste haben hier zum Stillstand geführt. Unionspolitikern müsste es eigentlich leichter fallen, zu erkennen, dass das deutsche System der Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften integrationspolitische Einflussmöglichkeiten eröffnet, um die uns andere Länder längst beneiden. Die Muslime müssen nicht Kirche werden, wohl aber den hohen Ansprüchen einer verfassungskonformen Religionsgemeinschaft nach deutschem Recht genügen, wenn sie an dieser Ordnung teilhaben wollen und etwa Religionsunterricht erteilen möchten. Mit den Anreizen, die das deutsche Modell bietet, kann die Politik die Herausbildung eines Islams in Deutschland befördern, der mit der modernen Gesellschaft besser zurechtkommt. Es ist unklug, sich auf symbolische Defensivmaßnahmen wie Kopftuchverbote zu versteifen – Nordrhein-Westfalen etwa plant ein eigenes Gesetz für 15 Fälle unter 170 000 Lehrern! Man sollte lieber mit Anreizen und Forderungen den innerislamischen Reformprozess unterstützen, der längst begonnen hat. Die neue Integrationsbeauftragte könnte da als Verhandlungspartnerin ganz ohne Geld viel bewirken. Mag sein, dass Integrationspolitik mit dem Ende von Rot-Grün ironischerweise eine feministischere Färbung bekommt. Maria Böhmer will das Thema der Frauenrechte im Islam zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit machen. Sie wird energisch darauf dringen, dass Zwangsehen und so genannte Ehrenmorde geächtet und hart bestraft werden. Die erste Dienstreise hat sie noch im Dezember zu ihrem französischen Kollegen Azouz Begag geführt. Was sie über die Probleme der Banlieues erfuhr – Begag selbst ist dort aufgewachsen –, habe sie darin bestärkt, dass erfolgreiche Integration nicht allein von rechtlichen Voraussetzungen abhängt. Integration entscheide sich vor allem am Arbeitsmarkt, sagt Böhmer. Sie möchte darum mit den deutschen Arbeitgebern über eine Selbstverpflichtung verhandeln, mehr jugendliche Migranten auszubilden. Zugleich sucht sie nach Wegen, den Sinn für Bildung fester in den Migrantenmilieus zu verankern: Darum will sie das Gespräch mit möglichen Leitfiguren

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suchen, mit Einwanderern, die es geschafft haben und Jüngeren Mut machen können. Kaum vier Wochen nach ihrem Amtsantritt zeichnet Böhmer die Skizze einer ambitionierten Agenda: Sprachförderung schon im Kindergarten, Verhinderung von Ghettobildung in den Brennpunkten deutscher Städte, Ausweitung und Ausbau der Integrationskurse, Werbung für mehr Gleichberechtigung bei den Migranten und für mehr Chancengleichheit in der Mehrheitsgesellschaft. An ihrem französischen Kollegen Azouz Begag, sagt sie, habe sie das »kämpferische Bürgerbewusstsein« eines Aufsteigers beeindruckt, der gegen alle Widrigkeiten seinen Weg als Schriftsteller und Politiker gemacht habe. Die Staatsministerin ist zu Recht beeindruckt, denn hier liegt die Krux aller Integrationspolitik. Solche Haltungen lassen sich weder sozialtechnisch erzeugen, noch lassen sie sich verordnen. Die donnernde Aufforderung »Nun werdet mal endlich heimisch« ist so sinnlos wie ein Befehl zum Lachen. Es mag sinnvoll sein, Sozialleistungen und Aufenthaltsgenehmigungen an die erfolgreiche Absolvierung von Integrationskursen zu koppeln, wie es jetzt etwa der niedersächsische Innenminister Schünemann (CDU) fordert. Doch Sanktionen wirken nur dann in der richtigen Richtung, wenn ein Klima grundsätzlicher Offenheit für jene spürbar ist, die sich besser integrieren sollen. Die Einfuhr von »Importbräuten« per Gesetz weiter zu erschweren ist eine ehrenwerte Initiative. Für einen tiefgreifenden Wertewandel ist entscheidender, ob sich junge Migranten als legitimer Teil dieser Gesellschaft fühlen können und Chancen bekommen, ein anderes Leben zu führen. Die Mehrheitsgesellschaft muss lernen, ihre Ansprüche weniger schnarrend zu formulieren, sodass sie nicht den Eindruck erwecken, ein verklemmter Ausdruck grundsätzlicher Missachtung zu sein. Und die Migranten müssen lernen, die beliebte Opferrolle aufzugeben und sich als eigenverantwortlicher Teil der deutschen Gesellschaft zu sehen, in der sie oftmals beschämend unter ihren Möglichkeiten bleiben. Das Ziel jeder Integrationspolitik – den Sinn für Zugehörigkeit zu fördern – ist allein auf dem Amtsweg nicht zu erreichen. Es mutet schief an, ANZEIGE

wenn wir den Neubürger bei Annahme der deutschen Nationalität einen feierlichen Eid auf die Verfassung ablegen lassen, während Rekrutengelöbnisse mitten in Berlin von der Polizei vor militanten Ausbrüchen deutschen Selbsthasses geschützt werden müssen. So richtig es ist, mehr Entgegenkommen von den Zuwanderern zu fordern: Das Gelingen der Integration hängt nicht zuletzt am Selbstbild der Mehrheitsgesellschaft. Nur ein Land von selbstbewussten, freiheitlichen Bürgern kann erwarten, dass sich auch die Neuankömmlinge als solche begreifen. i Mehr zum Thema Migration nach Deutschland unter: www.zeit.de/integration

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Russische Bäuerinnen auf dem Feld: »Wenn man spürt, dass die Wärme anfängt, aus dem Boden zu steigen, dann ist es Zeit zum Pflügen und Pflanzen« Fotos: Lucian Perkins

um Beispiel Julias Hände. Sie sind mit der Zeit taub geworden, fast hölzern. Julia muss diese Hände gegen einen Stuhl schlagen, um überhaupt etwas Gefühl in sie hineinzubekommen. Diese kleinen Hände mit den glatten, dicken Fingern waren Julias Existenzgrundlage gewesen, sie schwangen Sensen, Schaufeln und Rechen, sie pflügten, rissen Wurzeln aus, schleppten Wassereimer und wuschen Wäsche im eiskalten Wasser des Tichonskoje-Sees. Doch im vergangenen Jahr versagten sie. »Es ist zwecklos«, erzählt Julia. »Ich kann die Kuh nicht mehr melken. Nach dem ersten starken Frost werden wir Luschka schlachten.« Julia lebt schon seit 40 Jahren in dem winzigen Dorf Solowjowo, 480 Kilometer nördlich von Moskau. 1939 in einem anderen Dorf im Norden geboren, im Alter von sechs Jahren in ein Waisenhaus gekommen und bis Anfang zwanzig in den Industrieanlagen von Tscherepowez beschäftigt, hatte sie die Chance gehabt, das armselige Leben auf dem Land hinter sich zu lassen. 1955, als Nikita Chruschtschow im Rahmen seiner poststalinistischen Landwirtschaftspolitik in einer überschwänglichen Geste befahl, dass in der gesamten Sowjetunion Getreide angepflanzt werden sollte, schloss sich auch die junge Julia einer Arbeitsbrigade ihrer Fabrik an und fand sich am Ufer eines Sees am Rand eines Kiefern- und Birkenwäldchens wieder, wo sie die Aufmerksamkeit eines sanften Mannes auf sich zog, der sich in sie verliebte. Ihre Freundinnen aus der Stadt hielten sie für verrückt, einen Heiratsantrag anzunehmen, der sie wieder aufs Land zurückbefördern würde. Aber sie erklärte, sie habe keine Angst vor schwerer Arbeit, und zog mit Eltern und Geschwistern ihres frisch gebackenen Ehemanns in eine Kate, die aus einem einzigen Raum bestand. Das Dorf war damals so wunderschön, wie es heute noch ist: Blumenwiesen, sanfte Hügel, Seeufer und im sumpfigen Hinterland freilaufende Pferde. Heute, 40 Jahre nachdem sie ihre Entscheidung getroffen hat, liegt ein schweres und gelegentlich erbarmungsloses Leben hinter ihr: Es gab Krieg, Hungersnot und häusliche Gewalt. In vier Jahrzehnten verbrachten Julia und ihr Mann nur einmal Ferien miteinander: im fernen Leningrad, zehn Tage lang. Das war alles.

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Wie überleben? Kühe schlachten, Bäume fällen, Holz verkaufen? 1991 brach die Sowjetunion zusammen, und in den Städten standen reihenweise alte Frauen vor den U-Bahnstationen und verkauften Zigaretten und Unterhosen. Gangster kurvten in schicken Autos und Armani-Anzügen durch die Städte. In Moskau schossen luxuriöse Gebäude aus dem Boden, und Obdachlosigkeit wurde zu einem sozialen Problem. Eine neue Unsicherheit erschütterte das, was einmal eine selbstgefällige Version der Mittelklasse der Sowjetunion gewesen war. Aber was geschah auf dem Land? Was geschah in Solowjowo? Im sowjetischen Dorf verkörperte sich der Sozialismus in der Institution des kollektiven Landwirtschaftsbetriebs, der Kolchose. Trotz Eingaben und Protesten wurde Solowjowo 1933 kollektiviert, und die Dorfbewohner verbrachten die nächsten 60 Jahre damit, nicht mehr für ihre Verwandtschaft, sondern für den Staat zu ackern. In der Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg reichte bereits der Diebstahl einer Steckrübe, um ins Gefängnis zu wandern. Das Land um Solowjowo war, wie der größte Teil des russischen Nordens, für Milchwirtschaft geeignet. Fortan galt es, Milchquoten einzuhalten, Fünfjahrespläne zu erfüllen. Die Kolchosarbeiter schufteten in den Brigaden und verrichteten all die schwere Arbeit, die nötig war, um ein paar hundert Kühe am Leben zu erhalten. 1992, als Moskau mit seinem wilden Ritt in Richtung Kapitalismus begann, musste auch die Kolchose von Solowjowo eine Entscheidung treffen: Was sollte mit der 85-köpfigen Kuhherde geschehen, nachdem man nicht mehr länger mit staatlichen Subventionen rechnen konnte? Die Antwort: schlachten, das Fleisch verkaufen und in Zukunft mit dem Holz der üppigen Wälder in der Gegend Handel treiben. Solowjowos Existenz beruht nun in erster Linie auf einer Subsistenzwirtschaft – wie die zahlloser anderer, in der ausgedehnten russischen Landschaft verstreuter kleiner Dörfer auch. Bisher wurde die Kolchose nicht privatisiert, obwohl die Bauern beginnen, einen Teil des Landes für sich zu nutzen. Sie jagen in den Wäldern, fischen im nahe gelegenen See, züchten Bienen für Honig. Für Russland hat diese Subsistenzwirtschaft der Dörfer verschiedene Konsequenzen. Zunächst einmal, und das ist wichtig, sind die Dorfbewohner einigermaßen sicher vor den wirtschaftlichen Umwälzungen, die Russland erschüttern, weil sie zumeist außerhalb der Geldökonomie leben. Die Lebensbedingungen auf dem Land, Heimat für rund 27 Prozent der Bevölkerung, sind hart. Straßen, Telefone sowie die medizinische Versorgung haben sich seit dem Ende der Sowjetunion erheblich verschlechtert. Einkommen und Renten bewegen sich zwischen umgerechnet 20 und 50 Dollar im Monat. Aber noch decken diese Ein-

Die Erde unter den Füßen Auf dem Lande wohnt von alters her das Gute und Wahre in Russland. Es gibt sogar eine Art soziales Netz. Doch die Idylle zerfällt. Zu Besuch in dem Dorf Solowjowo Von Margaret Paxson

künfte im Großen und Ganzen die dörflichen Grundbedürfnisse. In den Städten dagegen reicht die gleiche Summe für kaum mehr als die monatliche Ration an Brot, Getreide und Tee. Auf diese Weise ermöglicht das dörfliche Leben eine Unabhängigkeit und ein soziales Sicherungsnetz, das im postsowjetischen Russland vielleicht das einzige von wirklicher Bedeutung ist. Die Abhängigkeit von den Händen stellt eine Form von Unabhängigkeit dar – bis die Hände versagen.

Sie wuchsen als Sowjets auf – und blieben dörflichen Bräuchen treu Im Dorf Solowjowo hat sich eine Welt von großer symbolischer und ideologischer Komplexität erhalten. Während sie als moderne Sowjets aufwuchsen, die lernten, an die »strahlende Zukunft« des Kommunismus zu glauben, und weinten, als ihr »Vater« Stalin starb, haben sich die Menschen hier ihre eigene Vorstellung davon erhalten, wie Probleme gelöst werden und wie man sich auf weltliche und überirdische Mächte berufen kann. Obwohl sie damit groß wurden, den christlichen Feiertag Troiza (Pfingsten) in ihrem örtlichen Klubhaus als säkularisierten »Tag der Birke« zu feiern, stahl sich doch Jahr für Jahr Familie um Familie heimlich zum Friedhof, um den Vorfahren Geschenke zu bringen, mit ihnen zu reden und ihre Hilfe für die Ernte zu erbitten. Dabei wurden alle unaufhaltsam immer betrunkener und leidenschaftlicher und stifteten Verbundenheit untereinander und mit den Toten. Jahrein, jahraus suchten sie – auch wenn es wegen der »Informanten« gefährlich war – örtliche Zauberer, Heiler und kundige Frauen auf, die Vieh wiederfinden konnten, das sich in den tiefen Wäldern verlaufen hatte, weil sie wussten, wie man mit dem »Meister des Waldes« spricht, der schlicht als »Großvater« bekannt ist. Und immer hatten sie Angst vor dem bösen Blick, überschwänglichem Lob oder allem, was auf persönlichen Reichtum oder Besonderheit hinwies. Sie beschützten ihre Tiere und Neugeborenen vor den Blicken Fremder, deckten ihre Körbe mit

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Beeren und Pilzen zu, verbargen alle Zeichen von Wohlstand und sahen einem Fremden nie zu lange in die Augen. In dieser ganz eigenen Welt gibt es Bauern, die darum ringen, wohin sie – als Familien, als Dorfbewohner, als Russen – nun gehen sollen. In Julias Familie zog kürzlich ein Sohn mit Frau und zwei Kindern aus dem Dorf in die alte, einst geschäftige Hafenstadt Belosersk. Nun sitzt er in einer kleinen Stadtwohnung ohne fließendes Wasser und Zentralheizung und hofft, eine Arbeit zu finden, und falls nicht, dass das Lehrerinnengehalt seiner Frau sie eine Weile über Wasser hält. Julias Tochter lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in einem Dorf rund 40 Kilometer entfernt und versucht den Ganztagsjob in der örtlichen Bücherei, Hausarbeit, Kuh, Kalb und Hühner, die sie hält, und den chronisch kranken Sohn unter einen Hut zu bringen. Wegzugehen vom Land kann Erleichterung schaffen, aber eben auch Unsicherheit bringen, indem das dortige soziale Sicherungsnetz schwächer wird oder ganz verschwindet. »Was kommt als Nächstes?«, fragen die Dörfler. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat es zwei wesentliche Ansätze zur Beantwortung dieser großen Frage gegeben. Der erste beruht auf der Annahme, dass die »unsichtbare Hand« des Marktes greifen und sich Russland rasch dem Westen angleichen wird. In dem Maße, in dem die Märkte wachsen, der Wettbewerb sich ausbreitet, Firmenbetriebe transparent und »rationell« werden, wird Russland demnach demokratisch werden. Rechtsstaatlichkeit wird die Exzesse abtrünniger Geschäftemacher und Politiker in den Griff bekommen, die Zivilgesellschaft erblühen, und Russland wird sich von Amerika nur noch in seinen Vorlieben für Borschtsch und Kaviar statt für Hot Dogs und Pommes Frites unterscheiden. Das zweite Zukunftsszenario Russlands geht auf etwas zurück, das Anthropologen als »essenzielle« Kulturauffassung verachten. Der Kulturbegriff hat unter den Gelehrten eine lange und kontroverse Geschichte, und einer der Gründe dafür liegt darin, dass seine gedanken-

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lose Verwendung zu einer faszinierten Sicht auf den »Anderen« als einer ganz eigenen, undurchdringlichen »Gestalt« führen kann. So wurde der russische »Andere« beispielsweise als sklavisch loyal gegenüber Despoten beschrieben, als wenig risikofreudiger Kollektivist ohne die Fähigkeit, individuell zu handeln. Die russische Landbevölkerung trägt zusätzlich daran, wie die Elite ihres eigenen Landes sie einschätzte: als konservativ, irrational, stur und roh – und gleichzeitig als Bewahrerin der nationalen »Seele«. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, bleibt Russland, und vor allem das ländliche Russland, natürlich auf ewig ganz eigen und anders.

Die Wahrheit ist, dass sich selbst das ländliche Russland verändert – so vielfältig und in gewisser Hinsicht unabhängig seine kulturellen Traditionen auch sein mögen. Nur wie? Irgendwann fragte ich Michail Alexejewitsch, Julias Mann, woher er wisse, wann es Zeit sei, die Kartoffeln zu setzen. »Man muss barfuß aufs Feld«, antwortete er. »Wenn man spürt, dass die Wärme anfängt, aus dem Boden zu steigen, dann ist Zeit zum Pflügen und Pflanzen.« Die Erde unter den Füßen, das Auge auf den Himmel gerichtet, wird diese Entscheidung irgendwann im Mai getroffen. Juni, Juli und August vergehen auf den Feldern und in den Gärten mit Pflügen und Pflanzen, mit Jäten und dem Schleppen von Heu und Wasser, Wasser und Heu. Die Reifezeit dauert in Solowjowo nur fast vier Monate; dann kommen die kalten Winde, und schon bald gibt es den ersten Frost, die Blätter verfärben sich, und Dunkelheit, Kälte und Regen setzen ein. Sobald es Winter wird, fallen die Leute in einen langsameren Rhythmus; die Tiere werden in die Ställe getrieben. Wenn sich der Winter hinzieht, geht das im Herbst geerntete und eingemachte Gemüse Glas um Glas aus, ein Teil des Fleischs des ebenfalls im Herbst geschlachteten Viehs beginnt zu verderben, und nachts hört man die Ratten im Keller an den Mohrrüben nagen. In Russland reicht die Wachstumsperiode von zwei Monaten in Sibirien bis zu sechs Monaten im Süden. Quer durch die russische Geschichte musste diese Zeit genug erbringen, um nicht nur die Familien im Dorf zu ernähren, sondern auch den adligen Landbesitzer und das hungrige Reich. Die Zaren, die Russland vom 16. bis ins 20. Jahrhundert regierten, hatten wenig Skrupel, Leibeigene auszubeuten, um ihren Reichtum zu mehren. Im Jahr 1581, während der Herrschaft von Iwan IV. (bekannt als der »Schreckliche« und der Erste, der vermutlich den Titel Zar trug), wurden die Leibeigenen per Erlass »an das Land gebunden«, es stand ihnen fortan nicht mehr frei, ohne Erlaubnis ihres Herrn wegzugehen; geflohene Leibeigene wurden wie jeder entlaufene Sklave aufgespürt. Die Steuern, die kollektiv von den Dorfgemeinschaften gezahlt wurden, waren maßlos hoch, körperliche Bedrohungen und sexuelle Übergriffe üblich. Weder die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 noch eine Reihe von Reformen Anfang des 20. Jahrhunderts trugen viel zur Entlastung der Bauern bei. Trotz ihres erklärten Ziels, auch dem Land endlich Gerechtigkeit zu verschaffen, brachte die Revolution von 1917 nur noch mehr Leid. Die Monate sind kurz, um Kartoffeln, Getreide, Heu gedeihen zu lassen, die Familie im Dorf, die Tiere und jene, die fortgezogen sind, zu ernähren, ja das ganze Land selbst zu ernähren. In den letzten Jahren war ein unaufhaltsamer (aber nicht endgültiger) Verfall der Kolchosen zu beobachten. Es gab hier Dorfbewohner, die langsam und schrittweise ihr Heu auf ehemals kollektivem Land machen, was ihnen ein brandneues Gesetz gestattet; Postämter, medizinische Einrichtungen und der Dorfladen sperrten zu. Menschen wanderten in die Städte ab, ohne Absicht, je wieder zurückzukommen. Es gab Todesfälle durch Krankheit, Selbstmord und Gewalt. Zwei Hände, einen sorgenvollen Blick, eine getroffene Entscheidung. Wenn Julias Kuh geschlachtet ist, wird es keine Milch mehr geben, keine Butter, keinen Sauerrahm und keinen Käse. Nach dem ersten Frost im Jahr wird es auch keine Kälber mehr zum Schlachten geben. Und damit auch kein Fleisch mehr. Das Dorf Solowjowo wird in diesem Winter eine Familie mehr haben, die auf neue und andere Weise in den Himmel schaut. Diese Familie wird keine Bauernfamilie mehr sein, sondern eine Rentnerfamilie. Abhängig. Und verändert. Margaret Paxson ist Senior Associate am Kennan Institute des Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington, DC. Ihre Forschungen in Russland mündeten in das Buch »Solovyovo. The Story of Memory in a Russian Village«, Woodrow Wilson Press 2005 Aus dem Englischen von Barbara Häusler

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Fotos [M]: Oberheide/Caro/ullstein; Jochen Helle/Bildarchiv Monheim; Gregor Schlaeger/Visum; TMBV (v. l. n. r.)

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Ein Land zu viel Der Stadtstaat Bremen will in Karlsruhe neue Zuschüsse erkämpfen. Doch ihr eigener Gutachter rät den Bremern, ihre Selbstständigkeit aufzugeben Von Silke Hellwig Symbole der Bremer Herrlichkeit: Die Stadtmusikanten, der Dom, der Roland nebst Stadtwappen

Bremen ur Napoleon und Hitler, pflegte Bremens früherer Bürgermeister Henning Scherf zu sagen, hätten an der Eigenständigkeit der Freien Hansestadt zu rütteln gewagt. Und beiden sei das schlecht bekommen. Die Frage, wozu Deutschland eigentlich ein Bundesland Bremen brauche, war für Scherf damit erledigt. Doch nun scheinen Bremens Politiker selbst zu besorgen, was weder Napoleon noch Hitler gelang. Bremen steht im Begriff, sich abzuschaffen – durch Dilettantismus. Weit her ist es mit der Bremer Eigenständigkeit schon lange nicht mehr. Seit Mitte der siebziger Jahre ist der Stadtstaat abhängig von Finanzspritzen. Zwar kündigt Bremens neuer Senatspräsident, der Sozialdemokrat Jens Böhrnsen, an, alles solle nun anders werden. »Wir müssen zeigen, dass die Hilfen für Bremen kein Fass ohne Boden sind«, sagt er. Doch die Bremer haben sich in ihrer desolaten Finanzsituation gut eingerichtet. Das Leben auf Pump ist komfortabel, solange der Bund für die Kredite haftet. Nicht einmal drei Jahre ist es her, dass Böhrnsen, damals SPD-Fraktionschef, mit einem »100Millionen-Euro-Programm« zur Stadtverschönerung um Wählerstimmen warb.

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Was Bremen von seiner Eigenständigkeit hat, liegt auf der Hand. Sein Bürgermeister genießt den Status eines Ministerpräsidenten und hat einen Sitz im Bundesrat. Die Abgeordneten dürfen Gesetze beschließen. Die Bürger profitieren vom ausgeliehenen Wohlstand. Schwerer ist zu sehen, welche Vorteile Bremens Unabhängigkeit für Nichtbremer mit sich bringen könnte. Wer freilich dem Bremer Regierungschef mit dieser Frage kommt, der stößt auf das Unverständnis eines Landespapas, der es schlichweg unvorstellbar findet, dass manche Menschen sein goldiges kleines Bundesland nicht um seiner selbst willen lieb haben. »Wir sind doch ein Wunschkind der Verfassung«, sagt er. Das Konzert aus großen und kleinen Ländern, das sei doch die Stärke des Föderalismus. Allerdings haben die anderen Länder – bis auf das Saarland – bislang keine Sonderzahlungen vom Bund beansprucht. Die bekam Bremen kurioserweise nur aufgrund seiner Eigenständigkeit – der Stadtstaat konnte das Bundesverfassungsgericht anrufen und erstritt 8,5 Milliarden Euro als Hilfe zur Selbsthilfe angesichts einer so genannten Haushaltsnotlage. Gereicht hat das nicht, im Gegenteil: Die Schulden sind während der Subventionsphase von 1994 bis 2004 sogar von knapp 9 auf 13 Milliarden Euro gestiegen.

Und welche Finanzexperten Bremen in der Vergangenheit auch zurate zog, in einer Frage waren sich alle einig: Aus eigener Kraft wird das Land sich nie sanieren können. Lange Zeit hofften die Bremer auf den so genannten Kanzlerbrief, ein vermeintliches Privileg, das sie ebenfalls ihrer Selbstständigkeit verdanken. Im Jahr 2000 wähnten sie sich erfolgreich beim Versuch, ihre drei Stimmen im Bundesrat zu Geld zu machen. Als Preis der Zustimmung zu Schröders Steuerreform sicherte ihnen der Kanzler schriftlich zu, dem Land eventuelle Steuerausfälle zu ersetzen. Aber statt der im Etat fest einplanten 500 Millionen Euro pro Jahr bekam das Land nur einmal rund 200 Millionen Euro. Deshalb beschloss der Senat im August, nach Berlin und dem Saarland, erneut nach Karlsruhe zu ziehen. Leider gelang es den Bremern im Vorfeld ihrer Klage nicht, sich mit Berlin oder dem Saarland zusammenzutun. Im Gegenteil: Berlin benutzte Bremen als Negativbeispiel in seiner Klagebegründung. Tenor: Wenn wir Geld kriegen, machen wir es besser. Böhrnsen räumt heute ein: »Wir haben viel Zeit vertan.« Umso eiliger ging das Land nun bei der Suche nach fachkundigem Beistand vor. Ausgerechnet von Helmut Seitz, Wirtschaftsprofessor und Inhaber eines Lehrstuhl für empirische Finanzwissen-

schaft und Finanzpolitik an der TU Dresden, ließen die Bremer sich ein Gutachten über die Perspektiven ihres Stadtstaats formulieren. Es hätte ihnen zur Warnung dienen können, dass Seitz zuvor bereits den Zusammenschluss von Berlin und Brandenburg befürwortet hatte. Doch die Bremer Politik fiel aus allen Wolken, als Seitz’ Expertise zu dem erwartbaren Ergebnis kam: Das Land könne sich »womöglich nur als Teilglied eines größeren Staatengebildes den immer wiederkehrenden Problemen tiefgreifender Haushaltskrisen entziehen«. Mit anderen Worten: Bremen kann nicht saniert, es muss abgeschafft werden. In einer internen Anmerkung traf der Finanzexperte außerdem eine Feststellung, die Bremens Politiker fast genauso sehr schmerzen dürfte wie der Appell zur Selbstaufgabe. Das Land solle das Scheitern seiner Sanierungsbemühungen offen eingestehen. »Wenn Bremen das nicht macht, werden es andere tun.« Was tun? Soll Bremen dem Rat des selbst gewählten Experten vertrauen? Einstweilen hält Regierungschef Böhrnsen es mehr mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, die unlängst die Vielfalt der Länder und Regionen öffentlich rühmte. »Das meißeln wir uns in Stein«, sagt er. Das Land ist offenbar unfähig dazuzulernen. Bislang sind Bremens Erfahrungen mit Kanzlerworten nicht die besten.

Leerstand im Gotteshaus Das Bistum Essen in Nordrhein-Westfalen will 120 Kirchen schließen.Nun bangen die Gemeinden:Welche wird verkauft, welche abgerissen? Von Tatjana Kimmel Essen m kommenden Sonntag wird Michael Buschmeier in die Kirche gehen, wie fast jeden Sonntag. Aber vielleicht wird er während der Predigt ein wenig unkonzentriert sein. Denn das Wichtigste kommt diesmal danach: das Bischofswort. Dann wird Buschmeier endlich erfahren, ob es seine kleine katholische Gemeinde St. Maria Königin in Essen-Haarzopf in Zukunft noch geben wird. Ruhrbischof Felix Genn muss sparen und will darum bis zum Jahr 2009 insgesamt 263 Gemeinden zu gerade einmal 35 Pfarreien zusammenfassen. 120 Kirchenbauten sind dann überflüssig. Wird Genn St. Maria Königin verschonen, die kleine Gemeinde mit ihren gerade noch 600 Mitgliedern, in der der 66-jährige Buschmeier sich seit mehr als 30 Jahren engagiert? Oder wird die übergeordnete Gemeinde mit ihren mehr als 24 000 Mitgliedern sie verschlucken? Michael Buschmeier bangt und betet. »Es geht doch nicht ums Geld«, sagt er. »Wir haben Angst, dass wir mit unserer Kirchengemeinde unsere Heimat und einen Ort der Wärme verlieren.« Was geschieht dann mit der Kirche? Noch lässt die Gemeinde diesen Gedanken nicht zu. Aber Pfarrer Johanni ist klar, dass das Gebäude mit 5000 Quadratmeter Grundstück im Süden Essens Begehrlichkeiten wecken könnte. Die Mitglieder von St. Maria Königin, sagt Buschmeier, hätten beim Bau ihrer Kirche mitgeholfen und übernähmen auch sonst die meisten Aufgaben im Pfarramt. Selbst für die Jugendlichen ist hier die Kirche wichtig; im Keller des Gebäude haben sie einen Raum, zum Tanzen und Reden. Und wenn St. Maria Königin ihren Gemeindestatus behalten kann, wollen die Mitglieder einen Förderverein gründen, um das Bistum finanziell zu entlasten. Ob das den Bischof milde stimmen wird, ist allerdings fraglich. Denn für das größte Problem des Bistums haben sie auch in St. Maria Königin keine Lösung. Dem kollektiven Abfall vom Glauben und den zahlreichen Kirchenaustritten begegnen die Gemeindemitglieder mit einer Mischung aus Enttäuschung, Hilf- und Verständnislosigkeit. In den Tagen der »Wir sind Papst«Euphorie und später, als der Weltjugendtag zum Event geriet, schöpften die Katholiken ein bisschen Hoffnung. Doch all das ist wirkungslos verpufft. Bei St. Martin in Essen-Rüttenscheid sank die Zahl der Mitglieder in den letzten Jahren um die Hälfte. Allenfalls zu Weihnachten wurde die Kir-

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che mal voll. Nun haben die Übriggebliebenen resigniert und schon vor dem Bischofswort selbst entschieden: St. Martin wird zum Teil abgerissen und im Übrigen in ein Altenheim nebst Kindergarten verwandelt. Traurig sei das, sagt Pastor Heinrich Grafflage. Aber »die Kirche war nicht mehr finanzierbar, und mit nur wenigen Gläubigen haben die Gottesdienste auch keinen Spaß gemacht«. Wie viele Kirchen im Ruhrgebiet wurden St. Maria Königin und St. Martin in den sechziger Jahren erbaut. Der Gründungsbischof des Bistums Essen Franz Hengsbach wollte den Gläubigen, die schon damals die Kirche in Scharen verließen, im Wortsinn entgegenkommen. Kein Katholik sollte länger als 15 Minuten zum Gottesdienst gehen müssen, verkündete er und ließ nicht weniger als 120 neue Kirchen bauen. Doch die Hoffnungen des Bischofs erfüllten sich nicht. Zählte das Bistum in den sechziger Jahren noch 1,5 Millionen Katholiken, sind es jetzt nur noch etwa 950 000, Tendenz fallend. Jedes Jahr verliert der Oberhirte des Ruhrbistums weitere 10 000 Schäfchen. Was geschieht nun mit den überflüssigen Kirchen? Der Kulturbeauftragte des Bistums Essen, Herbert Fendrich, würde die sakralen Räume am liebsten für kirchennahe Einrichtungen wie Caritas, Altersheime, Schulen oder Kindergärten nutzen. Aber dieser fromme Wunsch wird nur an wenigen Orten erfüllt werden. Man dürfe der Fantasie keine Grenzen setzen, sagt Fendrich. Er kann sich ein Kletterzentrum in einem ehemaligen Kirchenraum genauso vorstellen wie ein Restaurant, Wohnungen oder ein Ärztehaus. An Muslime will das Bistum seine Gotteshäuser nicht verkaufen, wofür aber nicht theologische, sondern psychologische Gründe angeführt werden: Man will die Befürchtungen in den Gemeinden nicht weiter steigern. Außerdem, sagt Fendrich, gebe es entsprechende Nachfragen bislang ohnehin nicht. Sorgen macht sich Fendrich um architektonische Schätze wie die 1929 erbaute expressionistische Heilig Kreuz-Kirche in Gelsenkirchen. 2000 Gläubige haben dort Platz; unwahrscheinlich, dass je so viele zu einem Gottesdienst gekommen sind. Wenn sich kein Käufer findet, wird die große Pforte schlicht abgeschlossen. Schlimmstenfalls, sagt Fendrich, müsse auch einmal eine Kirche abgerissen werden. Gern sagt er das nicht. Jeden Tag rufen Gemeindemitglieder im Bistum an, die sich um die Zukunft ihrer Kirche sorgen. Einige drohen mit Austritt.

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Andi T. Ein musizierender Politiker beweist: Für eine neue Karriere ist es nie zu spät Erfurt latz fünf in den Thüringen-Charts ist möglicherweise nicht der Traum eines jeden Musikers. Aber für einen Newcomer ist das ein schöner Erfolg, zumal wenn er, wie MDR-Hörfunkchef Matthias Gehler anerkennend feststellt, »noch vor dem Neustart von Xavier Naidoo« landet. Und das mit einem Klassiker! Das 1951 gedichtete Rennsteiglied über den Wanderweg im Thüringer Wald (»An silberklaren Bächen sich manches Mühlrad dreht«) des Ost-Heimatbarden Herbert Roth mag zwar Thüringens inoffizielle Hymne sein; damit im Jahr 2005 das Publikum zu erobern ist aber doch eine Leistung. »Ungewöhnlich« sei die Interpretation des Künstlers mit dem selbstgewählten Namen Andi T., sagt Hörfunkchef Gehler neutral; seine Sekretärin präzisiert, das Stück sei »ein bisschen uffta uffta«. Aber, fügt sie hinzu, »für einen Minister nicht schlecht«. Das nämlich ist das zweite Standbein des Interpreten: Andi T., bislang besser bekannt unter seinem Geburtsnamen Andreas Trautvetter, gehört der CDU an und arbeitet in Thüringens Landeshauptstadt Erfurt als Verkehrsminister. Nun lernt ihn die Öffentlichkeit von einer neuen Seite kennen. »Mein Lied erklingt durch Busch und Tal, das jeder gerne hört«, tönt Trautvetter – was freilich doppelt falsch ist. Erstens ist das Lied immer noch das von Herbert Roth; zweitens pflegt ein Freundeskreis Herbert Roth e. V. dessen Lebenswerk und muss sich nun entrüsteten Anfragen von Musikfreunden stellen, »was um Himmels willen das zu bedeuten hat«. Trautvetter beziehungsweise Andi T. denkt derweil an höhere Ziele. Bei den Olympischen Winterspielen im Februar in Turin will er in seiner Eigenschaft als Präsident des Deutschen Bob- und Schlittenverbands mit Roths altem Song ganz groß rauskommen. André Paul

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Israel Ariel Scharons letzter Kampf

33 Der Neandertaler Vor 150 Jahren wurde

57 Angstsparen Warum die Deutschen

VON JOSEF JOFFE

unser Urahn entdeckt VON ULRICH BAHNSEN 34 Digitale Technik macht fossile Knochen allen Forschern zugänglich

ihr Geld horten VON PETER SCHNEIDER a Martenstein Herpes 58 Wochenschau 59 Einsturz Gespräche mit den Anwohnern der eingestürzten Eissporthalle in Bad Reichenhall VON MARIAN BLASBERG Ursachenforschung Das Risiko der Flachdächer VON MATTHIAS STOLZ 60 Elfriede Jelinek Die Männer im Leben der Literaturnobelpreisträgerin

Wer kann Israel künftig führen? Nahost Warum Israel für Europa so wichtig ist VON JOSCHKA FISCHER Union Fraktionschef Volker Kauder über Kombilöhne, Gesundheitsreform und Wahlkämpfe gegen die SPD Regierung Die Klausurtagung in Genshagen VON PATRIK SCHWARZ a Kanzlerin Angela Merkel auf SPD-Kurs VON MARTIN KLINGST Erdgas Warum Deutschland viele Quellen jenseits von Russland hat

VON STEFANIE SCHRAMM

35 Der sozialisierte Urmensch.

Ein Gespräch mit dem Direktor des Neandertal Museums 36 Vogelgrippe Das Virus rückt näher. Experten versuchen es aufzuhalten VON ASTRID VICIANO

Die in Asien eingesetzten Impfstoffe sind in der EU nicht zugelassen 37 a Wahrnehmung Für das Unerwartete sind wir blind VON ULRICH WEGER 38 LSD Albert Hofmann, der Entdecker der Droge, wird 100 VON ULRICH SCHNABEL 39 Eine kurze Geschichte der Bewusstseinserweiterung

USA Die Politik der Union ist voller Widersprüche VON BERND ULRICH Integration Fragebögen, Deutschkurse, Leitkultur – was macht einen guten Mitbürger aus? VON JÖRG LAU Ukraine Der Wahlkampf beginnt Russland Wie das russische Dorf ganz langsam stirbt VON MARGARET PAXSON

FEUILLETON

HERAUS AUS DEM STIMMUNGS-SUMPF

43 Kunst »Ich habe meinen Himmel«

Wissenschaft Über die ungewisse Zukunft der Frankfurter Instituts für Sexualforschung VON ELISABETH VON THADDEN 45 Afrika Die westlichen Medien zeichnen ein falsches Bild vom Schwarzen Kontinent VON HENNING MANKELL

11 LÄNDERSPIEGEL

Bremen Der Stadtstaat treibt aus schierem Ungeschick die eigene Abschaffung voran VON SILKE HELLWIG Nordrhein-Westfalen Das Bistum Essen schließt 120 Kirchen VON TATJANA KIMMEL Thüringen Ein neuer Stern am Schlagerhimmel VON ANDRÉ PAUL

Nordens unterstützt Südkorea den Feind von gestern VON CHRISTIAN SCHMIDT-HÄUER

WIRTSCHAFT 19 Springer Ein großer Fernsehsender

VON GERHARD JÖRDER

VON RAFFAEL SCHECK

Die Geschichte vom »ritterlichen« Feldzug gegen Frankreich ist eine zähe Mär. Tatsächlich verübte die Wehrmacht im Juni 1940 zahlreiche Massaker an gefangenen französischen Kolonialsoldaten. Bis heute jedoch blieben diese Verbrechen im Zeichen der NS-Rassenpolitik hierzulande unbekannt ZEITLÄUFTE SEITE 88

VON MICHAEL MÖNNINGER

24 Italien Schamloses Geben und Nehmen

in der Finanzwelt VON BIRGIT SCHÖNAU 25 Großbritannien Schatzkanzler Gordon Brown macht kräftig Schulden

VON THOMAS E. SCHMIDT

Zeitgeschichte »Rock! Jugend und Musik in Deutschland«, eine Ausstellung in Leipzig VON CHRISTOPH DIECKMANN

VON JOHN F. JUNGCLAUSSEN

26 KarstadtQuelle Neue Gerüchte um

ZEIT i ONLINE

einen Rückzug von der Börse VON MARCUS ROHWETTER

27 Polen Handwerker sind rar, während

Design »Ding-Pong« heißt das Wechselspiel, in dem Clara Ott und Till Bortels sich mit den Gegenständen unseres Alltags auseinander setzen. Sie finden das neue Design-Weblog unter

die Arbeitslosigkeit offiziell hoch ist VON MALGORZATA ZDZIECHOWSKA

Unsicherheit VON ROBERT VON HEUSINGER 32 Haushalt Peer Steinbrück muss hart bleiben. Aber kann er das auch? VON WILFRIED HERZ

Illustration: Till Bortels und ZEIT online

29 Ukraine Ohne es zu wollen, hat die

31 Börse 2006 wird das Jahr der großen

67 Spielen 68

www.zeit.de/design

Vogelgrippe Alles, was Sie wissen müssen, steht unter www.zeit.de/vogelgrippe DESIGN

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Traum Rolando Villazón, Tenor

REISEN VON SUSANNE WEINGARTEN

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Europäische Route der Industriekultur Alteisen am Berg/Frisch vom Markt Tirol 25 Jahre Gletscherskigebiet im Kaunertal VON PETER HAYS Vietnam Auf der Dschunke durch die Halong-Bucht VON ANJA HAEGELE Niederlande Mit Rembrandt durch Leiden VON ELISABETH WEHRMANN Deutschland Kieler Sprotten VON MARTIN DOMMER

75 In fremden Betten Hotel Royal

Patrice Chéreaus Ehedrama »Gabrielle« VON BIRGIT GLOMBITZA 50 Oper Katharina Wagner inszeniert Puccinis »Il Trittico« VON JAN BRACHMANN Unworte Wie der Terror unsere Sprache korrumpiert VON SALMAN RUSHDIE 51 Architektur Der Förderverein Berliner Schloss sammelt Geld für die barocke Fassade. Doch gibt er es nicht dafür aus

Keine Kameraden

23 Frankreich Welche Staatsfirmen dürfen

VON DOROTHEA HEINTZE

VON JAN-MARTIN WIARDA

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VON GEORG SEESSLEN

VON KLAUS-PETER SCHMID

Was bewegt … den Reeder und Touristikunternehmer Horst Rahe?

Dichter am Ball VON KARL RIHA 64 Siebeck Eine Reise durch die Schweiz Katz & Goldt Turin 66 Autotest Der Mercedes ML 350

49 Kino Rob Marshalls »Die Geisha«

sich aus der Krise – und zerstören ein Stück Sozialstaat VON THOMAS FISCHERMANN Detroiter Autoshow Die großen Pläne der Deutschen VON DIETMAR H. LAMPARTER 22 Konjunktur Was das Berliner Investitionsprogramm bringt

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VON HEIKE FALLER UND BARTHOLOMÄUS GRILL

70 Magnet Fergus Greer: Leigh Bowery

Klassik Wie klingt der wahre gregorianische Gesang? VON MIRKO WEBER Filmklassiker (48) Akira Kurosawas »Die sieben Samurai« VON PETER KÜMMEL 47 Kapitalismus Wachstum allein schafft keine Arbeitsplätze VON ACHATZ VON MÜLLER 48 a Theater Der junge Regiestar Daniel Bösch vermeidet alle Raster

FEUILLETON SEITE 43/44

21 USA General Motors und Ford sparen

VON JAN PALLOKAT

Ein Rentner sieht rot Ausgemusterte Führungskräfte VON HAUG VON KUENHEIM 61 Sport Start eines Online-Spiels, das alle vernetzen soll, die je Fußball gespielt haben

69 Hawaii Wandern im Land der Vulkane

VON DIEDRICH DIEDERICHSEN

Der amerikanische Jahrhundertkünstler, 80 Jahre und krank, gibt keine Interviews mehr. Für Hanno Rauterberg, unseren Kunstkritiker, hat er seinen Vorsatz gebrochen (»weil Ihr Name so ähnlich klingt wie meiner«) und blickt nun amüsiert auf sein reiches Künstlerleben zurück

VON CERSTIN GAMMELIN UND FRITZ VORHOLZ

Regierung die Oligarchen gestärkt

VON VERENA MAYER UND ROLAND KOBERG

DVD »Rambo I–III«, neu gesehen

GESPRÄCH MIT ROBERT RAUSCHENBERG

reicht VON GÖTZ HAMANN 30 Sekunden für den Smart Atomenergie Die Lobby wird lauter – mit fragwürdigen Argumenten

privatisiert werden?

46 Diskothek

Foto: DZ

13 Korea Aus Angst vor dem Kollaps des

»Ich habe meinen Himmel« Foto: Abe Frajndlich/Agentur Focus

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IN DER ZEIT

VON MICHAEL THUMANN

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POLITIK 2

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Windsor, Brüssel 76 Lesezeichen

CHANCEN 77 Seefahrt Reedereien suchen

Kapitäne VON JULIAN HANS 78 Ausbildung Duisburg will junge Migranten für den öffentlichen Dienst gewinnen VON GUDRUN WEITZENBÜRGER Gefragt Warum Schwaben Hochdeutsch lernen

ZEITLÄUFTE

LITERATUR

88 Kriegsverbrechen Keine Kameraden

53 Roman Kevin Vennemann

»Nahe Jedenew« VON GEORG DIEZ Die Literatur, die wir haben, verrät, wie wir uns fühlen VON ULRICH GREINER 54 Salman Rushdie »Shalimar der Narr« VON THOMAS E. SCHMIDT

Henry Roth »Requiem für Harlem« VON OTTO A. BÖHMER

Kjell Westö »Vom Risiko, ein Skrake zu sein« VON STEPHAN OPITZ 55 Philosophie Zum 100. Geburtstag Emmanuel Levinas’ VON THOMAS MEYER Biografie Werner Dahlheim »Julius Caesar« VON WILFRIED NIPPEL Buch im Gespräch Andreas Elter »Die Kriegsverkäufer« VON BERND GREINER 56 Kaleidoskop Literarisches Leben; Taschenbuch; Büchertisch; Gedicht; ZEIT-Liste

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RUBRIKEN 2 18 32 37 51 52

Worte der Woche Leserbriefe Macher und Märkte a Stimmt’s?/Erforscht und erfunden a Das Letzte/Impressum Kunstmarkt ANZEIGEN

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Sidestep Museen und Galerien Spielpläne Kennen lernen und heiraten Bildungsangebote und Stellenmarkt

Die so a gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im Premiumbereich von ZEIT.de unter www.zeit.de/audio

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DOSSIER

Nächste Woche im Dossier:

Das müssen Sie wissen

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Was wichtig ist in Kunst, Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaften

Allgemeinbildung heute

RUSSLAND

Wladiwostok

CHINA

Dandong

Foto: Cho Bo-Hee / AP

NOR D KOR EA Shinuiju

Südkoreanische Militärs begutachten die Arbeiten an der wieder aufgebauten Bahnlinie nach Nordkorea

Pjöngjang

Die Korea-Connection

GyeonggiLinie

GANGWONG

Bahnhof Dorasan

Südkorea fürchtet sich vor einem Zusammenbruch des Nordens. Gegen den Willen Amerikas unterstützt Seoul mit Investitionen und Devisen den Feind von gestern Von Christian Schmidt-Häuer

Paju Ilsan

GANGWONG

ZEIT-Grafik

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PyeongChang

100 km

ung Hee Noh steht in Südkoreas modernster Bahnhofshalle und wartet. Ganz wie im echten Leben. Der Schnellzug in ihrem Rücken gleitet durch eine grenzenlos blühende Landschaft. Unter dem Hochglanzfoto halten sich drei grüne Topfpflanzen tapfer im Schatten des Fahrkartenschalters. Links neben ihm leuchtet das Schild »Nach Pjöngjang« in Himmelblau, ganz als ginge hier ein echter Zug. Hinter dem Schalter strahlt Jung Hee Noh mit Engelsgeduld. Das macht ihre Gesichtszüge weicher, als es die randlose, etwas strenge Brille eigentlich erlauben möchte. Die taubenblaue Bahnuniform schmücken sorgsam zu Rüschen gefaltete Halstuch-Enden. Das Tuch ist nicht rot wie das der jungen Pioniere jenseits der Grenze in Nordkorea, sondern fast regenbogenfarben, als habe die Sonne über dem Land die dunklen Wolken gerade vertrieben. Und ohne die so genannte Sonnenschein-Politik der südkoreanischen Regierung gäbe es ja auch den großen Bahnhof mitsamt Jung Hee Noh nicht. Diesen Bahnhof direkt an der Grenze zu Nordkorea, in der alles darauf wartet, dass endlich doch die

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Schranken hochgehen zwischen den beiden Republiken des einen Volkes. Irgendwann wird für Jung Hee Noh das Warten ein Ende haben. Ein Zug wird kommen, ein richtiger. Manches spricht dafür, dass der Tag nicht mehr so fern ist, an dem die Kameraleute um den Schalter kämpfen, die Politiker ihre Reden halten und die ersten Passagiere ihre Fahrkarten lösen werden. Nach Pjöngjang. In die 205 Kilometer entfernte Hauptstadt Nordkoreas. Mit freier Fahrt durch den letzten Eisernen Vorhang des Kalten Krieges. Das Land, in dem dieser Vorhang vor 16 Jahren plötzlich aufriss, wo heute längst Schnellzüge durch mehr oder weniger blühende Landschaften rasen – dieses Land kennt Jung Hee Noh schon gut. Vier Jahre lang hat sie in Deutschland studiert, Mathematik in Hannover, von 1999 bis 2002. Heute wirbt sie 700 Meter südlich der immer noch bedrohlichsten, am schärfsten bewachten Grenze der Welt dafür, dass auch ihre Landsleute endlich eine gemeinsame Spur finden. Jung Hee Nohs Arbeitsplatz nennt sich offiziell Internationaler

Seoul GYEONGGI

Bahnhof Dorasan. Er heißt so, weil die Züge von hier über Nordkorea bis Paris fahren sollen. Irgendwann. In der Zukunft. Der hat sich kein Volk so verschrieben wie die High-Tech-Jünger Südkoreas. Selbst in den bisher strukturschwachen, durch militärische Sicherheitsgebote verödeten Grenzraum sind inzwischen die Futuristen eingezogen. Der Bahnhof Dorasan macht mehr her als die Stationen in der 50 Kilometer entfernten Glitzermetropole Seoul. Allein die Fahrgäste fehlen. Die chromblitzende Halle füllt sich nur, wenn Busladungen einheimischer und ausländischer Touristen hereinströmen, die gerade über den Stacheldraht nach Nordkorea gespäht haben wie einst über die »Schandmauer« in Berlin. Für sie hält sich Jung Hee Noh lächelnd bereit mit Sondermarken, Stempeln und Auskünften. »Ja«, sagt sie in samtweichem Deutsch, »man kann von hier heute noch nach Seoul fahren. Der Zug kommt dreimal am Tag von dort und kehrt wieder um. Er heißt tongil, Vereinigung.« Sie hat schon mehr als 50 Jahre Verspätung, die Vereinigung. Der Koreakrieg, der von 1950 an drei

Millionen Menschenleben forderte, ist offiziell noch gar nicht zu Ende. Es gibt keinen Friedensvertrag, nur den Waffenstillstand von 1953, der das Land S Ü D KOR EA längs des 38. Breitengrades geteilt hat. Der unverheilte Schnitt durch die koreanische Halbinsel ist vier KiloTaegu meter breit und 238 Kilometer lang. Die so genannte demilitarisierte Zone stand lange in trauriger Konkurrenz mit der Berliner Mauer. Ihr Name Busan trügt. Statt demilitarisiert ist sie mit Panzersperren und Minen gespickt. Gleich hinter ihr stehen 1,1 Millionen nordkoreanische Soldaten und 650 000 Mann südkoreanischer Truppen einander gegenüber, dazu 6000 US-Soldaten (von insgesamt noch 30 000 im Süden stationierten Amerikanern). Bill Clinton nannte die Grenze, als er das kahle nordkoreanische Gelände durchs Fernglas observierte, »das furchterregendste Stück Erde«. Wer es sehen will, Fortsetzung auf Seite 14

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Fotos: © Lee Jae-Won/Reuters/Corbis (li.); © You Sung-Ho/Reuters/corbis

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Touristen beobachten einen Zug, der zwischen der Hauptstadt Seoul und dem Grenzbahnhof Dorasan verkehrt, der nördlichsten Station Südkoreas. Rechts: Ein südkoreanischer Soldat im Bahnhof Dorasan

Die Korea-Connection Fortsetzung von Seite 13 muss eine Erklärung unterschreiben, die ihn verpflichtet, »sich kein Zeichen, keinen Ausdruck und keine Gesten zu erlauben, die der nordkoreanischen Seite als Propagandamaterial gegen das UN-Kommando dienen könnten«. Jahrzehntelang haben die Diktatoren beider Seiten zusammen mit ihren jeweiligen Schutzmächten Nord- und Südkorea so hermetisch voneinander abgeschlossen und gegeneinander immunisiert, wie es dem geteilten Deutschland selbst in seinen schlimmsten Jahren nicht widerfuhr. Kinder hörten nie wieder vom Leben und Sterben ihrer Mütter hüben oder drüben. Söhne verloren ihre Väter wie Gefallene, obwohl sie nur ein paar Kilometer getrennt voneinander lebten. Noch heute bleibt eine Million Familien auseinander gerissen. Es waren die Wende in Osteuropa, der Zerfall der Sowjetunion und die Wiedervereinigung Deutschlands, die – fast unmerklich zunächst – auch die vereisten Trutzburgen Koreas erschütterten. Pjöngjangs Diktator Kim Jong Il verlor fast alle seine Warentauschpartner von der DDR bis Kyrgystan und damit auch jede Hoffnung, der Wirtschaftskatastrophe ohne massive Hilfe noch entkommen zu können. Südkorea, inzwi-

schen von der Diktatur zur Demokratie gereift, jubelte in den ersten Tagen des Berliner Mauerfalls in froher Hoffnung auf die eigene Wiedervereinigung. Doch bald erkannte die Regierung geschockt, dass ihr Land eine ähnliche Implosion des Hungerreichs im Norden nicht verkraften könnte. Park Chang Bong vom Ministerium für Vereinigungspolitik, wie die meisten Experten seines Hauses ein hervorragender Deutschlandkenner, erinnert sich noch an den regelmäßigen Erfahrungsaustausch mit dem Ministerium für innerdeutsche Beziehungen: »Wir glaubten damals zwar alle, dass sich Süd- und Nordkorea eher wiedervereinigen würden als die beiden Deutschlands. Aber wir warteten gemeinsam in einer Klasse. Und dann wurden wir Südkoreaner über Nacht zu Studenten der deutschen Wiedervereinigung.« Im Frühjahr 1998 präsentierte Präsident Kim Dae Jung die alte sozialdemokratische Ostpolitik in südkoreanischem Gewand. Er nannte sie »Sonnenschein-Politik«. Wandel durch Annäherung war und blieb ihr Ziel. Kim Jong Il auf der anderen Seite, der »liebe Führer« und ungenierte Lügenbaron auf seiner Bombe, wollte keinen Sonnenschein. Aber er brauchte einen Strohhalm für sein darbendes Land. Im Juni 2000 kam es in Pjöngjang zum historischen, sentimental inszenierten Gipfeltreffen der beiden Präsidenten.

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Kim Dae Jung erhielt den Friedensnobelpreis für seine Sonnenschein-Politik. Gut zwei Jahre später fiel ein Schatten auf sie. Der Nobelpreisträger räumte ein, dass seine Regierung noch vor dem Gipfel rund 100 Millionen Dollar an den erpresserischen Gastgeber zahlen musste. »Blutgeld« aus Steuereinahmen, schrie die Opposition; eine langfristige Investition im übergeordneten nationalen Interesse, beschwichtigte die Regierung.

Nur noch die Alten schreckt die Armee aus dem Norden Auf diesem Gipfel hatten beide Präsidenten auch den Bau des Bahnhofs Dorasan und damit die Wiederherstellung der alten, durch den Koreakrieg zerstörten Gyongui-Eisenbahnlinie vereinbart. Südkorea machte sich im IC-Tempo daran, lieferte Material und Ausrüstungen, räumte seine Minenfelder mit deutschem Gerät. Kim Jong Ils Streckenarbeiter saßen zumeist im Bremserhäuschen. Dennoch verbinden die Gleise inzwischen das geteilte Land. Seouls Vereinigungsminister Chung Dong Young hausiert mit der Hoffnung, dass die Südkoreaner schon 2008 mit dem Zug durch Nordkorea zu den Olympischen Spielen nach Peking fahren können. Doch der Traum des abgeschnittenen Südkoreas, das so viele Autos baut und aus dem doch keine Straße hinausführt,

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reicht viel weiter. Von Busan und Seoul soll – irgendwann – eine transeuropäische Eisenbahn über Shinuiju in Nordkorea, Peking, Omsk, Moskau, Berlin bis nach Frankreich führen und in nur wenigen Tagen Güter expedieren, die bisher noch einen Monat lang über die See reisen müssen. Hinter solchen Visionen steckt der Glaube der erfolgreichen Südkoreaner an die Machbarkeit von allem – und die Furcht, eines doch nicht bewältigen zu können: die plötzliche Wiedervereinigung. Nur noch die Alten schreckt die Armee aus dem Norden, die sie zu Beginn des Koreakrieges überrannte. Jüngere Politiker und Wirtschaftsführer dagegen beunruhigt eher, dass verarmte Arbeiterheere in Millionenstärke gen Süden ziehen könnten, sollte Kim Jong Ils Hungerzone im Norden kollabieren. Das stolze, auch herostratische Seoul mit seinen Weltkonzernen in ihren hochfliegenden Glaspalästen ist zwar noch immer die Geisel der nordkoreanischen Artillerie. Die Megastadt könnte aber auch von einer Flüchtlingswelle verheerend getroffen werden: verzweifelte Menschen von einem anderen Stern auf dem Marsch in die IT-Metropole. Darbende Dorfbewohner ohne einen Schimmer von Marktwirtschaft und moderner Arbeitswelt, von Konsum und E-Commerce – konfrontiert mit einer durch Messenger, Blogs und

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Handys wie nirgendwo sonst vernetzten Jugend. Verhärmte Bauern und Bergleute ratlos vor der Werbung auf den Tag und Nacht flimmernden Großleinwänden der Einkaufstürme, verwirrt von den nie gehörten Anglizismen in der südkoreanischen Sprache. Sie kämen ja nicht aus dem realen Sozialismus wie die DDR-Bürger 1989 mit Westfernsehen, Rentnerbesuchen, Trabi-Fahrten nach Prag und Polen, Flugreisen nach Jalta oder Samarkand. Die Nordkoreaner flöhen aus dem von ständigen Stromsperren vergrößerten Dunkel einer drakonischen Diktatur mit minimalen Produktions- und Einkommensniveaus. Ihr Bruttosozialprodukt ist etwa dreißig Mal niedriger als das im Süden. Die Arbeitssuche dieser desorientierten »Reservearmee« würde die Löhne für alle einfachen Beschäftigungen in Südkorea abstürzen und die Arbeitslosigkeit von heute 3,9 Prozent raketengleich in zweistellige Bereiche hochschießen lassen. Dazu hätten die gut 47 Millionen Südkoreaner den »Aufbau Nord« für 23 Millionen Menschen zu stemmen – also für prozentual fast doppelt so viele Landsleute wie 1990 die alten Bundesländer. Die Finanzierung der Arbeitslosigkeit und ein fast unvorstellbar hoher Kapitaltransfer zur Implantation von moderner Verwaltung, Landwirtschaft, nationalen Institutionen, Bildungssystemen, Gesundheitswesen wür-

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Fotos: Kim Jae-Hwan/AFP/dpa/picture-alliance (li.); Christian Schmidt-Häuer für DIE ZEIT

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DIE ZEIT

Ein südkoreanischer Soldat öffnet ein Eisentor im Grenzzaun zu Nordkorea nahe dem Bahnhof Dorasan. Rechts: Sohn Hak Kyu, der Gouverneur der Grenzprovinz Gyeonggi (in der blauen Jacke) weiht eine neue Werkshalle ein

de von Südkoreas Wirtschaftswunder wenig übrig lassen. Der Zusammenbruch des Nordens kann sich lange hinauszögern. Aber irgendwann wird das Regime fallen, und seine Opfer wie auch die Täter werden Südkoreas Bürde sein. Der zehntstärkste Industriestaat der Welt muss sich auf dieses Erbe notgedrungen anders einrichten als die USA. Die Regierung Bush hat Nordkorea Anfang 2002 auf die »Achse des Bösen« gesetzt. Sie arbeitet auf eine Implosion des ruinösen Schattenreichs von Kim Jong Il mit seinem halben Dutzend Atombomben hin. Seither gehen Schützling und Schutzmacht von einst getrennte Wege im Umgang mit Pjöngjang. Wie weit sie auseinander führen, zeigte sich im letzten Dezember. Mitten in Seoul veranstaltete eine amerikanische Stiftung mit Geldern des US-Kongresses eine große Konferenz über Menschenrechtsverletzungen in Nordkorea. Die südkoreanische Regierung blieb der von Präsident Bush unterstützten Aktion in ihrer eigenen Hauptstadt fern. Wie die Mehrheit der Koreaner heute denkt, hat Roh Moo Hyun, der Nachfolger des Sonnenschein-Präsidenten Kim Dae Jong, kurz nach seinem Amtsantritt im Februar 2003 ausgesprochen. Von der Diplomatie noch ungeschliffen, erklärte der Neuling in der Politik: Er könne eher mit einem atomar bewaffneten als mit einem kollabierenden Nordkorea leben. Das musste der frühere Anwalt der Menschenrechtler und Gewerkschafter zwar auf der Stelle als politisch inkorrekt zurücknehmen. Doch für viele Politiker und Unternehmer ist der Satz inzwischen zur Handlungsmaxime geworden. Die Touristen, die in den voll besetzten Bussen von Seoul über den Freedom Highway wie in einer Zeitmaschine zu den alten Checkpoints des Kalten Krieges fahren, richten ihre Aufmerksamkeit und Camcorder angestrengt nach links. Immer noch trennen hoher Stacheldraht und Wachtürme mit bewaffneten Posten die Autostraße vom breiten Han-Fluss. Die Reiseführerinnen erzählen die überlieferten Gruselgeschichten von den Spionen, die über den Fluss setzten, von der See aus mit U-Booten oder unter der Erde durch Tunnel Südkorea infiltrierten. Was sich im Grenzraum heute wirklich tut, zieht unbeachtet am rechten Straßenrand vorbei. Häuser mit Swimmingpools, hochragende Kreuze neuer Kirchenbauten, frisch gezimmerte buddhistische Tempel, Industrieanlagen, Bauhöfe, Tankstellen, die sich eng aneinanderdrängen. Lange Zeit hatten die Invasionen und Wenden des Koreakrieges, die das Land hin und her warfen, hier nur Grasnarben hinterlassen. Die Stadt Ilsan, deren Hochhäuser von dem Bus aus in der Ferne zu sehen sind, war nach ihrem Wiederaufbau seit Mitte der fünfziger Jahre weniger ein Wohnort als eine überdimensionale Straßensperre gegen neuerliche Einfälle. Noch in den achtziger Jahren zog es nur wenige zur unwirtlichen Stätte unter den nordkoreanischen Kanonen. Im Mai 2004 zählte Ilsan fast schon eine halbe Million Einwohner. Noch 2006 sollen es 630 000 werden. Die Bodenpreise sind so hoch wie in den Außenbezirken von Seoul. Immobilienhändler werben erfolgreich mit der reinen Luft im Vorfeld der demilitarisierten Zone. »Und wenn Pjöngjang einen Atomtest unternimmt, wie die Amerikaner argwöhnen?« – »Die Sorgen hat hier keiner«, sagen PR-Leute wie Passanten im Chor, »da drüben leben Koreaner wie wir.«

High Tech und High Life direkt am Eisernen Vorhang Nicht weit von Ilsan wird die Regierung der Grenzprovinz eine »Hallyuwood-Showbiz-Stadt« hochziehen. Sie selbst will dafür umgerechnet eine halbe Milliarde US-Dollar investieren und 1,5 Milliarden von lokalen und ausländischen Investoren hereinholen. Der Siegeszug koreanischer Popkultur in Asien soll genutzt werden für ein »Mammut-Zentrum« mit Konzertsälen, Freiluftarenen, Malschulen, Film- und TV-Sets, einem Dorf mit Stars zum Anfassen, Parks à la Disneyland, Shopping Malls, Hotels, einer Chinatown und sogar einem »Klein Japan« – obwohl in Tokyo gerade wieder ein Comic-Bestseller rassistische Stimmung gegen Südkorea schürt. Wenn »Hallyuwood« steht, wird das Vorfeld der Grenze allein hier mit 50 000 neuen Jobs und sechs Mil-

lionen Touristen jährlich animiert – so sehen es die Pläne der Provinz vor. Der rastlose Unternehmergeist der Südkoreaner, aber auch das politische Kalkül schieben High Tech und High Life immer dichter an den Eisernen Vorhang heran. Nirgends sonst auf der Welt grenzen Zukunftstechnologie und groß dimensionierte Event-Kultur so dicht an ein staatliches Mittelalter mit Fronarbeit und Folterstrafen. Im nordöstlichen Gangwong, der einzigen durch einen Todesstreifen getrennten Provinz der Welt, wächst das Mekka des ostasiatischen Wintersports südlich dieser Grenze. Die Stadt PyeongChang will 2014, assistiert von Pjöngjang, das weiße Olympia an die Demarkationslinie holen. »Ein nordkoreanisches IOC-Mitglied hat mir die Unterstützung für unsere Bewerbung zugesagt und für eine gemeinsame Olympiamannschaft plädiert«, versichert Kim Jin Sun der ZEIT. Der 59-jährige Provinzgouverneur spricht fließend Englisch und kennt ein deutsches Wort: »Edelweiß«. Es blüht im östlichsten Winkel der demilitarisierten Zone, die dort eine märchenhafte Bergwelt teilt. Südkoreas nordwestliche Grenzprovinz Gyeonggi will das steile Gefälle des geteilten Landes durch Industrieparks einebnen. Gyeonggi umschließt den »Stadtstaat« Seoul ringförmig und wird vom Han-Fluss in einen nördlichen und einen südlichen Teil getrennt. Im Norden der Provinz begann bisher die Brache, das Zonenrandgebiet, wie es vormals in Deutschland hieß. Im Südteil wie auch in Seoul dagegen begann in den sechziger Jahren das Aschenputtel-Märchen vom Aufstieg der armen Reisbauern. In nur einer Generation brachten sie das von der japanischen Kolonialmacht und dem Bürgerkrieg geschundene Entwicklungsland in den Club der Reichen, in die OECD. Kein anderes Volk hat das geschafft. Heute ist die Provinz Gyeonggi Heimstatt für die Fusionstechnologie der nächsten Generation, für Biotechnologie und auch für das Forschungsinstitut des inzwischen als Betrüger überführten Klonforschers Hwang Woo Suk. 60 Prozent aller ausländischen Investitionen hat dieser Raum mit seiner inzwischen beispiellosen ITInfrastruktur angezogen, 60 Universitäten sind entstanden. Zurück blieb dagegen der Norden der Provinz. Ein kriegsversehrter Landstrich. Investieren und fotografieren verboten. Sperrzone für moderne Technologien, die nicht in Reichweite Nordkoreas gelangen sollten. Einzige Attraktion: das propagandistische Freilichttheater mit dem rostenden Bestiarium des Kalten Krieges für leicht schauernde Touristen und die Reiseteile der Zeitungen. Doch inzwischen bröckelt das alte ideologische Vorwerk. Der ehrgeizige Gouverneur Sohn Hak Kyu und seine Provinzverwaltung tragen einen etwas anderen Krieg in die verödete Region. Sie nennen ihn den »Krieg der Geschwindigkeit«. Der Grenzraum wird mit einer wirtschaftspolitischen, staatlich geförderten Blitzoffensive dem Reich der Wissensindustrie südlich des Han-Flusses einverleibt. Sonderwirtschaftszonen sollen Pjöngjang mit Devisen locken (Schalck-Golodkowski lässt grüßen) und Seoul billige Arbeitskräfte verschaffen, damit der Standort Südkorea wieder gefestigt wird (allein Samsung hat 60 000 Arbeitsplätze nach China ausgelagert). Präsident Park von der Korea-Bank rief Anfang 2005 die Unternehmer auf: »Wir müssen nach Nordkorea gehen statt nach China und Vietnam!« Ausländische Investoren werden mit märchenhaften Konditionen gelockt, um den Grenzraum zu einer politisch entspannten Zone globaler Konzerninteressen zu machen – und damit auch zu einer Barriere gegen die amerikanische Versuchung, Kim Jong Ils nukleare Hexenküche drüben mit einem Präventivschlag gegen den Atomreaktor in Yongbyon auszupusten. Schwerter zu Pflugscharen heißt es heute am letzten Eisernen Vorhang: Lasst Industrieparks über die Grenze wachsen in den Jurassic Park des Nordens hinein, damit das Gefälle zwischen den beiden Staaten zumindest ein wenig abnimmt. Wovon Südkorea deshalb die internationale Gemeinschaft gern überzeugen möchte, hat Heo Bokmann formuliert. Der Vizepräsident der LCD-Sparte von LG. Philips, einem der Großinvestoren am 38. Breitengrad, hob sein neues Projekt mit den Worten aus der Taufe: »Wenn eine Weltfirma wie LG. Philips eine Anlage an der Demarkationslinie zwischen Süd- und Nordkorea

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baut, beweist das: Man muss sich um Probleme der nationalen Sicherheit keine Sorgen machen.« In der Stadt Paju und ihrer Umgebung tut man das in der Tat nicht. Paju hat im Jahr 2005 viel Platz in den deutschen Feuilletons gefunden. Korea war Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse, und Autoren wie Verleger staunten nicht schlecht, aber eher etwas mitleidig über Paju Book City. Das ist ein von 50 Architekten aus aller Welt gebautes Dorf nahe der Stadt, in das Südkoreas Verlage, Druckereien, Vertriebsunternehmen, Barsortimenter samt und sonders eingezogen sind oder noch einziehen wollen. Das teure, verstopfte Seoul raubt ihnen zu viel Zeit und Geld. Obwohl die Planer ihre Arbeiten schon vor 17 Jahren begonnen haben, hoffen sie weiter, dass sich auch noch Literaten in dieser kollektiven Idylle ansiedeln, die den lyrischen Namen trägt: »Berg, von dem der Kranich kommt«.

Die Fertigung von Flachbildschirmen sorgt für 35 000 neue Jobs Den Koreanern fällt beim Stichwort Paju allerdings eher ein dramatisches Schauspiel ein, bei dem in nur 17 Monaten ganze Berge versetzt worden sind. Hoch türmen sich jetzt, nur zehn Kilometer von der Demarkationslinie, die Halden aus Steinschutt. 8000 Mann in Blauhelmen haben mit 3000 Maschinen 100 Millionen Kubikmeter Erde abgetragen, weiße Betonburgen für 1500 Arbeiter und ein mächtiges Viadukt für Abwässer hochgezogen – alles in eineinhalb Jahren, die Planung inbegriffen. Von hier aus wird die jüngste Generation der Flachbildschirme in die Welt gehen. Auf der Baustelle bei Paju, im Schatten Nordkoreas, entsteht der größte TFT-LCD(Liquid Crystal Display)-Produktionskomplex der Welt. Wo sich eben noch Wald und Hügel wellten, liegt jetzt, aus der Höhe betrachtet, ein großes erdbraunes Tablett, auf dem Hallen und Wohnblocks angerichtet werden. 25 000 neue Jobs soll es hier geben, mit Zulieferern sogar 35 000. Philips und der südkoreanische Konzern LG Electronics, die das Großprojekt gemeinsam angehen, wollen in den nächsten Jahren noch mehr als 21 Milliarden Dollar investieren. Wer Lee Se Jong, dem Vizedirektor des Investitionsbüros von Gyeonggi, auf der Baustelle zuhört, bekommt eine Ahnung, mit welchem Einsatz diese Provinz an ihre Grenze geht. 2002 hatte LG. Philips LCD, der Marktführer für die Flüssigkristall-Bildschirme, nach einer neuen Produktionsanlage Ausschau gehalten. Bewerber kamen aus Südkorea (das den TFT-LCD-Weltmarkt mit 44,5 Prozent Anteil beherrscht), aus China, Taiwan und Nordeuropa. Die Provinz Gyeonggi hatte anfangs gute Karten. Doch dann standen allerlei administrative Auflagen, die für den Großraum der Metropole Seoul gelten, im Weg. Den Investor zog es nach China. Als Gyeonggis Gouverneur Sohn Hak Kyu davon Wind bekam, setzte er eine Task Force ein. Das Militär, das den Bau von Industrieanlagen in der Sperrzone grundsätzlich untersagt hatte, ließ sich in sechs Monaten überzeugen. Entwicklungspläne und Beseitigung der bürokratischen Hemmnisse benötigten ein Jahr. Der Staat planierte das Gelände auf seine Kosten und schloss es an Straßen und Stromquellen, Wasser- und Abwässernetze an. Stolz berichten die unternehmerischen Grenzgänger, dass sie am Ende sogar die Tradition besiegten. Es gab Familiengräber auf dem Areal. Alles sprach dagegen, dass die Verwandten ihre Toten umbetten würden. Die würdevollsten Vertreter der Provinz suchten die Familien selbst an den Gedenktagen für die Vorfahren auf. Bis sie deren Ruhestätten verlegen durften. Sohn Hak Kyu, der 55-jährige Provinzgouverneur und Politikprofessor, trägt gerne Blau. Ob er eine neue Produktionsstätte von ThyssenKrupp einweiht oder den Vorstand eines in Texas beheimateten Partnerunternehmens begrüßt – immer wuselt er unter all den schwarz gekleideten Herren in einer himmelblauen Windjacke herum. Das gute Stück ist ungleich moderner als die immergraue Blousonkluft mit Gummizug um den Bauch, in der sein nordkoreanischer Nachbar Kim Jong Il auf der anderen Seite die Huldigungen des Volkes entgegennimmt. Der Gouverneur gibt sich allerdings auch flotter als seine eigene Partei, die konservative Große Nationalpartei (GNP). Die führende Oppositionspartei lehnt die Sonnenschein-Politik des Präsidenten und seiner linksli-

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beralen Regierung mehrheitlich ab. Gouverneur Sohn befürwortet sie. »Vor allem anderen müssen wir die Wirtschaft im Norden für die Vereinigung stärken«, lautet sein Credo, »unsere Provinz hat dabei eine Schlüsselrolle.« Siebeneinhalb Mal sei er seit seinem Amtsantritt 2002 schon um die Erde gereist, um Investoren anzuwerben, berichtet der Gouverneur stolz. Im April 2004 schloss Sohn mit Nordkoreas Komitee für nationale Aussöhnung einen Vertrag über wirtschaftliche Zusammenarbeit. Auf dieser Grundlage versorgte seine Provinz noch im selben Jahr die Stadt Sariwon jenseits des Eisernen Vorhangs mit Landmaschinen, medizinischen und zahntechnischen Ausrüstungen. Seit Anfang 2005 entwickelt Gyeonggi zusammen mit dem Institut für Agrarwirtschaft das Modell für eine Landwirtschaftsreform mit den Experten und der Technologie der Provinz, aber auf dem Farmland und mit Landarbeitern Nordkoreas. Kim Song Sik, der asketische Vizegouverneur für politische Angelegenheiten, der schon morgens um 7 Uhr zum Gespräch bittet, nimmt kein Blatt vor den Mund: »Da wir nur über die Wirtschaft irgendwann zur politischen Vereinigung kommen können, werden wir auf Dauer nicht nur Fleisch und Reis liefern, sondern auch High Tech einbringen müssen. Wir wissen natürlich, dass die USA jede Unterstützung und ganz besonders den technischen Ausbau Nordkoreas ablehnen.« Ein Lehrstück dafür spielt in Kaesong. Der Ort, der heute 12 Kilometer nördlich der demilitarisierten Zone in Kim Jong Ils Einsiedlerreich liegt, war vom 10. bis zum 14. Jahrhundert Koreas Hauptstadt. Heute läuft dort das bisher größte Experiment, das Seoul und Pjöngjang bisher miteinander wagen. Südkorea baut, wie auf dem historischen Gipfel im Juni 2000 vereinbart, einen Industriepark auf, der die Arbeitskräfte aus dem Norden und die Technologie des Südens zusammenführen soll. Noch steckt das Projekt in den Anfängen, 15 südkoreanische Unternehmen beschäftigen 5000 nordkoreanische Arbeiter, die am Morgen wie Bataillone in den Komplex ein- und am Abend wieder abmarschieren. Töpfe aus rostfreiem Stahl, umgerechnet zu 15 Dollar das Paar, gehören zu den ersten Produkten. Auch wenn es hier keine Sprachbarrieren gibt, sind die Maschinen für die Nordkoreaner noch sehr gewöhnungsbedürftig.

stufen. Für die USA sind aber schon modernere Personalcomputer, wie sie in Seoul inzwischen fast jede Hausfrau gebraucht, strategische Güter. Sie müssen draußen bleiben. Aber auch Produkte aus Kaesong dürfen nicht in die Vereinigten Staaten exportiert werden. Die US-Regierung will grundsätzlich verhindern, dass Nordkorea durch Sonderwirtschaftszonen Devisen einnehmen kann. Die Planer einer gesamtkoreanischen Zukunft scheint das wenig zu stören. Im Jahr 2020 sollen sich in dem auf 66 Quadratkilometer veranschlagten Industriepark 2000 Unternehmen, 250 000 Arbeiter und 1,5 Millionen Touristen tummeln. Im farbigen Prospekt geht die kapitalistische Sonne bereits im Norden auf und malt Hotels, Shopping-Center und einen Golfplatz mit 38 Löchern auf »die Achse des Bösen«. Übernimmt sich Südkorea da nicht? Viel Geld und gute Worte haben am Ende auch der alten Bundesrepublik nicht geholfen, um die DDR auf den langen Marsch in die Evolution zu bringen. Ihr System konnte sich nicht grundlegend reformieren, sondern nur stehen oder fallen. Die Therapie-Entwürfe zur Erhaltung und Gesundung Nordkoreas durch brüderlichen Spenderwillen und kapitalistische Transfusionen erinnern ein wenig an Jules Verne. In 80 Tagen aus der Steinzeit – so ließen sich die optimistischen Rezepte bisweilen überschreiben. Doch das Land der Morgenstille hat schon manches Wunder vollbracht, das ihm vorher niemand zugetraut hatte. Und es ist zugleich das unterschwellige Leiden an seiner Geschichte, das Südkoreas Energie, Ehrgeiz und Wissbegier stärkt. Diese Geschichte der fremden Invasionen und kolonialen Unterdrückung, des Bürgerkriegs und der Teilung ohne eigenes Verschulden entließ die Koreaner entfremdet, selbstverloren, orientierungslos in den Kalten Krieg. »In den vergangenen ANZEIGE

Für den Süden arbeiten die Nordkoreaner zum Mindestlohn Aber schon Ende 2006, so hat Einigungsminister Chung Dong Young im Oktober angekündigt, sollen 300 Firmen und Zehntausende nordkoreanischer Arbeiter gemeinsam werkeln. 700 Unternehmen haben bereits Interesse angemeldet. Was sie lockt, ist der Mindestlohn. Beide Seiten haben für die nordkoreanischen Arbeiter einen Grundlohn von umgerechnet 50 Dollar pro Monat plus 15 Prozent Sozialversicherung vereinbart. Der Mindestlohn im Süden ist siebenmal höher, der in China noch doppelt so hoch. Dennoch kann auch Nordkorea, wenn es die Tür nicht wieder zuwirft, einen für seinen Standard guten Schnitt machen. Seouls Zentralbank schätzt, dass der Industriepark für Pjöngjang bis 2012 rund 600 Millionen Dollar jährlich und bis zur endgültigen Fertigstellung im Jahre 2020 über zwei Milliarden Dollar abwerfen wird. Yoo Chang Geun, Präsident des Unternehmens S. J. Tech, das in Kaesong Halbleiter-Teile produziert, hat alle früheren Bedenken über Bord geworfen. Noch vor zwei Jahren sah er in Nordkorea nur einen Terrorstaat. Doch dann, so meint er, hätten ihn die niedrigen Lohnkosten, die gemeinsame Sprache und die Überzeugung, dass freie Unternehmer den Norden doch ein Stück weiter aus seinem Panzer lösen könnten, die Investition wagen lassen: »Nordkorea ist nicht das Problem von irgendwem sonst. Es ist unser Problem als Volk.« Das sehen die Amerikaner selbst im Fall Kaesong anders. Sie zählen Nordkorea zu den Ländern, die Terroristen unterstützen. Folglich haben die südkoreanischen Unternehmen jedes Gerät für den Industriepark zur Genehmigung einzureichen. Dazu verpflichtet sie das 1995 in Holland beschlossene Wassenaar-Abkommen. In ihm haben sich 39 Länder – darunter auch Südkorea und die USA – darauf geeinigt, Rüstungsexporte in Länder zu beschränken, die sie als gefährlich ein-

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vierzig Jahren«, meint der renommierte Publizist Shim Jae Hoon im Coffee-Shop des Seouler Internationalen Finanzzentrums, »mussten wir lernen, wovor wir weggelaufen sind: vor Armut, Ignoranz, tradierten Gesellschaftsnormen, Bäuerlichkeit. Aber wir hatten keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wohin wir uns bewegen – auf Amerika zu, nach Japan, Singapur, Europa? Was wir besaßen, war allein unsere Lernfähigkeit.« Die bewährte sich wie nirgends sonst in den Nachbarländern, als 1997 die Finanzkrise ganz Asien erschütterte. Durch das schwer betroffene Südkorea ging damals der Ruck, von dem später deutsche Politiker redeten. Erst standen die Bürger Schlange, um der Regierung aus freien Stücken ihre Ringe und goldenen Uhren, Halsund Armbänder abzuliefern. Dann befolgte die Regierung alle vernünftigen Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds, der den Staat mit dem größten Kredit aller Zeiten vor dem Bankrott gerettet hatte. Die Chaebols, die Riesenkonglomerate, in denen jahrzehntelang die Gründerfamilien dominierten, mussten Macht abgeben, die Ministerien und der Staat ebenso, die Banken zogen internationale Fachleute heran, Fortsetzung auf Seite 17

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Fotos: Yeon-je Jung/AP (li.); Christian Schmidt-Häuer für DIE ZEIT

12. Januar 2006

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In Kaesong in Nordkorea werden Töpfe aus rostfreiem Stahl für eine südkoreanische Firma hergestellt. Rechts:Tücher am Grenzzaun beim Bahnhof Dorasan, auf denen Südkoreaner Wünsche für Verwandte im Norden aufgeschrieben haben

Die Korea-Connection Fortsetzung von Seite 15 darunter auch deutsche. Dieser Ruck, mit dem Seoul die jahrzehntelange Protektion seiner Wirtschaft abschüttelte, ließ die Wachstumsraten bald in Rekordhöhen steigen. Doch was die Südkoreaner zu solchen Erfolgen befähigte, was sie aus den Reisfeldern in den Cyberspace trieb, war auch der Druck, sich immer wieder beweisen zu müssen. Sich zu befreien von Selbstzweifeln, von der Geschichte, von den geografischen Fesseln, welche die kleine Halbinsel wie einen Zipfel an den Rockschößen der großen Nachbarn Russland, China und Japan erscheinen lässt. So sind auch die neuen Ambitionen im Verhältnis zum Brudervolk im Norden nicht zuletzt Teil der andauernden Unsicherheit – zu der die nicht berechenbare Zukunft Nordkoreas beiträgt. Die Investitionen in eine Zukunft, wie sie sich Seoul vorstellt, laufen – auch wenn niemand vorhersagen kann, ob sie sich auszahlen werden. Es ist still geworden am »Unification Observatory«, nicht weit vom Grenzbahnhof, wo sich für umgerechnet 40 Cent über die Demarkationslinie auf die »Achse des Bösen« schauen lässt. Wenn Touristen am Fernglas früher stolz rapportierten, dass sie in der Ferne »ganz winzige Menschen« entdeckt hätten, pflegten die Reiseführerinnen daraus gern ihren politischen Vers zu machen: »Der Führer Kim Jong Il dort drüben ist so klein, dass er Plateauschuhe trägt und seine Haare toupiert.« Jetzt treten sie leiser auf. Auch Nordkoreas lärmende Revolutionsgesänge, die riesige Lautsprecher frei nach Orwells Großem Bruder über den Grenzstreifen trugen, sind seit dem Sommer verstummt. Die Militärs beider Seiten haben sich – was noch vor kurzem undenkbar schien – auf einen Abbau der Spannungen an der Grenze verständigt. Sie einigten sich auf eine gemeinsame Funkfrequenz und ein Wimpelsystem, um unerwünschte Zusammenstöße ihrer Marineeinheiten vor allem an der umstrittenen Seegrenze im Gelben Meer zu vermeiden. Seit Anfang August 2005 können sie sich sogar über eine Hotline verständigen. Wie dünn diese Fäden allerdings noch sind, zeigt sich daran, dass in Südkorea auch weiter die Rufnummer 113 existiert. An sie soll sich jeder Bürger wenden, der einen nordkoreanischen Spion entdeckt hat. Falls sich der Verdacht bestätigt, winkt eine Belohnung von 100 000 Dollar.

Eine Videokonferenz für Familien, die seit Jahrzehnten getrennt sind Aus der DDR durften einst zuerst die Rentner ausreisen. In Korea treffen sie sich nun virtuell: Ein neues Glasfiberkabel zwischen Süd- und Nordkorea ermöglichte am 15. August 2005 die Videokonferenz zwischen 40 Familien, die der Krieg vor einem halben Jahrhundert trennte. Immerhin steigen jetzt auch die Besucherzahlen: Seit dem Waffenstillstand 1953 konnten inzwischen 170 000 Südkoreaner den Boden im Norden wieder betreten. Allein 2005 waren es 100 000. Hinzu kommen 300 000 Touristen, die auf einer vorgeschriebenen Route Busausflüge zum nordkoreanischen Erholungsgebiet Kumgang, dem Diamantengebirge, unternahmen. Noch steiler ist der Anstieg der wirtschaftlichen und humanitären Hilfe für Nordkorea, die Seouls Haushaltsplan vorsieht – und entsprechend scharf kritisieren Teile der Opposition und ältere antikommunistische Zirkel die Regierung. 2006 gehen 2,6 Milliarden Dollar an den Norden, die Hälfte davon für Leichtindustrie, Bergbau, Agrar- und Fischwirtschaft. Der Rest wird für den geplanten Leichtwasserreaktor zurückgelegt, den Kim Jong Il erhalten soll, wenn er auf Atomwaffen verzichtet. Seouls Rücksichtnahme auf Pjöngjang zeigt sich auch darin, dass Nordkoreaner, die trotz aller barbarischen Sperranlagen fliehen konnten, heute anders als früher von der Öffentlichkeit möglichst fern gehalten werden. Pressekonferenzen, Berichte über die noch immer zum Himmel schreienden Menschenrechtsverletzungen, würde Pjöngjang mit Absagen an gemeinsame Projekte strafen. Der Hauptstrom von fast 300 000 geflohenen Nordkoreanern hat sich allerdings in

China aufgestaut. Die dortigen Behörden stufen sie als Wirtschaftsflüchtlinge ein und schicken etwa 20 000 Menschen jährlich zurück. Auf sie warten drakonische Strafen und Folter. Peking drängt Pjöngjang zwar, auf seine Nuklearwaffen zu verzichten, und hat deshalb die Atomgespräche der sechs Parteien USA, Russland, Japan, China sowie Süd- und Nordkorea initiiert. Aber die Chinesen wollen zugleich Kim Jong Il halten, weil sie ebenso wie Seoul einen plötzlichen Zusammenbruch seines Regimes fürchten. Politisches Chaos in Nordkorea könnte im äußersten Fall zu einer Intervention der noch immer knapp 30 000 amerikanischen Soldaten aus Südkorea führen. Das Reich der Mitte, das bisher nirgendwo an strategische Standorte der USA stößt, hätte dann unversehens US-Truppen an seiner Grenze. So agieren Peking und Seoul heute nolens volens als Lebensversicherer des stalinistisch-orientalischen Despoten. Das wiederum hat Kim Jong Il zu einem Wendemanöver genutzt. Nach zehn Jahren Unterstützung durch die internationalen Hilfsorganisationen forderte Nordkorea deren Vertreter im vergangenen Oktober auf, das Land bis Ende 2005 zu verlassen. Pjöngjang versucht offenbar, sich jetzt weitgehend auf die Nahrungsmittelhilfe aus Südkorea und China zu stützen. Zum einen will der »liebe Führer« verhindern, dass die bunte Gesellschaft der ausländischen Helfer zu viele schwarze Löcher in seinem Schattenreich ortet. Denn die internationalen Organisationen mit der Welthungerhilfe voran bestehen darauf, ihre Lieferungen ins Landesinnere zu begleiten, um zu überwachen, ob diese auch an bedürftige Bevölkerungsschichten und nicht nur an die Armee gehen. Südkorea und China üben da weniger Druck aus. So verlangt Pjöngjang von Seoul, dass die meisten Getreideimporte nicht über die Demarkationslinie nach Norden gehen, sondern via China oder mit Schiffen aus Drittländern angeliefert werden – die Bevölkerung soll vom Ausmaß der Hilfe nichts erfahren. Zum anderen sucht Nordkorea den Rat der beiden gefälligeren Nachbarn, um seine verdorrten Äcker und notleidenden Kollektive zu retten. Pjöngjang, das Pekings Wirtschaftsreformer lange als ideologische Abweichler kritisierte, scheint nun doch mit aller Vorsicht vom chinesischen Kapitalismus lernen zu wollen. Funktionäre und Fachleute studieren beim großen Nachbarn bereits Betriebe und Sonderwirtschaftszonen. Unwidersprochen meldete Pekings Nachrichtenagentur Xinhua nach dem Besuch von Parteichef Hu Jintao in Pjöngjang Ende Oktober: »Nordkorea erkennt die Errungenschaften Chinas an.« Zu Beginn dieser Woche brach Kim Jong Il überraschend, wegen seiner Flugangst im Sonderzug, zu einem Gegenbesuch nach Peking auf. Was aber kann Kim Jong Il wirklich ändern? Für den orientalischen Despoten ist es wichtiger, das Überleben des Regimes als das Existenzminimum der Bevölkerung zu sichern. Ihm kommt es deshalb zu allererst auf die Wirtschaftshilfe aus Südkorea und China an. Nichts anderes wünschte sich auch Erich Honecker von Bonn. Nur war die DDR ein System, das manche Kurskorrektur zulassen konnte. Nordkorea ist eine Dynastie. Ihr konfuzianisch-stalinistischer Personenkult und noch mehr die Staatsideologie der juche (wörtlich »das Auf-sich-selbst-Verlassen«) laufen auf eine unüberwindbare Autarkie hinaus. Dem ersten Staatschef Nordkoreas Kim Il Sung, der zuvor gegen die japanischen Besatzer und in Maos Reihen gekämpft hatte, folgte 1994 sein mit Komplexen beladener Sohn Kim Jong Il. Niemand hatte ihm bis dahin zugetraut, dass er die Dynastie erhalten könnte. Doch der von opulentem Luxus umgebene Lebemann erwies sich als hemmungsloser politischer Überlebenskünstler. Weil nur der Familienkult das Regime verlängern kann, bastelt der 63-Jährige jetzt an der Erbfolge seines zweiten Sohns Kim Jong Chul. »Wie reformiert man eine solche Dynastie?«, fragt der Publizist Shim Jae Hoon rhetorisch. »Die juche kann niemand verändern, weil der Gründer der Staatsfamilie sie erfand. Mit der juche fiele die Dynastie. Für den Rest gilt: Reformiert Kim Jong Il zu langsam, bricht der Staat zusammen. Reformiert er zu schnell, kippt sein Regime.« Für das, was dann auf den Süden zukäme, ist Seoul wirtschaftlich schlechter gerüstet, als seine großen Erfolge erscheinen lassen. Ähnlich wie in

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Deutschland bleibt die Binnennachfrage schwach. Der Export allein trägt das Wirtschaftswachstum schon seit einigen Jahren. Die Technologie-Riesen und die Stahlkonzerne, die Auto- und die Schiffbauer haben zwar die Weltmärkte erobert. Doch zu Hause investieren die Exporteure nur sehr zurückhaltend. Auch sie lagern Geschäfte und Arbeitsplätze lieber in das so verlockend nah liegende China aus. Der Standort Korea hat viel Anziehungskraft verloren durch steigende Löhne, die den wachsenden Lebenshaltungskosten folgen. Die hohen Energiepreise steigern die Produktionskosten; das energiearme Land ist der viertgrößte Ölimporteur der Welt. Auch Politik und Gesellschaft folgen nicht so schwerelos in den Cyberspace, wie bisweilen aus dem fernen Land berichtet wird. Zwar haben sich die lernfähigen Südkoreaner in nur knapp zwanzig Jahren eine gesicherte Demokratie mit konfu-

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zianischen Elementen erkämpft, die für Asien mit seinen tradierten Familienbindungen beispielhaft ist. Doch sind die politischen Institutionen dabei nicht schnell genug mit gewachsen. Anders als in Europa haben die Parteien keine festen Programme. Sie orientieren sich mehr an Persönlichkeiten als an Sachfragen und hängen ihr Fähnchen nach dem Wind. Führende Funktionäre gründen je nach Laune oder internen Querelen neue Parteien. In Südkorea wächst heute nicht nur der Graben zwischen den Generationen, sondern auch zwischen den Eliten. Sonntags demonstrieren im Zentrum von Seoul, aber auch in anderen Städten, Studenten gegen Studenten oder Lehrer gegen Lehrer, linke Gewerkschafter gegen Arbeitnehmervertreter der Mitte und neuerdings auch Kriegsveteranen gegen Kriegsveteranen. Deshalb müsste Südkorea erst einmal auch das eigene Haus absichern, um die Lasten Nordkoreas

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tragen zu können – zumal diese Bürde obendrein noch durch den latenten Konflikt mit den USA erschwert werden wird. Zum Jahreswechsel haben Süd- und Nordkorea erstmals seit der jahrzehntelangen Teilung eine direkte Telefonverbindung eingerichtet. Sie führt zum Industriepark Kaesong nördlich der Grenze. Schon im Oktober eröffneten beide Seiten dort ein gemeinsames Büro. Damit residieren jetzt 14 Vertreter der südkoreanischen Regierung und der Wirtschaft im Norden. Noch niemals zuvor war das der Fall. So liegt der Tag wohl nicht mehr fern, an dem der erste Passagier im Grenzbahnhof von Dorasan die Fahrkarte in das Land hinter dem Stacheldraht lösen wird. Doch wie die Reise nach Pjöngjang dann ausgeht, ob sie überhaupt weiterführt – wer kann das schon sagen, Jung Hee Noh?

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LESERBRIEFE

12. Januar 2006

Drohen Sie ihr etwa?

Der Regierung Bush müssen die Ohren klingen

Bernd Ulrich: »Bei aller Liebe«, ZEIT Nr. 1

Thomas Assheuer: »Wann ist ein Krieg gerechtfertigt?«, ZEIT Nr. 1

Was ist das für eine immanente Drohung, die aus Ihren Worten spricht? Was erwarten Sie? Medial inszenierte Abbitte? Vielleicht wäre es sinnvoll, sich auf die in Ihrer Zeitung immer häufiger beschworenen christlichen Werte zu besinnen, was das Helfen aus Notsituationen betrifft. Im Übrigen ist das angeblich fehlende Minimum an Loyalität seitens Susanne Osthoff für mich als Leserin nicht einsichtig. Keine Sorge, um meine Steuern fühle ich mich an ganz anderer Stelle betrogen. ANNA-KATHRIN WARNER, NOTTENSDORF

Wieso wird eine – nach ihrer Entführung möglicherweise sogar psychisch verletzte – Frau verurteilt, deren Lebensweise offensichtlich anspruchslos, deren Berufung moralisch nicht verwerflich ist und die von einer für sie nicht ungefährlichen Aufgabe getrieben wird, welche der Allgemeinheit sogar die Chance der Bewahrung alter Kulturgüter gibt (die wir alle uns sicherlich gern anschauen würden)?

Auswärtigen Dienstes und der Medien malträtieren. Aber ich habe nicht den Eindruck, sie hätte sich mutwillig – also ohne ein hochwertiges Motiv – in Gefahr begeben. Oder: Sie würde den Staat verachten, um ihn gleichzeitig hemmungslos auszunutzen. Im Gegenteil scheint sie mir prototypisch zu sein für eine zivile, nicht kommerzielle, aber kulturell und historisch bewusste und humanitär bewegte Arbeit mit und für fremde Menschen, die für uns alle und für unsere zentralen zivilisatorischen Werte werben könnte. Wenn das so ist, könnte ich ihr eine erregte Verzweiflung über die Gebundenheit unserer »modernen« Außen- und Sicherheitspolitik nachfühlen. DR. JUR. KARL ULRICH VOSS, BURSCHEID

Die im Grundgesetz verbrieften Rechte einer Deutschen und die angeführte Fürsorgepflicht des Staates sind nicht gebunden an patriotische Heimatliebe! DIETER LINKA, OBERHAUSEN

BARBARA SCHRÖDER, DRESDEN

Für Staatsbürger, die nach Zahlung ihrer Steuern und Abgaben gerade noch so übers Jahr kommen, wirkt der Name »Osthoff« mittlerweile ätzend. Mögen Leute, die Zeit und Geld haben, mit Motorrädern durch die Wüste brettern, durch den Dschungel krauchen oder als Gutmenschen verfallene Karawansereien restaurieren und damit ihr Ego aufbessern. Der deutsche Staat ist nur zu einer Nothilfe verpflichtet. Nicht aber zu solchem Aufwand! Und nun trifft es auch noch einen Ex-Staatssekretär. Zwar ist das Leben als solches schon recht lebensgefährlich, man muss es aber nicht auf Kosten der Daheimgebliebenen derart übertreiben. Es sei denn, man hat das Lösegeld schon vorher beim Auswärtigen Amt deponiert. Dann allerdings: immer zu! Je doller, desto medienwirksamer. EGON WEBER, BAD REICHENHALL

Ich kenne Susanne Osthoff nicht. Sie mag mit ihren eigensinnigen Ansprüchen und Plänen durchaus die Nerven des

Als Deutscher ein Patriot zu sein, ist wohl genauso schwer, wie als Amerikaner sein Vaterland nicht zu lieben. Doch man müsste sich auch die Frage gefallen lassen, wofür man sein Land liebt. Ich würde bei der Antwortsuche, genau wie wohl viele, ins Stottern geraten. Die Geschichte unseres Landes liest sich wie ein Schauermärchen, und in der nahen Vergangenheit lässt sich auch nicht viel Positives finden. Natürlich ließe sich ein Ereignis wie der Mauerfall als Leistung einstufen, aber heute wünscht sich wahrscheinlich jeder zweite Westdeutsche, den »Klotz am Bein« wieder abzustoßen und ohne den Osten in eine hellere Zukunft zu blicken. Auch die Antikriegspolitik ist kein Grund stolz zu sein, sondern eher unsere Pflicht, denn wir sollten am besten wissen, was Krieg bedeutet. Erst wenn Deutschland wirklich vereint ist und zusammen in eine kriegsfreie Zukunft steuert, wären langsam wieder Gefühle wie ein dezenter Nationalstolz und Vaterlandsliebe gerechtfertigt. MARIUS HARRER, 17 JAHRE, SCHÜLER, NÜRNBERG

Florettfechter gegen Phrasendrescher Streitgespräch Geißler/Röttgen: »Aber Norbert, das ist doch Lyrik!«, Nr. 1

Ein Florettfechter sitzt einem Kontrahenten gegenüber, der sich mit einem Gummischwamm zu wehren versucht. Das ist lustig zu sehen. Aber abgesehen von diesem Amüsement, bin ich sehr erschrocken über das Phänomen, dass ein Politiker in einer einflussreichen Position so viel Nebel im Kopf hat. Röttgen bestreitet einen Großteil des Gespräches mit folgenden Formulierungen: »Personalität, Subsidiarität, Solidarität«; »wertgebundene Wirtschaftsordnung«; »Marktwirtschaft international Geltung verschaffen«; »wir setzen auf Bildung, auf Elite und Exzellenz, auf Förderung von Wissenschaft und neuen Technologien« (wenn wir es nur täten, bemerkt Heiner Geißler trocken dazu); »neue Verantwortungskultur« – ich habe noch nie so viele hohle Phrasen so dicht gedrängt beieinander gesehen!!

Heiner Geißler versucht, sein Gegenüber auf den Boden konkreter Tatsachen zu holen (»Es kann doch nicht richtig sein, dass Unternehmen wie früher die Sklavenschiffe … verkauft werden«) – als Antwort darauf spintisiert Röttgen davon, dass Globalisierung dann »mit einem Siegeszug von Menschenwürde, Freiheit und Demokratie« einhergeht. Wie es dazu kommen soll, verrät er nicht. Doch, einen Tipp hat er: Er plädiert dafür, »staatliche Regulierung von Unternehmen zu reduzieren, um ihr freiwilliges Engagement für die Gesellschaft zu aktivieren«. Das klingt so ratlos, hilflos, bisslos, dass es einem leid tun kann! Der Versuch, die Leute mit schönen Worten zu beeindrucken, reicht einfach nicht aus für eine Problemlösung! HANNELORE TÜMPEL WESTERHOLZ

Nr. 3

DIE ZEIT

Der Irak-Krieg ist ein Angriffskrieg, verstößt gegen die UN-Satzung und ist allein deswegen völkerrechtswidrig. Thomas Assheuer beginnt seinen Artikel zu Recht mit dem Hinweis auf die Präambel der UN-Charta, wonach künftige Generationen vor der Geißel des Krieges bewahrt werden sollen. Diese Bestimmung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, an dessen Eröffnung vor sechzig Jahren in den letzten Wochen allenthalben erinnert worden ist. Die später so bezeichneten »Nürnberger Prinzipien« sanktionierten neben anderen »Planen, Vorbereitung, Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges«. In seinem Urteil vom 1. Oktober 1946 hat das Gericht die »Entfesselung eines Angriffskrieges« als »das schwers-

100 gute Wünsche Aufgeschrieben von der ZEIT-Redaktion, ZEIT Nr. 1

Kinderbuchautor Paul Maar, Erfinder des Sams, schrieb Michael Biedowicz, Bildredakteur im Leben, der sich gewünscht hatte:

»… viele fette, blaue Punkte im Gesicht, mit denen ich mir wie das Sams aus den Büchern Wünsche erfüllen kann.«

te internationale Verbrechen« gebrandmarkt, »das sich von anderen Kriegsverbrechen nur dadurch unterscheidet, dass es in sich alle Schrecken der anderen Verbrechen einschließt und anhäuft«. Der Regierung Bush müssten die Ohren klingen, wenn ihr eine der berühmtesten Reden der Rechtsgeschichte vorgehalten würde. In der Anklagerede des Chefanklägers in Nürnberg, des großen amerikanischen Juristen Robert Jackson, heißt es zukunftweisend: »Wir dürfen niemals vergessen, dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden.« DR. PETER WEBER RICHTER AM KAMMERGERICHT A. D. BERLIN

Semantische Belehrung Thomas Fischermann: »Kampf ums Korn«, ZEIT Nr. 1

Was schon meine Oma wusste Haug von Kuenheim: »Ein Rentner sieht rot«, ZEIT Nr. 1

Ich bin 25 Jahre alt, also geschlagene 46 Jahre jünger als Sie. Man könnte sagen, dass ich ein unerfahrener, frecher kleiner Lümmel bin. Und weil das so ist, sage ich Ihnen: Sie sind ein, entschuldigen Sie die Wortwahl, ziemlich lebenserfahrener alter Sack. Oder sollte ich besser Haudegen sagen? Immerhin haben Sie 40 Jahre für die ZEIT gearbeitet. Das klingt jetzt erst einmal ziemlich respektlos und unverfroren, aber ich wünsche mir, dass wir, Sie und ich, Jung und Alt, Lümmel und Haudegen, einander respektieren. Es ist doch selbstverständlich, für Ältere im Bus aufzustehen. Ich selbst warte gerne etwas länger an der Supermarktkasse, wenn eine nette Oma nach Kleingeld sucht und dabei mit der Verkäuferin ein Gespräch anfängt. Manchmal stelle ich mir vor, wie zittrig meine Finger irgendwann einmal sein werden, wenn sie ins Portemonnaie greifen, wenn es Portemonnaies dann überhaupt noch gibt. Auch ich kenne Menschen, die, sobald sie in einer Schlange anstehen, unfreundlich werden. Oft sind es jüngere, oft aber auch ältere, die ungeduldig und unzufrieden (mit ihrer Rente?) herumnörgeln und von besseren Zeiten reden, in denen die Jüngeren noch Anstand hatten. Herr von Kuenheim, nicht alle jüngeren Menschen sind respektlos, genauso wenig sind alle älteren stets mitmenschlich, liebevoll. Es gibt solche und solche, hat meine Großmutter immer gesagt. Ich wage nicht, ihr zu widersprechen. SVEN STICKLING »JUNIOR«, BIELEFELD

Ihre guten Absichten und gewiss lobenswerten Einsichten in Ehren – aber zum echten Senioren fehlt Ihnen mindestens ein Jahrzehnt. Ein Einund-

S. 18

siebzigjähriger kann über partnerschaftliche Probleme jenseits der Wechseljahre schreiben, über sinnvolle oder unsinnige Studiengänge nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben, über die Perversion des Jugendwahns, aber nie und nimmer über Alterskleptomanie und andere Greisenmarotten, jedenfalls nicht aus eigener Erfahrung. In seiner Lebensphase umhüllt den eben Siebzigjährigen noch uneingeschränkt der Nimbus des Bonvivants. Bis zum echten »Senex« hat er noch einen langen, ebenso aufregenden wie schmerzensreichen Weg zurückzulegen. Schauen Sie sich um unter Leuten Ihres Alters – oder schauen Sie einfach in sich hinein! Reichlich Kräfte sind vorhanden für lustvolle Betätigungen jeder Art. Einundsiebzigjährige können Minister, Wirtschaftsweiser, Modeschöpfer sein. Natürlich können sie auch alles bleiben lassen und das Leben in weiser Beschaulichkeit genießen – ohne die vielen Handicaps aus der Alters-Schreckenskammer, das heißt ohne falsche Zähne, Bruchband, Hörapparat und dergleichen Greisenschnickschnack. Sicherlich, die Geriatrie kennt den Begriff der vorzeitigen Vergreisung, aber ich nehme nicht an, dass Sie, verehrter Herr von Kuenheim, dieser marginalen Spezies zuzuordnen sind. Worunter alte Leute seit Menschengedenken leiden: Die Unterstellung einer nicht mehr zu erreichenden Schnelligkeit und Unabhängigkeit, wie Sie ganz richtig in einer Ihrer Kolumnen schrieben, ist alltägliche Erfahrung der über Achtzigjährigen – ein Einundsiebzigjähriger ist davon in der Regel Gott sei Dank noch weit entfernt. UWE STORJOHANN, QUICKBORN – EIN ÜBER ACHTZIGJÄHRIGER

SCHWARZ

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Der von Ihnen verwandte Begriff »verseucht« ist in Zusammenhang mit genmanipuliertem Mais nach objektiven Kriterien nicht gerechtfertigt, da es sich nicht um eine Seuche handelt. Seitdem der Mensch Pflanzen auf freiem Feld anbaut, kommt es zu Kreuzungen. Bisher hat sich daran niemand gestört. Erstens war es technisch nicht möglich, Veränderungen einzelner Gene im Erbgut nachzuprüfen. Zweitens hätte man nicht gewusst, wo man suchen sollte, da die

Mutationen überall auftreten konnten. Und drittens war es auch völlig unerheblich, auf welchem Feld eine Mutation zum ersten Mal auftrat und auf welche Felder sie sich von dort aus ausbreitete. Fakt ist, dass die Menschheit seit ihrer Entstehung unendlich viele zufällig mutierte Gene gegessen hat. Warum sollten wir jetzt daran zugrunde gehen, ein paar gezielt modifizierte Gene zu essen? RALF HEMPEL STUTTGART

214 Stunden Bach, wunderbar Reiner Luyken: »Sublime Folter«, ZEIT Nr. 1

Oh, glückliches Britannien! Das würde ich auch gerne einmal im deutschen Hörfunk erleben – 214 Stunden Bach! Stattdessen auf fast allen Frequenzen überwiegend Dudelfunk! Bach war für mich die größte (Wieder-)Entdeckung des Jahres 2005. Über Gerd Gerken zu Douglas R. Hofstadters Gödel, Escher, Bach – ein Endloses Geflochtenes Band (nicht

dass ich das bisher zu Ende gelesen hätte), von da zu Bachs Musikalischem Opfer und, neugierig geworden, zu den Kantaten. Musik mit glasklarer Struktur und trotzdem oder gerade deswegen wunderschönen Melodien, die einen größeren Zusammenhang ahnen lassen, ob man das jetzt Gott oder wie auch immer nennen will. DR. MARIE-LUISE KÖLLN, HAMBURG

Nutzen wir unsere Macht! Grafik in der Wirtschaft: »Kahlschlag«, ZEIT Nr. 1

Der angekündigte Stellenabbau der genannten Unternehmen ist erschreckend für 2006. Die Rendite der Firmen steigt, und die entlassenen Mitarbeiter/innen fallen letztendlich dem Steuerzahler zur Last. Unternehmensführungen würden mich am liebsten für den folgenden Vorschlag steinigen: Ich kaufe oder nutze nichts mehr von den Unternehmen in der Liste, die ich mir aufbewahre. Das gilt auch für zukünftige Firmen mit gleichem Vorhaben. Als Erstes überprüfe

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ich im neuen Jahr alle Telefonanbieter und wechsele zum günstigsten. Wir Bürger haben mehr Macht, als wir wahrhaben wollen. Nutzen wir sie, so reagieren wir, wie gewünscht, flexibel! HELMUT FREDE, RATINGEN

Beilagenhinweis Unserer heutigen Ausgabe liegen in Teilauflagen Prospekte folgender Unternehmen bei: Berliner Verlag GmbH, 10124 Berlin; Financial Times Deutschland GmbH, 20459 Hamburg

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DIE ZEIT

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DIE ZEIT

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12. Januar 2006

WIRTSCHAFT

Alle Mann an Bord Mit Partyschiffen und Luxushotels sanierte er die Staatsreederei der DDR. Wie Horst Rahe einen Urlaubskonzern schuf Seite 30

Springer muss lernen zu teilen Der Medienkonzern könnte Sat.1 bekommen – durch Verzicht

s gab einen gewaltigen Knall. Die Explosion sprengte mehrere Meter Leitung weg; sie gehörte zum Sprühsystem des Reaktorkerns. Splitter flogen durch die Sicherheitszone des Meilers. Instrumente und Rechner signalisierten steigenden Druck, das Ultraschall-Überwachungssystem schlug an. Der Knall ereignete sich am 14. Dezember 2001 im Kernkraftwerk Brunsbüttel. Die Schichtmannschaft diagnostizierte eine »Leckage in einem unbedeutenden Sicherheitsbereich«, schaltete den vermuteten Bereich per Fernbedienung ab – und ließ das Atomkraftwerk unter Volllast weiterlaufen. Die Verlockung dazu war groß. Atomstrom beschert den Meiler-Betreibern mehr Gewinn als jedes andere E-Werk. Vor allem einige Landespolitiker lässt diese Verlockung nicht ruhen. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber zum Beispiel. Aus dem verschneiten Wildbad Kreuth forderte er kürzlich, die »sicheren« deutschen Kernkraftwerke länger als geplant laufen zu lassen. Atomstrom, so Stoiber, mache die hiesige Energieversorgung unabhängiger vom Import russischen Erdgases. Das Argument ist zwar fragwürdig, weil mit Gas weniger Strom als vielmehr Wärme erzeugt wird. Dennoch: Stoiber eröffnete zum wiederholten Mal die heikle Diskussion vom Ausstieg aus dem Atomausstieg – vier Monate vor dem 20. Jahrestag der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl. Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ zwar um des Koalitionsfriedens willen umgehend verkünden, das Bündnis von Union und SPD stehe zum Koalitionsvertrag. Und dort sei der von der Vorgängerregierung vereinbarte Atomausstieg festgeschrieben. Einige Parteifreunde brachte die Botschaft allerdings nicht zur Räson. Es sei »volkswirtschaftlicher Unsinn«, die »sicheren Kernkraftwerke« abzuschalten, die »billigen Strom« produzieren, wetterte Hessens Ministerpräsident Roland Koch – und plädierte sogar für eine NeubauOption. Ist also Geiz auch geil, wenn es um so sensible Bauwerke wie nukleare Stromfabriken geht?

»Sicherheitstechnische Optimierungen« am Reaktor Biblis A haben RWE seit 1999 rund 540 Millionen Euro gekostet. In ein paar Monaten, sagt ein Konzernsprecher, werde die Chefetage entscheiden, ob sie das Kernkraftwerk länger am Netz halten will. »Sollte RWE einen solchen Antrag stellen, muss die Anlage neu bewertet werden«, erläutert Volkert das mögliche Procedere, und zwar inklusive Risikoabschätzung, Leittechnik, Reaktortechnik, Mechanik und Elektronik. Endgültig entscheiden werden Kanzlerin Merkel, Wirtschaftsminister Michael Glos und Umweltminister Sigmar Gabriel. Letzterer versichert, er kenne »bis heute kein Argument«, das für das Abnicken eines solchen Antrags spreche.

Illustration: Phoebe Arns

E

»Unfallsicher« sei kein einziges Kernkraftwerk, warnt Helmut Hirsch. So habe »nur doppeltes Glück« im Jahre 2001 einen Strahlungsunfall in Brunsbüttel verhindert, sagt der Österreicher, der seinen Sachverstand für Kerntechnik seit 28 Jah-

Sauber, aber explosiv Die Nuklearlobby wittert Morgenluft, die Atomwirtschaft grandiose Gewinne. Sind ihre Meiler die Antwort auf die Energiekrise? Von Cerstin Gammelin und Fritz Vorholz

ren als unabhängiger Berater anbietet. Wie durch ein Wunder beschädigten die umherfliegenden Trümmer keinen der sensiblen Messfühler. Und das explosive Wasserstoff-Sauerstoff-Gemisch entlud sich in gerade noch ausreichender Entfernung vom Reaktorkern. Nur »drei bis vier Meter weiter« wäre es zu einem Störfall mit »Kühlmittelverlust« gekommen, bestätigt ein Bericht der obersten Aufsichtsbehörde für deutsche Kernkraftwerke, des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Das »Vorkommnis mit Abriß einer Kühlleitung im Atomkraftwerk Brunsbüttel« hätte sich sogar zum größtmöglichen Unfall auswachsen können: zur Kernschmelze mit radioaktiver Verstrahlung.

Nr. 3

DIE ZEIT

Mit der Entscheidung für oder gegen Kernkraft sei es wie mit einer Schwangerschaft, sagt Torsten Volkert, der Sprecher des hessischen Umweltministeriums. »Ein bisschen davon geht nicht.« Die Behörde beaufsichtigt die vom Essener Energiekonzern RWE betriebenen Reaktorblöcke in Biblis. Biblis A ist der ältere, geplant Mitte der sechziger Jahre, 1975 ans Netz gegangen und nach Stade und Obrigheim das nächste Kernkraftwerk, das dem Atomausstiegsfahrplan zufolge 2007 dichtmachen soll. Dreiundvierzig Vollzeitbeschäftigte der Abteilung Reaktorsicherheit des hessischen Umweltministeriums und noch mehr externe Gutachter kontrollieren akribisch den Betrieb der Anlage – nicht immer zum Gefallen des Betreibers.

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SCHWARZ

Bedenken existieren auch unter Fachleuten.Jeder Reaktor sei »im Prinzip immer ein katastrophenträchtiges Gebilde«, sagt der einstige Kernenergiebefürworter Klaus Traube, der schon vor Jahren die Seite wechselte und nun für den Umweltverband BUND arbeitet. Nachrüstungen garantierten längst nicht den neuesten Stand der Technik, im Zweifel steige durch das Verbinden alter und neuer Teile sogar die Unfallgefahr. Und: Trotz aller Sicherheitsmechanismen »geschehen Unfälle immer dort, wo sie nicht erwartet werden«. Tatsächlich werden in jedem der 17 hiesigen Kernkraftwerke, die zusammen rund 12,6 Prozent des deutschen Energieverbrauchs decken, fast jeden zweiten Tag unerwartete Betriebsstörungen registriert: »meldepflichtige Vorfälle« – bestes Bürokratendeutsch für Störungen, die schlimme Ausmaße annehmen können. Bereits in den achtziger Jahren sprang im Kernkraftwerk Brunsbüttel beim Anfahren des Reaktors das Schnellabschaltesystem wiederholt an. »Das Team fand keine Ursache und legte mit Schraubenziehern das Sicherheitssystem einfach lahm«, erinnert sich Traube. Als im längst stillgelegten Uralt-AKW Lingen beim ersten Anfahren die Steuerstäbe klemmten, experimentierte die Mannschaft am mit Brennelementen beladenen Reaktorkern. »Erst später haben wir uns für die Gefahr sensibilisiert«, so Traube. Viele Beinaheunfälle seien zudem niemals zuvor in Prognosen aufgetaucht. Ein klemmendes Ventil und menschliches Versagen ließen 1987 Fortsetzung auf Seite 20

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Und Springer bewegt sich doch. Kurz bevor die größte Übernahme der deutschen Mediengeschichte endgültig zu scheitern droht, scheint eine akzeptable Lösung auf: Im Springer Verlag wird erwogen, die ProSiebenSat.1 Media zwar zu kaufen, aber den Sender ProSieben weiterzureichen. Erste Gespräche mit SBS Broadcasting aus Amsterdam fanden statt, doch ist unklar, ob sie so vielversprechend verliefen, dass Springer-Chef Mathias Döpfner um Aufschub beim Bundeskartellamt bittet. Ihm bleibt wenig Zeit. Ein Nein aus Bonn ist nur eine Frage von Tagen. Viel spräche für die kleine Lösung. Springer bekäme 16 Prozent am deutschen Fernsehmarkt statt der erhofften 23 Prozent. Das ist ein Wert, der die Bedenken des Bundeskartellamts und der Medienwächter aus den Bundesländern ausräumen würde. Denn Springer hätte in diesem Fall weniger Gelegenheiten, Werbepakete für Presse und Fernsehen zu schnüren, um Konkurrenten zu verdrängen – und die geballte Meinungsmacht von Bild und TV fiele überschaubarer aus. Nicht zu vergessen: Der Konzern hätte genug Kapital für eine weitere Expansion im Ausland. Die hiesige Fernsehlandschaft bliebe weitgehend in deutscher Hand, ohne dass Springer und Bertelsmann gleich in allen Medienmärkten dominierten. Und Springer bekäme am Ende den Zugriff auf bewegte Bilder, die helfen sollen, im Internet eine unangreifbare Stellung aufzubauen, falls sich Google oder Yahoo tatsächlich in direkte Konkurrenten verwandeln sollten. Da bleibt nur eine Frage übrig: Ist Springer bereit, so viel abzugeben? GÖTZ HAMANN

30 SEKUNDEN FÜR

den Smart Typisch DaimlerChrysler, oder? Die »schwäbische Welt AG« (ist das nicht schon eine Contradictio in adjecto) bringt es nicht einmal fertig, aus dem kleinen Smart einen Erfolg zu machen – und muss sich von BMWs Mini zeigen lassen, wie es auf dem Markt für schicke Kleinwagen richtig läuft. Jetzt lassen die Schwaben für die hässliche Tochter einen Bräutigam suchen, dem sie wohl noch eine kräftige Mitgift anbieten müssen. Und doch ist DaimlerChrysler weniger an der eigenen Tollpatschigkeit als an den »engstirnigen Deutschen« (leider nicht unbedingt eine C. i. a.!) gescheitert. Der Smart startete als Alternative zum herkömmlichen Auto. Die Bahn sollte ihn günstig transportieren, die Parkhäuser sollten ihn billig behausen, Stadtvereine ihn teilen. Doch keiner fing so richtig Feuer, und die Verbraucher fuhren nur auf Kultautos ab. So wurde aus dem Smart ein ziemlich normales Auto – ohne viel Kult. Es lässt uns mit der Frage zurück, ob »alternatives Verkehrskonzept« nicht auch zur C. i. a.-Familie gehört. Uwe Jean Heuser

DIE ZEIT

Nr. 3

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S. 20

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WIRTSCHAFT

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12. Januar 2006

Energie für Deutschland

Die Alternativen

Mineralöl

Erneuerbare Energie in Deutschland

vor allem für Autos DK

HERKUNFT

S

VERBRAUCH

Sonstige Inland Naher Osten

EU und Norwegen

Sonstige

37,3

Flugbenzin

16,9

Russland

28,9

25,0

25,4

6,3 7,1

37,1 Afrika

20,5

biogene Abfälle Wasser

biogene Brennstoffe

0,1

0,5 1,1

2,6 10,2

Leichtes Heizöl

Benzin

Fotovoltaik

Geo-/Solarthermie

Diesel

Schweres Heizöl

3,5 10,1 8,6

Rostock

Heide

DIE ZEIT Nr.3

3,1

in Millionen Tonnen

Hamburg

Erdgas

Wind

vor allem für Wohnungsheizung

in Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten

HERKUNFT

Schwedt

VERBRAUCH

Dänemark/ Großbritannien u. a. PL NL

Inland

190

Russland

Kraftwerke

63 409

Rotterdam

Die größten Energielieferanten für Deutschland

136 130

222 Niederlande

Norwegen

Industrie

in Terrawattstunden

Leuna

Steinkohle vor allem für Stahl und Strom

Köln

HERKUNFT B

VERBRAUCH

Ibbenbüren

Frankfurt

Importe

Saar-Revier

L

Ludwigshafen

Norwegen

Nieder- Großlande britannien

Strommischung

40

47

Anteil der Energieträger an der deutschen Stromerzeugung Heizöl u. a.

in Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten

Karlsruhe

Erneuerbare Energien

Braunkohle

F

9,0

vor allem für die Stromerzeugung

Raffinerie

Ingolstadt

Rohölpipeline

HERKUNFT

Produktpipeline

München

Stromleitung Gasleitung

Sonstige

CH

in Planung/im Bau

Kraftwerke

23,0

A

59

Steinkohle

100,3

169,1

DK

3999

Export und Lagerung

Umwandlungsverluste in Raffinerien und Kraftwerken Nichtenergetischer Verbrauch*

Kernenergie

Verbrauch in den Energieanlagen

Steinkohle

20,5

L

Bestandsentnahme 0,4

etwa 107 Liter radioaktives Kühlwasser im Reaktor Biblis A auslaufen – ein Unfall, der zur Kernschmelze führen kann und der sich in dem betagten Kraftwerk wiederholen könnte. Im Jahr 1998 schaltete die Schichtmannschaft des niedersächsischen Kernkraftwerks Unterweser vorschriftswidrig ein Sicherheitssystem ab. Als nach der Schnellabschaltung des Reaktors der Dampfdruck stieg, stellte sich heraus, dass die Ventile versiegelt waren und nicht funktionierten. »Schlamperei« wachse mit den Betriebsjahren zu einer großen Gefahr, warnt Traube. Bei einem Team, das nukleare Anlagen 20 Jahre lang als »gutmütig« erfahre, lasse die Anspannung nach. »In dem Maße, wie Beinahekatastrophen stattfinden, verbessert sich die Sicherheit«, sagt Michael Sailer. Der 51jährige Ingenieur sitzt seit 2002 der Reaktor-Sicherheitskommission vor, die das Umweltministerium berät. Doch auch Sailer weiß, dass trotz der relativ hohen Sicherheit deutscher Kernkraftwerke der Teufel im Detail steckt – »nämlich im alltäglichen Betrieb«. Beim Kraftwerksbauer Framatome, einem Gemeinschaftsunternehmen von Siemens und dem französischen Nuklearkonzern Areva, will man von Sicherheitsmängeln nichts wissen. »Alle Anlagen sind so ausgelegt, dass trotz höchst seltener kleiner Vorkommnisse kein großer Unfall passiert«, erklärt der Werkstoffwissenschaftler Manfred Erve, Leiter im Technik-Zentrum Erlangen. Das soll beruhigen – zumal einige der Meiler inzwischen wahre Gelddruckmaschinen sind. Experten schätzen die Erzeugungskosten für Atomstrom auf etwa einen Cent pro Kilowattstunde. Da auf dem Strommarkt nur unzureichender Wettbewerb herrscht, profitiert die Kundschaft zwar nicht von den unschlagbar niedrigen Kosten; aber ihren Eigentümern bescheren die Reaktoren sensatio-

Verbrauch von Endenergie: Mineralöle, Gase, Strom, Steinkohle, Fernwärme, Braunkohle, Sonstige

Verbrauch von Primärenergie

491,6*

Allerdings pusten Kohlekraftwerke kräftig Kohlendioxid (CO2) in die Atmosphäre. Das Gas heizt die Erde auf und trägt maßgeblich zum Treibhauseffekt bei: zu Stürmen und wasserfallartigem Regen, zu Dürren und zum Anstieg des Meeresspiegels. Um die drohenden Wetterextreme in Grenzen zu halten, müssen die Kraftwerksbetreiber in der EU seit einem Jahr spezielle Erlaubnisscheine bereithalten, wenn ihre Anlagen den unerwünschten Stoff ausstoßen. Zwar sind die Emissionszertifikate den Stromfabrikanten kostenlos ausgehändigt worden; die Scheine werden aber an verschiedenen Börsenplätzen, unter anderem in London und in Leipzig, gehandelt und haben einen Markt-

DIE ZEIT

285 2761

Import Export

89,3

Verkehr

Mehr Meiler Neue Atomkraftwerke weltweit im Bau Argentinien

1 (0)

Brasilien

0 (1)

China

2 (8)

Finnland

1 (0)

Indien

8 (0)

Iran

1 (2)

Japan

1 (12)

Kanada

0 (2*)

Nordkorea

1 (1)

Südkorea

0 (8)

Pakistan

0 (1)

Rumänien

1 (0)

Russland

4 (1)

Südafrika

0 (1)

Ukraine

0 (2)

USA

1 (0)

gesamt

21 (39)

(geplant)

*vorübergehend stillgelegt

ZEIT-Grafik/Quelle: World Nuclear Association; Stand 09/05

S. 20

SCHWARZ

12794 CZ

52

152

F

3127

3333

9906 A

CH

Industrie

81,3

Handelsware Strom

Gewerbe, Handel

51,2

Deutschland ist Drehscheibe für den europäischen Stromhandel

*als Rohstoff für Kunststoffe und andere Chemieprodukte

preis: Etwas mehr als 20 Euro kostet derzeit die Lizenz zum Ausstoß einer Tonne CO2. Jede Kilowattstunde Kohlestrom wird auf diese Weise teurer, während die Kosten für CO2-freien Atomstrom unverändert bleiben. So schwindet der Kostennachteil des Atomstroms. Bis auf null? Die Experten streiten. Der Bremer Energieforscher Pfaffenberger rechnet vor, dass der gegenwärtige CO2-Preis bereits ausreicht, Elektrizität aus neuen Atommeilern konkurrenzfähig zu machen – während der Berliner Energieberater

Stand 2003

4956 20224

13348

314,4

*statistische Differenz: 1,0

nelle Gewinne: Sie verkaufen ihren nuklearen Strom zum Börsenpreis und kassieren auf diese Weise Margen von bis zu 500 Prozent. Nur deshalb – und nicht, weil sie der Atomtechnik ideologisch verhaftet sind – hängen die Konzerne an ihren alten Meilern. Die wurden allesamt gebaut, als von Wettbewerb noch keine Rede war. Mittlerweile sind die Anlagen abgeschrieben, zu Buche schlagen nur noch die reinen Betriebskosten – und die sind meist viel niedriger als bei Kohle- oder Gaskraftwerken. Die Verlockung längerer Laufzeiten ist riesig. Während sie um ihre abgeschriebenen Meiler kämpfen, schickt sich kein einziger der hiesigen Stromerzeuger an, neue nukleare Stromfabriken zu planen. Der Grund: Mit rund zwei Millionen Euro pro Megawatt sind die Investitionskosten dafür rund doppelt so hoch wie für neue Kohlekraftwerke. Dieser Nachteil kann auch durch die günstigen Betriebskosten der Atommeiler nicht wettgemacht werden. So kostet Strom aus neuen Kernkraftwerken laut Wolfgang Pfaffenberger, Leiter des Bremer Energie Instituts, 4,3 Cent pro Kilowattstunde – ein Viertel mehr als Elektrizität aus neu errichteten Steinkohlekraftwerken (3,3 Cent). Braunkohlestrom ist mit nur 2,7 Cent pro Kilowattstunde sogar noch günstiger.

Nr. 3

92,6

Haushalt

554,6

Fortsetzung von Seite 19

B

13,5 %

36,4 %

2241

15038 Stromaustausch

834

Mineralöl

Sauber, aber explosiv

NL

119,4

600

36,3

12,6 %

Erdgas

Gewinnung im Inland 129,0

557

in GWh

11,4 %

22,4 %

5369

PL

63,0

Sonstige 3,7 % Braunkohle

Energieaufkommen im Inland

S

in Millionen Tonnen

Energieflussbild für Deutschland, in Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten

Import 426,0 von Energieträgern

Braunkohle

in Prozent

Lausitz

Gewaltiger Fluss: Vom Energieträger zum Verbraucher

26,4

12,8

20,2

Gasleitung

27,8

10,3

2,4

Mitteldeutschland

3,5

Erdgas

VERBRAUCH Rheinland

Helmstedt u. a.

Kernkraft

ZEIT-Grafik/Dieter Duneka

Bernhard Hillebrand die Schwelle der Wettbewerbsfähigkeit für Strom aus neuen Meilern erst bei einem CO2-Preis von 30 bis 35 Euro pro Tonne vermutet. Manuel Frondel, Energieexperte beim Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI), hält es sogar für wenig wahrscheinlich, dass sich der Bau neuer Atomkraftwerke jemals wieder lohnen wird. »So hoch«, sagt der Essener Ökonom, »wird der Zertifikatspreis vermutlich gar nicht steigen.« Dass im Ausland neue Kernkraftwerke gebaut oder geplant werden, irritiert den Forscher nicht. Nur dort, wo der Markt noch nicht vollständig liberalisiert sei und wo der Staat ins Geschäft mit dem Strom hineinregiere, wüchsen neue Meiler gen Himmel. Das gelte selbst für Finnland, wo das Unternehmen Teollisuuden Voima Oy (TVO) gerade einen Meiler hochzieht, der 2009 ans Netz gehen soll. Tatsächlich ist der zweitgrößte TVO-Aktionär ein mehrheitlich in Staatsbesitz befindlicher Energieversorger. Gleichwohl, als die Entscheidung über den Bau des finnischen Reaktors vor zwei Jahren fiel, schöpfte die von langen Flautejahren gebeutelte Nukleargemeinde Hoffnung. Auch in Schwellenländern rund um den Globus entstehen neue Meiler. Von einer weltweiten Renaissance der umstrittenen Technik war da plötzlich die Rede – obwohl amtliche Prognosen nach wie vor das Gegenteil ausweisen. So wird nach Schätzung des US-Energieministeriums der Nuklearbeitrag zur weltweiten Energieversorgung von gegenwärtig rund 6,5 Prozent auf 5,3 Prozent im Jahr 2025 sinken; im Jahr 2030 wird laut Internationaler Energieagentur (IEA) Atomkraft sogar nur noch 4,6 Prozent zur weltweiten Energieproduktion beisteuern. Doch ist das wirklich Anlass zur Freude? Weniger Nuklearenergie bedeutet zwar weniger Nuklearrisiko, weniger Sorge um die Endlagerung des Strahlenmülls und weniger Streit darum, wie lange die Uranvorräte noch reichen – aber dann verrußt eben auch die Atmosphäre schneller, und Deutschland wird noch abhängiger von begrenzten und

cyan

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Quelle: BGW, BMU, GVSt, DEBRIV, RAG, MWV, AG Energiebilanzen, Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, VDEW, AGEE-Stat, Stand 2004

Ruhr-Revier

Atomkraftwerk konventionelles Kraftwerk Wasserkraftwerk

Russland

2

17 18

Steinkohle Erdgas Mineralöl

Kraftwerke

Stahlindustrie

2

6

CZ

Wärmemarkt

in Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten

110 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

480

250

281 Gelsenkirchen

Starke Abhängigkeit

Haushalte/ Kleinverbraucher

Sonstige

obendrein ausländischen Öl-, Gas- und Kohlevorräten. Es sei denn, Alternativenergien könnten die Versorgung mit weniger Gefahren für Mensch und Umwelt sicherstellen! Genau davon ist Stephan Kohler überzeugt, der Chef der Deutschen Energie-Agentur (Dena). Effizienz, so Kohler, sei die ergiebigste Energiequelle – und eine heimische dazu. Intelligente Technik, predigt der gelernte Maschinenbau-Ingenieur seit Jahren, ermögliche es Industrie und Haushalten, rund ein Viertel der bisher verbrauchten Elektrizität einzusparen; das entspricht beinahe der Produktion sämtlicher deutscher Kernkraftwerke. Tatsächlich vergeuden selbst kostenbewusste Fabriken viel Strom, etwa beim Betrieb von Elektromotoren, auf deren Konto zwei Drittel des industriellen Verbrauchs gehen. Wäre jeder dritte Motor – statt nur jeder zwanzigste – mit einer elektronischen Drehzahlregelung ausgerüstet, ließen sich nach Angaben des Zentralverbandes Elektrotechnik und Elektronikindustrie (ZVEI) jährlich rund 6,5 Prozent sparen – ohne Mehrkosten. Warum die Investoren dieses Potenzial nicht nutzten, sei »eine sehr gute Frage«, so der Verband. Während die Politiker gern und laut über die Sicherheit der Versorgung streiten, legen auch sie nur wenig Wert darauf, dass die Deutschen Energie sparen. Ändert sich daran nichts, könnte die gesamte Energiefrage tatsächlich ungeahnte Sprengkraft erhalten. Denn je mehr vergeudet wird, desto verlockender werden die Kernkraftwerke. Und desto größer wird das Spaltpotenzial im Berliner Regierungsbündnis. Angela Merkel hat das erkannt. Sie wolle »alles daransetzen, Energie zu sparen«, verkündete sie jüngst. Den Beweis dafür muss sie noch liefern. Spätestens beim Energiegipfel im April. Siehe auch Politik, Seite 6 i Leser diskutieren auf ZEIT online unter: www.zeit.de/2006/02/atomkraft

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Foto: Fabrizio Costantini/WpN/Agentur Focus

Motor City hat den Blues Ford und General Motors streichen Lohnnebenkosten zusammen, um ihre Unternehmenskrisen abzuwenden – und rütteln damit am Fundament des amerikanischen Sozialsystems Von Thomas Fischermann

Ein Relikt aus besseren Zeiten ist dieser Studebaker vor einem Café in Detroit

ie Stars der Motormesse von Detroit sind leicht zu finden. Am Eingang zum Messestand von General Motors (GM) zwinkert eine Gruppe langbeiniger Fotomodelle den Besuchern zu und drückt ihnen Kärtchen in die Hand: »Feiern Sie mit uns den neuen Cadillac Escalade«. Der Escalade ist ein klobiges, typisch amerikanisches sport utility vehicle, kurz SUV genannt, ein hochbeiniges Gefährt irgendwo zwischen Personenkutsche und Kleinlaster. Chrysler am Stand gegenüber lässt seine neuesten SUVs von einem künstlichen Wasserfall bespritzten. Kein Stand kommt ohne derartige Gefährte aus, mal auf blinkenden Drehscheiben, mal mit tätowierten Punk-Trommlern daneben; es gibt kompakte Kleinlaster für die kleine Shoppingtour und Giganten wie den Super Chief von Ford mit 6,5 Meter Länge.

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Die Gewerkschafter in Detroit fragen, ob sich das Kämpfen noch lohnt In Detroit lieben sie diese Fahrzeuge. In den neunziger Jahren hatten viele Amerikaner ihre Lust auf großräumige, geländegängige Autos entdeckt – und weil die krisengeschüttelten »Big Three«, die Hersteller GM, Ford und Chrysler, damals fast ein Monopol auf diese Lkw-Derivate hatten, zog sie der Verkaufserfolg aus dem Sumpf. Weil die SUVs technisch einfach konstruiert waren, lieferten sie die fettesten Profite ab. Zuletzt ließ die Euphorie auf die schluckfreudigen SUVs zwar etwas nach, aber auf der Detroiter Messe gibt es eine Fülle neuer sparsamerer Modelle, die sich selbst in Zeiten steigender Ölpreise gut verkaufen sollen. Trotzdem: Das heißeste Messe-Gesprächsthema sind in diesem Jahr nicht die Autos. Es sind die Autofirmen selbst Für Todd Jordan verlief der Besuch der Automesse enttäuschend. 2000 bis 3000 Demonstranten wollte er am vergangenen Sonntag zusammentrommeln, Autoarbeiter aus Detroit und Umgebung, die in Bussen anreisen und die Voreröffnung der Messe lauthals stören sollten. Es kamen nur 500. Die Polizei hielt sie so weit von der Messe in der Cobo Hall entfernt, dass man ihre Rufe (»Nicht ein Dollar, nicht zehn Cent! Lohnkürzungen sind Verbrechen!«) dort nicht einmal hören konnte. Eigentlich hätten die Mitglieder von Soldiers for Solidarity, wie sich Todd Jordans gewerkschaftliche Protestgruppe nennt, gute Gründe für zahlreiches Erscheinen und wütendere Proteste. Doch in diesen Tagen fragen sich viele Gewerkschafter in Detroit, ob sich das Kämpfen noch lohnt. Die Soldiers for Solidarity rekrutieren sich hauptsächlich aus ehemaligen Mitarbeitern der großen Zulieferfirma Delphi mit 25 000 Gewerkschaftsmitgliedern in der Region. Delphi war einst Teil von General Motors. Die Jobs der Arbeiter waren gut bezahlt und verhältnismäßig sicher. Das ist lange her. Im Augenblick zweifeln viele in Detroit daran, dass es überhaupt

Tendenz fallend Aktienkurse von General Motors und Ford in Dollar 80 70 60

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noch lange gut bezahlte Automobiljobs geben wird: Trotz der Entlassung Zehntausender Arbeiter, trotz einer Serie von Werksschließungen, trotz Aktionen wie der Ausgliederung von Teilelieferanten (wie Delphi oder Visteon bei Ford) und erheblichen Zugeständnissen der Gewerkschaften gelten Detroits Autoriesen als Pleitekandidaten. GM und Ford verlieren Marktanteile, während die Rivalen aus Japan, Korea und Deutschland zulegen. Preisschlachten endeten in immer höheren Verlusten, die hohen Lohn- und Lohnnebenkosten bei den Big Three schadeten den Bilanzen zusätzlich. Kreditprüfer stuften die Anleihen von Ford und GM auf »junk« (wörtlich: »Abfall« ) herunter – den Status hoch riskanter Spekulationspapiere. Jetzt diskutiert man in der Branche sogar, ob ein Gigant wie GM (und vielleicht auch Ford) tatsächlich in den kommenden Monaten Insolvenz anmelden könnte. Der weltgrößte Autokonzern hat im vergangenen Jahr mindestens vier bis fünf Milliarden Dollar verloren, allerdings noch Rücklagen von schätzungsweise 19 Milliarden. Ein Insolvenzverfahren nach US-Recht könnte es dem Management ermöglichen, etwa die Verträge mit den Gewerkschaften über kostspielige Pensionszahlungen aufzukündigen, so wie es amerikanische Stahlhersteller oder Luftfahrtkonzerne vorgemacht haben. Andererseits wäre das fürs Markenimage verheerend. »Ich glaube nicht, dass einer von den beiden das ernsthaft in Erwägung zieht«, sagt DaimlerChrysler-Chef Dieter Zetsche. »Ob dies für einen der Spieler unvermeidbar eintreten kann, ist eine andere Frage. Der Cash-Burn kann unglaublich schnell sein.«

schüsse erhielten), entstand nie ein umfassender Wohlfahrtsstaat in den USA. Das Modell führte zu erheblichen Wohlstandsunterschieden, doch für die Arbeiter von Detroit funktionierte es. Bis, zunächst fast unbemerkt, die Erosion des Sozialmodells Detroit begann. Spring Hill im Südstaat Tennessee. Die prächtige Niederlassung der Autogewerkschaft UAW steht auf einem grünen Hügel im Schatten des Rathauses, sie zählt zwei Etagen und einen geräumigen Bankettsaal. Vor dem Eingang prangt eine Marmorinstallation voller Sprüche über die Solidarität der Arbeiterklasse. Der örtliche Gewerkschaftschef Mike O’Rourke, ein kräftiger Mann mit polternder Stimme und Schnauz-

bart, philosophiert gern über die Vorzüge des Tarifvertrags. »Gewerkschaften und kollektive Verhandlungen haben den Wohlstand in diesem Land geschaffen«, sagt er. Doch das reine Arbeiteridyll ist Spring Hill wohl kaum. Tatsächlich ist Spring Hill in Tennessee wie viele andere Orte in den südlichen USA zu einem neuen Powerhouse der Autoindustrie geworden. Es begann mit dem japanischen Autobauer Nissan, der sich 1983 in Smyrna niederließ. 1986 folgte GM mit einem Werk für seine Marke Saturn in Spring Hill, nur 20 Autominuten von Smyrna entfernt. Im Radius von einigen hundert Meilen um Spring Hill sind heute alle großen Namen der Autowelt vertreten:

Die Löhne sollten von 25 Dollar pro Stunde auf 9,50 Dollar fallen Als der Zulieferer Delphi im Oktober in Insolvenz ging, beantragte dessen Chef Robert Miller zugleich etwas für Detroit Unerhörtes beim Konkursrichter: Die Stundenlöhne sollten von 25 Dollar auf 9,50 Dollar gesenkt werden. Die Delphi-Arbeiter sollten kaum mehr verdienen als die Bulettenbrater bei McDonald’s. Ron Gettelfinger, Chef der Automobilarbeitergewerkschaft UAW, hielt dagegen; Delphi zog den Vorschlag erst einmal zurück. Dennoch könnten die Verhandlungen noch in Millers Sinne ausgehen. Schließlich ist Delphi nicht der einzige Pleitier unter den Automobilzulieferern der Region: Die Visteon Corp (18 000 Beschäftigte) kann derzeit nur mit Zuschüssen von Ford überleben, und der Plastik- und Stofflieferant Collins & Aikman (23 000 Beschäftigte) meldete wie Delphi Gläubigerschutz an. Längst geht die Angst um, dass Hunderttausende rings um Motor City ihre Jobs verlieren – wenn sie nicht radikalen Einschnitten in ihren Lebensstandard zustimmen. Die Gewerkschaften sehen darin den Generalangriff auf das Modell Detroit. Denn Detroit ist nicht nur das traditionelle Zentrum der US-Autoindustrie – hier wurde auch das typisch amerikanische Sozialmodell begründet. Schon Unternehmensgründer Henry Ford erklärte seinerzeit, dass einem Arbeiter ein ordentlicher 5-Dollar-Lohn pro Tag zustehe – wer solle sonst die ganzen Autos kaufen? Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es Vereinbarungen zwischen der Autogewerkschaft UAW und den Big Three, die einen neuen Standard für bessere Gehälter, Krankenversicherungen und Renten setzten. Arbeiter aus dem ganzen Land zogen in den nördlichen Mittleren Westen. Manche schwarze Familie aus den Südstaaten hoffte, dort Rassismus und Armut zu entfliehen. Die Arbeiter von Detroit schlossen zur Mittelschicht auf. Dass sie ihre Sozialleistungen – vor allem Pensionsversprechen und eine Krankenversicherung – von ihren Arbeitgebern gestellt bekamen, wurde zum Kern der amerikanischen Sozialordnung, die sich bis heute grundlegend von der anderer Industrieländer unterscheidet. »Die Ausgaben der amerikanischen Volkswirtschaft für soziale Wohlfahrt differieren kaum von denen in den großzügigsten europäischen Wohlfahrtsstaaten«, sagt Jacob Hacker, ein Sozialstaatsexperte von der Universität Yale, »der größte Unterschied ist die Quelle.« Weil die Firmen für ihre Arbeiter das Wohlfahrtsregime bereitstellten (und dafür vom Staat einige Zu-

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Ford, DaimlerChrysler, BMW, Toyota, Volvo, Honda. Eine Fülle von Zuliefererbetrieben kommt hinzu. Allerdings: Die Gewerkschaften sind nur in den wenigsten dieser Werke vertreten. »Das war hier ein ländliches Gebiet«, erläutert John Word von der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Tennessee. Die Zufahrt zum Saturn-Werk in Spring Hill führt an weißen Zäunen und einem Silo vorbei. Das Empfangszentrum für Besucher (»Betreten ohne Hemd und Schuhe verboten«) war früher eine Scheune. Laut Handelskammer kann allein Tennessee inzwischen 160 000 Automobiljobs vorFortsetzung auf Seite 22

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Das Wärmebild zeigt die warmen (rot) und kalten (blau) Teile eines Hauses. Eine bessere Isolierung wird vom Staat nun besonders gefördert

Merkels Wundertüte

Fortsetzung von Seite 21 zeigen. Niedrige Steuern und subventionierter Strom lockten – und nicht zuletzt das Fehlen von Gewerkschaften. Im Nissan-Werk zahlen sie nach Gewerkschaftsangaben rund fünf Dollar weniger pro Stunde als in einem Gewerkschaftsbetrieb. Weil die 6700 Beschäftigten vergleichsweise jung sind und überwiegend lokal rekrutiert wurden, sind auch die Kosten für Krankenversicherungen und Pensionen gering. Bis zu 4000 Arbeiter im Werk stehen zudem im Sold von Zeitarbeits- und anderen Fremdfirmen. Auch das drückt die Lohnkosten. Gewerkschaften sind in den Südstaaten nicht beliebt. Zweimal scheiterte die UAW dabei, mit einer Urabstimmung bei den 6700 Beschäftigten im Nissan-Werk Fuß zu fassen.

Die Konzerne wandern in den Süden – und Detroit resigniert Selbst die 5600 Beschäftigten beim benachbarten GM-Saturn-Werk stehen, obwohl sie überwiegend Mitglieder in der Gewerkschaft sind, in vielen Punkten schlechter da als ihre Kollegen im Norden. »Die Beschäftigten hier kommen aus 38 Bundesstaaten und aus etlichen anderen GM-Werken, die Leute entlassen haben«, sagt Ron, ein Vorarbeiter bei Saturn – und das erklärt, warum die Belegschaft überhaupt gewerkschaftlich organisiert ist. Anders als die Kollegen in der Region um Detroit ließen sich die örtlichen Gewerkschafter aber schnell auf Zugeständnisse wie flexiblere Schichten oder auch Entlassungen ein. Die Werke, hört man hier oft, könnten schließlich noch weiter gen Süden ziehen. »Hier bei uns liegt der Stundenlohn zwischen 25 und 30 Dollar«, sagt Mike O’Rourke, der UAW-Chef in Spring Hill. »Unten in Kentucky sind es 13 Dollar!« So ist es weniger der Druck der Globalisierung als der Druck aus dem Inland, der den USAutomobilarbeitergewerkschaften zusetzt. Angesichts der Wanderung in den Süden breitet sich rings um Detroit Resignation aus. Die einst mächtigen Gewerkschaftsbosse sind kleinlaut geworden. Zuletzt ließ sich UAW-Chef Ron Get-

telfinger bei Ford und GM Milliardenkürzungen abhandeln – Pensionäre müssen nun einen größeren Teil ihrer Krankenversicherung selbst tragen, Arbeiter müssen beim Arzt- oder Apothekenbesuch mehr zuzahlen. Natürlich wachsen auch die Proteste innerhalb der Gewerkschaft gegen solches Einknicken, ein paar Splittergruppen wollen sich absetzen. Aber Gettelfinger steht von zwei Seiten unter Druck. Im Jahr 2007 gibt es neue Lohnverhandlungen bei allen großen Autokonzernen, und deren Spitzenmanager haben eine harte Linie angekündigt. Die Pensionsversprechen, zu denen GM sich bislang verpflichtet hat, gelten vielen Finanzexperten als unbezahlbar. Am Rand der Detroiter Automesse kündigte GM-Chef Rick Wagoner an, dass sich die Gewerkschaften mit den Kosten der so genannten job bank »auseinander setzen müssen«: Job bank ist ein Sozialprogramm für derzeit 5000 bis 6000 ehemalige GM-Arbeiter, die nach ihrer Entlassung monatelang ihr Gehalt weitergezahlt bekommen. Seit längerem hat Wagoner sich darüber beschwert, dass General Motors heute der größte Einkäufer privater Gesundheitsvorsorge in den Vereinigten Staaten sei. Zuletzt gab sein Konzern dafür 5,2 Milliarden Dollar im Jahr aus – das belastet jedes verkaufte Auto mit 1500 Dollar. Die massiven Klagen Wagoners und anderer US-Konzernchefs sind das eigentliche Indiz dafür, dass das Sozialmodell Detroit sein Ende erreicht hat. Schon im Frühjahr hatte der bedrängte GM-Chef in einer Reihe von Reden und Lobbytrips nach Washington für eine Reform des amerikanischen Gesundheitswesens geworben. Es ging um neue Ideen zur Kostendämpfung, aber vor allem auch um eine stärkere Beteiligung der Regierung, etwa in Form einer Rückversicherung für besonders teure Krankheitsfälle. Die »Krise im Gesundheitswesen«, so Wagoner, habe sich zu einer »Frage der nationalen Wettbewerbsfähigkeit« ausgewachsen. Viele Konkurrenten aus anderen Ländern seien im Vorteil, weil dort einen Großteil der Krankenkosten aus staatlichen Systemen finanziert werde. Natürlich sagt Wagoner so etwas aus Eigennutz. Doch vielleicht wird das neueste Modell aus Detroit gar kein Auto sein – sondern eine Idee zur Reform der nationalen Versorgung für Kranke und Alte.

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»Aufschwung und Vertrauen« steht über dem Aktionsprogramm von Genshagen, das an drei Punkten ansetzt. Forschung und Infrastruktur: In die Förderung von Forschung und Entwicklung will der Staat gezielt investieren (6 Milliarden Euro). In die Verkehrsinfrastruktur sollen weitere öffentliche Gelder fließen (4,3 Milliarden Euro). Unternehmen: Vor allem mittelständische Unternehmen sollen die Möglichkeit erhalten, Maschinen und andere Anlagen schneller abzuschreiben, um ihnen das Investieren zu erleichtern; hin-

zu kommt ein Programm zur Sanierung von Gebäuden (zusammen 9,4 Milliarden Euro). Privathaushalte: Jeder Bürger kann künftig Handwerkerrechnungen von der Steuer absetzen, ebenso bestimmte Kosten für Kinderbetreuung und Pflege (2,5 Milliarden Euro). Zur Förderung der Familien wird ein Elterngeld eingeführt (3 Milliarden Euro). Reicht all das, um dem Aufschwung auf die Beine zu helfen? »25 Milliarden in vier Jahren, das ist nicht der große Wurf«, bremst Alfred Steinherr, der Konjunkturchef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die amtliche Zuversicht. Und Gustav A. Horn vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) bemängelt, das Programm habe zu wenig Gewicht und bestehe »nur aus Peanuts«. Nicht nur über die Höhe, auch über die Kohärenz des Programms urteilen die Fachleute nicht gerade schmeichelhaft. »Man hat viele Maßnahmen zusammengenommen, das hat nicht alles mit einem Konjunkturprogramm zu tun«, findet Jörg Lüschow, Konjunkturexperte bei der WestLB. Bert Rürup, der Vorsitzende des Sachverständigenrats, sieht in dem Vorhaben der Regierung lediglich ein »auf vier Jahre angelegtes kleinteiliges Wachstums- und Impulsprogramm mit einer Anzahl von Einzelmaßnahmen«. DIW-Mann Steinherr ist konzilianter: »Das ist nicht das kohärente Paket, von dem man träumen

kann. Aber wenn es ein Beginn ist, auf den noch weitere Schritte folgen, dann kann ich das durchaus positiv sehen.« Unterm Strich, so glaubt er, könnte die Wachstumsrate über die Dauer des Programms hinweg immerhin jährlich um 0,2 Prozentpunkte höher ausfallen.

Die Frage aller Fragen: Wie lange hält der Optimismus an? 0,2 Prozentpunkte jährlich wären zu wenig, um zum großen Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zu blasen. Aber sie würden die seit dem Regierungswechsel um sich greifende Zuversicht stärken. Jörg Lüschow: »Durch die Bank haben sich alle Stimmungsindikatoren in den vergangenen Monaten verbessert.« Er sieht zudem »erste Anzeichen dafür, dass die Konjunkturerholung endlich auch den Arbeitsmarkt erfasst hat«. Es sei durchaus möglich, dass die Arbeitslosigkeit in den kommenden Monaten die Fünf-Millionen-Grenze nicht übersteigt. Bleibt die Frage, wie lange der Optimismus vorhält. Denn 2007, daran lässt die Regierung keinen Zweifel, wird der Bundeshaushalt saniert und das staatliche Defizit unter drei Prozent gedrückt. Dafür wird die Mehrwertsteuer um drei Punkte auf 19 Prozent erhöht, die Lust am Konsum könnte schon nach kurzem Aufblühen wieder in sich zusammenfallen. Es sei denn, der Schwung wird 2006 so groß, dass er trotz der für 2007 bereits beschlossenen Bremseffekte anhält.

Auffallen um jeden Preis Wie deutsche Autobauer amerikanische Kunden locken Von Dietmar H. Lamparter merika ist einer der wichtigsten Exportmärkte der deutschen Autobauer, insgesamt 870 000 neue Fahrzeuge mit deutschen Markenzeichen fanden 2005 den Weg in die Tiefgaragen der Citys und vor die Villen der Vorstädte. Damit nutzten die Deutschen – neben Japanern und Koreanern – die anhaltende Schwäche der einheimischen Autoriesen General Motors (GM) und Ford. Auf der gerade angelaufenen Automesse in Detroit haben Audi, BMW (mit Mini und Rolls-Royce), Porsche und Mercedes-Benz denn auch Verkaufszuwächse verkündet, nur VW musste einen Rückgang einräumen. Bei den deutschen Herstellern ist Optimismus angesagt: »Wir wollen stärker wachsen als der Markt und peilen 2006 erstmals den Absatz von einer Million Fahrzeugen in den USA an«, sagt Bernd Gottschalk, der Präsident des Verbandes der Automobilindustrie. Die hiesigen Autohersteller steigerten im vergangenen Jahr ihre Produktion um drei Prozent auf 5,35 Millionen Pkw, rund 3,8 Millionen Fahrzeuge wurden exportiert. Klar, dass man da in Detroit mit eindrucksvollen Neuheiten aufwartet. Mercedes stellt »die stärkste Serien-Limousine der Welt« vor, die AMG-Version der neuen S-Klasse mit 612 PS. Hinzu kommt der Supergeländewagen GL, eine verlängerte Version der erst vor ein paar Monaten neu aufgelegten M-Klasse. Die beiden Sport Utility Vehicles (SUVs), wie sie in Amerika genannt werden, laufen, wie auch die neue R-Klasse, im Werk Tuscaloosa in Alabama vom Band. Mit der neuen S-Klasse und der erweiterten SUV-Palette kann Mercedes mit einem Verkaufsschub in den Staaten rechnen. Den braucht auch VW dringend. Die Wolfsburger präsentieren in Detroit einen dreirädrigen Flitzer namens GX3. Wenn das Publikum positiv reagiere, könne der Motorrad-Auto-Klon schon 2007 in Serie gehen, sagt VW-Markenchef Wolfgang Bernhard. Ebenfalls neu für den US-Markt ist das VW-Cabrio Eos. Bessere Zahlen für 2006 erhoffen sich die Wolfsburger jedoch in erster Linie von den erneuerten Jetta und Passat, den wich-

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Foto: Audi AG

Motor City hat den Blues

Sechs Milliarden Euro für Forschung, mehr als vier Milliarden für Verkehr

Geländewagen Q7 von Audi

Foto: Daimler Chrysler AG

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Sportlimousine Mercedes-Benz S 65 AMG

Foto: Porsche AG

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Das ist sinnvoll, weil der Export bereits boomt und das Wachstum der deutschen Wirtschaft fast ganz alleine trägt. Zwar wird in den Unternehmen mittlerweile auch wieder mehr investiert, um neue Maschinen zu installieren und die Produktionskapazitäten zu erweitern. Aber ein zusätzlicher Schub kann nicht schaden. Was für einen soliden Aufschwung außerdem noch fehlt, ist ein stärkerer Konsum der privaten Haushalte. Der stagniert seit Jahren, vor allem weil den Haushalten schlicht das Geld für großzügigere Ausgaben fehlt. Hier für Abhilfe zu sorgen ist von entscheidender Bedeutung für das Wachstum der gesamten Wirtschaft, denn der private Konsum macht 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.

einigt – auf einen Betrag von insgesamt 25,2 Milliarden Euro. Von Streit war hinterher keine Rede, dafür von Vertrauen und Harmonie. »Wir wollen deutlich machen, dass wir uns der Realität stellen«, beteuerte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Realität heißt Arbeitslosigkeit und schwaches Wachstum. Und dagegen will die Kanzlerin mit ihrer Mannschaft angehen. Ihr Motto: »Beschäftigung ist das zentrale Thema.« Was die Regierung als Stütze für mehr Wachstum und Beschäftigung beschlossen hat, ist kein klassisches Konjunkturprogramm à la Keynes. Dafür müsste der Staat Kredite aufnehmen, damit öffentliche Investitionen finanzieren und so den Wirtschaftskreislauf unmittelbar beleben. Angela Merkel und ihre Mitstreiter haben sich stattdessen für einen Mix aus Investitionen, Steueranreizen und Subventionen entschieden. Damit sind sie darauf angewiesen, dass Unternehmer und Verbraucher ihr Angebot auch annehmen. Die Bundesregierung hat keine Zweifel daran, dass am Ende der vier Jahre die zur Verfügung gestellten 25 Milliarden Euro tatsächlich in die Wirtschaft geflossen sind. Und das sei längst nicht alles, weil die staatlichen Impulse ein Mehrfaches an privaten Ausgaben zur Folge hätten. In der Diktion von Vizekanzler Franz Müntefering heißt das: »Wer ernten will, muss säen.« Angesetzt werden sollen die Konjunkturspritzen bei Investitionen und beim privaten Konsum.

Geländerenner Porsche Cayenne Turbo S

Foto: Volkswagen AG

s drohte ein ausgewachsener Streit, als die versammelte Regierungsmannschaft am Montagmittag zur Klausur in das brandenburgische Landschloss Genshagen einzog. Ein Wachstumsprogramm stand zur Entscheidung, 25 Milliarden Euro für vier Jahre waren die Richtschnur. Noch »eine Schippe drauflegen« wollte aber SPD-Generalsekretär Hubertus Heil. Mehr sei nicht drin, hielt Unions-Fraktionschef Volker Kauder vor der Veranstaltung dagegen. Am Dienstagmittag, als die Ministerriege wieder gen Berlin fuhr, hatte sich die Große Koalition ge-

Foto: Kpa/Mediacolors

25 Milliarden Euro für 0,2 Prozent Wachstum? Ökonomen zweifeln am Investitionsprogramm der Regierung Von Klaus-Peter Schmid

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tigsten VW-Modellen im amerikanischen Markt. Mittelfristig soll eine Kooperation mit DaimlerChrysler das Angebot in Amerika komplettieren: Ein Vertrag über den Bau eines VW-Vans auf Basis des Chrysler Voyager wurde auf der Motorshow unterzeichnet. Audi-Chef Martin Winterkorn, der 2005 den größten Zuwachs (6,6 Prozent) aller deutschen Marken in Nordamerika einfahren konnte, setzt auf den völlig neuen Geländewagen Q7. Die Hälfte der geplanten Jahresproduktion von 70 000 Fahrzeugen wollen die Ingolstädter in den USA losschlagen. Der Start ist freilich nicht ideal, schließlich gab es zuletzt einen herben Rückschlag für die lange so beliebten großen SUVs. Den bekam auch Porsche beim Cayenne zu spüren, konnte dies aber mit seinen frisch renovierten Sportwagenreihen 911 und Boxster überkompensieren. Trotzdem legen die Zuffenhausener mit dem Cayenne Turbo S nach, mit 512 PS laut Porsche »das sportlichste und leistungsstärkste Modell im Segment der Sport Utility Vehicles überhaupt«. Keine Frage, dass auch die zuletzt erfolgreichste deutsche Marke in den USA, BMW, nicht mit Leistung geizt. Die Bayern stellen dem neuen Roadster Z4 aus ihrem US-Werk Spartanburg, South Carolina, gleich noch eine bärenstarke M-Version mit 343 PS zur Seite. Ignorieren die Deutschen bei all ihren neuen Leistungsrekorden das neue Verbrauchsbewusstsein der US-Amerikaner? Nicht ganz. Sie wollen mit einer »Dieseloffensive« punkten. Von Herbst 2006 an wird in den Staaten endlich flächendeckend Diesel mit reduziertem Schwefelanteil angeboten, ohne den die High-Tech-Motoren aus Germany nicht sauber laufen können. Insbesondere DaimlerChrysler will dies nutzen und bietet mit seiner neuen Bluetec-Technologie laut Werbung »die saubersten Diesel der Welt« feil. Das geht gegen die mit ihren Hybridfahrzeugen auftrumpfenden Japaner. Allein Toyota will bis zum Jahr 2010 jährlich eine Million Hybridautos verkaufen – einen Großteil davon in Amerika.

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o, bitte, geht es hier zu Monsieur Colbert? Auch 322 Jahre nach dem Tod von Jean-Baptiste Colbert, dem Finanz- und Industriegenie im Dienste des Sonnenkönigs Ludwig XIV., weiß die Empfangsdame sofort, wer gemeint ist. »Wenn Sie Monsieur Samuel-Lajeunesse suchen – erster Innenhof links, 5. Etage.« Obwohl der Gebäudekomplex des Wirtschafts- und Finanzministeriums am Pariser Seine-Ufer die Ausmaße eines InterkontinentalAirports hat, ist der Weg zum Nachfolger Colberts nicht schwer zu finden. Er residiert tatsächlich im Gebäudeflügel Bâtiment Colbert. Auf den ersten Blick ist Zimmer 5632 von den tausend anderen Bürozellen auf den kilometerlangen Fluren nicht zu unterscheiden. Eigentlich hatte man sich die Kommandozentrale von Frankreichs Staatsunternehmen prunkvoller vorgestellt. Das Chefzimmer ist voll gestellt mit dunklen Funktionsmöbeln, an den Wänden hängen ein paar Ausstellungsplakate, im Bücherregal sticht der 196 Seiten starke Geschäftsbericht L’État actionnaire (»Der Aktionärsstaat«) hervor. Hier residiert der Mann, vor dessen Imperium selbst die mächtigsten Fondsmanager und Bankenchefs der Welt erblassen müssten: Der 57-jährige Denis SamuelLajeunesse ist Herr über 70 Großunternehmen, in denen 1,3 Millionen Franzosen im vergangenen Jahr einen Umsatz von stattlichen 195 Milliarden Euro erwirtschafteten. Bonjour, Monsieur Colbert! Denis Samuel-Lajeunesse hört es nicht gern, wenn man ihn so nennt. Der ruhige Mann mit der tief sitzenden Lesebrille ist Direktor der 2003 gegründeten Agentur für Staatsbeteiligungen und will die Tradition des französischen Staatskapitalismus mit den Erfordernissen der modernen Marktökonomie vereinen. Trotz seiner Bilderbuchkarriere als Absolvent der Kaderschmieden Sciences Po und ENA gibt er nicht den schneidigen Elitebeamten ab, sondern eher den Typus eines väterlichen Schutzpatrons, der mit seiner melancholisch-verschmitzten Miene verblüffende Ähnlichkeit mit dem deutschen Umweltschützer Horst Stern hat.

Au revoir l’état! Der allgegenwärtige französische Staat trennt sich von vielen seiner Unternehmen. Doch bei strategischen Beteiligungen wie Bahn, Post oder Energieversorgern will er nicht loslassen Von Michael Mönninger

Auch Denis Samuel-Lajeunesse kümmert sich um eine aussterbende Spezies: öffentliche Monopolbetriebe wie Post, Bahn, Energieproduzenten, Telekommunikation, Autobahnen, Werften, Flughäfen und Versorgungsbetriebe. Als Geschäftsbankier des Staates vertritt er die Republik als Großaktionär gegenüber den Spitzenmanagern der Staatsbetriebe. Er überwacht ihre finanziellen und strategischen Entscheidungen, zwingt sie mit der Umwandlung in Aktiengesellschaften zur Bilanzrechenschaft, bereitet Börsengänge vor und versucht nebenbei den Bürgern beizubringen, dass die Tage des Staatskapitalismus gezählt sind. Zwar sieht sich der Ritter der Ehrenlegion, der zehn Jahre lang Chef des privaten Geldhauses Lyonnaise de Banque war, nicht als hemmungslosen Privatisierer, aber dennoch steht er zwischen allen Fronten: So mancher Wirtschaftsminister entpuppt sich als Feind im eigenen Haus, der seine Kontrollmacht nicht teilen möchte, die Vorstandschefs der Monopolisten verteidigen ihre Privilegien, und die Bürger gehen auf die Barrikaden, wenn Volksvermögen zum Verkauf ansteht. Paradebeispiel war jüngst die Privatisierung der französischen Staatsautobahnen, jener 8000 Kilometer langen, blitzsauberen Bitumenbänder, die im Gefühlshaushalt der Franzosen gleich hinter technischen Spitzenprodukten wie dem Hochgeschwindigkeitszug TGV oder Airbus rangieren. Patrioten aller Parteien protestierten gegen diese »Verschleuderung der nationalen Familienjuwelen« und rechneten vor, dass die Autobahnen bis zum Auslauf der staatlichen Konzessionen im Jahr 2032 etwa 35 Milliarden Euro an Gebühren erwirtschaften würden. Dem hielt die Agentur für Staatsbeteiligungen entgegen, der erzielte Verkaufspreis von 14 Milliarden Euro bar auf die Hand sei – Zinsen und Inflation eingerechnet – genauso viel wie 35 Milliarden Euro in 30 Jahren. »Angesichts der unabwägbaren Verkehrsentwicklung und Erdölversorgung«, sagt Samuel-Lajeunesse, »war es goldrichtig, diese Risiken vom Staat auf Private zu übertragen.«

Ähnlich umstritten war jüngst der Verkauf von 15 Prozent der Anteile am Strommonopolisten Energie de France (EDF), für den fünf Millionen Anleger an der Börse 7 Milliarden Euro zahlten. Dabei zeigt das Beispiel EDF überdeutlich, wie wichtig die Kontrollfunktion der Beteiligungsagentur ist. 2002 war der Stromversorger, der damals noch direkt vom Ministerium geführt wurde, durch riskante Firmenbeteiligungen in Italien und Argentinien in Finanznot geraten. France Télécom hatte gar Schulden von insgesamt 68 Milliarden Euro aufgehäuft. Schließlich konnten beide ihre Verluste umstandslos aus dem Staatshaushalt finanzieren. 2003 kam eine eilig einberufene parlamentarische Untersuchungskommission zu dem Urteil: »Das französische Modell der öffentlichen Unternehmen, wie es aus der Epoche des Krieges und der Befreiung stammt, entspricht nicht mehr den internationalen Anforderungen.« Als Grund für die Schieflagen nannte die Kommission »das Versagen der Manager, die auf Kosten der Steuerzahler unübersehbare Risiken eingehen, und das Versagen des Staates, der seine Rolle als Aktionär nicht erfüllt«.

»Die Regierung wollte die Bürger nicht erneut reizen« Damals bekam Samuel-Lajeunesse’ neue Beteiligungsagentur den Auftrag, mit den Missständen aufzuräumen. Zunächst waren da die so genannten »Abendbesuche«: Spitzenmanager der Staatsfirmen schneiten zu später Stunde beim Minister herein, um sich an allen Kontrollinstanzen vorbei Milliardendeals genehmigen zu lassen. Samuel-Lajeunesse kappte den kurzen Draht: »Wir haben es uns verbeten, freitagabends Nachfragen zu bekommen, ob wir bis montagmorgens eine Investition in Südamerika genehmigen.« Mit nur 65 Mitarbeitern, die häufig aus der privaten Finanzwirtschaft kommen, besucht der Agenturchef jährlich bis zu 300 Aufsichtsratssitzungen, wirkt bei Personalentscheidungen mit und versucht, Firmenstrategien von Politkonjunkturen abzukoppeln. »Wir sind keine Supermacht, sondern der Anreiz für bessere Führung«, sagt der Staatsbankier. Selbst die fähigsten Manager der öffentlichen Unternehmen brauchten einen zuverlässigen Dialog mit ihrem Hauptaktionär. Er kennt die Welt der Finanzinvestoren, hat Verhandlungserfahrung mit Brüssel und wacht über eine Corporate Governance, wie sie in der internationalen Geschäftswelt längst üblich ist. Seinen Ärger über missliebige Ministerentscheidungen muss er oft runterschlucken. So wurde jüngst der Börsengang des Atomkraftwerk-Konzerns Areva auf die nächste Legislaturperiode nach 2007 verschoben: »Die Regierung wollte nach der umstrittenen EDF-Kapitalöffnung die Bürger nicht erneut reizen.« Doch was die Notwendigkeit forcierter Privatisierungen angeht, nennt sich der Agenturchef einen »Agnostiker«: »Ich habe selber als Unternehmenschef alles getan, um mein Betriebsergebnis zu steigern. Dasselbe mache ich jetzt in unserer Staatsholding.« Privatisierungen sieht er nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel, die Entwicklung von Unternehmen zu fördern: »Unser Modell der öffentlich-privaten Führung hat gute Ergebnisse gebracht, weil der Staat oftmals einen längeren Atem für Firmenentwicklungen hat als private Holdings.« Derlei Zwiespältigkeiten hören Ökonomen nicht gern. »Der Staat hält zu sehr an seinem Einfluss auf die Unternehmen fest und schreckt mit seinen permanenten Eingriffen die Investoren gründlich ab«, kritisiert der Wirtschaftsprofessor Elie Cohen von der Sciences Po. Angesichts des massiven Regierungseinflusses glaubt in der französischen Wirtschaft niemand, dass die Beteiligungsagentur unabhängige Aktionärspolitik betreiben kann.

Der Agenturchef arbeitet an seiner eigenen Abschaffung Und doch privatisiert der französische Staat immer mehr öffentliche Betriebe. 1986 zählte die Republik noch 3500 Staatsunternehmen, in denen rund 20 Prozent aller französischen Arbeitnehmer ein Viertel des Inlandsprodukts erwirtschafteten. Im Jahr 2000 gab es noch 1500 Staatsbetriebe mit 7,8 Prozent aller Angestellten und 11,5 Prozent Anteil am Nationalprodukt. Heute ist die Zahl auf 1288 Staatsbetriebe geschrumpft – die Branchengiganten von Staatsbankier Denis Samuel-Lajeunesse eingerechnet –, in denen 4,2 Prozent aller Angestellten noch 7 Prozent zur gesamten Wirtschaftsleistung beisteuern. Im Grunde, das weiß der Agenturchef, arbeitet er an seiner eigenen Abschaffung. Das wird aber noch eine Weile dauern. Bis dahin sieht er seine Rolle darin, seinen Unternehmen, für die der französische Markt längst zu klein ist, beim Wachstum zu helfen. Wenn die Staatsbehörden in Aktiengesellschaften umgewandelt

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Foto: Claude Paris/AP

Foto: Dirk Dobiey/caro

Foto: Picture-Alliance/dpa

Französische Symbole für staatliche Fürsorge sind die Energiemonopolisten EDF und GDF, die Bahn SNCF, der Telefonriese France Télécom sowie das Fährunternehmen SNCM

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sind und eigene Wirtschaftlichkeitsberechnungen anstellen, können sie sich Geld an der Börse verschaffen, um auf Expansion zu gehen. »Die Börsennotierung ist eine Anerkennung, die das Leben wie auch den Grenzübertritt erleichtert«, sagt Samuel-Lajeunesse Auch die Franzosen haben längst gemerkt, dass ihre Staatsunternehmen im Ausland stets auf besonders rigorose Abwehr stoßen. Zwar hält der Staatsbankier die anhaltenden Liberalisierungs-Litaneien der Eurpäischen Kommission und der Industrieländerorganisation für Wirschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD für übertrieben. Doch mit dem Brüsseler Widerstand gegen Staatsbeihilfen für öffentliche Betriebe ist er d’accord: »Regierungen dürfen Kapitalerhöhungen nicht mit Steuergeld finanzieren, weil das die Aufgabe des Marktes ist.« In den Statuten seiner Agentur steht zum Ärger vieler Traditionalisten geschrieben, dass sich der Staat aus wirtschaftlichen Konkurrenzsektoren ganz zurückziehen und lediglich in strategischen Branchen präsent bleiben soll. Deren Definition ist freilich der Pferdefuß im französischen Marktdenken. Denn der französische Gesetzgeber schreibt bislang nicht nur vor, die Netze von Energieversorgung und Schienenverkehr vollständig in Staatsbesitz zu behalten; auch Strom- wie Gasproduzenten sowie Flughäfen dürfen maximal zu einem Drittel verkauft werden. Die Privatisierung von Post und Bahn schließen die Franzosen vorerst sogar noch völlig aus. So kritisiert denn auch der OECD-Ökonom Paul O’Brien in seinem jüngsten Frankreich-Bericht, dass der Staat zu häufig Mehrheitsaktionär bleibe, Kapitalöffnungen nicht umfassend betreibe und Verkaufserlöse statt zum Schuldenabbau in die Sanierung und Entwicklung seiner verbleibenden Unternehmen stecke. In der Tat erlöste Frankreich seit 1986 aus Privatisierungen stolze 77 Milliarden Euro. Doch nur 15 Prozent davon wurden zur Haushaltssanierung verwen-

Frankreich privatisiert Vom Staat kontrollierte Unternehmen 1986 Staatliche Unternehmen

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det, der Löwenanteil floss in die Rekapitalisierung der Staatsbetriebe. Seltsam wirklichkeitsfremd ist jedoch, dass die OECD-Ökonomen dem französischen Staat ankreiden, er wolle sich gerade in Zeiten von Budgetkrisen mittels Eigenunternehmen finanzieren. Die einstigen großen Krisenfälle und Beinahepleiten unter den französischen Staatsbetrieben – Crédit Lyonnais, Renault, Air France, EDF und Télécom – sind längst bewältigt, kein öffentliches Unternehmen in Frankreich befindet sich heute noch in einer Notlage, und sämtliche Privatisierungen waren erfolgreich. Das ist nicht zuletzt das Verdienst der Staatsholding, deren Wirtschaftsimperium zwar objektiv schrumpft, aber 2004 gleichwohl ein internes betriebliches Wachstum von 4,8 Prozent verzeichnete. Das lag deutlich über dem Inlandsprodukt – aber unter den 40 führenden Börsenunternehmen, die mit 7,6 Prozent wuchsen. Doch nicht einmal Holdingchef Samuel-Lajeunesse hegt große Profiterwartungen. Bei allen Erfolgen kommen seine Unternehmen zuletzt lediglich auf eine bescheidene Durchschnittsrendite von 3 Prozent. Zwar herrscht im Lande Konsens darüber, dass man bei Kernbereichen wie Strom- und Schienennetz sowie atomaren Brennstoffen nicht nur in wirtschaftlichen Zahlen denken darf. »Aber was die übrigen industriellen Sektoren angeht«, sagt er beim Abschied, »kommt auch Frankreich immer mehr zu der Einsicht, dass der Staat nicht dafür geschaffen ist, Unternehmen zu führen.« Doch diesen Satz solle der Besucher bitte nicht mitschreiben. Pardon, Monsieur Colbert.

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hr Bandenname ist Programm. Als furbetti del quartierino hat der römische Immobilienhändler Stefano Ricucci sich und seine Geschäftsfreunde bezeichnet, als VorstadtSchlaufüchse: Leute ohne große Weltläufigkeit, aber mit einem sicheren Instinkt für die Eroberung ihres Reviers. Tatsächlich, Ricucci und Co. waren schlau. Sie waren sogar derart kreativ, gewitzt, skrupellos und gerissen, dass sie innerhalb kürzester Zeit Hunderte Millionen von Euro anhäuften, mit denen sie Banken kaufen wollten und auch die größte und angesehenste italienische Tageszeitung Corriere della Sera. Hunderte Millionen Euro, die einer zum anderen schob, nachdem er sie seinen eigenen Bankkunden oder Verbandsmitgliedern abgeluchst hatte. Das Geld wanderte hin und her, in die Schweiz, nach Monte Carlo und auf die Cayman-Inseln, immer auf Konten der »Schlaufüchse.« Zur Bande gehörten neben Ricucci, dem gelernten Zahntechniker aus der Kleinstadt Zagarolo bei Rom, auch Gianpiero Fiorani, der inzwischen inhaftierte Exvorstandsvorsitzende der Banca Popolare Italiana aus Lodi, dazu der Finanzier Emilio Gnutti aus Brescia, einer der Protagonisten bei der Privatisierung des Telefon-Giganten Telecom Italia. Sogar nach Fiat hatte Gnutti zeitweise die Finger ausgestreckt. Vierter im Bunde war der sizilianische Zuckerbäcker Sergio Billé, Präsident des mächtigen Einzelhandelsverbandes Confcommercio. Auch Giovanni Consorte, der mittlerweile geschasste Chef der Versicherungsholding Unipole, die im Besitz der linken Kooperativen ist, irrlichterte als Satellit in der Galaxie der sinistren Schlaumeier. Und last, but not least Antonio Fazio, bis zum 19. Dezember italienischer Notenbankchef – und einer der angesehensten Repräsentanten des Landes.

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fia-Polizei durchforstet: Verdacht auf Geldwäsche. Coppola spielt im Schmierenstück der »Schlaumeier« nur eine Nebenrolle. Auch er war an den Übernahmeschlachten um die Antonveneta und den Corriere della Sera beteiligt, nebenbei investierte er in den Fußball-Erstligisten AS Rom. Sein Freund Ricucci pumpte Geld in den Lokalrivalen Lazio Rom. Fußball, Medien, Bauten und Banken – die neureichen Jongleure hatten sich ganz offensichtlich von Silvio Berlusconi inspirieren lassen, der vorgemacht hat, wie man mit dieser Kombination plus den richtigen politischen Verbindungen in Italien nach ganz oben kommen kann. Lange hatte es ausgesehen, als gäbe auch die Kirche ihren Segen. Als die Affäre um Notenbankchef Fazio schon kochte und die Zeitungen seitenlange Auszüge aus von der Staatsanwaltschaft abgehörten Telefonaten mit dem kompromittierten Banker Fiorani druckten, schaltete sich der Vorsitzende der italienischen Bischofskonferenz, Camillo Kardinal Ruini ein und erklärte dem Kirchenvolk, solche Veröffentlichungen verstießen gegen die Privatsphäre jedes Christen und seien Teufelswerk. Erst als Fazio selbst bei der rechtskonservativen Laienorganisation Opus Dei in Ungnade fiel, war er auf dem Chefsessel der Zentralbank nicht mehr zu halten. Zwar suchte er am Tag nach seinem Rücktritt Trost beim Papst. Fazio ergatterte einen Platz in der ersten Reihe bei der Generalaudienz und wurde von Benedikt XVI. auch freundlich begrüßt. Aber dennoch sei er enttäuscht gewesen, kolportierten Vertraute des Entmachteten später. »Er hatte eine öffentliche Geste der Solidarität erwartet.« Der deutsche Papst war zum Schulterklopfen nicht aufgelegt, schmollend boykottierte Fazio darauf die traditionelle Te-Deum-Messe zum Jahresende. Solche Anekdoten erscheinen pittoresk und machen dennoch deutlich, worin eine der Ursachen für den Skandal liegt: in der entwaffnend anmutenden Provinzialität, die die italienische Bankenaufsicht unter Fazio charakterisiert hat.

Vier Freunde, das sind wir In Italiens Finanzwelt herrscht ein System des Gebens und Nehmens. Der Staatsanwalt ermittelt von Birgit Schönau

Er zieht die Fäden: Verbandschef Sergio Billé plünderte Kaufleute aus

Ein gigantischer Sumpf wird sichtbar Fazio musste abtreten, weil er monatelang die furbetti gedeckt und ihnen Insider-Informationen hatte zukommen lassen, um die Übernahme italienischer Banken durch ausländische Institute zu verhindern. Er unterstützte den Provinzbanker Fiorani bei seinem Versuch, die Großbank Antonveneta zu schlucken, und setzte alles daran, die niederländische ABN Amro außen vor zu lassen. Monatelang hielten die furbetti die italienische Finanzwelt, Politiker und sogar manchen Kirchenfürsten in Atem. Dann schalteten sich die Staatsanwälte ein. Ihre Ermittlungen stehen noch am Anfang, doch schon jetzt ist klar: Der Sumpf ist gigantisch. »Nie zuvor habe ich so etwas gesehen«, kommentierte der frühere Minister und Bankier Luigi Spaventa. »Dieses Netz war nicht nur wegen der in ihm verknüpften Personen gefährlich, sondern auch wegen der mysteriösen Kapitalflüsse, die sie mobilisiert haben.« Neureiche Abenteurer und skrupellose Finanziers haben versucht, die italienische Bankenlandschaft unter sich aufzuteilen und dabei schwindelerregende persönliche Profite zu erzielen. Die »Schlaufüchse von nebenan« sind für den größten Bankenskandal seit dem spektakulären Bankrott des unseligen Roberto Calvi von der Banco Ambrosiano verantwortlich. Der »Bankier Gottes« war an einem Junimorgen des Jahres 1982 erhängt am Pfeiler einer Londoner Themsebrücke gefunden worden, nachdem er fleißig Mafia-Geld über die Konten der Vatikan-Bank IOR gewaschen hatte. Selbstmord lautete das offizielle Untersuchungsergebnis über die Todesursache. Inzwischen ist klar, dass Calvi ermordet wurde. Ein Mafia-Mitglied hat das italienischen Ermittlern 2001 bestätigt. Der Schatten der Mafia liegt auch auf den Transaktionen der furbetti, denn die Konten und Briefkastenfirmen des römischen Immobilienhändlers Danilo Coppola werden laut Recherchen der Tageszeitung La Repubblica von der Antima-

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Wer nicht protestierte, wurde bestohlen

Er privatisierte die Telecom Italia: Finanzier Emilio Gnutti

Er sitzt bereits in Haft: Gianpiero Fiorani, ehemaliger Direktor der Banca di Lodi

Fotos: Paolo Tre/Contrasto/Agentur Focus

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Als sein Nachfolger, der international höchst renommierte Mario Draghi (zuletzt Vizepräsident bei der amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs), berufen war, kommentierte Fazio bitter: »Ich weiß nicht, ob Draghi der richtige Mann ist, um unsere Banken vor ausländischen Konkurrenten zu schützen.« Auf dem Höhepunkt der Krise hatte auch Silvio Berlusconi unbekümmert erklärt: »Bei gleicher Qualifikation würde ich immer einem italienischen Investor den Vorzug geben. Ich bin schließlich ein Fan Italiens.« Die italienischen Banken müssen aber weniger vor Ausländern geschützt werden als vor ihren Eigengewächsen. Zwei Jahre lang mussten die von den Skandalpleiten um Parmalat und Cirio arg gebeutelten Anleger auf ein neues Bankengesetz warten – so lange dümpelte die Vorlage im Parlament. Als Fazio zurücktrat, wurde es endlich verabschiedet. Der neue Notenbankpräsident Draghi hat jetzt kein Amt auf Lebenszeit mehr, sondern nur noch für sechs Jahre. Doch das halbherzige Eingreifen des Gesetzgebers kommt zu spät. 300 Millionen Euro haben die Staatsanwälte in Mailand bereits bei den furbetti konfisziert. Geklautes Geld, beispielsweise von den Konten Verstorbener, die der bigotte Fiorani einfach plünderte, wenn sich die Angehörigen nicht wehrten. Der Mann, der aus der Sparkasse von Lodi die Banca Popolare Italiana machte, unterschlug insgesamt 200 Millionen Euro. Einmal ordnete der Bankier an, bei jedem seiner eine Million Kunden eine Kommission von 30 Euro zu kassieren. Wer nicht protestierte, wurde bestohlen – der Chef brauchte 30 Millionen Euro Sparergeld zum Spekulieren. Oder das Geld von Kaufleuten, das Einzelhandelspräsident Billé auf ein auf seinen Namen eingetragenes Konto laufen ließ: 14 Millionen Euro im Jahr, dafür muss ein Konditor viele Törtchen backen. Der Präsident kaufte von diesem Geld nicht nur Gemälde und Antiquitäten für die eigene Wohnung. Er überwies auch 39 Millionen Euro für ein Gebäude in einem römischen Nobelviertel an Ricucci – eine deutlich überzogene Summe, selbst für den verrückten Immobilienmarkt der Hauptstadt. Ein Bluff, mutmaßt die Finanzpolizei. Ricucci benötigte Geld, und Billé half aus. Fiorani war noch großzügiger – von ihm erhielt der Zahntechniker Kredite über 800 Millionen. Raffgier und Größenwahn, die sich ungeniert entfalten konnten, weil die Kontrollen versagten. Die Börsenaufsichtsbehörde Consob hatte zwar mehrmals die Notenbank über Ungereimtheiten bei den Transaktionen Fioranis informiert, aber diese Warnungen wurden folgenlos archiviert.

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Vielleicht auch deshalb, weil die furbetti über gute Freunde in der Politik verfügten. Die rechtspopulistische Regierungspartei Lega Nord etwa unterstützte Fiorani und Gnutti, weil die Finanziers in der bizarren Ideologie der Separatisten die razza padana verkörperten, jene erfolgreiche »Rasse« aus der Poebene, die sich heroisch der überschwappenden Globalisierung widersetzt. Mit Wohlwollen verfolgten auf der anderen Seite die oppositionellen Linksdemokraten das Engagement des Unipol-Chefs Giovanni Consorte, der von seinem Sitz an der Via Stalingrado in Bologna aus die baskische Banca Bilbao Vizcaya Argentaria (BBVA) bei der Übernahmeschlacht um die Banca Nazionale del Lavoro austricksen wollte. Endlich eine Großbank für die traditionsreichen cooperative rosse, die roten Kooperativen – die Erben der Kommunistischen Partei waren entzückt.

»Das Problem sind Verbindungen zwischen Finanzwelt und Politik« Dumm nur, dass auch der Genosse Consorte und sein Stellvertreter fleißig aufs eigene Konto gewirtschaftet haben. 50 Millionen Euro von Fiorani – für Beratertätigkeiten, versichern beide ganz ernsthaft. Die Parteizeitung Unità druckt seither Seiten mit Leserbriefen erboster Coop-Mitglieder, die Staatsanwaltschaft ermittelt unter dem Verdacht der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, und für die Linke wird kurz vor dem offiziellen Start in den Wahlkampf für die Parlamentswahlen im April guter Rat wirklich immer teurer. Es ist wie der berüchtigte Tangentopoli-Skandal Anfang der neunziger Jahre, nur noch schlimmer. Dieselben Staatsanwälte, die damals 75 Millionen Euro beschlagnahmten, raufen sich jetzt die Haare. »Wir wissen nicht, wie viel geklaut worden ist«, hat einer erklärt. »Wir wissen nur: Es ist viel, viel mehr.« Am Dreikönigstag konfiszierte die Finanzpolizei Konten in der Schweiz und in Monte Carlo, von Bestechungsgeldern für Gewährsmänner hochrangiger Politiker ist die Rede. Auch die Parteien haben offensichtlich wieder ihren Teil abgekriegt, diesmal finanziert von ahnungslosen Sparern. »Das Problem ist noch nicht einmal, ob die Geschäfte der Banker illegal waren oder nicht«, sagt der Philosoph Massimo Cacciari, Bürgermeister von Venedig. »Das Problem sind die Verbindungen zwischen Finanzwelt und Politik.« Seit Tangentopoli scheint sich da nämlich nicht viel geändert zu haben. Parlamentarier der Berlusconi-Bewegung Forza Italia und der rechtskatholischen UDC gehörten zu Fioranis Vorzugskunden ebenso wie der Bruder des Premiers, Paolo Berlusconi, der seinerseits die Tageszeitung Il Giornale herausgibt. Der jüngere Berlusconi lieh sich bei der Bank von Lodi knapp 50 Millionen Euro, die er in einem außergerichtlichen Vergleich zahlen musste, um nicht weiter wegen undurchsichtiger Machenschaften um eine Mailänder Müllkippe belangt zu werden. »Fiorani war der Lieblingsbankier der Berlusconis«, behauptet das Wochenmagazin Espresso und berichtet von einer Vertragsunterzeichnung in der Lieblingsvilla des Premiers, Villa San Martino bei Mailand. Fiorani schickte einen Vertrauensmann. Berlusconi persönlich soll bei ihm eine Bürgschaft über 15 Millionen Euro gezeichnet haben. Die Partei brauchte das Geld, um Meinungsforscher auszuzahlen. ANZEIGE

Er verkauft Häuser: Stefano Ricucci, Präsident der Magiste Real Estate

ür Generationen von Journalisten ist der Gründerzeitbau an der Via Solferino in Mailand das Traumziel ihrer Karriere. Dort wird der Corriere della Sera produziert, eine italienische Institution. Ein im Zweifel konservatives, aber in den Grundfesten liberales Weltblatt, in dem die Leitartikel auch schon mal von Schriftstellern, Philosophen, Ökonomen verfasst werden, die der Redaktion nicht angehören. Unabhängigkeit geht dem Corsera, der mit einer Auflage von rund 700 000 Exemplaren die römische Konkurrenz La Repubblica auf den zweiten Platz verweist, über alles. Gegenüber der Regierung Berlusconi zeigt sich das Blatt aus Mailand überaus kritisch. In fünf Jahren hat der Corriere nie aufgehört, die vielen Interessenkonflikte des Premiers und die Ad-personam-Gesetze seiner Koalition zu geißeln. Silvio Berlusconi macht kein Geheimnis daraus, dass ihm das Blatt ein Dorn im Auge ist. Deshalb ver-

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200 Millionen Euro Verlust Immobilienhändler Stefano Ricucci wollte den regierungskritischen »Corriere della Sera« kaufen – um Ministerpräsident Silvio Berlusconi zu helfen? mutet man nicht nur beim Corriere, dass Stefano Ricucci dem Regierungschef einen Riesengefallen getan hätte. Im vergangenen Sommer versuchte Ricucci, die Zeitung zu kaufen. Er stieg mit zwei Prozent der Aktien ein und brachte es auf 21 Prozent. Als die Staatsanwaltschaft auf die sinistren Deals seines Geschäftsfreundes Gianpiero Fiorani aufmerksam wurde, musste Ricucci aufgeben und verkaufen – mit mindestens 200 Millionen Euro Verlust. Seine Aktien übernahm der so genannte Syndikatspakt, dem nun weit über 60 Prozent der Zeitung gehören. Mitglieder sind etwa die Großban-

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ken Mediobanca, Capitalia, Banca Intesa, außerdem Pirelli und der Versicherungskonzern Generali. Dem früheren Mehrheitseigner Fiat gehören immer noch zehn Prozent, dem Mailänder Bauund Versicherungsunternehmer Ligresti fünf Prozent. Der Lederwarenfabrikant Della Valle, dem auch der AC Florenz gehört, hält 4,8 Prozent. Vor Jahren hatte auch Ligresti versucht, seinen Anteil auszubauen – im Auftrag Berlusconis, wie vermutet wurde. Der Sizilianer hat Sympathien für die politische Rechte, nachdem er vormals die Sozialisten Bettino Craxis unterstützt hatte und im

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Zuge des Tangentopoli-Skandals eine Gefängnisstrafe absitzen musste. In seiner Bewährungszeit arbeitete Ligresti als Fahrer für ein Altenheim, unter der Regierung Berlusconi erlebte er dann sein Comeback. Aber der Corriere erwies sich als eine Nummer zu groß. Nicht so für Ricucci. Der Immobilienhändler aus der Provinz bei Rom hat zwar Probleme mit der italienischen Sprache, war aber fest entschlossen, den Verlag des Corriere, zu dem auch die Sporttageszeitung Gazzetta dello Sport und ein Buchverlag gehören, zu übernehmen. Beraten wurde er dabei von Ubaldo Livolsi, einem Mailänder Bankier, der in den neunziger Jahren Berlusconis Fininvest vor dem drohenden Bankrott bewahrt hat. Bis heute sitzt Livolsi im Fininvest-Verwaltungsrat. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Während die Journalisten des Corriere entsetzt für ihre Pressefreiheit streikten, gab sich Ricucci siegesgewiss. Im Staatsfernsehen RAI imi-

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tierte ihn ein Komiker, seine Hochzeit mit einem Starlet füllte die Regenbogenblätter – es war sein Sommer. Vom Provinzler war Ricucci zum geheimnisumwitterten Superstar der Finanzbühne aufgestiegen, seine deftigen Sprüche im breiten römischen Dialekt machten ihn sogar populär. Sein Vermögen wurde auf 400 Millionen Euro geschätzt, woher das Geld kam, wusste niemand. Er schien die richtigen Freunde zu haben – etwa den Formel-1-Manager Flavio Briatore. In einem Telefonat mit Briatore klagte Ricucci über seinen Kontrahenten im Kampf um den Corriere, Fiat-Chef Luca di Montezemolo. »Was Montezemolo anpackt, läuft schief«, sagte Briatore, und: »Beim Corriere werde ich dir schon helfen.« Pech für beide: Der Staatsanwalt hörte mit. »Hinter Ricucci stand nur Ricucci«, wird Berlusconi nicht müde zu beteuern. Die Ermittlungen werden zeigen, ob das so stimmt. BIRGIT SCHÖNAU

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Noch lacht er: Der britische Schatzkanzler Gordon Brown hält stolz seinen Ministerkoffer mit dem Haushaltsplan hoch

iese Woche passiert etwas Ungewöhnliches: Gordon Brown bekommt Schelte, und zwar aus Brüssel. Der Schatzkanzler ist das nicht gewohnt. Seit 1997 ist er im Amt und bestimmt die Richtung der britischen Wirtschaft so allein und ungestört wie kaum einer seiner Vorgänger. Lange hatte er damit Erfolg. Während sich die Nachbarländer seit Jahren um den Aufschwung sorgen, ist das Wirtschaftswachstum in Großbritannien unter Browns Führung nie zum Stillstand gekommen. Doch jetzt steht er vor einem mächtigen Haushaltsloch, bereits zum zweiten Mal in Folge. Schon im vergangenen Jahr musste sich die britische Regierung zu viel Geld leihen. Damals erreichte die Verschuldung 3,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Mehr als drei Prozent sind aber nach den Regeln des Europäischen Stabilitätspaktes nicht erlaubt. Zunächst passierte nichts. Angesichts der guten Verfassung der britischen Wirtschaft drückte die EU-Kommission ein Auge zu. Es war wohl nur ein Ausrutscher, oder?

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Hey, Big Spender! Jahrelang spotteten sie über die Haushaltslöcher ihrer Nachbarn. Jetzt stehen die Briten selbst am Pranger, weil sie den EU-Stabilitätspakt verletzen Von John F. Jungclaussen

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Foto: [M]Gerry Penny/EPA/dpa

Offenbar doch nicht. Für das laufende Haushaltsjahr, das im März zu Ende geht, wird Gordon Brown wieder das europäische Haushaltskorsett sprengen. Die Prognosen waren viel zu optimistisch. Statt der erwarteten 3,75 Prozent wird die britische Wirtschaft in diesem Jahr allenfalls um 1,75 Prozent wachsen. Daraus folgt eine Verschuldung von voraussichtlich 41 Milliarden Pfund. Das sind rund 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, neun Milliarden Pfund mehr als geplant. Bei einem solchen Defizit muss die Kommission reagieren. Obwohl Großbritannien nicht Mitglied der Eurozone ist, gelten die Regeln des Stabilitätspaktes auch für London. Deswegen musste die Kommission am Mittwoch offiziell das Haushaltsverfahren gegen Großbritannien einleiten. Für Gordon Brown ist das unangenehm. Jahrelang hat er seine Kollegen aus Deutschland, Frankreich und Italien gerügt, jetzt steht er selbst am Pranger. Peinlich. Aber damit hat es sich auch. Denn die Regeln des Defizitverfahrens erlauben den EU-Finanzministern zwar, Gordon Brown zu ermahnen. Aber der nächste Schritt in der Prozedur, die Strafzahlungen an Brüssel, bleibt den Briten erspart, da sie nicht Mitglied der Währungsunion sind. Damit verliert das Verfahren einiges an Dramatik. »Business as usual«, so kommentierte ein Sprecher der EU-Kommission in London den Vorgang. Brüssel halte sich nur an die Regeln. Auch in der Treasury in London herrscht ausgesproche-

ne Gelassenheit. »Wir werden uns weiterhin an die Fiskalregeln halten: Die öffentlichen Finanzen werden langfristig ausgeglichen sein, und Investitionen werden finanzierbar bleiben«, erklärte ein Vertreter. In dieser Reaktion zeigt sich das Problem. Die Briten verstehen unter Haushaltsdisziplin etwas anderes als die EU-Kommission. Als Gordon Brown 1997 sein Amt antrat, stellte er seine eigenen Regeln auf. Diese besagen, dass er seinen Haushalt innerhalb eines Konjunkturzyklus ausgleichen müsse und dass Schulden erlaubt seien, solange das Geld für Investitionen ausgegeben werde und nicht zur Tilgung von Altlasten. An seine Ausgabenregel hat er sich bisher strikt gehalten, und wann der Konjunkturzyklus begonnen hat, wichtiger noch, wann er endet, ist eine Frage der Auslegung. Vor einigen Jahren hieß es, Ende 2005 sei der Zyklus geschlossen, jetzt wird im Londoner Finanzministerium von 2007 oder 2008 gesprochen. Jedenfalls genügend Zeit, um das Haushaltsloch zu stopfen. Die Zeitangabe ist eng verknüpft mit den politischen Ambitionen von Gordon Brown. Er will Premierminister werden, und das wird ihm wohl auch gelingen. Amtsinhaber Tony Blair hat schon vor einem Jahr angekündigt, er werde vor Ende der Legislaturperiode aus der Downing Street ausziehen. Wann immer das sein wird, ob Ende dieses Jahres oder im Laufe des nächsten, Brown wird dann sein Nachfolger und muss sich spätestens im Mai 2009 bei den Wählern um sein Amt neu bewerben. Die Frage ist, ob es ihm gelingen wird, die Wirtschaft bis dahin vor einem schweren Einbruch zu schützen. Oder ob es demnächst an der Zeit ist, den Nachruf auf das Wirtschaftswunder zu schreiben, das New Labour dem Land beschert hat. Gordon Brown sieht keinen Grund zur Besorgnis. Von 2007 an soll die Wirtschaft jedes Jahr um mehr als drei Prozent zulegen. Damit wäre wieder alles in Ordnung. Bei steigenden Steuereinnahmen könnte Brown den Haushalt konsolidieren und die Investitionen im öffentlichen Dienst weiterlaufen lassen. Klingt gut, hat aber einen Makel. Außerhalb der Treasury sind sich alle Wirtschaftsforscher einig: Diese Prognosen sind viel zu optimistisch. Die Industrieländerorganisation OECD, der Internationale Währungsfonds, die EU-Kommission, alle halten ein Wachstum von jährlich mehr als zwei

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Prozent in den nächsten fünf Jahren für Wunschdenken. »Brown geht davon aus, dass allein der Exportsektor um fünf Prozent wächst, ignoriert dabei aber, dass das Pfund im Vergleich zum Dollar auf absehbare Zeit verhältnismäßig stark bleiben wird«, sagt Jonathan Said vom Centre for Economics and Business Research in London. Die teure Währung aber schwäche die Exportnachfrage. Auch auf die Inlandsnachfrage wird sich Brown nicht verlassen können. Derzeit liegen die Zinsen bei 4,5 Prozent, und es ist nicht zu erwarten, dass die Bank of England sie in absehbarer Zeit viel tiefer sinken lässt – aus gutem Grund. Die Privatverschuldung ist so hoch wie noch nie. Im Schnitt steht jeder Haushalt mit knapp 8000 Pfund in der Kreide. Die Ausstände von Hypotheken sind da noch gar nicht mitgerechnet. Die Zentralbanker werden sich also hüten, die Zinsen zu senken. Das aber heißt, Kredite bleiben teuer – und Investitionen für die Unternehmen damit unattraktiv. Allerdings ist Gordon Brown ein umsichtiger Mann. Schatzkanzler oder Premierminister, sollte der von ihm erwartete Wachstumsschub ausbleiben, wird er die Situation nicht noch verschlimmern, indem er die Steuern erhöht. Ein großer Anhänger höherer Abgaben war Brown noch nie. Im Zentralverband der britischen Industrie wird heute eher beklagt, die Regierung hemme die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmer durch zu viele Vorschriften als durch zu hohe Steuern. Allein die Ölindustrie wurde Ende vergangenen Jahres kräftig zur Kasse gebeten. Shell und BP müssen auf ihre üppigen Gewinne aus dem Nordseeöl einen Steueraufschlag von zwanzig Prozent zahlen. Doch mehr als zwei Milliarden Pfund an zusätzlichen Einnahmen erwartet das Ministerium daraus nicht. Solange er höhere Steuern ablehnt, wird Brown also nur eine Wahl bleiben, um das Haushaltsloch zu stopfen: Ausgaben kürzen. Das allerdings wird nicht einfach. Von Anfang an hat New Labour den Wählern ehrgeizige Investitionen in den öffentlichen Dienst versprochen. Bessere Krankenhäuser, mehr Schulen, eine bessere Infrastruktur, sein halbes politisches Leben redet Gordon Brown davon, wie schön Großbritannien unter seiner Führung sein wird. Kurz bevor er ganz oben angekommen ist, erscheint plötzlich unsicherer denn je, ob es wirklich so schön sein wird.

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Verkaufrausch bei KarstadtQuelle? Seit eineinhalb Jahren lenkt Thomas Middelhoff die Geschicke von KarstadtQuelle – erst als Chef des Aufsichtsrats, später als Vorstandsvorsitzender. In dieser Zeit wandelte er sich vom Verkünder schlechter Nachrichten zum Optimisten. Anfangs deutete er noch die Möglichkeit einer Insolvenz mit den Worten an, bei KarstadtQuelle gehe es »ums Überleben«. Doch in den vergangenen Monaten bemühte sich der Manager vor allem, gute Laune zu verbreiten. Besonders sei ihm daran gelegen, so versicherte er einmal in kleinem Kreis, dass man KarstadtQuelle in der Öffentlichkeit künftig nicht mehr als den »notleidenden Handelskonzern« darstelle; die bloße Bezeichnung »Handelskonzern« sei ihm viel lieber.

Die Zahlen für das abgelaufene Geschäftsjahr, die Middelhoff am vergangenen Montag vorstellte, rechtfertigen seinen Wunsch immerhin teilweise: KarstadtQuelle ist nun ein Handelskonzern mit einer notleidenden Versandhandelssparte. Mit mehr als 15 Milliarden Euro sei das Umsatzziel insgesamt erreicht worden. Die Warenhäuser legten im letzten Quartal 2005 sogar leicht zu, so etwas habe es zehn Jahre lang nicht gegeben. »Damit ist es uns gelungen, die Negativspirale der letzten Jahre zu stoppen und eine Trendumkehr zu erreichen«, sagte Middelhoff. Sorgenkind bleibt der Versandhandel mit Quelle und Neckermann, man habe das Tempo der Umsatzrückgänge allerdings bremsen können. Steht nun der Rückzug von der Börse bevor? Wie die Financial Times Deutschland berichtet, wurde die Investmentbank Goldman Sachs beauftragt, ein Übernahmeangebot an die freien Aktionäre vorzubereiten. Der Clan um die Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz wolle KarstadtQuelle vollständig über-

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Zurück aus dem Tal KarstadtQuelle – Aktienkurs in Euro 18

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nehmen, um den Konzern anschließend zu filetieren. KarstadtQuelle dementierte umgehend den Bericht. Das Gerücht kursiert bereits seit langem: Immerhin dürften allein die Immobilien etwa dem jetzigen Börsenwert entsprechen. Zudem hatte der Schickedanz-Clan in den vergangenen Monaten immer wieder kleine Aktienpakete erworben und hält nun knapp 60 Prozent der Anteile. Weitere Großaktionäre sind die Allianz mit 7,56 Prozent und der Konzern selbst mit 5,42 Prozent. Middelhoff war Schickedanz’ Wunschkandidat für die Sanierung. Manche vermuten, er habe zu Beginn seiner Amtszeit durch exzessive Schwarzmalerei den Aktienkurs in den Keller geschickt, damit die Quelle-Erbin preiswert zukaufen konnte. Aus dem Umfeld des Aufsichtsrats heißt es jedoch, dass Middelhoff seinerzeit keineswegs übertrieben habe. Dem Konzern, dessen Eigenkapitalquote eine Zeit lang in den niedrigen einstelligen Bereich gerutscht war, habe es schlicht an Geld gefehlt.

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»Hätten die Lieferanten damals auf Vorkasse bestanden, wäre es vorbei gewesen«, heißt es. Zudem hätte Schickedanz die Komplettübernahme durchziehen können, als die Aktien noch billiger waren. Das vergangene halbe Jahr über konnte man sie für rund elf Euro bekommen, davor sogar für noch weniger. Erst als Middelhoff im Dezember den Verkauf der Immobilien ankündigte, begann der Kurs bis auf nun knapp 16 Euro zu steigen. Die übrigen freien Aktionäre jetzt auszuzahlen wäre teuer. KarstadtQuelle hat in seiner Geschichte jedoch schon so viele Wendungen erlebt, dass auch ein Rückzug von der Börse kaum überraschen würde – ebenso wenig wie eine weitere Aufspaltung. Innerlich, klagen Firmenkenner, habe man die Fusion mit Quelle im Jahre 1999 nie vollzogen. Zwar führt der Handelskonzern seitdem beide Unternehmen im Namen. Doch vor der Einfahrt zur Zentrale in Essen steht auf einem breiten grauen Steinsockel nur einer von beiden: Karstadt. Marcus Rohwetter

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Foto: POT/Eastway

Viele Maurer,Konditoren und Mechaniker sind im Nachbarland offiziell lieber arbeitslos, weil sie schwarzarbeiten Von Malgorzata Zdziechowska che 20 000 Arbeiter – zugleich sind aber mehr als 200 000 Baubeschäftigte als Arbeitslose registriert. 50 Stellen hätte Dariusz Gralewski, der Chef der Warschauer Baufirma Varia APD, zu besetzen, eine Anzeige nach der anderen hat er in die Zeitungen und ins Internet gesetzt. Genützt hat es nichts. Dabei sind allein 2004 die Löhne am polnischen Bau um mehr als 30 Prozent gestiegen. Dazu werden teilweise hohe Prämien gezahlt. Obwohl das Lohnniveau noch weit unter dem in Deutschland liegt, geht es Gralewskis Arbeitern nicht schlecht: Sie kaufen Autos und bauen ihre eigenen Häuschen. Denn von einem Nettolohn von knapp 400 Euro kann man selbst in Warschau einigermaßen leben. Als Angebot an Arbeitslose reicht ein solcher Verdienst freilich oft nicht aus. Immer wieder würden sich angebliche Bewerber bei ihm vorstellen, sagt Gralewski – nur, Jobs wollten sie eigentlich nicht, sondern die Bestätigung, dass sie vorgesprochen haben. Das reicht dann, um weiterhin Arbeitslosenhilfe zu beziehen und gleichzeitig einer gut bezahlten Schwarzarbeit nachzugehen. 10 von 50 bei ihm registrierte Arbeitslose könne er unter der angegebenen Adresse tatsächlich erreichen, fünf interessierten sich wirklich für eine offene Stelle, einer würde die angebotene Arbeit annehmen, sagt der Direktor des Arbeitsamtes im nordwestpolnischen ÷obza, Jarowslaw Namaczyski. Der Kreis hat mit offiziell 40 Prozent die höchste Arbeitslosenquote im Land. »Würde die Arbeitslosenunterstützung bei allen Schwarzarbeitern konsequent gestrichen«, so Namaczyski, »dann würde die Arbeitslosigkeit sofort um 30 Prozent sinken.« Das freilich würde stärkere staatliche Kontrollen notwendig machen. Auch Betriebe, die Schwarzarbeiter beschäftigen, müssten bestraft werden. Beides jedoch geschieht bislang zu wenig. Nicht nur für die Arbeitslosen, auch für die Firmen rechnet sich die illegale Beschäftigung: Arbeitslose sparen Steuern und sonstige Abzüge, Unternehmen die vergleichs-

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Polens Doppelverdiener olnische Realität, Anfang 2006: Die größte Zeitarbeitsfirma Warschaus sucht Kassiererinnen für einen neu eröffneten Supermarkt, sie findet gerade einmal fünf Frauen, die willens sind, die Arbeit zu übernehmen. Der Chef des Restaurants Belvedere hält nach einem guten Koch Ausschau – ohne Erfolg. Eine der besten Patisserien der Hauptstadt braucht Konditoren und bekommt keine. Die Kosmetikfirma Eris schreibt Stellen für das mittlere Management und für Laborfachleute aus, vergeblich. Und was in der Zwei-Millionen-Metropole passiert, ist auch in der Provinz die Regel: 500 freie Arbeitsplätze für Mechaniker, Montierer und Bauarbeiter registriert das Arbeitsamt in der Industriestadt Tarnów Podgórny in der Nähe von Posen. Besetzt werden sie nicht. Polnische Statistik, Ende 2005: Das Land registriert die höchste Arbeitslosenquote in der Europäischen Union. Im Dezember sind nach Auskunft des Statistischen Amts 17,6 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung ohne Arbeit. In absoluten Zahlen: 2,8 Millionen Menschen. Die Statistik täuscht, die Realität sieht anders aus. Fast die Hälfte der polnischen Arbeitslosen arbeitet schwarz. Eine jüngst veröffentlichte Studie geht von einer realen Arbeitslosenquote von zehn bis zwölf Prozent aus. Doch selbst das ist wahrscheinlich noch zu hoch. Viele Polen, die im Ausland ihr Brot verdienen – 2005 waren es allein in Großbritannien etwa 300 000 –, werden zu Hause offiziell zu den Suchenden gezählt. Fallen auch sie aus der Statistik, bleiben fünf bis sechs Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung als wirklich Arbeitslose übrig – in der Mehrzahl Menschen ohne Berufsqualifikation, die früher in den staatlichen Landwirtschaftsbetrieben beschäftigt waren. Insgesamt will etwa eine Million offiziell Arbeitsloser, so lauten die Schätzungen, derzeit nicht in Polen arbeiten. So fehlen fast überall Maurer, Schlosser, Eisenflechter oder Parkettleger. Nach Angaben des Bauindustrie-Verbandes sucht die Bran-

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»Ich bleibe in Polen. Kommt zahlreich«: Der polnische Tourismusverband spielt mit der Furcht vor Schwarzarbeitern und wirbt gleichzeitig um französische Touristen

weise hohen Sozialabgaben. Auf jeden Z¬oty, der in Polen brutto verdient wird, müssen Arbeitgeber 21 Groschen für die Renten- und Krankenkasse und die Arbeitslosenversicherung drauflegen. Weil viele Polen nicht arbeiten wollen – jedenfalls nicht in einem legalen Job –, muss sich das Land für die Nachbarn im Osten öffnen. Schon jetzt werden, so Antoni Rajkiewicz, Ökonom an der Warschauer Universität, 0,25 Prozent des Wachstums durch Gastarbeiter erwirtschaftet – illegale Aktivitäten wie Schmuggel und Prostitution nicht mitgerechnet. 600 000 Ukrainer sollen derzeit in Polen arbeiten, und mehrere Unternehmensverbände haben gefordert, 300 000 Arbeitskräfte aus dem Osten zu legalisieren. Gesucht werden nicht nur Bauarbeiter. Es mangelt an Babysittern, Putzfrauen, Haushaltshilfen oder Saisonarbeitern für die Obstund Gemüseernte. Großes Ansehen genießen diese Jobs nicht. Und wer sie dennoch übernimmt, geht lieber in den Westen. »Wenn ich in Polen 234 Euro

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bekommen kann, in England aber 2340, dann ist die Wahl einfach«, sagt ein Warschauer Arbeitsloser, der mit seinem Namen natürlich nicht in der Zeitung stehen will. In London arbeitet er schwarz am Bau, zu Hause bezieht er weiter staatliche Stütze. Die Lage ist paradox: Deutsche oder Franzosen wehren sich gegen die Zuwanderung von Arbeitskräften aus Polen oder den baltischen Staaten, obwohl sie nicht bereit sind, »niedere Arbeiten« selbst zu übernehmen. Gleichzeitig verhalten sich die Polen zu Hause nicht anders. So wandern die Probleme, aber auch die Chancen, von Ost nach West. In Deutschland arbeiten die Polen, in Polen die Ukrainer oder Weißrussen. Von der Außengrenze der EU werden sie nicht aufgehalten. MITARBEIT: JAN PILSKI i Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/arbeit

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Grenzenlose Freiheit. Sie war den Europäern einst so wichtig, dass sie die Freizügigkeit sogar in EU-Verträgen festschrieben. Trotzdem sind die deutschen Türen für Osteuropäer zurzeit erst einen Spaltbreit geöffnet. Die neuen EU-Mitglieder dürfen zwar einreisen, aber hierzulande keinen Job als abhängig Beschäftigte annehmen. Bis spätestens 2011 hat sich Deutschland dieses Sonderrecht erkämpft. Anders sieht das beispielsweise in Schweden oder Großbritannien aus: Dort können sich Osteuropäer um jeden Job bewerben – und tun dies übrigens auch, ohne dass die Arbeitslosigkeit in diesen beiden Ländern stark gestiegen wäre. Im Gegenteil. Doch auch hierzulande gibt es für Osteuropäer ganz legale Möglichkeiten, Arbeit zu finden: als Selbstständige. Der berühmte polnische Fliesenleger darf in Deutschland ein Gewerbe anmelden und dann seine Dienste anbieten. Dieses Schlupfloch wird jedoch auch von Scheinselbstständigen genutzt, die dann nicht selten zu Dumpinglöhnen arbeiten. Der europäische Traum gerät so für manchen zum Trauma. Daher ist es kein Wunder, dass viele Bürger das jüngste Liberalisierungsprojekt der EU-Kommission, die Dienstleistungsrichtlinie, mit Skepsis betrachten. Die Richtlinie soll es erleichtern, einen Service auch grenzübergreifend anzubieten. Vor allem deutsche Dienstleister erhoffen sich davon neue Märkte – auch im Osten. Und vielen Ökonomen gilt die Richtlinie als Symbol für Offenheit des EU-Marktes. Hingegen haben die Gewerkschaften scharfen Protest angekündigt, weil sie eine Abwärtsspirale bei den Löhnen fürchten. Im Februar beginnt die heiße Gesetzgebungsphase. Zunächst wird das Europäische Parlament entscheiden, danach muss der Rat der Regierungen zustimmen. Das aber kann dauern. Strittige Themen verschiebt Europa derzeit ohnehin gern. Petra Pinzler

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Kater in Kiew

Foto: [M] Eastway

Die ukrainischen Oligarchen feiern ihre Wiedergeburt. Die Revolutionäre müssen um die Macht fürchten. Denn die Volkswirtschaft kommt nicht voran Von Jan Pallokat

Der Industrielle Rinat Achmetow im Juni 2005 nach einem Fussballsieg

er ukrainische Industrielle Rinat Achmetow hat umgeschaltet. Neuerdings herrscht in seinen diversen Betrieben in der Stadt Donezk das ganze Jahr hindurch Tag der offenen Tür. Bekannt ist Achmetow als eine jener nebulösen Gestalten, die sich unter nie ganz geklärten Umständen die ökonomischen Kernstücke der ehemaligen Sowjetwirtschaft einverleibten. Oligarchen wie er gingen siegreich aus den bisweilen blutigen Verteilungskämpfen der Nachwendezeit hervor – oder sie waren einfach nur schlauer als ihre Mitbürger, weil sie die als »Voucher« kostenlos verteilten Anteilsscheine an den riesigen Kombinaten preiswert einsammelten, statt sie zu versilbern. Noch vor einigen Jahren hieß es, man solle Abstand halten zu Achmetow, der bei Heimspielen des örtlichen Fußballvereins Schachtjor Donezk angeblich in einer schusssicheren Kabine zuschaute. Heute aber führen freundliche PR-Frauen Investoren und Journalisten durch Achmetows üppiges Industrierevier im Donbass, einem wirtschaftlichen Zentrum der Ukraine. Auch kurzfristig organisieren sie Besuche bei Managern der Großbetriebe, die unter dem Dach einer Donezker Holding namens System Capital Management (SCM) versammelt sind: Herzlich willkommen beim gigantischen Stahlwerk Asowstal, auf dessen Betriebsgelände im Ausmaß einer Kleinstadt ein firmeneigenes Nahverkehrssystem Arbeiter an die Hochöfen fährt. Hereinspaziert in die 500 Meter langen Hallen des Röhrenproduzenten Chartsisk, wo mannshohe Pipeline-Teilstücke für die Öl und Gasindustrie geschweißt und mit der firmeneigenen Eisenbahn in alle Welt verschickt werden. Metallprodukte machen schätzungsweise 40 Prozent aller ukrainischen Exporte aus, und SCM hat daran gewichtig Anteil. Achmetow strebt nach mehr. Neben Kohlegruben und Kokereien, der klassischen Schwerindustrie und Energieversorgern gehören Medienunternehmen, Banken und Versicherer zum Konglomerat, und neuerdings expandiert die Unternehmensgruppe in die Telekommunikation. Firmenkäufe im Ausland seien jederzeit denkbar, sagt Andrej Bolschakow, SCM-Manager für Fusionen und Übernahmen: »Wir fördern mehr Koks und Eisenerz, als wir selbst verbrauchen. Da wäre der Kauf eines ausländischen Stahlwerks sinnvoll.« Manager wie Bolschakow, der in Moskau bei der Unternehmensberatung McKinsey nach westlichen Regeln arbeitete, platzierte Achmetow in seiner Holdingspitze: jung und eloquent, gewandt in der Sprache der Märkte. Schon haben westliche Investoren Witterung aufgenommen. »Die ukrainischen Unternehmen liegen in Sachen Transparenz noch hinter den Russen zurück«, sagt Peter Hakansson vom schwedischen Investmenthaus East Capital. »Aber sie lernen schnell.« Matthias Siller von Raiffeisen Capital Management in Wien träumt gar von einem Börsengang. Es sei schade, dass bisher nur Teilstücke des SCM-Imperiums an der Börse zirkulieren. Die Imageoffensive könnte da das Vorspiel sein, hofft er. Meint Achmetow es ernst mit der neuen Transparenz? Schon aus Gründen des Selbstschutzes könnte er ernsthaft vorhaben, in der globalisierten Wirtschaft salonfähig zu werden. Noch bis vor wenigen Monaten schien das Imperium ernsthaft

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Ukraine in Zahlen 300 km

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RUSSLAND POLEN

Kiew Lwiw (Lemberg)

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Donezk MOLDAWIEN Odessa

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Meer

Einwohner 2004:

48,2 Millionen

Arbeitslosenquote 2003:

9,1 Prozent

Inflationsrate 2003:

5,2 Prozent

BIP-Wachstum 2003:

9,4 Prozent

Monatsbruttolohn Durchschnitt 2004:

geschätzt

80 Euro

ZEIT-Grafik/ Quellen: destatis, Fischer Weltalmanach, eigene Recherche

in Gefahr. Julia Timoschenko, ambitionierteste Vorreiterin der orangefarbenen Revolution Ende 2004 und bis zum letzten September Regierungschefin des Landes, hatte forsch angekündigt, Tausende Privatisierungen überprüfen und womöglich annullieren zu lassen. Umgehend traten die verunsicherten in- wie ausländischen Geldgeber in einen Investitionsstreik, und die ukrainische Konjunktur sauste im Stil eines Bungee-Springers in die Tiefe: Nachdem das Wachstum 2004 offiziell rund zwölf Prozent erreicht hatte, sackte es 2005 auf wenig mehr als drei Prozent. Ganz allein brachte Timoschenko den Wirtschaftseinbruch nicht zustande; die Melange des vergangenen Jahres – steigende Energie- und sinkende Stahlpreise – war für ein Land wie die Ukraine ungünstig, das in hohem Maße Metallprodukte ausführt und Energie einführt. Der Absturz der ukrainischen Wirtschaft fiel auch deshalb so stark aus, weil das Land mit seinen immensen Ressourcen und knapp 50 Millionen Einwohnern erst am Vorabend der Revolution als Investitionsstandort regelrecht entdeckt worden war. 2004 gehörte der Kiewer Aktienmarkt zu den stärksten Börsen der Schwellenländer überhaupt, der Zufluss von Direktinvestitionen erreichte mit 1,7 Milliarden Dollar einen neuen Höchststand. Ausländische Unternehmer kamen ins Land, neureiche Einheimische wie Achmetow kehrten mit ihrem im Ausland geparkten Kapital zurück. Als das Gespann von Julia Timoschenko und ihrem Präsidenten vor einem Jahr schließlich die Macht in Kiew übernommen hatte, war die Goldgräberstimmung schnell am Ende. Dabei hatten die Revolutionäre den Armen ein besseres Auskommen und den kleinen Geschäftsleuten bessere Rahmenbedingungen versprochen. Tatsächlich reichte der Atem der Kiewer Revolutionsregierung gerade noch für eine deutliche Erhöhung der Renten und der Mindestlöhne. Doch trieb diese Politik umgehend die Preise in die Höhe. Hilflos versuchte die Regierung, Preisobergrenzen für Benzin und andere Produkte festzusetzen. »Die Geldentwertung fraß die sozialen Wohltaten rasch auf«, sagt Wasil Jurtschischin, Wirtschaftsforscher am Kiewer Rasumkow-Institut.

ben. Der Beifall aus Donezk kam prompt: Von Anfang an seien diese Bemühungen verfehlt gewesen, sagt Viktor Kalaschnikow, deutscher Honorarkonsul in Donezk und Leiter einer örtlichen Forschungsabteilung des Siemens-Konzerns. Auch ein westlicher Banker in Kiew wirbt dafür, die Debatte zu beenden. Man könne zwar darüber streiten, ob bei den Privatisierungen alles mit rechten Dingen zugegangen ist. »Aber statt ihr Geld in Monaco beim Golf zu verballern, investieren sie«, lobt er die Oligarchen. Neue Transparenz und Offenheit wie bei SCM dienten auch dazu, das Vertrauen westlicher Banken zu gewinnen, auf deren Kredite man für die Expansionen angewiesen sei. Der Banker vermutet ein Kalkül: Wer mit der Weltwirtschaft verwoben ist, fremde Investoren an Bord hat und Fabriken im Ausland besitzt, kann nicht mehr so leicht enteignet werden. Für dieses Überlebenskonzept stand auch der russische Öl-Tycoon Michail Chodorkowskij Pate. Der internationale Aufschrei gegen die Zerschlagung seines Konzerns, des Ölförderers Jukos, war auch deshalb so laut, weil Investoren aus dem Westen ein-

gestiegen waren. Zwar endete Chodorkowskijs Aufstieg vorerst im Straflager. Doch sei dergleichen in der Ukraine unmöglich, betont Xenia Ljepina, Wirtschaftsexpertin der Präsidentenpartei Unsere Ukraine: »Hier muss der Präsident Regeln beachten.« Um das Gesicht zu wahren, ließ der einen besonders spektakulären Fall von Firmenraub rückgängig machen: Das größte Stahlwerk des Landes, Kriworischstal, mit einer Kapazität von acht Millionen Tonnen pro Jahr, ging von Oligarchenhand in Staatshand zurück und von dort an die indische Mittal-Gruppe, die sie für vier Milliarden Euro ersteigerte. Zuvor hatten sich zwei Oligarchen das Unternehmen zum Bruchteil seines Wertes zuschieben lassen, darunter der Schwiegersohn des früheren Präsidenten Leonid Kutschma. Der andere der beiden hat auch so genug Vermögen: Es war Rinat Achmetow aus Donezk. Dort zeigt eine Rentnerin auf neue Blumenkübel an der Straße. »Das verdanken wir alles ihm und noch viel mehr«, sagt sie. »Rinat« nennen sie den mächtigen Wirtschaftsmann hier. Gegen ihn wagen nur wenige Widerspruch. Eine Studentin erinnert daran, dass während der Revolution gerade vor den Werks-

Die kleinen und mittleren Unternehmer der Ukraine warteten vergeblich auf Steuererleichterungen. Und einige Gesetze trieben Manager zur Verzweiflung. Im Bemühen, Günstlinge des alten Systems zu treffen, erwischten Regierungschefin Timoschenko und ihr Team auch seriöse Investoren. Da wurden mitten in die Geschäftsjahre hinein Besteuerungsregeln verändert und Zollprivilegien in den Sonderwirtschaftszonen ohne Vorwarnung gekappt. »Vor allem die Automobilzulieferer sind durcheinander geraten«, klagt Karin Rau, Delegierte der deutschen Wirtschaft in Kiew. »Doch sind es gerade diese Unternehmen, die Tausende Arbeitsplätze in der Ukraine geschaffen haben.« Ergebnis der Aktionen: Heute sind die Oligarchen stärker denn je. Die Ukraine brauchte dringend neue Unternehmer – vor allem im Westen des Landes. Etwa 80 Prozent der Industrieproduktion stammen aus dem Osten. Der Westen ist zwar stolz auf seine europäische Geschichte, hat aber wenig Fortschritt zu bieten – abgesehen von einigen Produktionsverlagerungen aus der Slowakei oder Ungarn und wenigen Leuchttürmen wie der größten europäischen Glühbirnenfabrik unweit von Lwiw (Lemberg). »Da kann man gut jagen«, meint ein westlicher Finanzstratege in Kiew und kreist mit dem Finger über der blassrosa eingefärbten Karpatengegend auf seiner Ukraine-Karte. Tiefrot hingegen leuchten die östlichen Gebiete des Donbass: Je roter die Färbung, desto besser die Wirtschaftsperspektive. »Die Enttäuschung über die Wirtschafts- und Sozialpolitik ist groß«, sagt Wasil Jurtschischin. Sie ist auch dafür verantwortlich, dass die Partei des Präsidenten Wiktor Juschtschenko nach gegenwärtigen Umfragen bei den Parlamentswahlen im März weniger als ein Sechstel der Stimmen zu erwarten hat. Die Gruppierung der von ihm im vergangenen September entlassenen Regierungschefin Timoschenko ist danach stärker, ebenso die Moskau-treue Opposition. Die Regierung allerdings versteht sich nur als Reparaturbetrieb. So wurde ein Gesetz auf den Weg gebracht, das in den Sonderwirtschaftszonen geschädigte Unternehmen kompensieren soll. Größere Schritte sind bis zur Parlamentswahl nicht mehr zu erwarten. Die schlechten Gesetze gelten weiter. Allerdings machte der Nachfolger Timoschenkos in einer seiner ersten Amtshandlungen Schluss mit dem Versuch, die Privatisierungen aufzuhe-

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toren des Achmetow-Reichs blaue Gegendemonstranten eingesammelt wurden, um den orangefarbenen Demonstranten auf dem Majdan einzuheizen. Freilich scheiterten auch die härtesten DonbassHooligans im Dezember 2004 an der demonstrativen Fröhlichkeit der Opposition und ihrer fehlenden Bereitschaft, sich provozieren zu lassen. Doch von dieser Niederlage hat sich Achmetow schnell erholt. Schon vereinnahmt er die Farbe der Sieger für seine Zwecke. In Werbespots auf CNN präsentiert er seine Firmenholding SCM als kapitalistischen Segen der Ukraine: verantwortungsvoll, auf Nachhaltigkeit bedacht, umweltbewusst, der Zukunft zugewandt. Offenbar mit sich im Reinen stehende Grubenarbeiter mit Bauhelm blicken da ernst und schaffensfroh in die Zukunft, etwas Grubenschwärze im Gesicht. Und für ein paar Sekunden springen jubelnde junge Leute in orangefarbener Aufmachung durch den Imagefilm. Die Assoziation mit der Farbe der Revolution ist sicher gewollt. Allerdings: Der Film zeigt gar keine Demonstranten, sondern die Fans des Donezker Fußballclubs Schachtjor Donezk. Dessen Vereinsfarbe ist Orange.

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Horst Rahe? Spaß auf dem Clubschiff Aida,Wellness in Luxushotels: Horst Rahe hat aus der Staatsreederei der DDR einen

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ar nicht so einfach, dem Mann zu folgen. Eben noch referierte er über die Wachstumschancen der Kreuzschifffahrt auf dem deutschen Markt, wenig später hagelt es Fakten aus Anti-Aging-Forschung und Präventivmedizin. Zwischendurch meldet sich noch das Handy mit einem Hahnenschrei als Klingelton – »mein Warnsystem vor der Vogelgrippe«, sagt Horst Rahe schmunzelnd. Nach dem Telefonat greift er den Gesprächsfaden bruchlos wieder auf. Ein sonniger Vormittag in Rostock. Die Unternehmensgruppe Deutsche Seereederei (DSR) logiert in zwei historischen Silos am Stadthafen, in edel renovierten Büros, mit Kunst auf dem Kai und einer Bar im obersten Stockwerk. Rahe ist geschäftsführender Gesellschafter, die sechs Tochtergesellschaften befassen sich mit Schifffahrt, Immobilien, Tourismus und Finanzdienstleistungen. Aus dem früheren DDR-Staatsbetrieb mit seinen 161 Schiffen hat Rahe einen modernen Dienstleistungskonzern gemacht. Dessen Touristikmarke A-Rosa etwa prangt an Kreuzfahrtschiffen auf Donau und Rhône sowie an Luxushotels, etwa in Travemünde und am brandenburgischen Scharmützelsee. Im dritten Stock empfängt Rahe seine Besucher, an einem großen ovalen Tisch. Auf die Minute pünktlich betritt er den Raum aus seinem angrenzenden Büro. Ein eleganter, schlanker Mann Mitte sechzig. Einstecktuch, Krawattennadel, solider Ehering aus Gold. Eher zurückhaltend, und doch ganz der Geschäftsmann, der weiß, was er geleistet hat.

Geprägt hat den ehemaligen Waldorfschüler die Nachkriegszeit in Hannover. »In der Schule mussten wir Briketts schleppen, und Hunger hatten wir immer«, sagt er. Nach dem BWL-Studium und dem ersten Job bei einem Steuerberater kauft sich der begeisterte Sportler (»Ich bin auf Schlittschuhen am Maschsee groß geworden«) vom ersten Gehalt zwei Anzüge, »mit Weste«. Mit 27 wird er dann Miteigentümer einer Immobilienfirma. Niemals wieder, darauf ist er stolz, sei er angestellt gewesen. »Ich habe die Selbstständigkeit nie als Risiko, sondern stets als Herausforderung gesehen.«

»Soll ich mir von solchen Harvard-Jungs etwa Vorschriften machen lassen?« Während Rahe erzählt, sitzt er kerzengerade, energisch klopft er auf die Tischplatte. Später wird er sagen, dass er es immer bedauert habe, nicht zur Generation der Grundigs und Quandts gehört zu haben: »Ich wollte immer schon etwas aufbauen, etwas gestalten.« Machen, handeln, schaffen – das ist Rahes Credo. »Hürden sind dafür da, überwunden zu werden.« Als die innerdeutsche Mauer fiel, hatte sich Rahe bereits im Immobilien- und Anlagegeschäft sowie als Reeder in Hamburg einen Namen gemacht. Er war zu einem wohlhabenden Unternehmer geworden. Jetzt, 1993, will er in den Osten. Zusammen mit dem Hamburger Reeder Nikolaus W. Schues bewirbt er sich bei der Treuhand um den Kauf der

Foto: Oliver Hardt /imago

VON DOROTHEA HEINTZE

Deutschen Seereederei in Rostock. Dort ist von »Ausverkauf« die Rede, der DSR-Betriebsrat kündigt Schiffsbesetzungen und einen Streik an. »Es herrschte eine unglaublich aufgeladene Stimmung«, erinnert sich Jutta Busch. Sie war damals bereits seit zwei Jahrzehnten bei der ehemaligen Staatsreederei und ist heute Justiziarin der DSR. Am 3. Juni 1993 fällt die Entscheidung zugunsten der Hamburger Unternehmer und gegen den zweiten Bewerber, die Bremer Vulkan. Der damaligen Großreederei hätten viele die Rettung der DSR zugetraut, nicht jedoch den beiden Mittelständlern, die sie ausgerechnet in einen Hotelund Touristikkonzern umbauen wollten. Die Auflagen der Treuhand schnürten den Neueigentümern zunächst fast die Luft ab; im Gegenzug herrscht noch heute einvernehmliches Schweigen über den Kaufpreis der DSR. Rahe und Schues mussten bis Ende 1997 gut 750 Millionen Mark investieren, 2500 der damals noch 3000 Arbeitsplätze sowie den Standort Rostock erhalten. 1998 stand das Unternehmen kurz vor der Pleite. Die beiden Partner trennten sich. Schues übernahm die Handelsschifffahrt der DSR. Bei Rahe blieb der Bereich Touristik und Hotels – er schaffte die Wende. Die mittlerweile verkauften Aida-Club-Kreuzfahrtschiffe der Tochterfirma Arkona-Touristik waren ein großer Erfolg, an den jetzt A-Rosa anknüpfen soll. Mehr als 2000 Menschen arbeiten heute für die DSR in den verschiedenen Tochtergesellschaften. 2004 stiegen die Umsätze der Holding auf 187 Millionen Euro, das Stammkapital wurde aus Eigenmitteln auf 100 Millionen Euro

erhöht. »Selbstverständlich« mache er Gewinn, sagt Rahe. In welcher Höhe? Das verrät er nicht, aber: »Wir reinvestieren, was wir können.« Ob er an einen Börsengang denke? Jetzt, wo die Kurse wieder steigen? Na ja, man solle »nie nie sagen«, aber eigentlich ist das für ihn unvorstellbar: »Soll ich mir etwa von solchen Harvard-Jungs vorschreiben lassen, was ich kaufe oder verkaufe?« Längst gehört Rahe zu den Vorzeigeunternehmern in Mecklenburg-Vorpommern. Schröder, Merkel, Ringstorff waren und sind seine Gäste. Rahe ist Vizepräsident der Rostocker Industrie- und Handelskammer, finnischer Honorarkonsul, Ehrensenator der Hochschule für Musik und Theater. Mit etlichen Stiftungen fördert er Künstler, in einem Rostocker Gymnasium unterrichtet er Abiturienten zum Thema Unternehmensgründung. Ein Mäzen der Stadt. Das kann er sich leisten, er zählt zu den 300 reichsten Deutschen, wie die Liste des manager magazins belegt. Doch von Statussymbolen wie etwa einem eigenen Jet hält er nichts: »Da müsste ich mich ja gleich entmündigen lassen.« Ihm reicht der Audi, der wie all seine Firmenwagen ein Rostocker Kennzeichen trägt. Als Chef seines Unternehmens ist Rahe beliebt, bestätigt Betriebsrätin Ute Völske. Seit 1971 arbeitet sie im Hotel Neptun in Warnemünde, das heute ebenfalls zum Rahe-Reich gehört. Durch Mitarbeitertage und regelmäßige Treffen mit dem Konzernbetriebsrat sei ein Gemeinschaftsgefühl entstanden. Auch Rahe selbst sei immer wieder dabei und zeige ehrliches Interesse. »Ossi – Wessi, die Unterscheidung ist doch Quatsch«, sagt Rahe, er will die Mauer nicht im Kopf konservieren. Das habe er schon in der ersten Betriebsversammlung rübergebracht, erinnert sich sein heutiger Fahrer, Frank Kletzsch, der seit 1985 zum Betrieb gehört. »Aber er hat uns keine falschen Verbrüderungsangebote gemacht. Man merkte sofort: Der will hier was erreichen.« Klaus Wenzel, seit über 20 Jahren Hoteldirektor des Neptuns in Warnemünde, hatte 1994 das erste Mal mit Rahe zu tun: »Er hat uns unsere Geschichte gelassen und uns als gleichberechtigte Partner akzeptiert«, sagt er. Und Justiziarin Busch meint sogar, dass ihr Chef gelegentlich etwas autoritärer auftreten sollte. »Ich finde, er ist manchmal zu nachgiebig«, sagt sie. »Wenn da Leute Mist bauen, könnte er gerne mal auf den Tisch hauen.« Und wie sieht man den Selfmade-Mann außerhalb des Unternehmens? Man hält ihn, hinter vorgehaltener Hand, für »exotisch«. Rahe als Retter der DSR? Womöglich gar beispielhaft, besonders innovativ? Kein Kommentar beim Verband Deutscher Reeder in Hamburg. Auch sein Expartner Schues will sich nicht mehr über Rahe äußern, obwohl man sich angeblich einvernehmlich getrennt hat. Doch der Belegschaft in Rostock ist klar: »Die waren viel zu unterschiedlich.« Viele Mitarbeiter seien froh gewesen, dass nur Rahe als Chef blieb. Ein »Hamburger Kaufmann«, wie es in der Presse immer wieder heißt, sei er nie gewesen, sagt der 66-Jährige. »Wenn schon Hanse, dann fühlen wir uns hier in Rostock viel wohler.« In Hamburg hat er allerdings formal seinen ersten Wohnsitz. Dort gehört ihm das noble Hotel Louis C. Jacob an der Elbchaussee. Als er es radikal modernisier-

te, stänkerten die vornehmen Hanseaten, doch Rahe sah das mit Humor: »Wer wirtschaftlich tätig ist, begeht Untreue.« Nur passt so etwas eben nicht zum Klischee eines klassischen Hamburger Kaufmanns. Entsprechend wurde Rahe noch nie zum traditionsreichen Hamburger Matthiae-Mahl ins Rathaus eingeladen.

Die Zusammenarbeit mit der Tochter hat nicht geklappt Für Tochter Tanja habe er früher nie genug Zeit gehabt, bedauert er. Als Rahe dann das Hotel Jacob – eigentlich für die Tochter – kaufte, freute er sich auf die Zusammenarbeit. Doch die scheiterte. »Ich habe ihr nicht genug freie Hand gelassen – bei meinen Vorständen gelingt mir das viel besser.« Nun mache er an den Enkeln alles wieder gut. Tanja Schmittner relativiert das mit einem etwas bitteren Lachen. »Sicher kümmert er sich, wenn er Zeit hat. Doch wann, bitte, hat er Zeit?« Seit Jahren pendelt Rahe zwischen Hamburg, Rostock und der Schweiz. Schweiz? Steuern zahle er in Deutschland, betont er schnell. Drei Sekretärinnen koordinieren die Termine. »Wenn die verschoben werden, hat der Chef das nicht so gern«, sagt eine. Perfekte Organisation schafft Klarheit. Auf Rahes Schreibtisch herrscht peinliche Ordnung, in einem Timer notiert er in winziger Handschrift seine Ideen, und davon hat er viele. Zurück zur klassischen Schifffahrt lautet eine, Wellness-Medicine eine andere. Mitte des Jahres eröffnet in Hamburg sein Premedion-Institut, ein Joint Venture zwischen der DSR und der Hamburger Uniklinik Eppendorf. Wohlhabende Privatleute genau wie leitende Angestellte von Unternehmen werden dort professionell durchgecheckt. Und wenn das Ergebnis eine Erholungskur nahelegt, empfiehlt sich dafür zum Beispiel Travemünde oder auch Kitzbühel, wo Rahe demnächst ein weiteres Hotel eröffnet. Mit den Aida-Schiffen, die erstmals eine jüngere Zielgruppe erschlossen, revolutionierte Rahe einst die deutsche Kreuzfahrt. Heute steht Rahes Präventionsinstitut kurz vor der Eröffnung. Und schon hält er Ausschau nach wieder neuen Projekten, die ihn auch zurück zur Schifffahrt führen dürfen. Womöglich will er jetzt die Fährreederei Scandlines übernehmen, die 2004 einen Umsatz von mehr als 500 Millionen Euro machte. Die beiden derzeitigen Eigentümer, die Deutsche Bahn und das dänische Transportministerium, wollen das halbstaatliche Unternehmen wohl verkaufen. Schon einmal, vor vier Jahren, gab es solche Überlegungen, schon damals war die Rostocker Reederei als Käufer im Gespräch. »Wir warten und entscheiden, wenn die Ausschreibung vorliegt«, sagt deshalb Rahe. Scandlines ist Europas größte Fährreederei, sie würde das Spektrum seiner DSR abrunden und gleichzeitig nochmals erweitern. Eine Vorstellung, die einen Unternehmer wie Rahe reizen muss. Audio a www.zeit.de/audio

" Erfinder der Party-Dampfer Horst Rahe wird 1939 in Hannover geboren. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft steigt er 1966 ins Immobiliengeschäft ein und baut das Ostsee-Ferienzentrum Damp 2000. 1975 gründet er das Emissionshaus Norddeutsche Vermögensanlage im Schiffs- und Immobilienbereich. 1978 kauft Rahe die Reederei Alfred C. Töpfer, 1993 die Deutsche Seereederei in Rostock. Das erste Aida-Clubschiff startet 1996. Die Aida-Sparte verkauft Rahe 2004 und baut nun die Marke A-Rosa mit Kreuzfahrtschiffen und Luxushotels auf

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und aggressiv die Inflation zu kontrollieren versuche – in beide Richtungen. In Postillen der Hedge-Fonds-Manager wird der Neue dagegen als »Helikopter-Ben« verunglimpft, der bei jedem ersten Zeichen einer Konjunkturschwäche kräftig die Zinsen senken, zur Not Geldscheine mit dem Hubschrauber abwerfen und einen Anstieg der Inflation hinnehmen werde. Dieser Eindruck geht auf das Jahr 2003 zurück, als Bernanke mit Blick auf die Gefahr einer Deflation, also sinkender Preise, die »Technologie Gelddruckmaschine« ins Spiel brachte, um eine Depression wie in den dreißiger Jahren zu verhindern. Solche Gedankenspiele, so richtig sie 2003 waren, mögen Geldverwalter nicht. Der Wechsel in der EZB steigert die Unwägbarkeit noch. Immerhin gilt der Euro als Alternative zum Dollar, wenn es um den Status der internationalen Leitwährung geht. Issing, der Ende Mai ausscheiden wird, »ist der heimliche Chef« der EZB, sagt ein Insider. Durch seine langjährige Erfahrung und seine Verantwortung für die Ressorts Volkswirtschaft und Forschung habe er eine Machtfülle angehäuft, wie sie kein anderes Vorstandsmitglied einer Notenbank besitze. Während bei der Fed der volkswirtschaftliche Stab dem obersten Führungsgremium, dem Board, seine Prognosen vorträgt, gelangen die Erkenntnisse des Stabs in der EZB nur durch Issing gefiltert in das Entscheidungsgremium, den Rat. Issing erklärt die wirtschaftliche Lage und die Prognosen, Issing bereitet die Entscheidungen vor und stellt diese dann zur Diskussion. »Es wird der EZB schwerer fallen als der Fed, für Kontinuität zu sorgen«, glaubt Volker Wieland, der bei der Fed gearbeitet und als Frankfurter Professor für Geldtheorie an Forschungsprojekten der EZB teilgenommen hat. Hätte der Stab mehr Einfluss, wäre der Übergang einfacher. Wer Issings Aufgaben im Juni übernimmt, ist noch nicht entschieden. Zwar soll Bundesbankvorstand Jürgen Stark als deutsches Mitglied in den Rat nachrücken, unklar ist aber die Nachfolge auf dem Posten des Chefvolkswirts. Drei Direktoren werden Chancen eingeräumt: dem Griechen Loukas Papademos, dem Italiener Lorenzo Bini-Smaghi sowie der Österreicherin Gertrude Tumpel-Gugerell. Auch eine Aufteilung der mächtigen Ressorts ist in der Diskussion. »An Issings Reputation als Stabilitätspolitiker kommt keiner der potenziellen Nachfolger ran«, sagt Thorsten Polleit, Deutschland-Volkswirt bei der Barclays Bank. Alle drei stehen der angelsächsischen Geldpolitik, die im Zweifel die Zinsen eher senkt als erhöht, deutlich näher als Issing.

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Bitte anschnallen! Den Finanzmärkten steht ein aufregendes Jahr bevor. Der nächste Notenbankchef der USA muss sich ihr Vertrauen erst noch verdienen Von Robert von Heusinger

Der Neue ist Inflationsexperte – nützen wird ihm das kaum

" DIE WELT IN ZAHLEN

Turbulenzen für jeden neuen Notenbankchef Wert des Dow Jones seit Amtsantritt Arthur F. Burns am 1.2.1970 (Index=100)

Kurs des Dollar seit Amtsantritt William Miller am 8.3.1978 (in DM)

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Renditeentwicklung der US-Staatsanleihen seit Amtsantritt Paul Volcker am 6.8.1979 (in %) 13 12 11 10 9 8

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02/1979

Wert des Dow Jones seit Amtsantritt Alan Greenspan am 11.8.1987 (Index=100) 105 100 95 90 85 80 75 70 65

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Kurzfristig dürfte die Erwartung einer lockeren Geldpolitik auf beiden Seiten des Atlantiks zumindest die Anleger am Rentenmarkt kaum stören. Denn Inflation ist nach wie vor kein Thema. Dafür steigen die Löhne nicht nur in Euroland, sondern inzwischen auch in Amerika zu langsam. Im Schnitt rechnen 37 vom Handelsblatt befragte Banken mit einem leichten Anstieg der Rendite bei den zehnjährigen Bundesanleihen auf 3,72 Prozent. Moderat auch die Prognose für den Aktienmarkt: Der Dax wird im Schnitt auf 5717 Punkte zum Jahresende geschätzt. Vom gegenwärtigen Niveau aus entspräche das einem Anstieg von weniger als fünf Prozent. Wie schon 2005 steht der deutsche Aktienmarkt bei europäischen Investoren aber ganz oben auf der Agenda. »In dem Punkt herrscht Einigkeit«, sagt Rolf Elgeti. Der Aktienmarktstratege von ABN Amro hat jüngst knapp 200 Großanleger besucht. Elgeti sieht den Dax bei 6000 Punkten und empfiehlt, europäischen Aktien den Vorzug vor amerikanischen zu geben. In Europa sei sowohl die Gewinnentwicklung als auch die Bewertung attraktiver. Auf lange Sicht scheinen auch andere Anlageformen interessant. »Langfristig führt eine weltweit expansive Geldpolitik zu steigender Inflation und schwachen Anleihen«, sagt Klaus Sterzik. Für den Hedge-FondsManager von Arsago ist mehr Inflation die logische Folge der erfolgreich betriebenen Wiederbelebung der globalen Wirtschaft durch die großen Notenbanken nach dem Aktienmarktcrash zur Jahrtausendwende. Deshalb setzt er auf Gold. Das Edelmetall, das in Phasen hoher Inflation immer als Absicherung vor Realwertverlusten gedient hat und zuletzt als Anlageklasse wiederentdeckt wurde. Auch Jean-Luc Buchalet, Chefstratege der amerikanisch-französischen Research-Firma Factset, sieht darin einen »sicheren Hafen«, allerdings mehr für den Fall eines Dollarcrashs. »Viele Investoren haben sich in dem gelben Metall für eine bevorstehende Dollarkorrektur positioniert«, sagt er und empfiehlt, Gold überzugewichten. Jim O’Neill, weltweit der oberste Ökonom von Goldman Sachs, sieht im Gold »die Absicherung, die man braucht, wenn man nicht genau weiß, wogegen man sich absichern möchte.« Gold – der Vorbote der Turbulenzen? Mag auch auf Aktien- und Anleihemärkten von einer neuen Unsicherheit noch nicht viel zu spüren sein, der Preis der Unze Gold hat seit Bernankes Ernennung im Oktober gut 20 Prozent oder knapp 100 Dollar zugelegt. Am Montag dieser Woche sprang er auf 550 Dollar – so hoch wie zuletzt vor 25 Jahren.

Großbritannien

2425

Australien

1857

China

1707

Kanada

1493

Deutschland

1308

Frankreich

1054

ZEIT-Grafik/Quelle: Thomson Financial

Weniger Wirtschaftskriminalität Zahl der als „Wirtschaftskriminalität“ eingestuften Straftaten in Deutschland 110 000

110 018

100 000 90 000

cyan

86 030

90 706

86 149 81 134

80 000 2000

2001

2002

2003

2004

ZEIT-Grafik/Quelle: BKA

VW, Infineon, DaimlerChrysler – 2005 war ein Jahr der großen Korruptionsskandale. Hat die Wirtschaftskriminalität also insgesamt zugenommen? Schwer zu sagen. Das jüngste Lagebild Wirtschaftskriminalität des Bundeskriminalamts liefert nur die Daten von 2004. Demnach ist die Zahl der einschlägigen Straftaten auf 81 134 zurückgegangen.Dies waren zwar nur 1,22 Prozent aller polizeilich registrierten Delikte – sie verursachten aber 53,9 Prozent des registrierten Schadens durch kriminelle Handlungen.

Aktien Entwicklung des Aktienindex Euro Stoxx 50 in den vergangenen drei Monaten 3700 3650 3600 3550 3500 3450 3400 3350 3300 3250 3200

EURO STOXX 50 OKTOBER

NOVEMBER

Dax

5495

(+ 9,4 %)

TecDax

S & P 500

1287

(+ 8,4 %)

Nasdaq

16 124

(+ 21,9 %)

Nikkei

DEZEMBER

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629

(+ 4,3 %)

2316 (+ 11,4 %) 10 994

Dow Jones

(+ 7,4 %)

* Stand: 10. 1. 2006, 18.30 Uhr, 3-Monats-Änderungen

Tops und Flops Entwicklung der drei besten und schlechtesten Branchen im Index MSCI Welt in den vergangenen vier Wochen

+ 7,3

Grundstoffe

+ 5,3

Industriewerte Informationstechnologie

+ 5,1

Energie

+ 3,0

Telekommunikation nicht zyklische Konsumgüter

+ 2,9

PLUS

+ 2,5

in Prozent

Zinsen Anlagedauer

Stand: 09.01.06

Täglich verfügbare Anlage

0,40 - 4,00

1 Monat

Termingeld (Zinsen)

0,75 - 2,70

1 Jahr

Finanzierungsschätze

2,45

5 Jahre

Bundesobligationen Serie 147

2,97

6 Jahre

Bundesschatzbriefe Typ A

2,88

7 Jahre

Bundesschatzbriefe Typ B

3,07

10 Jahre

Sparbriefe (Zinsen)

3,00 - 4,70

Börsennotierte öff. Anleihen

3,25 - 3,39

Pfandbriefe

3,27 - 3,41

Hypothekenzinsen von Banken

Effektivzins

5 Jahre fest

3,33 - 4,98

10 Jahre fest

3,63 - 5,06

Konjunktur Kennziffern ausgewählter Länder Länder Angaben in Prozent

Deutschland Euroland USA Japan

i Die aktuelle Wette in Robert von Heusingers Weblog: www.zeit.de/herdentrieb

SCHWARZ

Procter & Gamble und Gillette, UniCredit und HypoVereinsbank, adidas und Reebok – 2005 wurden viele neue Fusionen und Übernahmen bekannt gegeben. Nach Angaben des Finanzdienstes Thomson Financial gab es weltweit 32 568 Transaktionen, die mit Abstand meisten davon in den USA. Zwar ist die Zahl der Deals global nur leicht gestiegen, mit einem Gesamtvolumen von mehr als 2,7 Billionen US-Dollar legte der Markt für Unternehmenskäufe aber gegenüber dem Vorjahr um mehr als 38 Prozent zu. Unter den grenzüberschreitenden Deals war die Kaufofferte der Telefónica für O2 mit knapp 32 Milliarden Dollar der größte.

9045

Niederlande 08/1987

ZEIT-Grafik/Quelle: Bloomberg, eigene Recherchen

Nr. 3

Mehr Fusionen Zahl der 2005 angekündigten Fusionen und Übernahmen in ausgewählten Ländern

Weltbörsen*

Der Goldpreis ist ein Vorbote der kommenden Unruhe

Illustration: Peter M. Hoffmann für DIE ZEIT

Vertrauen kann man aber nicht vererben. In der Vergangenheit hat es jeweils im ersten Jahr eines neuen Fed-Chefs an einem Markt ordentlich gescheppert (siehe Grafiken). Bei Arthur Burns mussten die Aktionäre zittern. William Miller erlebte eine Dollarkrise. Amerika war nicht mehr in der Lage, Kredite in eigener Währung aufzunehmen. Der damalige US-Präsident Jimmy Carter musste die ausländischen Märkte anzapfen, um den Gegenwert von zehn Milliarden Dollar Staatsschulden unterzubringen. Paul Volcker löste mit seinen harten Zinserhöhungen, die das Vertrauen in den Dollar wiederherstellten, einen regelrechten Crash am Anleihemarkt aus. Alan Greenspan sah sich kurz nach Amtsantritt mit dem größten Tagesverlust des Börsenindex Dow Jones konfrontiert und bewies mit sofortigen Zinssenkungen sein Gespür für die nervösen Finanzmärkte. »Die Geschichte lehrt uns, das Unerwartete zu erwarten, wenn Amerikas zweithärtester Job übergeben wird«, unkte Steven Roach, Chefökonom der US-Investmentbank Morgan Stanley, kurz nach der Ernennung von Ben Bernanke zum Nachfolger Greenspans. Nicht nur Anekdoten, auch empirische Studien belegen, dass die ersten Amtsjahre mit besonderer Unsicherheit behaftet sind. So lagen die Schwankungen im Dow Jones im ersten Amtsjahr eines neuen Fed-Präsidenten durchschnittlich mehr als fünf Prozentpunkte höher als in den darauf folgenden fünf Jahren der Amtszeit. Zu diesem Ergebnis kommt die Deutsche Bank. Auch der Anleihemarkt leidet im ersten Amtsjahr unter einer höheren Volatilität – nach den Berechnungen der Deutschen Bank stieg sie nach den Amtswechseln um auf diesem Markt signifikante 0,15 Prozentpunkte. Zwar ist der Neue, der am 1. Februar Greenspan beerben wird, der Wunschkandidat der Händler, Fondsmanager und Analysten. Er hat für die Fed gearbeitet und Präsident George W. Bush in Wirtschaftsfragen beraten. Darüber hinaus gilt Bernanke auch in der Wissenschaft als Geldexperte und Starökonom. Sein Lieblingsgebiet: Inflationsziele. Dass ihm das viel nützt, wird jedoch bezweifelt. Es gebe keinen Grund anzunehmen, sagt Roach, Bernanke solle der erste FedVorsitzende sein, der mit einem Problem konfrontiert werde, das er in- und auswendig kenne, nämlich der Inflation. Stattdessen könne er vor einer Dollarkrise stehen und steigenden Anleihezinsen. Amerika sei so sehr wie noch nie auf das Vertrauen des Auslands angewiesen. Jeden Tag braucht das Land drei Milliarden Dollar Zuflüsse, um sein auch 2005 gestiegenes Leistungsbilanzdefizit finanzieren zu können. »Bei allen anderen Kandidaten wäre die Unsicherheit größer«, ist sich Jan Hatzius, der Chefvolkswirt für Amerika bei Goldman Sachs, zwar sicher. Er schätzt Bernanke als »geldpolitischen Aktivisten« ein, der an die Wirksamkeit von Zinsänderungen glaube

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Globale Märkte WIRTSCHAFT 31

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urbulent sind die internationalen Finanzmärkte ins neue Jahr gestartet, vor allem der Devisenmarkt. Der Dollar verlor in den ersten Tagen fast vier Cent gegenüber dem Euro, dieser verzeichnete den zweitstärksten Anstieg in einer Woche seit seiner Einführung 1999. Viele Investoren sorgten sich, das Wachstum der US-Wirtschaft könnte sich deutlich abschwächen, oder die asiatischen Zentralbanken könnten aufhören, Dollar zu kaufen. Höhere Volatilität ist der Titel des aktuellen Devisenmarktkommentars der Investmentbank Bear Stearns. Die Schwankungsanfälligkeit der Devisenkurse sei in den vergangenen Jahren ziemlich gering gewesen. »Das dürfte sich ändern«, sagt Chefanalyst Steve Barrow. Was ihm für die Wechselkurse schwant, könnte zum Motto des Jahres 2006 an allen Finanzmärkten avancieren. Mehr Schwankungen, mehr Unsicherheit. Das ruhige und ertragreiche Jahr 2005 wird sich so nicht wiederholen. Falsch machen konnten die Investoren in den vergangenen zwölf Monaten nichts, außer: nicht investiert zu sein. Ob Rohstoffe, sichere Staatsanleihen, hoch riskante Rentenpapiere von Schwellenländern oder wackeligen Konzernen, ganz zu schweigen von Aktien, auf allem standen am Ende dicke Pluszeichen. Der Deutsche Aktienindex Dax gewann 27 Prozent, Japans Aktienindex Nikkei 40 Prozent. 2006 wird vieles anders verlaufen. Der wichtigste Unterschied: In Amerika wie Euroland verabschieden sich die stärksten Notenbanker in den Ruhestand. Dort Alan Greenspan, der als Kopf der Federal Reserve (Fed) die Geschicke der Weltleitwährung Dollar seit 1987 leitet. Hier Otmar Issing, der deutsche Ökonom, der seit 1990 den Posten des Chefvolkswirts der zweitwichtigsten Notenbank der Welt innehat – erst bei der Bundesbank, dann bei der Europäischen Zentralbank (EZB). Der dienstälteste EZB-Direktor war beim Übergang von D-Mark zu Euro der Garant der deutschen Stabilitätskultur. Auch wenn Greenspan im Zweifel die Zinsen senkt, Issing im Zweifel für eine Zinserhöhung plädiert – eines ist beiden gemein: Sie sind mit den Jahren berechenbar geworden. Das ist aus Sicht der Anleger die wichtigste Eigenschaft. Nur sie schafft Vertrauen und mindert so an den hektischen Finanzmärkten die Unsicherheit.

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BIPArbeitslosenWachstum rate

Inflationsrate

zum Vj.-Quartal

1,3

9,3

2,0

III/04-III/05

11/05

12/05

1,5

8,3

2,2

III/04-III/05

11/05

12/05

3,6

5,0

3,5

III/04-III/05

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11/05

2,8

4,6

-0,8

III/04-III/05

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11/05

1,2

4,7

1,8

III/04-III/05

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ZEIT-Grafik/Quelle: Datastream

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WIRTSCHAFT

12. Januar 2006

" MACHER & MÄRKTE Wachstum: Merkel-Effekt Kaum ist die neue Bundesregierung ein paar Monate an der Macht, ist ein neues Wort in der Welt. »Merkel-Aufschwung«. Ein Konjunkturforscher nach dem anderen revidiert seine Prognose nach oben. Auch dank der Großen Koalition. Diese behauptet, die Staatsausgaben zunächst erhöhen und erst im nächsten Jahr den Haushalt konsolidieren zu wollen. Mit dieser Politik der kontrollierten Offensive wird nach Ansicht vieler Beobachter das Wachstum in die deutsche Wirtschaft zurückkehren. Wirklich? Der Ökonom Ullrich Heilemann, Direktor des Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung der Universität Leipzig, hat nun eine Berechnung vorgelegt, die den meisten seiner Kollegen widerspricht. Demnach wird sich das von Schwarz-Rot vorgelegte Konjunkturpaket nicht positiv, sondern negativ auf das Wachstum auswirken. Laut Koalitionsvertrag würden insbesondere die bei der Bundesagentur für Arbeit geplanten Einsparungen die für 2006 beabsichtigten Entlastungen von Bürgern und Unternehmen zunichte machen. Statt eines Merkel-Aufschwungs sei eher ein »Merkel-Abschwung« zu erwarten, so Heilemanns Fazit. uch

Töchter: Linksruck Bei manchen ist es das Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit. Bei anderen lediglich die Abneigung gegenüber den Schnöseln von der Jungen Union. Gute Gründe, politisch nach links zu rücken, gibt es viele. Einer bislang eher unbekannten Ursache linker Überzeugungen sind nun jedoch der britische Wirtschaftswissenschaftler Andrew Oswald von der Universität Warwick und sein thailändischer Kollege

Foto: mauritius images

Süsser Fratz – will sie wirklich, dass Papa links wählt?

Nattavudh Powdthavee von der Universität London auf die Spur gekommen: Es sind die Töchter. Die beiden Wissenschaftler haben für die Jahre 1985 bis 2002 Umfragen zum Wahlverhalten der Bundesbürger ausgewertet und dabei festgestellt: Die Geburt einer Tochter lässt die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Vater SPD wählt, um 2,5 Prozentpunkte steigen. Die Geburt eines Sohnes dagegen lässt ihn eher zur Union tendieren. Ähnliches hatten die beiden Ökonomen schon für Großbritannien herausgefunden. Bei genauerem Hinsehen sei der anfangs verblüffende Zusammenhang durchaus plausibel, so die Forscher. Wer eine Tochter aufziehe, sehe die Welt stärker aus deren Sicht und ändere deswegen seine politischen Präferenzen. Da Frauen zum Beispiel noch immer weniger verdienten als Männer, steige das Interesse an einer stärkeren Umverteilung sowie allgemein das Bedürfnis nach einem stärkeren Staat. Beides werde eher mit der SPD als mit der CDU/CSU verbunden. uch

Frankreich: Profitsteuer Der Vorschlag begeisterte schon immer die Sozialisten aller Länder: Damit Unternehmen nicht länger Arbeiter durch Maschinen ersetzen, solle der Staat die Steuerlast auf Löhne sen-

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" MURSCHETZ ken und stattdessen die betriebliche Wertschöpfung besteuern. Jetzt hat der französische Präsident Jacques Chirac den Grundgedanken dieser »Maschinensteuer« wieder aufgegriffen: Künftig soll sich der Arbeitgeberanteil an den Sozialversicherungen weniger an den Löhnen als am Betriebsergebnis orientieren. Die Reaktion fällt naturgemäß unterschiedlich aus. Leistungsfähige Großbetriebe sehen sich für ihre hohe Produktivität bestraft, während sich kleine Firmen und Gewerkschaften über die Entlastung arbeitsintensiver Branchen freuen. Tatsächlich bedeutet der Präsidentenvorschlag im Extremfall, dass unrentable Manufakturen unterstützt und kapitalintensive Unternehmen, die in Forschung und Entwicklung investieren, belastet werden. Die meisten französischen Fachleute reden deshalb längst über andere Lösungen: Erst müssten die hohen Sozialabgaben sinken, dann könne man über steuerliche Anreize zur Erhöhung der Beschäftigung sprechen. mön

Zeitarbeit: Übernahme Bei der weltweit größten Zeitarbeitsfirma, dem Schweizer Unternehmen Adecco, zeichnet sich ein Ende der Personalprobleme an der Spitze ab. Im Zuge der am Montag verkündeten Übernahme des deutschen Konkurrenten DIS wechseln dessen Vorstandschef Dieter Scheiff sowie Finanzvorstand Dominik de Daniel in gleicher Funktion zu Adecco – für Adeccos Großaktionär Klaus Jacobs einer der Hauptgründe für die Übernahme. Der einstige Kopf der gleichnamigen Kaffeerösterei hatte Adecco seit dem Rücktritt von Vorstandschef Jerôme Caille im November übergangsweise selbst geführt. Der Konzern erzielte 2004 einen Umsatz von 17,2 Milliarden Euro und bietet für DIS insgesamt 636 Millionen Euro. Insbesondere die Personalie de Daniel sorgt für Aufsehen. Als Analyst hatte er einst den Börsengang von DIS betreut, Anfang 2002 avancierte er zum Finanzvorstand – und das ohne Abitur und im Alter von gerade einmal 26 Jahren. Seit seinem Amtsantritt hat de Daniel, der sich selbst einmal als Typ des »Ganz oder gar nicht« bezeichnete, bei Analysten Ansehen erworben, die Geschäftsberichte des im S-Dax notierten Unternehmens errangen erst jüngst in einem Ranking über alle Börsenindizes hinweg den zweiten Platz – hinter BASF. Jacobs sieht in dem heute 30Jährigen und Scheiff »das beste Managementteam der gesamten Branche«. So habe die Aktie von DIS über die vergangenen zwei Jahre um 189 Prozent zugelegt. sto

Bücher: Neuauflage Wenn Ökonomen neue Ideen entwickeln und sie auch noch verständlich darstellen, dann verdient das Beachtung. Das gilt im Prinzip auch für das bei dtv erschienene Taschenbuch Deutschland – was nun?. Herausgegeben hat es Klaus F.Zimmermann, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Auch die Koautoren sind ausgewiesene Experten. Erstaunlich jedoch, dass einem das als Originalausgabe verkaufte Werk merkwürdig bekannt vorkommt. Des Rätsels Lösung: Von den 20 Beiträgen sind zehn vor zwei Jahren schon einmal erschienen – herausgegeben von Klaus F. Zimmermann. Diese Urfassung Reformen – jetzt! brachte der Verlag Gabler auf den Markt. Immerhin sind die übernommenen Aufsätze auf den neuesten Stand gebracht. Das Taschenbuch ist also eine erweiterte, aktualisierte und (wie Autoren gern hinzufügen) verbesserte Neuauflage. Mithin eine Mogelpackung mit interessantem Inhalt – und der Beleg dafür, dass selbst Ökonomen nicht jedes Jahr etwas Neues einfällt. smi

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" ARGUMENT

Peer Steinbrück, bleibe hart Die Bundeskanzlerin wird nur Erfolg haben, wenn ihr Finanzminister ein strenges Regiment führen kann Von Wilfried Herz in erfolgreicher Finanzminister muss hart und stark sein. Das gilt auch für den Sozialdemokraten Peer Steinbrück in der Großen Koalition. Hart muss er sein, um Forderungen der anderen Minister nach Ausgaben abzuwehren, wenn sie den Bundeshaushalt überstrapazieren würden. Stark genug, um sich durchzusetzen, ist er nur, wenn er die Rückendeckung der Kanzlerin hat. Insofern hilft ihm die Versicherung von Angela Merkel auf der Kabinettsklausur im Schloss Genshagen, dass der Finanzminister »auf ihre volle Unterstützung und die des ganzen Kabinetts zählen« könne – wenn es nicht bloß bei diesen Worten bleibt. Selbstverständlich weiß Merkel genauso gut wie Steinbrück, dass die Koalition nur Erfolg hat, wenn sie den Bundeshaushalt in Ordnung bringt. Doch wie weit reicht die Rückendeckung im Regierungslager, und zwar von Union und SPD, für Steinbrück wirklich, wenn im konkreten Fall Leistungen gekürzt oder zusätzliche Ausgaben abgewehrt werden müssen? Die ersten Wochen im schwarz-roten Regierungsalltag haben trotz einiger Sparbeschlüsse für Skepsis gesorgt. Zumindest belegen sie, dass alle Beteiligten noch dazulernen müssen. Dem Finanzminister, der in seinem ersten Ministeramt in der schleswig-holsteinischen Landesregierung nicht umsonst den Spitznamen »Leutnant« bekam, haben die forschen Sprüche eher geschadet als genutzt, mit denen er öffentlich seine Kabinettskollegen zur Haushaltsräson rufen wollte. Mit einem vertraulichen Wort hinter verschlossenen Türen hätte Steinbrück vermutlich größere Wirkung erzielt. Umgekehrt waren die mehr oder weniger offenen Sticheleien gegen Steinbrück, dass er zu weich oder auch dass er sozial zu hart sei, keine guten Zeichen für die Zukunft. Allerdings war dem Finanzminister von Anfang an bewusst, dass er die Rolle des bad guy, des bösen Buben, im Kabinett spielen müsste. Das zumindest scheint ihn nicht weiter zu grämen. Doch weitaus gravierender als die atmosphärischen Störungen war, dass Steinbrück an wichtigen Finanzentscheidungen gar nicht beteiligt wurde oder mangels Rückhalt nachgeben musste. Immerhin sind die Löcher im Haushalt deutlich gewachsen, seit Rot und Schwarz ihren Koalitionsvertrag schlossen. Hier zusätzliche Milliardenbeträge für die Europäische Union oder die Kom-

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Recht sagt, ein »Spannungsverhältnis zwischen Haushaltskonsolidierung und Wachstumsförderung«. Dennoch geht es nicht nur um überzeugende Worte, sondern auch um Taten. Erst Gas geben und dann abrupt bremsen – das kann auch versierte Regierungslenker ins Schleudern bringen. Deshalb wird nicht erst der Bundeshaushalt 2007, mit dem die Regierung die Nettokreditaufnahme halbieren und zum ersten Mal seit Jahren wieder die Verschuldungsgrenzen des Grundgesetzes und des europäischen Stabilitätspakts einhalten will, zur Nagelprobe für den Berliner Kassenchef. Der Finanzminister muss schon im Bundeshaushalt für das laufende Jahr, dessen Entwurf die Regierung Ende Februar verabschieden will, die Weichen stellen, damit die Neuverschuldung im nächsten Jahr tatsächlich sinken kann. Je mehr bleibende Ausgaben und Steuervergünstigungen in diesem Jahr beschlossen werden, desto größer wird die Etatlücke, die 2007 zu schließen ist. Tatsächlich muss der der gesamten schwarz-roten Bundesregierung hat der Finanzminister in den kommenden Finanzminister keine Chance, den Bundeshaushalt Wochen bei den vorbereitenden zu sanieren. Die Weichen für den Sparetat im nächsten Chefgesprächen mit den übrigen Kabinettsmitgliedern viele Male Jahr müssen schon heute gestellt werden nein sagen. Nur dann kann er die Gefahr meiden, dass ihm der HausBevölkerung verständlich zu machen, warum die halt im nächsten Jahr aus dem Ruder läuft und Regierung einerseits die Sanierung des Budgets zu die Regierung ihre für 2007 proklamierten Ziele einem ihrer wichtigsten Ziele erklärt, andererseits verfehlt. Nicht bloß dem amtierenden Finanzminister, aber in diesem Jahr deutlich mehr als vierzig Milliarden Euro an neuen Schulden aufnimmt – mit- auch dem gesamten schwarz-roten Kabinett sollhin mehr als Steinbrücks Vorgänger Hans Eichel te das Schicksal von Steinbrücks Vorgänger Hans (SPD) und Theo Waigel (CSU) in ihren schlimms- Eichel ein warnendes Beispiel sein. Als dessen ständige Mahnungen zur Haushaltsdisziplin seiten Jahren. Die im Koalitionsvertrag niedergeschriebene nen Mitregierenden zunehmend lästig wurden Absicht, zunächst das Wirtschaftswachstum zu und Kanzler und Kabinett nicht mehr hinter fördern und erst mit einjähriger Verzögerung ihrem einstigen Star standen (»Lass gut sein, einen harten Konsolidierungskurs einzuschlagen, Hans!«), verspielte die rot-grüne Regierung viel ist im Prinzip durchaus richtig. Denn ohne Glaubwürdigkeit. Die Bundesregierung könnte keinen schlimWachstum und die damit stärker sprudelnden Steuereinnahmen wären die Bundesfinanzen nie meren Fehler begehen, als ihren Finanzminister zu sanieren. Schon in diesem Jahr die Ausgaben allein zu lassen. Das wäre unweigerlich mit einem drastisch zusammenzustreichen würde das noch erheblichen Vertrauensverlust in der Bevölkerung recht zarte Pflänzchen eines Wirtschaftsauf- verbunden. Insofern ist Steinbrück stärker, als seischwungs gleich wieder zertrampeln – und am ne Kritiker in der Regierungskoalition glauben. Ende wäre auch für die Staatsfinanzen nichts ge- Er muss diese Stärke nutzen. Dann kann er nicht wonnen. Es gibt nun einmal, wie Steinbrück zu nur hart tun, sondern auch hart sein. munen, dort ein- oder zweistellige Millionensümmchen als zusätzliche Hilfen für Kinderbetreuung oder Dienstleistungen in Privathaushalten – eine verlässliche Haushaltspolitik wird anders betrieben. Dass bei den gewichtigsten Entscheidungen die CDU-Kanzlerin Merkel und der SPD-Vizekanzler Franz Müntefering die Urheber waren, macht es für Steinbrück nicht besser. Eine Regierung, die so handelt, ramponiert ihren Finanzminister. Es spricht allerdings für die Lernfähigkeit aller Beteiligten, dass Steinbrück seinen Anspruch durchsetzen konnte, künftig im Koalitionsausschuss mitzuverhandeln. Die Regierungsmitglieder, egal ob mit schwarzem oder mit rotem Parteibuch, täten gut daran, mit dem Finanzminister pfleglich umzugehen. Denn es ist vor allem die Aufgabe Steinbrücks, der

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WISSEN

Kernkraft der Seele Der Entdecker des LSD, Albert Hofmann, wird 100 Jahre alt. Auf einem Treffen in Basel feiern ihn die Fans der Psychodroge Seite 38

Der letzte Bruder Vor 150 Jahren wurde der Neandertaler entdeckt. Nun wird er gefeiert.Wie waren unsere Verwandten? von Ulrich Bahnsen alf Schmitz erinnert sich noch genau an den Tag, an dem er den Frevel beging. An diesem Morgen im Sommer 1996 entriegelte der Vorgeschichtsforscher einen massiven Stahlschrank, zog einen der kostbarsten Kulturschätze Deutschlands heraus und befahl der Präparatorin Heike Krainitzki, das Kleinod auseinander zu sägen. Ein »ziemlich eigenartiges Gefühl« habe ihn beschlichen, gesteht Schmitz, als sich Krainitzkis sterilisierte Goldschmiedesäge in den fossilen Neandertaler-Knochen fraß. »Das Stück ist schließlich eine Ikone der deutschen Archäologie.« Er selbst, berichtet Schmitz, habe den herausgetrennten Block in ein keimfreies Plastikröhrchen gesteckt, eigenhändig im Auto nach München gefahren und dem Molekulargenetiker Svante Pääbo zur Prüfung übergeben. Zwölf Monate später, im Juli 1997, meldete das Fachblatt Cell eine Sensation auf der Titelseite: Neandertals not our ancestors. Nach Pääbos Erbanalyse waren die Neandertaler, jenes rätselhafte Volk europäischer Ureinwohner, nicht etwa unsere Vorfahren, sondern bestenfalls entfernte Verwandte. Mit diesem Befund begann eine neue Ära in der Urmenschenforschung, der Aufstieg der Paläoanthropologie zu einem High-Tech-Gewerbe. In diesem Jahr, 150 Jahre nach dem ersten Fund eines Neandertaler-Fossils, sollen ihre Ergebnisse ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gestellt werden. 2006 ist für Archäologen nicht das Jahr Mozarts oder Freuds, sondern das des Neandertalers. Der Urmensch aus der Nähe von Düsseldorf wird gleich mit drei Ausstellungen gefeiert, im Rheinischen Landesmuseum Bonn werden dazu 250 Originalfossilien aus der ganzen Welt gezeigt (siehe Seite 35). Dabei präsentiert sich eine hochmoderne Disziplin. Wo einst mit Spaten, Zirkel und Pinzette zu Werke gegangen wurde, erforschen die Gelehrten heute die menschliche Evolution in Genlabors, durchleuchten die Überreste von Vormenschen in hoch auflösenden Computertomografen oder setzen Skelette virtuell zusammen (Seite 34). Die Entdeckung im Jahr 1856 jedoch war ein Zufallsfund. In einem Steinbruch im Neandertal bargen Arbeiter 16 fossilierte Skelettteile, nicht ahnend, was sie da in Händen hielten. »Nach Untersuchung«, meldete die Elberfelder Zeitung am 6. September 1856, »gehörte daß Wesen zu dem Geschlechte der Flachköpfe, deren noch heute im amerikanischen Westen wohnen.« Zu klären sei, meinte das Blatt, »ob diese Gerippe einem mitteleuropäischen Urvolke oder bloß einer (mit Attila) streifenden Horde angehört haben«. Doch bald zwang der Fund die Menschheit zu einer schockierenden Erkenntnis: Offensichtlich war der Homo sapiens nur der Nachfolger früherer, primitiverer Vorfahren. Diese Einsicht kam damals, drei Jahre bevor Darwin seine Evolutionstheorie veröffentlichte, einer Revolution gleich. Erst viel später erkannten die Gelehrten, dass der bis heute als Originalfund gehandelte Knochenschatz aus dem Neandertal in Wahrheit gar nicht der erste war: Schon Jahrzehnte zuvor waren fossile Überreste von Neandertalern in Belgien und bei Gibraltar zutage gekommen. Sie wurden nicht beachtet – evolutionäre Vorfahren des Menschen galten schlicht als undenkbar. Kaum verwunderlich also, dass die deutsche Entdeckung von Beginn an heftige Kontroversen auslöste. Die Dispute sind bis heute nicht verstummt. Hunderte von Neandertal-Funden sind in den vergangenen 150 Jahren aufgetaucht. Ihre Verbreitung zeigt vor allem eines: wie groß das über 200 000 Jahre währende Reich der Neandertaler wirklich war (siehe Karte Seite 34). Auf der Iberischen Halbinsel, in Frankreich finden sich ihre Spuren, auf dem Balkan bis in das westliche Asien und den Vorderen Orient. Sonst aber türmen sich Fragen über Fragen: Wer waren diese dem heutigen Menschen schon so ähnlichen Ureinwohner? Sprachen sie schon, glaubten und liebten sie?

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linge aus Afrika bereits ein weit verzweigtes Fernhandelssystem mitgebracht zu haben; auch das erleichtert das Überleben unter widrigen Bedingungen. Schon wenn die Geburtenrate der Neandertaler durch die neue Konkurrenz um nur zwei Prozent unter die der Todesfälle rutschte, wären sie ganz ohne Gewalteinwirkung der Invasoren binnen weniger Jahrhunderte von der Bildfläche verschwunden. Aus diesen Befunden auf ein friedvolles Dahinscheiden der Vormenschen zu schließen sei allerdings verfehlt, sagt Tattersall. Angesichts der Brutalität, zu der Menschen auch heute fähig seien, »dürften Begegnungen zwischen beiden Gruppen selten fröhlich verlaufen sein«, mutmaßt der Forscher. Denn auch der Neandertaler kann kaum als Typus des »edlen Wilden« durchgehen, der sich friedfertig durch die Mittlere Steinzeit mühte. Vielmehr trafen die Invasoren aus Afrika in Europa auf versierte Totschläger. Das stellten die Zürcher Forscher Christoph Zollikofer und Marcia Ponce de León vor vier Jahren bei der erneuten Untersuchung eines Neandertaler-Schädels fest, der bereits 1979 bei St. Césaire in Frankreich zum Vorschein gekommen war. Der junge Mann muss eine Schädelfraktur erlitten haben, sein Kontrahent hatte ihm eine spitze Waffe glatt durch die Schädeldecke gerammt. Die »hohe Verletzungsgefahr durch Waffengewalt dürfte eine wichtige Rolle in der Evolution des Sozialverhaltens der Hominiden« gespielt haben, notierten die Schweizer Forscher trocken. Allerdings zeigte der Fund auch, dass damals schon Fürsorge zum Repertoire des Hominiden gehörte. Denn das Opfer überlebte, wenn auch knapp, die Knochenwunde war verheilt. Der Schwerverletzte aus St. Césaire muss gepflegt worden sein.

flacher, der Hinterkopf runder. Typisch sind Überaugenwülste und das fehlende Kinn. Ihre Gestalt muss plump gewirkt haben, mit kurzen Armen und Beinen, doch die Muskelansatzstellen auf ihren Skeletten lassen auf berserkerhafte Kräfte schließen. Und Neandertaler beerdigten ihre Toten, wenn auch keine Belege für rituelle Bestattungen oder religiöse Zeremonien existieren. Wieso wurden sie, seit Jahrzehntausenden angepasst an das harsche Klima des damaligen Europas, hinweggefegt von einer Art, die im brutheißen Afrika entstanden war? Seit Jahrzehnten suchen die Fachgelehrten nach Antworten. Denn die Umstände ihres Aussterbens, so sagt der amerikanische Anthropologe Ian Tattersall, werfe auch »neues Licht auf die Natur des Menschen«. Was das angeht, hält Tattersall eine wenig erbauliche Einsicht parat. »Der Mensch ist nicht die aggressivste Spezies auf dem Planeten«, urteilt der Kurator am American Museum of Natural History in New York, »aber die Intelligenz, mit der er seine Aggressivität einsetzt, macht ihn zum gefährlichsten Geschöpf der Evolution.« Führte die Eroberung Europas zum ersten Genozid der Geschichte? An einen Vernichtungsfeldzug glaubt kaum ein Experte. Schon angesichts der geringen Kopfzahl beider Gruppen dürften Begegnungen zwischen Neandertalern und modernen Menschen nicht gerade an der Tagesordnung gewesen sein. »Es war sicher nicht so, dass die sich jeden Morgen im Donautal getroffen haben«, sagt Max-Planck-Forscher Hublin. »Europa war eine eher menschenleere Welt.« Wahrscheinlich erscheint ein Szenario allmählicher Verdrängung, wie es der amerikanische Anthropologe Erik Trinkaus vertritt. Demnach konkurrierten Mensch und Neandertaler um Jagdgründe, fischreiche Seen und Wohnhöhlen. Und da seien die Ureinwohner Europas ihren afrikanischen Gegnern kognitiv unterlegen gewesen, glaubt die Mehrzahl der Fachleute. Den Neandertalern habe es – trotz vergleichbaren Hirnvolumens – an »der Fähigkeit zu komplexer Sprache und abstraktem symbolischen Denken« gemangelt, behauptet der britische Paläoanthropologe Chris Stringer. »Der Neandertaler war in vielen Dingen sehr gut«, meint der Forscher vom Museum of Natural History in London, »aber er war anscheinend kein großer Erfinder.« In der Tat zeigen die Forschungen, dass Homo sapiens in größeren, schlagkräftigeren Gruppen lebte, seine Umwelt besser nutzte, ihr mehr Nahrungskalorien abtrotzte. Die Herrschaft über Jagdreviere muss von enormer Bedeutung gewesen sein: Die Nahrung, zumindest die der Neandertaler, dürfte zu 90 Prozent aus Fleisch bestanden haben. Außerdem scheinen die Neuankömm-

Die Invasoren aus Afrika trafen in Europa auf versierte Totschläger

In moderner Kleidung würde der Neandertaler kaum auffallen. Aber sein Skelett unterscheidet sich deutlich von dem eines modernen Menschen

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DIE ZEIT

Schon ihre Herkunft ist weithin rätselhaft. Die von Svante Pääbo analysierten Gensequenzen belegen zwar, dass die Evolution von Mensch und Neandertaler bereits seit einer halben Million Jahren auf getrennten Wegen verlief. »Und einige Funde zeigen, dass es sehr frühe Formen der Neandertaler vielleicht schon vor 400 000 Jahren gab«, berichtet Pääbos Kollege Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Doch die ältesten europäischen Neandertaler-Fossilien sind gerade einmal 130 000 Jahre alt. Waren sie nur eine europäische Seitenlinie des Homo erectus, des ersten Hominiden, dem die Auswanderung aus der afrikanischen Heimat gelang? Am meisten aber fasziniert die Gelehrten das finale Drama der Neandertaler: ihr Untergang vor etwa 30 000 Jahren. Unbestritten ist, dass dafür die Ahnen der heutigen Europäer, die aus Afrika vorrückenden Horden des Homo sapiens, verantwortlich waren. Binnen weniger tausend Jahre verschwanden die Neandertaler von der Bühne. Mit ihnen rissen die afrikanischen Eroberer auch die letzten Nachfahren des Homo erectus in Südostasien und vermutlich auch die erst vor zwei Jahren auf der Insel Flores entdeckten zwergwüchsigen »Hobbits« ins Verderben. Der Mensch ist der einzige Überlebende der einst weit verzweigten Gattung Homo. Doch warum scheiterten die Neandertaler? Offensichtliche Gründe sind nicht erkennbar. Ihr Hirn war groß wie das des Menschen, das Schädeldach allerdings

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AUS DEM INHALT 34 RETTUNG IM RECHNER Die virtuelle Realität macht fossile Knochen für alle Forscher zugänglich Von Stefanie Schramm

35 DAS KULTURWESEN Die wechselnden Vorstellungen von den europäischen Urmenschen. Ein Spaziergang mit Gerd-Christian Weniger, dem Direktor des Neanderthal Museums Von andreas Sentker

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Foto: Ken Mowbray/American Museum of Natural History

Foto [M]: Volker Steger/Nordstar/SPL/Agentur Focus

Warum wurden die Neandertaler von den Menschen aus Afrika hinweggefegt?

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Ob und vor allem wie lange die Neandertaler indessen Gelegenheit zum Handgemenge mit den Invasoren hatten, steht neuerdings wieder infrage. Die Indizien für eine viele Jahrtausende (von 35 000 bis 29 000 Jahre vor heutiger Zeit) währende Koexistenz bröckeln zusehends. Das liegt an einem nagenden Dauerproblem, das die gesamte Zunft der Paläoanthropologen mürbt: Die Altersbestimmungen der meisten Fossilien sind reichlich unzuverlässig. »Alle Datierungen, die vor 1990 durchgeführt wurden, kann man glatt vergessen«, sagt Vormenschenforscher Hublin. Eine tragende Säule der Koexistenzthese hat der US-Anthropologe Trinkaus gerade abgeräumt. Zwei Neandertaler-Fossilien aus der Vindija-Grotte in Kroatien, denen die erste Datierung ein Alter von nur 28 000 und 29 000 Jahren attestiert hatte, dienten als einer der wichtigen Belege für ein langes Überleben der Neandertaler in Südosteuropa. Zusammen mit britischen Kollegen unternahm Trinkaus vor wenigen Monaten eine Neubestimmung des Fundes mit dem modernsten Radiokarbon-Messverfahren. Das Ergebnis ist niederschmetternd: Die Funde sind in Wahrheit 4000 Jahre älter. Zugleich haben sich einige der als besonders alt eingestuften menschlichen Knochenfunde inzwischen als deutlich jünger erwiesen. Die Multikultiphase in der Steinzeit schrumpft. Damit schwindet indessen auch die Wahrscheinlichkeit für menschliche Übergriffe auf die Neandertalerin – und damit ein Lieblingsdisput der Fachwelt. Angesichts der sexuellen Obsession des Homo sapiens, der einzigen Kraft, vor der die sonst so undurchdringlichen Barrieren von Rasse, Religion, Kaste und Kultur dahinschwinden, argumentiert der US-Autor James Shreeve, sei wohl anzunehmen, dass es auch zu Romanzen zwischen Angehörigen beider Arten gekommen sei. Manche meinen gar, der Neandertaler sei gar nicht ausgestorben, sondern von den Invasoren durch Vermischung einfach aufgesogen worden. Haben sie also, oder haben sie nicht? Eher nicht. Virtuelle Rekonstruktionen des Schädelwachstums zeigen bereits bei Kleinkindern gravierende Unterschiede zwischen Mensch und Neandertaler. Erst recht entzogen Genanalysen den Mutmaßungen über gemischtrassigen Sex weithin den Boden. Inzwischen liegen Gensequenzen von einem knappen Dutzend Neandertaler-Fossilien vor. Ihre Botschaft ist ziemlich eindeutig. Zumindest im Erbgut der Mitochondrien, der Energielieferanten in den Zellen, unterscheiden sich Mensch und Neandertaler so beträchtlich, dass sie wohl verschiedenen Arten zuzurechnen sind. Angesichts der bislang bekannten Gendaten, rechneten die Schweizer Populationsgenetiker Matthias Currat und Laurent Excoffier kürzlich vor, habe es selbst in 12 000 Jahren Koexistenz maximal 120 Mischlinge von Mensch und Neandertalern geben können – gleichbedeutend mit »praktisch vollständiger Sterilität zwischen Neandertal-Frauen und Homo-sapiensMännern«. Das bedeutet nicht, dass sexuelle Abenteuer zwischen Mensch und Ureuropäern nie vorkamen. Nur – sie blieben folgenlos. So dürften Aufstieg und Fall der Neandertaler noch lange Zeit ein Mysterium bleiben. Praktisch alle Vorstellungen zum Leben, Wesen und Aussterben der Neandertaler seien nur mehr oder minder gut begründete Spekulation, sagt der US-Forscher Trinkaus. Denn letztlich, so sein nüchternes Urteil, seien nur zwei Fakten gewiss: Vor 35 000 Jahren lebten die Neandertaler noch. Und: »Sie sind alle tot.« Am 6. August ehrt Deutschland ihr Andenken mit einer Sonderbriefmarke.

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Endlich Knochen für alle Menschliche Fossilien sind kostbare Einzelstücke. Digitale Technik macht sie erstmals den Forschern zugänglich von Stefanie Schramm

Mit einem Computertomografen touren die Paläontologen um die Welt Die Virtuelle Paläontologie bietet völlig neue Einblicke. Verborgene Strukturen wie das Innenohr werden auf Computertomogrammen sichtbar. Der grafische Meißel befreit Fossilien schonend vom Umgebungsgestein, Bruchstücke werden ohne Gips und Klebstoff zusammengesetzt, fehlende Teile durch Spiegelbilder vorhandener Fragmente oder aus einer Datenbank ergänzt. Und Deformationen, entstanden durch Verschiebungen von Gesteinsschichten, können mit Entzerrungsalgorithmen aus dem virtuellen Fossil herausgerechnet werden. Zunächst aber muss der Neandertaler in den Rechner. Dafür haben sich die Leipziger Paläoanthropologen einen industriellen CT-Scanner zugelegt. Auf dem Objektteller dreht sich wie in einer Mikrowelle ein Fossil. Schicht für Schicht wird es von Röntgenstrahlen durchleuchtet. Der Tomograf schafft eine Auflösung von fünf Tausendstel Millimetern, 100-mal so viel wie ein medizinischer Scanner. Leider ist er etwas unhandlich; eine Tonne wiegt das Gerät, das Zubehör noch einmal eine halbe.

Aufzugstüren öffnen sich zu dem Sechs-Quadratmeter-Raum, den die Maschine ausfüllt. Mit dem Lift kann das Ungetüm von der Stelle bewegt werden, es soll auf Reisen gehen. Da die Museen ihre kostbaren Fundstücke ungern herausrücken, müssen die Forscher zu den Fossilien kommen. Die Leipziger bauen deshalb ein Scan-Mobil, mit dem sie um die Welt touren wollen. Noch warten sie auf den Container mit Bleiverkleidung, in dem der Scanner betrieben werden soll. Zehn Tonnen wird die Sicherheitsverpackung wiegen. Während der CT-Scanner mit dem Flugzeug reist, wird der Container verschifft. Vor Ort packen die Wissenschaftler den Tomografen in die Bleikiste und verladen das Ganze auf einen Lastwagen. Damit fahren sie bei den Museen vor. Südafrika ist das erste Ziel, danach wollen sie Überreste von Neandertalern im kroatischen Krapina aufnehmen. Und im Sommer wird das Scan-Mobil in Bonn Halt machen, um die Exponate der Jubiläumsausstellung Roots – Wurzeln der Menschheit im Rheinischen Landesmuseum zu tomografieren. »Das ist nicht einfach nur eine schicke Maschine, mit der wir uns Schädel und Zähne angucken können«, sagt MPI-Direktor Hublin. »Es geht auch nicht einfach um Zähne, sondern um viel mehr.« Etwa darum, wie schnell Neandertaler erwachsen wurden. Der Computertomograf bringt die innere Struktur der Zähne zum Vorschein, die Dicke des Zahnschmelzes lässt auf das Alter zum Zeitpunkt des Todes schließen. Zähne wachsen nämlich ähnlich wie Bäume in Ringen, nur dass ein Ring einem Tag entspricht. Schafft man es, die feinen Schichten zu zählen, kann man das Alter sehr genau bestimmen. Dazu reicht auch die High-Tech-Ausrüstung am Leipziger MPI nicht. Deshalb packten die Paläoanthropologen ihre Neandertaler-Zähne ein und fuhren damit nach Grenoble zur European Synchrotron Radiation Facility (ESRF). Im Teilchenbeschleuniger ließen sie die Zähne durchleuchten; winzige Mikrostrukturen, auch die Tagesringe, wurden sichtbar. »Das war eine unglaubliche Erfahrung«, erzählt Hublin. Und eine teure: 10 000 Euro kostete der Forschungsnachmittag. Mit den Daten aus dem Teilchenbeschleuniger haben die Forscher in Leipzig ihre CT-Bilder geeicht. Aus der Zahnschmelzdicke, die sie mit eigenen Geräten messen können, leiten sie die Zahl der Tagesringe und damit das Alter des Neandertalers ab. So fanden sie weitere Hinweise darauf, dass Neandertaler sich um 10 bis 15 Prozent schneller entwickelten als moderne Menschen. Zähne sind eines der liebsten Forschungsobjekte der Paläontologen, weil sie die Zeit gut überdauern und viel aussagen können über die Lebensweise unserer Vorfahren. Auch der Anthropologe Christoph Zollikofer von der Universität Zürich interessiert sich dafür. Im Mikro-Computertomografen seines Instituts hoch über der Stadt durchleuchtet er gerade einen Unterkiefer. Verglichen mit dem Scanner in Leipzig, ist die blaue Box handlich, dafür passen nur kleine Objekte hinein, Zähne oder Kieferteile. Wollen die Zürcher große

Knochen scannen, müssen sie umziehen, erklärt Zollikofer. »Wenn es schnell gehen muss, benutzen wir den Tomografen im Universitätsspital; wenn es besonders genau werden soll, gehen wir zur Eidgenössischen Materialprüfungsanstalt. Die hat einen Industriescanner.« Die Ergebnisse der Durchleuchtung holt Zollikofer auf die Bildschirme im Computerraum seines Instituts. Auf einem Monitor dreht sich das digitalisierte Innenohr eines Neandertalers, der im französischen Le Moustier gefunden wurde. Auf einem zweiten Bildschirm durchsucht Zollikofer den Ordner-Stammbaum, klickt auf einen gelben Folder mit dem Namen Homo sapiens und öffnet die dort abgelegte Innenohr-Datei. Der Anthropologe fährt mit dem Cursor einen der drei gekrümmten Kanäle des Innenohrs entlang: »Der hintere Bogengang liegt beim Neandertaler im Verhältnis zum seitlichen Bogengang normalerweise tiefer als beim modernen Menschen.« Aber ausgerechnet dieses Menschenexemplar hat ebenfalls einen recht flachen hinteren Bogengang, ganz ähnlich wie der Neandertaler. »Wenn man sich nur ein Merkmal anschaut, kann man ganz schnell die falschen Schlüsse ziehen«, sagt Zollikofer. Um Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Vettern genauer bestimmen und Fossilien richtig zuordnen zu können, betrachten er und seine Kollegen deshalb eine Fülle von Merkmalen. Auch dabei hilft der Computer. »Früher konnte man mit dem Zirkel nur einzelne Distanzen auf den Schädeln abmessen und vergleichen, heute geben wir einfach einen Haufen Messpunkte ein und lassen den Computer einen quantitativen Vergleich berechnen – in drei Dimensionen.«

Die Software berechnet aus einzelnen Funden den Norm-Neandertaler Mit kleinen roten Pfeilen markiert Zollikofer die Messpunkte auf dem Schädel, das Fossil wird virtuell in ein Netz aus Dreiecken zerlegt. Aus je etwa 50 Individuen hat der Forscher einen Durchschnittsmenschen und den Norm-Neandertaler errechnet. Die Abweichungen eines einzelnen Fossils vom Mittelmaß dieser oder jener Hominidenart zeigt das Programm mit grünen Pfeilen an. Welche Funktion die Unterschiede hatten und ob sie überhaupt eine hatten, verrät der Computer nicht. »In der klassischen Paläoanthropologie wurde oft geraten. So dachten die Forscher, die ausgeprägten Überaugenwülste des Neandertalers wären dazu da gewesen, die Kräfte beim Kauen abzuleiten«, erzählt Zollikofer. Seine Kollegin Marcia Ponce de Léon schaut ihn scharf an: »Dabei hat der Christoph das auch ganz stark.« – »Genau. Wenn mich mal einer findet, glaubt der vielleicht, das wär zum Brilleabstellen«, sagt Zollikofer und schiebt seine Hornbrille auf die Stirn. »Wir drehen jetzt den Spieß um und schauen uns an, wie sich die Merkmale im Laufe des Lebens entwickelt haben.« Dazu hat Zollikofer seinen Computer mit Schädel-Scans von Neandertalern und modernen Menschen verschiedenen Alters gefüttert. Ein

halbes Jahr alt ist der jüngste Neandertaler-Fund; vom Jetztmenschen hat er auch CT-Bilder, die kurz nach der Geburt aufgenommen wurden. »Wenn ein Neandertaler-Baby gefunden würde, wär das toll«, meint Ponce de León. Das könnte die These der beiden stützen: Der virtuelle 3-DVergleich zeigt, dass sich die Kopfform von Neandertaler und Homo sapiens sehr früh unterscheidet, vermutlich schon vor der Geburt. Darin sehen die beiden Paläoanthropologen einen Hinweis darauf, dass Neandertaler und moderner Mensch verschiedene Arten sind. Auch das erste Exemplar, das vor 150 Jahren in der Nähe von Düsseldorf gefunden wurde, hat Zollikofer in seinem Computerlabor bearbeitet. Die Fragmente aus dem Neandertal hat der Anthropologe mit einem Schädelfund aus La Ferrassie hinterlegt. »Die sahen sich wahrscheinlich ziemlich ähnlich«, meint Zollikofer. Wie ein Geist schwebt der französische Neandertaler durchscheinend unter dem deutschen Schädeldach und ergänzt die fehlenden Partien. Der Original-Neandertaler hat endlich ein Gesicht bekommen. Das Bild vom Neandertaler weiter zusammensetzen – das ist auch das Ziel des Projekts »The Neanderthal Tools« (TNT). Seit zwei Jahren basteln Wissenschaftler von Universitäten und Museen in Poitiers, Zagreb, Mettmann und Brüssel zusammen mit Programmierern und Multimedia-Fachleuten an einer virtuellen Plattform, auf der sich Neandertaler-Forscher austauschen können. Im März soll die Datenbank Nespos (Neanderthal Studies Professional Online Service) auch für externe Wissenschaftler freigeschaltet werden, pünktlich zum Jubiläum. »Der Prototyp funktioniert schon, wir haben bisher ungefähr 50 3-D-Modelle von Fossilien und Artefakten eingegeben«, sagt Flora Gröning, die das Projekt am Neanderthal Museum in Mettmann koordiniert. Zum Schluss sollen 600 Schädel, Knochen, Zähne, Werkzeuge und Schmuckstücke zugänglich sein – die größte digitale Sammlung von Neandertaler-Funden. Und sie soll weiterwachsen: Die Forscher werden neue Daten hochladen und vorhandene bearbeiten können, in ihren eigenen virtuellen Arbeitsgruppen. Gröning rechnet mit 2000 Nutzern weltweit, von etwa 200 Institutionen. Neben den Fundstücken werden auch die Fundstätten zu besichtigen sein. Am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam bauen Programmierer aus den Daten von Anthropologen virtuelle Ausgrabungswelten. »Die Forscher können dann ihren Fundplatz in der 3-D-Landschaft lokalisieren, ihre aktuelle Perspektive abspeichern und die Kollegen zur Diskussion einladen«, erklärt Gröning. Finanziert wird die Neandertaler-Datenbank von der Nespos Society, einem eigens gegründeten Verein. Eines der Vorstandsmitglieder ist Jean-Jacques Hublin. Der MPI-Direktor denkt bereits über neues Zubehör für seine Virtuelle Realität in Leipzig nach. »Ein mittelgroßer CTScanner für Kiefer wäre schon praktisch.« 0,013

La Chapelle Combe Grenal La Ferrassie Jaurens Le Moustier Pech de I’Aze Regordou La Chaise Delanunay Les Pradelles La Quina

vor Mio. Jahren

Frühe Europäer

Couvin Engis Sclayn Spy Trou Walou

Verbreitung der Neandertaler-Funde Kulna Sala nad Vahom Sveduv stul ´

0,04

Homo erectus

> 0,78

Pontnewydd Sarstedt Warendorf Biache

Homo neanderthalensis

1,0

Lebenstedt Ehringsdorf

Sipka Ochtendung Ganovce ´ Montagne de Girault Hohle Fels Arcy-sur-Cure Subalyuk Aven de Sesselfels Remete Felsö Vergranne St. Cesaire ´ Kiik Mezmaiskaja Vergisson Vindija Dzerava Skala ´ Barakajeskaja Koba Azlor Hortus Lezetxiki Zaskal’noje VI Krapina Moula Atapuerca Sakashia Bronze Cave Ohaba Valdegoba La Niche Orgnac 3 Saccopastore Ortvala Djruchula Ponor Los Casares Klde Figueira Breuil Guattari Brava Cova Negra El Salt Shanidar Zafarraya Dederiyeh Garigüela Lakonis Devil’s Tower Forbes’ Quarry Amud Tabun Kebara

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0,195 0,2 Homo

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>klassische< Neandertaler

Homo heidelbergensis

Neandertal

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heute 0,027 0,2

sapiens

0,5

frühe Formen des Neandertalers

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1,5

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Homo antecessor Homo floresiensis 1,8 Homo ergaster

2,0 2,1

Homo habilis Teshik-Tash

2,5

2,5

Homo rudolfensis

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Computer-Rekonstruktion: Marcia Ponce de León, Christoph Zollikofer/Universität Zürich

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chenfunde sind Einzelstücke, sorgsam gehütet von den Museen. Um sie zu schützen und trotzdem mehr Forschern zugänglich zu machen, wurden bislang Abgüsse angefertigt. Die Methode hat jedoch ihre Grenzen, wichtige Details können verloren gehen. Virtuelle Abgüsse dagegen erschließen auch winzige Strukturen und können beliebig oft vervielfältigt werden. So können Forscher schneller mehr Fossilien untersuchen und vergleichen, ohne Zeit und Geld für Reisen zu den Museen aufwenden zu müssen.

Die Gattung Homo

ZEIT-Grafik/Quelle: Vom Neandertaler zum modernen Menschen, Jan Thorbecke Verlag; GEOkompakt

ean-Jacques Hublin fuchtelt mit einem pyramidenartigen Gebilde herum, an dessen Enden silbrige Kugeln stecken. Auch auf der dunkel getönten Brille des Professors für Anthropologie sitzen Silberkugeln an kleinen Antennen. Hublin steht im Virtual-Reality-Room des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig; hier ist das Zentrum der künstlichen Welt, in der die Paläontologen arbeiten. Auf einer Leinwand dreht sich das digitalisierte Bild eines Neandertaler-Schädels, zusammengesetzt aus Aufnahmen aus dem Computertomografen. Der Institutsdirektor ist begeistert: »Ich mag dieses Spielzeug richtig gern.« Durch die Brille sieht er sein Forschungsobjekt in drei Dimensionen. Erst seit wenigen Wochen gibt es die Zentrale für simulierte Wirklichkeit am Max-Planck-Institut. Noch funktioniert die Virtuelle Realität in Leipzig nicht ganz: Das »Tracking System« ist bisher nicht einsatzbereit, die Silberkügelchen auf der Brille des Direktors deshalb noch ohne Funktion. Später sollen sie die Strahlen von zwei Infrarotkameras reflektieren und damit ermöglichen, den Standpunkt des Betrachters zu orten. Wird dieser mit den Fossiliendaten verrechnet, soll das 3-D-Objekt auf der Leinwand auch dann nicht verzerrt erscheinen, wenn der Forscher seinen Blickwinkel ändert. »Wir werden um die Schädel herum laufen können«, schwärmt Hublin. Dann wird auch das pyramidenförmige Gestell zum Einsatz kommen. Es handelt sich um eine 3D-Computermaus. Mit ihrer Hilfe werden die Wissenschaftler ihre Forschungsobjekte im künstlichen Raum drehen und wenden können. Die virtuellen Welten sollen gleich zwei reale Ressourcenprobleme der Paläoanthropologen lösen: die Fossilien- und die Geldknappheit. Menschliche Kno-

Vom Kleinkind zum Erwachsenen: Der Computer zeigt die Entwicklung des Neandertalers

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2. Fassung!

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Die zweite Menschwerdung Auch ein Fossil muss sozial integriert werden. Ein Gespräch mit Gerd-Christian Weniger, dem Direktor des Neanderthal Museums, über das politisch korrekte Bild vom Urmenschen Von Andreas Sentker dreidimensional zugänglich machen soll. Bisher wacht jeder Forscher eifersüchtig über seine Knochen. Wird die virtuelle Anthropologie die Wissenschaft quasi demokratisieren? Weniger: Was da bisher geschieht, hat nur bedingt mit Wissenschaft zu tun … ZEIT: … sondern mit Macht- und Ränkespielen. Weniger: Ja, ganz genau. Wer den Knochen im Schrank hat, entscheidet, welcher Forscher ihn zu sehen bekommt – und welcher nicht. Dabei gehören die Funde meist zu öffentlichen Sammlungen. Das ist Weltkulturerbe. Die Situation wird sich aber drastisch verbessern. ZEIT: Und wie wollen Sie diese Mauer aus Eitelkeit und Forscherneid durchbrechen, die den Zugang zu Fossilien verwehrt? Weniger:Beim Neandertaler ist das relativ einfach, denn es gibt mit etwa 300 Individuen ziemlich viele. Die meisten Kollegen sind begeistert. Sie sehen sogar die Vorteile. Abgesehen von dem Wissenschaftshotelbetrieb, der die Forscher an wichtigen Standorten belastet, leiden auch die Funde selbst, wenn sie oft angefasst werden. Es bleiben Mikrospuren zurück, mit der Zeit runden sich Ecken und Kanten ab. Da bietet die Digitalisierung eine riesige Chance. Vor allem sitzen Sie nicht mehr wie früher vor einem Fossil, und das nächste sehen Sie Monate später in einem tausend Kilometer entfernten Institut. Sie können sich in der Datenbank viele Datensätze gleichzeitig ansehen. ZEIT: Es sind schon verhältnismäßig viele Neandertaler gefunden worden. Rechnen Sie noch mit spektakulären Entdeckungen? Weniger: Wenn ich mal meiner Fantasie freien Lauf lasse: Wer weiß, vielleicht liegt ja irgendwo eine Neandertalerin mit einem anatomisch modernen Menschen in einem Doppelgrab …

as Tor in die Vergangenheit öffnet sich auf Knopfdruck. Als das stählerne Gatter surrend zur Seite gewichen ist, betritt Gerd-Christian Weniger die Brücke, die über die Düssel führt. Das breite Geländer ist schneebedeckt. Für Weniger eine ideale Grundlage. Rasch hat der Direktor des Neanderthal Museums die prähistorische Situation in den Schnee gekritzelt: das enge Tal, das der Fluss in den weichen Kalkstein gegraben hat. Steil aufragende Felswände auf beiden Seiten. Neun Höhlen, weit über der Talsohle gelegen und nur von oben erreichbar. Der Gast sieht heute von alldem nichts mehr. Der Kalk wurde abgebaut. Die Steinbrucharbeiter haben ganze Arbeit geleistet. Der Fels ist zurückgewichen, das Tal an einzelnen Stellen fast 400 Meter breit. Eine Straße führt an der Düssel entlang, wo vorher nicht einmal ein schmaler Pfad denkbar war. Die Höhlen sind längst zerstört. Auf einer Anhöhe ragt ein Kalksilo empor. Noch bis 2008 darf im Neandertal Kalk abgebaut werden. Immer pünktlich um elf Uhr wird gesprengt. An solchen Tagen, sagt der Direktor, wackle das Museum. Weniger zeichnet weiter: Hier die Felswand mit den Feldhofer Grotten, dort das vom Fluss glatt geschliffene Kalkplateau, auf das Arbeiter im Steinbruch die Sedimente aus den Höhlen warfen, eine Mischung aus Kalkschutt und Lehm – und Knochen. Hier wurde es 1856 entdeckt, das berühmteste deutsche Fossil: der Neandertaler.

Weniger stapft durch den Schnee, der über Nacht gefallen ist. Zwischen knorrigen Bäumen öffnet sich eine weite Fläche am Ufer der Düssel. Rot-weiße Markierungsstangen kennzeichnen ein Feld von etwa 30 Quadratmetern, jene Stelle, an der das knochenhaltige Höhlensediment 1997 wiederentdeckt wurde. Ralf Schmitz und Jürgen Thissen suchten im Auftrag des Rheinischen Amtes für Bodendenkmalpflege nach dem berühmten Aushub des Jahres 1856 – und fanden ihn tief unter einem Schrottplatz verborgen. Heute ist das Altmetall verschwunden, die klapprigen Hallen sind abgerissen, in denen einst Kotflügel, Getriebeblöcke und Scheinwerfer sortiert wurden. Pritschen aus Sandstein sollen die Besucher des Ortes animieren, in die Luft zu starren, zu jenem Ort, zwanzig Meter oberhalb der Düssel, an dem der Neandertaler Zuflucht suchte – und starb.

Seit zehn Jahren zeigt Gerd-Christian Weniger seinen Besuchern die menschliche Seite des berühmtesten Deutschen

Es sind noch Knochen im Sediment tief darunter verborgen, gewiss auch Steinwerkzeuge. Das Bodendenkmalamt hat beschlossen, den so genannten Zeugenblock zu erhalten, für spätere Generationen. ZEIT:Hat die Interpretation menschlicher Fossilien auch mit Ideologie zu tun? Weniger: Ja, natürlich. Das ist das zentrale Thema des Neandertalers und das seiner Erforschung. Nicht umsonst wurde in ebenjenem Jahr, in dem man den Neandertaler fand, Sigmund Freud geboren. Der Neandertaler hat mit Charles Darwin zusammen das christliche Schöpfungsbild abgeräumt. Und dann kommt dieser Freud daher, lotet die Tiefen unserer Psyche aus und stößt dabei auf gänzlich unkultivierte Facetten. Und der Neandertaler ist wiederum die ideale Projektionsfläche für das Wilde, Tierische, Archaische in uns. All das, was wir als zivilisierte Abendländer nur ganz ungern am Tisch sitzen haben, projizieren wir nun auf den Neandertaler und sind es auf diese Weise los. Viele Menschen denken auch heute noch: Na gut, die Evolutionstheorie akzeptieren wir, aber die Nähe zum göttlichen Ebenbild, diesen göttlichen Schein, der herüberstrahlt, lassen wir uns nicht nehmen. ZEIT: Da ist eine möglichst große Distanz zum Neandertaler natürlich hilfreich. Weniger: Die Idee, dass wir so ein Supersapiens sind, der mit höherem Intellekt und größeren technischen Möglichkeiten in einem imperialen Handstreich die Welt besiedelte, ist natürlich verführerisch. Da stört ein ebenbürtiger Neandertaler das Bild. ZEIT: Nicht ganz. Es gab doch immer wieder Veränderungen im Sittenbild unseres Verwandten. Als Forscher in einem Grab in Shanidar, Irak, Blütenpollen fanden, wurden die Neandertaler flugs zu den ersten Blumenkindern erklärt. Weniger: Unser Bild des Neandertalers folgt auch gesellschaftlichen Trends – bis zum heutigen Tag. Wir bewegen uns in einer Gesellschaft, die Integration und Multikulturalität diskutiert, also versuchen

wir, auch den Neandertaler politisch korrekt zu behandeln. ZEIT: Ein Integrationsprogramm für ein Fossil? Weniger: Genau. Ein Programm für mehr Gerechtigkeit. Ich bin überzeugt, dass jedem Forscher auch sein persönliches Welt- und Menschenbild bei der Deutung der Funde die Feder führt. Seit 1929 wartet es hier im Neandertal auf Gäste, das Restaurant und Hotel Becher. Der Herr Professor ist hier gern gesehen. Sein Museum bringt Gäste ins Tal, 150 000 im Jahr, und nicht alle stärken sich in der Cafeteria des modernen Museumsbaus. Im Restaurant Becher gleich nebenan gibt es gute deutsche Küche – und uralte deutsche Schlager, die so mancher Gast schon mitgesungen hat, als sie gerade die Hitparaden stürmten. Heute ist es ruhig. Das nasskalte Schneewetter hat die Gäste verschreckt. Ein ganzer Bus voll älterer Damen ist nicht zum Essen gekommen. Nebenan, im Museum, herrscht dagegen Betriebsamkeit. Eltern und Kinder sehen, reden, staunen. Einzelne Besucher verlieren sich in den Datentiefen der aufgestellten Computer. Nur die Schulklassen fehlen – es sind Ferien –, kein lautes Geplapper. ZEIT: Konnten sie sprechen wie wir? Weniger:Anatomisch waren sie dazu befähigt, und kulturell war Sprache notwendig. Die Neandertaler waren keine Hinterwäldler, sondern viel unterwegs. Jagen und Sammeln als Lebensform erzwingt es geradezu, nicht nur den eigenen Lebensraum zu kennen, sondern auch den in der Nachbarschaft, sogar den einige hundert Kilometer weiter weg. Das gelingt nur, wenn sie in ein Kommunikationsnetz eingebunden sind, das über ihr Jagdgebiet weit hinausreicht. ZEIT: Aber es gibt doch noch immer Fachleute, die dem Neandertaler höchstens die Fähigkeit zu ein paar Grunzlauten zugestehen. Weniger: Sprache ist eine sehr frühe Erscheinung. Schon der Homo erectus muss gesprochen haben.

ZEIT:Wie wollen Sie die Sprache des Neandertalers belegen, die versteinert schließlich nicht? Weniger: Der Nachweis funktioniert nur indirekt, zum Beispiel über ein Werkzeug, das so komplex geworden ist, seine Herstellung so anspruchsvoll, dass die Weitergabe der Technik durch reine Imitation nicht mehr möglich ist. ZEIT: Aber wem gehörten diese komplexen Werkzeuge? Schließlich haben moderner Mensch und Neandertaler lange Zeit koexistiert. Weniger: Die späten Neandertaler haben eine besondere kulturelle Dynamik entwickelt – bevor der anatomisch moderne Mensch auftrat. Das kann man nicht nur an Funden, sondern auch an der Klimakurve belegen. Vor 45 000 Jahren wurden die Zeiträume zwischen extremen Klimaereignissen immer enger. Das war Stress für die Populationen, die mussten nach Lösungen suchen … ZEIT: … der Klimawandel als Kulturmotor. Weniger: Ja, das muss man so sagen. Der Umweltdruck führte dazu, dass sich kulturell enorm viel bewegte. Erst in dieser Aufbruchstimmung tauchten die ersten modernen Menschen auf. ZEIT: Wenn ihm nicht die Überlegenheit des modernen Menschen zum Verhängnis wurde, was dann? Oder ist er etwa gar nicht ausgestorben? Weniger:Meine persönliche Meinung ist, dass sich Teile der Neandertalerpopulation mit dem modernen Menschen vermischt haben. ZEIT:Genetische Befunde belegen das bisher nicht. Weniger: Aber sie sprechen auch nicht prinzipiell dagegen. Die jüngsten Publikationen sagen fairerweise, sie können es nicht ausschließen. Aber so wie die paläogenetischen Untersuchungen laufen, kann eine Vermischung gar nicht festgestellt werden. Sobald die Genetiker moderne DNA-Spuren finden, sagen sie, die Probe sei verunreinigt und daher unbrauchbar. Solche negativen Ergebnisse müssen auch veröffentlicht werden. Stattdessen verschwinden die Daten im Papierkorb. ZEIT: Sie arbeiten mit Kollegen weltweit an einer digitalen Datenbank, die möglichst viele Fossilien

" EIN HOCH AUF DEN AHNEN

Das große Jubiläumsprogramm Das Museum am Fundort in Mettmann zeigt die Ausstellung Hautnah. Neanderthaler. Sie nimmt das Bild vom Neandertaler (der in Mettmann noch mit traditionsbewusstem »h« geschrieben wird) unter die Lupe. Vom 3. Mai bis zum 24. September 2006 Wie beeinflusst das Klima das Leben auf der Erde? Welchen Einfluss hat der Mensch auf seine Umwelt? Die Ausstellung leben in eXtremen im Westfälischen Museum für Archäologie in Herne spannt einen weiten Bogen, um diese Fragen zu beantworten: von

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6 Millionen Jahren vor heute über die eiszeitlichen Herausforderungen für den Neandertaler bis 75 000 Jahre in die Zukunft. Vom 1. Juni 2006 bis zum 4. Mai 2007 Genau sechzehn Knochen wurden 1856 aus einem Steinbruch im Neandertal geborgen. Seit 1877 ist das berühmte Skelett des Neandertalers im Besitz des Rheinischen Landesmuseums in Bonn. Die Ausstellung Roots – Wurzeln der Menschheit zeigt unter Schirmherrschaft der Unesco erstmals bedeutende Originalfunde aus aller Welt in bisher noch nie

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dagewesener Fülle.Vom 7. Juli bis zum 19. November 2006 An der Universität Bonn findet unter dem Titel Early Europeans – Continuity & Discontinuity ein Kongress in englischer Sprache mit folgenden Themen statt: Ursprung und Entwicklung der Neandertaler, Umwelt und Geochronologie,Ernährung und Lebensformen,Werkzeuge und kulturelle Traditionen sowie geografische Variabilität und schließlich Beziehungen des Neandertalers zum modernen Menschen. Vom 21. bis zum 26. Juli 2006

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Foto: Rheinisches Landesmuseum Bonn

DIE ZEIT: Es gab auch vor 1856 Funde vormenschlicher Fossilien. Die Entdecker haben sie nicht als solche erkannt. Warum war das bei dem Fund im Neandertal anders? Was macht ihn zum ersten Zeugen unserer Frühgeschichte, zum Begründer der Paläoanthropologie? Gerd-Christian Weniger: Der Lehrer Johann Carl Fuhlrott hat diese 16 Knochenteile gesehen und war überzeugt: Das ist ein fossiler Mensch. Dabei war er selbst von der Evolutionstheorie nicht überzeugt. Die war ihm als Christ nicht geheuer. Er hatte aber in den Höhlen der Region schon viele fossile Großsäuger gesehen. Darum war er sicher, dass er es nicht etwa mit einem verscharrten Mordopfer, sondern tatsächlich mit einem Fossil zu tun hatte. Als Darwin dann seine Entstehung der Arten veröffentlichte und alle Welt wie gebannt auf Fossilien starrte, wurde der Neandertaler zum zentralen Kronzeugen der Menschwerdung. ZEIT:Warum hielt Fuhlrott die Knochen lange Zeit unter Verschluss? Weniger: Er hatte Angst. Er wurde von allen Seiten angefeindet. Dass der berühmte Pathologe Rudolf Virchow die seltsame Form des Schädels als Folge einer rachitischen Erkrankung deutete, machte die Sache nicht einfacher. Paradox: Fuhlrott als Christ zweifelt nicht an der Existenz eines fossilen Menschen. Und Virchow, der die Evolutionstheorie befürwortet, bestreitet im Angesicht des Fundes, dass es ein Fossil ist. ZEIT: Fuhlrott bekam für die Knochen sehr viel Geld aus dem Ausland geboten – und widerstand. Weniger: Wir sind ihm sehr dankbar dafür. Aber das war bei vielen außergewöhnlichen Funden so. Fund und Forscherbiografie verweben sich auf eine Weise, die eine Trennung unmöglich macht. Vielleicht war Fuhlrott aber auch von einem starken Nationalbewusstsein geprägt. ZEIT: Vergebens. Der Neandertaler ist bisher nicht als Bestandteil nationaler Kultur entdeckt worden. Weniger: Erstaunlich, nicht wahr? Man schmückt sich mit Beethoven, Beuys oder Heidi Klum, aber den weltweit berühmtesten Nordrhein-Westfalen vergisst man allzu gern. Warum ist der Neandertaler nicht längst als Marke etabliert, als Botschafter? Ich plädiere seit Jahren dafür, dass ein ICE nach ihm benannt wird. ZEIT:Vielleicht verbindet die Bahn den Namen mit allzu steinzeitlicher Technik. Weniger: Aber er ist Teil unserer Kulturgeschichte bis heute, er hat unser Menschenbild revolutioniert. Womöglich eignet er sich nicht so gut zur persönlichen Identifikation. ZEIT:Was geht in einem Museumsbesucher vor, der in der Ausstellung plötzlich einem lebensgroßen Neandertaler gegenübersteht? Weniger:Die meisten sind erstaunt, wie menschlich er aussieht. Wenn der Neandertaler heute durch die Stadt liefe, würde er nicht weiter auffallen. Wir achten vor allem auf kulturelle Accessoires. Ist einer gepierct? Trägt er einen Irokesenschnitt? Wie ist er gekleidet? Die Morphologie schaue ich mir im Alltag zuletzt an. Der Neandertaler müsste sich nur an unseren Kleidungscode halten, dann ginge er problemlos im Gewühl einer Fußgängerzone unter.

Foto [M]: Thomas Ernsting/Bilderberg

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Weniger steigt langsam die 400 Meter lange gestreckte Spirale hinauf, die den eigentlichen Ausstellungsraum des Neanderthal Museums bildet. Zehn Jahre ist der Bau nun alt – und er ist schön gealtert. Die verarbeiteten Materialien haben Patina angesetzt – einige Erkenntnisse aber auch. Und das ist nicht so schön. Zum Jubiläum wird die Dauerausstellung behutsam überarbeitet. So genannte Forscherboxen sollen beständig aktuelle Ergebnisse, neue Funde, neue Interpretationen bereithalten. Die wächsernen Nachbildungen der Neandertaler werden aktualisiert, neue sollen hinzukommen. Sie werden – Ausdruck von Individualität – ihre ganz eigene Mimik haben, während die Vorgänger ein wenig wie Neandertaler-Darstellerpuppen wirken. Der Ahn bekommt ein Gesicht. ZEIT: Wenn der Besucher das Museum verlässt, ist er dem Neandertaler ein Stück näher gekommen? Weniger: Hoffentlich ist er sich selbst näher gekommen, das ist unser eigentliches Ziel. Wir sagen dem Besucher: Schau dir an, woher du kommst. ZEIT:Gibt es eine neue Sehnsucht nach historischer Selbstvergewisserung? Weniger: Mit Sicherheit. Die Zukunft ist ungewiss. Die Gegenwart vergeht scheinbar immer schneller. Da tut ein Blick in die Vergangenheit gut. Wir lernen dabei, dass wir einem enormen Wandel unterliegen. Dass sich unser Lebensraum immer wieder dramatisch verändert hat. ZEIT:Sie wollen uns über die Angst um die Zukunft der Menschheit hinwegtrösten? Weniger: Ich glaube, die Spezies ist so ungefährdet wie noch nie, trotz aller apokalyptischer Hollywood-Visionen. Wir sind inzwischen so viele, so divers in unseren Fähigkeiten und Möglichkeiten, dass wir als Art sicherer sind denn je. ZEIT: Aber gerade vor wenigen Tagen blickten viele Menschen am Silvesterabend zurück auf ein Jahr voller Katastrophen. Die Erkenntnis, dass menschliche Lebensräume gefährdet sein können, erscheint manchen als eine schamlose neue Volte der Natur, anderen als die Strafe Gottes, wieder anderen als menschliches Versagen. Vor allem aber scheint sie viele Menschen sehr zu überraschen. Weniger: Das sind vermutlich die, die sich mit der Geschichte der Menschheit nicht beschäftigt haben. So lange ist die Eiszeit noch gar nicht her. Das Klima ist damals zum Teil innerhalb von zwei Generationen umgekippt. Da, wo der Großvater noch gesiedelt hat – in der Norddeutschen Tiefebene vielleicht –, konnte der Enkel schon nicht mehr leben. Der ist nach Süden geflüchtet, auf die Schwäbische Alb oder gar über die Alpen – wenn er es denn geschafft hat. Der Neandertaler ist an der nördlichen Grenze seines Verbreitungsgebiets vermutlich immer wieder ausgestorben. Ein extremer Winter konnte schon ausreichen, um ganze Gruppen verhungern zu lassen. Unsere technologischen Erfolge haben uns glauben lassen, wir seien immun. Aber es gab damals und gibt heute Bereiche auf diesem Planeten, wo Menschen nur leben können, wenn sie bereit sind, sehr hohe Risiken einzugehen. ZEIT: Jetzt müssen Sie uns nur noch eines erklären. Sie zeichnen ein Bild vom Neandertaler als hoch entwickeltem Kulturwesen – doch sein erster großer Auftritt im Jubeljahr wird auf einem Karnevalswagen stattfinden, mit Speer und Narrenkappe. Was soll denn das? Weniger: Wir stellen einen Mottowagen im Düsseldorfer Rosenmontagszug: 150 Jahre Neandertaler, 10 Jahre Neanderthal Museum. Warum soll das dem Image schaden? Karneval ist schließlich fester Bestandteil rheinischer Kultur – und der Neandertaler eben ein Kulturträger. ZEIT: Eine echte Menschwerdung … Weniger: … ja, die rheinische Variante.

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Die Spritze für das Federvieh Geflügel-Vakzinen gegen Vogelgrippe werden in Asien viel eingesetzt, sind aber in der EU nicht zugelassen Von Ulrich Bahnsen er Vogel als solcher ist ein sterbliches Wesen. Er verendet an Lungenentzündung, Herzversagen oder Altersschwäche. Vögel können sogar Schnupfen bekommen und sehen dann ziemlich krank aus. Sollte künftig die Vogelgrippe zuschlagen und in Deutschland die Hühner bedrohen, ist guter Rat teuer. Die probate Sofortmaßnahme, die Keulung Tausender Tiere, vielleicht sogar von Millionen Stück Geflügel, bedeutet einen enormen wirtschaftlichen Schaden. Dabei gibt es bereits Impfstoffe fürs Federvieh. Sie werden vor allem in China, Indonesien und Vietnam eingesetzt, um das dort seit Jahren grassierende Vogelgrippevirus H5N1 einzudämmen. In der EU sind die Vogelvakzinen nicht zugelassen. Fachleute befürchten, dass die flächendeckende Impfung von Geflügel neue Probleme nach sich zieht. Vor allem wäre im Fall einer Geflügelpest nicht mehr ohne weiteres feststellbar, ob Tiere geimpft oder tatsächlich infiziert sind. Das liegt in der Natur der Vakzinen, die aus abgetöteten Viren bestehen. Das Immunsystem der Tiere bildet verschiedene Antikörper gegen die molekularen Bestandteile der Erreger. Das geschieht auch bei einer echten Infektion. Deshalb können gängige Tests die schützende Impfantwort des Immunsystems nicht von der Verteidigung gegen eine echte Infektion unterscheiden. So würde es im Fall eines Vogelgrippeausbruchs sehr schwer, die Infektion bei geimpften Vögeln überhaupt festzustellen. Das aber wird nötig sein. Denn die Impfung schützt die Vögel keineswegs vollständig vor dem Erreger. Die Vakzinen sind nicht gegen den Typ H5N1 gerichtet, sondern gegen zwei verwandte Vogelgrippeviren. Die Impfung erhöht lediglich die nötige infektiöse Dosis an Viren, die eine Erkrankung der Tiere auslösen kann – und senkt so die Wahrscheinlichkeit einer Infektion. Zudem lindert eine Impfung die Schwere der Symptome und den verzögerten Krankheitsverlauf, der im Fall des H5N1-Virus bei Hühnern binnen 48 Stunden zum Tode führt. Auch das kann zum Problem werden: Geimpfte und dennoch infizierte Hühner scheiden den Erreger in hoch pathogener Form aus, womöglich bevor die Krankheit erkannt ist, und gefährden damit zusätzlich die noch gesunden Bestände. Dies, so fürchten die Experten, könne zu einem fatalen Kreislauf führen, bei dem sich H5N1 dauerhaft in den Wildund Zuchtvögeln festsetzt und nicht mehr eliminiert werden kann. Erfahrungen in Asien und Italien, wo derzeit mit einer Ausnahmegenehmigung geimpft wird, scheinen die Befürchtungen zu bestätigen. Eine Ausrottung der Seuche ist bislang misslungen. Am sinnvollsten scheinen begrenzte Impfungen um einen Seuchenherd zu sein. Dabei würde im Umkreis von zwei Kilometern gekeult und desinfiziert und in einem weiteren Ring von zehn Kilometern geimpft, um eine Ausbreitung zu erschweren. Auch ein neuer gentechnischer Impfstoff, den Forscher am Friedrich-Löffler-Institut für Tiergesundheit (FLI) auf der Insel Riems entwickelt haben, schürt nur begrenzte Hoffnung. Er schützt geimpfte Tiere ebenfalls nicht vollständig, auch sie bleiben weiterhin von dem Erreger bedroht. Für eine große Impfkampagne sei die Vakzine daher wohl ebenso wenig geeignet wie die konventionellen Vakzinen, sagt FLI-Sprecherin Elke Reinking. Der große gentechnische Vorteil: Geimpfte Vögel sind eindeutig und schnell von wirklich erkrankten unterscheidbar. Derzeit verhandelt das Institut mit der Industrie über weitere Tests und die Produktion. Das kann noch dauern – »mindestens ein halbes Jahr«, sagt Elke Reinking. »Alles andere ist unrealistisch.«

Killer im Anflug

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Foto [M]: Umit Bektas/Reuters

Die Vogelgrippe rückt näher. Nach den Todesfällen in der Türkei fürchten Experten eine Verbreitung der Viren. Hühner müssen in Deutschland bald wieder eingesperrt werden Von Astrid Viciano

In den Hinterhöfen der Osttürkei leben Mensch und Huhn eng zusammen. Für Ställe fehlt oft das Geld

er Imam trug bei der Beerdigung einen Mundschutz. Ganz sicher wollte er gehen, dass der Leichnam des Jungen nicht auch ihn infiziert. Die mittlerweile unter Quarantäne gestellte Stadt Dogubeyazit im Osten der Türkei nahe der iranischen Grenze steht unter Schock: Dort starben in der vergangenen Woche gleich drei Geschwister an der Vogelgrippe. Und Ali, der jüngste Sohn der Familie Kocyigit, wurde schwer krank in die Universitätsklinik der Provinz Van eingeliefert. Den Kindern wurde zum Verhängnis, dass sie im Haus ihrer Eltern mit den Köpfen von Hühnern gespielt hatten. Diese waren eigens für den Besuch einer Tante geschlachtet und gemeinsam verspeist worden. Die Einwohner der Provinz sind arm; viele von ihnen halten sich ein paar Hühner im Hinterhof. »Wenn eines dieser Tiere tot umfällt, erfährt das zunächst niemand«, berichtet Klaus Stöhr, Leiter des Influenza-Programms der Weltgesundheitsorganisation WHO. Im Winter holen die Familien das Geflügel sogar nachts ins Haus, weil ihnen das Geld fehlt, einen Stall für ihre Tiere zu bauen.

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Das Virus tötet 90 Prozent des infizierten Geflügels Sie ahnten nicht, dass in deren Gefieder ein gefährlicher Erreger hauste: So manches Federvieh war mit H5N1 infiziert, einem besonders ansteckenden und aggressiven Grippevirus. Es tötet nicht nur 90 Prozent des infizierten Geflügels, sondern kann in seltenen Fällen auch Menschen befallen. In der Türkei sind inzwischen mindestens 14 Menschen an Vogelgrippe erkrankt, mindestens 34 weitere stehen deshalb unter Beobachtung. Die drei Kinder aus Dogubeyazit sind die ersten Toten durch H5N1 außerhalb Südostasiens. Dort zirkuliert das gefürchtete Virus seit dem Jahr 1997. In Hongkong hatte es damals 18 Menschen infiziert, sechs davon starben. Inzwischen gibt es auch Todesfälle in Kambodscha und Vietnam, Thailand und Indonesien. Insgesamt haben sich 143 Menschen in Fernost infiziert, mehr als die Hälfte von ihnen sind gestorben. In der Türkei hat das Virus vor allem Kinder befallen. Von den ersten 14 Patienten

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waren nur zwei älter als 20 Jahre. Erwachsene sind womöglich durch frühere Grippeinfektionen partiell geschützt. Im Gefieder kranker Hühner kann das Virus mehrere Tage überleben, auf der Haut von Menschen dagegen nur wenige Stunden. Über die Augen, die Nase oder den Mund gelangt es in den Körper, heftet sich in den Atemwegen an die Oberfläche der Schleimhautzellen und versucht, möglichst rasch in die Zellen einzudringen, um sich dort zu vermehren. »Der Mensch spürt die Krankheitssymptome jedoch erst, wenn Millionen von Viren in seinem Körper wüten«, sagt Klaus Stöhr. Hohes Fieber, Husten, Atemnot plagen die Patienten so sehr, dass sie nach vier bis fünf Tagen in ein Krankenhaus eingeliefert werden müssen. »Die folgenden drei Tage entscheiden über Leben und Tod«, erklärt der WHO-Experte. Der Familie Kocyigit fehlte aber schlicht das Geld, um ihre kranken Kinder in die Universitätsklinik zu bringen. Weit mehr als 100 000 Hühner wurden in der Türkei bereits getötet, um die Gefahr für Mensch und Tier zu mindern. Eine Informationskampagne wurde gestartet, Kranke in den Kliniken wurden isoliert. »Andere Länder sind gut beraten, wenn sie der Türkei beim Eindämmen der Seuche helfen«, sagt Stöhr. »Denn jedes Land, in dem sich das Virus ungestört ausbreiten kann, erhöht die Gefahr für ande200 km

S c hwa r ze s M e e r

Kastamonu Istanbul Ankara

ZEIT-Grafik

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SYRIEN Mi t t e l m e e r ZYPERN

IRAK Provinzen mit vermuteten und bestätigten Vogelgrippe-Infektionen beim Menschen (Stand: 10. 01. 06)

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re.« Gelänge es, die Ausbrüche in der Türkei erfolgreich zu bekämpfen, könne man den Feldzug des Erregers womöglich aufhalten, hofft der Veterinärmediziner. Wird das Virus auch nach Deutschland gelangen? Zwei Ausbreitungswege sind denkbar: Zum einen könnten illegale Fleischtransporte den Erreger einschleppen. Normalerweise ist der Import aus der Türkei in der gesamten EU zwar verboten, doch vorsorglich verschärfte die Bundesregierung schon einmal die Kontrollen an Straßen und Flughäfen. Auch Reisende aus der Türkei wurden verstärkt auf Geflügelprodukte kontrolliert.

In kaltem Wasser überlebt H5N1 bis zu drei Wochen lang Zum anderen droht Gefahr von Zugvögeln, mit denen der Erreger in alle Welt gelangt. »Tatsächlich hielt sich das Virus bisher fast immer an bestimmte Vogelzugrouten«, sagt Wolfgang Fiedler von der Vogelwarte Radolfzell des Max-Planck-Instituts für Ornithologie. Wasservögel, darunter vor allem Enten und Gänse, seien auch als Träger anderer Vogelgrippeviren bekannt. »In kaltem Wasser überlebt H5N1 besonders gut«, berichtet der Vogelkundler. Fällt der Kot einer infizierten Ente in einen Teich, können die Erreger darin drei Wochen lang andere Tiere befallen. Wenn die ersten Schwärme im Frühjahr aus Afrika zu ihren nördlichen Brutstätten fliegen, haben sie die Wahl zwischen drei Reiserouten: über Spanien, Italien oder die Türkei. »Bis zu ein Viertel der Zugvögel gelangt über das östliche Mittelmeer nach Deutschland«, sagt Fiedler. Zur Vogelreisezeit untersuchen Forscher des Friedrich-Loeffler-Instituts auf der Insel Riems jede Woche 100 Proben von Wildvögeln – aus deren Rachen, dem Kot oder deren Organen. »Wir hoffen, so frühzeitig infizierte Tiere zu entdecken«, sagt Elke Reinking, Sprecherin des Instituts. Damit sich die heimischen Hühner keine Viren einfangen, mahnte Bundesverbraucherschutzminister Horst Seehofer bereits eine erneute Stallpflicht für Geflügel im Frühjahr an. Im Herbst 2005 waren Bauern in Deutschland vergattert worden, ihr Federvieh einzu-

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sperren. »Das ist keine leichte Aufgabe«, sagt Fiedler. Die Hühner gedeihen im Stall nicht so gut wie an der frischen Luft und werden auf engem Raum oft aggressiv. Kommt die Stallpflicht, müsste das Geflügel von Anfang März bis Anfang April eingesperrt werden. Die geschützte Unterkunft soll nicht nur das Überleben der Tiere sichern, sondern auch Übertragungen auf den Menschen vorbeugen. Allerdings wandelt sich der Erreger ständig. »Weltweit waren bereits Millionen von Vögeln mit dem Virus infiziert«, sagt Reinhard Kurth, Leiter des Robert Koch-Instituts in Berlin. Immer wieder mutiert der Erreger in seinen acht Gensegmenten, einmal tauschte er sich sogar mit anderen Vogelgrippeviren aus. Eine neue Variante von H5N1 entstand – und tötete im Jahr 2005 erstmals Wildgänse in China. In einem späteren Experiment erwies sich der Stamm als besonders tödlich für Geflügel und Mäuse. In Thailand wurde von erkrankten Tigern eines Zoos berichtet, in China von infizierten Schweinen, in den Niederlanden gelang eine experimentelle Infektion bei Katzen. Und zweimal hat es der Erreger geschafft, direkt von einem Menschen zum anderen zu springen. Im Herbst 2004 steckten sich Mitglieder einer thailändischen Familie gegenseitig an. »Dennoch ist noch kein Supervirus entstanden, das hoch ansteckend und leicht von Mensch zu Mensch übertragbar ist«, sagt Kurth. »Oder es war gerade kein Mensch in der Nähe, als dies geschah.« Doch eines Tages, so fürchten die Experten, wird sich das Virus womöglich mit humanen Grippeviren austauschen und ebenso infektiös werden. »Das können wir nicht ausschließen«, warnt der Mediziner. Womöglich genügen sogar wenige Punktmutationen, um aus der Geflügelpest eine Menschenseuche zu machen: Im Oktober 2004 hatten Forscher im Fachjournal Science berichtet, dass der Erreger der Spanischen Grippe ein reines Vogelgrippevirus war. Es tötete im Jahr 1918 weltweit mehr als 20 Millionen Menschen. Dem sechsjährigen Ali Kocyigit geht es inzwischen besser. Am vergangenen Montag durfte er die Klinik in Van wieder verlassen und zu seinen Eltern zurückkehren – als nunmehr einziges Kind.

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" ERFORSCHT UND ERFUNDEN

" STIMMT’S?

In der Wüste fühlen sich Bodenbakterien offenbar am wohlsten. Das stellten amerikanische Biologen fest, als sie die Organismenvielfalt in 98 Bodenproben verglichen, die sie auf dem ganzen Kontinent gesammelt hatten. Die meisten Arten fanden sie in trockenem Wüstensand. Im peruanischen Amazonas dagegen, der ansonsten für seine Artenvielfalt bekannt ist, spürten sie die wenigsten Spezies auf (PNAS, Bd. 103, S. 626). Diese Diskrepanz begründen die Forscher vor allem mit dem pH-Wert der Böden: In dem sauren Milieu, das am Amazonas vorherrscht, gedeiht die Bakterienvielfalt offenbar nicht so gut wie in pH-neutralen Böden.

Spieglein an der Wand Ein Spiegel, in dem man sich vollständig sehen kann, muss mindestens halb so groß sein wie der BetrachJENS FINDEISEN, HAMBURG ter. Stimmt’s?

Ein Großteil des Treibhausgases Methan in der Atmosphäre geht auf das Konto normaler Pflanzen, sagen Forscher des Max-Planck-Instituts für Kernphysik in Heidelberg. Bisher hatte man angenommen, biologisches Material setze nur bei ausgeprägtem Sauerstoffmangel Methan frei. Das Team um Frank Keppler hat Pflanzen und abgefallene Blätter in Plexiglasbehältern eingeschlossen und die Methanemissionen gemessen. Offenbar sorgt ein noch unbekannter Prozess dafür, dass auch bei reichlich vorhandenem Sauerstoff Methan entsteht. Das hat Folgen: Bis zu 30 Prozent des jährlichen Methanausstoßes, so schätzen die Forscher in Nature (Bd. 439, S. 187), könnten aus dieser Quelle stammen. Das würde einerseits große Methanansammlungen über Regenwaldgebieten erklären, andererseits auch eine Neubewertung der Rolle von Methan beim Klimawandel erfordern.

" Der Renaissance-Maler als Astrophysiker Mit verblüffender Detailgenauigkeit hat Adam Elsheimer im Jahr 1609 den nächtlichen Himmel gemalt. Gelang ihm dies nur,weil er bereits einige Monate vor Galileo Galilei den Himmel mit einem Fernrohr beobachtete? Der italienische Sternenforscher war im März 1610 berühmt geworden, als seine Schrift Sidereus nuntius erschien. Mit einem selbst gebauten Teleskop hatte Galilei unter anderem im Schleier der Milchstraße mehr als tausend Einzelsterne entdeckt – und Krater auf dem Mond. Doch just solche Details hat Adam Elsheimer in seinem Meisterwerk »Flucht der heiligen Familie nach Ägypten« bereits ein halbes Jahr zuvor festgehalten. Nun rätselt die Zunft, wie dies zuging. Elsheimers Bild, das erste Renaissance-Gemälde mit einer naturnahen Darstellung des Nachthimmels, steht im Zentrum einer sehenswerten Ausstellung der Alten Pinakothek München (bis zum 26. Februar). Sie wurde gemeinsam von Kunsthistorikern und Naturwissenschaftlern konzipiert. Gerhard Hartl, Astronomie-Experte des Deutschen Museums, hat das nur 31 mal 41 Zentimeter große Kunstwerk analysiert und dabei eruiert, wann Meister Elsheimer seine Präzisionsbeobachtung des

Himmels gemacht haben dürfte. »Aus dem Neigungswinkel der Milchstraße und aus dem untergehenden Vollmond lässt sich der 17. Juni 1609 rekonstruieren«,sagt er. Die stärksten Indizien für die Annahme, dass Elsheimer schon vor Galilei durch ein Teleskop blickte, seien die über 1200 gemalten Sterne – mehr als das bloße Auge sieht – mit realistischen Sterndichten und -intensitäten sowie die fein miniaturisierte Darstellung der Milchstraße. Am verblüffendsten ist die Präzision der Mondzeichnung »mit mindestens drei Kraterstrukturen, von der Seite beleuchtet«, sagt Hartl. Ähnlich habe sie Monate später auch Galilei,allerdings als Halbmondsituation, gezeigt. Zur Jahresmitte 1609 waren bereits in mehreren europäischen Städten Teleskope erhältlich gewesen, etwa in Paris, Frankfurt oder Rom, wo sich Elsheimer damals aufhielt. Das erste Fernrohr hatte der Holländer Hans Lippershey bereits 1608 gebaut. Die einfache Konstruktion des aufsehenerregenden Geräts war leicht nachzuahmen, mit zwei Linsen und einem Rohr. So baute auch Galileo sein Guckrohr selbst und begann im Herbst 1609 die Himmelsbeobachtung. Da hatte Elsheimer die himmlische Pracht schon gemalt.

Blind fürs Unerwartete Wer sich konzentriert,übersieht große Veränderungen Von Ulrich Weger ine peinliche Situation: Bei einem Abendessen werden Sie von der Ihnen gegenübersitzenden, Ihnen sehr vertrauten Dame gebeten, doch einmal kurz die Augen zu schließen. Und jetzt sollen Sie Frisur, Bluse, Brille, Ohrringe beschreiben. Das gelingt Ihnen nicht so recht? Ein kleines Unbehagen macht sich breit? Und schon kommt er, der bittere Vorwurf, Sie würden vermutlich noch nicht einmal bemerken, wenn beim Augenöffnen plötzlich jemand anders dort säße. Die schlechte Nachricht ist: Das kann sogar stimmen. Die gute: Es gibt dafür eine wissenschaftlich fundierte Ausrede. Das Phänomen, selbst größere Veränderungen in unserer Umgebung schlicht zu übersehen, wird als Veränderungsblindheit bezeichnet – auf Englisch: change blindness. Voraussetzung für das absurde Versagen ist, dass unsere Aufmerksamkeit kurz abgelenkt wird – sei es, dass wir mal eben in die Speisekarte oder zur Seite schauen oder die Sicht für einen Augenblick verdeckt ist. Auf diese Weise ausgetrickst, übersehen Versuchspersonen in einem Computerexperiment leicht, wenn in einer virtuellen Hafenszene ein Boot verschwindet oder plötzlich ein Baum im Landschaftspanorama fehlt. Ob sich solche Effekte auch im Alltag finden lassen, hat ein amerikanisches Forscherteam um Daniel Simons und Daniel Levin schon 1998 untersucht. In der Studie fragte ein Experimentator ahnungslose Passanten nach dem Weg. Nach einer kurzen Unterhaltung trugen zwei weitere Versuchsmitarbeiter eine Tür zwischen den Gesprächspartnern hindurch. Während die Tür die Sicht des Passanten verdeckte, tauschten der Experimentator und einer der Türträger die Rollen. Der neue Experimentator tat anschließend, als sei nichts geschehen und hörte sich einfach die weitere Wegbeschreibung an. Als die Passanten gefragt wurden, ob ihnen an dieser Szene etwas aufgefallen sei, gaben nur sieben von fünfzehn getesteten Personen an, den Tausch überhaupt bemerkt zu haben. Die Übrigen waren völlig überrascht, als sie hörten, dass sie es mit zwei verschiedenen Personen zu tun hatten.

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Ob es nun an der geringen Aufmerksamkeit oder an der außergewöhnlichen und damit nicht erwartbaren Situation lag: Die Ergebnisse weisen deutlich darauf hin, dass man auch im Alltag außerhalb des Labors sehenden Auges blind sein kann. Nun untersuchte ein schwedisch-amerikanisches Forscherteam, was geschieht, wenn sich die Testpersonen eingehender mit Gegenständen beschäftigen, bevor diese vertauscht werden. Die Versuchsteilnehmer sahen eine Reihe von – zunächst recht ähnlichen – Porträtfotos, jeweils zwei zur gleichen Zeit, und sollten das ihrer Meinung nach attraktivere Bild auswählen. Im Gegensatz zur Studie mit der Tür mussten sich die Versuchspersonen aktiv mit den ausgetauschten Personen auseinander setzen, nicht einfach nur passiv auf sie reagieren. Danach wurden die Teilnehmer gebeten, ihre Wahl zu begründen. Durch eine geschickte Manipulation waren allerdings in einigen Fällen die beiden Fotos unmittelbar nach der Entscheidung ausgetauscht worden, so dass sich die Probanden während ihrer Begründung gerade demjenigen Foto gegenüberfanden, das sie zuvor als unattraktiv aussortiert hatten. Die zentrale Frage war, ob und wie sie »ihre« Wahl begründen würden. Das Erstaunliche: In lediglich dreizehn Prozent der Fälle bemerkten die Versuchsteilnehmer die Täuschung! Und selbst in einer verschärften Form des Experiments – wenn die zu beurteilenden Fotos ausgesprochen unähnlich waren und außerdem beliebig viel Zeit bei der Entscheidungsfindung gegeben war – lag die Trefferquote gerade mal bei 27 Prozent. Die Wissenschaftler prüften die abgegebenen Begründungen auf ihre emotionale Tönung, ihren Überzeugungsgrad und ihren Detailreichtum. Wären die Teilnehmer stutzig geworden und hätten sich über das Verwechseln der Fotos gewundert, so wären beim Vergleich von manipulierten und nicht manipulierten Bilderpaaren Unterschiede auf allen drei Ebenen zu erwarten gewesen. Tatsächlich gab es keine nachweisbaren Abweichungen. Choice blindness – Wahlblindheit – nennen die Forscher das verblüffende Phänomen. Audio a www.zeit.de/audio

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Die Therapie von Aids ist zwar meist erfolgreich, führt aber oft zu einer auffälligen Umverteilung des Fettgewebes, das den Körper deformiert und entstellt. Gegen dieses Syndrom könnte bald ein bekanntes Mittel des Schweizer Bio-Tech-Konzerns Sereno zum Einsatz kommen, nämlich das menschliche Wachstumshormon hGH. Dieser gentechnisch erzeugte Stoff dient üblicherweise zur Therapie von Kindern und Erwachsenen bei entsprechendem Hormonmangel. In einer Doppelblindstudie an mehr als 300 HIV-Patienten, die an defomierendem Fettgewebe litten, erwies sich der Einsatz des Hormons als erfolgreich. Die Zulassung für die neue Indikation soll nun bei der US-Arzneimittelbehörde FDA beantragt werden.

Abbildungen: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München

Schlaftrunkenheit kann die geistigen Fähigkeiten stärker beeinflussen als ein Alkoholrausch. Forscher von der University of Colorado in Boulder ließen Probanden direkt nach dem Aufwachen Rechenaufgaben und andere kognitive Tests bearbeiten. Die verschlafenen Testpersonen schnitten dabei schlechter ab als Probanden nach 24 Stunden Schlafentzug. Ein solches Schlafdefizit ist nach früheren Studien wiederum vergleichbar mit starkem Alkoholkonsum. Die massivsten Beeinträchtigungen stellten die Forscher in den ersten drei Minuten nach dem Aufwachen fest, doch der leistungsmindernde Effekt der Verschlafenheit hielt bis zu zwei Stunden an (JAMA online).

Da macht man sich fein für eine Feier oder für die Oper, will zu guter Letzt noch einmal den Gesamteindruck im Spiegel überprüfen – und schafft es partout nicht, seine ganze Gestalt im Spiegel zu sehen, egal ob man ganz nah herantritt oder sich so weit wie möglich entfernt. Der Grund dafür ist tatsächlich, dass in diesem Fall der Spiegel zu klein ist. Spontan würden vielleicht die meisten sagen: Wenn man vom Spiegel zurücktritt, wird doch das Spiegelbild kleiner, also muss man irgendwann auch ganz zu sehen sein … Dass das nicht stimmt, lässt sich mit einer kleinen Zeichnung beweisen (siehe unten). In der Grafik tun wir so, als stünde tatsächlich eine seitenverkehrte Person hinter dem Spiegel. Das ist natürlich nicht so, aber es macht die Sache einfacher. Ganz exakt müsste man zur Verfolgung der Lichtstrahlen eine Linie von den entsprechenden Punkten der realen Person zum Spiegel zeichnen und sie von dort ins Auge reflektieren. Da aber nach dem Reflexionsgesetz Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel ist, kann man den Spiegel auch durch eine durchsichtige Glasscheibe ersetzen, hinter der die verkehrte Person steht. Zeichnet man nun das Dreieck zwischen Scheitel und Sohle des Spiegelbilds und dem Auge des Betrachters, dann liegt die Spiegelebene immer genau in der Mitte. Und nach dem Strahlensatz der Mathematik ist die Mindesthöhe des Spiegels genau die Hälfte der abzubildenden Höhe. Man sieht außerdem, dass es durchaus wichtig ist, in welcher Höhe der Spiegel hängt – die Oberkante muss sich etwas über der Augenhöhe befinden.

Unwesentlich für die Betrachtung ist dagegen, dass unsere Augen nicht ganz oben am Körper sitzen – selbst wenn sie sich in Bauchnabelhöhe befänden, müsste der Spiegel mindestens die halbe Körpergröße haben. CHRISTOPH DRÖSSER Die Adressen für »Stimmt’s«-Fragen: DIE ZEIT, Stimmt’s?, 20079 Hamburg oder [email protected]. Das »Stimmt’s?«-Archiv: www.zeit.de/stimmts Audio a www.zeit.de/audio

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Die Kernkraft der Seele lückselig ist der von den Menschen auf Erden, der das geschaut hat: Wer nicht in die heiligen Mysterien eingeweiht wurde, wer keinen Teil daran gehabt hat, bleibt ein Toter in dumpfer Finsternis.« So priesen Homers Hymnen das Mysterium von Eleusis, den berühmtesten Zeremonienkult des alten Griechenlands. Durchschlagende Wirkung muss dieser Ritus zu Ehren der Pflanzengöttin Demeter gehabt haben. Mehrere Tage lang wurde gefeiert, geopfert und gefastet. Dann erhielten die »Initianten« Einlass ins Innere des Tempels, wo ihnen – verborgen vor neugierigen Blicken – der »Kykeon« gereicht wurde, der heilige Trank. Dieser führte offenbar zu dramatischer Erleuchtung und tiefen Einsichten. In Eleusis, so schwärmte Cicero, habe er »nicht nur den Grund erhalten, dass wir in Freude leben, sondern auch dazu, dass wir mit besserer Hoffnung sterben«. Und sein Landsmann Aelius Aristide pries die Eleusinischen Mysterien als »das Schauerlichste und das Lichteste von allem, was für Menschen göttlich« ist. Albert Hofmann ahnt, was die griechischen Zeremonienmeister verabreichten: halluzinogen wirkende Lysergsäure, extrahiert aus Mutterkorn. »Die Priester von Eleusis brauchten nur von dem in

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der Umgebung des Heiligtums vorkommenden Paspalum-Gras das Mutterkorn abzulesen, es zu pulverisieren und dem Kykeon zuzusetzen, um ihm bewusstseinsverändernde Potenz zu verleihen.« Der Chemiker Hofmann weiß, wovon er spricht. Schließlich hat er rund zwei Jahrtausende später aus den Alkaloiden des Mutterkorns einen Verwandten des Eleusis-Stoffes synthetisiert und damit die stärkste Bewusstseinsdroge der Neuzeit geschaffen: Lysergsäurediäthylamid, LSD. Eigentlich war Hofmann auf der Suche nach einem Kreislauftherapeutikum. Doch was er 1943 in den Labors des Pharmakonzerns Sandoz entdeckte, brachte die ganze Welt in Schwung: LSD wurde zum Treibsatz der Hippie-Bewegung, von den Beatles besungen, den Spießern gefürchtet und der CIA heimlich benutzt; vergöttert, missbraucht, verboten. In dieser Woche soll der Stoff auf einem LSD-Symposium in Basel sein Revival erleben. Da werden sie alle noch einmal da sein, die Freunde und Förderer der Bewusstseinserweiterung: Stanislav Grof, Begründer der »transpersonalen Psychologie«, »Tripmaster« Alexander Shulgin, aus dessen Labor hunderte von psychoaktiven Substanzen hervorgingen, Sexfront-Autor Günter

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Amendt, Ethnopharmakologe Christian Rätsch und Bluesbarde Eric Burdon, der schon mit Jimi Hendrix auf der Bühne stand. Und alle werden sie Hofmann ihre Reverenz erweisen, wenn der Vater des LSD in dieser Woche 100 Jahre alt wird. Bis 1971 hat der Chemiker die Abteilung Naturstoffe in den Basler Sandoz-Laboratorien geleitet. Heute wohnt er im »Paradies«, wie er sagt. Auf der Rittimatte, einer Bergwiese in den Ausläufern des Jura-Gebirges hat sich der Naturfreund ein Haus gebaut, mit Ausblick auf die Schweiz und Frankreich. Interviews gibt der 100-Jährige mittlerweile ungern, er habe in seinem Leben schon genug mit Journalisten gesprochen. Aber was Hofmann denkt und fühlt, weiß man ohnehin aus seinen zahlreichen Aufsätzen und Schriften. Pünktlich zum Jubiläumsdatum am 11. Januar erscheint noch einmal ein Sammelband, den ihm seine Bewunderer gewidmet haben: Auf dem Weg nach Eleusis heißt das Buch sinnigerweise, erschienen im Schweizer Nachtschatten-Verlag. Dort erzählt Hofmann nicht nur vom EleusisKult und von den Mutterkornalkaloiden, sondern beantwortet auch die Frage, wie er es geschafft habe, bis ins hohe Alter ohne Brille oder Hörgerät auszukommen. »Ich hatte die Gnade, offene Sin-

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ne zu behalten.« Statt sich seinen Geist in der Stadt »zu vermauern und zu verbrettern«, lausche er lieber auf die Stille der Berge und die Natur, »auf das, was uns gegeben ist«. Natürlich wollen seine Fans von dem LSD-Entdecker wissen, ob er seinen rüstigen Zustand nicht auch den Drogenerfahrungen verdanke. Doch Hofmann erweist sich ganz als Pragmatiker: Um das beantworten zu können, müsste er zwei Leben haben, »eines mit und eines ohne LSD – dann könnte man das wissenschaftlich beurteilen. So kann ich das ja nicht.« Die Nüchternheit will so gar nicht zur ekstatischen Begeisterung vieler Drogenfreaks passen. Er sei doch nur ein »einfacher Schweizer Chemiker«, wehrt Hofmann die Huldigungen seiner Fans ab, die ihn gerne zum Moses des psychedelischen Zeitalters erklären würden. Doch dazu eignet sich der Vater von vier Kindern, der nach eigenem Bekunden nur etwa ein Dutzend Mal LSD genommen hat, schlecht. Hofmann lieferte zwar das Werkzeug zur Bewusstseinsrevolution – doch dessen massenhafte Verbreitung, wie sie der LSD-Prophet Timothy Leary propagierte, erschreckte ihn eher. »LSD ist eine außerordentlich gefährliche Substanz!«, predigte Hofmann immer wieder. Seiner ungeheuer potenten Wirkung müsse man mit Ehr-

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furcht begegnen. Doch solche Warnungen verhallten auf den Grateful-Dead-Konzerten, bei denen Tausende an Acid-Tests teilnahmen, ungehört. Als »psychische Atombombe« wurde der Stoff bezeichnet, der bis zu 10 000-mal so stark wie Meskalin wirkt. Mit einem einzigen Gramm LSD lassen sich bequem 20 000 Menschen in einen mehrstündigen Rausch versetzen. Dass Hofmann die potente Substanz just zur selben Zeit entdeckte, als in Los Alamos die Atomkraft gezähmt wurde, ist für den Chemiker mehr als Zufall. »Man könnte auf die Vermutung kommen, diese Koinzidenz sei vom Weltgeist in Szene gesetzt worden«, glaubt der Entdecker. Doch wie in der Atomphysik gilt in der Psychopharmaka-Forschung: je stärker die Mittel, umso größer die Gefahr des Missbrauchs. Denn LSD – das zur Dosierung auf Löschpapier oder Gelatineecken getropft wird – greift direkt den Kern unseres Menschseins an. Das Halluzinogen setzt die Filter, die das Gehirn vor Reizüberflutung schützen, außer Kraft und hebt damit die Trennung zwischen individuellem Bewusstsein und äußerer Welt auf. Hinter dieser nüchternen Beschreibung verbirgt sich ein Erfahrungsschock, der oft nahe an den Wahnsinn grenzt.

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Im psychedelischen Rausch

»Happy with your Dress« – ein psychedelisches Kunstwerk von Karl Scherer

LSD-Entdecker Albert Hofmann wird 100. Er glaubt noch immer an den Nutzen der Droge Von Ulrich Schnabel In seinem Versuchsbericht vom 16. April 1943 hat Hofmann dieses Erleben minutiös beschrieben. »Alles im Raum drehte sich, und die vertrauten Gegenstände und Möbelstücke nahmen groteske, meist bedrohliche Formen an. (…) Die Nachbarsfrau, die mir Milch brachte, war nicht mehr Frau R., sondern eine böse, heimtückische Hexe mit einer farbigen Fratze.« Erst nach einigen Stunden weicht der Schrecken, und Hofmann beginnt, den Rausch zu genießen. »Kaleidoskopartig sich verändernd, drangen bunte, fantastische Gebilde auf mich ein, in Kreisen und Spiralen sich öffnend und wieder schließend, in Farbfontänen zersprühend (…) Besonders merkwürdig war, wie alle akustischen Wahrnehmungen, etwa das Geräusch einer Türklinke oder eines vorbeifahrenden Autos, sich in optische Empfindungen verwandelten. Jeder Laut erzeugte ein in Form und Farbe entsprechendes, lebendig wechselndes Bild.« Den Chemiker führten solche Erfahrungen zu einer Art Unio mystica, einem tiefen Gefühl des Einsseins mit dem Universum. »Ich erkannte, dass meine ganze Welt auf subjektivem Erleben beruht. Sie ist in mir, innen. Nicht außen – es gibt keine Farben da draußen.« In der Auflösung des Ego erfuhr Hofmann das Vertrauen »in eine höhere Macht, oder wenn Sie so wollen: in den Schöpfer.« Ähnlich religiöse Erfahrungen machten die Schriftsteller Aldous Huxley und Ernst Jünger, die in Büchern wie Moksha oder Besuch auf Godenholm ihre Ausflüge ins Reich Fantastica schilderten. Jünger und Hofmann, die zu ihren gemeinsamen Seelenreisen im Wohnzimmer gern Mozart auflegten, hofften noch auf die heilsame Wirkung der Psychodroge. Die selige Erfahrung der Vereinigung des Ichs mit der Schöpfung, so glaubten sie, könnte die Menschheit evolutionär voranbringen. Doch die naive Hoffnung zerstob in den sechziger Jahren. LSD macht zwar körperlich nicht süchtig wie Heroin oder Kokain, doch die Auflösung des Bewusstseins führte bei manchen zu Wahn- und Angstvorstellungen, andere stürzten sich in den Selbstmord oder trugen zeitweilige Psychosen davon. Dass Menschen wie der gläubige Christ Hofmann, der schon als Zehnjähriger mysANZEIGE

tische Naturerlebnisse hatte, unter LSD eher Einheitserfahrungen machten, ist nicht verwunderlich. Dass auch die Hell’s Angels nach LSD-Trips zu frommen Brüdern wurden, ist nicht überliefert. Mit dem LSD-Verbot Ende der sechziger Jahre kam auch das Aus für die Forschung. Bis dahin war die Droge in großem Stil untersucht worden: Psychotherapeuten sahen sie als Werkzeug, um bei Patienten lange verdrängte Traumata an die Oberfläche des Bewusstseins zu holen; andere erprobten LSD in der Sterbebegleitung von schmerzgequälten Krebspatienten; vor allem aber stimulierte die »Mutter aller Drogen« in den fünfziger Jahren die Erforschung der Botenstoffe im Gehirn. Denn die Psychedelika sind den Neurotransmittern wie Serotonin, Noradrenalin und Dopamin nicht nur sehr ähnlich, sie entfalten auch ihre Wirkung in denselben Hirnregionen. Vor allem beeinflussen sie das limbische System, in dem Sinneseindrücke gefiltert, mit Gedächtnisinhalten abgeglichen und emotional bewertet werden – in dem das Gehirn also sein Weltbild konstruiert. Den Psychedelika verdankt die Wissenschaft die Erkenntnis, wie stark chemische Stoffe dieses Erleben und mithin unseren Geisteszustand beein-

flussen. Rund 10 000 wissenschaftliche Veröffentlichungen gebe es zu LSD, hat der Psychiater Torsten Passie ermittelt. Damit sei Lysergsäurediäthylamid »das vermutlich am besten erforschte Pharmakon der Welt«. Heute allerdings lösen allein die Buchstaben LSD schon »fast phobische« Reaktionen aus, weiß Passie, der an der Medizinischen Hochschule Hannover die Wirkung von Psilocybin und Cannabis auf das Gehirn untersucht. Eine kleine Schar Unermüdlicher würde gerndas therapeutische Potenzial der »psychoaktiven Substanzen« weiter erforschen. Der Göttinger Psychiater Michael Schlichting etwa hofft auf die Erlaubnis für einen Versuch mit Kollegen, denen er ein »Gespür für psychopathologische Zustände« vermitteln und ihr Einfühlungsvermögen in den Patienten verbessern möchte. Und in Zürich untersuchen Hirnforscher um Franz Vollenweider die Wirkung von Psychodrogen im Kernspintomografen, um mehr über das Wesen von Psychosen zu lernen. Doch bei Politikern und Ethikkommissionen sitzt die Angst vor dem zerstörerischen Potenzial der Bewusstseinsdrogen tief. Auch die Pharmaindustrie hat das Interesse an den Psychedelika verloren, deren Patente längst abgelaufen sind. Mit Substanzen wie LSD, die in extrem geringen Dosen wirken, ließe sich ohnehin kein großes Geschäft machen. (Wohl aus diesem Grund war LSD – anders als Haschisch, Kokain oder Designerdrogen – auch bei der Rauschgiftmafia nie sonderlich beliebt.) Derzeit sieht es jedenfalls nicht nach einem Revival der Psychedelika aus. Dafür drängen andere Substanzen auf den Markt: Der Konsum von Kokain ist kräftig gestiegen; neue Designerdrogen werden herumgereicht; und die Pharmaindustrie spekuliert auf das künftige Geschäft mit brain enhancers, die Konzentration, Gedächtnis oder Stimmung verbessern sollen. Angesichts dieser kommenden Herausforderungen plädiert der Bewusstseinsphilosoph Thomas Metzinger für einen neuen Umgang mit psychoaktiven Substanzen. Statt diese in die Illegalität abzudrängen (wo sie ihre unheilvolle Wirkung erst recht entfalten), sei es wichtig, eine neue »Bewusstseinsethik« zu schaffen. »Die Forschung hat gezeigt, dass sich das Kosumentenverhalten durch soziale Kontexte effektiver steuern lässt als durch neue Gesetze.« Der Philosoph, der sich schon von Berufs wegen mit Bewusstseinserweiterung befasst, kann sich etwa in einem Pilotprojekt die Einführung eines »LSD-Führerscheins« vorstellen: Wer ihn erwerben wolle, müsse in einem Eignungstest seine psychische Stabilität nachweisen und eine private Pflegeversicherung abschließen. Außerdem müsse jeder Kandidat eine Prüfung in Theorie und fünf »psychedelische Fahrstunden« unter fachkundiger Begleitung absolvieren. Danach solle ihm der Erwerb von maximal zwei Einzeldosen pro Jahr in der Apotheke erlaubt werden. Auch Albert Hofmann hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die psychische Atombombe doch noch gezähmt und – ähnlich wie die Kernenergie – einer zivilen Nutzung zugeführt wird. Von Meditationszentren etwa träumt der Chemiker, in denen LSD als »chemische Hilfe« zu anderen Erleuchtungstechniken hinzutreten könnte. Vielleicht entstehe ja mit der Zeit »so etwas Ähnliches wie Eleusis«. Allerdings hält der LSD-Entdecker sein »Sorgenkind« längst nicht mehr für jeden geeignet. »Ich verstehe überhaupt nicht, wenn junge Leute das wollen. Sie haben ja noch so viel vor sich, sie haben noch die ganze normale Wirklichkeit aufzubauen.« Allenfalls »im vorgerückten Alter« sei die Bewusstseinserweiterung mit »pharmakologischer Hilfe« sinnvoll. Und auch dann, bilanziert der LSD-Entdecker, bleibe dies so gefahrvoll wie eine Weltraumreise: »Auf die muss man sich vorbereiten, man muss ein Bordbuch führen, seine Erlebnisse verarbeiten und wieder zurückkommen auf die Erde. Wir sind nicht geboren, um im Weltraum zu leben.«

1938 synthetisiert Albert Hofmann in den Labors des Basler Pharmakonzerns Sandoz erstmals Lysergsäurediäthylamid (LSD). Basis ist ein Inhaltsstoff des Mutterkorns. Die Verbindung wird im Tierversuch getestet, wo sie keine besondere Wirkung zeigt. 1943, am 16. April, stellt der Chemiker die Substanz erneut her – aus dem unbestimmten Gefühl heraus, der Stoff müsse doch irgendetwas bewirken. Offenbar gelangt er damit unabsichtlich in Berührung. Hofmann verspürt plötzlich »ungewöhnliche Empfindungen«, fährt mit dem Fahrrad nach Hause und versinkt in einen rauschartigen Zustand, »der sich durch eine äußerst angeregte Fantasie kennzeichnete«. Drei Tage später unternimmt der Chemiker einen Selbstversuch mit der, wie er meint, »kleinsten Menge, von der noch irgendein feststellbarer Effekt erwartet werden konnte« – 0,25 Milligramm LSD, aus heutiger Sicht eine gewaltige Überdosierung. Hofmann hat das Gefühl, wahnsinnig zu werden. »Die Substanz, mit der ich hatte experimentieren wollen, hatte mich besiegt. Sie war der Dämon, der höhnisch über meinen Willen triumphierte. (…) Ich war in eine andere Welt geraten, in andere Räume, mit anderer Zeit.« Eilig wird ein Arzt gerufen, der allerdings keine abnormen Symptome feststellt. Hofmann glaubt an eine Vergiftung, trinkt in der Nacht »alle irgendwie beschaffbare Milch« und bleibt einen ganzen Tag lang im Bett. »Tags darauf konnte ich vollkommen normal und frisch die Arbeit im Laboratorium wieder aufnehmen«, notiert er im Bericht für seine Vorgesetzten. 1947 bietet Sandoz den neuen Wirkstoff (Markenname Delysid) einigen Wissenschaftlern »zur seelischen Auflockerung bei analytischer Psychotherapie und für experimentelle Untersuchungen über das Wesen der Psychosen« an. 1951 lädt Hofmann den befreundeten Schriftsteller Ernst Jünger zu einem Selbstversuch ein, dem ein intensiver Briefwechsel über die Wirkung von Drogen folgt. Jünger schreibt: »Der Wein hat bereits viel verändert, hat neue Götter und eine neue Humanität mit sich gebracht. Aber der Wein verhält sich zu (…) LSD, wie die klassische zu der modernen Physik. Erprobt sollten diese Stoffe nur in kleinen Gremien werden.« 1953 will die CIA den gesamten LSD-Bestand von Sandoz aufkaufen. Man einigt sich auf Lieferungen von 100 Gramm pro Woche. 1954 veröffentlicht Aldous Huxley das Buch The Doors of Perception (Die Pforten der Wahrnehmung), in dem er seine Drogenerfahrungen verarbeitet. Dem amerikanischen Pharmakonzern Eli Lilly gelingt die rein chemische Synthese von LSD. Mutterkorn als Grundsubstanz hat ausgedient. 1955 Der Psychiater Humphrey Osmond prägt den Begriff psychedelisch (die Seele entfaltend). Der Bankier und Pilzfreund Gordon Wasson reist nach Mexiko, um den Zauberpilz teonanacatl zu

Hofmann und das LSD-Molekül um 1945

suchen. Als erster Weißer nimmt er an den geheimen Ritualen der Mazatec-Indianer teil. Wasson postuliert, die rituelle Einnahme psychoaktiver Substanzen führe zur Religion. 1958 Weil ihm niemand glaubt, lässt Wasson seine Pilze von Experten untersuchen. Albert Hofmann findet darin den Wirkstoff Psilocybin. 1959 LSD-Sitzungen werden in Hollywood populär. »Ich wurde wiedergeboren«, erklärt Cary Grant nach einem LSD-Trip. Aldous Huxley und Allen Ginsberg propagieren in elitären Zirkeln die Droge zur Bewusstseinserweiterung. 1960 Der Psychologe Timothy Leary beginnt an der Harvard University sein Psilocybin Project. Anders als etwa Jünger will Leary die Drogenerfahrung der ganzen Menschheit zugänglich machen. »Listen! Wake up! You are God!« 1962 Leary unternimmt mit Theologiestudenten einen nicht genehmigten LSD-Versuch. Viele berichten von einer mystischen Erfahrung. Als die Presse das Thema aufgreift, schreitet die amerikanische Food and Drug Administration ein und konfisziert LSD-Vorräte. Aldous Huxley entwirft in Eiland die Utopie einer psychedelischen Gemeinschaft, in der die Droge moksha eine zentrale Rolle spielt. Er schickt Hofmann ein Exemplar des Buchs, gewidmet »dem ursprünglichen Entdecker der moksha-Medizin«. 1963 Timothy Leary wird in Harvard gefeuert. Der Psychiater Roy Grinker behauptet (allerdings ohne experimentellen Beleg), andauernde LSDErfahrung führe zu Geisteskrankheit. Am 22. November, am selben Tag als John F. Kennedy erschossen wird, stirbt Aldous Huxley an Kehlkopfkrebs. Vor dem Tod lässt er sich von seiner Frau Laura intramuskulär LSD verabreichen.

i Weitere Informationen über das LSD-Symposium in Basel im Internet: www.zeit.de/2006/03/isd

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1965 Im Stadtteil Haight-Ashbury in San Francisco entsteht die Hippie-Bewegung. Bei den Konzerten der Grateful Dead nehmen Tausende von Menschen an Acid-Tests teil. Auch die Hell’s Angels entdecken LSD. 1966 Ein Mörder behauptet, im LSD-Rausch gehandelt zu haben. Obwohl sich herausstellt, dass er unter Aufputschmitteln stand, macht der »LSDMord« weltweit Schlagzeilen. Das New England Journal of Medicine fordert ein Ende der LSD-Forschung, da die Ergebnisse zu uneinheitlich seien. Sandoz stellt die Produktion ein. Der Besitz von LSD wird in den USA verboten, Forschungsgelder werden gestrichen. Leary wird verhaftet. 1967 In San Francisco bricht der »Sommer der Liebe« aus. Drogen werden zum Teil wahllos konsumiert. Bad trips sind an der Tagesordnung: Bei Unerfahrenen führen die halluzinogenen Zustände zu Panikattacken und Selbstmordversuchen. In Haigth-Ashbury wird die Free Clinic gegründet, in der Drogenabhängige sich kostenlos behandeln lassen können. Als im Oktober Hippies einen Sarg durch den Stadtteil tragen, ist die Utopie der psychedelischen Bewusstseinserweiterung tot. Die Beatles schwören öffentlich den Drogen ab und beginnen mit transzendentaler Meditation. 1969 Der Gouverneur von Kalifornien, Ronald Reagan, lässt Polizisten gegen protestierende Hippies vorrücken. Timothy Leary kündigt an, bei der nächsten Gouverneurswahl gegen Reagan zu kandidieren. John Lennon schreibt zur Wahlkampagne den Song Come together. In Deutschland werden 178 925 LSD-Trips sichergestellt. 1970 Leary wird erneut verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Die Untergrundorganisation Weathermen verhilft ihm zur Flucht. Der »gefährlichste Mensch der Welt« (Nixon) wird später von der CIA in Afghanistan aufgespürt. 1971 Im Fachblatt Science erscheint ein Bericht, demzufolge reines LSD in vernünftiger Dosierung zu keinen Schädigungen führe. In der Szene sind längst andere Drogen wie Ecstasy oder Ketamin (Vitamin K) populär. 1977 wird in den USA bei einer Anhörung des Kongresses bekannt, dass die CIA in den fünfziger Jahren unerlaubte Drogenversuche mit Ahnungslosen anstellte. Die US-Regierung zahlt über eine Million Dollar an Entschädigungen. 1979 Albert Hofmann, mittlerweile Rentner, zieht in seinem Buch LSD – mein Sorgenkind Bilanz. Von den Exzessen der sechziger Jahre ist er ebenso enttäuscht wie vom Verbot des LSD. 1988 Im Kalifornien wird die Albert Hofmann Foundation gegründet. Sie fordert, LSD zu Forschungszwecken zu legalisieren. 2005 Das Bundeskriminalamt stellt in Deutschland 969 Kilogramm Kokain, 775 Kilo Heroin, 10 857 Kilo Cannabis und über 2 Millionen Ecstasy-Pillen sicher. Der Anteil der LSD-Delikte an der Rauschgiftkriminalität beträgt 0,1 Prozent.

Foto: C.Roessiger/ aus »Albert Hofmann und die Entdeckung des LSD« von Broeckers/Liggenstorfer, AT Verlag

Abb.: www.y23.com/fractal

Von Spionen, Hippies und Pilzfreunden – eine kleine Geschichte der Bewusstseinserweiterung Von Ulrich Schnabel

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LITERATUR Der erste Kriegsroman einer neuen Generation: In »Nahe Jedenew« erzählt Kevin Vennemann von deutscher Schuld Seite 53

Sex mit Drittmitteln

»Ich habe meinen Himmel« Der Jahrhundertkünstler Robert Rauschenberg ist 80 Jahre alt und krank, die Zeit, die ihm bleibt, gilt seinen Bildern. Interviews will er nicht mehr geben. Dann aber spricht er doch – über seine deutsche Herkunft, seine Liebe zur Müllkunst und die Angst vor dem Sterben

Robert Rauschenberg: Mr Rauterberg, wissen Sie was? DIE ZEIT: Sagen Sie. Rauschenberg:Wissen Sie, warum wir jetzt dieses Interview führen? ZEIT: Sie meinen, weil Sie eigentlich keine Interviews mehr geben? Rauschenberg:Genau. Aber Ihr Name klingt so ähnlich wie meiner. Da dachte ich, hm, das könnte doch lustig sein. Gibt ja nichts Schlimmeres als so Leute, die sich an ihre Regeln klammern. Ich setze mich ganz gern über meine Regeln hinweg, auch über Interview-Regeln. Ist doch gut, oder? Sonst säßen wir nicht hier. Wir könnten nicht über Rauschenberg und Rauterberg philosophieren. ZEIT: Waren Sie einmal in Rauschenberg? Rauschenberg: Sie meinen diesen kleinen Ort? Da waren wir mal vor einigen Jahren, irgendwo in der Mitte von Deutschland. Das war sonderbar, der eigene Name plötzlich so groß, als Ortsschild. ZEIT: Kommen Ihre Vorfahren von dort? Rauschenberg: Mein Großvater kommt, so viel ich weiß, aus Berlin. Ich habe aber keine besondere Erinnerung an ihn. ZEIT: Fühlen Sie sich denn Ihrer deutschen Herkunft verbunden? Rauschenberg: Sollte ich? Vielleicht wär das nicht schlecht. Mehr Ernst, mehr Disziplin, ein bisschen penibler. Aber dann, diese Last der Geschichte, das würde mich lähmen. Da fühle ich mich meiner Großmutter näher. Die war Indianerin, eine Cherokee. Von ihr habe ich meine Nase, meinen Instinkt. Auch meine Ruhelosigkeit. Ich fühle mich oft als Nomade, ziemlich unverwurzelt. ZEIT: Sie leben doch sehr sesshaft seit fast vierzig Jahren hier in Florida, auf Ihrer Insel Captiva. Rauschenberg: Das ist mein Reservat. Hier habe ich meinen Dschungel, meine Tiere, meinen Himmel, wenn das nicht zu schmalzig klingt. Unterwegs bin ich trotzdem viel, war immer viel verreist. Na ja, und meine Beziehung zur Welt ist wohl auch nomadisch. ZEIT: Gilt das ebenso für Ihre Kunst? Rauschenberg: Woran denken Sie? ZEIT: Sie haben sich nie in einer Kunstform fest eingerichtet, Sie sind immer herumgewandert zwischen Malerei, Bildhauerei, Performance. Rauschenberg: So kann man es wohl sehen. Ich mochte mich nie festlegen. Ich mochte nie das Endgültige. Das ist doch eine kranke Idee, die Kunst müsse irgendwie ideal und schön und in sich abge-

Foto: Abe Frajndlich/Agentur Focus

Ein Sommertag mitten im Winter. Eine Terrasse im Schatten, ein sanfter Wind, und der Blick geht hinaus aufs Meer vor Floridas Küste. Robert Rauschenberg kommt, geschoben im Rollstuhl, nach Schlaganfällen halbseitig gelähmt. Ein wenig verhalten ist er, die Stimme tonlos. Das Gespräch soll eine Stunde dauern, doch Reden fällt ihm schwer, fern ist alles Vergangene. Dann das Essen, dann Wein, dann noch mehr Wein. Und mit einem Mal ist vieles wieder da. Plötzlich blicken seine Augen, als sei die Welt noch immer Abenteuer, vergnüglich und voll des Unentdeckten. Am Ende sprechen wir drei Stunden lang. Manchmal schweigt Rauschenberg auch, versinkt und will nicht wieder auftauchen. Doch fast immer lacht er, bübisch, in sich hinein. Als hätte er sein Künstlerleben nur gelebt, um jetzt im Alter amüsiert darauf zurückzublicken.

Ein Bild aus guten Tagen – Robert Rauschenberg mit 71 Jahren.

" Der Alleskünstler Bildhauer und Maler, Fotograf und Bühnenbildner, Kostümdesigner und Choreograf – kaum ein anderer Künstler des 20. Jahrhunderts hat so viele Gattungs- und Stilgrenzen übersprungen wie Robert Rauschenberg. 1925 in Port Arthur, einem Kaff in Texas, geboren, begann er schon früh zu zeichnen und zu sammeln. Doch erst im New York der fünfziger Jahre hatte er mit seinem ungewöhnlichen Zugang zur Kunst ersten Erfolg: Oft durchstöberte er Mülltonnen, griff sich Cola-Flaschen, Glühbirnen oder Illustrierten-

bilder und machte daraus seine wilden Alltagscollagen. Seither gilt er vielen als Urvater der Pop-Art, andere sehen in ihm sogar den »Pablo Picasso der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts«. In fast allen großen Museen der Welt sind Rauschenbergs Bilder zu sehen. Derzeit werden frühe Werke, die Combines, in einer fulminanten Ausstellung des Metropolitan Museum of Art in New York gezeigt (bis zum 2. April). Seine jüngste Ausstellung in Deutschland präsentierte kürzlich die Galerie Terminus in München.

Frankfurts Sexualforschung braucht Eigenverantwortung

schlossen sein. Wissen Sie, jedes Bild von mir könnte auch ganz anders aussehen. Und am liebsten ist es mir, wenn Sie meine Bilder nicht als Bilder ansehen. Es sind Spielfelder. Sie sollen Lust bekommen, selbst weiterzumalen und weiterzubauen. ZEIT: Leider ist Anfassen im Museum ja strengstens untersagt. Rauschenberg:Sie dürfen mir glauben, es fällt mir verdammt schwer, meine Bilder nicht mehr anfassen zu dürfen, sobald sie aus dem Atelier raus sind. So etwas wie ein fertiges Kunstwerk, das gibt es für mich nicht. ZEIT: Begreifen Sie denn Ihre Kunst als Antikunst? Als Rebellion gegen die klassischen Vorstellungen vom Ewigen und Erhabenen? Rauschenberg: Ich muss zugeben, so viel Pathos wie Barney Newman oder wie Bill de Kooning habe ich nie aufbringen können. Die waren so wahnsinnig selbstsicher, sie schwelgten in ihrer Freiheit. Mich hat der Abstrakte Expressionismus, diese ganze Kunst der fünfziger Jahre, ziemlich eingeschüchtert. Ich mochte es immer bescheidener. ZEIT: Und haben ganz bescheiden ein Werk des Heroen William de Kooning vernichtet. Rauschenberg: Ich habe es nicht vernichtet. ZEIT: Sie haben ein Bild von ihm ausradiert und das Ausradierte dann zum Kunstwerk erklärt. Rauschenberg: Ja, aber da war ich noch sehr jung, es war ein Experiment. Ich wollte sehen, ob auch das Ausgelöschte noch ein Bild abgibt. Ich bin damals zu Bill hin, mit einer Flasche Jack Daniels. Und in der Hoffnung, dass er bitte nicht zu Hause sein möge. Dann wäre das Vorhaben als solches für mich Kunstwerk genug gewesen. Leider war er aber da und freute sich über den Whiskey. Das tat ich dann auch. Ich erzählte ihm von meiner Idee, und er fragte mich, ob das denn wirklich sein müsse. Dann rückte er irgendwann ein Bild raus, eines, mit dem ich wirklich zu tun hatte. Ein Bild mit lauter Ölspritzern, Tintenspuren, Kreidelinien. ZEIT: Wie lange mussten Sie radieren? Rauschenberg: Vier Wochen waren das, glaube ich. Und so ungefähr fünfzehn Radiergummi. So lange habe ich wohl nie wieder an einem Bild gearbeitet. ZEIT: Vor allem nicht an einem Nichtbild. Rauschenberg:Ja, das Auslöschen blieb die Ausnahme. ZEIT: Warum eigentlich? Rauschenberg: Ich bin niemand, der zerstört. Ich umarme die Welt lieber. ZEIT: Sie sind so eine Art Konservativer. Rauschenberg:Na, das hat noch niemand behauptet. ZEIT: Ihre Kunst ist eine Aufbewahrungskunst, sie konserviert lauter Dinge, die sonst auf den Müll wandern würden, Glühbirnen, Autoreifen oder eine alte Steppdecke. Rauschenberg: So ist das halt bei mir, alles weckt meine Neugier. Und gern lasse ich mich verblüffen, auch von den unscheinbaren Dingen. Da braucht es gar nicht die großen Gesten. Auch nicht die tollkühnen Künstlerschöpfungen. Es reicht, sich dem zu widmen, was uns ständig umgibt. Auch das Unbedeutende hat eine Würde, ein Geheimnis. ZEIT: Bleibt nicht Müll auch dann Müll, wenn er im Museum an der Wand hängt? Rauschenberg: Ich weiß schon, es gibt Leute, die so denken. Mir tun sie leid, denn sie sind ja ständig von Fortsetzung auf Seite 44

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Nun könnte man also anfangen, die erste Fundraising-Party vorzubereiten. Denn künftig soll das angesehene Frankfurter Institut für Sexualforschung sein Geld zumindest zur Hälfte aus Drittmitteln einwerben, um sein Fortbestehen zu sichern, nachdem sein Direktor, Volkmar Sigusch, altersbedingt ausscheiden wird. Für eine »überwiegende Finanzierung des künftigen Instituts über Stiftungsbzw. Spendengelder« spricht sich der Fachbereichsrat Medizin aus, und der Vizepräsident der Universität, ein Zellbiologe, hat laut FAZ auch eine Idee, wer fürs Spenden infrage käme, nämlich »Gruppierungen von Menschen, deren Sexualität nicht im Normbereich liegt«. Nun kennt sich ja nicht jeder gut aus mit der Frage, was denn im sexuellen Normbereich liegt, zumal die Experten des Instituts seit Jahrzehnten einigen Verdienst darin haben, über die Vorstellungen von »Normalität« und »Perversion« aufzuklären. Jetzt aber gilt es, Geld aufzutreiben. Fantasie! Die Organisatoren der ersten Fundraising-Party, die sich vorsichtshalber wohl lieber dem Normbereich zuordnen, schon allein, weil es sie sonst teuer kommt, werden sich unter all den Triebtätern, den Verzweifelten, den Marginalisierten, vielen mit ganz unauffälliger Fassade – also allen, die sich selbst und andere sexuell gefährden und die Hilfe dieses medizinischen Instituts brauchen – nun umgucken müssen, wer denn als Institutsförderer infrage kommt. Freiwillig! Ein öffentlicher Spendenaufruf an potenzielle Sponsoren könnte vielleicht, von Mensch zu Mensch, einfach fragen: »Du bist nicht normal? Du möchtest dich sinnvoll betätigen? Dann unterstütze die Erforschung deines Unglücks! Jeder wird gebraucht. Jeder kann seine Chance nutzen!« Ein T-Shirt für Werbeträger ließe sich denken: »Ich bin pervers – aber gemeinnützig!« Ein Button käme natürlich in Umlauf: »Eigenverantwortlich abartig«, und vielleicht – man soll flexibel und angstlos Innovationsspielräume erwägen – ließe sich sogar ein Tributchen der forschungsfreundlichen pädophilen Priester abzweigen, die auch einmal zur gesellschaftlichen Selbstaufklärung etwas beitragen möchten. Schwierig wäre wohl die Zielgruppe der heimlichen Kannibalen zu erreichen, nicht leicht auch die Sodomisten im ländlichen Raum. Daran wäre zu arbeiten. Viel ungemütlicher noch die Frage, wer sich künftig vor dem Spendenaufruf still in den kostenlosen Normbereich verdrücken kann. Leute mit fragwürdiger Koitusfrequenz etwa? Oder solche, die ihre Lust partout nicht auf Objekte sexueller Begierde richten wollen? Die nur den Effizienzgewinn zärtlich begehren? Oder den Cup? Die schwarze Katze von nebenan, die Ungestörtheit oder den Milchaufschäumer des Schwagers? Schwer zu sagen. Zunächst wäre wohl eine Selbsthilfegruppe potenzieller Sponsoren zur Erforschung der Normalität zu gründen. Sie müsste dafür nur noch irgendwo Geld auftreiben. Elisabeth von Thadden

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»Ich habe meinen Himmel« Fortsetzung von Seite 43 Müll umgeben und leiden offenbar schwer darunter. Das wäre nicht meine Sache. Ich versuche lieber, in meiner Kunst dem Gewöhnlichen etwas abzugewinnen. Etwas, das mich überrascht. Viele Menschen leben doch in dem Gefühl, dass ihnen für ihr Glück etwas Wichtiges fehlt. Oder dass sie das Entscheidende in ihrem Leben versäumen. Dabei ist die Welt doch ungeheuer reich. Man muss den Reichtum nur einsammeln. ZEIT: Das klingt auch recht indianisch. Rauschenberg: Vielleicht haben Sie Recht, vielleicht ist das auch ein Erbteil meiner Großmutter. Jedenfalls habe ich meine Kunst nie gesucht, ich habe sie immer gefunden. ZEIT: Sie wollten niemals ein Schöpfer, ein Erfinder sein? Rauschenberg: Ich bin kein Künstler, der Ideen hat. Ich hasse Ideen. Und wenn ich trotzdem mal eine habe, dann gehe ich spazieren, um sie zu vergessen. Ich brauche die Unsicherheit, das Nichtwissen. Das ist eigentlich wie bei einer Performance, da weiß man vorher auch nicht genau, was eigentlich passieren wird. Also, am besten bin ich ein unbeschriebenes Blatt, wenn ich ins Atelier gehe. Nicht selten bin ich leider auch beim Rausgehen ein unbeschriebenes Blatt. ANZEIGE

Abb.: ©Robert Rauschenberg ‹‹Monogram,1955-1959››; Moderna Museet,Stockholm; VG Bild-Kunst, Bonn 2006

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ZEIT: Sie haben immer wieder etwas anderes gemacht, warum? Rauschenberg:Wenn ich etwas zu gut kann, wenn es mir zu geläufig wird, dann wird es mir schnell langweilig. Dann mache ich etwas anderes. Deshalb fotografiere ich auch so gern, immer wieder lassen sich mit der Kamera die Dinge ganz neu entdecken. ZEIT: Schon als Student haben Sie gern fotografiert. Damals am Black Mountain College in Asheville hatten Sie die Idee, die ganzen USA zentimetergenau abzufotografieren. War das schon dieser Impuls, der auch später ihre Kunst prägte: nichts auslassen zu wollen und das Übersehene zu sehen? Rauschenberg: Das Übersehene sehen, ja, so lässt sich das sagen. Allerdings hat sich das Vorhaben dann ziemlich bald zerschlagen. Selbst heute wäre ich wohl erst knapp über die Stadtgrenze von Asheville hinaus. ZEIT: Heute gibt es ja auch Satelliten, die alles fotografieren. Rauschenberg: Ja, die haben aber ebenfalls ziemlich lange gebraucht. ZEIT: Auch wenn Sie kein Schöpfer sein wollen, haben Sie damals doch mit einer Art Schöpferperspektive gespielt, mit der Vorstellung, der Künstler sollte alles erfassen und alles gleichrangig bewahren. Rauschenberg: Hm, das ist interessant. Ich habe vor einiger Zeit für die katholische Kirche gearbeitet, da sollte ich für die Riesenkirche von Renzo Piano in Süditalien etwas entwerfen. Gott war für mich auf diesem Bild eine Antenne, eine Satellitenschüssel, die alles sieht, alles weiß, alles hört. Hat mir viel Spaß gemacht diese Arbeit. Nur leider der Kirche nicht. Hat den Entwurf abgelehnt. ZEIT: War es Ihre erste Arbeit für die Kirche? Rauschenberg: So ziemlich. Ich habe mal was aus Holz und lauter Schleifen gemacht, das hing über dem Taufstein. Da war ich aber noch Kind. Und die Kirche, in die ich mit meinen Eltern ging, war

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eine dieser ganz strengen. Da galt selbst das Tanzen als Sünde. ZEIT: Aber wollten Sie nicht Priester werden? Rauschenberg: Das wollte ich wohl. Aber in dieser Kirche war das Hier und Jetzt so voller Sünde, und das Gute schien es nur im Jenseits zu geben. Ich hoffe, meine Kunst erzählt da etwas anderes. ZEIT: Wussten Sie denn als Kind schon, dass Sie Künstler werden wollten? Rauschenberg: Wo denken Sie hin? Künstler, das Wort gab es bei uns zu Hause gar nicht. Dass ich immerzu gezeichnet und alle Schulbücher voll gekritzelt habe, das lag daran, dass ich nicht lesen und schreiben konnte. Ich bin Legastheniker, aber das wusste damals natürlich niemand. Vor ein paar Jahren habe ich einen Preis bekommen, dafür, dass ich mit meiner Legasthenie so weit gekommen bin. Tom Hanks hat damals auch einen Preis bekommen und noch ein paar Leute. Ich war sehr stolz und habe meine Mutter angerufen. Aber Tom Hanks kannte sie nicht. Und zur Legasthenie hat sie nur gesagt: »So heißt das also. Wir dachten immer, du bist einfach dumm.« ZEIT: Nach einer glücklichen Kindheit hört sich das nicht gerade an. Rauschenberg: Es war schon ziemlich einsam damals. Immer waren da die vielen Tanten, die mein Bett belagerten, sodass ich auf der Veranda schlafen musste. Kinder gab es rundum so gut wie keine, nur meine Schwester, und die war zehn Jahre jünger. In der Schule war ich der Clown, ich kam im Unterricht einfach nicht mit. Außerdem musste ich immer Hemden tragen, die meine Mutter selbst genäht hatte. Mein erstes richtiges Hemd bekam ich erst, als ich mit der Highschool fertig war. Wissen Sie, ich war immer ein bisschen scheu, die Menschen machten mir Angst. Und etwas davon ist wohl geblieben, etwas von der Bescheidenheit, in der ich damals mit meiner Familie lebte. ZEIT: Meinen Sie, auch Ihre künstlerische Vorliebe für das Gewöhnliche stammt aus jener Zeit? Rauschenberg: Ich komme ja aus dem Gewöhnlichen, warum sollte ich das nicht zeigen? Mein Freund Darryl meint, dass in der RauschenbergKindheit schon der ganze Rauschenberg-Künstler da war. Es gibt ein Foto von mir, da bin ich acht und stehe irgendwo hinter unserem Haus, das eher eine Hütte war. Überall Müll, überall Stoffreste von meiner Mutter. Und irgendwie stimmt es wohl, dass ich schon damals zum Müllmenschen wurde. Ich hatte auch viele kleine Schachteln, in denen ich meine Funde sammelte. Käfer zum Beispiel, die versteckte ich unter dem Haus. Es war so ein aufgebocktes Holzhaus, unter das ich als Kind prima drunterkriechen konnte. Eigentlich habe ich immer unten im Halbdunkel gespielt, oder ich bin auf den Baum geklettert und weiter aufs Hausdach. Ich war immer im Dreck oder im Himmel.

ZEIT: Und haben Sie sich im Dreck oder im Himmel dafür entschieden, Ihrer engen Heimat zu entfliehen? Rauschenberg: Das kam ja erst später. Und dass ich Künstler wurde, war ein ganz schöner Zufall. ZEIT: Sie wollten gar nicht Künstler werden? Rauschenberg: Irgendwann war ich bei der Marine in Los Angeles gelandet. Da hat sich das mit dem Zeichnen gut entwickelt. Die Kameraden wollten alle eine Skizze von sich selbst nach Hause schicken, zu ihren Eltern oder ihrer Liebsten. Und so habe ich sie alle gezeichnet, meist in den Waschräumen, denn überall sonst war nachts das Licht ausgeschaltet. Damals begann ich langsam zu begreifen, dass Zeichnen überhaupt etwas Besonderes ist. Bis dahin hatte ich gedacht, das könne jeder, das sei etwas ganz Normales. ZEIT: Gut, dass es noch keine Foto-Handys gab. Rauschenberg: Ja, heute zeichnet ja kein Mensch mehr. Aber auch damals war das ziemlich brotlos. Ich habe dann in einer Fabrik für Badeanzüge als Packer gearbeitet. Und erst eine gute Freundin hat mich dann zur Kunst überredet. Sie meinte, ich hätte immer so betrübt ausgesehen. Und warum ich nicht Kunst studieren wollte. Kunst studieren, das schien mir völlig absurd zu sein. Sie hat mich aber dann mit nach Kansas-City genommen, und ich war dann tatsächlich dort auf der Kunstschule. ZEIT: Später haben Sie in North Carolina bei dem Bauhaus-Lehrer Josef Albers studiert, bekannt für seine strengen geometrischen Bilder. Waren Sie damals ein ganz anderer Künstler? Oder was hatten Sie bei ihm verloren? Rauschenberg: Zuvor war ich noch in Paris. An die Zeit kann ich mich nur schlecht erinnern. Ich weiß eigentlich nur noch, dass ich einige Aktstudien nach Hause geschickt habe. Als ich die dann irgendwann wiederhaben wollte, hatte meine Mutter sie alle bemalt. Sie hatte die nackten Frauen angezogen, mit Unterwäsche. ZEIT: Und Albers? Rauschenberg: Albers war unerbittlich, er malte in so einem Laborantenkittel und trug gern weiße Handschuhe. Ich hingegen liebte es, mit den Händen zu malen und die Farbe ordentlich spritzen zu lassen. Er hat mich oft beschimpft, er hat mich klein gemacht, er nannte mich einen Versager und wollte, dass ich mir meine langen Haare abschneide. Aber ich brauchte wohl die Disziplin, ich brauchte Widerstand, um mich selbst zu finden. Immer hat er gesagt: »Kunst ist Schwindel.« ZEIT: Das haben Sie dann ja beherzigt. Rauschenberg: Meinen Sie? ZEIT: Na, zumindest sind Sie kein Illusionist geworden. Eher so eine Art Naturalist. Rauschenberg:Eine Zeit lang habe ich aber schon monochrome Bilder im Geiste von Albers gemalt. Auch wenn meine Leidenschaft für das Kramen und Horten mich nie verlassen hat. Am College habe ich sogar freiwillig den Müllwagen gefahren,

Bei Rauschenberg wird selbst eine alte ausgestopfte Ziege zur Skulptur – »Monogram«, 1955–59

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Kunst aus allem – »Coca Cola Plan«, 1958

immer auf der Suche nach etwas Brauchbarem. Und ich habe so ziemlich auf allen Dingen herumgepinselt, die es gab. Einmal sogar, als ich keine Leinwand mehr hatte, auf einer Steppdecke, mit ein bisschen Nagellack und rot gestreifter Zahnpasta. Viele Kritiker meinten später, ich hätte wohl Dada weiterentwickeln wollen oder den Surrealismus. Es waren aber nur Lust und Laune. ZEIT: Woher dieser Mut zum Überschwang? Rauschenberg: Wenn ich das wüsste. Vielleicht lag’s auch daran, dass mich die anderen Künstler nicht so ernst genommen haben. Ich war eher mit Musikern und Tänzern zusammen, mit John Cage und Merce Cunningham oder Earle Brown. Ein wenig neidisch war ich immer auf die, weil ihre Kunst so ganz für den Augenblick war. Nicht statisch, kein Möbel, nichts Festgelegtes. Das hat mir sehr imponiert. ZEIT: Ihre Kunst hat ja ebenfalls etwas recht Ephemeres. Manches sieht heute schon aus, als könnte es die nächsten Jahrzehnte kaum überstehen. Stört Sie das nicht? Rauschenberg: Meine Kunst will ja nicht zeitlos und unvergänglich sein. Doch bitte, verraten Sie’s nicht meinen Sammlern. ZEIT: Soll denn nichts von Ihnen bleiben? Rauschenberg: Was vergangen ist, ist vergangen und interessiert mich nicht mehr sonderlich. Da bin ich wohl sehr amerikanisch. Nur manchmal sehe ich eine Arbeit von mir und denke: »Hm, den Künstler würdest du gerne mal kennen lernen.« Eigentlich ist das einzig Ewige, was ich besitze, meine Schildkröte Rocky, eine Wüstenschildkröte. Sie mag es hier in Florida aber nicht, ich hatte sie mal hier, sie hat zwei Wochen lang nichts gegessen. Also habe ich sie wieder nach New York gebracht, dort zwischen der Kunst fühlt sie sich wohl. Sie mag Kunst, wirklich, das ist kein Witz. Jedes Mal, wenn wir die Kunstwerke umhängen, kriecht sie herum, reckt ihren Hals, und irgendwann findet sie ihr Lieblingswerk. Da sitzt sie dann gern herum, sie ist eine Kunstkritikerin. Die beste, die ich kenne. ZEIT: Heute arbeiten ja sehr viele Künstler so wie Sie. Es ist normal, Kunstwerke aus Resten, aus Abgelegtem zu machen. Ehrt Sie das? Betrübt Sie das? Rauschenberg: Ich kann nichts dagegen haben, wenn die Leute sich vergnügen wollen, oder? Nur wenn es zur Masche wird, dann finde ich’s langweilig. Oder wenn sie es so ungeheuer mit Bedeutung aufladen, das behagt mir nicht. Manche verkriechen sich auch in ihr Selbstmitleid, in so einen merkwürdigen Existenzialismus. ZEIT: Sie meinen nicht zufällig Joseph Beuys? Rauschenberg: Fragen Sie nicht so direkt. Es gibt tatsächlich Leute, die halten Beuys und mich für Vettern oder so was Ähnliches. Doch Beuys verstand sich als großer Erzieher der Menschen, und das bin ich nun ganz und gar nicht. Und ich kann bei ihm auch keinen Humor entdecken, obwohl ja manche sagen, er sei sehr humorvoll gewesen. Ich habe damals die große Schau im GuggenheimMuseum gesehen, und das kam mir wie die depressivste Ausstellung aller Zeiten vor. Ich bin nun mal ein Optimist, ich mag es nicht so düster. Aber, von mir aus, soll doch jeder machen, was er will. ZEIT: Er war ein politischer Künstler. Sind Sie das nicht? Rauschenberg:Doch, doch. Ich habe mich immer eingemischt, war bei vielen Kampagnen dabei, bei

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vielen Spendenaktionen. Ich habe mich immer für die Demokratische Partei eingesetzt, ich war oft bei Carter und bei Clinton im Weißen Haus. Und wenn ich sehe, wie ungerecht es in unserem Land derzeit zugeht, weil die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, dann würde ich am liebsten die nächste Großaktion starten. Aber eins muss ich sagen, meine Kunst habe ich da rausgehalten. Ich will keine Bedeutung vorschreiben, ich will, dass sie offen ist für alle möglichen Vorstellungen und Beobachtungen. ZEIT: Kann Kunst überhaupt etwas verändern? Rauschenberg: Das würd ich schon gern glauben. Und mit ein bisschen Mut kann man doch eine Menge bewirken. Ich würde nicht behaupten, dass es heute unbedingt Frieden im Überfluss gibt, aber immerhin waren wir mit unseren Ausstellungen in Russland und China. An Orten, an denen zuvor nie abstrakte Kunst gezeigt werden durfte. Und wo wir vieles aufgebrochen haben. Der Sozialismus ist tot, es lebe die Kunst! ZEIT: Zumindest ist die Kunst heute überall zugegen. Aber hat sie sich damit nicht inflationiert? Rauschenberg: Und was ist mit der arabischen Welt? Da könnten Künstler auch heute viel bewirken. Nur denken die meisten von den Jungen heute eher an ihre Karriere, sie haben Angst, aus dem Rahmen zu fallen. Wobei, wenn ich’s recht bedenke, war das früher wohl auch nicht anders. ZEIT: Wenn Sie heute jung wären, würden Sie wieder Künstler werden? Rauschenberg: Vielleicht wäre ich auch ein guter Taxifahrer. Ich wollte ja auch gar nicht ein besonders guter Künstler werden, ich wollte nur nicht, dass jemand anderes ein besserer Künstler ist als ich. Nein, das mit dem Künstlersein, das ist nicht schlecht. Auch wenn sich meine Mutter nie so richtig damit anfreunden konnte. Sie genoss die Partys und Empfänge, aber meine Bilder mochte sie nicht. Wissen Sie was? Vor ein paar Jahren bei einem Hurrikan, da rief ich sie an und fragte, ob sie ihr Haus auch gesichert habe. »Natürlich«, sagte sie. »Ich habe alle Fenster mit Sperrholz abgedeckt. Ich wollte aber keine 25 Dollar ausgeben, da habe ich deine alten Kunstwerke dafür genommen.« Und ich: »Was? Und in welche Richtung zeigen die Bilder?« – »Natürlich nicht nach außen. Oder meinst du, dass die Nachbarn erfahren sollen, was du treibst?« Das ist wirklich so gewesen, es gibt ein Foto davon, mein Schwager hat es gemacht. ZEIT: Und heute? Gehen Sie noch in Ihr Atelier? Rauschenberg: Ach, heute wundere ich mich über Rauschenberg und was er da draußen in der Welt so alles anstellt. Neulich hat doch tatsächlich das MoMA in New York 30 Millionen Dollar für ein Bild von mir bezahlt. Leider nicht mir, ich hatte es schon vor vielen Jahren verkauft, für 1500 Dollar. ZEIT: Können Sie denn nach ihren Schlaganfällen noch malen? Rauschenberg: Sie meinen, so als Krüppel? Meine rechte Seite ist ganz gelähmt, und das macht es natürlich nicht einfacher. Nicht mal meine Kamera kann ich noch halten. Aber zum Glück habe ich viele Leute um mich herum. Und die bekommen alle eine Kamera in die Hand gedrückt, sogar meine Pflegerin. Ich sage ihnen immer, bitte, wählt nicht aus. Und wenn ihr ein schlechtes Motiv seht, dann ist es bestimmt ein gutes. So bekomme ich Tausende von Fotos, eigentlich so wie früher, fremde Bilder, die ich zu meinen eigenen mache. Ich vergrößere sie, färbe sie, verfremde sie. ZEIT: Gucken Sie noch immer so viel Fernsehen? Rauschenberg: Was denken Sie denn? Natürlich. In fast jedem Zimmer steht ein Fernseher und läuft 24 Stunden am Tag. ZEIT: Wie furchtbar. Warum das denn? Rauschenberg: Ich brauche sie einfach. Wenn sie alle ausfielen, dann wäre das ungefähr so wie der Tod. Ich wäre abgeschnitten von allem. Dann bliebe mir nur noch die Kunst. ZEIT: Haben Sie Angst vor dem Tod? Rauschenberg: Meine große Angst ist, etwas zu verpassen. Ich will einfach nicht gehen. Außerdem sind meine Füße wirklich zu hässlich, um diese goldenen Engels-Puschen zu tragen. DAS GESPRÄCH FÜHRTE HANNO RAUTERBERG

Abb.: ©Robert Rauschenberg »Coca-Cola-Plan,1958«; The Museum of Contemporary Art, Los Angeles/The Panza Collection; VG Bild-Kunst, Bonn 2006

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Fotos: Philip Kwame Apagya (v.l.n.r.) »Francis in Manhattan, 1996« »Self Portrait, 1996«, »For you! 1996«, aus: »Flash Afrique!«, Steidl Verlag, Göttingen 2001

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Halbe Lügen und trügerische Wahrheiten prägen die Berichte Dieses Kräftemessen oder dieser Konflikt existiert in allen inhaltlichen Sparten der Medien. Nicht zuletzt im Bereich der außenpolitischen – oder vielleicht eher der außenkulturellen – Berichterstattung. Was mich zum betrüblichen Thema dieses Textes bringt, der Frage nämlich, wie die Berichterstattung über den afrikanischen Kontinent in den Massenmedien der westlichen Welt eigentlich aussieht. Wenn man den gewöhnlichen Informationsfluss aus und über Afrika kritisch betrachtet, kann man nach kurzer Zeit eine Schlussfolgerung ziehen, die eine erschreckende und zugleich beschämende Dimension enthält. Wenn wir uns am Bild der Massenmedien orientieren, lernen wir heute alles darüber, wie Afrikaner sterben, aber nichts darüber, wie sie leben. Die Flut von halben Lügen, die in trügerische Wahrheiten verwandelt werden, oder das Umgekehrte, Halbwahrheiten, die nur zu verworrenen Schlussfolgerungen führen, prägen gegenwärtig die Berichterstattung über Afrika. Ich brauche kaum zu betonen, dass sich in dieser medialen Wüste natürlich viele Stimmen zum Protest erheben und versuchen, mit ihren Gegenbildern durchzudringen. Doch der breite Fluss, der Mainstream, entspricht dem, was ich oben beschrieben habe. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel. Vor einigen Jahren gab Newsweek ein Sonderheft über die Zukunft der Welt heraus. Darin brachte man das Kunststück fertig, den afrikanischen Kontinent nicht ein einziges Mal zu erwähnen. Kürzlich las ich in einer großen europäischen Tageszeitung, Afrika sei »ein von Bürgerkriegen zerrissener Kontinent«. Während ich dies schreibe, herrscht in über neunzig Prozent der Länder auf dem afrikanischen Kontinent Frieden. Es gibt einige große und ernste und einige kleinere, doch nicht minder ernste Konflikte. Aber »ein von Bürgerkriegen zerrissener Kontinent«? Dies ist eine arglistige Lüge. Warum ist die Berichterstattung so verzerrt und mit Lügen behaftet? Was wird damit bezweckt? Gibt es überhaupt einen Zweck, oder handelt es sich nur um eine Art von Resignation, weil man über einen Kontinent berichten muss, dessen Zukunft schon verloren zu sein scheint? Liegt es daran, dass die Journalisten sich gegenseitig lesen und die Worte ihrer Kollegen ernst nehmen, ohne sie infrage zu stellen, ohne nach alternativen Informationsmöglichkeiten zu suchen? Wie kommt es dazu, dass die westlichen Medien den ganzen afrikanischen Kontinent mit Nichtachtung strafen? Natürlich liegt es teilweise daran, dass Journalisten einander beobachten. Journalisten sind Herdentiere wie andere Menschen auch. Nur wenige wagen es, ganz eigene Wege zu gehen. Es kann sein, dass man einander seine Exklusivmeldungen neidet, aber zugleich ist man bemüht, sich nicht aufreizend weit vom Mainstream der Nachrichten entfernt zu positionieren.

Um dies ganz zu verstehen, muss man die Vorgeschichte betrachten. Vor 150 Jahren war es in der westlichen Welt nahezu unmöglich, ein negatives geschriebenes Wort über den afrikanischen Kontinent zu finden. Zwar war das Material äußerst begrenzt, es gab nur wenige Zeitungen mit geringer Verbreitung, doch hinzu kamen die Reisebücher, die für die Ausformung des Afrika-Bildes der lesenden Allgemeinheit und der Obrigkeit wahrscheinlich von größerer Bedeutung waren. In Rousseaus Geist wurde Afrika als ein Eden beschrieben, das die Zeiten der biblischen Geschichte überlebt hatte. Frühe arabische und europäische Reisende, die nach Mali kamen, waren erstaunt über eine Gesellschaftsstruktur, wie sie sie in Europa oder im Nahen Osten kaum gesehen hatten. Afrika galt als nachahmenswert, als Quelle der Inspiration. Danach entwickelt sich schleichend und über einen längeren Zeitraum hinweg eine andere Sichtweise. Diese Entwicklung beginnt in den Jahren nach 1850 und erreicht ihren ersten Höhepunkt in den 1880er Jahren mit der Berliner Konferenz, auf der der afrikanische Kontinent in die kolonialen Enklaven mit ihrer absurden Grenzziehung aufgeteilt wurde. Massenmedien und Buchproduktion, Intellektuelle und Geistliche, Prokuristen und Abenteurer verändern das bis dahin existierende Bild von Afrika auf dramatische Weise. Der Kontinent wird wieder »wild«, der Afrikaner leichtsinnig, faul und rührend naiv wie ein unschuldiges Kind, zugleich aber auch gefährlich, weil die Naivität leicht in jene Brutalität umschlagen kann, die nach dem zivilisatorischen Eingreifen Europas verlangt. Der Wilde soll bezwungen, seine Brutalität zu seinem eigenen Besten besiegt werden. Es ist natürlich nicht schwer, diesen negativen Wandlungsprozess in den Massenmedien zu verfolgen, zu sehen, wie Europa sich dafür entscheidet, dass wir von Afrika und seinen Kulturen nichts zu lernen und keine Inspiration von dort nötig haben. Jetzt heißt die Losung Bekehrung. Afrikas barbarische Zurückgebliebenheit kann nur durch einen von Europa ausgehenden Zivilisationsprozess getilgt werden. Mit Kassenbüchern und Bibeln, mit Kanonen und Kreuzen soll Afrika langsam auf europäisches Niveau angehoben werden. »Das dunkle Afrika«, von dem Livingstone spricht, soll durch das Anzünden des europäischen Lichts seine Aufklärung erfahren. Um dieses neue Programm, diese neue Sichtweise und diese wirtschaftliche Strategie zu legitimieren, bedurfte es eines Alibis. Hier kam den Massenmedien eine entscheidende Rolle zu, und die schreibende Zunft ordnete sich gefügig ins Glied ein. Nur geringe Kräfte wirkten der Inszenierung dieses gigantischen Übergriffs gegen den afrikanischen Kontinent entgegen. Sie waren buchstäblich Rufer in der Wüste. Niemand hörte auf sie. Sie wurden verachtet. Sahen sie doch nicht, was für die eigene Nation das Beste war. Kolonisieren hieß, eine bessere Welt zu errichten. Die Ideologen waren Ingenieure und Missionare, Kaufleute und Artilleristen, und die Journalisten sollten ihre Werke begleiten und von ihren Leistungen berichten.

Mal sind die Afrikaner Affen, mal edle Wilde. Nur Menschen sind sie selten Das neue Afrika-Bild ist um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert fertiggestellt. Um diese Zeit ist auch die koloniale Aufteilung weitgehend abgeschlossen. Es kommt noch zu kleineren Konflikten zwischen den verschiedenen Kolonialmächten, beispielsweise zwischen England und Portugal um die später so zynisch glatt gezogene Grenze zwischen Sambia und Angola. Doch der Übergriff steht vor seiner administrativen und politischen Vollendung. Jahrgänge der Tagespresse aus der Epoche der kolonialen Triumphe durchzulesen kommt dem Blick in einen Abgrund gleich. Die Illusion von der europäischen Herrschaft, der europäischen Überlegenheit ist schwindelerregend. Der sich seit den 1850er Jahren als »wissenschaftlich« betrachtende Rassismus feiert unbegreifliche Triumphe. In dieser Periode werden die Afrikaner fast buchstäblich wieder in Affen verwandelt.

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So sieht Afrika sich selbst: Studio-Porträts von Philip Kwame Apagya aus Ghana

Zeigt das wahre Afrika! Nur Elend und Sterben – warum die westlichen Medien ein falsches Bild vom schwarzen Kontinent zeichnen Von Henning Mankell

… heißt eine Initiative des Bundespräsidenten, die von der ZEIT-Stiftung gefördert wird. Die ZEIT begleitet die Initiative mit einer Folge von Artikeln

" Henning Mankell wurde 1948 in Stockholm geboren. Zunächst arbeitet er am Theater, von 1990 an wird er mit Krimis um den Komissar Wallander zum Bestsellerautor. Nach Afrika reist er erstmals 1972; seit 1996 leitet er das Teatro Avenida in Maputo, Mosambik. In Afrika spielen auch seine Romane »Der Chronist der Winde« (2000) und »Die rote Antilope« (2001)

Foto: Toby Selander

ie Welt der Massenmedien ist für mich geprägt von der Vorstellung eines symbolischen Kräftemessens. Das Spielfeld sieht ungefähr aus wie eine Arena für klassische Gladiatorenkämpfe: Auf zwei Seiten einer Grube steht je ein Journalist mit einem Spaten. Der eine gräbt unermüdlich Sand herauf, um das Loch tiefer zu machen. Der andere schaufelt das Loch ebenso unermüdlich wieder zu. Das Kräftemessen geht pausenlos weiter, es ist eine Sisyphus-Arbeit, das Graben und Zuschaufeln zieht sich durch die Epochen. Und es gibt immer nur vorläufige Sieger. Manchmal triumphiert der enthüllende, grabende Journalist, manchmal der andere, verbergende, der Spuren verwischt, der wie ein Hofnarr mit biegsamem Rücken das Machtspiel mitspielt. Die Massenmedien sind geprägt von dieser unvermeidlichen Polarität von arglistigen Lügen und eifriger Suche nach Wahrheit. Ohne Pressehistoriker zu sein, muss ich annehmen, dass es immer so gewesen ist. In der inneren Struktur der dritten Macht im Staat ist dieser Gegensatz von Beginn an angelegt. Der Journalist schreibt, doch in wessen Namen und in wessen Interesse? Weiß er es immer selbst? Will er es immer wissen?

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Um 1900 wird dieses Bild endlich infrage gestellt. Jahrzehntelang haben Journalisten fast nur auf der einen Seite der Grube gestanden, haben zugeschaufelt, verdeckt, das passende Alibi für den kolonialen Übergriff zusammengelogen. Jetzt beginnen Gegenstimmen laut zu werden. In erster Linie sind es Missionare, die von dem bestialischen Vorgehen Belgiens im Kongo Zeugnis ablegen, diesem riesigen Imperium, das König Leopold als sein privates Eigentum und seine private Unternehmung betrachtet. Die Missionare stehen auf und legen nicht nur von all den Menschen Zeugnis ab, die sie zum christlichen Glauben bekehren konnten, sondern mehr noch von den mit abgeschlagenen Händen gefüllten Körben, mit denen sie sich konfrontiert sehen. Ihren Worten wird in der Presse Platz eingeräumt, ihre Vorträge ziehen große Zuhörerscharen an, und die Achse der Berichterstattung verlagert sich erneut. Die Afrikaner sind nicht mehr die Wilden, sondern die Opfer, die das brutale Vorgehen Europas zurücklässt. Jetzt stehen Journalisten wieder auf beiden Seiten der Grube, die Konfrontation ist lebhaft, die Spaten sind in Aktion, und nach dem Zweiten Weltkrieg sieht es so aus, als sollten diejenigen, die den Übergriff gegen Afrika aufdecken wollen, endlich den Sieg davontragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt die Epoche, der ich angehöre. Im Jahre 1965 werde ich 17 Jahre alt. Die Welt öffnet sich. Ein Jahr zuvor, 1964, fällt der erste Schuss im mosambikanischen Befreiungskrieg gegen Portugal. Der Krieg wird zehn Jahre dauern und zu einer vernichtenden Niederlage des Kolonialregimes führen. Portugals faschistische Führung wird durch die Kolonialkriege, die sie nicht gewinnen konnte, gesprengt. Gut vierzig Jahre dauert die Entkolonialisierung, die mit dem Sturz des Apartheidregimes in Südafrika endet. Man kann diskutieren, ob es sich dabei um eine lange Periode handelt oder ob Afrikas Befreiung sehr schnell ging. Aber das Bild Afrikas verändert sich wieder auf dramatische Weise. Zeitungen und Reportageteams mit leichten Filmkameras berichten zum ersten Mal ernsthaft darüber, wie Afrikaner leben, nicht nur, wie sie sterben. Für einige wenige Jahre kommt es zu einer Radikalisierung der Berichterstattung, die Information, die nach Europa gelangt, ist in vielerlei Hinsicht qualitativ neu. Die Zeitungen sind bestrebt, die Wahrheit zu berichten. Doch ganz so einfach ist es natürlich nicht. Beim Durchblättern von Zeitungen aus den sechziger und siebziger Jahren fällt mir auf, dass eine andere Art von verfälschender Berichterstattung um sich greift. Ein romantisiertes Bild von Afrika, das seiner Natur nach und in seiner Konsequenz ebenso falsch ist wie das frühere einseitige Bild des »Wilden«. Als wäre Rousseau plötzlich zurückgekehrt. Dennoch ist dieses romantische Bild nicht das vorherrschende. In den Jahrzehnten, von denen ich jetzt spreche, nimmt die Berichterstattung in den europäischen Medien zu. Das Bild ist außerdem ein anderes, es ist nicht festgelegt, sondern suchend, und die Grundeinstellung ist positiver. Als die Berliner Mauer fällt und das östliche Imperium zerbricht, kommt es zu einem weiteren Pendelausschlag. Afrika verliert seine Bedeutung als Spielstein im militärischen Strategiespiel der Großmächte. Der Kalte Krieg, der eigentlich als Dritter Weltkrieg bezeichnet werden sollte, geht zu Ende. Nachdem die Sowjetunion besiegt ist, erlahmt – abgesehen vom Öl in einigen Ländern des Kontinents – das Interesse der USA an Afrika. Wieder veränderte sich das Bild in den Massenmedien. Die symbolischen Fliegen in den Augen hungernder Kinder wurden zum gewöhnlichsten Bild des Kontinents. Die großen Dürrekatastrophen rückten in den Vordergrund, wenig später ergänzt durch die Berichterstattung über die explodierende Aids-Krise. Diesem Eintopf wurde auch die Kritik an der umfassenden Korruption und den brutalen Diktatoren beigegeben, die dann und wann auftauchten, um wieder verjagt zu werden oder einfach zu verschwinden. Die Berichterstattung kehrte sich nach und nach wieder von der Suche nach einem wahrheitsgetreuen Bild ab, das notwendigerweise kompliziert und widersprüchlich sein musste. Jetzt wurde ein eindeutig negatives Bild geformt. Die Afrikaner wurden mit Franz Fanons

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Worten zu den »Verdammten der Erde«. Wieder befanden sich die radikalen Stimmen in der Minderzahl. Sie suchten keine Wahrheit, die nur schwarzweiß war. Der Strom solidarischer Handlungen, sei es in Gedanken und Manifesten oder konkreten Hilfsaktionen für den afrikanischen Kontinent, ging zurück. Das in den Medien verbreitete Bild beeinflusste und beeinflusst weiterhin die Bereitwilligkeit, Unterstützung für arme Länder aufzubringen. Das Bild in den Medien hat eine Funktion. Die Veränderungen in der Darstellung des afrikanischen Kontinents in den Medien sind lehrreich – und erschreckend. Gegenwärtig erleben wir eine erneute Wandlung des so oft vergifteten und verfälschten Bildes.

CNN will informieren – und verbreitet unterschwellig doch nur Propaganda Als Bundespräsident Köhler vor einigen Wochen eine Reihe von afrikanischen Spitzenpolitikern, Wirtschaftsvertretern, Forschern und Künstlern zu einer Konferenz nach Bonn eingeladen hatte, war die Kritik am Bild Afrikas in den Medien als Subtext der Gespräche ständig gegenwärtig. Es ging auf der Konferenz um die Frage der »Partnerschaft« zwischen Europa und Afrika. Hierüber ist schon früher diskutiert worden, eigentlich all die Jahre seit dem Weltkrieg. Heute aber, nicht zuletzt auf dieser Konferenz – so mein Eindruck –, erkennen beide Seiten, die afrikanische wie die europäische, immer deutlicher, dass das Bild der Medien von Afrika ein Feind mit ganz eigener Zielsetzung ist, der bekämpft werden muss. Solange wir akzeptieren, dass die Afrika-Bilder, die uns geboten werden, vom Leiden, vom Sterben beherrscht sind, werden wir die Afrikaner nicht als ebenbürtig betrachten. Diese Art von Berichterstattung wird uns nie zu der Einsicht bringen, dass wir diesen Menschen zuhören müssen. Warum soll man einem ausgemergelten Menschen zuhören, der mit so leiser Stimme spricht, dass man ihn kaum verstehen kann? Wenn wir zulassen, dass dieses falsche AfrikaBild sich durchsetzt, werden wir Europäer auch weiterhin reden, ohne gleichzeitig zuzuhören und in einen Dialog einzutreten. Wir werden weiterhin unsere Taschen voll packen mit Lösungen und Antworten, statt nach Mitteln zu suchen, um uns an der Formulierung der Fragen beteiligen zu können. Wir erleben heute eine wahre Sturzflut von Information. Zugleich erkennen wir, dass damit nicht notwendigerweise auch unser Wissen zunimmt. Die dem CNN zugrunde liegende Idee war natürlich ausgezeichnet. Ein Fernsehsender, der sich auf Nachrichten konzentrierte, die weltweit ausgestrahlt werden sollten. Aber was ist daraus geworden? Ein Sender, der unterschwellig amerikanische Lifestyle-Propaganda betreibt. (Ich war einmal in Shanghai. Zur gleichen Zeit wurde irgendwo in der Welt eine Tischtennisweltmeisterschaft ausgetragen. Tischtennis ist in China bekanntlich ein Nationalsport. Wenn das zutrifft, ist es auch eine der meistverbreiteten Sportarten weltweit. Doch im CNN? Nicht ein Bericht über diese Weltmeisterschaft. Dagegen unzählige Berichte über die amerikanische Basketball-Liga.) Das symbolische Bild ist weiterhin gültig. Die beiden Journalisten mit ihren Spaten auf je einer Seite der Grube. Nicht zuletzt im Falle Afrikas hängt unsere gemeinsame Zukunft in hohem Maß davon ab, wie dieser Zweikampf ausgeht. Gelingt es uns nicht, eine korrektere Berichterstattung über das Geschehen auf dem afrikanischen Kontinent zu erzwingen, werden wir auch nicht die Unterstützung leisten und die Inspiration einbringen können, derer wir fähig wären. Dann wird der Gedanke der Partnerschaft erneut zu einem Traum, der langsam zwischen Konferenzen und Seminaren zerrinnt. Ohne ein verändertes Afrika-Bild, ohne eine radikal neue Verantwortung der Medien wird die Hoffnung auf eine großzügige zukünftige Zusammenarbeit zwischen den Kontinenten eine Illusion bleiben. AUS DEM SCHWEDISCHEN VON WOLFGANG BUTT

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" HÖRBUCH

Stolze Verlierer

Falsch und wahr

»Wir haben gewonnen und doch verloren. Gewonnen haben nur die Bauern dort – und nicht die Samurai.« Das sind die letzten Worte in Akira Kurosawas Film Die sieben Samurai (1954). Es spricht der Anführer der Samurai, ein alter, graziöser Kämpfer. Hinter ihm erheben sich vier Grabhügel. Von den sieben Samurai, die losgezogen waren, wehrlose Bauern von ihren Feinden zu befreien, leben nur noch drei. Auf dem Feld tanzen die Bauern, sie feiern ihre Freiheit und setzen die Reispflänzchen der Zukunft. Für die Samurai haben sie keinen Blick mehr. Wir haben gewonnen und doch verloren – der Satz hallt nach, bis hinein ins TV und Kino der Gegenwart. Es ist der Satz von der Vergeblichkeit allen ehrbaren Tuns. Die frauenlosen Kino-Detektive, die schlaflosen TVKommissare, die unruhigen Meisterfahnder von heute, sie alle kennen den Satz. Sie sind Abkömmlinge der Samurai. Kurosawa (1910 bis 1998) erzählt eine Geschichte aus dem 16. Jahrhundert, aber er treibt sie in eine so verdichtete und rauschhafte Gegenwart, dass man Die sieben Samurai mit wachsender Ungeduld sieht, als würde hier die eigene Zukunft entschieden: Man erlebt, wie ein Krieg entsteht, und man will, dass er endlich anfängt. Selbst wenn die Dorfbewohner einen hilflosen Banditen tottrampeln, schlägt unser Hassblut pumpendes Herz für sie. In Japan herrscht Bürgerkrieg; Räuberbanden ziehen übers Land und überfallen die Dörfer. Die Bauern ergeben sich ihrem Schicksal, sie haben das Kämpfen nicht gelernt, nur das Bücken. In einem einzigen Dorf keimt Auflehnung. Dessen Bewohner suchen sich Ritter, Samurai, die ihnen beistehen. Sie finden den alten Samurai. Er rekrutiert sechs Krieger und rettet das Dorf. Aber wie findet man einen wahren Samurai? Man stelle sich hinter die offene Tür eines dunklen Hauses und locke einen Mann herein. Man ziehe dem Eintretenden einen Prügel über den Schädel. Ein falscher Samurai wird blutend zusammenbrechen.

Großes Verwirrbuch. Einer will erzählen, nennt sich aber Stiller, (Ver-)Schweiger. Im Titel steht: Stiller. Doch der erste, (berühmte) Satz heißt: »Ich bin nicht Stiller!« Ja, was nu? Geht es los oder nicht? Und wie es losgeht! Der Roman des Jahres 1954 hat Geschichte gemacht. Der Architekt Max Frisch hat die Grundfesten des Erzählens, wie es im 19. Jahrhundert gültig war, eingerissen: »Jedes Wort ist falsch und wahr, das ist das Wesen des Worts.« Und wenn ein großer (Erzähl-)Architekt schon mit der Abrissbirne hantiert, gehen auch andere Stützpfeiler traditionellen Fabulierens zu Bruch: »Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben.« Männergeschichte? Oder doch mehr? Ein seit Jahren in Amerika lebender (aus unglücklicher Ehe in die Weiten der Staaten geflohener) Mann wird bei der Zwischenlandung in der Schweiz »erfasst«: Ist der Fluggast Jim Larkin White nicht identisch mit dem seit Jahren verschollenen, in eine Agentenaffäre verwickelten Bildhauer Ludwig Anatol Stiller? Der (in mehr als nur banalem Sinn aus den Wolken seines Traums fallende) Mann stößt bös mit der Wirklichkeit zusammen. »Er war im Begriff, den … viel schwereren Schritt zu tun, herauszutreten aus der Resignation darüber, daß man nicht ist, was man so gerne wäre, und zu werden, was man ist. Nichts ist schwerer, als sich selbst anzunehmen!« Ein Satz – gern zitiert, schwer zu leben. Auch deshalb gut, dass Menschen, die nicht die Kraft, die Lust haben, dieses kluge Lebens-Buch zu lesen, es nun hören können. Ulrich Matthes, einer der großen Hörsprecher dieses Jahres, zwingt zusammen, was Frisch jubelt oder klagt: »Er will nicht er selbst sein … Er leidet an der klassischen Minderwertigkeitsangst aus übertriebener Anforderung an sich selbst.« (Hoffmann und Campe; 7 CDs, 572 Min., 35,– ¤) Mit seiner etwas rauen, immer irgendwie zögernden Stimme ist er der ideale Erzähler dieser stolpernden Geschichte zwischen Wirklichkeit und Traum. Ein Liebes-, ein Ehe-, ein Eifersuchts-, ein Tagebuch-Roman als Agentengeschichte – alles in einem: »Gerade die enttäuschenden Geschichten, die keinen rechten Schluß und also keinen rechten Sinn haben, wirken lebensecht.« In der von Brigitte Landes klug gekürzten Fassung ein schönes, großes Hör-Erlebnis. Rolf Michaelis

Foto: defd Kinoarchiv

" 50 FILMKLASSIKER

Furioser Flagellanten-Sex DVD: Ewiger Rächer der Überflüssigen – »Rambo« neu gesehen Von Diedrich Diederichsen

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Ein echter Samurai wird den Schlag abwehren, und er wird nicht mal überrascht sein. Ein Samurai verabscheut Feigheit und Tücke. Aber er weiß, dass die Welt tückisch und feige ist. Es gibt für ihn keinen Schlaf und keine Geborgenheit. Die bitteren, nur im Kampf zur Ruhe findenden Helden von heute sind in ihm schon angelegt. Bei Kurosawa werden am Ende die Samurai nicht mehr gebraucht. Die Bauern, die ihnen ihr Leben verdanken, sind froh und ausgelassen, aber schon bald werden sie wieder hart und kalt sein – Besitzende eben. Die Samurai sind die Helfer der guten Mächte, aber selbst sind sie nichts. Sie sind willkommen in verzweifelten Lagen, aber im Frieden will man sie nicht sehen. Die menschliche Unvollkommenheit zeigt sich in der Existenz der Samurai. Wir schaffen es nicht ohne sie. Und nach der Schlacht schämen wir uns, dass wir ihren Beistand gebraucht haben. Die Samurai spüren das und machen sich davon, ehe unsere Scham ihnen unerträglich wird. Ohne diesen Moment der Verachtung kommt noch heute kein guter Actionfilm aus. Peter Kümmel

Foto: defd Kinoarchiv

48 Akira Kurosawa: Die sieben Samurai

undeblick und Muskelerotik: Wann immer er von Sowjets, Bürokraten oder Sheriffs, die einen Vietnam-Veteranen nicht achten, harsch angesprochen wird, schaut Rambo, als würde er gleich leise fiepen. Doch wenn die Geduld des wortkargen Mannes am Ende ist, nimmt er es stechend, schießend, turnend mit einem Dutzend auf. Meist endet das in seiner Gefangennahme , und diese wiederum wird in allen drei RamboFilmen durch eine Kreuzigungsszene gekrönt. Immer hängt sein leckeres und oft frisch geschundenes Fleisch an Gefängnisgittern, vietnamesischem Wasserbüffelgeschirr oder in afghanischen Folterverliesen, als wäre er Gottes Sohn. Obwohl Colonel Trautmann schon in der ersten Folge informiert: »Nicht Gott hat Rambo geschaffen, sondern ich.« Das müssen feine Jahre mit furiosem Flagellanten-Sex gewesen sein, damals in Trautmanns Elite-Einheit in Vietnam. Noch Jahre später bewundern verdutzte Polizisten diese einzigartigen Schnittnarben auf dem glänzenden, von pulsierenden Adern durchzogenen Bronzekörper. Spiritualität und Staatsfeindschaft: Wenn Rambo nicht metzelt, geht sein Dackelblick nach innen.

Er sucht sein Selbst, wird Buddhist und versteckt sich in einer Mönchskutte in den Wäldern von Oregon. In seiner ersten Inkarnation, dem noch vage an normales Spät-New-Hollywood gemahnenden Rambo-Film First Blood (1982), wird er uns als drifter vorgestellt. Ein ausgeschlossener, rechtloser Staatsfeind, ein Homo sacer, würde Giorgio Agamben sagen: ein von allen Seiten verlassener Vogelfreier. Die zentrale Erfindung der letzten NewHollywood-Jahre war der Outlaw von rechts. Vom alten gegenkulturellen Modell zu Beginn der NewHollywood-Phase (Easy Rider) hat er noch die Liebe zur Natur und die Spiritualität. Seine neue Version ist seit Taxi Driver der rechte Rächer von Jungfräulichkeit und verkanntem Soldatentum, der vor allem sein Fleisch und die Feuerwaffe unter Kontrolle hat. Er liefert damit das bis heute beliebte Vorbild für Loser und Arbeitslose, die aus der Welt fallen und für ihr Elend keine politischen Gründe mehr kennen, nur noch persönliche: heldisch gewaltbereite Einsamkeit, Arbeit an sich selbst, an Reaktionsgeschwindigkeit und Zen als Antwort auf die als individuelle Kränkung empfundene strukturelle Überflüssigkeit. Dieser in Europa wenig be-

achtete Strang führt von Hippies und Aussteigern zu neofaschistischen Milizen. Rambo ist ein Sohn deutscher und indianischer Eltern: Das ist in den USA als die hippiefaschistische Chiffre für eine Mischung aus legitimer präzivilisatorischer Alteingesessenheit und den »guten Seiten« der Nazis lesbar. Auch das in Rambo II (1985) von ihm verwüstete Südostasien hinterlässt geistige Spuren (Buddhismus), und sein letzter Auftrag in Rambo III (1988) hat bis heute weitreichende Folgen. Die noch etwas verschüchtert gegen diabolische Sowjets streitenden afghanischen Mudschahedin werden von Rambo zu echten Guerillas aufgebaut. Heute hat man von dem Mann, dessen Look sich immer am trotzig proletarischen Rock der Achtziger (Springsteen, Little Steven) orientierte, lange nichts mehr gehört. Vermutlich ist er auch nach dieser Episode an den Einsatzort zurückgekehrt und lenkt AlQaida-Brigaden gegen das Land, das seine VietnamKämpfer nie richtig geehrt hat. Rambo I – III Kinowelt Home Entertainment, »Rambo II und III« als Neuerscheinung, 3 DVDs, 348 Min.

»Wie ohrenbetäubender Krach«

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KLASSIK: Wie klingt der wahre gregorianische Gesang? Ein Streitfall, der über ein Jahrtausend lang währte von mirko weber

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icht etwa in Rom, sondern im Frankenreich geht man im späten 9. Jahrhundert daran, den christlichen Liturgiegesang zu systematisieren. Pippin der Jüngere und Karl der Große haben die römische Liturgie übernommen. Ein vergleichsweise einfaches Unterfangen. Aber beim Gesangsrepertoire gibt es interpretatorische Schwierigkeiten – weil es uneinheitlich überliefert ist und die Deutschen und die Gallier ihre eigenen Weisen mit den römischen mischen. Johannes der Diakon, dem das ganz ungeheuer missfällt, schreibt in der Vita Gregorii, dass aus ehemaligen vokalen Schattierungen des Südens im Norden immer gleich kehlige Schroffheiten würden, »die sich anhören wie der ohrenbetäubende Krach eines Karrens, der über Stufen gezogen wird«.

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Der Streit darüber, was der Legende nach einst eine Taube dem Namensgeber des gregorianischen Gesangs, Papst Gregor, ins Ohr gesungen haben soll, hält sich bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Dort wird man sich bewusst, dass allein der bis heute in Mailand praktizierte ambrosianische Ritus und verschiedene Riten der Ostkirche Grund genug sind, nicht mehr darauf zu beharren, der gregorianische Gesang sei der eigentliche Gesang der römischen Kirche. Wissenschaftlich ist die Quellenlage mit allein 30 000 überlieferten Choralhandschriften gar nicht zu bewältigen, was durch die Geschichte hindurch zu manchen »Sängerkriegen« geführt hat, die von den wunderbaren Mittelalter-Ensembles Sequentia und Dialogos jetzt zitiert werden, wenn sie die Vielfalt der Traditionen faszinierend darstellen. Sie reicht vom

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Graduale, das von der Improvisationskunst des Solisten lebt, bis zur Litanei und von der römischen Psalmodie zur karolingischen Totenklage. Als Karl der Große 814 in der Pfalz zu Aachen heimgeht, ist er einem seiner Ziele, der Vereinheitlichung des Liturgiegesangs, kaum näher gekommen. Als solle sich noch einmal beweisen, dass die Musikgeschichte in ständigem Fluss und manchmal die reine Quelle gar nicht mehr auszumachen ist, erklingt bei der Beerdigung eine Harfe aus vorkarolingischer Zeit. Heutigen Ohren klingt sie: seltsam vertraut. Chant Wars – gesungen von den Ensembles Sequentia (unter Benjamin Bagby) und Dialogos (unter Katarina Livljanic) deutsche harmonia mundi 82876 66650 2

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John Coltrane: One Down, One Up – Live at the Half Note Impulse/Universal 0602 49862 1431 Kein Ende der Entdeckungen: Ein Radiomitschnitt von 1965 mit dem Gottvater des modernen Jazz und seinem Quartett auf dem Höhepunkt der Schöpfung. Davon konnte sich der Jazz nie wieder erholen

The Ultimate Jazz Archive Membran Music 222800 (www.cd-lp-dvd.de) Wer jahrzehntelang seine Platten- und CDSammlung mühsam vervollständigte – hier hätte er alles einfacher bekommen! 168 CDs von Scott Joplin bis Charles Mingus, von der Jahrhundertwende bis 1955. Blues, Boogie-Woogie, Big Bands, Vokalisten inklusive

Pino Minafra – Sud Ensemble: Terronia Enja Records 9480 Die Charlie Haden/Carla Bley Big Band lebt jetzt vermutlich in Italien! Mit Poesie, Humor und Leidenschaft eint Trompeter Pino Minafra sein Land und lässt die Frauen singen

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Die unsichtbare Hand: Wie aus Eigeninteresse Gemeinwohl werden soll Die Vorstellung, dass wirtschaftliche Güter beliebig vermehrbar sind, war der älteren Ökonomie völlig fremd. »Indem ich reich bin, mache ich andere, die ich vielleicht gar nicht kenne, arm«, notiert der erfolgreiche Florentiner Kaufmann Giovanni Rucellai in seinen Ricordanze um 1450. Für ihn steht fest: der materielle Vorrat der »Welt« ist im Prinzip begrenzt. An sich müsste daher alles allen gehören. Sparsamkeit, Kontrolle waren somit höchstes Gebot jedweder Wirtschaftsführung dieser auf dem aristotelischptolemäischen Weltbild basierenden Ökonomie. Die »kopernikanische Wende« veränderte auch den Wirtschaftshabitus. Der Blick auf die »Unendlichkeit der Welten«, wie Giordano Bruno formulierte, sowie auf die »unendliche Gnade Gottes«, wie zuvor schon Luther ahnte, befeuern Fantasien über die Unbegrenztheit der Güter. Kolonialismus, Exotismus, Schatzträume und am Ende harte Arbeit und diversifiziertes Kapital besorgen die Illusion grenzenloser Vermehrbarkeit materieller Werte. Doch das alles ist noch kein »Wachstum«. Es fehlt die systematische Verstetigung. Diese liefert erst Adam Smith auf der Basis einer neuen Anthropologie. Wie Albert Hirschmann glänzend nachgewiesen hat, verwandelt die »unsichtbare Hand« in Smiths Konzept erst dann Eigeninteresse des Einzelnen in Gemeinwohl, wenn dieses Interesse sich moralisch befreit hat von den ungezügelten Leidenschaften des materialistischen Egoismus. Der Quell allen Wachstums sprudelt damit in der unerschöpflichen Tiefe des Menschen. Wirtschaftliches Wachstum wird von der äußeren Welt abgezogen und in die innere des moralisch durchgearbeiteten Menschen verlegt – begrenzt durch Kultur, Erziehung, Moral, Lebensführung, und damit ökonomisch unendlich. Die scharfe Trennung zwischen »Leidenschaft« und »Interesse« markiert zugleich die Verwandlung der älteren »moralischen Ökonomie« in eine autonome Ökonomie, die, gegründet auf Kultur, Gewinn in Kapital transformiert und damit eine idealtypisch unendliche Zirkulation von Produktion, Kapital und Produktivität schafft, die den bekannten Namen »Kapitalismus« trägt. Dieses Wirtschaftssystem ist ganz und gar auf Wachstum angelegt. Ohne Wachstum kein Kapitalismus und vice versa. Allerdings – so der erste umfassend argumentierende Theoretiker des Wachstums, John Stuart Mill, 1848 – folgt dieses Prinzip dem Gesetz der ener-

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as neue Jahr beginnt alles andere als suboptimal. Die Stimmung stimmt. Was eben noch Horror war, ist nun hoffnungsvolle Zukunft. Die Arbeitslosigkeit »steigt langsamer«, die Wachstumgsprognosen »verfestigen sich auf ermutigende 1,5 Prozent«. Offenbar hat die Bundeskanzlerin mit ihrer Neujahrsansprache den richtigen Ton getroffen. Ihr Doppelklick auf die Bundesregierung selbst, diese sei »an die Arbeit gegangen« und habe »sich an die Arbeit gemacht«, demonstriert, dass wenigstens das Kabinett Arbeit gefunden hat. Dass es sich sogar um mittelfristig sichere Arbeitsplätze handelt, verdeutlicht das »fest im Blick« fixierte Ziel, »unser Land in zehn Jahren wieder an die Spitze Europas zu führen«. Denn trotz der wohltuenden Aussicht auf die Fußballweltmeisterschaft schon in diesem Jahr, an der »wir mit der ganzen Welt ein Fest feiern können«, das sich aus der Sicht der Awacs-Aufklärer gewiss putzig ausnimmt, weiß die Kanzlerin: »Wenn wir … das Problem Nummer eins, die erschreckend hohe Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen wollen, dann müssen wir noch mehr als bisher tun.« Und auch hier ist guter Rat nicht teuer: »Wir sollten uns an eine einfache Weisheit erinnern, sie lautet: Arbeit braucht Wachstum und Wachstum braucht Freiheit.« Ein Satz wie aus Brechts Buch der Wendungen, in dem der Dichter sozioökonomische Klassiker des Sozialismus in fernöstliches Weisheitsgewand hüllte. Dialektisch geschult, hüllt die Kanzlerin ihrerseits kapitalistische Tradition ins sozialistische Gewand. Doch trägt oder trügt die Hoffnung, durch Wachstum Arbeit zu sichern, das heißt durch entgrenzten »Kapitalismus« sozialistische Versprechen einzulösen?

Foto [M]: Horst Schnase/action press

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getischen Sparsamkeit: Es sucht in gleichem Maße gesteigerte Produktion und minimierte Arbeitsleistung. Schon Erhalt der Produktionsquote bei verringerter Arbeitsleistung ist Wachstum. Damit entdeckte Mill das Gesetz der Produktivitätssteigerung im Wirtschaftswachstum. Ziel des Wachstums ist es also nicht, Arbeitsplätze zu schaffen! Keine Rede davon auch im Standardwerk der neoklassischen Wachstumstheorie, in W. Arthur Lewis’ Theory of Economic Growth. Auch der individuelle Wohlstand ist nicht Ziel des Wachstums: »Es ist durchaus denkbar, dass die Produktion wächst und dennoch die Masse der Bevölkerung ärmer wird«, vermerkt Lewis lakonisch. Und noch ein bemerkenswerter Satz aus seiner Feder: »Wachstum kann die Wirkung haben, stabile soziale Beziehungen zu zerstören, die ökonomische Gier anzureizen und zu sozialen Konflikten, Rassen- und religiösen Unruhen zu führen«. Wozu denn überhaupt Wachstum? Allein um höhere Gewinne zu erzielen und damit die Wahlmöglichkeiten für wirtschaftliche und soziale Entscheidungen zu erhöhen, antwortet Lewis. Zwischen Wachstum und neuen Arbeitsplätzen steht somit eine sozio-ökonomische Entscheidung. Diese könnte auch lauten: organisatorische und technologische Modernisierung, Anlage auf dem Finanzmarkt, Rücklage, Gewinnentnahme et cetera. Unbegrenztes Wachstum müsste aber am Ende auch die Entscheidung zur Schaffung neuer Arbeitsplätze wachsend wahrscheinlich machen. Unbegrenztes Wachstum hat jedoch inzwischen einige bedeutsame Einreden erfahren. Die erste stammt bekanntlich von Karl Marx. Er weist auf den Widerspruch zwischen den »Interessen« von Kapital und Arbeit hin. Sehr gut hat Marx seinen Smith verstanden. Doch er teilt nicht dessen aufklärerische rational choice-Einschätzung des »Interesses« und des ihm nach Smith innewohnenden Vermögens, dem »Gefangenendilemma« – also dem Widerspruch konkurrierender Interessen – zu entkommen. Daher rührt auch die zynische Rhetorik der Marxschen Einrede, die nicht müde wird, den halunkenhaften Charakter des »Kapitalisten« zu unterstreichen. Zurück zur Leidenschaft, will diese Rhetorik sagen. Das ist zwar richtig und wichtig, aber – wie Marx selbst weiß – nicht wesentlich. Der Widerspruch vielmehr ist objektiv, bezieht sich auf die systematische Steigerung der Produktivität und die dynamische Verringerung der Produktionskosten. Die Heuschrecke macht eben noch keine Krise. Diese entsteht vielmehr – so Marx – durch die Tendenz des kapitalistischen Wachstums, Arbeit abzuschaffen und damit den »Arbeiter« zu enteignen – ihn arbeitslos zu machen. Sparen wir uns den posthistorischen oder auch revolutionären Marx, der daraus dann die Vision einer von Arbeitsmühen befreiten Gesellschaft gewinnt. Sparen wir uns auch die Einrede der Meadows-Studie über die Grenzen des Wachstums, die, von einem postkopernikanischen Weltbild ausgehend, die Begrenztheit energetischer Ressourcen, der holistisch betrachteten »Natur« überhaupt betont. Tatsächlich redet die Studie an der anthropologischen Wende der Ökonomie nach Smith vorbei. Ganz folgerichtig hat die Antwort auf »Meadows« mit der Ökonomie der »Nachhaltigkeit« die Ressourcenfrage in neue Wachstumsdynamik umgemünzt und ebenso folgerichtig mit einer neosmithschen Moral individueller Askese und Selbstkontrolle verbunden.

Sind die Vereinigten Staaten auch ein Vorbild für Deutschland? Die von Marx beobachtete Tendenz zur Abschaffung der Arbeit als systemischer Widerspruch des Wachstums hat hingegen neues Interesse gefunden. Die Neuentdeckung der Produktivkraft »Wissen« und eine Reihe besorgter sozioökonomischer Analysen über die Folgen der »dritten industriellen Revolution« im Kontext der »Globalisierung« wie etwa Jeremy Rifkins Studie Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft zeichnen das eher düstere Bild eines epidemischen Wegbrechens klassischer produktiver Arbeitsfelder auch ganz unabhängig von der ohnehin (nur selten zutreffenden) globalen Arbeitskonkurrenz. Verschärft werden entsprechende Analysen durch neue Dynamiken des Finanzkapitals. Hier drohen

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nicht nur Franz Münteferings »Heuschrecken«, sondern neue Gewinnmargen, die durch die Verschiebung vom traditionellen Bilanzgewinn zum CashFlow Investitionen jeder Art – auch in »Arbeit« – unter den Vorbehalt möglicher Ausschüttung an die Anteilseigner stellen. Damit sind die Nester der Heuschrecken förmlich Teil der Produktion geworden. Weniger Heuschrecke als Maulwurf sieht Max Webers Bürokratiediagnose, die neben »Wirtschaft als Schicksal« der Moderne ihr »Ausgeliefertsein« an Anonymisierung und wuchernde Verwaltung setzt. Damit ahnte er Verantwortung ohne Verantwortungsethos, Entscheidungsstrukturen ohne persönliches Risiko, fingierte Erfolge als Spekulationshausse und Wachstum als Börsenblase durchaus voraus. Dass bereits unter seinen Augen eine neue ökonomische Klasse entstand, entging ihm jedoch: die Manager. Ihr Aufstieg beschleunigte den Prozess der Deprofilierung und Anonymisierung oder besser: Er wurde zum Symptom dieses Prozesses, der inzwischen längst nicht nur die »Großbetriebe«, sondern auch die mittelständische Wirtschaft erfasst hat. Der Lebensstil dieser neuen Klasse wurde bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert von Edward G. Robinson in seriellen Hollywood-Produktionen als MafiaStil persifliert: blonde überschlanke Frauen, riesige schwarze Limousinen – heute am besten im RangerLook –, Verachtung literarischer Kultur, dafür ostentative Sportbesessenheit und ebenso lautstarke wie unerschöpfliche Konsumbereitschaft markieren den sozialen Charme dieser Gruppe. Dazu gehört die ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstbedienung. Doch es geht nicht um persönliche Schwächen – mögen sie wie in einigen jüngsten Fällen auch abstoßend sein. Es geht darum, dass diese Zwischenklasse einen Strukturwandel markiert: die zunehmende Virtualisierung der Ökonomie. Die soeben noch sicheren Maßstäbe über wertschaffende Prozesse und Bilanzgrößen verflüchtigen sich. Übernahmen drohen von allen Seiten, selbst von solchen, die man eben noch selbst übernehmen wollte. Wer in solcher Lage in riskante Arbeitsplätze investiert, könnte schon morgen tot sein. Nur Abbau von Arbeitsplätzen garantiert das Überleben – zumindest bei Börse, Kapitalmarkt und Weltbank. Damit sind wir im Zentrum der Aporie: Ohne Wachstum keine Ökonomie, die diesen Namen verdient – also keine »kapitalistische« –, außerhalb dieser Ökonomie keine Arbeit, gegen die sich die Wachstumsdynamik »vernichtend« wendet. Auf diese verhängnisvolle Aporie reagiert die Gesellschaft mit dem Appell an alte Werte. Zurück zu Adam Smith, zur Erneuerung von unternehmerischem Risiko, persönlichem Einsatz und persönlicher Charakterbildung. Zurück zum Ausgangspunkt, zum kulturell geläuterten Interesse des Homo oeconomicus. Und für alle gilt: Zurück zu den vermeintlich verloren gegangenen Tugenden Disziplin, Fleiß, Selbstverantwortung. »Sekundärtugenden«, hatte Oskar Lafontaine einst gespottet und damit nicht nur seinen Parteiaustritt gleichsam »historisch« vorbereitet, sondern auch den Finger in die Wunde gelegt: Die Primärtugend des Arbeitnehmers ist der Lohnverzicht. Seine Selbstverantwortung gipfelt in der Übernahme der Sozialkosten. Dann gibt es auch Arbeit. Denn dass Wachstum nicht nur Arbeit vernichtet, sondern auch Arbeit schafft, steht ja außer Zweifel. Nur – welche Art von Arbeit? Die zentralen Wachstumsfaktoren – Wissenschaft und Organisation – splitten nämlich das Arbeitsangebot: Es wachsen sowohl hoch qualifizierte wie hoch spezialisierte Bereiche, es wächst aber auch der informelle Sektor – Schwarzarbeit und Reproduktion. Und dies geschieht keineswegs allein deswegen, weil diese Arbeiten vermeintlich zu teuer sind, also sich der globalen Billigkonkurrenz erwehren müssen, sondern auch weil eine ganze Reihe von Tätigkeiten nur noch als »Schattenarbeiten« ausgeführt werden können. Warum? Da sie zu den bestehenden formalisierten Konditionen keinen »Markt« finden. Dann hilft auch kein Appell an den »Kapitalisten«, er möge seiner sozialen Pflicht genügen und Arbeit schaffen. So möchte man uns nun auf das Vorbild USA einschwören, das

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Immer mehr ist immer weniger Alle träumen vom »Wachstum«. Doch eine enthemmte Wirtschaft allein schafft keine Arbeitsplätze Von Achatz von Müller

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Wachstum und »sichtbare«, besteuerte und sozialversicherte, Arbeit vermeintlich am gelungensten verbindet. Was sind die Kosten dieses Modells? Keine Frage – hohe Defizite der sozialen Infrastruktur: unzureichende Krankenversicherung für ein Viertel der Bevölkerung, die höchste Kindersterblichkeit der Industrieländer, die höchste Analphabetenrate der Industrieländer, die höchste Schulabbrecherquote der Industrieländer, die höchste Obdachlosenquote in städtischen Ballungsgebieten der Industrieländer. Dies alles vor dem Hintergrund einer gigantischen Staatsverschuldung, die Sozialinterventionen – auch wenn man sie wollte – faktisch verhindert. Ist das ein taugliches Vorbild? Doch auch die deutsche Staatsverschuldung ist zu hoch. Richtig, doch der deutsche Staat ist im Gegensatz zu den USA bei den eigenen Bürgern verschuldet: die Privatisierung hat gleichsam bereits stattgefunden. Hauptaufgabe müsste es also sein, die »parasitäre Arbeit«, die vom Wachstum geschaffen wurde, in die Gesellschaft zurückzuführen und den bestehenden gesellschaftlichen – nicht staatlichen – Reichtum dafür zu nutzen. Dieser Weg ist längst von den Sozialwissenschaften vorgedacht. Es bedarf allerdings großen politischen Mutes, ihn zu verwirklichen. Der Umbau der Kooperation zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Staat zugunsten eines gesellschaftlichen Entscheides, dass Wachstum auch Arbeit schaffe, kann sich nicht mit Appellen an die Wirtschaft begnügen. Er muss die Konditionen ändern. Die Ecksteine eines solchen Umbaus lauten daher: Steuerentlastung von Arbeit und Investitionen in Arbeit, substanzielle Besteuerung aller wertschöpfenden Prozesse – sowohl des Konsums bei Wahrung sozialstaatlicher Grundsätze wie des »vagierenden« Kapitals –, Öffnung der Grenzen für Waren und Arbeit erst im Gleichschritt steuerlicher Globalerfassung des »flüchtigen« Kapitals, Stärkung der Staatsinterventionen zugunsten Arbeit schaffender Maßnahmen. So hat die Bundeskanzlerin durchaus Recht, wenn sie fordert: Freiheit für Wachstum. Doch um Wachstum auf Arbeit und Staatseinnahmen zu lenken, braucht es Regulierung. Diese Balance ist die Kunst der Politik; sie hat vor allem die Freiheit der Schwachen zu sichern. Entgrenzte Wirtschaft als Surrogat von Politik überließe dieser allenfalls noch die Aufgabe, der Gesellschaft statt Arbeit mit dem Schlachtruf »Du bist Deutschland« das Nationaltrikot überzustreifen und die Nationalmannschaft imaginär zu vergrößern. Wie raunte die Kanzlerin? »Überraschen wir uns damit, was möglich ist.«

Der Welt grösster Schaufelbagger im Braunkohlekraftwerk Niederaußem

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Mama Tessa Als sich Held und Heldin das erste Mal begegnen, hält er, Quayle (Ralph Fiennes), gerade einen Vortrag über internationale Diplomatie. Aus jeder seiner Gesten spricht die kultivierte Weltoffenheit eines Eliteuni-Absolventen. Aus ihren, Tessas (Rachel Weisz), pampigen Zwischenrufen und den weiträumig übereinander geschlagenen Beinen die reine Provokation. Es ist die Provokation eines reinen Herzens, das sich seine Empörung über globale Ausbeutungsmuster auch leisten kann und nicht zuletzt die Provokation des anderen Geschlechts. Fernando Meirelles John-Le-Carre-Verfilmung Der ewige Gärtner erzählt bei aller emphatischen Aufklärung über die Machenschaften der Pharmaindustrie in den afrikanischen Entwicklungsländern nämlich vor allem von einem ahnungslosen Mann, einem fremden Kontinent und seiner ihm nicht minder fremd erscheinenden Ehefrau. Wenn Quayle nach Tessas mysteriösem Tod versucht, in die Gefahren ihrer Welt und ihres Wissens einzudringen, beginnt eine Reise, die ihn in die Armengebiete Nairobis führt, schließlich nach London, Berlin und in den Sudan. Unterwegs trifft er den abgebrühten Arzt und Entwicklungshelfer Lorbeer (Pete Postlethwaite), der ihn nicht nur mit entscheidenden Hinweisen auf Tessas Mörder, sondern auch auf die eigentliche Bestimmung ihres Geschlechts versorgt: »Männer saufen und führen Kriege, Frauen sind Gottes feinste Geschöpfe.« Das ist auch schon die ganze Eschatologie dieser Erzählung vom ängstlichen Diplomaten und von der tapferen Sinnsoldatin. Dazu sehen wir in groben, ausgewaschenen Bildern, wie die heilige Tessa hochschwanger in den Slums nach dem Rechten sieht und von den Einheimischen dankbar »Mama Tessa« gerufen wird. Oder wie die auch im Leiden noch Handfeste nach einer Fehlgeburt einfach den schwarzen Säugling der verstorbenen Bettnachbarin an die Brust legt. Es ist der blanke Kitsch. Und den kann die überambitionierte Kamera von Césare Charlone, der in Meirelles Film City of God noch für furiose Ausrisse aus einer unübersichtlichen Welt sorgte, auch nicht mehr ins Hintergründige verwackeln. Birgit Glombitza

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So baut der Osten Wie eine an den Stadtrand geklotzte PlattenbauSchuhkarton-Siedlung wirkt die informative, hoch verdichtete Ausstellungsarchitektur der Architekturausstellung Emerging Identities – East! im Deutschen Architektur Zentrum in Berlin (bis zum 20. Februar 2006). Das hat Sinn: Schließlich hat man zwischen Berlin, Bratislava, Budapest, Ljubljana, Prag, Riga, Tallinn, Vilnius und Warschau nicht nur mit dem Ende von Planwirtschaft und Industriezeitalter, sondern auch mit deren städtebaulichen Folgen in Gestalt öder Vororte zu kämpfen. Mauern die jungen Architekten aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten jene Brachen, die der Sozialismus und später der profitsuchende Kapitalismus übrig ließen, nun mit Heimatkitsch zu? Glücklicherweise nicht, zeigen die mehr als 70 vorgestellten, meist auch realisierten Projekte, die von Flagship-Stores über unterirdische Sakristeien bis zu Turnhallen und luxuriösen Einfamilienhäusern reichen. Zwar bemüht man sich bisweilen um die vermeintliche Authentizität ungarischer Regionalziegel oder entwirft baltische »CyberCities« in Gestalt brechender Wellen. Doch sowohl die aktuellen Visualisierungs- und DesignTools als auch die internationalen Ausbildungsstätten haben ihre Spuren hinterlassen. Und so wird sich nun auch weiter ostwärts am Erbe von Moderne, Postmoderne und Retrofuturismus abgearbeitet. Selbst die »United Slovak Architekts« heißen dann »U/S/A«. Gunnar Luetzow

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Abschied vom Theaterlagerkampf Bist du Realist oder Dekonstruktivist? Der junge Regiestar David Bösch findet solche Gegensätze absurd. Er vermeidet alle Raster Von Gerhard Jörder er jetzt nicht aufpasst, kann sich rasch zwischen den Fronten verlaufen. Und versehentlich im falschen Schützengraben landen. Das deutsche Theater gerät in Bewegung, die alten Grenzverläufe im jahrelangen Generationenkampf verwischen sich. Die bewährten FreundFeind-Schemata zerbröckeln. Was ist passiert? Nichts Dramatisches – außer dass nach den Jungen immer die noch Jüngeren kommen. Und dass dieser Nachwuchs, der vehement aus den Regiestudiengängen der Theaterhochschulen auf die Bühnen drängt, mit den Lagerkämpfen und -krämpfen des vergangenen Jahrzehnts – hier das »neue« postdramatische, dort das »alte« literarisch-psychologische Theater – nichts mehr am Hut hat. Diese Jungen, alle in den Zwanzigern, halten nichts von Fraktionszwang. Sie wollen sich ihren eigenen Theaterkosmos zusammenbasteln, und das, bitte schön, ohne Vorgaben. Den Druck, unter dem die »Postdramatiker« noch standen, sich von der machtbewussten Vätergeneration der 68er abgrenzen zu müssen – diesen Druck kennen die Jungen nicht mehr. Umso unbefangener ihr Umgang mit der Tradition. »Unsere Vorgänger sagten noch: Nee, von dem guck ich mir bestimmt nichts an. Bei uns ist das anders: Wir wollen auch bei den Älteren was lernen.« Der das so frei und frank sagt, heißt David Bösch, Jahrgang 1978, hat 2004 sein Regiestudium an der Zürcher Hochschule für Musik und Theater abgeschlossen, trägt schulterlanges Haar und ist der Senkrechtstarter der jungen Regiegarde. Branchentabus, Avantgarde-Dogmen – die lässt man nicht gelten. Entsprechend pragmatisch daher auch das Verhältnis der Jungen zum postdramatischen Theater. Zwar wollen sie, warum denn nicht, von dessen neuen Spielweisen und Texten profitieren, doch andrerseits ist ihnen nicht entgangen, wie rasch das »Neue« zum Mainstream verblasste, wie sehr es inzwischen zum coolen Aufsagetheater an der Rampe zu erstarren droht. Vielen ist alles ohnehin zu verkopft: Wie soll das Theater, fragen sie, bei solcher Distanz zu großen Geschichten und Gefühlen seine Zuschauer binden? Für David Bösch, der jetzt mit Marivaux’ Streit am Zürcher Schauspiel schon seinen elften »eigenen Abend« bestritten hat, ist dies der entscheidende Punkt. Man dürfe die Emotionen nicht dem Film überlassen, sagt er; eine Arbeitsteilung zwischen Theater und Kino, die das eine Medium der Reflexion, das andere dem Sentiment zuschlägt, findet er absurd. Er jedenfalls glaubt nicht an Konzept und Reißbrett – sinnlich, direkt, spielerisch, emotional unmittelbar soll sein Theater sein. Und nicht nur die Insider will er erreichen, sondern ein breites Publikum – er ist stolz, wenn seine Shakespeare-Abende auch viele Hauptschüler anziehen. Wer sich mit Bösch übers Theater unterhält, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Fast alles, was vor kurzem noch für die meisten seiner jungen Kollegen absolute Reizvokabel war, ist bei ihm positiv konnotiert. Identifikation, Einfühlung, Katharsis: alles wichtig! Pathos, hoher Ton: nein, keine Berührungsangst! Sein stärkster Impuls beim Inszenieren? »Die Neugier auf Menschen.« Junger Regisseur mit alten Tugenden: So titelte ein Kritiker im Sommer 2004 über Bösch, dessen Inszenierung von Simon Stephens’ Sozialdrama Port bei den Salzburger Festspielen gefeiert wurde. Ein solches Etikett hätte früher einen jungen Theatermenschen schlaflose Nächte gekostet und zu heftigen provokativen Gesten angestachelt. Bösch aber findet es »toll«. Ja, sagt er, in gewisser Weise sei er altmodisch. Professionelles Handwerk sei unerlässlich, genaueste Vorarbeit in den Proben: »Ich bin ein Perfektionist.«

zentralen Figur: Für Puck, einen Pummel mit Wollmütze, Lederhosen und ungewisser sexueller Identität, erfindet er eine tragikomische Pubertäts- und Liebesgeschichte; erst am Ende darf Puck Frau sein und zufrieden mit sich. Gerade das belegen die beiden ShakespeareAbende aufs schönste: Bösch liebt seine Schauspieler, und er hat einen sehr genauen Blick für sie. Er schafft es, dass jeder und jede von ihnen, der Dicke und die Dünne, zum eigenen Körper und spezifischen Ausdruck findet – so werden aus »Handicaps« Stärken und Unikate. Bösch, umworben von mehreren Häusern, hat eine wichtige Entscheidung getroffen: Er wird sich für drei Jahre als Hausregisseur ans Schauspiel Essen binden und daneben nur noch je einmal in Zürich und Hamburg antreten. Die feste Verpflichtung an ein mittleres Haus könnte ihm Schutz geben vor wachsendem Mediendruck, die Chance auch zu kontinuierlicher Arbeit – und, ja, zu mehr Bedacht bei der Auswahl von Stücken und Spielweisen.

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Gegen den Karriere-Hype gibt es nur ein Mittel: Man muss sich Zeit lassen

Foto: Dan Cermak

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" David Bösch bewegt sich unbefangen auf dem verminten Gelände der deutschen Theaterszene. Der Ansicht, Pathos und Einfühlung hätten auf der Bühne nichts zu suchen, begegnet er mit Spott. Man dürfe, sagt er, die Emotionen nicht dem Kino überlassen. Der 1978 in Lübbecke/Westfalen geborene Regisseur ist begehrt:Er hat schon in Zürich,Hamburg,Bochum,Bern,Essen und Salzburg inszeniert

Schon seine Arbeiten an der Hochschule (Frühlings Erwachen und Leonce und Lena – a better day) weckten Neugier, erhielten Auszeichnungen. Beim »Körber Studio Junge Regie« 2003 in Hamburg, dem Wettbewerb der deutschsprachigen Regieschulen, bekam er mit Jessica Goldbergs Fluchtpunkt den ersten Preis. ThaliaIntendant Ulrich Khuon wurde sein Förderer; er ermöglichte, als Koproduzent, das SalzburgProjekt Port.

Bösch liebt seine Spieler, und er hat einen genauen Blick für sie Danach ging es Schlag auf Schlag, der Jubel der Kritik ist einhellig. In Bochum kommt Romeo und Julia (2004), eine witzige, tempo- und effektstarke, anrührende Aufführung, beim jungen Publikum derart gut an, dass man sie kurzerhand auf die große Bühne verpflanzen muss. Intendant Matthias Hartmann nimmt sie mit nach Zürich, an seine neue Arbeitsstelle, und auch hier kommen ihre Qualitäten voll zur Geltung: Sie versprüht Leidenschaft und heutiges Lebensgefühl.

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Bösch schöpft – ohne zu »zitieren«, wie er betont, denn es ist ihm selbstverständlich – aus einem medialen Bildervorrat (Pop, Comic, Film, Werbung), in dem gerade Jugendliche ihre Ängste und Träume wiedererkennen und von dem sich ältere Besucher keineswegs ausgesperrt fühlen müssen: Die vitale Körperlichkeit des Spiels wirkt unbedingt ansteckend. Der einzige Mangel: Bösch hat zu viele, nicht zu wenige Einfälle. Das Drama leidet stellenweise an Hyperaktivität, tendiert dann zu geschäftigem Leerlauf. Mehr Stille täte gut. Wiederum viel Lob, aber erstmals auch herbe Kritik (»Theater für Bravo-Leser«) gibt es bei Böschs zweitem großem Shakespeare-Abend, dem Sommernachtstraum, den er zu Anselm Webers Neubeginn am Schauspiel Essen im vergangenen Herbst beisteuert. Ihm selbst ist es »die wichtigste Arbeit« seiner bisherigen Laufbahn. Auch hier dominieren Sinnlichkeit und Spiellust, auch hier greift Bösch tief hinein ins volle Medienleben – im Geisterwald paradieren die Monster des TeenieHorrorkinos. Weiter vorgewagt als bisher hat der Regisseur sich jedoch in der Ausdeutung einer

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Denn daran hat es bei Böschs jüngster Inszenierung am Zürcher Schiffbau eklatant gefehlt. Hier hat sich der Jungstar, offenbar von keiner dramaturgischen Instanz des Hauses so beraten, wie es sein müsste, letztlich nur auf seinen Fundus an szenischer Fantasie verlassen und Marivaux’ bitterer Komödie Der Streit mit ähnlichen körpersprachlichen Mitteln beizukommen versucht wie den beiden ShakespeareVorlagen. Es konnte nicht gut gehen. Dass der große Seelenforscher unter den Aufklärern hier ein zerebrales Experiment veranstaltet, das Stück also im Kopfinnern spielt, hat Bösch schlicht übersehen. Er banalisiert es zum Schmunzelstückchen. Volker Hintermeiers wunderbarer Raum (ein leuchtendes Spielbrett im schwarzen Wasserbassin, darüber der funkelnde Sternenhimmel) bot eigentlich die besten Voraussetzungen, die kalte Mechanik des Liebestests aufzurollen. Wie reagieren vier in strengster Isolation aufgewachsene junge Menschen, wenn man sie, nun 18-jährig, aufeinander loslässt? Was passiert mit Herzen und Hormonen? Welches Geschlecht wird eher untreu? Was ist das überhaupt: die Liebe? Doch was auf dieser Bühne stattfindet, ist nur ein ödes Rumpelspiel tumber Torinnen und Toren. Nichts von der rhetorischen Eleganz und Ironie, die Marivaux seinem Gedankenexperiment mitgegeben hat. Gegickse und Gegackse, Getratsche und Getatsche zertrampeln den abgründigen Witz erotischer Entscheidungsnöte wie den unheimlichen sadistischen Subtext dieses Menschenversuchs. Alles bleibt plump und harmlos. Man kann und muss also, das ist die Erfahrung des Abends, als 27-Jähriger noch etwas dazulernen. Bösch weiß das natürlich. Und scheint auch zu ahnen, dass das heutige Karrieretempo junger Theaterleute, der Medien-Hype, in den sie eintauchen, eine enorme Verschleißgefahr bedeutet. Was will ein Regisseur, der schon als Youngster an großen Häusern die schwersten Shakespeare-Kisten auf die Bühne hievt, in zehn, zwanzig Jahren überhaupt noch inszenieren? Was bleibt übrig? Worauf richtet sich dann sein Ehrgeiz, seine Sehnsucht? Dass David Bösch ein großes Talent ist, ist erwiesen. Was er aus diesem Talent wirklich zu machen versteht, wird sich erst zeigen. Vor allem sollte er wissen: Er hat noch viel, viel Zeit. Audio a www.zeit.de/audio

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as war schon groß zu erwarten, wenn der Hollywood-Handwerker Rob Marshall Memoirs of a Geisha verfilmt? Bei dieser Lebensgeschichte der legendären Geisha Mineko Iwasaki handelt es sich um gehobene Supermarktlektüre, die sich einen japanischen Historiengrund für ihre melodramatischen Konstruktionen wählt. Natürlich: Schräg ist das schon, dass die japanischen Frauen von Zhang Ziyi, Gong Li und Michelle Yeoh, also Schauspielerinnen aus China und Malaysia, dargestellt werden. Wie eine Bestätigung des rassistischen Spruchs: Für mich sehen die Schlitzaugen alle gleich aus. Ganz nebenbei wurde das Kunststück fertig gebracht, gleich zwei »nationale Empfindlichkeiten« zu beleidigen. Japanische Kritiker nahmen es übel, dass chinesische Darsteller in einem amerikanischen Film einen (in der Tat nicht unprekären) japanischen Frauen-Mythos verkörpern. Chinesische Kritiker nahmen es übel, dass ein Star des chinesischen Films wie Zhang Ziyi eine Frau des einstigen und irgendwie immer noch »Feindes« verkörperte. Nun gehört es zu den Konstanten der geschlossenen Weltbilder, die »anderen« durch eigene darstellen zu lassen. Im klassischen HollywoodFilm wurden Asiaten in der Regel, nein, nicht von Amerikanern, sondern von Europäern gespielt: Der Schwede Warner Oland war der Detektiv Charlie Chan, der Deutsche Peter Lorre war Mr Moto, der Brite Peter Sellers war der böse-komische Dr. Fu Manchu. In einer besonders absurden Kombination spielte der Schwede Max von Sydow Ming den Gnadenlosen, den Gegner von Blondschopf Flash Gordon, und die Italienerin Ornella Muti seine Tochter. Da schien es schon, als bemühte man sich, in den Besetzungscoups zu betonen, dass man nicht »wirklich« Asiaten meinte. Im Fernsehen stand es noch schlimmer. David Carradine wurde der Held der TV-Serie Kung Fu, die einst Bruce Lee konzipiert hatte, der aber die Hauptrolle nicht selbst spielen durfte – ein »richtiger« Chinese hätte Zuschauer und Sponsoren verärgert. Man kennt diesen Rassismus der ikonografischen Unschärfe; Indianer im Westen waren schließlich auch sehr selten »echte« Indianer (und schwer zu sagen, ob dies dann nicht doch besser so war). Die Grenze zwischen Gedankenlosigkeit und rassistischer Karikatur jedenfalls blieb immer offen. Aber das yellow-facing in Hollywood hat auch seine Gegengeschichte. Es gibt Sehnsucht und Be-

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wunderung in vielen Hollywood-Filmen, es gibt Bearbeitungen der historischen Schuld, es gibt verdrehte Sympathiebekundungen wie Marlon Brandos liebenswertes japanisches Schlitzohr in Das kleine Teehaus. Und es gibt asiatische Migranten wie den Kameramann James Wong Howe, die auch im alten Hollywood künstlerische Karriere machten. Mit Wayne Wangs Chan is missing begann das »Asian-American Cinema« Anfang der achtziger Jahre auch bei einer breiteren Öffentlichkeit Zuspruch zu erzielen. Eine Reihe von Regisseuren, Schauspielern, Produzenten und Kameraleuten mit asiatischem Hintergrund gelangten in die Zentren der Traumfabrik. Umgekehrt nahm Hollywood Impulse der Neuen Wellen aus Taiwan, Hongkong, Japan und Korea begierig auf. Quentin Tarantino zeigte in seinen Filmen gern, dass man nicht nur von Formen, sondern auch vom spirit des asiatischen Kinos profitierte. Regisseure wie Ang Lee oder John Woo wechselten zwischen den Cinematografien; auch die Remakes asiatischer Erfolge führten nicht immer zu kultureller Aneignung; nicht zuletzt hat Hollywood in dem Blockbuster The Last Samurai sogar Tom Cruise als in der Heimat traumatisierten Helden in die Fremde geschickt: Der neue Held Amerikas muss im Japan der Jahrhundertwende die Werte und Gesten der Tradition retten, was eine ziemlich bizarre Konstruktion ist. Aber anders als bei Die Geisha lässt zumindest die glänzende Verpackung hier noch an eine schmeichelhafte transkulturelle Geste denken. Der Skandal um den Geisha-Film scheint also eher ein unangenehmer Rückschlag. Und natürlich hat das Missverständnis auch mit einem gewissen Mainstream-Verfahren zu tun. Das betrifft sowohl den Roman von Arthur Golden als auch den Film von Rob Marshall. Beide fabrizieren einen melodramatischen Pseudorealismus, der unbeirrt plumpe Gewissheiten über einer Welt auskippt, die eigentlich nur noch in einer Architektur der Widersprüche zu verstehen wäre. Die Geisha erzählt ein Märchen-Melodram in japanischen Dekorationen und mit japanisch kostümierten Darstellern. So etwas hatten wir schon, als Oper, Operette, Roman und Film. Der Unterschied liegt darin, dass dieses Verfahren nun auf eine auch visuell und erzählerisch

Alles Schlitzaugen Mit Rob Marshalls Film »Die Geisha« rumpelt der Hollywood-Elefant wieder einmal im asiatischen Porzellanladen Von Georg Seesslen

Chinesin, japanisch verpackt: Gong Li als Ober-Geisha Hatsumomo

Die Träne im Kunstlicht Durchkalkuliert und eisig: Patrice Chéreaus Ehedrama »Gabrielle« nach einer Vorlage von Joseph Conrad VON BIRGIT GLOMBITZA ean ist ein Mann in den besten Jahren. Stattlich, aber stocksteif in der Hüfte und uncharmant in der Rede. Er weiß, wie man mühelos sein Kapital mehrt, wie viel Skrupellosigkeit, Strategie und Entgegenkommen in einem guten Geschäft stecken. Liebe ist Jean eine lästige Anwandlung. Vertragliche Absprachen sind ihm lieber. Seine Frau Gabrielle, die umschwärmte Grande Dame aller Empfänge, betrachtet er mit dem Besitzerstolz eines Preziosensammlers. Bis sie fortgeht, resigniert zurückkommt und sich das Paar einen schaurig-unterkühlten Ehekrieg liefert. Der Theater-, Opern- und Filmregisseur Patrice Chéreau hatte schon immer eine Vorliebe für das Kammerspiel auf der Leinwand. Nach seinem umstrittenen Berlinale-Sieger Intimacy (2001), in dem es um die Sehnsucht nach Erlösung durch den an-

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deren Körper ging, und der kontemplativen Sterbebegleitung in Son Frère (2003) zieht er nun aus in die Welt von Joseph Conrad. Dessen Erzählung Die Rückkehr ist ein Erkundungsgang durch die kalte Pracht der Pariser Bourgeoisie des Jahres 1912. Es ist eine Kaste, die sich vor unkontrollierbaren Gefühlen mehr fürchtet als vor Kriegen, tödlichen Krankheiten oder Naturkatastrophen. Wehe, eine Empfindung lässt sich nicht mehr mit den Konventionen abgleichen. Dann bleibt den Unglücklichen nur die Implosion. Selbst wenn die Fassade stehen bleibt, wird nichts wieder ganz oder gut. Dieses Szenario von großbürgerlicher Selbstherrlichkeit und Verklemmung inszeniert Patrice Chéreau wie mit dem Rechenschieber. Gabrielle ist so durchkalkuliert, kopflastig und eisig wie die Ehe, um die es geht. In seinen besten Momenten gleicht der Film einer Geisterbahn toter Gefühle. Dann lässt Chéreau seine Protagonisten von ihren Zofen mit vernehmbarer Anstrengung ins Korsett der Konventionen schnüren. Dann spuken Jean und Gabrielle als erbarmungswürdige Geschöpfe, die ihren Körper längst vergessen haben, durch das eigene Leben. Hier gibt es keine Utopie mehr von Nacktheit und Wahrhaftigkeit wie in Intimacy und

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auch keinen romantisierenden Brückenschlag vom »kleinen Tod« zum großen auratischen Sterben wie in Die Bartholomäusnacht. Die Sehnsucht birgt keine Grenzerfahrung, sie bleibt den Figuren in Gabrielle lästig wie eine dicke Stubenfliege. Gabrielle, die edel leidende und hoch reflektierte Hauptfigur, ist natürlich ein Fall für Isabelle Huppert, die sich wie kaum eine andere Schauspielerin auf die Zerissenheiten solch luxuriöser Mangelwesen versteht. Wie sie den aufgestauten Hass durchs Mahlwerk ihrer Kieferknochen schickt oder hart an einem Lächeln arbeitet, das dann doch nicht über ein nervöses Kräuseln der Mundwinkel hinauskommt, zeugt von routinierter Meisterschaft. Das Gefühl für solche Minimalismen geht dem Regisseur jedoch ab. Etwa für das herrlich kalte Klimpern von Gabrielles Ohrringen, während sie der Abrechnung ihres Mannes lauscht. Doch Chéreau interessiert nicht die Beobachtung, die sich an einem Detail verfängt. Er hat es auf Überwältigung angelegt. Theatral ausgeleuchtete Bühnen wechseln sich ab mit kristallinen Bildern, Schwarz-Weiß mit Gletscherfarben, Zeitlupe mit eingefrorenen Einstellungen und Stummfilmtafeln. So wird auch die letzte realistische Anmutung mit dem Knüppel des unbedingten Stilwillens ausgetrieben. Chéreaus Experimentierlust verzettelt sich bald in melodramatischen Stilisierungen und ausufernder Larmoyanz. Kein Treppenaufoder -abgang, der nicht zur Überhöhung genutzt würde. Keine Träne, die nicht mindestens einmal im Kunstlicht aufblitzt. Jeder Einfall ist kostbar, jeder Lichtwechsel ein unverzichtbarer Kommentar. So gehen Chéreau schon bald die Bilder für das Wesentliche aus. Wenn ein Schrei stumm bleibt und über eine dazwischengeschnittene Schrifttafel seine Botschaft und sein Ausrufezeichen erhält, dann ist das kein ausgefuchster Gang durch die Kinogeschichte. Eher ein alberner Ausrutscher ins Kunstgewerbe. Warum kehrt Gabrielle zurück, obwohl sie einen anderen liebt? Weil die Entscheidung, zurück in die Kälte zu gehen, die einzige Freiheit ist, die dieser Frau in dieser Gesellschaft bleibt? Chéreau dringt nicht zur Antwort und nicht einmal zur großen Frage von Joseph Conrads Vorlage durch.

" SEHENSWERT »Match Point« von Woody Allen. »Sommer vorm Balkon« von Andreas Dresen. »Jarhead« von Sam Mendes. »Factotum« von Bent Hamer. »Die große Reise« von Ismaël Ferroukihs

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globalisierte Welt trifft. In der kunstgewerblich ausgemalten Kinoerzählung vom Dienstmädchen Chiyo (Zhang Ziyi), das zum Superstar unter den Geishas wird, sind Klischees und Maskenspiele nicht mehr nach nationaler Willkür zu verwenden, ohne dass sich Widerstand rührte. Und heutzutage bringt so etwas nicht mehr nur die Gemüter, sondern auch die Märkte in gefährliche Wallungen. Dabei berührt dieser Film unterschwellig ein Tabu: Die Erinnerung an die Zwangsprostitution während des Krieges durch die japanische Besatzungsarmee ist durchaus noch nicht aufgearbeitet. Im Film aber kämpft die Geisha vor allem mit dem Zickenterror ihrer Kolleginnen. Weder ihre Kleidung noch ihr Tanz noch das sonstige Zeremoniell hat etwas mit dem zu tun, was jeder Besucher einer amerikanischen Kleinstadt-Mediathek wissen kann. Ergebnis ist eine Fantasie-Geisha, ohne Rücksicht auf die durchaus zwiespältige Geschichte und den kulturellen Code, in dem sie steht. Im Streit um diesen Film geht es aber letztlich auch um einen polyfonen Fundamentalismus. Hier wird ein Mythos des Authentischen konstruiert. Eine Kultur, so der Subtext unter dem Gezeter, kann nur durch sich selbst und in sich selbst beschrieben werden. Das wäre eine cineastische Art von Political Correctness. Wollte man sich dieser Kritik anschließen, so würde man freilich gerade diesen nationalistischen, ja vielleicht sogar den Mythos der Rasse bestätigen. Die politisch korrekten Reaktionen auf Die Geisha sind also durchaus zweischneidig. Sie rekonstruieren genau den Rassenfetischismus, den es zu überwinden galt. Und sie treffen auf Kinobilder in Asien selbst, die durchaus ihren eigenen Rassismus pflegen, von den »heroischen« Hindi-Filmen in Indien über die antijapanischen Gräuelbilder im Hongkong-Kino bis zum Stereotyp des Verrückten in japanischen Komödien. Wer weiß schon noch, dass Jet Li, der mittlerweile auch in den USA zum Actionstar geworden ist, in seiner ersten Regiearbeit (Born to defend) im Jahr 1987 eine Propagandaarbeit ablieferte, die »antiamerikanisch« zu nennen wesentlich zu milde ausgedrückt wäre. Vielleicht also sollte man die Die Geisha-Diskussion eine Stufe herunterkochen: Hollywood verhält sich einmal mehr, wie wir es gewohnt sind, sobald es um die Darstellung von etwas geht, was nicht der Welt des US-amerikanischen, weißen Kleinbürgers entspricht: wie der Elefant im Porzellanladen.

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Katharina Wagners Regie verheddert sich in Puccinis »Il Trittico«

Wer von der »Überstellung« Terrorverdächtiger spricht, meint eigentlich Folterexport – und korrumpiert mehr als nur die Sprache Von Salman Rushdie

VON JAN BRACHMANN

Foto (Ausschnitt): Bernd Uhlig

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Je steiler die Regiethesen, desto lauter ächzen die Stücke Nun hat die Kunst der Moderne bei der Darstellung des Heils den nachdrücklichen Weg in die Abstraktion genommen. Katharina Wagner hat einen anderen Weg gewählt, jenen etwa von Jean Effel oder Giovanni Guareschi, nämlich den der humorvollen Konkretion: Während die Nonnen munter Kartoffelchips knuspern, steckt sich die Gottesmutter – von religiöser Aufmerksamkeit endlich entlastet – eine Zigarette an. Zur finalen Erlösung erscheint Christus mit blinkendem Lichtherz auf der Brust und macht Angelica zur neuen Madonna. Das ist zwar nicht gerade originell, man kennt das von Hans Neuenfels, der in seiner Berliner Inszenierung von Verdis Macht des Schicksals bereits eine Madonna mit blauer Elektrokerzen-Aureole zur Kofferträgerin im Hotel machte. Aber es ist auch nicht dumm. Lieber ein intelligentes Plagiat als schwachsinnige Originalität. Hat die Regisseurin mit Schwester Angelica das herrschende Positivitätsverbot verletzt, so hat sie im Mantel das herrschende Negativitätsgebot übersteigert: Der Mord Micheles an Luigi findet nicht statt. Zur Tat, auch zur zerstörerischen, reicht es nicht mehr in der säkularen Welt. Der

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Raum hat keine Bestimmung. Ist er Innen- oder Außenraum? Privatzimmer oder Kneipe? Alles ist möglich; sogar die Figuren, ganz traumwandlerisch, haben ihre Realpräsenz verloren. Wo das Heilige sich entzieht, hat der Mensch keine Substanz mehr. Das ist alles nicht schlecht gedacht. Aber je steiler die These, desto lauter ächzen die Stücke darunter. Während man sich bei Peter Konwitschny oft über die Thesen ärgert, an der Detailarbeit mit den Figuren aber wieder sein Glück findet, ist es bei dieser Inszenierung von Katharina Wagner umgekehrt: Man sieht, wo das Ganze hin soll, aber es ist im Detail nicht schlüssig umgesetzt. Zwischen den großen Ideen wissen die Akteure nicht, was sie machen sollen. Das wirkt, besonders im Gianni Schicchi, bestenfalls wie gediegenes Boulevardtheater oder einfach hilflos, albern, blöd. Nur im Fall der Angelica, gesungen von Cristina Gallardo-Domas, trifft man auf eine überzeugende Darstellung. Gallardo-Domas bewegt sich sparsam, arbeitet viel mit ihren ausdrucksstarken Augen, mit der Andeutung stockenden Atems und entwickelt auch die Besonderheit des Singens aus der Situation heraus. Das ist manchmal schmerzhaft, nicht gerade schön, aber wenn im Gebet jeder Ton ihrer Stimme einem verglimmenden Docht gleicht, dann ereignet sich hier echtes Musiktheater. Das eben kann man von der Produktion als Ganzem nicht sagen. Es ist zwar durchweg ansprechend gesungen worden. Das Orchester der Deutschen Oper spielte unter Stefano Ranzani mit einer Dezenz, dass man den ganzen Abend lang ungetrübte Freude hatte und endlich mal hörte, wie nahe die feinen Holzbläsersätze Puccinis etwa Maurice Ravels Le Tombeau de Couperin kommen. Doch man kann nicht behaupten, dass die Inszenierung wirklich aus der Musik entwickelt worden wäre, dass der Gesang für die Konzeption eine Bedeutung gehabt hätte. Das ist das eigentlich Traurige daran: die Trennung von Deutung und Musik, auch der Eindruck, dass es in der Szene zu keiner schlüssigen Anschauung dieser Deutung kommt.

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as fraglos hässlichste Wort, das 2005 in der englischen Sprache auftauchte, war der Begriff extraordinary rendition. Die Verrohung, die in diesem Begriff steckt, weist eindeutig darauf hin, dass er etwas verbergen soll. Extraordinary ist ein ganz gewöhnliches Adjektiv, aber hier wird es so weit gefasst, dass es auch üblere Dinge mit einschließt, die das Wörterbuch nicht hergibt – »geheim«, »skrupellos« und »ungesetzlich«. Rendition hat vier Bedeutungen: Wiedergabe, Übersetzung, Übergabe (gilt inzwischen als veraltet) und Auslieferung – was uns zum Verb to render bringt. Unter den siebzehn möglichen Bedeutungen wird man freilich nicht finden: »Jemanden kidnappen und heimlich zwecks Verhör an einen unbekannten Ort in einem ungenannten Land bringen, in dem Folter erlaubt ist.« Auch die Sprache hat ihre Gesetze, und die besagen, dass dieser neue amerikanische Sprachgebrauch eine Misshandlung des Wortes darstellt. Immer wieder taucht im üblichen Neusprech der Politiker ein Begriff auf, der bewusst so nichtssagend ist, dass wir vor Furcht erschaudern – und vor Abscheu. »Saubere Wörter können schmutzige Handlungen verschleiern«, schrieb der amerikanische Publizist William Safire 1993, nachdem ein anderer Ausdruck aufgetaucht war – »ethnische Säuberung«. »Endlösung« ist noch so ein (viel schlimmerer) Begriff nach Art des Orwellschen Doppelplusungut. Ein anderer ist mortality response, ein beschönigender Ausdruck für Kriegstote, den ich erstmals während des Vietnam-Kriegs hörte. Auf all diese Vorfahren kann keine Neuschöpfung stolz sein. Solche Ausdrücke werden gern verwendet, wenn man problematisch eindeutige Begriffe umgehen will. Mit »ethnischer Säuberung« und »Endlösung« konnte man das Wort »Völkermord« vermeiden, und wer extraordinary rendition sagt, verrät damit, dass er nicht den Mut hat, »Folterexport« zu sagen. Aber wie Cecily in Oscar Wildes Stück Bunbury bemerkt: »Gerade die unangenehmen Sachen soll man am besten sofort frei heraus sagen.« Nachdem es dem republikanischen Senator John McCain gelungen ist, gegen das Weiße Haus das Verbot von Folter (»grausame, unmenschliche oder entwürdigende Behandlung von Gefangenen«) durchzusetzen, auch wenn Vizepräsident Dick Cheney dies energisch zu verhindern suchte, sagen viele, die US-Regierung werde nun einfach versuchen, McCains Gesetz zu umgehen, indem man »folterwürdige« Personen in Länder schafft, die es nicht so genau nehmen. Wir hören die Namen und Geschichten von Männern, die auf diese Weise verhaftet und um den halben Globus geflogen wurden. Maher Arar, ein syrischstämmiger Kanadier, wurde beim Umsteigen in New York festgenommen und via Jordanien nach Syrien gebracht, wo er nach Angaben seines Anwalts brutal gefoltert wurde. Khaled al-Masri, ein libanesischstämmiger Deutscher, wurde nach eigener Auskunft in Makedonien festgenommen und zum Verhör nach Afghanistan geschafft und dort wiederholt misshandelt. Mohammed Haydar Zammar wurde in Marokko festgenommen und vier Jahre lang in einem syrischen Kerker festgehalten. Die Betroffenen haben Klage eingereicht. Ihre Anwälte vermuten, dass es noch viele weitere Opfer gibt und dass in Afghanistan, Ägypten, Syrien und wohl auch anderswo nach dem Muster der extraordinary rendition verfahren wird. In Kanada, Deutschland, Italien und der Schweiz wird bereits ermittelt. Die CIA spricht nach internen Ermittlungen von »weniger als zehn« solcher Fälle, was nach Doppelsprech klingt. Werkzeuge werden geschaffen, um eingesetzt zu werden, und es ist

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An der Deutschen Oper in Berlin knuspern die Nonnen Kartoffelchips

den Formen der immanenten Welt inkarnieren können – eine Gesamtkonzeption für die drei unverbundenen Opern zu entwickeln. Sie entwirft von Schwester Angelica über die Testamentsfälscherkomödie Gianni Schicchi und die Eifersuchtstragödie Der Mantel eine Art Fortschrittsgeschichte der Entleerung religiöser Symbole, aber auch der Bedeutungsentkernung menschlicher Lebensorte. Ist am Anfang eine quietschbunte, doch lebendige Madonna noch Adressat authentischer Verehrung, so verkommt die Marienstatue darauf zur Handelsware, bis am Ende ein Frauentorso ihre Stelle eingenommen hat – ein autonomes Kunstwerk, das zum Ornament einer ästhetisch gleichgültigen Existenz seiner Besitzer geworden ist.

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Das hässlichste Wort 2005

Die Madonna raucht

ber Katharina Wagner wird schlecht geredet. Seit man weiß, dass ihr Vater Wolfgang die 27-Jährige als seine Nachfolgerin in Bayreuth installieren will, kann die Urenkelin Richard Wagners machen, was sie will – es wird in der Öffentlichkeit gegen sie verwendet. Von Würzburg, wo sie 2002 mit dem Fliegenden Holländer debütierte, hieß es bald, die Wagners hätten sich mit ihren guten Sponsorenbeziehungen dort eingekauft. Schließlich müsse sie ja ein paar eigene Arbeiten vorweisen können, um ihre Befähigung zur Festspielleitung in Bayreuth zu demonstrieren, wo sie 2007 Die Meistersinger inszenieren soll. Scheint eine ihrer Inszenierung ganz brauchbar zu sein, heißt es gleich: Sie hat ein gutes Team, das sie vor Schlimmerem bewahrt. Das hat eine kluge Frau behauptet, Katharinas Cousine Nike Wagner. Bezeichnenderweise fragt niemand danach, wie hoch der Anteil des schlauen Dramaturgen Werner Hintze am Erfolg des Regisseurs Peter Konwitschny ist. Und bei Calixto Bieito gibt sich eine große Mehrheit schon damit zufrieden, dass hier die Arbeit an der Gattung durch jene an der Begattung ersetzt wird. Was nun, wenn Katharina Wagner trotz ihres Namens etwas kann? Am vergangenen Sonntag hatte an der Deutschen Oper Berlin ihre Inszenierung von Giacomo Puccinis Il Trittico Premiere, ihre vierte Opernregiearbeit überhaupt. Nach dem lautstark geäußerten Unmut des Publikums zu urteilen, war es ein Misserfolg. Man kann schon über das 1918 vollendete Stück selbst streiten, ob es nach den Kategorien des Kunstwerks oder des Handwerks zu beurteilen wäre: ein Dreiteiler von eigenständigen Einaktern, einer lyrisch, einer komisch, einer tragisch, ein Sortimentskatalog der Firma Puccini. Besonders der lyrische Einakter Schwester Angelica über eine Nonne, die sich aus Verzweiflung über ihr verstorbenes Kind das Leben nimmt, aber in einer leibhaftigen Marienerscheinung Gnade findet, gilt als Kitsch und daher als unaufführbar. Katharina Wagner hat nun die Chuzpe besessen, aus diesem Kitschproblem – hinter dem die Frage steht, ob und wie sich Heil, Gnade, Sinn in

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– vorsichtig gesagt – unwahrscheinlich, dass ein politisch derart riskantes und moralisch zweifelhaftes Verfahren etabliert und dann kaum angewendet wird. Die US-Regierung vertritt in dieser Angelegenheit eine gewohnt selbstbewusste Linie. Außenministerin Condoleezza Rice forderte die europäischen Regierungen mehr oder weniger auf, die Sache auf sich beruhen zu lassen – und die fügten sich brav. Man erklärte, die Versicherungen der Außenministerin seien überzeugend gewesen. Wenig später, Ende Dezember, wurde in Süddeutschland ein islamisches Zentrum geschlossen, nachdem man dort Unterlagen gefunden hatte, die zu Selbstmordanschlägen im Irak aufriefen. Diesen Verein, so ist zu hören, soll Khaled al-Masri oft besucht haben, bevor er zum Verhör nach Afghanistan geschafft wurde. »Aha!«, sollen wir nun denken. »Klarer Fall! Übler Kerl! Ihr könnt ihn hinschaffen, wohin ihr wollt!«

Folter ist nicht zu rechtfertigen. Sie muss bestraft werden Was an dieser Sichtweise so gefährlich ist, beschrieb Isabel Hilton vor einigen Monaten im Guardian: »Der Irrglaube, Amtsinhaber wüssten am besten, was Recht ist, ist ein Berufsrisiko der Mächtigen, und besonders anfällig sind diejenigen, die zu imperialer Denkweise neigen … Als die lateinamerikanischen Regimes in den siebziger Jahre dazu übergingen, politische Gefangene einfach verschwinden zu lassen, sorgte das für Empörung in demokratischen Ländern, in denen der Grundsatz gilt, dass kein Staat einen Menschen festhalten oder töten darf, ohne sich dafür verantworten zu müssen.« Mit anderen Worten: Die Frage ist nicht, ob ein Einzelner »gut« oder »schlecht« ist. Die Frage ist, ob wir »gut« oder »schlecht« sind, weil wir dulden, dass unsere Regierungen die Rechtsstaatlichkeit gering schätzen, die, neben den Bürgerrechten, der wichtigste Pfeiler einer freien Gesellschaft ist. Doch offensichtlich glaubt das Weiße Haus, in dieser und in anderen umstrittenen Fragen wie der heimlichen Telefonüberwachung die Öffentlichkeit hinter sich zu haben. Dick Cheney sagte kürzlich: »Wenn die Amerikaner sich das ansehen, werden sie verstehen und gut finden, was wir tun und warum wir es tun.« Einstweilen mag er Recht haben, aber die Kontroverse scheint nicht abzuklingen. Es bleibt abzuwarten, wie lange die Amerikaner noch hinnehmen, dass der Zweck praktisch jedes Mittel rechtfertigt, das Cheney anwenden will. Am Anfang ist das Wort. Wo die Sprache korrumpiert wird, folgt bald Schlimmeres. Die britischen Lordrichter haben im Dezember 2005 einfache, klare Worte gewählt. »Der Folterer ist verabscheuungswürdig, nicht weil die Information, die er gewinnt, vielleicht unbrauchbar ist«, erklärte Lord Rodger of Earlsferry, »sondern wegen der barbarischen Methoden, die er anwendet.« Und Lord Brown of Eaton-under-Heywood fügte hinzu: »Folter ist ein ausgesprochenes Übel. Sie ist durch nichts zu rechtfertigen. Sie muss in jedem Fall bestraft werden.« Weil die US-Regierung anderswo foltern lässt, wird sie wahrscheinlich ihrer Strafe entgehen. Ihrer moralischen Schmach wird sie nicht entgehen. AUS DEM ENGLISCHEN VON MATTHIAS FIENBORK © NEW YORK TIMES SYNDICATE Der Schriftsteller Salman Rushdie, geboren 1947 in Bombay, ist seit 1964 britischer Staatsbürger. 1988 erschien sein Buch »Die satanischen Verse«, für den ihn der iranische Revolutionsführer Chomeini zum Tode verurteilte. Soeben ist Rushdies neuer Roman erschienen, »Shalimar der Narr«

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enn die Bagger in Kürze endgültig Erich Honeckers Palast der Republik gefressen haben, könnte sich auch der politische Wille erfüllen, den die Bundeskanzlerin und der Regierende Bürgermeister Berlins letzte Woche noch einmal bekräftigt haben: die Rekonstruktion des Stadtschlosses, gemäß der Bundestagsempfehlung vom Juli 2002, als Neubau plus Barockfassade. Spendenwillige haben auf der Website des Fördervereins Berliner Schloss e. V. schon die Gelegenheit, eine Metope in Rosettenform kaufen, für 5850 Euro. Und das Programm zeigt auch gleich, wo die Metope hinkommt, da oben rechts ans Gesims des Portals: mein bürgergesellschaftliches Engagement. In Wirklichkeit funktioniert das aber nicht so gut wie im Computerprogramm. Die gesamten Baukosten werden derzeit auf 670 Millionen Euro geschätzt. So viel hat der Bund nicht dafür. Der Förderverein kalkuliert die barocke Fassade auf 80 Millionen. Um diese Summe will er die öffentliche Hand entlasten. Was übrig bleibt, ist immer noch zu teuer, sodass das Schloss in Public-Private Partnership errichtet werden soll, also durch einen privaten Investor, von dem die öffentliche Hand das Gebäude dann in einem auf dreißig Jahre gestreckten Mietkauf für am Ende 1,2 Milliarden zurückerwirbt, um darin Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und anderes unterzubringen. Eine Machbarkeitsstudie des Bundesbauministeriums ergab, dass dieses Konzept sogar realistisch ist, falls ein Investor gefunden wird. Nicht ganz so realistisch sieht es mit der Fassade des Fördervereins aus. Bisher halten die Bürger sich mit Engagement zurück, es gibt ja auch keinen bindenden Baubeschluss. Der Förderverein wurde 1992 gegründet, als Wilhelm von Boddien den Republikpalast mit einer Latexplane umhüllte und sinnfällig auf die städtebauliche Lücke des 1950 von Ulbricht gesprengten Schlosses hinwies. Erst 2003 benannte sich der Verein um und änderte seine Satzung so, dass der Schlossbau allgemein gefördert werden soll. Seit 1993 sammelt er aber bereits Spenden für den erweiterten Zweck: »Förderung des Wiederaufbaus des Berliner Schlosses in weitestgehender Originaltreue seiner Fassaden und Höfe sowie wichtiger historischer Innenräume für Bildungs- und kulturelle Zwecke.« Seit seinen Anfängen gilt der Verein als gemeinnützig, das heißt, er darf Spendenquittungen ausstellen und ist von Gewerbe- und Körperschaftssteuer befreit. Sollten also wirklich 80 Millionen zusammenkommen, wird der Fiskus die Fassade mit einem Millionenbetrag gefördert haben. Zwischen 1993 und 2005 sind nach Selbstaussagen des Vereins etwa neun Millionen Euro an Spenden gesammelt worden, genaue Bilanzen gibt er nicht heraus, das muss er nicht, sollte es aber möglicherweise angesichts seines öffentlichen Auftretens. Was tut er damit? Er treibt Lobbyarbeit, druckt Werbematerial, plant eine Infobox. Und er zahlt seinem Geschäftsführer Wilhelm von Boddien ein Gehalt, das nach Angaben des Schatzmeisters zwischen 50 000 und 100 000 Euro liegt, plus Berliner Dienstwohnung und Auto. Vor allem aber lässt er die barocke Fassade erforschen, und zwar durch das

Foto: Gerd Engelsmann/Berliner Zeitung

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Gehalt und Dienstwagen aus Spenden: Der Vereinsgeschäftsführer Wilhelm von Boddien

Wo sind all die Spenden hin? Der Förderverein Berliner Schloss sammelt Geld für die barocke Fassade. Doch gibt er es nicht dafür aus Von Thomas E. Schmidt Architekturbüro seines ehemaligen Vorstandsmitglieds Rupert Stuhlemmer. Bisher sind allein 2003 an Stuhlemmers Firma 210 000 Euro geflossen. Was ist der genaue Zweck dieser Aufträge – Forschung, Planung, Bau der Fassade? Wer ist Auftraggeber, wer Auftragnehmer? 12 000 Quadratmeter Fassade wollen irgendwo hergestellt sein. Von wem? Wann? Wer ist für die Gewährleistung haftbar zu machen? Und noch etwas: Gemeinnütziger Fassadenbau ist, juristisch gesehen, Denkmalschutz, aber für eine denkmalschützerische Aufgabe ist der Verein gar nicht als gemeinnützig eingestuft worden. Der Grund: Das Stadtschloss gilt gesetzlich nicht als Denkmal, weil von ihm nichts übrig ist, das schutzwürdig wäre. So steht denn auch auf den Freistellungsbescheiden des Finanzamts für Körperschaftssteuer von Anfang an immer etwas anderes: Kultur und Volksbildung. Für Bildungsarbeit darf der Verein Spendenquittungen ausstellen. Aber die Leute spenden doch für die Fassade? Wie es aussieht, kann der Verein keine Fassade bauen, nicht einmal finanzieren, wenn der Bund

eine Public-Private Partnership anstrebt. Die bisherigen Fassadenplanungen sind keineswegs vom Bundesbauministerium in Auftrag gegeben, sie sind auch widersinnig, weil der Bund ausgerechnet für die Planung bereits einen Haushaltstitel bewilligt hat. Überwiese der Verein irgendwann tatsächlich 80 Millionen Euro Spenden an einen privaten Bauträger, würde die Gemeinnützigkeit rückwirkend erlöschen. Hier kommt die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ins Spiel. Dazu Richard Schröder, seit Ende 2004 Vorstandsvorsitzender des Fördervereins: »In dem Moment, in dem das Schloss von einem privaten Investor gebaut wird, um per Mietkauf an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu gehen, ist eine andere Situation für den Verein eingetreten. Deswegen haben wir im letzten Vierteljahr mit der Senatsverwaltung für Finanzen verhandelt über die Neugestaltung der Gemeinnützigkeit. Der Verein wird die Fassadenteile herstellen lassen, um sie als Naturalien der Stiftung Preußischer Kulturbesitz

zur Verfügung zu stellen. Die Stiftung wird dadurch eine Mietminderung erreichen. Wir warten täglich auf die Bestätigung der Senatsverwaltung für Finanzen. Die Stiftung ist im Prinzip auch einbezogen.« Leider stimmt das so nicht. Zwischen der Preußenstiftung und dem Förderverein soll es zwar künftig eine Zusammenarbeit ideeller Art geben, sodass der eine in der Infobox auf der Schlosswiese seine Fassade vorstellt, die andere ihr Nutzungskonzept. Doch mehr Verpflichtung gibt es nicht. Der Präsident der Stiftung, Klaus Dieter Lehmann, erklärt: »Es gibt keinerlei Vertrag mit dem Förderverein oder paraphierte Vereinbarungen. Es gibt aber unsererseits eine grundsätzliche Bereitschaft, einen juristischen Weg zu prüfen, wie wir Spendengelder des Vereins annehmen können, ohne unsere eigene Gemeinnützigkeit zu gefährden. Aber da es noch nicht einmal einen verbindlichen Beschluss gibt, das Schlossprojekt auch durchzuführen, haben wir es in dieser Frage auch nicht eilig.«

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Das Letzte Viele unserer Mitbürger haben es verlernt, ihre Kinder anständig zu erziehen und wohlgeraten dem Leben auszuhändigen. Wir vom Deutschen Kindererziehungsbund e. V. fordern deshalb einen Kinderführerschein für Eltern aller Altersklassen. Was für ein vierrädriges Auto recht ist, muss für ein zweibeiniges Menschenkind billig sein. Der Kinderführerschein sollte vor Antritt der Schwangerschaft, spätestens aber im Augenblick der natürlichen Geburt mit amtlicher Beglaubigung in zweifacher Ausführung vorliegen. Gehört zu der Familie kurzfristig ein mutmaßlicher Vater, so ist von diesem ebenfalls ein Kindererziehungsbefähigungsnachweis zu erbringen. Als prüfungspflichtiger Vater im Sinne des Gesetzes gilt jeder, der drei Tage nach Niederkunft vom Krankenhauspersonal mit äußeren Zeichen innerer Rührung am Wochenbett angetroffen wird. Bitte merken Sie sich: Der Kinderführerschein ist von türkischen Mitbürgern prinzipiell in deutscher Amtssprache abzulegen. Dies gilt auch für den Fall, dass die niederkommende Mutter sich a) nur auf der Durchreise in ein kindersicheres Drittland befindet oder b) im Traum nicht daran denkt, in deutschen Verhältnissen Kinder zu erziehen. In der Regel umfasst die Kinderführerscheinprüfung einen praktischen und einen schriftlichen Teil. Geprüft wird, ob der Säugling im Geist der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gestillt, gesäubert und gewickelt wird. Die federführende Erziehungsbehörde ist angewiesen, Bewerber aus nichtchristlichen Herkunftsländern besonders in Augenschein zu nehmen. Islamische Erziehungsanwärter haben zusätzlich ein aufrichtiges Bekenntnis zu saugfähigen Windeln amerikanischer Herkunft abzulegen. Ob nächtliches Einnässen bei minderjährigen Säuglingen nichtchristlicher Abstammung mit dem Reinhaltungsgebot des Grundgesetzes zu vereinbaren ist, bedarf der Prüfung im Einzelfall. Wer bei Drei-Monats-Koliken statt eines handelsüblichen Beruhigungssaugers türkischen Honig zum Einsatz bringt, muss mit dem Entzug seines Kinderführungsbefähigungsnachweises nicht unter fünf Jahren rechnen. Alle Bewerber sind darauf hinzuweisen, dass unwahre Angaben als Täuschung der Erziehungsbehörde gewertet werden und – auch nach Jahren – zur Rücknahme des Kinderführerscheins führen. Eine Diskriminierung muslimischer Eltern ist damit nicht verbunden. Finis

Eilig im Sinne der fiskalischen Prüfung sollte es der Förderverein haben, denn falls – wie von ihm angekündigt – der Abriss des Palastes in den kommenden Jahren eine wahre Welle an Spenden in die Kassen spülen wird, verschärft sich die Not der Praxis. Auch die Preußenstiftung wird dann vor dem schwierigen Problem stehen, wie man einem privaten Investor steuerbegünstigte Spendengelder zukommen lässt. Bauherrin einer Fassade kann, will auch sie nicht sein. Jeder potenzielle Spender für die Fassade des Stadtschlosses muss also wissen: Der Förderverein Berliner Schloss e. V. darf sein Geld derzeit nur für seine Informationsarbeit ausgeben. Das sieht sein Vorsitzender naturgemäß anders. Er hält die jetzt fällig gewordene Neuverhandlung der Gemeinnützigkeit für einen Durchbruch, der auch zu bauen erlaube: »Die Erstellung der Fassadenteile, das macht allerdings der Verein. Die werden vom Verein produziert und angeliefert, damit haben wir schon angefangen.« Man kann Einwände, die dem steuerbegünstigten Engagement fürs Stadtschloss kritisch nachfragen, für kleinkariert halten. Ein jeder soll natürlich sein Geld ausgeben, wie er will. Aber der Fiskus fördert hier immerhin mit. Die juristische Konstruktion ist keineswegs so sauber wie bei der Dresdner Frauenkirche, wo als Bauherrin eine gemeinnützige Stiftung privaten Rechts wirkte, die selbstverständlich von ihrem Förderverein Spenden annehmen durfte. Das bürgergesellschaftliche Engagement richtet sich im Berliner Falle auch nicht auf ein Vorhaben, das die öffentliche Hand nicht vorsieht oder gar verweigert. Sondern es schmiegt sich an ein Projekt, hinter dem ein massiver politischer Wille steckt. Geld allerdings nicht. Ist die finanzielle Entlastung des Fiskus schon ein zivilgesellschaftlicher Akt, oder markiert sie nur einen symbolischen Konsens mit der Obrigkeit? Das Stadtschloss hat für die breite Öffentlichkeit nichts Herzwärmendes. Vielleicht verbraucht sich der geschichtspolitische Furor bald, vielleicht bleibt nur das Gerippe eines recht hässlichen Pragmatismus übrig, wie man dem klammen Staat aushelfen könne. Dann jedoch sollten immerhin die Knochen nicht allzu schief stehen.

Audio a www.zeit.de/audio

Beatfeind Ulbricht, Rocker Strauß Die famose Leipziger Ausstellung »Rock! Jugend und Musik in Deutschland« spiegelt deutsch-deutsche Geschichte im Rock ’n’Roll Von Christoph Dieckmann roh zu sein bedarf es wenig. Am 1. Oktober 1958 suchte das Bremerhavener Rock-’n’Roll-Girl Marion Haase, eingekeilt in kreischende Teens, einen Blick auf Elvis Presley zu erhaschen. Dies misslang. »Ein amerikanischer Soldat gab sich als Elvis aus, nur um die Fans vom Laufsteg abzuhalten, um den Wirklichen ungesehen von Bord gehen zu lassen. Nur ganz wenige aber vielen auf diesen Trick herein, und zu diesen gehörten leider Petra und ich.« Fazit im Tagebuch: »Dieser Tag war mit der größte Tag meines Lebens.« Noch besser traf es Klaus-Kurt Ilge, Realschüler aus dem hessischen Friedberg, wo Presley 1958/59 seine Armeezeit abdiente. Ilge ergatterte den Parka seines Idols sowie 304 Elvis-Autogramme, die er alle noch besitzt. Jim Morrisons Hemd, Marc Bolans Gitarre, John Lennons Locke – Hunderte Memorabilia versammelt eine famose Ausstellung, die das Leipziger Zeitgeschichtliche Forum schmückt.

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Sie heißt ROCK! Jugend und Musik in Deutschland und erzählt deutsch-deutsche Geschichte als Historie des Pop, und umgekehrt. Die Schau setzt auf zwei Antithesen: Repression und Opposition, Ost und West. In der Bundesrepublik beschallte Rock ’n ’Roll einen Generationskonflikt – »Die Mutter in die Küche flieht, der Sohn hört wieder SFBeat«. Die neue Jugendkultur etablierte sich als Markt und Medium zur Überwindung der nazistischen Vergangenheit. In der DDR kollidierten Rockfans weniger mit ihren Eltern als mit der sozialistischen Erziehungsdiktatur. Ulbrichts Staat denunzierte Beat und Rock als Veitstanz-Gelärm des amerikanischen Imperialismus, mit unabsehbaren Folgen für den Weltfrieden. »Atomkriegsstratege Strauß befahl: jazzt und rockt!«, enthüllte das FDJ-Blatt Junge Welt am 31. Oktober 1958, »und US-Schreihals Bill Haley arbeitet ihm in die Hand.« Die manipulierten RockJünger sollten »mit dem transatlantischen Geschrei

Lamparter, Gunhild Lütge, Marcus Rohwetter, Dr. Kolja Rudzio, Arne Storn, Christian Tenbrock, Wolfgang Uchatius

Gründungsverleger 1946–1995: Gerd Bucerius ✝ Herausgeber: Dr. Marion Gräfin Dönhoff (1909–2002) Helmut Schmidt Dr. Josef Joffe Dr. Michael Naumann

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Wissen: Andreas Sentker (verantwortlich), Dr. Harro Albrecht, Dr. Ulrich Bahnsen, Christoph Drösser (Computer), Dr. Sabine Etzold, Ulrich Schnabel, Dr. Hans Schuh-Tschan (Wissenschaft), Martin Spiewak, Urs Willmann Feuilleton: Jens Jessen (verantwortlich), Thomas Assheuer, Evelyn Finger, Peter Kümmel, Katja Nicodemus, Dr. Hanno Rauterberg, Claus Spahn Kulturreporter: Dr. Christof Siemes Literatur: Ulrich Greiner (verantwortlich), Konrad Heidkamp (Kinderbuch),Dr.Susanne Mayer (Sachbuch), Iris Radisch (Belletristik), Dr. Elisabeth von Thadden (Sachbuch), Dr. Volker Ullrich (Politisches Buch) Leserbriefe: Margrit Gerste (verantwortlich) Zeit-Chancen:Thomas Kerstan (verantwortlich),Arnfrid Schenk, Jan-Martin Wiarda Zeitläufte: Benedikt Erenz (verantwortlich) Leben: Christoph Amend (verantwortlich), Jörg Burger, Heike Faller, Sven Hillenkamp, Dr. Wolfgang Lechner (besondere Aufgaben), Ilka Piepgras, Jürgen von Rutenberg, Henning Sußebach, Matthias Stolz Gestaltung: Katja Kollmann Bilder: Michael Biedowicz Redaktion Leben: Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin, Tel.: 030/59 00 48-7, Fax: 030/59 00 00 39; E-Mail: [email protected] Reisen: Dorothée Stöbener (verantwortlich), Michael Allmaier, Thomas Gebhardt, Dr. Monika Putschögl Reporter: Stephan Lebert (Koord.), Rainer Frenkel, Dr. Susanne Gaschke, Dr. Wolfgang Gehrmann, Christiane Grefe, Dr. Werner A. Perger, Jan Roß, Sabine Rückert, Michael Schwelien, Ulrich Stock (Leben), Dr. Stefan Willeke Politischer Korrespondent: Prof. Dr. h.c. Robert Leicht

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auf lange Sicht vergiftet werden, so wie es die Nazis einst vor ihren ›Schlachten‹ mit Alkohol taten«. Langhaarige, bekanntlich Gammler, wurden kriminalisiert, relegiert, zwangsfrisiert. Zum Höhepunkt solch vertrauensvollen Miteinanders zwischen Staatsmacht und Jugend geriet 1965 der sagenumwobene Beat-Aufstand von Leipzig, eine harmlose Versammlung von Fans für ihre Musik. Die Polizei verhaftete Dutzende und verschleppte sie für ein paar Wochen Strafarbeit in die Braunkohle. Honecker inszenierte seit 1971 einen offeneren Kurs. Die Haare wuchsen, die freak flags wehten im Tramperwind, Westmedien waren nicht mehr tabu. Ost-Rockmusik wurde kulturpolitisch umarmt, gefördert und schlagerig entschärft, oder sie artifizierte sich oder verkroch sich im Blues. Wer, wie die Leipziger Klaus-Renft-Combo, die Klappe zu weit aufriss, den traf Berufsverbot. Nach Wolf Biermanns Rauswurf 1976 reisten viele Musiker

Wirtschaftspolitischer Korrespondent: Wilfried Herz (Berlin) Autoren: Dr. Theo Sommer (Editor-at-Large), Liane von Billerbeck, Dr. Dieter Buhl, Dr. Thomas Groß, Nina Grunenberg, Klaus Harpprecht, Gerhard Jörder, Dr. Petra Kipphoff, Tomas Niederberghaus, Christian Schmidt-Häuer,Christian Schüle,Burkhard Straßmann, Dieter E. Zimmer Art-Direction: Dirk Merbach (verantwortlich), Klaus-D. Sieling (i.V.), Haika Hinze Dietmar Dänecke (Beilagen) Gestaltung: Wolfgang Wiese (Koordination), Mirko Bosse, Mechthild Fortmann, Klaus Kallabis, Delia Wilms Info-Grafik: Phoebe Arns, Gisela Breuer, Wolfgang Sischke Bildredaktion: Ellen Dietrich (verantwortlich), Florian Fritzsche, Gabriele Vorwerg Dokumentation: Uta Wagner (verantwortlich), Claus-H. Eggers, Dr. Kerstin Wilhelms, Mirjam Zimmer Korrektorat: Mechthild Warmbier (verantwortlich) Hauptstadtredaktion: Bernd Ulrich (verantwortlich), Christoph Dieckmann, Matthias Geis, Klaus Hartung, Tina Hildebrandt,Jörg Lau,Elisabeth Niejahr,Dr.KlausPeter Schmid, Dr. Thomas E. Schmidt (Kulturkorrespondent), Dr. Fritz Vorholz Dorotheenstraße 33,10117 Berlin,Tel.:030/59 00 48-0, Fax: 030/59 00 00-40 Frankfurter Redaktion:Robert von Heusinger,Eschersheimer Landstraße 50, 60322 Frankfurt/Main, Tel.: 069/24 24 49 62, Fax 069/24 24 49 63, E-Mail: [email protected] Düsseldorfer Redaktion:Jutta Hoffritz,Kasernenstr.67, 40213 Düsseldorf, Fax: 0211/887 97 27 50, E-Mail: [email protected] Europa-Redaktion: Joachim Fritz-Vannahme,Petra Pinzler, 22,rue du Cornet,1040 Brüssel,Tel.:0032-2/230 30 82, Fax: 0032-2/230 64 98 Pariser Redaktion: Dr. Michael Mönninger, 6, rue Saint Lazare,75009 Paris,Tel.:0033-1/47 20 49 27,Fax:0033-1/ 47 20 84 21, E-Mail: [email protected]

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nach Westen aus. Der Rock reiste weiterhin nach Osten ein, via Radio. Ost- und westdeutsche Jugend hörten dieselbe Musik, nur dass Westler selten Renft, Silly, Pankow kannten, während OstOhren auch gen Polen und Ungarn lauschten. Viele DDR-Rockmusiker lebten recht behaglich, als Ersatzidole für Weststars, die der antifaschistische Schutzwall draußen hielt – bis 1987. Dann wallfahrteten 120 000 DDR-Fans nach Berlin-Treptow zu einem Bob-Dylan-Konzert, das eigentlich in Westberlin stattfinden sollte. Dort hatte man im Vorverkauf aber nur 2000 Karten abgesetzt. Weitaus länger als drüben war Rock im Osten Traumfähre nach Utopia, ein Gral der verbotenen Gegenwelt. Rockmusik wurde gelebt – zuchtlos, naiv, mobil, als Freiheit in der Diktatur. Musik als Marktprodukt, das klang für OstRockidealisten dekadent. Die postmoderne Ironie des Pop schien ihnen so verächtlich wie Wagnerianern André Rieu.

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All das und viel mehr erzählt diese Ausstellung. Sie klingt und blinkt, sie bimmelt, brüllt und rockt, mit Hendrix und den Who, Punk, Rockpalast, BAP, NDW, Anti-AKW- und Friedensliedern und dem Großmaul-Sound des Westberliner Frontstadt-Radios. Ein gewisser Plakatismus mag Spezialisten stören, und mit der deutschen Einheit kommt der Schau ihr Zentralmotiv abhanden. Die neunziger Jahre, Techno und Love Parade, die asynchronen Welten des heutigen Jugend-Tribalismus – das wirkt eher aufgezählt als empfunden und fürs Museum noch zu jung. Am Ende steht Nazi-Rock. Pop ist nicht wesenhaft links, gediegen oder dumm. Im Edelfalle wird er Kunst. Meist bleibt er Zeitung: Reportage dessen, was im Schwange ist. Bis zum 17. April im Leipziger Zeitgeschichtlichen Forum, anschließend im Haus der Geschichte in Bonn. Das opulent illustrierte Begleitbuch erschien im Ch. Links Verlag, Berlin, und kostet 19,90 Euro (Hardcover: 24,90 Euro)

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FEUILLETON Kunstmarkt

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Glamouröser Kraftakt Die wachsende Zahl neuer Kunstmessen bringt die Galerien auch 2006 in Zugzwang Von Claudia Herstatt s ist eine erstaunliche Erfolgsgeschichte: Innerhalb von vierzig Jahren haben Kunstmessen ungeheuer an Bedeutung gewonnen, hier erfüllt sich eine Elite mit viel Geld den Wunsch nach exklusiver Lebensqualität. Während die Kunstwerke früher zwischen Stellwänden mit Raufasertapete und grauem Nadelfilz gehandelt wurden, zeichnet sich der aktuelle Messebetrieb durch einen Hang zu Glamour, Partys und Kaufrausch aus. Aus diesem Grund docken sich immer mehr Messe-Satelliten und Events an die bestehenden Großereignisse an. Bei der Frieze Art Fair im vergangenen November waren es die zwei Messe-Newcomer Scope Art und Zoo Art, zur Armory Show in New York gesellten sich drei Trabanten, bei der Art Basel Miami Beach waren es sechs. Zu der zum 25. Mal stattfindenden Arco in Madrid im Februar addiert sich erstmals die Art Madrid mit vornehmlich spanischen Ausstellern. In der schwedischen Hauptstadt zieht ebenfalls im Februar die frisch umgestylte Stockholm art fair mit 30 Teilnehmern in die Räume der Kunstakademie.

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Wie viele Messen es inzwischen weltweit für zeitgenössische, moderne und alte Kunst, Antiquitäten, Fotografie, Grafik und wertvolle Bücher gibt, lässt sich kaum ausmachen. In den Veranstaltungslisten für 2006 im Internet, in den einschlägigen Kunstmagazinen und auf den Kunstmarktseiten findet sich regelmäßig nur ein Ausschnitt des Angebots. Ungefähr 30 bis 50 sind es, die Trabanten nicht berücksichtigt. Im Januar-Heft des Kunstmagazins art ist von 100 Messen im Jahr 2006 die Rede, während im Jahresüberblicksbeiheft nur 31 aufgelistet werden. Der asiatische Markt ist dort wie in anderen Publikationen häufig ausgelassen. Weder die CIGE (China International Gallery Exposition) in Peking, die im April zum dritten Mal stattfindet und prominente Teilnehmer wie Gagosian und Jack Tilton aus New York, Bärbel Grässlin aus Frankfurt, Christian Nagel aus Köln/Berlin und Krinzinger aus Wien gewinnen konnte, noch die KIAF (Korean International Art Fair, 26. bis 30. Mai) werden genannt. Dem Hamburger Galeristen Thomas Levy sind sie jedoch einen Auftritt wert. »Bei einer Reise nach China im vergangenen

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Jahr hat mich die rasante Entwicklung auf dem Kunstsektor begeistert«, sagt Levy. »In der Nähe von Peking entstehen ganze Dörfer mit Künstlerateliers und Museen, die einen erstaunlichen Publikumszulauf haben.« Ein Stand auf der CIGE kostet ihn fünfmal weniger als sein Auftritt auf der Art Miami in diesem Monat. Die prosperierende Galerie Arndt & Partner in Berlin/Zürich war im vergangenen Jahr gleich auf elf Messen zwischen Mexiko, Miami Beach, Basel, London und Shanghai vertreten, immer in der Hoffnung, eine neue Sammlerklientel zu erschließen. Diese Auftritte bedeuten zusätzlich zum Tagesgeschäft der Galerie einen nicht nur finanziellen Kraftakt. Auf die Arco in Madrid verzichtet die Galerie, »weil beim besten Willen keine Eins-aPerformance mehr drin war,« sagt der Direktor Thorsten Albertz. »Unsere Teilnahmen müssen wir drastisch reduzieren. Was wir über die Jahre auf den Messen aufgebaut haben, können wir inzwischen auch zum großen Teil von der Galerie aus weiterverfolgen.« 30 Prozent neue Kunden, so schätzt er, hat der Einsatz auf den Messen gebracht.

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Das immer schneller rotierende Messekarussell bringt nicht nur Galerien in Zugzwang, sondern auch die Künstler, denen derzeit die Werke aus den Händen gerissen werden. Das Bild vom glamourösen Erfolg in der Kunstszene relativiert sich zwar, wenn man weiß, dass laut Statistik nur etwa fünf Prozent aller Künstler von ihrer Kunst leben können. Doch bisher scheint sich die Nachfrage nach frischer Ware eher zu steigern. Der Londoner Galerist David Juda äußert sich dazu verhalten. »Es ist gar nicht gut, wenn die Messen wichtiger werden als die kontinuierliche Galeriearbeit.« Juda hat Messe-Experimente in Asien und Japan hinter sich und gehört zum Board der Art Basel. Er hält den Messe-Hype für überschätzt. »Maximal 25 Prozent setzen wir bei großem finanziellem Aufwand auf Messen um«, sagt er, »gleichzeitig organisieren wir neun Ausstellungen im Jahr, dazu publizieren wir jeweils Kataloge.« Vier Messen im Jahr sind für Annely Juda Fine Art das Maximum – das sind allerdings die wichtigsten: Art Basel, Art Basel Miami Beach, FIAC Paris und die Tefaf in Maastricht.

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LITERATUR s ist ein merkwürdiges Buch, das Kevin Vennemann da geschrieben hat. Ein Buch, das sich im Kreis bewegt, ohne um sich selbst zu kreisen; ein Buch, das eher eine Geschwindigkeit hat als eine Geschichte und mehr von der Sprache angetrieben wird als von der Story; ein Buch, das sich eigentlich in die Tiefe von Kindheit, Krieg und Judenverfolgung bohrt und doch rotiert auf seiner eigenen Oberfläche. Ein Buch, das sich dreht wie eine Schallplatte, die einen Kratzer hat, und die Nadel des Plattenspielers hängt immer wieder an derselben Stelle. Aber es gibt heute fast keine Plattenspieler mehr. Ist dieses Buch also altmodisch? Es ist ein dünnes Taschenbuch, gelb ist der Umschlag, ganz unbeachtet hat es den Herbst und den Winter überstanden. Nahe Jedenew heißt es, was schon sehr ungefähr ist, denn wer oder was ist Jedenew und wer oder was ist demnach nah? Aber Präzision ist hier auch nicht unbedingt Programm. »Wir atmen nicht. Der Ort ist nahe Jedenew, wir hören die Jedenewer Bauern singen, grölen, Klarinette, Akkordeon spielen und hören ihre Lieder seit Stunden bereits, alte Partisanenlieder, sie spielen und singen und grölen auf wundersame Weise melodiös. Seit Stunden sitzen die Jedenewer Bauern im Wald hinterm Haus und trinken und lachen und singen und spielen, und nach Stunden erst, endlich, hören wir sie aus dem Wald heraustreten und lauthals singend über den Wall in den Garten marschieren.« So beginnt Kevin Vennemann seinen Roman, seinen ersten. Vennemann ist jung, er ist 1977 geboren. Ist dieses Buch also neumodisch? »Nachts klirren die Fenster in der Küche, dann klirrt jedes einzelne Fenster im Haus. Abends sitzen wir hinterm Haus in der Hochsommerabendsonne auf dem schmalen Holzsteg, der auf den Teich hinterm Haus hinausführt, und sitzen und liegen und schwimmen in der Sonne und sitzen lesend zusammen und trinken die erste und letzte Sommerbowle des Jahres, schwimmen und bespritzen uns gegenseitig mit Wasser, nachts hocken wir in Badeanzügen in die Speisekammer gedrängt.«

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Der Konsensroman »Shalimar der Narr«: Salman Rushdies neues Buch lässt dem Leser wenig Freiheit Von Thomas E. Schmidt Seite 54

Das ist die kreisende Bewegung dieses Romans: Vennemann erzeugt einen Sog, er schreibt mit einem Sound, der noch lange im Kopf nachhallt; er breitet seine Geschichte mit einer übersichtlichen Sprache aus, die die Menschen, die Gegenstände, die Ereignisse gleichzeitig heranholt und wegrückt, sie allein lässt und sie in dieses schwebende Ganze einfügt, in diese Erzählung, die irgendwann beginnt und irgendwann endet; er hebt die Distanz auf, die sich, in Aneignung und Abstoßung, über die letzten sechzig Jahre hin zwischen uns und dem Krieg aufgebaut hat. Nahe Jedenew ist der erste Kriegsroman einer neuen Generation. Es ist dabei ein sehr musikalisches, durch sein Thema fast provozierend melodiöses Stück Literatur, das sich ganz aus einem Gefühl von Gegenwart speist und auf eine Art von der Vergangenheit erzählt, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Es steckt ein großes Maß an Naivität in diesem Buch, aber eine Art von gebrochener Naivität, die sich von der Arglosigkeit dadurch unterscheidet, dass sie genau um ihre Wirkung weiß. Es ist das Buch einer Generation, die sich nicht mehr die Frage stellt, wie sie sich zu deutscher Schuld verhalten soll – diese Geschichte ist für sie, das sagt Nahe Jedenew, vor allem eine Geschichte. Diese Geschichte ist Material, ist Mythos, ist fast schon Märchen. Ist das Buch also unpolitisch? Es ist zumindest anders und neu im Ton, auf eine Art anders, die nicht trotzig ist, sondern selbstsicher – was Vennemann im Vagen lässt, das sind nicht die Ereignisse, das ist nicht der Moment oder das Motiv, wie aus Nachbarn Feinde werden. Es ist ein Misstrauen, das viele Jahrhunderte alt ist und nur einen Anlass braucht, einen Verdacht. So einfach ist das, so beunruhigend, es reicht schon, dass jemand denkt, der jüdische Tierarzt würde die Schweine in der Gegend notschlachten im Auftrag und zum Gewinn der anderen: »Er sagt: Du bekommst dein Geld schon noch, nächsten Monat. Ich nicke, sagt Vater, ich nicke und sage so etwas wie gut, in Ordnung, sehr gut, freut mich, ich bin froh, daß ich von dem Thema wegkomme, und sehe zu Marian, der sich auf einen anderen Platz setzt, der Pfütze gegenüber, Krystosczyk sagt: Ihr schlachtet in letzter Zeit erstaunlich viele Schweine für die Russen, essend, trinkend antworten wir: Die Schweinepest, Krystowczyk, und: Nicht für die Russen, Krystowczyk, und: Für dich, und Krystosczyk sagt: Die Schweinepest also, jaja.«

Die schönste traurige Geschichte Kevin Vennemann erzählt von der deutschen Schuld und schreibt den ersten Kriegsroman einer neuen Generation VON GEORG DIEZ

»Abends zählen wir die Mückenstiche auf unseren Beinen und liegen im Gras«

Die Menschen tragen Namen, aber sie haben keine Gesichter

Foto: Albrecht Fuchs

So geht der Roman weiter, er erzählt von einfachen und schrecklichen und schönen Dingen, er erzählt, das versteht man nach und nach, von Mord und Plünderung auf einem jüdischen Bauernhof in Polen, er erzählt von Feldern im Abendlicht und von einem Baumhaus und von Marian und Antonina und ihrer neugeborenen Tochter Julia, er erzählt von Anna und Zygmunt und Wasznar, wie sie lachen und leben und wie sie sterben, er überspringt dabei Wochen und Monate und Jahreszeiten und verharrt doch bei jenem schicksalhaften Tag, als die katholischen Nachbarn kamen und die jüdische Familie ermordeten. Das Buch rast nach vorn und tastet sich zurück, es erzählt im Tempo der Erinnerung, die sich weigert, das Geschehen anzuerkennen. Der Roman ist die Annäherung an eine Geschichte, die nicht die eigene ist, überhaupt nicht, es ist die Geschichte einer anderen Generation, gesehen im verhangenen Gegenlicht des Sommers. Vennemann erzählt vom Zweiten Weltkrieg, als wäre es eine Kindergeschichte. Er erzählt also von komplizierten Dingen, aber auf eine Weise, als wäre das alles ganz einfach. Und eigentlich erzählt er gar nicht. »Abends hören wir Vater zu, der aus seinen Büchern Märchen, alte Sagen, Gedichte liest, nachts hören wir die Jedenewer Bauern singen, spielen, ungeordnet marschieren. Abends zählen wir die Mückenstiche auf unseren Beinen und flechten uns gegenseitig Zöpfe, nachts hocken wir in die Speisekammer gedrängt. Abends liegen wir im Gras hinterm Haus der Länge nach in der Sonne, nachts rutschen wir umständlich nacheinander so leise wie möglich auf die Knie, weil in der Speisekammer immer nur eine Person Platz genug hat, sich hinzuknien.«

Kevin Vennemann, geboren 1977 in Dorsten (Westfalen), lebt in Berlin

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Die Geschichte also ist in diesem Fall das Gegebene – was Vennemann aber tatsächlich im Vagen hält, das ist das Vorher und das Nachher, das sind die Wege, die zu diesen mörderischen Verstrickungen geführt haben, das sind die Ängste, die Innenwelten, die Abgründe seiner Figuren: Sie tragen alle Namen, aber haben keine Gesichter; sie gehen durch einen fast schon klischeehaften letzten Sommer, der aber weder leuchtet noch riecht; sie sind von einer archetypischen Künstlichkeit, die es ihnen aber trotzdem erlaubt, und das ist das Geschick Vennemanns, in der Erinnerung des Lesers wohnhaft zu werden. Vennemann versucht also viel mit seinem ersten Roman, und auf eine sehr eigenwillige Weise gelingt ihm auch viel. Nahe Jedenew ist ein Buch, das einen einlullt, das einen bei der Hand nimmt und in die Irre führt und auf der Stelle tritt, das klar ist und direkt und sich doch nicht so leicht öffnet. Es ist auch ein Buch, das glatt ist und geschickt und einen Blick öffnet auf eine Generation, für die sich mit dem Thema deutsche Schuld keine Versteifungen, aber womöglich auch wenig Verpflichtungen verbinden. Vennemann hat der traurigen alten Weise keine neuen Einsichten hinzugefügt, aber einen neuen, eigenen Ton. Kevin Vennemann: Nahe Jedenew Roman; es 2450; Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005; 142 S., 8,– ¤

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Trost und Rat Die Literatur, die wir haben, verrät, wie wir uns fühlen Zur Politik der gut dosierten kleinen Schritte hätte uns Angela Merkel gar nicht auffordern müssen. Schon lange ist das geistige Leben des Landes durch ein um- und vorsichtiges Voranschreiten bestimmt, das allerdings oft den Eindruck macht, es verweile im Üblichen. Jedenfalls gilt das für die Literatur, und wer die Frühjahrskataloge der Verlage in die Hand nimmt, wird bemerken, dass dort Solidität und Gediegenheit ihre breite Spur hinterlassen haben. Das beginnt schon bei der Ausstattung: So viele schöne Farbfotos auf Hochglanzpapier gab es selten. Manche Kataloge wirken raffinierter und kostbarer, als die angepriesenen Bücher es jemals sein könnten. Aber die Inhaltsangaben der Romane und die Kurzporträts ihrer Autoren lassen jene Art von Literatur erwarten, wie sie uns seit Jahr und Tag geläufig ist. Sie hat den gehobenen Standard der automobilen Mittelklasse: mit ABS und Klimaautomatik sicher ans Ziel. Bemerkenswert ist, dass jene Literaturverlage, die einst der Avantgarde eine Gasse bahnten, sich im Auftritt kaum mehr unterscheiden vom Unterhaltungsprogramm des herkömmlichen Publikumsverlags. Mögen auch ihre Titel von Fall zu Fall anspruchsvoller sein, so suchen sie das doch zumeist zu verbergen. Auch sie wollen partizipieren am auflagenfreundlichen Strom zuträglicher Lesbarkeit, und wer dürfte sie dafür kritisieren? Am Ende entscheidet der Leser, und dass er Trost und Rat in Büchern sucht, in denen er seine Sorgen mehr oder weniger intelligent widergespiegelt findet, ist kein Grund zur Beschwerde. Es zeigt nur etwas von unserer Befindlichkeit. Kleiner Rückblick: Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre erschienen die ersten Romane von Peter Handke und Botho Strauß, von Gerhard Roth, Oswald Wiener und Gert Jonke. Alle diese Bücher spielten mit der Tradition des Realismus, stellten ihn auf den Kopf oder entblößten seine simple Struktur – auf höhnische oder revolutionäre Weise. Kaum eines dieser Bücher (das begreift jeder, der sie liest oder wiederliest) würde heute von den Verlagen akzeptiert, die sie damals veröffentlicht haben. Kein Verlag kann sein Programm gegen die Kritik und gegen das Publikum machen. Damals war die Kritik ganz wild aufs Avantgardistische. Es hatte ja auch seine historische Notwendigkeit: Fenster wurden aufgestoßen, Konventionen lustvoll zerschlagen. Und die Leser waren bereit, am Innovativen das Unverständliche zu genießen, am Experimentellen das Irritierende. Es war eine Zeit innerer Prosperität, der Wohlstand wuchs beim schieren Zugucken. Die gefühlte Lage war stabil – da durfte die Literatur gerne instabil sein. Heute fristet die Avantgarde, von Ausnahmen abgesehen, ihr bescheidenes Dasein in kleinen Verlagen. Die mittleren und großen richten sich nach der veränderten Lage. Die Verhältnisse sind instabil, und folglich erwarten wir von der Literatur Sinngebung und Lebenshilfe. Sie soll Ordnung ins Chaos bringen und nicht, wie Adorno einst forderte, Chaos in die Ordnung. Die Literatur, die wir haben, verrät, wie wir uns fühlen. ULRICH GREINER

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LITERATUR

Als der Hammer den Bischof traf

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Die Liebe und die Sprache

Eine Entdeckung: Der finnische Erzähler Kjell Westö

Endlich: »Requiem für Harlem« des großen Erzählers Henry Roth

VON STEPHAN OPITZ

VON OTTO A. BÖHMER

ch erzähle diese Geschichten nicht, um einer Moral Ausdruck zu verleihen, sondern um einige Farben vor dem Vergessen zu bewahren«: Kjell Westö, Jahrgang 1961, hat die Risiken, der Familie Skrake anzugehören, im Jahr 2000 erzählt; der Roman (es ist sein zweiter) fügt Geschichten aus dem schwedischsprachigen Teil Finnlands mit langem Atem zu einem großen Kunstwerk zusammen. Finnlandschwedisch ist eine altertümliche Sprache, in der das Vermächtnis der vormals großbürgerlichen Familien aufbewahrt ist. Es ist eine rechte Erzählersprache aus einer Ecke der Welt, in der die Leute normalerweise eher ein bisschen weniger reden. Wenn sie allerdings reden, sind sie voller Geschichten. Werner Skrake, die Hauptfigur, ist der Vater des Erzählers Viktor, genannt Wiki. Werner hat die Begabung, die falschen Dinge am falschen Platz zu tun. Das finnlandschwedische Wort dafür lautet metjty, und Werner verfügt über Super-Metjty. Wikis Großvater Bruno, gut betuchter Bürger, schickt Werner, einen erstklassigen Hammerwerfer, in den frühen Fünfzigern zum Studium in die USA; doch Werner macht zu viel Jazz und studiert zu wenig Jura: »Als Bruno per Brief erfuhr, dass sein Sohn, der Lateinschüler und Leichtathlet und Student der Rechte, auf seltsamen Wegen in den Besitz einer Eintrittskarte zu einem Negerkonzert gelangt war, bestellte er augenblicklich ein interkontinentales Telefongespräch.« Brunos Firma war gerade mit der Einführung von Coca-Cola auf dem finnischen Markt beschäftigt. Das erste CocaCola-Auto, das je in Finnland fuhr, setzte Werner Skrake mit gewaltigem Getöse an einen Baum. Es war Olympiajahr in Helsingfors (so heißt Helsinki auf Finnlandschwedisch), und »er hatte von den Hürdenläuferinnenbeinen der jungen Fanny Blankers-Koen geträumt und darüber völlig vergessen, dass er am Steuer eines Coca-Colalasters saß.« Als Werner seinen Ruf in Helsingfors weg hat (»der Finnlandschwede, der den Colalaster gegen einen Baum setzte«), zieht er sich noch mehr zurück, lebt von Brunos Geld und etwas Fischereijournalismus und Schulhausmeisterei. Und dann und wann trainiert er weiter mit dem Hammer. Bis fast ins vierzigste Jahr bleibt er ein Außenseiter mit Namen. Seinen Ruf als erstklassiger Fischer von sehr ernst zu nehmenden Meerforellen (er nennt sie Silberfische) festigt er in kleinem Kreise; sein Sohn, der Erzähler Wiki, nimmt schon als Sechsjähriger Witterung von dem Zauber, der um seinen Vater liegt. Wiki ist acht, als er den ersten Fisch an der Angel hat. Die wortkargen Silberfischsonntage von Werner und Wiki draußen am fast offenen Meer, bei Hästkobben und Rysgrynnan in den Schären vor Helsingfors, binden die Angst des Sohnes vor dem Verlassen der Kindheit und die Melancholie des Vaters zu freundschaftlicher Liebes- und Lebensklärung zusammen: »Ich hatte das Gefühl, all das Seltsame wäre nun vorüber, Werners Unruhe und sein Verschwinden überstanden und alles auf dem besten Wege, wieder in normale Bahnen zu kommen.« Im letzten Jahr als Hammerwerfer, 1968, schafft Werner auf dem Schulsportplatz fast 73 Meter – das hätte die Bronzemedaille in Mexiko bedeutet. Doch Werner erwischt mit seinem Hammer nur den zufällig daherkommenden Bischof. Westö bindet die traumatischen finnischen Erfahrungen erzählerisch zusammen, Weltkrieg Eins (mit Bürgerkrieg) und Weltkrieg Zwei. Die Familiengeschichte führt bis tief ins 19. Jahrhundert und weit in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Sie bewahrt ein ganzes Farbenspektrum vor dem Vergessen. Ganz zum Schluss fragt die Großmutter Maggie den inzwischen Redakteur gewordenen Wiki, warum er »diese Kriege unbedingt wieder dem Vergessen entreißen« wolle, und das banale »Um der Wahrheit willen« des Enkels beantwortet die Großmutter: »Hast Du nicht begriffen, dass die Wahrheit ohne Liebe eine Art Lüge ist«? Die Übersetzung von Paul Berf ist schön und adäquat, bis auf einen kleinen Fehler: Mit dem Silberfisch, schwedisch Öring, ist die Meerforelle, Salmo trutta, gemeint. Früher mag man Öring auch mit Lachsforelle übersetzt haben können, doch heute meint Lachsforelle eine Regenbogenforelle aus Aquakultur. Und die fing Werner nicht.

n der Literatur hat der Name Roth einen guten Klang: Man denkt an Joseph Roth oder auch an den ewigen Nobelpreiskandidaten Philip Roth, der wohl schon zu viele gute Bücher geschrieben hat, um von der Schwedischen Akademie noch ausgezeichnet zu werden. Es gibt indes einen dritten Roth, der zu wenig bekannt ist: Henry Roth, 1906 in Galizien geboren und bis zu seinem Tod im Jahre 1995 in den USA lebend, ein Autor mit altmodischem Sprachfuror und weit gestecktem Erkenntnisprogramm. Um nichts Geringeres als den Menschen ging es Roth, seine ganze Erbärmlichkeit und selbst ausgedachte Herrlichkeit, seinen Weg aus dem Dunkel der Geschichte in eine Zukunft, die immer wieder in freudloser Gegenwart stecken bleibt. Roth geriet an die Sprache wie an die Elementarmacht der Liebe; von beiden ließ er sich bedingungslos überwältigen und gab dann, als sich abzeichnete, dass man kein Genügen findet, in der Liebe nicht und nicht im Schreiben, unter Protest klein bei – er resignierte und bekam lange Zeit nichts mehr zustande. Tief im Innern aber kämpfte er gegen die vorschnelle Resignation an, bäumte sich auf, um zumindest seine Sprache wiederzufinden, wenn schon die Liebe, passend zum Altern der Menschen, welk wurde und sich, wie ein wohlmeinender Fälscher, an den Erinnerungen zu schaffen machte. So hat er, Roth, dessen bekanntestes Buch Call it sleep (Nenn es Schlaf) hieß und bereits 1934 erschien, eigentlich viel mehr schreiben wollen, als er dann tatsächlich schrieb. Immerhin brachte er eine imposante Roman-Tetralogie heraus, die in den Titeln (Die Gnade eines wilden Stromes, Ein schwimmender Fels am Ufer des Hudson und Die Entfesselung) an Thomas Wolfe (1900 bis 1938), einen anderen Sprachgewaltigen aus Amerika, gemahnte. Mit Requiem auf Harlem wird nun, zehn Jahre nach Roths Tod, der Abschluss der Tetralogie vorgelegt. Den Helden der früheren Bücher, der sich inzwischen im New York der zwanziger Jahre befindet, gibt es noch immer: Ira Stigman heißt er, ist jüdischer Herkunft und wohnt mit seiner Familie in beengten Verhältnissen. Ira hat es zum Studenten der Literatur am New Yorker City College gebracht, wo man ihm Talent zum Schriftsteller, aber auch eine merkwürdig unstete Lebensführung nachsagt. Das mag daran liegen, dass er ein Getriebener ist: Ira hatte eine inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester, er schläft mit seiner Cousine und liebt die zehn Jahre ältere Dozentin Edith, der er aber, da sie ihm eher als Idealbild dient, körperlich nicht zu nahe treten will. Aus dem Konflikt zwischen forderndem Sexus und den Ahnungen eines selbstbestimmten Lebens, das sich am großen Entwurf orientiert, an der Vision einer Menschenexistenz, in die man nicht nur geworfen wird, sondern mit Hilfe des eigenen Denkens Ordnung bringt, kommt Ira nur mühsam heraus. Was es heißt, erwachsen zu werden und sich selbst anzunehmen, dämmert ihm

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Kjell Westö: Vom Risiko, ein Skrake zu sein Roman; aus dem Finnlandschwedischen von Paul Berf; btb, München 2005; 448 S., 21,90 ¤

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Rosa Pock Die österreichische Schriftstellerin Rosa Pock, geboren 1949 und Verfasserin von fünf im Droschl Verlag erschienenen Prosabänden, erhält den Italo Svevo Preis 2006. Der von der Firma Blue Capital finanzierte Preis ist mit 15 000 Euro dotiert und wird jährlich von einem jeweils neu bestimmten Juroren oder einer Jurorin vergeben. Der Juror 2006 ist der schweizerische Schriftsteller Urs Widmer. DZ

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Luis Murschetz: Flachpass Das große Warten hat bald ein Ende, und vielleicht werden wir, wie Angela Merkel an Silvester freundlich hoffte, ja doch noch Weltmeister, und vielleicht sogar im Schlaf – wie hier auf der Zeichnung von Luis

Murschetz,der dieser Tage 70 wurde und von dem es einen neuen Band mit Zeichnungen gibt: Beobachterstatus – Eine Welt aus Strichen (Sanssouci im Carl Hanser Verlag, München 2005; n. p., 17,90 ¤)

Der Konsensroman »Shalimar der Narr«: Salman Rushdies neues Buch lässt dem Leser wenig Freiheit enn Salman Rushdie nach Kaschmir blickt, und es zerreißt ihm das Herz, wer könnte sich seiner Trauer verschließen? Keine Weltgegend entspricht dem Bild des verlorenen Paradieses mehr als das Tal am Fuße des Himalayas. Seit Jahrzehnten ist es zerrissen zwischen Indien und Pakistan, endlos ereignet sich das Urtrauma der Teilung Kolonialindiens an dieser Grenze neu. Erzfeinde stehen sich hoch bewaffnet gegenüber, der Islamismus stößt hier auf die westliche Kultur und den Hinduismus. Nicht einmal die Natur scheint die Schönheit der Landschaft ertragen zu können, nicht einmal sie lässt die Menschen in Frieden leben. Mehr als 87 000 Tote forderte das Erdbeben vom Oktober allein auf pakistanischer Seite, viele Kaschmiris werden in diesem Winter sterben. Zögerlich und voller Misstrauen wird die Hilfe zwischen den verfeindeten Mächten an der Line of Control organisiert. Nicht einmal das Unglück entlässt die Menschen aus ihrem Hass. Rushdie hat seinen neuen Roman diesem fernen und in Gestalt des islamistischen Terrorismus mitten in unseren Städten tobenden Konflikt gewidmet. Kaschmir, die Welttragödie – deswegen ist dies ein gefühlsbeladenes Buch: kummervoll, zornig, ratlos, sarkastisch. Und weil die Unversöhnlichkeit zwischen fanatischen Muslimen und dem Rest der Welt einmal sein eigenes Leben bedroht hatte, ist es in Wahrheit kein Buch über, sondern geradewegs eines gegen das epidemische Elend Kaschmirs geworden, mit poetischem Heroismus ein Anklage-, Gedenk- und Beschwörungsbuch, eine Über-Dichtung, die sich mit Erfindung und Erklärung nicht zufrieden gibt, sondern hinausstrebt aus der Begrenztheit des Künstlerischen und so etwas wie die Kraft der Mythen erneuern will.

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Wie kommt der Hass der Kulturen in die Welt? Man kann »Kaschmir« sagen oder »Fatwa« oder »9/11«, denn auch das Paradies des Westens ging im Himalaya an der Line of Control verloren, selbst wenn das erst mit den Anschlägen von New York für alle sichtbar wurde. Falls es das Genre des »globalen Romans« geben sollte, Shalimar der Narr wäre ein Hauptbeispiel. Rushdies Perspektive auf die Unversöhntheit unserer Welten ist nicht die des Ästheten, des Inders oder des Briten, sondern eine Allperspektive, ostwestlich. Das macht den Reiz des Buches aus, strapaziert es aber gewaltig. Rushdie fragt: Wie kommt der Hass der Kulturen in die Welt? Doch die Menge der Geschichten, die mit dieser Frage aufgerufen werden, ist wahrhaft groß. Und diese Erzählungen sind nicht nur Geschichten von Einzelnen, sondern auch von Völkern mit tief in die Vergangenheit reichenden Gedächtnissen. Sie in ein Buch zu zwingen ist Größenwahn, aber genau damit trumpft der Poet Rushdie auf. Das ist seine Geste. In der postmodernen, nicht mehr ganz westlichen Metropole Los Angeles der Anfang, ganz westlich: Ein Mordfall ereignet sich. Dem ehemaligen amerikanischen Botschafter in Indien wird von seinem Chauffeur die Kehle durchgeschnitten. Und wie der Westen nach 9/11 begann, die Vorgeschichte des Attentates aufzurollen, beginnt auch Rushdie,

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DIE ZEIT

das Verbrechen nachzuerzählen, es nach Roman-Manier verstehbar zu machen, irgendwie auch verzeihbar. Bis die Geschichte aufs Neue anhebt, der Mörder sich aus dem Todestrakt befreit, um sein Rachewerk zu vollenden. Am Schluss kann es dann keine Versöhnung mehr geben, nur noch einen Showdown nach amerikanischer Manier. Es ist die Tochter des Botschafters, die gemeinsam mit dem Leser nach und nach die ganze Wahrheit erfährt. Als India wuchs sie auf, stellt aber fest, dass ihr wirklicher Name Kashmira lautet. Der Mörder ihres Vaters ist der ehemalige Geliebte ihrer leiblichen Mutter, genannt Shalimar der Narr, ein Verbrecher aus verlorener Ehre, der inzwischen als Killer im Auftrag des islamistischen Terrors die Welt durchstreift, während ihr Vater, die Diplomatenlegende Max Ophuls, all die Jahre heimlich die Antiterrorabteilung des amerikanischen Geheimdienstes geleitet hat. Und danach geht es mit Rushdie hinab in die kaschmirische Vorwelt, alles ab ovo. »Da war die Erde, und da waren die Planeten«, das orientalische Erzählen hebt an, süß und fern wie der Ruf der Nachtigall, bunt wie ein Teppich. Rushdie beherrscht das, er hat diese Manier in vielen seiner Romane geübt. Mythos, Allegorie, Arabeske, alles hängt mit allem zusammen, die Vollfettstufe des Erzählens, immer sind die Dinge melodramatisch, aber nicht immer berichtenswert. Rushdie kann nicht auslassen oder verkürzen, er begleitet seine Figuren nicht als Erzähler, er gluckt auf ihnen wie eine allgegenwärtige Mutter. Überkomplex erscheint das Buch durch die pinzettenhafte Auflösung der Handlung, die sorgsame Auspolsterung durch Nebenfiguren und Anekdoten. Aber dann ist man von dem simplen allegorischen Raster, das die multikulturelle Konstruktion zusammenhält, wiederum enttäuscht. Am Anfang ist das Paradies, ein Dorf in Kaschmir. Hindus und Muslime leben ohne das Wissen einer religiösen Differenz zusammen. Sie veranstalten opulente Festmahle und schauspielern dazu. Das ist ihr unschuldiges Gewerbe. Und dann geht das Paradies gleich doppelt verloren: Indien wird 1947 geteilt, die politische Paranoia entsteht, die ersten religiösen Hassprediger tauchen auf, Kaschmir wird Kampfzone. Shalimar und Boonyi sind in dieser Zeit ein junges Liebespaar, sie sind Sprösslinge einer muslimischen und einer hinduistischen Familie und somit der sichtbare Ausdruck der dörflichen Einheit. Dann tanzt Boonyi eines Tages vor dem amerikanischen Botschafter Ophuls. Er hält sie als seine Mätresse, was im schwatzhaften Indien seine Runde macht und als internationaler Skandal endet. Zurück bleibt ein Kind namens Kashmira, das bald der Mutter fortgenommen wird und als India in Europa aufwächst. Und ein von Hass zerfressener Shalimar, der auf Rache sinnt. So werden alle Protagonisten dieser familiären Kabale zu Figuren in einem historischen Mysterienspiel. In den kaschmirischen Familien aus Padigam, südlich von Srinagar, geht das gute, dem Essen und der Fröhlichkeit gewidmete Leben unter, und das hässliche Haupt der – wie man in Indien sagt – »Jammu and Kashmir-Issue« reckt sich. Max Ophuls, gebildeter bürgerlicher Jude aus Straßburg, Held der Résistance, Flieger-Ass und früher Kämpfer für die Dritte Welt, er wird mit seiner Af-

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VON THOMAS E. SCHMIDT

färe zum Spätkolonialisten, zum Vertreter des ausbeuterischen Westens – wider Willen. Er steht für die Absurdität des islamistischen Fanatismus, der nicht das reale Paradies wiederherstellen will und auch nicht dasjenige des Korans, sondern einer falschen Version der Unschuld nachhetzt und sie mit blutigen Reinigungsritualen verwirklicht. Was schließlich Kashmira, die tapferen Amazone, endgültig zu einer Allegorie ihres Landes macht. Sie ist die zerrissene Verkörperung der kashmiriyat, jener kulturellen Idee, die das Land einst geeinigt hatte und eines Tages, wer weiß, wieder einigen wird. Und wenn sich am Schluss der Mörder im dunklen Zimmer an Kashmira heranschleicht und Kashmira mit Pfeil und Bogen als neue Artemis ihre Unschuld verteidigt, dann spricht Salman Rushdie: Man muss sich des Fanatismus entledigen, nicht durch Gegenmord, sondern durch einen mythologisch überhöhten Akt der Selbsterhaltung.

Verschachtelte Langsätze, eine gekünstelte Opernhaftigkeit Gegen das humanitäre Engagement des Autors ist nichts zu erwidern. Shalimar der Narr ist ein für den literarischen Weltmarkt geschriebener Konsensroman, der dem Leser keine Distanzierungsmöglichkeiten lässt und mit dem enthusiasmierten Einschwingen rechnet. Ein guter Roman ist er deswegen noch nicht. Rushdies Kollege John Updike ließ sich im New Yorker etwas befremdet über die emotionale Dauererregung dieser Prosa aus, über die verschachtelten Langsätze, denen irgendwann der Atem ausgeht, die gekünstelte Opernhaftigkeit auch im Kleinen. Der Eindruck des Kolossalen legt sich übers Gelesene, weil der Leser die Geschichte nicht aus sich heraus verfolgen kann, sondern stets von der Warte der eingetretenen Katastrophe aus, dem Terrorismus und dem Elend Kaschmirs. Dieser Eindruck entsteht auch da, wo Rushdie »cool« schreibt, also in den filmhaften, voller Anspielungen auf die Popkultur steckenden Passagen, die in Los Angeles spielen. Mag sein, dass Rushdie der Idee eines um Realität und Bitterkeit ergänzten Bollywood nachstrebt, einer mit Tragik durchschossenen orientalischen Erzählmagie. Kann sein, dass er sich auf indrajal beruft, auf indische Artistik und Illusionskunst, und damit signalisiert, dass er die westliche Trennung von Kunst und Wirklichkeit nicht anerkennen mag. Vielleicht ist das kritisch ästhetische Urteil einem solchen Vorhaben gegenüber ganz unangemessen. Genauso bleibt aber das Spiel mit der realitätsverändernden Kraft des Erzählens auf einen westlich-liberalen Resonanzraum beschränkt. In ihm spielt die Kunst allerdings eine andere Rolle, als ein gesellschaftliches Einverständnis sichtbar zu machen, das ohnehin besteht. Im Kosmos von Shalimar dem Narren ereignen sich am Ende doch seltsam unberührt lassende Konflikte und Versöhnungen. Der globale Roman hat keinen Außenstandpunkt mehr. Die sanfte politische Utopie des magischen Erzählens muss sich der Leser hart erarbeiten. Bis er sie irgendwann glaubt.

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erst nach und nach, aber dann trifft er doch seine Entscheidung: Er löst sich von der Familie, verlässt Harlem und zieht zu Edith, die er als Geliebte inzwischen geerdet hat; glaubt er doch nun zu wissen, dass zarte Gefühle und brennendes Verlangen, zumindest in ausgesuchten Momenten, sehr wohl zusammenstimmen können. Und dann sind da noch seine Pläne, Schriftsteller zu werden – ihnen will er nachkommen, nach bestem Wissen und Gewissen. Requiem für Harlem ist ein ungemein dichtes Buch mit einer zeitlosen Botschaft: Der Mensch ist, wie es sich Ira beim Auszug aus Harlem eingestehen muss, »wandelbar und zu allem fähig«, woraus er nur eine einzige Sicherheit bezieht, nämlich »sich wegen gar nichts sicher« sein zu dürfen. Das macht sein Glück aus, das ist das Leitmotiv seiner Träume. Zu loben ist nicht nur der Schriftsteller Henry Roth, sondern auch sein deutscher Verlag, der Requiem für Harlem in einer famosen Übersetzung von Heide Sommer herausgebracht hat und dem Leser im Anhang nützliche Informationen, wie etwa ein Nachwort und ein umfangreiches Glossar jiddischer und hebräischer Wörter und Ausdrücke, bietet. Henry Roth: Requiem für Harlem Roman; aus dem Englischen von Heide Sommer; Rotbuch Verlag, Hamburg 2005; 405 S., 24,– ¤

Salman Rushdie: Shalimar der Narr Roman; aus dem Englischen von Bernhard Robben; Rowohlt Verlag, Reinbek 2006; 542 S., 22,90 ¤

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12. Januar 2006

DIE ZEIT

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LITERATUR

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Skrupellos wie kein anderer Werner Dahlheims Caesar-Biografie lässt vom Heldenbild nichts übrig aesar fasziniert immer noch, auch wenn die Antike längst aus dem Zentrum in eine Nische des Bildungshaushaltes abgeschoben worden ist. Im 19. Jahrhundert galt er als »welthistorisches Individuum« (Hegel). Theodor Mommsen ließ seine Römische Geschichte mit einer Glorifizierung Caesars als »Demokratenkönig« enden, der zugleich die welthistorisch notwendige Umgestaltung des Imperium Romanum in Angriff genommen habe. Jacob Burckhardt pries Caesar als den »größten Sterblichen«, der wie einst Alexander im Osten nun im Westen die Zukunft der Zivilisation gesichert habe. Im 20. Jahrhundert fielen die Urteile nüchterner aus, so in der Biografie von Matthias Gelzer, die zwischen 1921 und 1960 in sechs Auflagen erschien. Allerdings hielt Gelzer daran fest, Caesar habe über ein Programm zur Anpassung der stadtstaatlichen Verfassung Roms an die Bedingungen des Weltreichs verfügt. Gelzer wandte sich gegen Hermann Strasburger, der 1953 Caesar staatsmännische Qualitäten abgesprochen hatte. Christian Meier wiederum hat in seiner Caesar-Biografie von 1982 einerseits die These vertreten, Caesar habe aus verletzter Ehre einen Bürgerkrieg eröffnet, andererseits dargelegt, dass der spätere Alleinherrscher nicht über die Möglichkeiten einer grundlegenden Neugestaltung verfügt habe. In der Diskussion um Meiers Buch wurde erörtert, ob man nach Hitler überhaupt noch von »historischer Größe« sprechen könne – eine Debatte, die man heute selbst nur als historisch verstehen kann. Von weltgeschichtlichen Notwendigkeiten und historischer Größe ist bei Werner Dahlheim keine Rede. Er lässt an der auf den eigenen Ruhm fixierten Handlungsmotivation Caesars ebenso wenig Zweifel wie daran, dass dieser die »Not des Staates« dramatisch verschärft, aber nicht behoben hat. Caesar erscheint – anders als bei Meier – nicht als »großer Außenseiter« der römischen Aristokratie, sondern als besonders skrupelloser Vertreter dieser herrschenden Klasse. Dahlheim beginnt mit einer Skizze der römischen Weltherrschaft im 1. Jahrhundert vor Christus, als die

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Erasmus ihm mehrmals Aufträge erteilte. Von drei um 1523 angefertigten Porträts ging eins an den Erzbischof von Canterbury und eins an den französischen König Franz I. Der hier abgebildete Erasmus hängt im Basler Kunstmuseum und zeigt den Gelehrten, wie er den Titel seines Kommentars zum Markus-Evangelium niederschreibt. Der großformatige Band enthält einen rund 300 Seiten umfassenden Textteil, der sich hauptsächlich mit Holbeins Baseler Zeit beschäftigt, sowie rund 70 Seiten mit farbigen Tafeln. (Jochen Sander: Hans Holbein d.J. Tafelmaler in Basel 1515–1532; Hirmer Verlag, München 2005; 504 S., 98,– ¤)

" BUCH IM GESPRÄCH

Wenn Kriege zur Ware werden Mit der Wahl des Titels Die Kriegsverkäufer hat Andreas Elter den Gegenstand seines Buches treffend erfasst: Krieg als Ware, die einer guten Verpackung und attraktiver Aufmachung bedarf, um auf dem politischen Markt angenommen zu werden. Für die USA ist dieses Bild maßgeschneidert. Im 20. Jahrhundert verging keine einzige Dekade, in der amerikanische Truppen nicht irgendwo auf der Welt Krieg führten – manchmal wenige Wochen nur (wie im Lateinamerika der 1930er Jahre), bisweilen zehn Jahre am Stück (wie in Vietnam). Hinter diesen Daten gerät die skeptische, wenn nicht ablehnende Haltung breiter Teile der Öffentlichkeit oft in Vergessenheit. Wenn es nämlich so etwas wie eine »postheroische Gesellschaft« gibt, dann sind es die Vereinigten Staaten – ein Kollektiv, das sich an der Inszenierung des Heldenhaften ergötzt, aber einen ausgesprochenen Widerwillen an den Tag legt, eigene Opfer zu bringen oder viel Zeit in einen Waffengang zu investieren. Wie sich dieses Spannungsverhältnis im 20. Jahrhundert entwickelte und wie es von Fall zu Fall austariert wurde, gehört zu den zentralen und gleichwohl unzureichend reflektierten Kapiteln einer Gesellschaftsgeschichte moderner Kriege. Andreas Elters informativer Überblick schlägt einen großen Bogen vom Ersten Weltkrieg bis zum gegenwärtigen Krieg gegen den Terror. Er zeigt, welcher institutionelle und propagandistische Aufwand betrieben werden musste, um die Heimatfront stabil zu halten, wie sich die politischen Instrumente im Laufe der Dekaden veränderten, wann ein Appell an den Patriotismus hinreichend war und unter welchen Bedingungen eine Politik der vorsätzlichen Lüge zum Zuge kommen musste. Zu Recht geht es dabei über weite Strecken um die Rolle der Medien, sind sie es doch, die in der Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft eine Schlüsselposition besetzen. Und sind sie es doch, die in den USA sich traditionell in der Rolle der »vierten Gewalt« sehen und mithin in An-

Provinzgouverneure »als Wildhüter ihr Amt antraten und es als Wilderer ausübten« und die Notwendigkeit, einzelnen Generalen langfristige Kommandos zu übertragen, zunehmend die inneraristokratische Gleichheit, damit die republikanische Ordnung gefährdete. Mit den Skandalund Heldengeschichten des jungen Caesar hält er sich ebenso wenig lange auf wie mit dem Beginn von dessen politischer Karriere im Gewande eines Verfechters der Volksrechte.

Bei der Eroberung Galliens zog er eine Spur von Tod und Verderben Die auf Caesar konzentrierte Darstellung setzt vielmehr mit dessen Konsulat 59 vor Christus ein, als er mit einer Serie von Rechtsbrüchen die Forderungen des großen Eroberers Pompeius durchsetzte, die diesem vom Senat verweigert worden waren, und sich selbst ein langjähriges Kommando verschaffte, das ihm ermöglichen sollte, aus Pompeius’ Schatten zu treten. Die in den folgenden acht Jahren von Caesar betriebene Eroberung Galliens wird als Raubzug beschrieben, der eine einzige »Spur von Tod und Verderben« gezogen hat. Caesars Erfolg konnte seine Feinde nicht von ihrem Ziel abbringen, ihn wegen seines Verhaltens als Konsul zur Rechenschaft zu ziehen. Caesar wollte deshalb aus seiner Statthalterschaft zu einem zweiten Konsulat gelangen, was für das Jahr 48 möglich war. Die Sonderregelungen, die ihm dies ohne zwischenzeitlichen Verlust seiner Immunität ermöglicht hätten, wurden aufgehoben, als sein Bündnis mit Pompeius zerbrach und dieser sich wieder auf die Seite des Senates schlug. Um seine Würde zu wahren, begann Caesar im Januar 49 mit seinem Marsch auf Rom einen Bürgerkrieg, der während der folgenden vier Jahre im ganzen Reich ausgefochten wurde. Mit der Räumung Italiens hatte Pompeius die Strategie verfolgt, Caesar ins Leere laufen zu lassen. Caesars Übersetzen nach Griechenland war Hasard, das nur zum Erfolg führte, weil Pompeius seine senatorischen Kommandeure

nicht unter Kontrolle halten konnte, deren Selbstachtung nicht zuließ, der Schlacht bei Pharsalos (August 48) auszuweichen. Als Caesar bei der Verfolgung des geschlagenen Pompeius (der jedoch zuvor ermordet werden sollte) im ägyptischen Alexandria (und bei Kleopatra) landete, fasste er nach Dahlheim erstmals die Rolle eines neuen Alexander ins Auge, der sich mit der Eroberung des Partherreiches, des einzig verbliebenen Rivalen Roms, auch jene Legitimation verschaffen wollte, die ihm der Sieg in einem Bürgerkrieg nicht einbringen konnte. Seine Herrschaft in Rom suchte er durch die jeweils großzügige Versorgung seiner Anhänger und Begnadigung seiner Feinde zu sichern. Seine Gesetzgebung kam über ad hoc getroffene Maßnahmen nicht hinaus. Die Verachtung republikanischer Institutionen, die Anfang 44 in der Übernahme einer Diktatur auf Lebenszeit und in einem Spiel mit der Königswürde gipfelte, entfremdete schließlich auch solche Senatoren, die von Caesars Patronage profitiert hatten, sich aber nicht mit der Rolle von Befehlsempfängern abfinden konnten. Am 15. März 44 nahmen sie vor Caesars Aufbruch in den Partherkrieg die letzte Chance wahr, den »Tyrannenmord« zu vollziehen, nur dass sie sich danach so kopflos zeigten, dass es bald zu neuen Bürgerkriegen kam. An deren Ende verstand es Augustus, eine stabile Ordnung zu schaffen, aber nur, weil er sich vom Vorbild Caesars abgesetzt hatte. Erbauung und Sinnstiftung bietet Dahlheim nicht. Er zeichnet die Realität der Machtkämpfe nach und vergisst diejenigen nicht, die »bei den Spänen waren, als Männer, die Geschichte machten, hobelten« (Strasburger). Spannende Erzählung und souveräne Strukturanalysen werden verwoben und in einer Sprache dargeboten, die Ironie und Sarkasmus nicht scheut, wenn dies dem Gegenstand angemessen ist. Werner Dahlheim: Julius Caesar Die Ehre des Kriegers und die Not des Staates; Verlag Schöningh, Paderborn 2005; 321 S., 24,90 ¤

Der Weg, der zum Anderen führt

Das Porträt als Werbemittel Erasmus von Rotterdam (1469 bis 1536) war ein Mann,der seine Wirkung und Bekanntheit durch das Medium des Porträts zu steigern wusste. Er gab viele davon in Auftrag und schenkte sie Freunden und Förderern. Unter den Malern waren die bedeutendsten seiner Zeit, Quentin Massys, Albrecht Dürer und eben Hans Holbein d. J. Ihm widmet Jochen Sander, seines Zeichens Leiter der Gemäldeabteilung im Frankfurter Städel, einen großen Bildband, der sowohl hohen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt als auch die Bedürfnisse des interessierten Laien befriedigt. Holbein, der 1515 bis 1532 in Basel lebte, war als Porträtmaler so bekannt geworden, dass

VON WILFRIED NIPPEL

spruch nehmen, Wächter über das in der Verfassung verbriefte Recht auf Meinungs- und Redefreiheit zu sein. Man tut allerdings gut daran, das Verhalten der Medien nicht mit der Elle einer naiven Prinzipientreue zu messen – es gab und wird immer wieder Situationen geben, in denen kritisch abzuwägen ist, ob das Recht auf Sicherheit nicht zu einer zurückhaltenden Ausübung der Informationspflicht gemahnt. Das freilich ist nicht die Pointe in Elters Buch. Verblüffend ist vielmehr der Nachweis, wie ausgeprägt die Neigung meinungsführender Medien ist, jeden kritischen Anspruch fahren zu lassen und zum »vierten Arm der Regierung« zu werden – selbst in den als Blütezeit des kritischen Journalismus verklärten Jahren des Vietnamkrieges. Ihrem vorauseilenden Gehorsam und ihrer Selbstzensur ist es zu verdanken, dass die direkte Zensur von Staats wegen nur eines unter vielen und vielfach ein untergeordnetes Instrument der Meinungssteuerung blieb. So gesehen, erscheint die seit 2001 zu beobachtende Selbstdisziplinierung und einverständige Gleichschaltung der US-Medien als weiteres Kapitel einer schier endlosen Geschichte. Mit Andreas Elter sei aber darauf verwiesen, dass historische Erklärungen nicht in jedem Fall zur Klärung des Wesentlichen beitragen. Gerade in diesem Fall ist es mit dem Hinweis auf Kontinuitäten nicht getan. Es geht um die Selbstkorrekturmechanismen eines demokratischen Systems und um die Frage, ob deren periodische Inaktivierung am Ende nicht dazu führt, die Demokratie an der Wurzel zu vergiften. Indem er diese Frage aufwirft, zeigt der Autor zugleich, worum es in der künftigen Diskussion des Verhältnisses von Krieg und Zivilgesellschaft gehen sollte. Bernd Greiner Andreas Elter: Die Kriegsverkäufer Geschichte der US-Propaganda 1917–2005; Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005; 370 S., 13,– ¤

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DIE ZEIT

Am 12. Januar wäre der Philosoph Emmanuel Levinas hundert geworden. Neue Bücher weisen den schwierigen Denker als einen Klassiker des 20. Jahrhunderts aus VON THOMAS MEYER ie Zahl der weltweiten Ehrungen, Konferenzen und Neuerscheinungen anlässlich des 100. Geburtstages von Emmanuel Levinas räumen jeden Zweifel aus: Der Denker des Primats der Ethik, der schier übermenschlichen Verantwortung für den Anderen, ist zum Klassiker geworden. In Israel werden Israels Staatspräsident Katsav und Schimon Peres zugegen sein, wenn sich Intellektuelle und Künstler im Jerusalem-Theater an den Philosophen erinnern. Und die vier soeben von Routledge mit herausragenden Interpretationen zu Levinas’ Œuvre veröffentlichten Bände präsentieren ihn, was wahrlich umstritten ist, als einen der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts. Auch hierzulande erscheinen rund um das Jubiläumsjahr wichtige Bücher. Den Verlagen Alber, Meiner und Neue Kritik gebührt dabei ein Lob für ihre andauernde Treue zu dem schwierigen Autor. Es sind die erstmaligen Übersetzungen früher Texte, die eine besondere Beachtung verdienen. 1929 legte Levinas eine exakte Nachzeichnung von Edmund Husserls Ideen vor, die auf seine ein Jahr später erschienene und preisgekrönte Dissertation über den Freiburger Phänomenologen verweist. Der Aufsatz findet sich in dem von Alwin Letzkus souverän übersetzten Band Die Unvorsehbarkeiten der Geschichte, der auch die 1934 publizierte Studie Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus enthält. Levinas’ Analyse zielte auf die Ursprünge des von ihm »Hitlerismus« genannten Frontalangriffes auf die Zivilisation. Bemerkenswert ist bis heute die Klarheit, mit der ein radikal metaphysisches Denken die Zeitläufte verstanden und ihnen den weiteren Verlauf prophezeit hat: »Nietzsches Wille zur Macht, den das heutige Deutschland wiederentdeckt und glorifiziert, ist nicht nur ein neues Ideal; es ist ein Ideal, das seine eigene Form der Universalisierung gleich mitliefert: nämlich den Krieg und die Eroberung.«

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Mit Ekel revolutiert der Mensch gegen sein Dasein Für die Entwicklung des Denkens von Levinas stellte der 1935 erstmals publizierte Essay De l’évasion, jetzt bei Meiner unter dem Titel Ausweg aus dem Sein erschienen, eine entscheidende Weichenstellung dar. Er transformierte die Einflüsse von Bergson, Husserl und Heidegger in eine philosophische Zeitdiagnostik. Zunächst geht es vordergründig um eine phänomenologische Beschreibung jenes Ekels, mit dem der Mensch gegen seine unauflösliche Verkettung mit der bloßen Tatsache seines Daseins zu revoltieren versucht. Doch dieser Ekel steht für Levinas jenseits der bisherigen Tradition der Weltablehnung, er muss daher folglich als

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Reaktion auf die Gegebenheiten ernst genommen und in seiner Neuheit verstanden werden. Genau dies unternimmt er mit schwer durchschaubaren Überlegungen, die zwischen Kulturkritik und einem neuen Seinsdenken changieren. Letztlich ist De l’évasion sowohl ein Nein gegenüber den angebotenen Lösungen zur Krise der Zeit als auch ein Versuch, die Überlieferung für die Gegenwart ohne Kompromisse mitverantwortlich zu machen. Die Idee der Verantwortung wird es dann sein, die Levinas von den Philosophien des »Seins« hin zum menschlichen »Seienden« und schließlich zum »Anderen« führen wird.

Durch Interpretation soll der Talmud gegenwärtig bleiben Leider enttäuscht die Edition Alexander Chucholowskis. Die Übersetzung ist nicht immer galant, arbeitet gelegentlich mit eigenwilligen Hervorhebungen und ist vor allem unentschieden in der Handhabung des zentralen Begriffes. Es bleibt Chucholowskis Geheimnis, warum der Titel De l’évasion mit Ausweg aus dem Sein übersetzt ist, dann aber im Lauftext évasion stets mit »Evasion« wiedergegeben wird. Das erinnert an die Praxis zahlreicher schlechter Derrida-Übertragungen, die sich mit der angeblichen Bedeutungsvielfalt, die es nur im Französischen gebe, vor der Entscheidung drücken, einen deutschen Ausdruck zu benutzen. Die Möglichkeiten, die sich mit Alternativen wie »Ausweichen« oder »Entrinnen« geboten hätten, werden erst gar nicht erwogen. Abgesehen davon, lösen weder Chucholowskis Einleitungsessay noch die Anmerkungen von Jacques Rolland die selbst gestellten Ansprüche ein. Stattdessen findet man zwei einander häufig widersprechende Deutungen, woraus sich aber keine Aufklärung ergibt. John Llewelyn und David Plüss haben schon vor Jahren gezeigt, wie man De l’évasion auf wenigen Seiten deuten kann. In Deutschland ist es Frank Miething, der durch seine klugen Übersetzungen auf die große Bedeutung der Talmud-Lektüren für Levinas’ Werk hingewiesen hat. Der vorliegende Band ist vor allem deshalb interessant, weil er sich mehr als in anderen Interpretationen des Talmuds in der Tradition bewegt, in der das Judentum als »ethischer Monotheismus« (Salomon Formstecher) betrachtet wird. Während die gewählten Traktatstellen konventionell sind und sich allzu häufig wiederholen, sind die Verständnisbemühungen von Levinas dieses Mal nicht ausschließlich auf seine eigene philosophische Ethik hin ausgerichtet. Vielmehr nimmt er andere Überlegungen auf, so von Hermann Cohen und Jacques Derrida, um die Universalität des

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Talmuds auch in der Interpretation gegenwärtig zu halten. Wie schwierig die Annäherung an Levinas für Interpreten ist, lässt sich an Christoph von Wolzogens Aufsatzsammlung ersehen. Dabei ist es weniger die praktizierte methodische Unentschiedenheit, die ratlos macht, als vielmehr das Bedürfnis, historische und systematische Aspekte zu harmonisieren. So interessant Wolzogens Rekonstruktionen etwa zum Frühwerk Heideggers sind, so wichtig seine Hinweise auf Franz Rosenzweigs Einfluss auch sein mögen, sie bleiben in der Luft hängen, weil sie keinen präzisen Platz im Denkkosmos von Levinas zugewiesen erhalten. Dazu kommt, dass manche Texte allzu leichtfertig ohne die Berücksichtigung neuerer Forschungen erneut abgedruckt werden. Das ist überaus schade, denn das Material für ein gutes Buch hält Wolzogen in den Händen. Anders sieht es bei Wolfgang Nikolaus Krewani aus. War bereits sein 1992 vorgelegtes Buch über den Denker des Anderen in erster Linie ein zuverlässiger Führer durch Levinas’ Werk, so ist sein neuer Versuch mehr als Deutung angelegt. Mit Erfolg, denn er nimmt mit Levinas das Risiko auf sich, dass die Philosophie eingehen muss, wenn sie nach der Schoah an der Idee des Wahren und Guten festhalten möchte: dass sie die Seinsfrage, die seit altersher als unhintergehbar gilt, selbst infrage stellen muss. Emmanuel Levinas: Anspruchsvolles Judentum Talmudische Diskurse; aus dem Französischen von Frank Miething; Verlag Neue Kritik, Frankfurt a. M. 2005; 174 S., 22,50 ¤ Ausweg aus dem Sein. De l’évasion Mit Anmerkungen von Jacques Rolland; französisch-deutsch, aus dem Französischen sowie Einleitung und Anmerkungen von Alexander Chucholowski; Meiner Verlag, Hamburg 2005; 129 S., 18,– ¤ Die Unvorsehbarkeiten der Geschichte Aus dem Französischen von Alwin Letzkus; Alber Verlag, Freiburg/München 2006; 208 S., 32,– ¤ Wolfgang Nikolaus Krewani: Es ist nicht alles unerbittlich Grundzüge der Philosophie Emmanuel Levinas’; Alber Verlag, Freiburg/München 2006; 296 S., 34,– ¤ Christoph von Wolzogen: Emmanuel Levinas – Denken bis zum Äußersten Alber Verlag, Freiburg/München 2005; 231 S., 22,– ¤

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LITERATUR Kaleidoskop

" BÜCHERTISCH

" LITERARISCHES LEBEN

Belletristik

Berlin, im Januar 2006 Zehn Jahre schon gestorben, das sind viele. Die FAZ erinnerte an François Mitterrand und seine kulturellen Verdienste. In Berlin ist Heiner-Müller-Gedenken angesagt. Die echten Freunde, jene, die sich laut Müllers Definition für ihn foltern lassen würden, waren sicher am 30. Dezember auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, um eine Havanna aufs Grab zu legen. Das Berliner Ensemble, Müllers letzte Wirkungsstätte, hatte den erweiterten Freundeskreis oder Fanclub anlässlich des 10. Todestags zu einer kleinen Folterstunde geladen. 100 Fragen an Heiner Müller heißt das Stück, eine theatralische Bastelarbeit, von Thomas Oberender und Moritz von Uslar montiert zu einem MüllerPorträtpuzzle nach Interviewauskünften Heiner Müllers und einiger Freunde und Weggefährten. Das »Spiel« begann überraschenderweise schon draußen, vor dem BE. Eine Phalanx dramatisch im Wind züngelnder Bodenfackeln geleitete den Besucher ins stockfinstere Foyer, wo die Kassiererinnen, mit Taschenlampen hantierend, resigniert Auskunft gaben: »Das gehört dazu.« Dunkelheit, klar, war bei Heiner Müller ja immer Teil der Inszenierung. Besser gesagt: Verdunkelung. Sätze wie: »Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft« oder »Das Problem dieser Zivilisation ist, dass sie keine Alternative zu Auschwitz hat« wirken nicht dunkel, sondern als hätte jemand mutwillig alle Sicherungen im Oberstübchen ausgeknipst. Und sie entflutschten diesem Dichtermundwerk so geschmeidig, so genüsslich schmatzend, als wär’s der Peter Hintze des Dr. Kohl oder der Ronald Pofalla des Weltgeistes, der redet wie die Fleischersfrau aus Die Schlacht, die ihrem Mann beim Ersaufen zusieht: »Blut fängt Fliegen … und jetzt ist’s so gekommen und er stirbt jetzt.« So gesehen, stellen sich da gut und gerne mehr als 100 Fragen. Regisseur Philip Tiedemann lässt fünf Heiner-Müller-Klone, vier Männer und eine

Joseph von Westphalen: Die Memoiren meiner Frau Roman; btb Verlag, München 2005; 318 S., 19,90 ¤

Von außen betrachtet, schaut das Leben aus wie eine Komödie – dass hinter der heiteren Fassade allzu oft die kleinen Tragödien und Niederlagen warten, davon weiß Joseph von Westphalen stets klug und clever zu erzählen. Sein Feld sind die erotischen Wanderungen und Verirrungen jener Großstadtmenschen, die unsere postindustrielle Farce bevölkern – etwa jener Richter in Memoiren meiner Frau, der seine prominente Ehefrau betrügt, und zwar ausgerechnet mit einer Polin, die ihrem angeblichen Verlobten immer recht pornografische Briefe in die Untersuchungshaft schickt. Carmen Stephan: Brasilia Leben in einer neuen Stadt; Stories; mit Fotografien von Gleice Mere; Blumenbar Verlag, München 2005; 172 S., 24,– ¤

Von oben betrachtet, schaut das Leben aus wie ein Flugzeug – in dieser Form ist der Grundriss von Brasília angelegt, Hauptstadt und Utopie, deren Realitätsgehalt die Menschen dort täglich testen. Carmen Stephan hat einige von ihnen getroffen: Zusammen mit den Fotos von Gleice Mere ergibt sich aus ihren Geschichten und Porträts das Bild einer Stadt, die den Bewohnern immer zugleich fremd war und versöhnlich, immer eine Zumutung und gleichzeitig eine Rettung: Es ist das schöne Trugbild einer modernen Stadt vor dem postindustriellen Fall. Georg Diez

Sachbuch

Sigmund Freud, zum Ersten als Sexualforscher, das Jubiläumsjahr 2006 hat begonnen: Weil sich das Erscheinen der Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie zum 100. Mal jährte, haben die Frankfurter Experten Quindeau und Sigusch erstmals im deutschsprachigen Raum renommierte Fachleute der Psychoanalyse, der Sexualwissenschaft und der Säuglingsforschung zusammengebracht, um »mit Freud gegen Freud zu denken« und zu erörtern, was heute Sexualität bedeutet. Inwiefern »Freud am Schlaf der Welt gerührt« hat, erläutert etwa Sigusch in seinem wissenschaftshistorischen Aufsatz, der Hamburger Psychiater Wolfgang Berner prüft Freuds Triebbegriff im Licht der heutigen Neurophysiologie, und Ilka Quindeau untersucht die Gründe, aus denen die Psychoanalyse einer Triebtheorie bedarf. Kurzum, dies ist eine überaus lesenswerte Darstellung der gegenwärtigen Kontroversen. Michael Rohrwasser: Freuds Lektüren Von Arthur Conan Doyle bis zu Arthur Schnitzler; Psychosozial Verlag, Gießen 2005; 404 S., 38,– ¤

Freud, zum Zweiten als Leser: Mit dieser Studie über Freuds Lektüren hat der Literaturwissenschaftler und Kritiker Michael Rohrwasser dem Leser ein außerordentlich material- und kenntnisreiches Kompendium der Entschlüsselungskunst zur Verfügung gestellt. Rohrwasser zeigt, dass die Kommentare zur Literatur, die der »Detektiv, Archäologe oder Entschlüssler« Freud verfasst hat, nicht als »spielerische Nebenprodukte« der psychoanalytischen Wissenschaft abgetan werden können. Die Dichter sind vielmehr die Bündnisgenossen des profund belesenen Wiener Nervenarztes, und nach Freud liest kaum einer mehr wie zuvor. Elisabeth von Thadden

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" GEDICHT

Sterben, wieder auferstehen

Heiner-Müller-Gedenken, noch mal

»Provinz des Mannes« (= Frau) zu BossanovaRhythmen umeinander turnen. Das ungemein erotisierende Körpergefuchtel des hageren, authentisch bebrillten Womanizers und Ich-ist-einanderer-Performers Müller erinnert von fern an Kurt Joos’ legendäres Ballett Der grüne Tisch, ohne Tisch, aber mit fünf identischen schwarzen Bürodrehstühlen, auf denen noch beängstigende Tanzeinlagen gegeben werden zur Harlekinade der 100 Fragen. Sie waren echt Kommunist? – Wo liegt das

Deutsche in der deutschen Kunst? – Wie sexy ist das eigentlich, wenn ein Theaterstück verboten wird? – Ist Menschen verachten was Schönes? – Be stupid – immer noch ein gewinnbringender Zugang zu Ihrem Theater? – … Mag sein, dass die vielen Fragen ihn ermüdeten oder auch die Antworten, die er größtenteils schon in seiner Autobiografie Krieg ohne Schlacht gegeben hatte und die ihm hier von den fünf Lemuren mit scholarenhafter Unschuld und Engelsflügelchen auf dem Rücken wieder aufgetischt wurden. Also: Diktatur ist für einen Dramatiker »farbiger« als Demokratie, das Deutsche ist die »gotische Linie«, Shakespeare der Größte (wogegen das, was Brecht machte »Schuhplattler« ist), Kunst braucht eine blutige Wurzel, das Schöne am Theater: Man stirbt und steht wieder auf … Mag sein, dass einem echten Grufti solche Sätze in Wiedervorlage wie eitel Tand erscheinen, jedenfalls reagierte der liebevoll angerempelte Dramatiker zunehmend gereizt mit Zitaten aus seiner Hamletmaschine: »⁄Ich spiele nicht mehr mit«, wollte Whisky, Zigarren und seine Ruh. Auf das Publikum, so schien es, und auch auf die Berichterstatterin, die nie zu den MüllerCracks gehörte und zum Missverständnis seines Ruhms nicht den geringsten Beitrag lieferte, hatte das Spektakel nicht die kontagiöse Wirkung, etwa verglichen mit den Assoziationsekstasen, die Alexander Kluge dem Freund zu Lebzeiten entlockte. Wenn die beiden Schlachtenbummler des Weltbürgerkriegs zusammenhockten und der blaue Dunst seiner Monte Christo Locken auf Müllers Denkerstirn drehte, da ging die Post ab. Da ging’s von Medea nach Auschwitz zu Kafka zu Mielke und zurück, dass einem die Sinne schwanden. Na ja, Heiner Müller hat ausgelitten. Das deutsche Theaterpublikum mit diesem Katastrophen-Klassiker wohl noch lange nicht. Gabriele Killert

LES MURRAY

Schieferlandschaft Wassermelonenschalen rings ums Haus, kleine Gondeln aus kringelndem Grün überzogen mit klitschigem rosa Plüsch; Betonpfade mit Rändern vom Benzin, Dreiräder im Garten und Schaufeln wo die Sickergrube den Feenring treibt; ein Drahttor, das ins wogende Korn führt, beige Bretter überlappen, was bleibt – und auf der kornlosen Seite lösen sich von den Eukalypten sturmblaue Fetzen die frisch als Mayonnaisestämme ragen über einem Karren auf allen vieren. Les Murray: Traumbabwe Aus dem australischen Englisch von Margitt Lehbert; Ammann Verlag, Zürich 2005; Einzelband 83 S., 16,90 ¤ oder in der Poesiekassette »Mein Gedicht ist mein Messer« mit Gedichten von Les Murray, Ralph Dutli, Lorand Gaspar, Robert Haas, 4 Bände im Schuber, 49,90 ¤

Die ZEIT-Liste DIE REDAKTION EMPFIEHLT

Belletristik 1. Oscar Wilde: Ein Leben in Briefen

Die nächste Müller-Séance findet am 19. Januar statt

Blessing; 24,– ¤ Der große Oscar Wilde zeigt sich in seinen Briefen als formidabler Freund, als verletzbarer Bürger, als ein Mensch, der leidet, nicht zuletzt an sich selbst

Ilka Quindeau/Volkmar Sigusch (Hrsg.): Freud und das Sexuelle Neue psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Perspektiven; Campus Verlag, Frankfurt am Main 2005; 210 S., 19,90 ¤

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" TASCHENBUCH

2. Inka Parei: Was Dunkelheit war Schöffling & Co.; 18,90 ¤ Die letzten Tage eines alten Mannes, Erinnerung, Schuld, Glück – und kein Wort zu viel

Nicht-Sein mit Schopenhauer Zu den schönsten Zeiten, die dem Menschen eingeräumt sind, gehören jene, die er zur Lektüre Schopenhauers aufwendet. Das kann man nicht leichtfertig behaupten, denn es gibt ja Bedenken: Von der Philosophie konnte man Wunderbares lernen, zum Beispiel, dass man, ohne es gewollt zu haben, auf die Welt kommt und dass das Annehmen dieses ungewollten Faktums in aller Freiwilligkeit das Leben des Erwachsenen ausmacht. Sich dagegen zu stellen, »gegen das Leben«, hat für die Vernunfttradition etwas Pubertäres, etwas Idiosynkratisches. Bei Schopenhauer herrscht dagegen ein plausibler Pessimismus: Das Leben ist das Übel selbst, und es bietet, so Schopenhauer, weil im Menschenleben Gier und Leiden immer stärker hervortreten, keinen anderen Stoff dar »als den zu Tragödien und Komödien – da wird, wer nicht heuchelt schwerlich disponirt seyn, Hallelujahs anzustimmen«. Die alte Schreibweise steht in einer neuen Taschenbuchreihe. Die Reihe, eine Gemeinschaftsproduktion von C. H. Beck und dem Deutschen Taschenbuchverlag, heißt: Kleine Bibliothek der Weltweisheit. Der von Schopenhauer bestrittene Band trägt den Titel: Über das Mitleid, und er ist eine von Franco Volpi herausgegebene und mit einem Nachwort versehene Sammlung einschlägiger Stellen aus: Die Welt als Wille und Vorstellung, Die beiden Grundprobleme der Ethik und schließlich aus: Parerga und Paralipomena. Schopenhauer, der seine Ausführungen gern mit gewichtigen Zitaten spickt, zitiert selbstverständlich den berühmten Chor aus König Ödipus von Sophokles: »Nie geboren zu sein, das ist / Weit das Beste; doch wenn man lebt, / Ist das Zweite, woher

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3. Peter Stephan Jungk: Die Reise über den Hudson

man kam, / Dorthin zu kehren, so schnell wie möglich.« Für die Aufklärung mag das Leben ein Geschenk sein, das anzunehmen man verstehen muss – und erst durch diesen Verstand wird man »Mensch«. In dieser anderen Tradition, der Schopenhauer zugearbeitet hat, hat vor allem der Tod, das Nicht-Sein seinen Reiz. Es steckt eine Unheimlichkeit dahinter, dass die Menschen aus dem Nichts, aus dem Nicht-GeborenSein herkommen und dass sie im Nichts, im Tode enden. In der Zwischenzeit können sie, von ihren Philosophen geleitet, darüber nachdenken, wie sich das vorgeburtliche Nichts zum endgültigen verhält. Besagte Unheimlichkeit reicht für ein Lebensgefühl. Aber es schießt auch übers Ziel (was immer auch »das Ziel« sein mag) hinaus; es mag zwar weise sein, dem Nicht-Sein den Vorzug zu geben, es ist aber seltsam unpraktikabel, weshalb Alfred Polgar die Maxime intelligent verblödelt hat: »Nicht geboren werden ist das Beste, sagt der Weise. Aber wer hat schon das Glück? Wem passiert das schon? Unter Hunderttausenden kaum einem.«

Der Anblick fremder Leiden lindert die eigenen Solange die Bevorzugung des Nicht-Seins »theoretisch«, also das Resultat einer Betrachtung bleibt, kann man sie für weise halten. Unter den Versuchen, diese Weisheit zu praktizieren, sind – wie die Weltgeschichte lehrt – einige gefährlich. Auch in der Kunst, man höre Wagners Tristan und Isolde, klingt die Verbindung von Menschen in ihrem gemeinsamen Nicht-Sein gefährlich faszi-

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nierend. In so einer Musik gerät das aufgeklärte, verantwortliche Subjekt ins Schwimmen. Schopenhauers (Anti-)Vitalismus war aber ethisch motiviert: Es ist die Bejahung des Willens, die Schmerz bereitet. Ach, gelänge es nur, sich vom Wollen zurückzuziehen, der Schmerz würde auch verschwinden oder wenigstens seine diktatorische Rolle aufgeben müssen: Die Willenlosigkeit schlägt den Dramen des Begehrens endlich ein Schnippchen. Böse ist, wer im Handeln allein dem principium individuationis folgt, wer also den eigenen Willen bejaht und den der anderen verneint; es ist für mich das Wichtigste an Schopenhauers Ethik, dass er den kalten Charakter des einfühllosen Mitmenschen zeichnet, der »allein sein eigenes Wohlseyn sucht, vollkommen gleichgültig gegen das aller Anderen, deren Wesen ihm vielmehr völlig fremd ist …, ja, die er eigentlich nur als Larven, ohne alle Realität, ansieht.« Die Christenheit feiert Weihnachten, also eine Geburt. Dass mit der Geburt von Gottes Sohn das Leben selbst absolut bejaht wird, ist eine Glaubensfrage. Der Zweifel (der den Glauben vielleicht erst stark macht) hat in Schopenhauer einen Anwalt. Der mitleidlose Typ jedenfalls scheint ein unterschwelliges Ideal dieser Gesellschaft zu sein; es ist aber auch vertrackt: »Der Anblick fremder Leiden«, sagt Schopenhauer, »lindert die eigenen.« So hat es der Mensch »von Natur aus« schwer, gut zu sein. Franz Schuh Arthur Schopenhauer: Über das Mitleid Hrsg. und mit einem Nachwort von Franco Volpi; dtv/C. H. Beck, München 2005; 159 S., 6,– ¤

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Klett-Cotta; 19,50 ¤ Eine pathetische Vater-Sohn-Geschichte, aber sehr gut erzählt – und nicht pathetischer, als unser Anspruch an die Literatur sein wollte

4. Irène Némirovsky: Suite française Albrecht Knaus; 22,90 ¤ Am 17. August 1942 stirbt Irène Némirovsky in Auschwitz, in den Monaten davor schrieb sie im Wettlauf mit der Zeit dieses groß angelegte, ergreifende Epos über ihre Lebensepoche

Sachbuch 1. Sophie Scholl/Fritz Hartnagel: Damit wir uns nicht verlieren S. Fischer; 25,– ¤ Eines der wichtigsten, anrührendsten Zeugnisse aus dem deutschen Widerstand – in einer von Thomas Hartnagel sorgfältig betreuten Edition

2. Jared Diamond: Kollaps S. Fischer; 22,90 ¤ Von den Maya über die Wikinger bis zum heutigen China, Afrika, Australien: Eine profunde Studie über Untergang und Überleben von Gesellschaften

3. Martin Warnke: Velázquez DuMont; 39,90 ¤ Undogmatisch, quellengesättigt, mühelos elegant: Das große Werk des Emeritus Warnke über das Malerleben des Velázquez im 17. Jahrhundert

4. Uwe Naumann (Hrsg.): Die Kinder der Manns Rowohlt; 49,90 ¤ Ein prachtvoller Band: Die kollektive Biografie aller sechs Kinder Thomas und Katia Manns – mit einer Vielzahl unbekannter Dokumente und Fotos

Die Jury: Ulrich Greiner, Konrad Heidkamp, Susanne Mayer, Iris Radisch, Elisabeth von Thadden, Volker Ullrich

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LEBEN

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Lippenbekenntnis Harald Martenstein über die verschiedenen Arten des Herpes Interessant finde ich die Tatsache, dass Tiere Herpes bekommen können. Besonders die Schweine sind anfällig. Wenn man aber das Fleisch eines herpeskranken Hausschweins an einen Hund (oder an eine Katze) verfüttert, dann sterben der Hund (oder die Katze) innerhalb von höchstens drei Tagen. Schweineherpes kann der Hund (oder die Katze) nicht ab (echt wahr). Es gibt acht Arten von Menschenherpes, welche in drei Großgruppen unterteilt werden, und zwar Alpha, Beta und Gamma. Am unangenehmsten sind, wie im Grunde überall, die Alphatypen. Ein Alphaherpes, der sich, gerade bei der Jugend, besonders geringer Beliebtheit erfreut, heißt Herpes genitalis. Vor diesem Leiden möge mein Schöpfer (wer immer es sein mag) mich allezeit bewahren. Herpes ist noch sehr wenig erforscht. Die Menschen wissen heute so vieles über sich selbst, über die Welt, allein, nur weniges davon hat mit Herpes zu tun. Man weiß nicht einmal genau, wie viele Menschen unter Herpes leiden, die Schätzungen reichen von 50 bis 95 Prozent, das heißt, es sind zwischen (ich runde aus Gründen der Lesbarkeit auf) 750 000 und 1,35 Millionen ZEIT-Lesern. Ein Prozent, vulgo 15 000 ZEIT-Leser, werden mindestens einmal im Monat befallen (sog. Heavy Herpes). Es würde sich unter dem Gesichtspunkt der Lesernähe und der Emotionalisierung des Blattes anbieten, in dieser Zeitung ein eigenes HerpesRessort zu eröffnen, doch fürchte ich, dass auch dieser meiner kreativen Gedanken bei den Redakteuren auf unfruchtbaren Boden fällt. Das Erfolgsgeheimnis des Herpesvirus besteht darin, dass es vom Immunsystem nur im Stadium der akuten Erkrankung erkannt und bekämpft wird, in der restlichen Zeit versteckt sich der oder das Virus (nicht einmal das Geschlecht des Wortes Virus konnte von der Forschung verbindlich geklärt werden!). Eine Ansteckung kann bereits erfolgen, wenn das Herpesopfer aus dem gleichen Glase trinkt wie ein Herpestäter. Weil Herpes simplex gerne und mit vernichtenden Folgen die Leber befällt (»Herpeshepatitis«), ist das Verhältnis zwischen Trinkern und Herpeskranken angstbesetzt. Ein Hausmittel, das hilft, ist Honig. Man soll Honig drauftun oder frischen Knoblauch, wie gegen Vampire (echt wahr). In Amerika haben sie jetzt entdeckt, dass Lakritz sogar die versteckten Viren angreift, Lakritz ist geradezu die Anti-HWunderwaffe (Francesca Curelli, Journal of Clinical Investigation, Bd. 115, Nr. 3, S. 650). In dem Lakritz ist Süßholz drin, dieses Süßholz lässt die Tarnung der Viren auffliegen, mit anderen Worten, Süßholzraspeln is a little help gegen Herpes. Eine mir nahe stehende Person bekommt immer Herpes auf dem Körperteil, das zum Draufsitzen verwendet wird, ich sage nicht, wer es ist, weil ich nicht enterbt werden möchte und weil man seine Eltern ehren soll. Wo aber mein eigener Herpes sich befindet, sage ich erst, wenn Sie und ich uns besser kennen und die Zeit für intime Geständnisse gekommen ist. Mein eigentliches Motiv zum Verfassen dieses Textes bestand ohnehin darin, dass ich etwas mit ganz vielen und korrekt verwendeten Klammern schreiben wollte (im Grunde interessiere ich mich gar nicht so für Herpes).

Wir Angstsparer Warum wir Deutschen uns ans Geld klammern, wo wir es doch besser ausgeben sollten

Illustration: An je Jager für

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VON PETER SCHNEIDER

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letzten Wochenenden vor Weihnachten kann die gesamte Jahresbilanz des Einzelhandels verregnen. Hinzu kommt, dass unterschiedliche Nationen auf gleichartige Ereignisse durchaus unterschiedlich reagieren. Wie die Reaktion ausfällt, hängt von der Mentalität eines Volkes, von seinen Gewohnheiten und geschichtlichen Erfahrungen, von seinem Selbstvertrauen ab. Gesetzt den unwahrscheinlichen Fall, Amerikaner und Deutsche würden in einem Quartal exakt die gleichen Wirtschaftsdaten registrieren – sie würden keinesfalls auf die gleiche Weise darauf reagieren. Bei einem Nullwachstum wie in Deutschland würden die Amerikaner vermutlich weiterhin hemmungslos konsumieren und mit ihrer berüchtigten Bereitschaft, sich weiter zu verschulden, versehentlich die lahmende Wirtschaft ankurbeln. Wir Deutsche neigen in einem solchen Fall, hier brauchen wir gar nichts zu vermuten, zum Sparen. Tatsächlich liegen wir derzeit mit einer Sparquote von 10,5 Prozent des Nettoeinkommens im europäischen Ländervergleich weit vorne. Dies, obwohl Deutschland nach wie vor eines der reichsten Länder ist und den dritthöchsten Sozialstandard der Welt genießt. Allein bis zum Jahre 2010 werden circa 1000 Milliarden Euro vererbt; bis Ende 2004 hatten die privaten Haushalte, höchst ungleich verteilt, das ungeheure Bruttovermögen von 10 000 Milliarden Euro angesammelt. Es hat schon etwas Verzweifeltes, wenn die Regierung den schwierigen Klienten namens Konsument durch die Androhung einer erhöhten, aber aufs Jahr 2007 verschobenen Mehrwertsteuer dazu verführen möchte, sich dem Konsumrausch zu ergeben – wenigstens für ein Jahr! Ein Spaßvogel hat gesagt, die Regierung hätte mindestens eine 30-prozentige Mehrwertsteuer androhen müssen, um die deutschen Schließmuskel zu lockern.

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Psychologen haben dieses Ansichhalten als »Angstsparen« gedeutet. Zur Erklärung wird angeführt, dass Deutschland nach den Jahren des Hungers in der Nachkriegszeit einen kaum unterbrochenen Aufstieg erlebt hat, der zu der Illusion eines stetigen, unendlich fortsetzbaren Zuwachses einlud. Tatsächlich schien ja das Gesetz, dass dem Aufschwung irgendwann ein Abschwung folgt, lange außer Kraft gesetzt. Die Einkommensentwicklung schien den Beförderungsrichtlinien des deutschen Beamtentums zu folgen. Aber ist damit die eigentümliche Verspätung und Unbeweglichkeit erklärt, mit der die Deutschen auf den seit langem sichtbaren wirtschaftlichen Stillstand und die zugrunde liegende Strukturkrise reagierten? Offenbar spielt ein mentaler Faktor mit, eine Art Grundstimmung. Wohl kein Berufsstand hat die Lebenseinstellung hierzulande so geprägt wie der Stand der Beamten und öffentlichen Angestellten mit seinem Grundversprechen »unkündbare Lebensstellung«, unabhängig von der jeweiligen Leistung und der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung. Kein anderes Industrieland hat denn auch einen vergleichbaren Anteil von Angehörigen dieses Berufsstands aufzuweisen. Allen hastigen Reformen nach der Pisa-Erschütterung zum Trotz wurde diese Bastion des deutschen Immobilismus und Missmuts nicht wirklich angetastet. Was nicht weiter verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass die »Partei« der öffentlich Dienenden, gleichgültig, wer die Wahl gewinnt, im deutschen Parlament jeweils die Mehrheit stellt. Die Kunst der Risikominimierung ist bis zu einem gewissen Grad vernünftig; alle Völker üben sich darin. Allerdings haben wir es in dieser Disziplin so weit gebracht, dass ausländische Beobachter sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren können, wir hätten uns zu dem Projekt verstiegen,

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mit den Risiken des Lebens auch das Leben selber abzuschaffen. So viel ist sicher: Falls eine positive Stimmung wirklich eine Bedingung für einen Wirtschaftsaufschwung ist, dann hat Deutschland nicht die besten Karten. Immer noch scheint der Erfahrungssatz zu gelten, mit dem mich eine Freundin auf die USA vorbereitete: Wer in den USA zur Tür hereinkommt, kriegt erst einmal zehn Punkte Vorschuss, die er dann ziemlich schnell auf null herunterbringen kann. In Deutschland fängt

BLOSS KEINEN KÜNSTLER Die Schriftstellerin Elfriede Jelinek und die Männer ihres Lebens SEITE 60 Foto: [M] Otto Breicha/imago

olange ich den Wirtschaftsteil einer Zeitung allenfalls aus sprachkritischem Interesse las, habe ich mich über das Fachkauderwelsch dieses Ressorts lustig gemacht. Das Vokabular der Wirtschaftssprache ist weitgehend dem Repertoire des Wetterberichts entliehen. Von »Marktaussichten« und vom »Konjunkturhimmel« ist die Rede, von einer »Aufhellung« oder »Eintrübung der Stimmung«, vom »Konsumklima«. Eine zweite ergiebige Quelle scheint der Terminologie der Sextherapeuten zu entspringen. »Analysten« reden von »gebremster« oder »zunehmender Kauflust«, die sich im günstigen Fall bis zum »Konsumrausch« steigert, von der »Neigung« oder »Unlust« der Unternehmer zu investieren – auch Begriffe wie »Höhepunkt« oder »Abschlaffen« fehlen nicht. Nach der Wortwahl zu schließen, scheint es sich bei der Wirtschaft um einen ewig pubertierenden Patienten zu handeln, der von seinen Launen hin- und hergerissen wird. Mit zunehmender Lektüre ist mir der Spott vergangen. Die Ökonomen der Welt sind sich nämlich darin einig, dass »die Stimmung« ein entscheidender Wirtschaftsfaktor ist. Zwar reagiert das launische Kind namens »Stimmung« durchaus auf objektive Fakten wie etwa die aktuelle Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, die Wachstumsrate oder einen Halbsatz des Präsidenten der amerikanischen Bundesbank. »Die Stimmung« ist bis zu einem gewissen Grade messbar. Dennoch bleibt bei solchen Berechnungen ein gewaltiger Unsicherheitsfaktor. Denn »die Stimmung« hört eben auch auf außerwirtschaftliche Ereignisse – einen Terroranschlag, einen plötzlichen Regierungswechsel, eine Flutkatastrophe. So lächerlich es scheint: Mieses Wetter an den zwei

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man mit minus zehn Punkten an und kann sich bestenfalls gegen null hocharbeiten. Zwar ist nach den letzten Umfragen eine »Aufhellung der Stimmung« zu beobachten. Aber wer außer den Umfrageinstituten gibt nach der Pleite aller Voraussagen vor den Wahlen noch etwas auf Umfragen? Kein Zweifel, wir haben ernste Gründe zur Sorge. Wer nicht ohnehin deprimiert ist, braucht nur

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www.zeit.de/audio

die Nachrichten anzustellen. Jeden Morgen um halb sechs versorgen rätselhaft muntere, gut bezahlte und gelaunte Sprecher die Hörer mit ihrer täglichen Ration von Hiobsbotschaften: Die deutsche Telekom muss angeblich 32 000 Stellen abbauen, DaimlerChrysler will 16 000 Arbeitsplätze streichen, auch VW wird demnächst Tausende auf die Straße setzen, die Deutsche Bank will 6400 Beschäftigte loswerden, die Allianz ist im Entlassungswettbewerb mit 8000 Jobs dabei, in Nürnberg kämpfen 1750 Beschäftigte darum, den Stammsitz der AEG zu erhalten. Und dies alles, obgleich die meisten dieser Firmen die besten Gewinnergebnisse seit Jahren verzeichnen. Falls in Deutschland überhaupt noch neue Arbeitsplätze entstehen, hört man jedenfalls nichts davon. Gute Nachrichten bleiben dem Wetterbericht vorbehalten – in Deutschland nicht eben ein Garant für angenehme Überraschungen. Die durch die Nachrichten täglich erneuerte Krisenstimmung wird durch die Ahnung noch verstärkt, dass sich mit der sozialen Marktwirtschaft etwas Grundlegendes verändert hat. Der Erfahrungssatz, was gut für die Unternehmen sei, sei auch gut für die Arbeitsplätze, hat sich ins Gegenteil verkehrt. Je üppiger die Gewinne der Unternehmen sind, desto sicherer folgen die Streichung und der Export von Arbeitsplätzen. Die neue Formel heißt: 10 Prozent weniger Ausgaben für das Personal = 40 Prozent mehr Profit. Aber die gestrichenen Arbeitsplätze verschwinden ja keineswegs, sie gehen nur woanders hin, in billigere Länder, die wir zu dieser Konkurrenz auch noch eingeladen haben. Der behende Satz zum Trost, den Politiker aller Parteien auf der Zunge tragen, die Deutschen müssten sich auf ihre Fortsetzung auf Seite 58

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Leben

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Wochenschau

Nr.3 12. Januar 2006

ABSCHIED VON CHLOÉ

Kind statt Karriere DIE ECHINACEAKRISE

Was bei einer Grippe wirklich hilft Echinacea, das populäre Naturheilmittel, ist einer Erkältung nicht gewachsen. Die Milderung von Erkältungssymptomen durch das Mittel sei nicht nachweisbar, berichtet das Magazin Öko-Test in seiner aktuellen Ausgabe. Unsere Autoren verraten Medikamente und Rezepte, die ihnen helfen. Garantiert.

Hotel Mama

Es gibt ein paar Dinge im Leben, über die man streiten kann, dies gehört nicht dazu: Metavirulent ist das allerbeste Mittel gegen jede Art von Erkältung. Die Tropfen bekommt man in jeder Apotheke ohne Rezept, und sie schmecken grauenvoll. Ein paar Tropfen unter die Zunge, und man spürt, wie die Viren verbrennen. Vogelgrippe? Da kann Metavirulent nur lachen. STEPHAN LEBERT

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Fotos: [M] Nora Erdmann; Suse Walczak für DIE ZEIT; Steve Wood/action press

Das erste Ziehen im Hals, schon wird der Milchvorrat im Hause überprüft. Denn nichts ist der Erkältung größerer Feind als eine Tasse kochend heiße Milch mit zwei Teelöffeln Honig. Hilft’s beim ersten Mal nicht, beim nächsten Mal Schwarzwälder Tannenhonig besorgen, am besten auf Rezept. MORITZ MÜLLER-WIRTH Müssten wir nicht ins Büro, in die Praxis oder auf den Bau, würden wir bei einer stinknormalen Erkältung das einzig Richtige tun: mit heißer Zitrone und viel Tee ins Bett kriechen, schwitzen und abwarten. Stattdessen gehen wir arbeiten, damit auch alle anderen Kollegen möglichst viele Pillen kaufen müssen. Immerhin ein Beitrag zum Ankurbeln des Binnenkonsums. CHRISTIANE GREFE Ich glaube immer noch an Echinacea. Wenn ich es nehme, rufen die Menschen: Nimm es nicht, es gab Fälle allergischer Reaktionen, die endeten tödlich. Ich messe ruhig 25 Tropfen ab. Neuerdings rufen die Menschen: Es bringt dich erstens um und hilft zweitens nicht – laut Öko-Test und Stiftung Warentest. Ich antworte: »Dort steht nur, es helfe nicht mehr als ein Placebo. Aber seit wann, bitte, helfen Placebos nicht mehr?« MATTHIAS STOLZ

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Stärken besinnen und besser und innovativer arbeiten als die Billigkonkurrenz, klingt wie Singen im Walde. Wer garantiert denn, dass die Inder und Chinesen, nachdem sie traditionelle Industrien wie die einheimische Textilfertigung zum Erliegen gebracht haben, unsere Märkte nicht bald auch mit smarten Produkten der Pharma-, Computerund Nanotechnologie überschwemmen, zu einem Zehntel der Personalkosten? Wer will, mag darin das Wirken einer anarchischen Gerechtigkeit erkennen: Der Ausplünderung der ehemaligen Kolonien folgt jetzt die »Plünderung« der Arbeitsplätze in den reichen Ländern durch die armen. Allerdings ist das kein spezifisch deutsches Schicksal. Die Frage bleibt, warum kleinere Nachbarstaaten wie Holland, Dänemark, England, Schweden, die exakt dieselben wirtschaftlichen Gründe zur Verstimmung hatten, es geschafft haben, ihre Lage und Laune zu verbessern. Mit einem geschrumpften Geldbeutel ist es jedenfalls nicht zu erklären, dass die Deutschen so beängstigend am Essen sparen. Die großen Billiganbieter haben die kleinen und mittelgroßen Läden, soweit sie sich nicht durch Spezialisierung retten konnten, fast vollständig aus dem Stadtbild verdrängt. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich Läden wie Lidl, Plus, Aldi et cetera in Frankreich oder Italien derart flächendeckend durchgesetzt haben. Nach dem jüngsten Gammelfleischskandal versuchten Ernährungsexperten deutschen Kun-

VON JAN STERNBERG

eine Mutter sagt, ich sehe aus wie Dürer«, sagt Jonathan Meese am Telefon. Das soll als Erkennungszeichen ausreichen. Dürer trägt eine Trainingsjacke, tritt in das Hamburger Innenstadtcafé, das eigentlich sein Malerfreund Daniel Richter für das Gespräch ausgesucht hat. Richter wollte eigentlich mitkommen, doch er liegt krank zu Hause. Lange schon kennen sich die beiden. Jetzt ist es zum ersten gemeinsamen Projekt der Künstler gekommen. Meese, 35, wirkt wuchtig, verkriecht sich in seiner adidas-Kluft, die Hektik im Café um ihn herum scheint ihn zu verunsichern. Er ist mit der UBahn aus dem Vorort gekommen, aus Ahrensburg: Dort lebt er mit seiner Mutter. Vor sieben Jahren schmiss Meese sein Kunststudium, stellte voll gerümpelte Retro-Jugendzimmer aus, verstörte mit Richard-Wagner-Performances und integrierte in seine Bilder rechtsextreme Symbole. Das brachte ihm Szeneruhm und den Vorwurf ein, »offensiv faschistisch« zu sein. Nichts liegt ferner als das, sagt Richter, der Maler-Freund. Meeses Tun sei »Lächerlichkeit im aufgeklärten Sinne«, Geschichte werde bei ihm »zu einem eklig-lustigen Haufen Kindermatsch«. Der Hamburger Sammler Harald Falckenberg spricht vom »Welttheater Meese«, mit diesem selbst »als Autor, Regisseur, Schauspieler und eigentlich auch einzigem Besucher«. Herr Meese, sind Sie düster und böse? Meese schaut belustigt: »Das ist ein Klischee. Aber eine Möglichkeit, sich Distanz zu schaffen.« Also nur Marketing und Künstlerpose? Fragt man Meese nach Intentionen seiner Kunst, dann sagt er Sätze wie: »Kunst ist ihre eigene Meinung. Die interessiert sich nicht für meine. Ich interessiere mich ja auch nicht für meine eigene Meinung. Ich habe auch gar keine.« Das klingt hermetisch, wirft man ein, und Meese erwidert knapp: »Einem Hermetiker kann man keine Ratschläge geben.« Verwirrt ist man für einen Moment, wie viel Maskerade, wie viel Selbstinszenierung in dieser Künstlerprosa liegt, der man gerne erliegt. Er habe sich schon immer für Geschichte und Archäologie interessiert, erzählt dann Meese. Er kommt auf die gemeinsame Ausstellung mit Daniel Richter zu sprechen. In Stade an der Unterelbe wurde das Grab des Erzbischofs Gottfried aus dem 14. Jahrhundert gefunden. Richter erhielt den Auftrag, diesen Fund künstlerisch

Zugegeben, die Wirkung könnte am Namen liegen. »Umckaloabo« klingt nach einer magischen Geheimmixtur eines afrikanischen Medizinmanns, und es basiert tatsächlich auf einer afrikanischen Wurzel. Selbst meine ansonsten beim Thema Erkältungsmittel eher skeptische Apothekerin (»Brauchen Sie das wirklich, Herr Amend?«) ist ganz begeistert von der Wirkung. »Die Erkältung geht wirklich weg«, hat sie gesagt, und wie Recht sie hat! Es dauerte einen Tag, dann war die Nase wieder frei, die Kopfschmerzen waren weg. CHRISTOPH AMEND

Wir Angstsparer

Jonathan Meese ist der neue Liebling der Kunstszene. Er lebt noch immer bei seiner Mutter

den vorsichtig klarzumachen, dass ein Hühnchen für 1,50 Euro im Supermarkt nicht ein Grund zum Zugreifen, sondern zum raschen Weitergehen ist. Für die Armen wurden die Discountketten nicht erfunden; sie sieht man eher hinter der Kasse beziehungsweise beim Auspacken und Einsortieren. Verblüffend ist, dass sich gerade die wohlhabenden Mittelständler und die Reichen vor den Kassen der Discounter drängeln. Tatsächlich muss man auch von einer kulturellen Armut sprechen. Es sind die besseren Verdiener, die bis zu einem Viertel ihres Einkommens auf die Seite legen und im Trauerfall das Angebot einer Beerdigung zum Schnäppchenpreis (einschließlich Einäscherung in der Ukraine) wahrnehmen. In keinem anderen Land der Welt ist die Perspektive, als Single zu leben, so populär wie in Deutschland. Immer mehr Frauen (14,6 Prozent) und Männer (26,3 Prozent) sind von dem sehnlichen Wunsch beseelt, kein Kind zu haben. »Eine Absage an Kinder«, kommentierte Bundesinnenminister Otto Schily die Zahlen aus Wiesbaden, »ist eine Absage an das Leben.« Andere Kommentatoren sprechen von einem versteckten Todeswunsch. In einer Talkshow fand sich prompt eine beherzte Verteidigerin des Niedergangs der Geburtenrate. Die Dame hielt es für eine eher attraktive Vorstellung, dass die Deutschen demnächst nur noch 60 oder 50 Millionen zählen werden. Die Erfinder der »Geiz ist geil«-Kampagne scheinen ein Prinzip formuliert zu haben, das die Deutschen längst auf ihre eigene Reproduktion anwenden. Ich trage hier Daten, Beobachtungen und Vermutungen über einen Gemütszustand zusammen,

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zu kommentieren. Seine erste Reaktion: »Dazu fällt mir nichts ein.« Die zweite: »Mit Meese könnte es klappen.« 14 bunte, respektlose Bilder haben sie dann zusammen gemalt, die vom 18. Januar an im Kunsthaus Stade ausgestellt werden. Nicht über den Fund, sondern über die Utopie des Vergangenen. Die Peitsche der Erinnerung heißt das titelgebende Bild, das einen Totenkopf und eine Lederpeitsche zeigt. Schnell kommt man so auf die Vergangenheit des Künstlers zu sprechen. Der Teenager Jonathan Meese war schüchtern und ängstlich. »Inzwischen habe ich mir einen Panzer angefressen«, sagt er und isst ein Stück Crèpe Madeleine. Früher muss er der beste Kunde der öffentlichen Büchereien in Ahrensburg und Hamburg gewesen sein. »Ich habe immer viel zu viel bestellt. Tonnen. Ich habe das dann zu Hause um mich herum gruppiert.« Mit den Büchern ums Bett schuf er sich eine Welt, »in der ich willkommen bin«. Oder er warf das Kassettendeck an, hörte 60 Mal hintereinander Strawberry Fields, 130 Mal Dancing Queen. »Ich habe mich immer einsam gefühlt.« Immer noch? »Immer mehr.« Denn Maler zu sein sei das Einsamste, was es gibt. Eine Hand voll Freunde brauche man deshalb, denen müsse man vertrauen. Er nennt Daniel Richter, aber auch Frank Castorf, den Intendanten der Berliner Volksbühne. Diese wird ein Gastspiel in den Hamburger Deichtorhallen geben, zu einer großen Meese-Schau ab Ende April. So viel Organisation, klagt Jonathan Meese, und alle müssen sich gut und wichtig fühlen, schließlich sind es Freunde. Ihn belastet das jetzt schon, er ist reizbar geworden. »Ich streite mich fast jeden Tag mit meiner Mutter«, klagt er. Man müsste Mutter Meese kennen lernen. 76 ist sie jetzt »und vom Kopf viel jünger als die meisten Menschen, die ich kenne«. Sie ist die Intendantin im Welttheater Jonathan: Mit niemandem diskutiert er so viel, niemand peitscht ihn so voran, niemand ist so wahnsinnig, niemand so wichtig wie sie, sagt Meese. Immer wieder hat sie sein Zimmer aufgeräumt, immer wieder hat sie es aufgegeben. Aber wenn es zu schlimm wird, kommt sie auch nach Berlin und bringt ihrem Johnny das Atelier in Ordnung. Sagt Meese. Und das hört sich kaum noch nach Maskerade an.

den man wohl als »die deutsche Melancholie« bezeichnen muss. Irgendetwas nagt und frisst an der deutschen Seele, etwas, dem mit dem Instrumentarium der Analysten und Umfrageinstitute nicht beizukommen ist. Noch nie ist ein Melancholiker durch den Verweis auf seine objektiv immer noch beneidenswerte Lage oder die Aufforderung »Kopf hoch« in eine fröhlichere Stimmung versetzt worden. In der Antike wurde der schon damals bemerkte Gemütszustand der Melancholie durch einen »Überschuss an schwarzer Galle« definiert, die sich »ins Blut ergossen« habe. Alle späteren Annäherungen, von Kierkegaard bis Freud, sind nie an die Kraft und Poesie dieser Beschreibung herangekommen. Von Freuds Definition der Melancholie ist hier allenfalls eine Parenthese brauchbar: Unter anderen Symptomen nennt er »die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert«. Dass die Deutschen an einem hoch irritierbaren Selbstgefühl, ja sogar an einem versteckten Selbsthass leiden, ist oft vermerkt worden. Auch, dass sie – nicht erst seit Auschwitz – allen Grund zu dieser Störung haben. Dennoch bleibt die Frage nach der Henne und dem Ei: Ist der Mangel an Selbstliebe eine Folge der Hitlerei oder die Hitlerei eine Folge dieses Mangels? In den letzten Jahren hat die deutsche Melancholie eher zugenommen. Seit Kriegsende ist das einzigartige deutsche Verbrechen – nach einer fast zwanzigjährigen Periode der Verdrängung – den Deutschen ständig näher auf den Leib gerückt. Das Wissen über dieses Verbrechen hat sich ge-

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Phoebe Philo ist Avantgardistin. Als Chefdesignerin von Chloé hat die Britin in den vergangenen Jahren den Umsatz der Pariser Traditionsmarke vervierfacht und eine lässige Mode entwickelt, die Frauen sogar mit Rüschen, Schleifchen und Spitzen cool aussehen lässt. Philos erfolgreicher Stil löste in einer Branche, in der Damenmode fast ausschließlich von Männern entworfen wird, eine kleine Revolution aus: Plötzlich werden in Mailand, London und Paris von den großen Häusern Frauen als Kreativdirektoren berufen. Nun überrascht Philo, 31, mit der Nachricht, dass sie ihren erst unlängst um vier Jahre verlängerten Vertrag mit Chloé gekündigt hat. Bemerkenswert ist dabei vor allem die Begründung: Die Designerin will mehr Zeit mit ihrer Tochter Maya, ein Jahr alt, verbringen. Keine Kreativpause, kein neues Projekt wird als Argument ins Feld geführt, sondern glasklar die Familie. Mit ihrer Entscheidung ist Philo zwischen die Fronten des globalen Mütter-Krieges geraten: Von der Hausfrauenfraktion wird sie als neue Heldin vereinnahmt, von den Feministinnen als Verräterin gegeißelt. Doch eigentlich beschreibt ihr kompromissloser Schritt den schönsten Sieg der Frauenbewegung – ging es dort nicht um die Möglichkeit zu wählen und um freie Entscheidungen? ILKA PIEPGRAS NEUANSTELLUNG BEI LIDL

Ein Sprecher, der nicht sprechen darf Eigentlich sollte im neuen Jahr alles besser werden. Doch beim Lebensmittel-Discounter Lidl hielten die guten Vorsätze nicht einmal wenige Tage. Erstmals in der 33-jährigen Firmengeschichte stellt Lidl zum 9. Januar einen Pressesprecher ein. Auf dass die verschwiegenen Zeiten, in denen das Unternehmen Presseanfragen ignorierte und Vorwürfe bezüglich belasteten Gemüses per ganzseitiger Zeitungsannonce dementierte, endgültig vorbei seien. Hatte gar die Arbeitnehmerorganisation ver.di mit ihrem so genannten Schwarzbuch Erfolg? Ver.di hatte im vergangenen Jahr kritisiert, dass Lidl seine Angestellten ausbeute und systematisch Betriebsräte verhindere. Wird der Pressesprecher nun zur Imageverbesserung eingesetzt? Interview-Anfrage also an besagten Thomas Oberle, 50, der vorher zehn Jahre lang Sprecher des Schraubenherstellers Würth war, ganz in der Nähe der Lidl-Zentrale in Neckarsulm. Thomas Oberle reagiert nicht selbst, dafür meldet sich Gertrud Bott, die bei Lidl für »Kommunikation und Umwelt« zuständig ist. »Mal sehen, was ich tun kann«, sagt sie. Am nächsten Tag kommt die Antwort von Frau Bott: »Die Geschäftsführung hat beschlossen, dass Herr Oberle noch kein Interview geben wird. Er soll sich erst mal einarbeiten.« Ein Interview zu einem späteren Zeitpunkt sei jedoch »kein Problem«. Wir hören voneinander. TONIO POSTEL

waltig vermehrt; an den jeweiligen Jahrestagen geht eine nie gekannte Fülle von Bildern und Dokumentationen auf die Zuschauer nieder. Die Kunst, die Kinder und Kindeskinder über das deutsche Verbrechen zu unterrichten, ohne – allen pflichtschuldigen Unterscheidungen zwischen Schuld und Verantwortung zum Trotz – dennoch so etwas wie ein Schuldgefühl zu erzeugen, scheint

Sparfüchse international Sparquoten 2004 (Anteil der Ersparnis am Einkommen) FRANKREICH ITALIEN DEUTSCHLAND NORWEGEN IRLAND SCHWEIZ ÖSTERREICH NIEDERLANDE JAPAN FINNLAND USA AUSTRALIEN

11,8 % 11,5 % 10,5 % 10,2 % 9,9 % 8,9 % 8,3 % 7,3 % 6,9 % 2,7 % 1,8 % -3,0 %

Quelle: OECD Economic Outlook 78 Database

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GESCHICHTEN, DIE DAS LEBEN SCHRIEB

Bahn wird teurer – und verschweigt’s Mit der Bahncard 100 steigen jeden Morgen Pendler in einen ICE und fahren zur Arbeit. Jan-Martin Wiarda ist einer von ihnen. »Drei Stunden am Tag leben wir im Zug«, schrieb er am 29. Dezember 2005 über sein Pendlerdasein. Nun hat die Bahn den Abo-Preis der Bahncard 100 am 1. Januar um zehn Euro erhöht. Gemerkt haben das die Pendler nur beim Blick auf den Kontoauszug, der Konzern hat es versäumt, seinen Kunden einen Brief zu schreiben – und darin das Sonderkündigungsrecht zu erwähnen. Ein dummes Versehen, beteuert die Bahn. Nachholen will sie die Briefaktion aber auch nicht, denn es habe nur wenige Beschwerden gegeben. Offenbar hätten die Kunden die »moderate Preisanpassung« aufgrund des »erweiterten Leistungsspektrums« akzeptiert. Vielleicht haben die Kunden aber auch einfach nicht aufgepasst. ÄLTERE FRAUEN LIEBEN JÜNGERE MÄNNER

Das Mrs-RobinsonSyndrom Die Schauspielerin Mira Sorvino und ihr Mann Chris Backus erwarten ihr zweites Kind, und Kate Moss, das letzte Supermodel, die sich von ihrem drogensüchtigen Rockstar-Freund trennte, hat einen neuen Freund, den Musiker Jamie Burke. Sorvino ist 38 Jahre alt, ihr Mann 24; Moss ist 31 Jahre alt, ihr Freund 20. Beide Frauen haben jetzt das, was Cameron Diaz, Demi Moore, Madonna schon lange haben: einen jüngeren Partner. Ist das ein Trend? Ein Paradigmenwechsel? Ein Teilsieg der Emanzipation? Vielleicht von allem etwas. Langsam vergilbt das Bild des älteren Mannes mit der jüngeren Frau an seiner Seite. Und Frauen, die sich selber noch Mädchen nennen, verlieben sich in Jungs, die längst noch keine richtigen Männer sind. Möglicherweise verhilft sich so die Angst vor dem Älterwerden zu ihrem Recht. Am Ende liegt diesem Phänomen eine ganz schlichte Erklärung zu Grunde: Schließlich werden Frauen im Durchschnitt älter als Männer. Wenn man sein Leben bis zum Ende gemeinsam verbringen will, dann macht nur diese Konstellation Sinn. Vielleicht bedeuten die beiden Meldungen der vergangenen Woche also tatsächlich eine romantische Revolution. MATTHIAS KALLE

noch nicht erfunden. Die Bemühungen deutscher Regierungen, die Deutschen als »ganz normales Volk« in der Völkergemeinschaft zu etablieren, überzeugen nicht, weil schon der Versuch einer Nation, als »normal« zu erscheinen, eigentlich das Gegenteil beweist. Halbwegs »normale« Völker wollen keineswegs als »ganz normal«, sondern als unverwechselbar, außergewöhnlich, einzigartig, großartig erscheinen – man muss nur an den französischen Mythos von der grande nation oder an die amerikanische Selbstüberhöhung als the greatest nation in the history of mankind erinnern. Das Selbstwertgefühl der Deutschen ist und bleibt bis auf weiteres beschädigt; das Bewusstsein dieser Beschädigung ist heute wahrscheinlich viel deutlicher als vor 30 oder 40 Jahren. Die Anerkennung dieser Beschädigung ist kein Anlass zum Stolz, wohl aber Grund für ein neues, vorsichtiges Selbstvertrauen. Im Zweifelsfall sind Melancholiker und Zweifler sympathischer als Choleriker und Megalomanen. Der einfache Satz eines Jugendlichen, er finde es »okay«, deutsch zu sein, drückt mehr Optimismus aus als alle Rufe nach »mehr Nationalstolz« und einer deutschen »Leitkultur«. Übrigens gibt es ein Volk in Europa, das noch pessimistischer ist als die Deutschen. Aber die Italiener ziehen aus ihrem notorischen Misstrauen in die Zukunft einen radikal anderen Schluss: Carpe diem, genieße den Tag! Man feiert den Augenblick und lebt rücksichtslos in der Gegenwart. Und ein Italiener würde sich eher vierteilen lassen, als ein abgepacktes Rinderfilet bei Plus zu kaufen.

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Nahe am Tod

einer Grams hat schlechte Laune. Seit Tagen geht das so, sagt er, die Gaffer stapfen hinten durch den Garten, und die Journalisten klingeln vorn. Seit Tagen, sagt Grams durch den engen Spalt der Wohnungstür, war keine Ruhe mehr, und abgesehen davon habe er ein Abkommen mit seiner Frau, das ihm verbiete, Interviews zu geben. Also bitte, gehen Sie. Grams wohnt im Erdgeschoss. Das dreistöckige Mietshaus aus den Sechzigern hat ein Satteldach, und die Fassade ist grün verputzt. Es ist eine ruhige, aufgeräumte Gegend in Bad Reichenhall, in der vor allem Rentner und Familien mit Kindern leben. Die Bürgersteige sind gestreut, und im Treppenhaus hängt ein Zettel, auf dem angekündigt steht, dass am Vormittag des 2. Januar die gelben Säcke eingesammelt werden sollen. An jenem Montagmorgen vor drei Tagen, als die Welt hier noch in Ordnung war. Am Nachmittag des 2. Januar stürzte in Bad Reichenhall eine Eissporthalle ein, 15 Menschen verloren ihr Leben. Die letzte Tote wurde erst drei Tage später geborgen. Andererseits, sagt Grams nach einer Weile, ist meine Frau im Augenblick beim Edeka. Grams trägt Bluejeans, die wirren, grauen Haare lichten sich am Hinterkopf, er schlurft ins Wohnzimmer voraus. Im Gehen sagt er, dass er zweimal in der Woche drüben schwimmen gewesen sei. Er murmelt etwas von seinem Sportabzeichen und dass er die Halle kenne wie seine Westentasche, denn vor der Rente sei er Sportlehrer gewesen. Dann fällt ihm ein, dass er sein Hörgerät vergessen hat. Auch am Montag, sagt er, habe er das Hörgerät nicht drin gehabt. Grams saß am Computer im Zimmer zur Straße, als seine Frau hereinstürmte und zitternd fragte, ob er das mitbekommen habe, dieses Knirschen, das klang, wie wenn das Schneeräumfahrzeug über den Asphalt ratscht. Grams schüttelte den Kopf. Dann sprang er auf, rannte nach hinten in das Wohnzimmer und sah, was geschehen war, drüben hinter den Buchen, kaum einen Steinwurf weit entfernt. Es sah aus, als hätte ein Holzfäller kräftig zugelangt und seine Axt mitten in das Dach der Eishalle gewuchtet. Das kann nicht sein, brachte Grams heraus. Da waren Kinder drin, stammelte seine Frau. Grams weiß nicht mehr, wie lange sie dort standen, regungslos und ohne Worte, an ihrem Fenster, das seit Montag eine transparente Leinwand ist, auf der ein Horrorfilm mit Überlänge läuft. Grams nimmt seine Brille ab. Er greift zum Reichenhaller Tagblatt und schlägt die Seite mit den Todesanzeigen auf. Marina, zehn Jahre alt, Helena, zehn Jahre alt, Jannis, zwölf. Unter den 15 Opfern ist auch die Tochter einer früheren Kollegin. Schwer, sagt Grams, das alles zu begreifen. Dann dreht sich in der Wohnungstür der Schlüssel. Tauwetter in Bad Reichenhall. Am Ground Zero trennen Helfer Blechtrümmer von Holztrümmern und türmen sie zu großen Haufen. Auf den Eishügeln am Rand des Sportplatzes, von wo die Fernsehleute übertrugen, steht verloren eine Kamera. Polizisten überwachen an der Absperrung, dass niemand auf das Gelände geht. Selcuk Pirker, die alle Sally nennen, ist erleichtert, dass die Leichenhunde endlich fort sind. Die Hunde, sagt sie, schienen in der letzten Nacht verwirrt, immer wieder hätten sie gebellt, obwohl ja nur noch eine Leiche gefehlt hätte. Vielleicht, hofft Sally, schläft sie in der nächsten Nacht mal wieder durch. Sally wohnt im dritten Stock, drei Zimmer mit Balkon. Hier draußen, sagt sie, hab ich die ganze erste Nacht gesessen, eingehüllt in eine dicke Decke. Kein Auge hab ich zugetan. Es war so traurig, und ich hatte solche Angst. Sally, 58 Jahre alt, trägt graue Leggins und spricht, ohne einen Punkt zu setzen. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet sie als Badehilfe in den Rupertus-Thermen. Montag, Dienstag waren ihre freien

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VON MARIAN BLASBERG

Nachbar HELMUT BERGER

KAMERAS vor dem Unglücksort

Nachbarin SELCUK PIRKER

SCHAULUSTIGE

DIE RUINE der Eishalle

Fotos: Oliver Jung für DIE ZEIT

s war eine gute Zeit, als die Bundesrepublik ihre Hallen bekam. Die Städte hatten nach den arbeitsamen fünfziger Jahren Geld übrig und dachten an ihre Bewohner, sie spendierten ihnen Schwimmbäder, Turnhallen, Mehrzweckhallen, im Süden auch Eishallen. So wurden zwischen den Jahren 1965 und 1975 die Vielzahl jener Flachdachhallen in die deutsche Landschaft gebaut, zu der auch die Bad Reichenhaller Eishalle gehörte, errichtet im Jahr 1972. Die Hallen mit ihren flachen Dächern galten als Ausdruck der Moderne. Sie waren technisch möglich geworden vor allem durch Computer, die ihre Statik berechneten, sie waren rank und schlank statt trutzig und massiv. Und was die Bauherren freute: Sie waren günstig zu errichten, war durch das flache Dach das Gebäude doch insgesamt kleiner geworden. Dabei waren die Schwierigkeiten des Flachdachs schnell bekannt: Sie waren häufig nicht dicht. Anders als bei schrägen Dächern läuft das Wasser nicht einfach ab. Und wenn irgendwo eine undichte Stelle ist, dringt das Wasser ins Gebäude ein. So musste das Bonner Kanzleramt, 1976 erbaut, zwei Jahre später für 700 000 Mark erneuert werden, und auch das Wohnhaus des früheren Bauministers Oscar Schneider, 1968 gebaut, erwies sich in den Siebzigern als nicht dicht. »Es ist durchaus möglich, ein dichtes Flachdach zu bauen. Jedoch verzeiht dieses Dach keine Fehler«, sagt Rainer Oswald vom Aachener Institut für Bauschadensforschung. Wenn ein Haus-

Bad Reichenhall in den Tagen danach: Wie die Bewohner des Hauses neben der eingestürzten Eissporthalle versuchen, das tödliche Drama nebenan zu verstehen

Tage, aber unter ihren Augen hängen schwere Ringe. Sally sagt, sie habe Angst gehabt um ihren Bruder, der irgendwo da unten gewesen sei, im Einsatz für die Freiwillige Feuerwehr. Sie sagt, sie habe befürchtet, dass Rohre explodieren könnten und alles in die Luft fliegt. Manchmal, wenn es nicht mehr auszuhalten war, ging sie hinein ins Warme und sah fern. Auf n-tv sah sie, wie ihr Kollege, der Saunameister Helmut Schaus, gegen den Bürgermeister wetterte. Wie andere beklagten, es könne doch nicht sein, dass man das Training abbricht, aber die Halle nicht gleich schließt. Sally sog die Neuigkeiten auf, ihre Augen folgten dem Newsticker so lange, bis sie Kopfschmerzen bekam. Dann ging sie wieder an die frische Luft, trank einen Kaffee und betrachtete das Ungetüm, in das sie früher ihre Tochter schickte und das nun so seltsam surreal dalag im Licht der Scheinwerfer. Sally sah hin, um zu begreifen, aber je länger ihr Blick auf der Ruine ruhte, desto weniger begriff auch sie. Sie ist davongekommen, das Unglück hat sie nur gestreift. Aber vielleicht ist es gerade das, was die Situation so schwer erträglich macht. Es gibt kein rechtes Maß zwischen Nähe und Distanz. Es ist so traurig, sagt sie immer wieder. Sally kam aus Istanbul vor 40 Jahren nach Bad Reichenhall. Die Mutter war hier zufällig in einem Kurbetrieb gestrandet, und Sally, die Friseu-

Es tropft Die Flachdachbauten der sechziger und siebziger Jahre sind zu einem Risiko geworden VON MATTHIAS STOLZ

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besitzer einen Wasserschaden entdeckte, ließ er das Dach richten. Niemand schreibt allerdings vor, dass die Dichtigkeit dauernd überprüft werden muss. »Ein gutes Dach hält 20 bis 30 Jahre. Nur sehr hochwertige halten deutlich länger«, sagt Rainer Oswald. Die Halle in Bad Reichenhall wurde 33 Jahre alt. Als Rainer Oswald im Fernsehen von dem Einsturz hörte, hat er noch an einen einmaligen Fall geglaubt. Als er jedoch wenige Tage später davon hörte, dass weitere Hallen in Süddeutschland und Österreich eingestürzt waren, sagte er zu seiner Frau: Oh je, jetzt wird es Diskussionen geben. Er vermutete damals noch eine Diskussion um die Schneelasten, darüber also, wie viel Schnee ein Dach aushalten muss. Inzwischen diskutieren Deutschlands Ingenieure darüber, auf welche Weise Wasser die Holzkonstruktion des Reichenhaller Daches angegriffen haben kann. Eine Theorie: Wasser hat das Holz der Konstruktion durchfeuchtet und schließlich so morsch werden lassen, dass es unter der Last des Schnees zusammenbrach.

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rin, schob Nachtschichten in einer Spedition. Dort lernte sie einen Österreicher kennen, sie bekamen zwei Kinder. Anfang der Achtziger heuerte sie in den Thermen an. Heute, sagt sie, spüre sie die Lasten eines anstrengenden Lebens. Bald will sie in Rente gehen, zwei Jahre früher als geplant. Seit ein paar Wochen habe sie diesen Druck im Brustkorb, sie sagt, es sei die Sorge darum, wie es weitergehen solle, die sie bedrückt. Eigentlich braucht Sally Ruhe, aber Mittwoch war sie froh, dass sie zur Arbeit konnte. Es lenkte sie ein wenig ab. Fast mechanisch wischte sie die Becken. Beim Rausgehen schaute sie hinauf zum Dach. Oben standen Männer, die den Schnee herunterschaufelten. Niemand weiß, ob das tatsächlich sinnvoll ist. Gut möglich, dass es einfach nur beruhigen soll. Die Rupertus-Thermen waren ein Prestigeobjekt der Stadt, sie wurden aufwändig saniert und im April 2004 neu eröffnet, und in jener Nacht auf dem Balkon fragte sich Sally, ob ein Zusammenhang bestünde zwischen dem Unglück und ihrem Arbeitsplatz. Bad Reichenhall, berühmt für seine Salzbäder, hat mit den Jahren einiges von seinem Glanz verloren. Seit die Krankenkassen nicht mehr alles zahlen, stehen viele Betten leer. Es gibt deshalb Versuche, den Tourismus anzukurbeln. Mountainbiker und Wanderer werden angelockt, Shuttle-Busse bringen Wintersportler in die nahen Skigebiete. Viele vermuten, die Stadt habe gezögert, die Halle zu sanieren, weil die Kassen klamm sind. Und geschlossen habe man sie nicht, weil man sie brauchte, mehr als zuvor. Helga Grams ist eine zierliche, intelligente Frau, die weiß, was sie will. Noch im Mantel giftet sie ihrem Mann entgegen, dass er ihr Abkommen gebrochen habe. Überall, schimpft sie, würde nun spekuliert, woran es gelegen habe; ob es die Statik gewesen sei, der schwere Schnee, das müde Material. Sie sagt, es sei zu früh, nach Schuldigen zu suchen, solange niemand etwas Genaues wisse. Helga Grams war bis zur Rente Röntgenassistentin in einem Krankenhaus. In ihrer Freizeit malte sie Aquarelle; was an der Wand hängt, ist von ihr. Als sie mit Kaffee aus der Küche kommt, hat sie sich etwas beruhigt. Sie bittet um Verständnis. Man müsse dieser Tage darauf achten, was man von sich gebe, es würde so viel verdreht. Deshalb bittet sie darum, dass man ihre Namen ändert. Aber nun merkt sie, dass das Reden sie erleichtert. Sie hat den Helfern ihre Hilfe angeboten und erfahren, dass man sie nicht braucht. Sie hat überlegt, eine Bekannte anzurufen, um zu kondolieren, und dann darauf verzichtet, weil sie glaubte, dass sie stört. Frau Grams war allein, sie wusste nicht, wohin mit ihren Emotionen. Am Dienstagabend ging sie auf den Rathausplatz zur Lichterkette, sie wollte zeigen, dass sie Anteil nimmt. Die Menschen brachten Kerzen mit und Rosen. Es half. Die Ohnmächtigen vergewisserten sich gegenseitig ihrer Ohnmacht. Am Freitagmorgen ist es erstmals seit Beginn der Woche ruhig. Dreikönigstag. Die Arbeiten an der Halle sind ausgesetzt, die Kranfahrzeuge liegen wie erschöpfte Dinosaurier im Schnee. Sally hat Besuch bekommen, ihr Bruder, der Feuerwehrmann, sitzt am Tisch und gähnt. Zehn Stunden hat er seit Montag geschlafen. Im Hintergrund dudelt das Radio. Als die Nachrichten kommen, dreht Sally lauter. Der Sprecher sagt, alle Opfer seien wohl erschlagen worden. Niemand sei erfroren, niemand habe lange leiden müssen. Mei, sagt Sally, da bin ich aber froh. Fünf Stück, sagt ihr Bruder, habe ich da rausgezogen. Bis April, fährt der Sprecher fort, werde es wohl dauern, bis ein Bericht vorliegt, der die Ursache des Unglücks klären soll. Der Bruder, ein besonnener Mann, der Holzschindeln vertreibt, muss lächeln. Er weiß, im März sind Wahlen in Bad Reichenhall, und deshalb werde wohl bald gemunkelt, dass die Daten aufeinander abgestimmt seien. Dabei hat die Ver-

Wenn die Gutachter, die derzeit die Unglücksstelle untersuchen, tatsächlich zu diesem Ergebnis kommen, bedeutet dies, dass möglicherweise auch andernorts Hallen in Deutschland bedroht sind. Das Stuttgarter Otto-Graf-Institut ist schon seit längerem beauftragt, eine Halle ähnlicher Bauart und ähnlichen Alters in der Nähe von Bad Reichenhall zu überwachen. Als Hartmut Ochs, ein Wissenschaftler des Instituts, von dem Unglück hörte, war sein erster Gedanke: Bitte nicht unsere Halle. Es war nicht ihre. Das Problem ist: Eine Kontrolle durch Wissenschaftler können sich die meisten Hallenbetreiber nicht leisten. Eine Inspektion einer Halle kostet leicht 10 000 Euro, wie Ochs sagt. Und auch eine einfache Wartung bleibt oft aus. »Wenn ich früher in eine Halle kam, gab es da immer einen Hausmeister. Heute muss ich ewig telefonieren, um überhaupt einen Ansprechpartner zu finden. Und die Suche nach Bauplänen erweist sich als so schwierig wie eine altägyptische Ausgrabung«, sagt Rainer Oswald. Noch kann niemand in Deutschland wissen, ob schwere Schäden an Gebäuden in den vorigen Jahren zugenommen haben. Eine Statistik darüber gibt es nicht – nicht mehr. Seit den Zeiten des Bauministers Schneider, der mit den Wasserschäden, der den ersten Bauschadensbericht in Auftrag gegeben hatte, gab es nur noch zwei weitere solche Berichte. Den letzten 1995, weil man sich vor allem um die Bausubstanz der DDR gesorgt hatte. Danach war Schluss. Es erwies sich als fatal, dass die Gebäude aus einer optimistischen Epoche just zu einer Zeit schwächeln, in der sich kaum jemand um die Pflege kümmern mag.

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waltung seiner Meinung nach nichts verkehrt gemacht. Niemand, sagt er, habe wissen können, dass es so gefährlich gewesen sei. Wir müssen akzeptieren, dass so was geschieht. Wo Menschen eingebunden sind, passieren Fehler. Warum gibt es sonst die Feuerwehr? Helmut Berger wohnt am nächsten an der Unglücksstelle. Aus seinem Wohnzimmer schaut der Rentner im Jogginganzug mitten in jene Trümmer, die einmal sein Lebensmittelpunkt gewesen sind. Er sitzt auf seiner Eckbank, während vor dem Fenster Schaulustige vorbei in Richtung Zaun pilgern. Berger war früher Koch in der Kurklinik, heute hilft er in Österreich hin und wieder seinem Bruder aus, der mehrere Hotels betreibt und in der Schlagerszene als »Singender Wirt« bekannt ist. Über die Silvestertage hat Berger am Wörthersee für ihn gekocht, bei Karl Moiks Musikantenstadl, und das war wohl sein Glück. Denn wäre er daheim geblieben, dann wären seine Enkel zu Besuch gekommen. Sie wären Eislaufen gegangen, wie jedes Jahr. Berger und die Eishalle. Damals, in den Achtzigern, hat er die erste Mannschaft des Eishockeyclubs betreut. Es waren glorreiche Zeiten, sie wurden Meister in der Regionalliga. Da sei was los gewesen, sagt er, holt einen Stapel alter Saisonhefte, und dann sprudeln die Geschichten. Der Wind geht eisig durch die gottverlassene Ruine, und Helmut Berger füllt die Leere mit Erinnerungen. So lebt die Halle weiter, wie ein guter Freund, den man verloren hat.

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en Tod ihres Vaters, der am 22. Mai 1969 im Psychiatrischen Krankenhaus Baumgartner Höhe den Folgen einer Lungenentzündung erlegen war, schob Elfriede Jelinek beiseite, sie erlebte ihn kurzfristig sogar als Erleichterung. Ein Jahr lang hatte die Familie auf engstem Raum zusammengelebt: die dominante Mutter, der alzheimerkranke Vater, die schreibende Tochter mitten in einer Angstkrise. Nun hatte Jelinek wieder Luft zum Atmen. Die Trauer um den Vater sollte später mit großer Intensität wiederkehren. Doch einstweilen warf sich die 22-Jährige ins Leben. An ihrer Seite hatte sie den Komponisten und Musikwissenschaftler Wilhelm Zobl. Er war ein schmaler Junge, drei Jahre jünger als sie, sie kannte ihn von der Innsbrucker Jugendkulturwoche. Zobl war wie Jelinek als Einzelkind in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, er hatte wie seine Freundin Musik studiert und interessierte sich für Neue Musik; auch er war eine schillernde Figur. Wie sich nach seinem Tod 1991 herausstellte, hatte er seine Biografie ähnlich fantasievoll zusammengestellt wie Elfriede Jelinek die Identität Ottos in ihrem Romandebüt wir sind lockvögel baby!. Zobl behauptete, jüdischer Abstammung zu sein, seine Kindheit habe er in Brasilien verbracht. Jelinek mochte seine lärmende Radikalität, das Ungestüme und Lebendige. Jeden Samstagnachmittag holte er sie vom Orgelüben ab und nahm sie mit zu politischen Veranstaltungen. Selbst in Wien ging man seinerzeit nicht ohne SuhrkampTaschenbuch auf die Straße. Auch Elfriede Jelinek las die einschlägige Literatur, besuchte Teach-ins, Diskussionen und Vorträge. Sie gab sich maoistisch und anarchistisch und sog die Phrasen vom revolutionären Bewusstsein so begierig auf wie in ihrer Isolation die Slogans der Fernsehreklame. Gemeinsam mit Zobl gab Jelinek das Buch Materialien zur Musiksoziologie heraus. In einem Essay analysierte sie Udo Jürgens Liedtexte als »religionssurrogat« und kam zu dem Schluss, dass Schlager und Faschismus einander bedingen. Jürgens arbeite an der »verewigung des herrschenden elends«, kritisierte sie. »udos zuhörer kommen jedenfalls nicht auf die idee selber was in die hand zu nehmen außer einen aktendeckel im büro.« Eine Zeit lang steckte das Pärchen mit einem Maler zusammen, Zobls bestem Freund, der sich bis heute Aramis nennt. Die drei entwarfen 1969 rotwäsche, ein »Terrorstück mit Publikum«, das in einem Undergroundkeller bei Stuttgart aufgeführt werden sollte. Geplant war, auf der Bühne Gegenstände rot einzufärben und sich gegenseitig mit roter Farbe voll zu spritzen, aus Lautsprechern sollten Orgasmus-Geräusche dringen. Elfriede Jelinek wollte als »stumme Sängerin« auftreten und sich Männern im Publikum auf den Schoß setzen. Vorgesehen war zudem eine Kopulation auf dem Klavier, das anschließend zertrümmert würde. Zum Abschluss sollte Aramis Buttersäure in die Belüftungsschächte kippen und dem Publikum, das den Saal nicht verlassen durfte, durch »irrsinnig laute geräuschmontagen« die Unfreiheit des Handelns illustrieren. Das Stück kam nicht zur Aufführung. Erst fanden die drei keinen Raum, dann zerstritt sich Aramis mit Zobl und Jelinek, weil ihm die Ansichten der beiden zu radikal schienen.

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Jelinek zog in eine Männerwohngemeinschaft Im November 1969 organisierte die österreichische Jungarbeiterbewegung, die den Konservativen nahe stand, eine Jugendmesse, den »TwenShop«. Musik, Kleidung und andere Konsumgüter sollten dort präsentiert werden. Die Wiener Studentenbewegung rüstete sich zum Protest. Man plante Demonstrationen, baute Info-Stände und schrieb Transparente. Elfriede Jelinek machte mit und tippte ein Flugblatt: »Zerschlagen wir den Twen-Shop«, beginnt es, »denn wir haben kapiert: eine Gesellschaft die uns nur nach ihren Marktgesetzen beurteilt die scheißt auf unsere Hobbies, auf unsere Musik, unsere Mode. Die will unser Geld und sonst nichts.« Und Sie schloss: »Kotzen wir ihnen hin auf ihre Schallplatten, ihre Disc-Jockeys, ihre Supermode, ihre alkoholfreien Getränke etc.« Im selben Jahr hatte sie ihre erste Lesung im Ausland. Jelinek fuhr nach München, um aus ihrem Gedichtband Lisas Schatten zu lesen. Sie sollte als Vorprogramm zur legendären Gruppe Amon Düül II auftreten, der aus einer Münchner Kom-

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mune hervorgegangenen und gerade mit ihrem Album Phallus Dei bekannt gewordenen Krautrockband. Das Publikum wollte Musik hören, es war laut, als Elfriede Jelinek auf die Bühne kam. Irgendwann rief sie »Scheiße!« ins Mikrofon und verschaffte sich so Gehör. Erste Schritte weg von zu Hause führten sie in eine Wohngemeinschaft; eine reine Männer-WG in der Berggasse unweit des Hauses, in dem einst Sigmund Freud gewohnt und ordiniert hatte. Sie entsprach allen Klischees studentischen Zusammenlebens. In der Badewanne stapelte sich das schmutzige Geschirr, im größten Zimmer wurden Flugblätter und eine Zeitschrift produziert, herausgegeben vom Schriftsteller Robert Schindel und seinem Mitbewohner Leander Kaiser. Kaiser, heute Maler, damals Anfang zwanzig und überzeugter Marxist, war stadtbekannt und imponierte ihr durch eine gewisse Verwegenheit. Er hatte in der Zeitschrift der sozialistischen Mittelschüler einen Text über Die Kirche und die Sexualität veröffentlicht und mit einem Bildausschnitt aus einem Aufklärungsfilm von Oswalt Kolle illustriert, auf dem ein Pärchen beim Sex zu sehen war. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen ihn ein Verfahren wegen Verstoßes gegen das Pornografiegesetz, das »Schmutz- und Schundgesetz«, wie es in Österreich hieß, eingeleitet. Elfriede Jelinek freundete sich mit Leander Kaiser an, bald war sie öfter in der Berggasse als zu Hause bei ihrer Mutter.

Neue Männer traten in ihr Leben und mussten es bald wieder verlassen In der Wiener Szene galt Jelinek als »Faszinosum«, wie sich Robert Schindel erinnert; ihre große und schlanke Erscheinung wirkte anziehend wie ihre bis zur Provokation modische Kleidung, ihr Charme. »Unter uns vielen Selbsternannten war sie die einzig Durchgesetzte«, sagt Schindel. Seit wir sind lockvögel baby! erschienen war, kannte man Jelinek in der Wiener Literaturszene als Schriftstellerin, die es in einen deutschen Verlag geschafft hatte und Mythen und Typen mit »ü« schrieb. »Ihr persönlicher Erfolg dürfte der glücklichen Vereinigung von Geist und Schönheit zu danken sein«, schwärmte die Schriftstellerin Marie-Thérèse Kerschbaumer 1971, »ihr literarischer einer mit 25 Jahren ungewöhnlich starken Persönlichkeit, ein Resultat von Intelligenz, Selbstdisziplin und Ausstrahlungskraft.« Die jungen Männer in der Wohngemeinschaft brachten Elfriede Jelinek jene Art von Sorge entgegen, mit der man jungen Talenten gerne den Erfolg madig macht: Sie würde »verheizt«, warnte man sie. Es waren Jahre des Ausprobierens. Elfriede Jelinek ging auf Partys und war viel unterwegs. Von Leander Kaiser trennte sie sich, auf der Frankfurter Buchmesse hatte sie den um vieles älteren Maler Arnulf Rainer dabei. Andere Männer traten in Elfriede Jelineks Leben und mussten es genauso schnell wieder verlassen. Man machte Liebe oder Kunst miteinander, die Grenzen waren fließend. Dem Paarverhalten jener Zeit widmete sich Jelinek in ihrer Kurzgeschichte ein schönes erlebnis mit christoph, wenn es auch kurz war, war es doch schön. In scheinbarer Rollenumkehr geht es um den Verkäufer Christoph, der von einer selbstbewussten, Sportwagen fahrenden Ich-Erzählerin erst vernascht wird: »im stiegenhaus küsse ich ihn kurz & hart. fast brutal.« Am nächsten Morgen lässt sie ihn fallen, »und später alle halben stunden ein heulender chr., der mir einen pullover stricken will und die wohnung saubermachen und kuchenbacken und mich seiner mutter vorstellen und abends mit mir fernsehen will (einen krimi) und so fort. doch von meiner seite ist nur freundliches dazu zu hören und die schicksalshaften worte: ›es ist aus!‹ und so ist es auch. der tag ist aus, und christoph = auch zur neige gegangen.« Elfriede Jelinek, die Orgelstudentin mit den guten Manieren, die ihr Zimmer daheim immer behalten hatte, suchte die Gesellschaft von Männern, die nicht nur auf die Konventionen, sondern auch gerne mal auf den Boden spuckten. Warm wurde sie allerdings nicht mit den hemdsärmeligen Künstlern und den Protagonisten der Studentenbewegung. Das bemerkte auch ihr neuer Lektor. Jürgen Manthey hatte sich bei der Jungautorin gleich nach seinem Einstieg bei Rowohlt im August 1970 in Wien vorgestellt. Er übernachtete, von Mutter Jelinek bekocht, im Haus der Familie, ging mit Elfriede Jelinek tanzen und wurde von ihr in die Wiener Szene eingeführt. Dort ging es gerne

ordinär und brutal zu, wie er sich erinnert. »Sie hat darunter gelitten und sah nicht ein, warum sie als Bürgerliche zu Unterwerfungsgesten gegenüber dem Proletariat gezwungen sein sollte.« Dem vom Wiener Dichtermilieu eher abgestoßenen Lektor klagte Elfriede Jelinek selbstironisch ihr Leid: »Ich bin hier ja die einzige, die >Hochdaitsch< spricht.« Doch irgendwann war es gut damit. Nach einigen Jahren im Umfeld der Weltrevolution (jedenfalls einer wienerischen Vorstellung davon) und nach ihrer 1971 mit »Sehr gut« bestandenen Orgelprüfung wollte Elfriede Jelinek weg, raus aus Wien, der Stadt, in der jeder jeden kennt und man ständig damit beschäftigt ist, es sich mit niemandem zu verscherzen. Damals wie heute war die erste Fluchtadresse Berlin. Dort waren schon alle. Die stärkste Fraktion hatte sich um die Aktionisten Oswald Wiener und Günter Brus geschart. Sie taten, was Österreicher in Berlin von jeher tun: sie aßen Wiener Schnitzel, tranken Grünen Veltliner und blieben am liebsten unter sich, um ihr Fremdsein unter den »Piefkes« zu thematisieren. Man traf sich im Exil, einem Lokal, das Oswald Wiener gegründet hatte. Im Frühjahr 1972 belegte Elfriede Jelinek ein Zimmer in einer WG am Platz der Luftbrücke in Tempelhof. Im Dunstkreis der »Exil«-Österreicher lernte sie Gert Loschütz kennen. Der große, dunkelhaarige Schriftsteller entsprach mit seiner fast behäbig wirkenden Unerschütterlichkeit ganz Jelineks Männergeschmack. Mit ihm testete sie zum ersten und letzten Mal eine Form von Zweisamkeit, die nach damaligem Dafürhalten bürgerlichen Existenzen vorbehalten blieb. Sie zog zu ihm in die Friedrich-Franz-Straße nach Tempelhof. Die beiden führten »scharfe Diskussionen über die Probleme des Schreibens«, wie Loschütz sagt; sie kultivierten unschuldige Sorgen, »dass es zu symbiotisch werden könnte, man hatte andere Künstlerbeziehungen vor Augen, wie etwa Bachmann und Henze«. Auf der Basis einer Rohübersetzung übertrugen Loschütz und Jelinek kubanische Erzählungen und Gedichte aus Nicaragua. Für ein Kinderbuch, das er herausgab, lieferte sie eine süße Geschichte über einen kleinen Jungen namens Franz, der Besuch von einem Hamster bekommt. »Ich gab ihr den naiven Rat, den Schaum vom Mund zu nehmen«, erinnert sich Gert Loschütz. »Aber sie brauchte diesen Motor. Sie war gezielt in ihrem Wollen, wenn es auch Phasen gab, in denen sie vor dem Fernseher hing. Sie war sehr offen, sehr ängstlich und sehr suchend.« Elfriede Jelinek, die sich von ihrem Freund gern »Anna« nennen ließ, baute in ihrer Berliner Zeit Ängste ab, ihr Leben wurde normaler. Sie war viel mit Loschütz unterwegs, in Wien stellte sie ihn ihrer Mutter vor. Jelinek konnte es sich leisten, wenig zu arbeiten, jedenfalls im Vergleich zu anderen Jahren. Sie hatte das Österreichische Staatsstipendium für Literatur bekommen und erschloss sich darüber hinaus lukrative Einnahmequellen für leichte, mit Spaß verbundene Arbeit. Für den Sender Freies Berlin rezensierte sie Krimis, von denen sie Stöße zu Hause hatte. Als Loschütz ein Stipendium der Akademie der Künste bekam, begleitete ihn Elfriede Jelinek nach Olevano in der Nähe von Rom. Drei Monate verbrachten sie in Italien. Oft liefen sie gemeinsam mit Rolf Dieter Brinkmann, Stipendiat der Villa Massimo, über die vom Winternebel verhangenen Weinberge. Für den Sommer hatte Loschütz ein weiteres Stipendium für die Villa Massimo in Aussicht, Elfriede Jelinek wäre gern wieder mitgegangen. Doch ihr Freund wollte nun plötzlich keine feste Bindung mehr. Die beiden trennten sich. Das Jahr im Ausland war ein wichtiger Einschnitt im Leben Jelineks. Sie hatte es geschafft, sich abzunabeln, sie stand auf eigenen Beinen. Aber allein in Berlin wollte sie nicht mehr sein, dazu war ihr die Stadt, war ihr Deutschland doch zu fremd geblieben. Sie entschied sich für die Rückkehr nach Wien, wo ihre besten Freunde lebten – auch wenn das die Rückkehr zur Mutter bedeutete, zur Kindheit, zu den Zwängen. Es war zugleich eine bedingungslose Entscheidung für die Kunst.

Bloß keinen Künstler Die Schriftstellerin ELFRIEDE JELINEK hat ihr Leben lang die Macht der Männer über die Frauen kritisiert.Wer waren die Männer in ihrem Leben? VON VERENA MAYER UND ROLAND KOBERG

Radikale Feministin Elfriede Jelinek, Literaturnobelpreisträgerin, galt nach ihrem Bestseller »Lust« (1989), der sich mit Sex und Gewalt auseinander setzte, als Radikalfeministin. Das Foto stammt aus dem Jahr 1970. In diesem Oktober wird Elfriede Jelinek 60 Jahre alt

Im Jahr darauf trat Elfriede Jelinek aus der Kirche aus, in die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) ein. Und in den Stand der Ehe. Ihren Mann Gottfried Hüngsberg hatte sie bei einer Lesung in einem Kulturzentrum für Jugendliche in München kennen gelernt. Er hatte ihre Stimme im Radio gehört, als sie erste Texte aus Die Liebhaberinnen vortrug, ihrem Roman über zwei Arbeiterinnen, und beschlossen, er müsse diese Frau kennen lernen. Bei der Lesung fiel er ihr durch die gern gestellte Frage auf, ob sie als Intellektuelle wirklich glaube, die Leute zu erreichen, über die sie schreibe. Während der Diskussion dachte sie: Hoffentlich geht der nicht weg. Er ging nicht weg, kaum acht Wochen später, am 12. Juni 1974, gaben sich Elfriede Jelinek und Gottfried Hüngsberg das JaWort. Ilona Jelinek und die Schriftstellerin MarieThérèse Kerschbaumer waren die Trauzeuginnen. Zu Alice Schwarzer sagte Jelinek viele Jahre später, sie habe aus »Kuriosität« geheiratet, um bewusst »ein anderes Modell der Ehe« auszuprobieren. Ihres sollte eine jahrzehntelange Fernbeziehung einschließen. Gottfried Hüngsberg verkehrte Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre dort, wo München wahrscheinlich am interessantesten war: im Umkreis von Rainer Werner Fassbinder und dessen »antiteater«. Mit Fassbinder und Peer Raben, Irm Hermann und Ingrid Caven lebte Hüngsberg in einer WG, für einige Filme machte er den Ton. Nach der Heirat nahmen er und Jelinek eine Wohnung in München, aber sie zogen nicht ganz zusammen. Hüngsberg blieb in Deutschland, sie bei ihrer Mutter. Kinder wollte Elfriede Jelinek nicht, die selbst ein halbes Leben in der Rolle des Kindes gehalten worden war. Seit mehr als dreißig Jahren hält die konventionell-unkonventionelle Beziehung. Man besucht einander regelmäßig, aber nie unangemeldet. Teilt, was es zu teilen gibt und respektiert sonst das Leben des anderen. »ich hab geheiratet, sonst gehts mir auch gut«, schrieb Elfriede Hüngsberg kurz nach der Hochzeit übersprudelnd an einen Freund. »gottseidank keinen künstler (NIE wieder!) sondern einen naturwissenschaftler (elektronik), der auch elektronische musik erzeugt, nicht zum zwecke der kunst, sondern zum zweck des gebrauchs (film, tv, hörspiel etc.). das ist sehr angenehm. einen münchner, daher teil ich jetzt meine zeit zwischen wien und münchen, ist ja nicht weit, hätt ja auch ein hamburger sein können.«

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Von Verena Mayer und Roland Koberg erscheint am 17. Januar: »Elfriede Jelinek. Ein Porträt« Reinbek, Rowohlt, 2006

Foto: [M] Otto Breicha/Imago

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Niemand will uns mehr

Illustration: Georg Wagenhuber für DIE ZEIT

Haug von Kuenheim über den Frust ausgedienter Führungskräfte Er ist an die 70, sieht blendend aus, gepflegt, schlank und steckt voller Tatendrang. Doch keiner will ihn, keiner braucht ihn. Keiner bietet ihm etwas Adäquates, wo er seine Fähigkeiten einsetzen könnte. Immerhin tummelte er sich, Hansjürgen Spiller ist sein Name, vor ein paar Jahren noch als erfolgreicher Manager in den USA. Also schrieb er sich auf 64 Seiten seinen Frust von der Seele: Das Post Professional Life (PPL) oder das Leben danach. Das Büchlein erschien bei Frieling und Huffmann in Berlin. Millionen von Menschen werden nach ihrem Berufsleben, so schreibt mein Korentner, »in eine unbekannte und meist unvorbereitete Zukunft geschickt, ohne dass sich die Gesellschaft überhaupt im Klaren darüber ist, dass es so ist und dass man das Ganze wesentlich besser und auch volkswirt-

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schaftlich effektiver gestalten könnte«. Ginge ein Geschäftsmann so unvernünftig mit seinen Investitionen um und ließe eine teure Werkzeugmaschine das letzte Drittel des nutzbaren Lebens einfach so herumstehen, dann wäre er schon längst bankrott, stellt die Führungskraft i. R. Spiller ärgerlich fest. Aber der Gesellschaft sei das völlig wurscht. Er hat ja Recht! Es ist nicht jedem Ruheständler gegeben, Kant für Anfänger an der Uni zu belegen, hinter seiner Gattin herzudackeln und ihre Einkaufstüten zu schleppen oder im Malkurs der Volkshochschule den verborgenen Picasso in sich zu entdecken. Machen wir alten Führungskräfte uns nichts vor. Einmal draußen auf der freien Rentner-Wildbahn, ist man schlicht out. Und dann geht es sehr schnell.

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Das in 40 Berufsjahren angehäufelte Wissen veraltet rasch, Erfahrung zählt nicht, Altersweisheit kommt nur in Märchen vor. Die Gesellschaft reagiert nicht, obwohl kein Tag vergeht, an dem nicht Politiker und Publizisten über das Problem einer alternden Gesellschaft lamentieren. Kürzlich meinte unser aus dem Sparkassenwesen aufgestiegener Bundespräsident, er vermisse Kinderlachen in den Fußgängerzonen – hört er dort nur das Schlurfen der Alten und ihr Stöhnen? Es müsse etwas gegen die Altersdiskriminierung getan werden, das sagte er auch. Leider hört kaum einer auf ihn. Was nebenbei daran liegen mag, dass seinen papiernen Reden jedes Feuer fehlt. Wie wäre es, er ginge mit gutem Beispiel voran und heuerte ein paar erfahrene, ältere Redenschreiber

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an, die seinem Bürokratendeutsch ein wenig Pfeffer gäben? Vielleicht, so meint unser Freund Spiller, könnten Firmen Teilzeitpositionen schaffen, die von älter werdenden Angestellten mit entsprechender Erfahrung besetzt werden. Ihre Aufgaben könnten dann mit zunehmendem Alter auch geringer honoriert werden. Doch was machen die Personalchefs? Sie decken sich mit blutjungen Praktikanten ein, die bis tief in die Nacht schuften und zu ermattet sind, die notwendigen Rentenbeitragszahler in die Welt zu setzen. Wohin soll das alles führen? Die Jungen werden ausgepresst. Die Alten weggepresst.

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Haug von Kuenheim ist 71. Nach 40 Jahren bei der ZEIT – unter anderem als Leiter des Modernen Lebens und stellvertretender Chefredakteur – privatisiert er heute

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Foto: Uwe Kraft/Imago

Foto: Bartolomäus Grill für DIE ZEIT

Fußball berührt alle

Für JALEEL JOHNSON (13, links) ist JENS LEHMANN der beste Torwart der Welt. Mit Hilfe des Spiels »Fußball berührt alle« könnte er ihn bald kennen lernen

Die ZEIT startet ein Online-Spiel, das alle vernetzen soll, die je Fußball gespielt haben.Welche Menschenkette verbindet etwa einen südafrikanischen Jugendtorwart mit seinem Idol aus Deutschland?

enn alles gut geht, werden wir in ein paar Wochen wissen, was Jens Lehmann, Nationaltorhüter, und Jaleel Johnson, Nachwuchstorhüter aus Südafrika, miteinander zu tun haben. Rein fußballerisch. Die beiden haben noch nie gegeneinander Fußball gespielt, auch nicht miteinander. Aber Jens Lehmann ist das große Vorbild des dreizehnjährigen Jaleel Johnson, in seinen eigenen Worten »der beste Torhüter aller Zeiten«. Der Mann, dem er gern näher kommen würde, sportlich und am besten sogar persönlich. Vielleicht können wir Jaleel helfen, denn die beiden sind über eine unsichtbare Kette miteinander verbunden. Jeder Mensch auf der Welt, der schon einmal Fußball gespielt hat, ist mit jedem anderen Menschen, der schon einmal Fußball gespielt hat, vernetzt. Wie kann das sein? Das hat etwas mit einer Theorie zu tun, die Mathematiker und Sozialwissenschaftler als »Small World«-Phänomen kennen: Es besagt, dass zwei beliebige Bewohner der Erde nicht mehr als sechs gemeinsame Freunde oder Bekannte voneinander entfernt sind; ein Konzept, das vor ein paar Jahren durch den Film Six Degrees Of Separation bekannt geworden ist. Wir haben versucht, diese Idee auf Fußball zu übertragen. Wenn man annimmt, dass jeder Mensch in seinem Leben mit durchschnittlich fünfzig anderen Leuten Fußball gespielt hat – am Strand, in der Schule, im Wohnzimmer, in einem ausverkauften Stadion –, von denen jeder wiederum mit fünfzig weiteren Leuten Fußball gespielt hat, dann wäre man in sechs Schritten (1 mal 50 mal 50 mal 50 mal 50 mal 50 mal 50) bei einer Zahl deutlicher höher als die Zahl der Weltbevölkerung: 15 Milliarden. Das heißt: Man wäre mit jedem Menschen auf der Welt verbunden. Wir wollen in den nächsten Wochen versuchen, die Kette zu finden, die Jaleel Johnson mit Jens Lehmann verbindet. Die einzelnen Schritte werden wir auf www.zeit.de vorstellen. Unsere Kette wird um die halbe Welt führen und wahrscheinlich aus Kindern und Erwachsenen bestehen, aus Mädchen und Männern, Profis und Amateuren, Weltmeistern und Bolzplatzstars. Und sie wird aus Geschichten bestehen, die vom Fußballspielen handeln, also vom Gewinnen und Verlieren, vom Ehrgeiz und vom Spaß, von Traumtoren, die keiner gesehen hat, von WMSpielen und vom Spielen, bis es dunkel wird (und man den Ball nicht mehr sieht).

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DICHTER AM BALL

Ganz am Anfang steht Jaleel Johnson, ein kleiner Junge, der in Belhar wohnt, irgendwo in den Cape Flats, der weiten Ebene vor Kapstadt, wo die Armen leben; ungefähr drei Millionen Menschen, überwiegend Schwarze und coloureds, Farbige wie Jaleel und seine Familie. Die Armut beginnt gleich hinter dem Stadion, in den Blechhütten und Häuschen, die so klein sind, dass sie, nach den Streichholzschachteln, matchbox houses genannt werden. Der Platz, auf dem Jaleel trainiert, sieht dagegen richtig proper aus: grüne, dichte Grasnarbe, sauber aufgestreute Linien, satte Lederbälle und, was für den Jungen das Wichtigste ist, Tore mit dichten Netzen. Der 13-Jährige ist ein schlaksiges Bürschchen, eigentlich lächelt er immer. Er sieht in seinem schwarzen Trainingsanzug und den nagelneuen Fanghandschuhen nicht aus wie ein Kind aus ärmlichen Verhältnissen. Sein Vater, ein Facharbeiter in der Weinindustrie, hat sich in die farbige Mittelschicht hochgearbeitet, er war in seiner Jugend selbst einmal Torwart. Er will, dass es seinem Sohn noch besser geht und dass sein Sohn einmal ein noch besserer Torwart wird. Also fährt er ihn jeden Sonntag um halb zehn zum Training hierher in das Vygekral-Stadion. »Das ist meine Kirche«, sagt Jaleel und grinst. Der Pfarrer wäre dann Farouk Abrahams. Er ist der Gründer der Goal Keeper Academy in Athlone, einer Einrichtung, die er für einzigartig hält: Eine Schule nur für Torhüter. Zwei Dutzend junge Goalies bildet er zurzeit aus. Der Chefcoach meint, dass Jaleel zu den Allerbesten gehört. »Der hat das Zeug zur internationalen Klasse. Die Proficlubs haben schon jetzt ein Auge auf ihn geworfen.« Ob man ihn einmal testen dürfe? Ja, natürlich, go on. Ein paar Freistöße von der 16-Meter-Linie, und schon beim zweiten gehaltenen Flachschuss steht fest: Der hat’s drauf. Einfach unglaublich, wie Jaleel den Ball aus der langen Ecke pflückt, souverän, sicher, den Körper elegant durchgebogen. Nur die hohen Bälle, die mag der Jungstar nicht. Weil er mit seinen 140 Zentimetern dafür noch etwas zu kurz ist. Das wurmt ihn. »Wenn ich Tore kassiere, dann sind es immer hohe Bälle.« Manchmal beschleicht ihn deswegen sogar eine Art Wachstumsangst. Er denkt dann, dass er nicht groß genug wird. Aber der ärgerliche Luftraum zwischen seinem Scheitel und der Querlatte wird jeden Monat kleiner. Außerdem spielt Jaleel schon in der U-13Jugend von Santos, einem der beiden ErstligaKlubs aus Kapstadt. In der letzten Meisterschaft sind sie Zweiter geworden. »Weil wir ein Spiel ver-

loren haben, bei dem ich nicht dabei war.« Verletzungspech. In der Provinzauswahl stand er auch schon zwischen den Pfosten. In diesem Jahr wurde er sogar in die Jugendnationalelf berufen. Jetzt muss Jaleel aber schnell eine Trainingseinheit hinlegen. Er flitzt hinüber zum anderen Strafraum, auf seinem Rücken prangt in goldenen Sticklettern die Nummer eins und darunter »Goal Keeper Academy«. Mit Torhütern ist es so eine Sache in Afrika. Keiner will hinten rumhängen, alle wollen mit dem Ball zaubern und Tore schießen. Deshalb stehen bei Weltklasseteams wie dem aus Nigeria manchmal nur Fliegenfänger im Kasten. Warum aber will Jaleel nicht zaubern und Traumtore schießen, sondern dieselben nur verhindern? »Fangen ist einfach am allerschönsten.« Und Jaleel findet eben, dass Jens Lehmann das am allerbesten kann. Womit wir beim deutschen Torhüterstreit wären. Denn was ist mit Kahn? »Kahn ist super, ich bewundere ihn«, erklärt Jaleel, »aber er ist immer so

schlecht drauf und bringt die ganze Mannschaft durcheinander.« Und sein Trainer hat ihm beigebracht: »Never be cross with your team. Sei nie sauer auf deine Mannschaft.« 2010, wenn die Fußball-WM in Südafrika ausgetragen wird, kommt zwar noch zu früh für ihn, da macht er sich keine Illusionen. »Da werde ich noch zu wenig Erfahrung haben«, sagt er, und es klingt, als spräche schon der Profi, der er einmal werden will. Sein Traum: Torhüter bei Arsenal. Da, wo Lehmann ist. In den nächsten Wochen werden wir versuchen, die Kette zu finden, die die beiden schon jetzt verbindet. Denn Fußball berührt alle. Auch Sie können mitmachen und sich eintragen in das weltweite Netz aus Leuten, die miteinander Fußball gespielt haben. Wie viele Schritte sind Sie von Franz Beckenbauer entfernt? Sind Sie vielleicht näher dran an Pelé, als Sie glauben? Welche Fußballer liegen zwischen Ihnen und alten Freunden (mit denen Sie aber nie Fußball

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KARL RIHA

fußball mit ballfuß … pfiff anpfiff und spitz stößt an innenrist stoppt flankt aus dem stand flankt zu absatz und absatz spreizt, paßt und paßt zu kappe kappe weiter zu lasche lasche hält die sohle drauf

und kickt zurück zurück zu stollen stollen vertändelt verzögert, stolpert schnürsenkel fährt dazwischen außenrist steigt in die luft volley zieht ab und stiefel – stiefel – pfiffe hängt hilflos zwischen den pfosten

KARL RIHA, geboren 1935, veröffentlichte u. a. »(Hans Wald) Wurst aus Westfalen und andere Kapriolen«, 2000 Bis zur Fußballweltmeisterschaft 2006 stellt die ZEIT eine deutsche Dichter-Nationalmannschaft auf. 33 bisher unveröffentlichte Fußballgedichte erscheinen wöchentlich im Ressort Leben. Sie werden im Radioprogramm NDR Kultur dienstags und donnerstags jeweils um 15.45 Uhr und um 19.25 Uhr ausgestrahlt Die Texte sind auch zu lesen und zu hören unter www.zeit.de/fussballpoesie

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gespielt haben)? Wie weit sind Sie entfernt von Afrika? Können Sie Jaleel helfen, die Kette zu Lehmann zu schließen? Im Internet steht seit einigen Tagen ein Spiel, welches die ZEIT als Kooperationspartner mitentwickelt hat. Es ist ein Sonderprojekt des von André Heller initiierten Fußball-Globus und somit auch Teil des Kunst- und Kulturprogramms zur Fußball-WM. Auf www.netz2006.de kann man dort eintragen, mit wem man wann Fußball gespielt hat – und sich so einfügen in ein weltumspannendes Fußballnetzwerk. Absolut jedes Spiel zählt: die Schlammschlacht in der Amateuroberliga Ende der siebziger Jahre genauso wie das Match gegen die eigene Tochter im Park oder jener heiße Pokalfight im Wohnzimmer, damals mit zehn, mit einem Ball, der genau genommen gar kein Fußball war. HEIKE FALLER UND BARTHOLOMÄUS GRILL

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Foto: Siggi Hengstenberg

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reist durch die Schweiz, die mit landschaftlichen Reizen ein erlesenes Publikum anlockt

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EINE WERBEKUH und die Beine eines vom Marsch durch viele gute Restaurants ermüdeten Kritikers

Seen und gesehen werden an könnte meinen, Genf sei eine Stadt voller Geheimnisse. Handelte es sich dabei um Bankgeheimnisse, würde jeder zustimmend nicken und respektvoll von Milliarden murmeln. Dass von Zeit zu Zeit in Genf jemand ermordet wird, der mit Milliarden in Verbindung stand, ist wiederum kein Geheimnis. Rätselhaft ist dagegen die Menge der Uhren in jedem Schaufenster der Stadt. Könnte es sein, dass Uhrenhändler in Genf die gleiche Rolle spielen wie die Teppichhändler in Istanbul? Und könnte es sein, dass die Genfer Bürger, welche früher einmal genussfeindliche Calvinisten waren, dies längst nicht mehr sind, sondern Euro-Hedonisten wie der Rest des alten Europas? Jedenfalls gibt es in der Innenstadt nicht nur den spektakulären Fünf-Sterne-Metzger Molard in der Rue du Marché (mit einer sagenhaften Auswahl an feinstem Fleisch), sondern fast so viele Restaurants wie Uhrengeschäfte, und sie sind nur teilweise schlecht. Dass man ganz vorzüglich im Neptune essen kann, dem Restaurant des Hotels Mandarin Oriental du Rhône, habe ich bei früherer Gelegenheit schon erwähnt. Auch diesmal war ich – obwohl der Küchenchef ausgewechselt worden war – mit der Feinheit der Fischgerichte sehr glücklich. Ihre Zusammenstellung verriet Eleganz und Klugheit, und ihre Preise lassen keinen Zweifel daran, dass wir uns im ersten Haus am Platze befinden. Das Boeuf Rouge hingegen ist ein Bistro, oder, wie sie im nahe gelegenen Lyon bezeichnet werden, ein bouchon. Die gleiche rustikale Buntheit wie in einem Bistro, der alte, joviale Oberkellner fehlt ebenso wenig wie die Speisekarte aus Schiefer. Die Küche ist der Lyoneser Folklore verpflichtet und

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bietet den klassischen Hechtkloß, die Andouillette, die Lammfüße in Remoulade und diverse Fleischstücke, die es nur in zwei Versionen gibt: saignant oder bleu, also halbroh oder blutig. Auf der Speisekarte sind alle Gerichte, welche hausgemacht sind, extra gekennzeichnet, und an die sollte man sich tunlichst halten. Weitere pittoreske Kneipen liegen in der Altstadt, die wirklich alt und sehenswert ist, denn auf den steilen Straßen fehlen die üblichen Läden mit dem konfektionierten Ungeschmack, dafür erfreuen Kunst und Antiquitäten den Spaziergänger. Die zahlreichen eindrucksvollen Plaketten an den Häusern verraten, wer hier alles geboren wurde oder wohnte oder predigte und sich sonstwie ins Buch der Kulturgeschichte eingeschrieben hat. Derartige Nachrichten erfreuen mehr als die Enthüllung, dass hier auch schon ein amerikanischer Präsident bewirtet wurde. Insgesamt ist es auffällig, wie viele prominente Menschen auf der Schweizer Seite des Genfer Sees gewohnt haben und noch wohnen. Das schließt auch Firmen ein, die ihren Hauptsitz noch unlängst in Ländern hatten, wo sie dummerweise Steuern zahlen mussten. Einige der gastronomischen Attraktionen, die die Region um den Genfer See aufzuweisen hat, habe ich in früheren Kolumnen immer wieder einmal erwähnt, ob es sich um Spitzenrestaurants handelt (L’Ermitage in Vufflens-le-Château, Le Raisin in Cully, Philippe Rochat in Crissier und Le Pont de Brent in Brent bei Montreux), oder um schöne und klassische Hotels (wie das Beau-Rivage Palace in Ouchy, das Raffles Le Montreux Palace in Montreux) – sie alle sind aus dem Tiefschlaf erwacht, unter dem die Hotellerie der Schweiz seit Jahrzehnten litt, und bieten wieder ein echtes schweizerisches Spitzenprodukt, nämlich erstklassige Gastlichkeit,

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Fotos: Barbara Siebeck für DIE ZEIT

kombiniert mit Luxus. Allein die hervorragenden Restaurants am Nordufer des Sees machen diesen zu einer touristischen Attraktion. Nur die nach ihm benannten kleinen Fische (Fera du Lac) sollte man nicht auf ihre Herkunft überprüfen. Es sind überwiegend tiefgefrorene Einwanderer aus Kanada. Die Schweiz gilt bei den Touristen seit jeher als teures Reiseland. Das war sie früher tatsächlich. Aber heute, wo wir uns an den hohen Kurs des Euro gewöhnt haben, stimmt das längst nicht mehr. Glücklicherweise hat sich das in den Reisebüros noch nicht herumgesprochen. So schreckt das Vorurteil eine Menge Leute ab, mit denen man das grandiose See- und Gebirgspanorama nicht unbedingt gemeinsam erleben möchte. Anders ist es mit Bad Ragaz. Dort trifft sich im aufwändig umgebauten Grand Hotel Quellenhof am Wochenende eine Klientel, die sich den Vorwurf, eine Geldelite zu sein, gern gefallen lässt. Sie genießt komfortable Zimmer und eine der größten Wellness-Anlagen der Schweiz. Und in der Äbtestube, dem Gourmetrestaurant des Grand Hotels Hof Ragaz, kocht Roland Schmid, die Person gewordene Vernunft, Bisonsteaks und so köstliche Currysuppen, dass man die anderen sympathischen Kleinrestaurants des Orts fast übergehen möchte. Bad Ragaz hat aber noch andere Vorteile. Seine Lage ist als Ausgangspunkt für Kurzreisen ideal: Zürich 1 Stunde, Bellinzona 90 Minuten, Klosters und Vaduz 30 – und die Bündner Herrschaft direkt vor der Haustür. Besonders Letztere ist eine völlig unterschätzte Landschaft, voll des guten Weins und gemütlicher Gasthäuser, dazu der bildhübsche Prättigau in Richtung Klosters, das Rheintal bei Chur und der San Bernardino, die Flumser Berge und der Walensee, Wasserfälle, reißende Flüsse, hohe Gipfel – hier zeigt die Schweiz wie in einer Nussschale alles,

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was sie hat, und warum sie für den Kenner immer das liebste Reiseziel war. Für mich kommen noch die Leistungen der Gastronomen hinzu. Was Beat Bolliger im Walserhof in Klosters seit vielen Jahren kocht, ist eine beständige feine Küche, der nur eines fehlt: prätentiöses Getue. Das trägt sicherlich dazu bei, dass Prinz Charles seit Jahren seine Winterferien in diesem gastlichen Haus verbringt. Eine andere, ebenfalls hochkulinarische Küche bietet Josef Kalberer im Schlüssel in Mels. Auch er besitzt diese Beständigkeit des hohen Niveaus, die ein Ausweis der Meisterschaft ist. Wer nur einmal in der Biedermeierstube im ersten Stock des alten Hauses gegessen hat, wird wiederkommen. Wie ich. Und sollte dann auch ein Essen im Adler in Fläsch einplanen, wohin man von Bad Ragaz zu Fuß gelangt. Dort wird die charmante Wirtin ihm ein Prättigauer Kalbskotelett servieren, wie er es besser nirgends kriegt, und dazu einen erstklassigen Chardonnay von Thomas Donatsch in Malans. So geht das weiter. Jedes Dorf hat eine empfehlenswerte Gastronomie, und die Winzer sind stolz auf ihre Weine: Weiß- und Blauburgunder, Completer, Chardonnay und eindrucksvolle Cuvées. Hervorheben, weil es frisch renoviert wurde, will ich nur noch das Schloss Schauenstein in Fürstenau bei Chur. Auch, weil es ein Juwel an intimer Gastlichkeit ist: nur 25 Plätze im getäfelten Restaurant und nur 3 Suiten sowie 1 Zimmer. Aber alles vom Feinsten! Der junge Hausherr, Andreas Caminada, hat bei Beat Bolliger und bei Claus-Peter Lumpp in Baiersbronn gearbeitet, und die Regeln der großen Küche beherrscht er aus dem Effeff. Seine Menüs sind äußerst verfeinert und tragen alle Merkmale einer zielstrebigen Modernität, die man in gastronomischen Zentren bewundern würde. Hier im kuscheligen Krähenwinkel der Deutschschweiz

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kann man über den Perfektionismus des jungen Graubündner Kochs nur staunen. Ein weiteres Beispiel für das Erwachen der Schweizer Gastronomie. GRANDE BOUCHERIE DU MOLARD Rue du Marché 20, CH-1204 Genf, Tel. 0041-22/311 71 66, www.boucheriemolard.ch LE NEPTUNE im Hotel Mandarin Oriental du Rhône, Quai Turrettini 1, CH-1201 Genf,Tel. 0041-22/ 909 00 06, Sa., So. und an Feiertagen geschl. BISTROT DU BOEUF ROUGE Rue Alfred-Vincent 17, CH-1201 Genf, Tel. 0041-22/732 75 37, www.boeufrouge.ch, Sa. und So. geschl. ÄBTESTUBE im Grand Hotel Hof Ragaz, CH-7310 Bad Ragaz, Tel. 0041-81/303 30 30, So. und Mo. geschl. WALSERHOF Landstrasse 141, CH-7250 Klosters, Tel. 0041-81/410 29 29, www.walserhof.ch, im Sommer Di. geschl. SCHLÜSSEL Oberdorfstrasse 5, CH-8887 Mels, Tel. 0041-81/723 12 38, So. und Mo. geschl. ADLER CH-7306 Fläsch,Tel. 0041-81/302 61 64, Mi. und Do. geschl. SCHAUENSTEIN_SCHLOSS RESTAURANT HOTEL CH-7414 Fürstenau,Tel. 0041-81/632 10 80, www.schauenstein.ch, Restaurant Mo., Di. und Mi. mittags geschl.

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JAN-MARTIN WIARDA, ZEIT-REDAKTEUR RESSORT CHANCEN, IM MERCEDES ML 350

UNTER DER HAUBE MOTORBAUART/ZYLINDERZAHL: V-Benzinmotor, 6 Zylinder, 3498 ccm Hubraum

Endlich oben

LEISTUNG: 200 kW (272 PS) 7-GANG-AUTOMATIKGETRIEBE, PERMANENTER ALLRADANTRIEB, BESCHLEUNIGUNG (0–100 KM/H): 8,4 Sekunden

HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT: 225 km/h DURCHSCHNITTSVERBRAUCH: 11,5 Liter auf 100 km (Benzin)

KOSTEN (PRO JAHR):

Dieser Wagen ist ein Therapeut für Fahrer, die im Straßenverkehr schon mal Komplexe hatten

ugegeben, ich habe da so einen Komplex. Er stammt aus der Zeit, als ich in Amerika studierte. Ich fuhr einen rostigen Mercury für 1200 Dollar, Baujahr 1985, mit plüschigen Sitzen und Holzdekor. Wenn ich abends die Franklin Street hinabtuckerte, die Fenster heruntergekurbelt, die feuchtheiße Südstaatenluft in der Nase, kam ich mir vor wie einer, der etwas erreicht hat im Leben. Bis an der Ecke Columbia Street die Ampel auf Rot sprang, ich bremsen musste und neben mir wieder eines dieser Riesendinger auftauchte. Silbrig glänzend, fünf Meter lang, zwei Meter hoch. Ein Panzer. Am Steuer, eine Etage über meinem Kopf, eine 18-Jährige. SUV, Sport Utility Vehicle, nennen die Amerikaner diese Geländewagen, mit denen man Rehe von der Straße knallen kann, ohne innen auch nur einen Stoß zu spüren. Genau das richtige Auto, das amerikanische Papas ihren Töchtern schenken, bevor sie aufs College gehen. Denn amerikanische Papas wissen erstens ziemlich genau Bescheid über die Fahr-

Foto: Alfred Steffen für DIE ZEIT

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Vollkaskoversicherung: Typklasse N25, Steuer: 236 Euro

BASISPREIS: 47 966 Euro

künste ihrer Töchter; zweitens sind sie der Meinung, dass es im Zweifel lieber die anderen erwischen soll, wenn ihre Kleine nach einer weiteren Saufnacht nach Hause schlingert. Amerikanische College-Städtchen sind voller SUVs. Ich stand an manchem Abend mit meinem Plüsch-Mercury an den diversen Kreuzungen von Chapel Hill, starrte auf gewaltige Leichtmetallfelgen und fand das Leben alles in allem ziemlich ungerecht. Darum fahre ich jetzt selbst SUV. Mit Chrompaket. Eigentlich mag ich kleine Autos lieber, aber die Tage bis zum Testtermin habe ich dann doch gezählt. Mercedes ML 350 heißt das Ding und wiegt zwei Tonnen. Neben mir sitzt meine Freundin, blickt zu den Leuten im Nachbarauto hinunter und sagt: »So fühlen sich also Sieger.« In Marzahn haben sie gerade eine neue Shopping-Mall eröffnet, mit Tausenden von Parkplätzen und einem Food Court, sehr amerikanisch, wo man von chinesisch über italienisch bis zu berlinisch alles zu essen kriegt. Mit

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dem SUV in die Mall fahren, das muss sein. Auch wenn man dafür erst quer durch die Stadt fahren muss. Beziehungsweise: gerade dann. Das Beste am ML 350 ist, dass man nicht nur der Größte ist, sondern auch der Schnellste. Oder, um im Bild zu bleiben: Der Panzer ist selbst ein Geschoss. Getunte Golf GTIs an der Ampel vergessen das manchmal. 272 PS, von 0 auf 100 in acht Sekunden. Höchstgeschwindigkeit 225 Stundenkilometer. Leider derzeit nur 210, wegen der Winterreifen. Keine Chance zu mogeln, ich habe es gleich ausprobiert, der Bordcomputer regelt automatisch ab. An die missgünstigen Blicke von unten muss ich mich noch gewöhnen. Geht aber auch schnell. Seit ich den Wagen habe, rufen ständig Bekannte an, die unbedingt mal eine Runde mit mir drehen wollen. Ich nehme ihre Bewerbungen an der bordeigenen Freisprechanlage entgegen. Draußen schaltet das Berliner Wetter auf Winter um, drinnen schalte ich die Sitzheizung ein. »Die druckvolle Präsenz des Antriebs ist be-

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eindruckend.« Der Satz stammt aus einer Expertenkritik. Ich kann das bestätigen. Meine Freundin juchzt, wenn ich anfahre. Jetzt sitze ich oben. Bis Ecke Friedrichstraße die Ampel auf Rot springt, ich bremsen muss und sich mein Blick aufs Info-Display neben dem Tachometer richtet. 19,3 Liter, steht da weiß auf schwarz. Pro 100 Kilometer. Ich muss schlucken. Die Ampel wird grün, in meinem Kopf rattern Zahlen. Der Citroën neben mir zieht locker vorbei. Ich weiß nicht, ob das jetzt meine deutschen Gene sind, von wegen Umweltbewusstsein und so, oder die deutschen Benzinpreise. Vielleicht ist der ML 350 doch eher für den amerikanischen Markt geeignet. Da sind die Straßen auch breiter und die Parkhausauffahrten, und die 18-jährigen College-Studentinnen haben bestimmt nie auf die Tankanzeige geguckt. Ich tröste mich damit, dass mein SUV herrliche Ledersitze hat, ein schickes Navi, eine Einparkhilfe, ein automatisches Schiebedach. Seitlich in die Kurven hineinleuchten kann die-

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ser Schlitten auch. Die Anlage wummert, dass die Scheiben zittern, und wenn man den Kofferraum aufmacht, piept mein Mercedes wie ein Lastwagen im Rückwärtsgang. Auf dem Heimweg von Marzahn nach Charlottenburg fahre ich wie mein Opa und kriege den Spritverbrauch auf 14,5 Liter runter. Am nächsten Tag sitze ich mit meinen Kollegen in der Kantine und berichte ihnen von meinen Benzinsorgen. Von meiner Empörung darüber, dass moderne Autos überhaupt so viel schlucken dürfen. »Ist doch kein Problem«, sagt mein Chef, »das zahlt doch die Zeitung.« Ach so? Ich blicke auf und befühle den Schlüssel in der Tasche. Ja, wenn das so ist … So schlecht sind 19 Liter nun auch wieder nicht, denke ich, schließlich kriegt man dafür eine Menge geboten. Ein sehr amerikanischer Gedanke. Außerdem kann ich dann noch ein bisschen weiter an meinem Komplex arbeiten. PS Nächste Woche am Start: Heike Faller, ZEIT-Redakteurin Leben, im Nissan Pick-Up Navara 2,5 dCi Automatik

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Spielen

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INSEL-RÄTSEL

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Grafik: Gunter Kaiser

Grafiken erzeugt mit Chessbase 9.0

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Die Insel heißt gleich wie der Bundesstaat auf dem nahen Festland, und wie viele solcher küstennahen Inseln hat sie eine große Rolle bei der Entdeckung (oder Eroberung oder Erschließung) des Hinterlandes gespielt. Auf unserer Insel geschah dies vor allem im 16. Jahrhundert. Immer wieder legten damals Schiffe an, um sich mit Wasser, Proviant und Personal zu versorgen und dann weiterzusegeln, meist nach Süden, die Küste entlang, und einmal auch weit einen großen Fluss hinauf, wobei – an einem 15. August? – eine heutige Hauptstadt gegründet wurde. In dem Bundesstaat aber, der so heißt wie die Insel, ließen sich im 19. Jahrhundert Einwanderer aus einem ganz anderen Land nieder. Ihre Nachfahren stellen noch heute rund fünfzehn Prozent der Bevölkerung und organisieren jeden Herbst ein Volksfest, das das zweitgrößte des riesigen Landes ist. RAFI REISER

UM DIE ECKE GEDACHT NR. 1789 Waagerecht: 6 Fans der Nahezu-Senkrechten schmiegen sich gern an die harte 10 Wegen der Meermehrheit so seeisch benannte Gefilde 14 Fans der Nahezu-Waagerechten schmiegen sich gern ans weiche 17 Winter oder windstill muss es sein, damit sie das Plappern lässt 19 Sagt beim Dienst was übers Sagen-Haben 20 Ob Bob, ob Schlitten, so geht’s mit ihm bergab 21 Verbreitete Bösewichterangewohnheit: Wo werden schon mal Radiergummis mitgeliefert? 22 Etappe auf dem Weg zum Tennis-Cup 23 Da wollen sie hin, die auf Brettln brettern 24 Gern verspeiste Spezies der Drachenkopffamilie 27 Es liebt die Welt, das Strahlende zu … (Schiller als Neiderbeschreiber) 30 Männliche Grimbarts? Global gesehen dreht sich alles um sie 32 Kontroversierte gegendrucksen nicht lange rum, ihnen fallen immer welche ein 34 Zeigte als Meeres Hyäne dem Knappen die Zähne 35 Zwei Getränke – ein Dirigententhema 37 Geflügeltes Wort für Längslaufereih 41 Etwas Farbe in die alte Sache gebracht, und die winzige Sorge von Berges Heger ersteht 42 Süßwasserader in Nordwestasien 43 Untere Marke auf dem Launometer 44 Mit viel Hände-

AUFLÖSUNG AUS NR. 2: Auf der Insel Efate liegt Port Vila, die Hauptstadt der Republik Vanuatu. James Cook nannte den östlich von Australien gelegenen Archipel einst Neue Hebriden

LOGELEI Borgül ist Reporter und schreibt über Leute in Folgasing. Stolz zeigt ihm der Bauer Mörleb seine mathematisch begabten Tiere: die Zolgum und die Gomzul. »Was können Sie mir denn Interessantes über Ihre Tiere erzählen?«, möchte Borgül wissen. »Von beiden Tierarten habe ich eine zweistellige Anzahl. Da die Tiere regelmäßig ihren Grips trainieren müssen, fordere ich sie immer mal wieder auf, sich in verschiedenen Formationen aufzustellen. Wenn ich sie auffordere, sich in Viererreihen aufzustellen, bleiben mehr Gomzul als Zolgum übrig. Bei Fünferreihen, natürlich wieder nach Tierart getrennt, sonst gäbe das nur Unruhen unter den Tieren, bleiben zusammen noch 2 Tiere übrig. Bei Sechserreihen bleiben 9 übrig, bei Siebenerreihen 5 und bei Achterreihen 13. Bei Neunerreihen bleibt eine ungerade Anzahl an Zolgum und eine durch vier teilbare Anzahl an Gomzul übrig.« Reichlich verwirrt, macht sich Borgül in sein Büro auf und fängt an herumzurechnen. Beim Aufschreiben ist ihm allerdings ein Fehler unterlaufen: Er hatte notiert, dass Bauer Mörleb eine dreistellige Anzahl von jeder Tierart besitzt. Wie viele Zolgum und wie viele Gomzul hat Bauer Mörleb, und was wird in der Zeitung stehen? ZWEISTEIN

drücken mag es glücken 45 »Im Anfang war das Wort«, begann der Letzte, »bis an der Welt Ende«, schloss der Erste Senkrecht: 1 Ohne … ist kein Glück erfreulich (Seneca) 2 Im Fettuccine- oder

Farfalle-Falle haben wir was auf dem Teller? 3 Sechsfach wird er hier benötigt, zwecks Selbstdarstellung 4 Teilt schwesterlich sich einen Namen mit Thea 5 Sein Beißer schnabuliert ihn flugs weg 6 »Werdet …« ist großer Rat für Findige oder kleiner Tipp für Zaghafte 7 Wird wohl die Ursache sein, wenn Träger träger werden 8 Sprichwörtlich: Im … soll man keinen Honig von den Bienen verlangen 9 Wen muss Helmut schlucken lassen, wer TopCourage vorweisen will? 11 Wer schon den Bogen raus hat, möge ihn sich kleindenken 12 Genutzt fürs Fishing, neuerdings auch Phishing 13 Das Herz muss dem Geist vorangehen, und die … der Wahrheit (J. Joubert) 15 Altes Ding der Spannkraftmeierei 16 Recht prisant sei der Umgang damit 18 Er selbst ist seinem Finder Lohn 19 Volksmunds Vermutung: Bei großem … ist wenig Klugheit 24 Glücklich ist, wer die erspäht, wenn ihm was zur

Neige geht 25 Thymus in Lucullusjüngers Munde 26 Meermythenwesen im Taucheranzug 28 Ein Antworten, bevor Nachfragerfragen überhaupt aufkommen 29 Wonach dem Starrsinn keinesfalls ist 31 Ablehnwort aus abgründigen Emotionenzonen 33 Wer weiz’n älteren Stärkelieferanten? 36 Ihre Lippen wurden Sofa bei Salvador 38 Eine – dank Iduna nicht ganz so – alte Herrschaft 39 Hütet manch einer eingeglast, in der Urlaubsandenkenvitrine 40 Ins Detail gegangen: aus Provence-Cuisine nicht wegzudenken AUFLÖSUNG AUS NR. 2 Waagerecht: 6 PROPHEZEIUNG 11 POMP 13 LAECHELND 16 BAERLAPP 18 SCHAF 19 OELTEPPICH 20 THEMEN 21 SEMI in Semi-ramis 23 PAMELA Anderson 24 WITZ 26 »spitze!« und SPITZE 29 SERA = Abend (ital.) 30 ehem. Münze DEUT 31 HUT 32 IMBISS und im Biss 33 EDWARD (Mark Twain, »Prinz und Bettelknabe«) 35 (Platten-)LABEL 36 KAESEGLOCKE 39 UEBERZEUGUNGEN 40 Groß-, Klein-HIRN 41 VERDERBEN 42 DIENST Senkrecht: 1 WOCHE 2 Alain DELON 3 MIST-käfer 4 KNAPPE 5 dolce vita und DOLCE = Nach-, Süßspeisen (ital.) 6 »Pa, Stille!« und PASTILLE 7 RECHTHABER 8 HEFEPILZE 9 EDLE 10 GEPARD 11 »prima!« und PRIMA 12 Gustav MAHLER 14 HAMSTER-käufe 15 NESTBAU 16 BEISSEND 17 PLAUDERN 22 MESSUNG 25 ZUBER 27 IMKER 28 Angora-ZIEGE 30 DACHS in Er-dachs-e 33 W-eggehen – Wehen = EGG = Ei (engl.) 34 WONNE 37 Bruce und Christopher LEE 38 KITZ in Kitz-bühel

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Das nächste Scrabble-Highlight wirft seine Schatten voraus: Am zweiten Wochenende im Februar veranstaltet Martin Gahlow die dritte Auflage der Braunschweig Open. Anders als beim traditionellen ZEIT-Scrabbleturnier (mit Vorrunde und anschließendem Achtelfinale) werden hier Schleifchen für jeden Sieg verteilt. Amtierender Champion ist Heinz-Jürgen Michel, der seinen Titel verteidigen will. Allerdings werden auch wenigstens drei ehemalige deutsche Meister erwartet. Genaueres über Ort und Zeitpunkt erfahren Sie per Mail (an [email protected]) oder im Internet unter www.scrabble.de. Die heutige Aufgabe lockt mit einer Stelle, an der recht einfach 69 Punkte zu erzielen sind. Wie aber lautet der beste Zug, der 12 Punkte höher dotiert ist? SEBASTIAN HERZOG

AUFLÖSUNG AUS NR. 2: Stephan Tulpental hatte rote Haare, war Regisseur und verglich Filme mit Erdbeerpudding. Thomas Konterfei hatte schwarze Haare, war Schauspieler und verglich Filme mit Thymian, und Max Hahnenmähne hatte eine Glatze, war Techniker und verglich Filme mit Milch

AUFLÖSUNG AUS NR. 2:

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LEBENSGESCHICHTE

72 Punkte waren möglich mit den PHILISTERN auf E3–E12. Dieses Wort trug 60 (15x2x2) Punkte bei, hinzu kamen jeweils 6 Punkte für PO und EDLEN. – Es gelten nur Wörter, die im Duden, Die deutsche Rechtschreibung, 23. Auflage, verzeichnet sind. Scrabble-Regeln im Internet unter www.scrabble.de

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Vor kurzem wurde in Berlin der Grundstock zu einer Ausstellung unter dem Motto »Die Lust am Denken« gelegt – in Erinnerung an den deutschen Schachweltmeister Emanuel Lasker, der 27 Jahre lang (1894–1921) den Titel innehatte, weit länger als jeder andere. Unter den vielen Gästen war auch der mehrfache Vizeweltmeister Wiktor Kortschnoj, der eine Benefiz-Simultanvorstellung gab und sich als Schüler Laskers bekannte. Und der ehemalige Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter berichtete gerührt, wie er auf fast schon wundersame Weise in den Besitz des Schachspiels kam, mit dem sein Vater Ernst Reuter, der erste Regierende Bürgermeister Berlins, 1934 im KZ Lichtenburg mit dem sozialistischen Arbeiterführer Wilhelm Leuschner gespielt hatte, der später zum Kreisauer Kreis gehörte und nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet wurde. (Auch Emanuel Lasker musste Deutschland während der Nazizeit verlassen und starb 1941 verarmt in New York.) Vor zwei Jahren, so erzählte Reuter, habe ihn eine Dame angerufen und ihm mitgeteilt, sie habe auf dem Speicher ein Schachspiel ihres Großvaters Wilhelm Leuschner gefunden, auf dem vermerkt sei: »Eigentum von Ernst Reuter, Lichtenburg, Konzentrationslager, St. II, Z (elle) VIII«. Doch plötzlich habe sie aufgelegt. Verzweifelt habe er versucht, die offenbar in Darmstadt oder Umgebung wohnende Dame ausfindig zu machen. Was schließlich auch gelang – mit Hilfe eines ehemaligen Bundestagsabgeordneten aus Darmstadt. Und so kam Edzard Reuter in den Besitz dieses für ihn so besonderen Schachspiels, das seiner Meinung nach seinem Vater und Wilhelm Leuschner geholfen hat, die großen Erniedrigungen zu ertragen. Ähnlich wie in der Schachnovelle Stefan Zweigs. Und welch weiterer Zufall: Diese Lasker-Ausstellung, die zu einem »europäischen Schachzentrum« werden soll, befindet sich just am Leuschnerdamm 31 in Berlin-Kreuzberg! Leider sind die damaligen Partien nicht überliefert. Stattdessen ein Problem, das der vor zwei Jahren im hohen Alter verstorbene jüdisch-ungarische Schachmeister László Lindner 1944 im jugoslawischen Konzentrationslager Bor komponiert hat. In dieser komplizierten Stellung zieht Weiß an und setzt im zweiten Zug matt, wobei der weiße Schlüsselzug dem Schwarzen erstaunlicherweise sogar Schachgebote erlaubt. Wie geht’s? HELMUT PFLEGER 8

AUFLÖSUNG AUS NR. 2:

Welcher Opferzug entschied augenblicklich für Weiß? Das Läuferopfer 1.Lc7! bedroh5 te nicht nur die schwarze 4 Dame, sondern unterbrach 3 auch den Angriff des schwar2 zen Turms auf den Bauern d7 1 und machte die e-Linie für den a b c d e f g h eigenen Turm frei. So kommt es in jedem Fall zur Umwandlung des riesigen Freibauern d7 in eine neue Dame, sei es nach 1…Dxc7 2.d8D+ oder nach 1…Txc7 2.Te8+ 7 6

Seine Charakterstärke machte ihn so erfolgreich

Füllen Sie die leeren Felder so aus, dass in jeder Zeile, in jeder Spalte und in jedem 3x3-Kasten alle Zahlen von 1 bis 9 stehen. Mehr solcher Rätsel im Internet unter www.zeit.de/ sudoku

Drei Generationen hatten seinen Weg geebnet: Der Urgroßvater wagte den Sprung aus der fernen Provinz in die allgewaltige Kapitale. Der Großvater etablierte sich im komplizierten Machtsystem der Stadt, sorgte durch die Heirat seiner Schwester mit dem designierten Regenten für den Einzug seiner Familie in den engen Kreis der Elite und scheffelte Geld als Unternehmer in der Baustoffindustrie. Seinem Vater nahm ein früher Tod jedoch alle Chancen auf noch höhere Ämter und Würden. Der Großvater kümmerte sich nun um dem klugen und liebenswürdigen Knaben und ließ ihm eine für jene Zeit außergewöhnlich gute Erziehung angedeihen. Zeit seines Lebens blieb der seinen Erziehern und Lehrern in Dankbarkeit verbunden, hatten sie ihn doch Tugenden gelehrt, die ihm später an der Spitze des Staates unabdingbar erschienen: Ausdauer, Gelassenheit und Genügsamkeit, das Ertragen von Kritik und Skepsis gegenüber jeglicher Art von Blendern. Noch in jungen Jahren adoptierte ihn der Schwiegersohn des Großvaters und zog ihn ein

AUFLÖSUNG AUS NR. 2:

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Vierteljahrhundert lang zu seinem Nachfolger heran. Diese ungewöhnliche Lehrzeit im Umkreis eines der wenigen tugendhaften Herrscher seiner Epoche prägte den ohnehin schon pflichtbewussten jungen Mann. Er wurde zum Vielleser, opferte dieser Leidenschaft sogar den geliebten Sport und entwickelte sich unter dem Einfluss des bedeutendsten seiner Lehrer zu einem schreib- und redegewandten Mann. Auch später sah man ihn nie ohne Bücher, er las selbst im Theater oder bei Volksbelustigungen. Als er 24 Jahre alt geworden war, übertrug ihm sein Adoptivvater die Amtsgewalt eines Mitregenten – keine allzu fordernde Aufgabe in einer der längsten Friedenszeiten, die das Reich jemals erlebt hatte. Sieben Jahre später war er Nachfolger dieses klugen und bescheiden auftretenden Herrschers. Kaum an der Macht, sahen sich er und sein Adoptivbruder, den er zum Mitherrscher ernannt hatte, von Konflikten an fast allen Grenzen des Reiches umzingelt. Für den Rest seines Lebens war er damit beschäftigt, Eindringlinge zurückzuschlagen, brüchige Frie-

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densabkommen zu schließen, mit diplomatischen und kriegerischen Mitteln das Vorfeld des Reichs zu befrieden. Die ersten Siege verdankte er seinem Adoptivbruder, während er in der Hauptstadt blieb und alle Kraft der Regierungsarbeit widmete. Doch der Preis der Erfolge war furchtbar: Die zurückkehrenden Truppen brachten die Pest mit. Sie wütete in Stadt und Land, bedrohte nicht zuletzt die Schlagkraft seiner Truppen. Um Soldaten zu rekrutieren, war ihm nahezu jedes Mittel recht: Er warb Unfreie und Strauchdiebe an, verpflichtete sogar Männer aus dem feindlichen Lager. Da er die Kriegslasten nicht durch Steuererhöhungen finanzieren wollte, ließ er Schmuck und Hausrat seiner Familie versteigern. Sein letztes Lebensjahrzehnt opferte er fast ausschließlich mühseligen und verlustreichen Feldzügen. Seine Gesundheit begann unter der ständigen Überanstrengung zu leiden; der unterernährte Mann fröstelte vor Schwäche, oft fehlte ihm die Kraft, der Morgenappell seiner Truppen abzunehmen. Aufrecht erhielten ihn sein

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unbedingtes Pflichtgefühl und ein eigens für ihn zubereitetes Aufputschmittel. Als er, von der Pest infiziert, starb, hatte er seine hartnäckigsten Widersacher besiegt und die Grenzen des Reichs gesichert. Ein berühmter Gelehrter hielt ihn zwar für »keinen Soldaten«, ja nicht einmal für eine »hervorragende Persönlichkeit«, bescheinigte ihm aber etwas in unseren Augen Wichtigeres: Rechtschaffenheit und Festigkeit in einem schweren Amt, Erfolg durch Charakterstärke und nicht durch Talente. Wer war’s? WOLFGANG MÜLLER AUFLÖSUNG AUS NR. 2: Hans-Joachim Kulenkampff (1921–1998), gelernter Schauspieler, machte als Moderator und Showmaster von 1948 an erst im Hörfunk, dann von 1953 an im Fernsehen Karriere. Seine Quizsendung »Einer wird gewinnen« (1964 bis 1987) brachte ihm Zuschauerquoten um die 16 Millionen ein. Legendär das Abschiedsritual, wenn Butler Martin Jente ihm Mantel, Hut, Schal und Schirm reichte. In der Spätsendung »Nachtgedanken« las »Kuli« von 1985 bis 1990, jetzt in Strickjacke, zum täglichen ARD-Sendeschluss aus seinen Lieblingsbüchern vor. Hans-Joachim Kulenkampff starb am 14. August 1998 nach langer Krebserkrankung. Ein Teil der Zitate im Rätsel stammt aus dem großen Interview mit André Müller in der ZEIT vom 25. Dezember 1992

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Ich habe einen Traum

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ROLANDO VILLAZÓN wurde 1972 in Mexico City geboren. Mit elf Jahren begann er sein Musikstudium an der Espacios-Akademie für Darstellende Künste. Seit Ende der neunziger Jahre gehört er zu den begehrtesten lyrischen Tenören der Welt. Im Sommer vergangenen Jahres wurde er in Salzburg als Alfredo in Verdis »La Traviata« gefeiert. Hier träumt Rolando Villazón davon, seine physischen Grenzen überwinden zu können

as Theater ist voll, ausverkauft bis auf den letzten Platz. Dieses Mal sind die Leute jedoch nicht wegen meines Gesangs gekommen. Sie wollen sehen, wie ich abhebe. Ich kann nämlich schweben. Ziemlich hoch über der Bühne stehe ich in der Luft. Das ist sehr eindrucksvoll, das Publikum ist hingerissen, so etwas gab es noch nie! Aber mir genügt das nicht. Ich will mehr. Ich will fliegen. Richtig fliegen. Ich strenge mich an, mit aller Kraft. Dabei beobachte ich das Publikum und entdecke plötzlich mittendrin mich selbst, wie ich da unten sitze und mir zuschaue. Zugleich bin ich auch noch alle Impresarios, die mich ins Theater geholt haben. Ich strenge mich ungeheuer an, aber es will mir nicht gelingen, zu fliegen. Wirklich loszufliegen. Da sehe ich einen Mond. Es ist mein Lieblingsmond, der sichelförmig am Himmel steht wie ein Lächeln. Das Lächeln gleicht jenem der Edamer-Katze aus Alice im Wunderland. Wie Alice die Katze frage ich den Mond: »Erklär mir doch bitte den richtigen Weg: Wie macht man das, fliegen?« Keine Antwort. Nur das Lächeln des Katzenphantoms. Also schaue ich wieder nach unten, und jetzt entdecke ich: ein Krokodil! Es gibt nämlich in diesem Theater keine Musiker, der Orchestergraben steht komplett unter Wasser, und darin hockt das Krokodil mit aufgesperrtem Maul. In dem Maul ist eine Uhr, sie macht tick-tack. Die ganze Zeit höre ich diese Uhr. Ununterbrochen: tick-tack. Bedrohlich: tick-tack … Ich höre die Uhr, ich sehe das Krokodil und die Zuschauer und strenge mich maßlos an, um allen zu zeigen, dass ich höher und höher fliegen kann. Aber es will einfach nicht gelingen. Ich schwebe immer noch auf der gleichen Stelle. Und dann geschieht es: Auf einmal muss ich mich nicht mehr auf die Uhr im aufgerissenen Maul des Krokodils konzentrieren und auch nicht mehr auf die Augen der Zuschauer, die mich die ganze Zeit anstarren.

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Ich höre einfach auf damit. Zugleich bin ich mitten unter den Leuten im Publikum und sehe auf der Bühne der Transformation meiner Person zu – die ihrerseits jetzt wahrnimmt, wie die Menschen im Theater ihre Brust weit aufreißen. So weit, dass ich die Herzen erkennen kann und hören, wie sie schlagen. Statt tick-tack, tick-tack höre ich diesen Rhythmus: bumbum, bumbum … Und in dem Moment hebe ich richtig ab und fliege los. Ich fliege! Nicht mal hoch, nicht bis zu den Wolken und schon gar nicht darüber hinaus. Im Gegenteil: In dem Moment, wo ich endlich fliegen kann, verwandelt sich schon wieder alles. Jetzt blicke ich von oben über ein großes Meer, ein Menschenmeer, und ich fühle die Schaumkronen, fühle das Prickeln der Gischt auf der Haut, ich spüre, wie ich langsam überall feucht werde und wie der Wind über die Nässe streicht. Dann hört alles auf mit einem tiefen Eintauchen. Lange, sehr lange habe ich mich als Künstler ständig infrage gestellt. Was mache ich eigentlich? Ich bin doch nur der Clown, habe ich gedacht, der den Leuten ein paar nette Augenblicke bietet. Menschen sterben, Menschen kämpfen, Menschen tun wirklich wichtige Dinge, und ich? Ich bin bloß der buffone. Es hat gedauert, bis ich verstand, dass auch ein buffone seinen Ort hat. Dass das, was ich mache, seinen Stellenwert hat, seine Bedeutung. Aber nur, wenn es die anderen einbezieht. Will man bloß den Applaus haben und berühmt werden – o. k., ich hab nichts dagegen. Aber eigentlich geht es nicht darum, andere Menschen zu beeindrucken. Das Ziel ist, sie zu berühren. Das ist jedes Mal einzigartig. Bei jedem Auftritt wünsche ich mir, dass dieses Besondere geschieht. Und das meine ich nicht arrogant. Ich sehe die Verantwortung des Künstlers darin, Menschen zu erreichen, und wenn es mir nicht gelingt, dann bin ich gescheitert. Ich will nicht nur hübsch singen, ich muss die Herzen erkennen. Das ist nicht leicht, aber ich habe es schon erlebt. Auch wenn es gelingt, wird es vielleicht nicht mein ganzes Leben verändern, noch das der

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Menschen im Publikum. Aber diese besonderen Momente in einer Aufführung können Räume im Unterbewusstsein öffnen. Weil es möglich ist, die Menschen zu erreichen, hat die Oper noch immer Erfolg. Oper ist eine Sprache des Unbewussten. Es ist eine sehr übersteigerte Kunstform; trotzdem ist, was in der Oper geschieht, uns Menschen vertraut. Wenn wir mitten in einer persönlichen Tragödie gefangen sind, dann schreien wir wie die Sänger, dann fühlen wir die Gewalt in uns aufsteigen, dann erleben wir die langen Bögen schwieriger Entscheidungen, das Legato – selbst wenn wir tatsächlich nur da hocken und weinen. Ich bin besessen davon, eine Verbindung zu den Menschen herzustellen. Aber man darf das nicht wollen, kann es nicht erzwingen. Es ist wie fliegen. Damit meine ich: außerhalb des eigenen Körpers sein. Deshalb verwandle ich mich am Ende meines Traums auch in Wind und Wasser … Moment mal, was mache ich hier eigentlich, eine Psychoanalyse? Ich habe es schon immer geliebt, meine Träume auseinander zu nehmen. Also weiter: Sosehr ich als Darsteller auf den Körper als Instrument angewiesen bin, ist er doch zugleich eine Grenze. Manchmal, wenn du die Gefühle zulassen und in Bewegung ausdrücken kannst, dann denkst du: Wie großartig sehe ich bestimmt gerade aus! Aber es sind vielleicht bloß ganz alberne Bewegungen, und nur auf dich selbst wirken sie ungeheuer stark. Eine Energieverschwendung auf der Bühne. Deshalb gibt es diesen Punkt, an dem du deinen Körper loswerden musst. Dann musst du fliegen, so wie Peter Pan oder Alice im Wunderland. Ich war früher Balletttänzer, habe mich also gerade über meinen Körper ausgedrückt. Dass ich ihn in der Oper auch als Grenze erlebe, steht dazu nur scheinbar im Widerspruch. So ist das Leben: voller Paradoxe. Auf der Bühne stehe ich eben nicht dank meiner Begabungen, sondern dank meiner Grenzen. Alle Anstrengung zielt darauf, die eigenen Grenzen zu überwinden, damit sich die Begabungen entfalten können. Schön, wenn man eine gute Stimme hat. Besser, ge-

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gen das zu kämpfen, was die Entfaltung des Besonderen an dieser Stimme behindert. Vielleicht kann ich mich physisch ausdrücken, weil ich mich immer wieder darum bemühe, meinen Körper als Grenze meiner Ausdrucksfähigkeit zu überwinden. Bis es der Ausdruck ist, der sich den Körper sucht, nicht mehr umgekehrt. Auf der Bühne bin ich nicht mehr einfach ich. Dann gehöre ich der Bühne und allem, was die Geschichte glaubwürdig macht. Ich trenne mich von mir selbst. Dann töte ich, wenn ich töten muss, wenn ich lieben muss, liebe ich, und ich sterbe, wenn ich sterben soll. Ob es gelungen ist, die Einheit mit den Zuschauern herzustellen, das weiß man immer erst hinterher. Wenn ich darauf achten würde, dann wäre ich wieder nicht im Augenblick, sondern ich würde meine Aufmerksamkeit immer noch nach außen lenken. Auch bei La Traviata gab es so eine perfekte Aufführung. Das empfand jeder so bei diesem einen Mal, und alle trugen dazu bei. Dieser Wunsch zu fliegen, mich aufzulösen und die Verbindung zu den anderen herzustellen, endet nicht mit dem Auftritt. Im Leben habe ich ihn genauso. Ich weiß nicht, ob das Theater eine Extrapolation meines Lebens ist oder umgekehrt. Es kann in einem Interview sein, in einem Café, bei einem Sonnenuntergang, auch in der Liebe gibt es diese perfekten Momente. Sie geschehen nicht oft, aber dann hast du das Gefühl: Es gibt nichts Vergleichbares. Ich erinnere mich an einen Tag in Triest, unten am Pier. Ich blieb den ganzen Nachmittag. Alle gingen ganz einfach ihren normalen Beschäftigungen nach. Aber es war irgendwie der perfekte Tag. Alles passte: die kleinen Läden, die Leute, das Meer, das Buch, das ich las, die Pizza, die ich aß. Ich habe es einfach gefühlt. Ich fühlte überall, bei allen Anwesenden, bumbum, bumbum, diese weit aufgerissene Brust. AUFGEZEICHNET VON CHRISTIANE GREFE FOTO VON RAINER ELSTERMANN Audio

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ROLANDO VILLAZÓN »Ich kann schweben. Hoch über der Bühne stehe ich in der Luft. Aber das genügt mir nicht. Ich will fliegen. Richtig fliegen«

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Der Kilauea ist einer jener Ehrfurcht einflößenden Orte, an denen man sich verdammt klein vorkommt. Zu Fuß durch den Volcanoes National Park auf Hawaiis Big Island VON SUSANNE WEINGARTEN

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Man hört nur das Knirschen der Gesteinsbrocken unter den Stiefeln Am Napau Trail ist die Luft heute rein. Der Weg führt über Lava, die sich vor mehr als einem Vierteljahrhundert über einen Teil der östlichen Vulkanflanke gewälzt und alles Leben unter einer lappigen, schwieligrauen Steinhaut begraben hat. Bald fühlen wir uns wie Flöhe, die auf dem Rücken eines Elefanten herumkrabbeln. Weit und breit blickt man über endlose graue Ödnis; hier sprießt nichts außer ein paar kümmerlichen Farnen und Pukiawe-Sträuchern, die sich in geschützten Ritzen an ihr Überleben klammern. Gelegentlich taucht ein kleinerer Krater am Wegrand auf – weil sich die Magma unterirdisch vom KilaueaGipfel ihren Weg hinab zum Meer bahnt, reißen immer wieder solche Gruben entlang der Vulkanflanken auf, aus denen dann glühende Fluten hervorbrechen

Wenn es Abend wird, lodert das Meer. Aus unterirdischen Kanälen fließt KOCHENDE LAVA in den Pazifischen Ozean und färbt die Dampffahne von unten nach oben grellorange

Hawaii (Big Island) Hawaii

Honoka’a

Hilo

Kilauea Mauna Loa

Volcano Village

Pazifischer Ozean 30 km

Hawaii Volcanoes National Park

Information ANREISE: Ab Frankfurt am Main zum Beispiel mit KLM via Amsterdam, Los Angeles und Honolulu nach Hilo (Big Island), Flugzeit rund 23 Stunden, weiter mit dem Mietwagen

NATIONALPARK: Der einzige Eingang liegt circa 45 Kilometer südwestlich von Hilo am Highway 11. Eine Wochenkarte für den täglich rund um die Uhr geöffneten Park kostet pro Auto 10 US-Dollar UNTERKUNFT: Im Volcanoes National Park gibt es nur ein Hotel, das Volcano House unmittelbar am Kraterrand (Tel. 001-808/967 73 21, www.volcano househotel.com). In der altmodischgemütlichen Lodge mit Kamin in der Lobby und schlicht eingerichteten Räumen kosten Doppelzimmer ohne Kraterblick ab 95 US-Dollar (rund 82 Euro), mit Kraterblick ab 200 US-Dollar (knapp 171 Euro). Zum Hotel gehören zehn einfach ausgestattete, nicht beheizbare Hütten im Park (50 USDollar pro Nacht). Die Parkverwaltung betreibt zwei kostenlose Campingplätze (www.nps.gov/havo/visitor/camping.htm). Weitere Unterkünfte verschiedener Preiskategorien gibt es im unmittelbar am Parkeingang gelegenen Ort Volcano Village (http://hotel-guides.us/hawaii/ volcano-village-hawaii-hi-hotels.html) AUSKUNFT: Hawaii Volcanoes National Park, P. O. Box 52, Hawaii National Park, HI 96718-0052, USA, Tel. 001-808/985 60 00, www.nps.gov/havo/home.htm; Hawaii Tourism Europe, Tel. 089/23 66 21 77, www.hawaii-tourism.de

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lötzlich liegt er vor einem: ein gewaltiger Krater, leer und zerklüftet – eine Todesbrache, aus der sich hier und dort weiße Dampfschwaden in den Himmel winden, als würden in Hunderten von Hexenkesseln tief unter der graubraunen, schrundigen Lavakruste gefährliche Zaubertränke gebraut. Nur ein paar Schritte nach vorn, und man fiele mehr als hundert Meter in die Tiefe. Der erste Blick in den Kilauea-Krater im Hawaii Volcanoes National Park wirkt so bestürzend, weil der Krater völlig unerwartet in der Landschaft auftaucht. Man muss nicht erst einen Berg erklettern, um einen Blick hinab in den Vulkanschlund zu werfen. Nein, der Kilauea-Krater klafft unversehens inmitten einer friedlichen, flachen Hochebene: wie eine Kiesgrube der Götter. Erst bei ihrem Anblick begreifen wir so recht, dass wir auf dem Gipfel eines gigantischen Vulkans stehen, dessen Flanken sich kilometerweit in alle Richtungen erstrecken. Der Kilauea-Krater ist einer jener Ehrfurcht einflößenden Orte, an denen man die ungeheure Wucht der Erdkräfte erahnt. Und an denen man sich verdammt klein vorkommt. Die ganze Inselkette von Hawaii ist durch Unterwasser-Vulkanausbrüche entstanden, und auf dem Big Island, auf dem der Volcanoes National Park liegt, toben sich zwei dieser Titanen immer noch aus, der Kilauea und der Mauna Loa. »Wenn Sie auf Ihrer Wanderung einen schwefligen Geruch in der Luft bemerken, kehren Sie auf der Stelle um«, warnt uns der freundliche Ranger in der Parkverwaltung. »Das kann gefährlich werden.« 240 Kilometer Wanderwege durchziehen den knapp 135 000 Hektar großen Volcanoes National Park, der zu den Unesco-Weltnaturdenkmälern zählt: Man kann kurze Lehrpfade erkunden, überschaubare Wanderungen in der Kraterregion unternehmen oder aber zu tagelangen Rucksacktouren in das back country aufbrechen – nördlich zum Gipfel des Mauna Loa, des höchsten Bergs der Welt (jedenfalls, wenn man vom Meeresboden aus rechnet), aber auch in jenes Hinterland der Lavafelder, Nebenkessel und Regenwälder, das im Süden zwischen dem Kilauea-Krater und der Pazifikküste liegt. Für back country-Wanderungen muss man eine Genehmigung bei den freundlichen Rangern einholen, die einen geduldig über alle Unwägbarkeiten aufklären. Gefährlich ist nicht nur der giftige Schwefelgeruch in der Luft, gefährlich kann auch ein umgeknickter Fuß werden. Ins Hinterland führen keine Straßen, dort hat kein Handy Empfang. Man gibt den Rangern an, auf welchem Parkplatz der Wagen steht und welcher Freund oder Verwandter im Notfall zu verständigen ist und die Rettung veranlassen kann.

und das Land verwüsten. So, denken wir nach ein paar Stunden, muss die Erde am Beginn ihrer Entstehung gewesen sein: ein einziges kahles Nichts. Einen regelrechten Pfad gibt es nicht; man muss aufgeschichteten Steinhäufchen folgen, die den Verlauf der Strecke anzeigen, und selbst den gangbarsten Weg über die zerklüfteten, geborstenen Lavaklumpen erkunden. Das heißt auch: nach Halt tasten, klettern, über Spalten und Bruchkanten springen, unter denen tiefe Furchen klaffen – Wandern auf einer Vulkankruste ist ein bisschen wie Bergsteigen ohne Berge. Über dem Elefantenrücken liegt eine gespenstische, bedrückende Ruhe, die das Fehlen jeglichen Tierlebens bekundet. Man hört nichts außer dem Knirschen der Gesteinsbrocken unter den Stiefeln und dem Zischen des Windes, der einen kalten, stechenden Nieselregen über die kahle Ebene jagt. Im Osten des Big Island muss man immer mit Regen rechnen. Der hiesigen Überlieferung nach haben einst Pele, die Göttin des Feuers und der Vulkane, und ihre für Wasser und Regen zuständige Schwester um die Herrschaft über die Insel gerungen – und als keine gewinnen konnte, haben sie kurzerhand die Insel untereinander aufgeteilt. Die Wasserschwester bekam den Osten. Nach einer Stunde sind wir trotz Regenzeug so durchnässt und verfroren, dass uns – Pele hilf! – ein kleiner Vulkanausbruch ganz gelegen käme. Aber dann endet das Lavafeld, und uns umgibt ein hoher, schützender Regenwald. Nur vier, fünf Schritte liegen zwischen Unwirtlichkeit und Üppigkeit. Der Übergang ist so jäh, als wäre eine Bühnenkulisse verschoben worden, während man kurz mit den Wimpern gezuckt hat. Wo die gefräßige Glutwalze auf ihrer Vernichtungsbahn nicht hingelangt ist, wuchert die Natur wie zum Trotz mit unbändiger Kraft. Hier bricht sich das Licht zwischen übermannshohen Farnwedeln und ausladenden ’Ohi’a-lehua-Bäumen, hier schmatzt nasse, fruchtbare Erde unter den Füßen, hier zwitschern Vögel und zirpen Zikaden, hier riecht es modernd-streng nach Wachsen und Vergehen. Immer wieder versperren umgekippte Bäume den Weg. Als wir nach einer Viertelstunde am anderen Ende des Waldes hinaustreten, können wir die triste, tote Geröllkruste kaum fassen, die sich nun wieder vor uns ausdehnt. Doch die Eintönigkeit der Vulkanwüste ist nach einer Weile gar nicht mehr eintönig. Lava, das merkt man erst nach und nach auf Wanderungen durch den Park, kann die unglaublichsten Farben und Formen annehmen. Auf Hawaii wird unterschieden zwischen Pahoehoe, glatten, lang gezogenen Lavawülsten, und A’a, brüchigen kleinen Lavastücken, auf denen man bei jedem Tritt herumrutscht wie auf einer Kohlenhalde. Aber es gibt auch Lavafelder, die von ferne trügerisch wie ein frisch gepflügter Acker wirken; es gibt Lava, die im Abendlicht glänzt wie nasses Seehundfell, und andere, die wie runzlige Baumrinde anmutet; und es gibt feinen schwarzen Lavakies, der ganze Landstriche in asketische japanische Gärten verwandelt. Lava ist Land-Art – eine ästhetische Entschuldigung der Natur für die Verwüstung, die sie anrichtet. Sie kommt in Brocken, Blöcken, Platten, Scherben, Splittern vor, als Schlacke und Asche, und in manchen Erdspalten verstecken sich feine, wie aus Glas gesponnene Lavafäden, die hier »Peles Haar« genannt werden. An einer Stelle hat sich gar ein Tunnel gebildet, als vor Jahrhunderten der äußere Rand eines Lavastroms schneller erstarrte als sein Kern. Der floss einfach weiter und ließ eine Röhre hinter sich. Zur Thurston Lava Tube ist es nur ein kurzer Abstecher von der Hauptstraße des Nationalparks, die rund um den KilaueaKrater führt. Wir wandern im Morgengrauen her, ehe sich die Busladungen von Tagesbesuchern in den Tun-

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nel ergießen. Aus dem Regenwald tritt man in ein hohes Gewölbe, das weit in die Erde hineinführt. Es ist dunkel und kalt, und von der Decke hängen lange, zottelige Grassträhnen, die einem vorwitzig Wassertropfen in den Nacken träufeln. Die Röhre wirkt, als hätte sie ein Riesenkind mit ungelenken Fingern aus Pappmaché geknetet – nicht ganz perfekt, mit Unebenheiten an den Wänden, aber doch bemerkenswert rund und wohlgeformt. Man mag kaum glauben, dass hier nur der Zufall der Natur am Werk war. Draußen hat es schon wieder zu regnen begonnen. Als wir nach einem stundenlangen, feuchten Treck kreuz und quer durch den Kilauea-Kessel einen Regenbogen entdecken, der sich flach auf dem Kraterboden ausgestreckt hat, können wir ihn nur zu gut verstehen. Manchmal will man sich einfach nur noch hinlegen, auch mitten in der unwirtlichsten Gegend.

Halema’uma’u ist das pochende Herz des Vulkans. Es riecht nach Schwefel Doch die Anstrengung des Trecks hat sich gelohnt: Wenn man die dicht bewaldete östliche Steilkante hinuntersteigt und quer durch den Krater wandert, vorbei an bräunlichen Lavaschutthügeln und verwitterten Schildern, die warnen: »Vorsicht! Gebiet mit dünner Kruste! Bleiben Sie auf dem Pfad!«, dann erreicht man am anderen Ende das pochende Herz des Vulkans: Halema’uma’u, einen tiefen Kessel innerhalb des Gipfelkessels. Immer wieder verwandelt sich Halema’uma’u in eine brodelnde Lavagrube, und auch in friedlicheren Zeiten wie jetzt dampft es noch bedrohlich aus den Erdlöchern an seinen Abhängen. Hier riecht es nach Schwefel, aber, wie Mark Twain bei einer Visite einst bemerkte, »nicht unangenehm für einen Sünder«. Die rußschwarzen, senkrecht abfallenden Wände von Halema’uma’u sind mit gelblich-weißen Schwefelablagerungen gesprenkelt, und sein Boden wirkt wie ein gefrorener Teich aus dunklem Eis. Nur dass darunter nicht Wasser, sondern kochende Erdbrühe schwappt. In diesem Abgrund lebt nach der Legende die Göttin Pele. Wer nicht ihren Zorn erwecken will, tut gut daran, ihr als Opfergabe ein paar Ohelo-Beeren in die Grube zu werfen. Am Halema’uma’u spürt man das Erhabene, aber auch Unheimliche der Vulkanlandschaft deutlicher als irgendwo sonst: Die Lava scheint gleichzeitig tot und lebendig zu sein, denn in der erkalteten Starre dieses unerhört leeren Todestrümmerfelds erahnt man immer noch den Fluss, die einstige Bewegung. Und man spürt, dass die Naturgewalt jeden Augenblick wieder ausbrechen kann. Nur an einer Stelle im Park kann man derzeit den Vulkan richtig in Aktion beobachten – und dorthin, zum Feuer mit seiner unwiderstehlichen, archaischen Kraft, lockt es die Menschen in Scharen. Jeden Abend zieht sich ein regelrechter Autokonvoi die Chain of Craters Road entlang, eine Landstraße, die vom Kilauea-Krater in lang gezogenen Kurven hinunterführt bis an die Küste. Nach 35 Kilometern bricht die Chain of Craters Road abrupt an einer Ranger-Baracke ab. Lava hat bei einer Eruption 1986 die letzten 15 Kilometer der Straße einfach überrollt. Jenseits der Baracke geht es nur zu Fuß weiter. Wir reihen uns ein in den Strom von jungen Familien mit Babytragetaschen, Rentnerehepaaren, Teenagercliquen und japanischen Reisegruppen, die mehr oder weniger behände in der Dämmerung über das dicke Gesteinsbett entlang den Klippen kraxeln. Weit vor uns bläht sich eine riesige weiße Dampffahne Hunderte von Metern hoch in den Himmel. Genau dort fließt kochende Lava aus unterirdischen Kanälen ins Meer, genau dort treffen Feuer und Wasser aufeinander.

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Nach einer Viertelstunde endet der Weg an einer Sperre. Die Wanderer verteilen sich auf dem Lavafeld; jeder versucht, ein Plätzchen mit freiem Blick auf die Dampffahne zu ergattern. Es herrscht eine erwartungsvolle Spannung wie vor einer Freiluftbühne, ehe sich der Vorhang hebt. Wenn man sich umdreht, bietet sich ein aberwitziger Anblick: Hunderte von winzigen bunten Gestalten sprenkeln die weite Brache, ein Amphitheater aus Geröll – und alle starren gebannt in eine Richtung. Und alle warten auf den Anbruch der Nacht. Die Dunkelheit fällt auf das Land herab wie ein schwarzes Tuch, und sie verwandelt es in einen atemberaubend fremden Nachtspuk. Erst im Finstern nimmt man wahr, was am Tag nicht zu erkennen war. Zuerst leuchten, wie von Zauberhand, flackernde Feuerpunkte am Hang links oberhalb der Klippen auf: Es ist nur Lava, aber es wirkt, als würde ein Heer von Fackelträgern den Berg zum Ozean hinabschreiten. Und dann verwandelt sich auch die Dampffahne. Langsam verfärbt sie sich von unten nach oben zu einem grellen Orange, als würde sie die Farbe nach und nach aus der Erde aufsaugen. Am Ende lodert sie wie der Atemstoß eines gewaltigen Feuerschluckers ins Firmament hinauf. Es ist ein alchemistisches Spektakel, das wir sehen, die Verwandlung von Wasser in Feuer. Eine Stunde oder mehr harren wir gebannt auf unseren rauen, harten Lavalogenplätzen aus, und selbst als wir schließlich, die Taschenlampe in der Hand, durch die Dunkelheit zurück zur Chain of Craters Road stolpern, drehen wir uns immer wieder um. Wir wollen unbedingt noch einen letzten, dann einen allerletzten Blick auf die flammende Wolke erhaschen.

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Foto [M]: Roger Ressmeyer/corbis

Bleiben Sie auf dem Pfad!

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Von Schlot zu Schlot

Frisch vom Markt Mirandas Lieblingsbäckerei liegt an der Strecke, ebenso wie die Galerie, in der Charlotte arbeitet, oder der Laden, in dem Aidan seine Designermöbel ausstellt. Und obwohl das Betreten von Carries Haus leider untersagt ist, darf man immerhin auf den Stufen davor ein wenig von ihr träumen. Fans wissen längst, was hier gespielt wird: Sex and the City. Wer sein Herz an die amerikanische Kultserie verloren hat und sich die noch andauernde Sendepause versüßen will, kann jetzt auf einer geführten Tour durch New York den Spuren der Fernsehstars folgen. In mehr als drei Stunden werden etwa 40 Drehorte angesteuert, zu guter Letzt die Bar, in der man wie Carrie & Co. den berühmten Cosmopolitan-Cocktail serviert bekommt. Verständigungsprobleme muss die treue Gefolgschaft aus Germany nicht fürchten: Die Rundgänge gibt es auch auf Deutsch.

Eine virtuelle Route verbindet ausgediente Industriegiganten in drei Ländern Ironbridge ist ein symbolträchtiger Ort. Die Eisenwerke nahe der englischen Stadt Telford und die imposante Eisenbrücke, die das Tal des Severn überspannt, gelten als die »Wiege der industriellen Revolution«. Jetzt gehört das zum Unesco-Weltkulturerbe geadelte Ironbridge auch zur Europäischen Route der Industriekultur (ERIH). Sie wurde vor ein paar Wochen an dieser traditionsreichen Stelle feierlich eröffnet. Das Ruhrgebiet hatte es mit seiner seit 1999 bestehenden Route der Industriekultur vorgemacht. Abgewickelte Industriegiganten, heute Erlebnisorte der Freizeit, sind auf einer ausgeschilderten Thementour miteinander verbunden worden. Sie zeigt das industriekulturelle Erbe der ehemaligen Kohle- und Stahlregion und soll den Tourismus ankurbeln. Das ist geglückt: Die so genannten Ankerpunkte – industriegeschichtlich bedeutende und touristisch attraktiven Standorte – ziehen inzwischen viele Besucher an. Wie zum Beispiel der Landschaftspark Duisburg-Nord, früher das Thyssen Hüttenwerk Meiderich, dessen Gasometer zum Tauchparadies und dessen Erzbunker zum Kletterfelsen konvertiert sind. Oder wie die Zeche Zollverein in Essen, die sich zum multikulturellen Kristallisationspunkt für Ausstellungen, Konzerte, Tanz und Theater gemausert hat. Nach diesem Vorbild wurde die Europäische Route der Industriekultur entwickelt. Ironbridge ist einer von 45 Ankerpunkten. In seinen einstigen Fabrikanlagen sind heute zehn industriegeschichtliche Museen untergebracht, in einer nachgebauten Kleinstadt stellen kostümierte Darsteller Arbeiten und Leben im England der Queen Victoria nach. Diese Leuchttürme der Industriekultur – in Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland – bilden das Rückgrat der europäischen Route und sollen das gemeinsame Erbe der Industriegeschichte vermitteln. Zum ERIH-Netzwerk gehören Industriedenkmäler ganz unterschiedlicher Couleur, zum Beispiel das Niederländische Textilmuseum in Tilburg, die mustergültige Industriesiedlung Saltaire Village im nordenglischen Bradford oder das Weltkulturerbe Völklinger Hütte. »Unser Ziel ist es, die Industriekultur für den Tourismus europaweit zu öffnen«, erklärt Robert Datzer, Geschäftsführer von Nordrhein-Westfalen Tourismus und ERIH-Projektleiter. Das 2,1-Millionen-Euro-Projekt wird finanziert unter anderem durch EU-Fördergelder. Allerdings führt der Begriff »Europäische Route« ein wenig in die Irre. Denn ERIH stellt keine ausgeschilderte Ferienstraße dar, der

»Sex and the City Hotspots«, jeden Samstag um 11 Uhr, Tickets umgerechnet rund 33 Euro. Informationen zur Route und Buchung: Tel. 001-212/209 33 70, www.screentours.com. Frühzeitige Reservierung empfohlen

Um Leonardo da Vinci drehen sich in der deutschniederländischen Euregio Rhein-Maas ab sofort jede Menge Aktivitäten. Ihr Zentrum hat die neunmonatige Veranstaltungsreihe im Industrion, einem Museum für Industrie, Wissenschaft und Gesellschaft im niederländischen Kerkrade. Dort läuft bis Anfang März eine Ausstellung mit 45 Holzmodellen aus Italien, die auf den Zeichnungen des Universalgenies basieren. Eine weitere von insgesamt acht Ausstellungen findet im Aachener Marienhospital von Anfang März bis Anfang Mai statt und beschäftigt sich mit da Vinci und der Anatomie. Vorträge und Workshops wie auf Burg Rode in Herzogenrath sollen das Denken und Schaffen des Allrounders aus der Renaissance nachvollziehbar machen.

Einmal Musher sein und als Hundeführer den ei-

genen Schlitten über den Polarkreis lenken. Es gibt Wünsche, die sind vergleichsweise leicht zu verwirklichen. Mit dem Unternehmen Kodiak Reisen zum Beispiel geht es in den schwedischen Teil von Lappland, wo mehrtägige Hundeschlittentouren in kleinen Gruppen unternommen werden. Dabei erhält und lenkt jeder Teilnehmer ein eigenes Gespann mit vier Huskys, um die er sich dann allerdings während der Fahrt auch kümmern muss. Vorkenntnisse sind nicht nötig, denn zu Beginn der Reise werden die Nordlandfahrer auf einer Farm mit dem Handwerk eines Mushers vertraut gemacht.

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Leigh Bowery war eigentlich zu groß für dieses Leben – nicht nur wegen seiner Körpermaße von zwei Meter zehn und seiner sehr beträchtlichen Leibesfülle. Es kam ziemlich oft vor, dass der nach London emigrierte Australier mit Plateauschuhen, in einem Latexcatsuit, mit Schweinsmaske und einem Polizeihelm auf dem Kopf das Haus verließ. Und nie ungeschminkt. Bowery war sein eigener Kostümbildner, ein PerformanceKünstler, eine unerreicht bizarre Ikone der Londoner Szene der achtziger Jahre – und Muse und Aktmodell des am Hautnahen interessierten englischen Malerstars Lucian Freud, dem Enkel. Freud entdeckte Bowery als lebende Skulptur in wechselnden Kostümen

aus Tüll, Samt und Leder im Schaufenster der noblen Avantgardegalerie Anthony d’Offay. Bowery starb 1994 mit 33 Jahren an den Folgen von Aids. Jetzt wird er wiederentdeckt. Bei der jüngsten Biennale in Venedig war ihm ein ganzer Saal gewidmet. Das NRW-Forum Kultur und Wirtschaft in Düsseldorf zeigt nun Fotos, die der Fotograf Fergus Greer gemacht hat. 200-mal Fergus Greer: Leigh Bowery – in exaltierten Posen und schrägen Maskeraden zwischen Clown, Punk und Diva. Unser Bild: »Session I, Look 7« vom Juli 1989. MAC »Ferguson Greer: Leigh Bowery«, 13. Januar bis 12. März. NRW-Forum, Ehrenhof 2, Düsseldorf, Dienstag bis Sonntag von 11 bis 20 Uhr, Freitag bis 24 Uhr, Eintritt: 2,50 Euro. Tel. 0211/892 66 90, www.nrw-forum.de

man nachfahren könnte, wie der Deutschen Märchenstraße oder der mit 1500 Hinweisschildern bestückten Industriekulturroute im Ruhrgebiet. Strenggenommen sei ERIH »eine virtuelle Route, die man so nur im Internet findet«, sagt die Projektkoordinatorin Christiane Baum. Das touristische Informationsnetzwerk, das in Form des Portals www.erih.net auftritt, dient einerseits Experten zum Erfahrungsaustausch, andererseits als Werbeplattform, um die Industriekultur einer größeren internationalen Öffentlichkeit bekannt zu machen. Ausgehend von der Hauptstrecke mit ihren Ankerpunkten, werden transnationale Themenrouten (Textil, Bergbau, Eisen und Stahl, Energie, Wasser) sowie regionale Routen konzipiert (unter anderem im Rheinischen Schiefergebirge, am Nordseekanal oder in Südwales und den Midlands), die aber meist noch in Planung sind. Neben der ausführlichen Beschreibung der Ankerpunkte und der Routen findet man im Internet-Portal überdies Hintergrundinformationen zur Industriegeschichte in Europa, Veranstaltungstipps und Links zur Industriekultur. Noch präsentieren sich die Denkmäler bisweilen sehr museal und wissenschaftlich. »Um sie touristisch aufzuwerten, definieren wir bestimmte Qualitätskriterien«, sagt Christiane Baum. Dazu gehören Führungen und Informationsmaterial, Gastronomie und Events, öffentliche Verkehrsanbindung und Parkplätze. Die touristische Vermarktung spielt eine zentrale Rolle, denn die Standorte können nur weiterexistieren, wenn sie auch Geld bringen. Deshalb sucht ERIH auch den Kontakt zu den Tourismuseinrichtungen. Gerade dort, wo regionale Routen entwickelt werden, »wollen wir Organisationen gewinnen, die touristische Pakete schnüren, wie es sie im Ruhrgebiet schon gibt«, sagt Rainer Klenner vom Städtebauministerium Nordrhein-Westfalen, das einer der Projektpartner ist. So bietet neben der Ruhrgebiet Tourismus GmbH (RTG) ein halbes Dutzend kleinerer Veranstalter Pauschalreisen auf den Spuren der Industriegeschichte im Pott an. Der Anfang ist gemacht. Doch Klenner räumt ein, dass »der Name ›Europäische Route‹ sehr verwegen ist«, weil bisher nur Industriedenkmäler aus drei Ländern vertreten seien. Doch jetzt, da die Grundstruktur mit dem Internet-Portal steht, denkt man daran, die Route auch durch andere Staaten zu führen und weitere Industriekultur-Anker ins Boot zu holen. Wie in der politischen EU gibt es auch bei der Europäischen Route jede Menge »Erweiterungskandidaten«. GÜNTER ERMLICH

Zurück zur Natur KARIN LANKES, 39, ist im Vorstand von Mountain Wilderness Deutschland. Die Bergschutzorganisation möchte die Alpen von Alteisen säubern

Foto: privat

»Leonardo da Vinci – 101 Projekt«, bis 4. 9., Ausstellungen, Vorträge und Workshops unter anderem in Kerkrade, Aachen, Herzogenrath. Auskunft: Tel.0031-45/567 60 22, www.industrion.nl/davinci

Husky-Safari »Muskus Adventure« in Schwedisch Lappland, 27. Januar bis 6. Februar, ab 1795 Euro inklusive Flug. Auskunft: Tel. 02331/90 48 10, www.kodiak-reisen.de

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Frau Lankes, Mountain Wilderness möchte die Berge von Zivilisationssünden befreien. Für Ihr neuestes Projekt haben Sie Altlasten in den Alpen ausgemacht: stillgelegte Skilifte. Gibt es viele davon?

werden. In der Schweiz wird das Seilbahngesetz gerade überarbeitet. Wir treten zusammen mit anderen Umweltschutzorganisationen vehement dafür ein, eine Rückbaupflicht aufzunehmen. Das möchten wir auch für Deutschland.

In der Schweiz haben unsere Kollegen 70 nicht mehr genutzte Seilbahnanlagen ermittelt. Unsere französischen Kollegen haben mehr als 250 nicht mehr genutzte Bauten registriert, da sind aber auch aufgegebene Hotels dabei.

Was wollen Sie vorerst tun – zur Säge greifen?

Und in Deutschland?

Wir haben eine Liste mit 19 stillgelegten Liften. Fünf wurden komplett abgebaut, einer wird jetzt privat genutzt. Bei den anderen lassen die Betreiber die Anlagen vor allem aus zwei Gründen im Gelände. Zum einen findet man für Schlepplifte Wiederkäufer. Außerdem möchten die Liftbetreiber die Option auf einen erneuten Betrieb offen halten, weil es in Bayern nur sehr schwer Genehmigungen für neue Lifte gibt. Dann werden halt die alten Anlagen modernisiert. So ist jetzt eine Seilbahn am Kranzberg bei Mittenwald nach fast 30 Jahren Pause wieder aktiviert worden. In Bad Reichenhall sind am Predigtstuhl drei Lifte seit 1994 stillgelegt, sollen aber, nach Auskunft der Besitzer, wieder laufen, frühestens jedoch im Winter 2006/07. Sind Liftruinen nur ein ästhetisches Problem?

Nicht nur. Die Masten rosten, da wird auch einiges in den Boden gewaschen. Und es geht ja nicht nur um das Eisen. Dazu kommen Betonfundamente, Lifthäuschen, Berg- und Talstationen. Da kann es Altlasten von Motorenöl geben, außerdem werden verrottende Bauten leicht zur wilden Müllkippe. Darf man stillgelegte Anlagen einfach stehen lassen?

In Bayern können die Behörden anordnen, eine Anlage zu beseitigen. In der Alpenkonvention ist der Rückbau nicht zwingend vorgeschrieben. Nur wenn neue Anlagen die alten ersetzen, müssen diese laut Konvention abgebaut

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Na ja, manchmal möchte man das schon. Aber das ist ja nicht so einfach. Die Objekte sind Privatbesitz, und uns reicht noch der Ärger, den wir uns kürzlich eingehandelt haben, weil wir auf Privatgrund demonstriert haben. Zum anderen erfordert der Rückbau viel Sachkenntnis, Zeit-, Material- und Arbeitsaufwand. Das ist auch der Grund, warum die Anlagen stehen gelassen werden: Der Abbau ist sehr teuer. Mountain Wilderness wird also nicht zum Robin Wood der Berge?

Das können wir gar nicht. Wir wollen in erster Linie sensibilisieren – die Öffentlichkeit und auch die Bahnbetreiber. Und dann möchten wir helfen. Indem wir zum Beispiel das Wissen um den Rückbau fördern. Was etwa macht man mit den Fundamenten? Zerkleinern und vor Ort integrieren? Oder müssen sie komplett entfernt werden, weil ihre Bestandteile Biotope gefährden? Aber die Geldfrage werden Sie kaum aus Ihrer Vereinskasse heraus lösen können.

Natürlich nicht. Aber wir haben Erfahrung mit Spendensammeln und EU-Förderung. Wir bieten Gemeinden oder Liftbesitzern an, einen Projektentwurf auszuarbeiten oder auch die Projektleitung zu übernehmen. Und am liebsten erstellen wir auch gleich alternative Konzepte, da wir dem Lifttourismus wegen des Klimawandels ohnehin keine Zukunft mehr geben. Das Paradebeispiel für einen gelungenen Rückbau in Deutschland ist die Renaturierung des Skigebiets Gschwendner Horn in Immenstadt. Heute ist der Berg ein beliebtes Ziel für Wanderer und Skitourengeher. INTERVIEW: WOLFGANG ALBERS

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Wir bereuen nichts Fotos: R. Schmid/Bildagentur Huber; Tiroler Oberland & Kaunertal, Tourismusverband

Vor 25 Jahren wurde das Gletscherskigebiet im Tiroler Kaunertal erschlossen. Das befürchtete Remmidemmi blieb aus VON PETER HAYS

Füssen

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D E UTSC H L A N D GarmischPartenkirchen

Reutte

187

179

Fernpass

L e c h ta l e r Alpen

Ö STE R R E IC H A 12

Landeck Prutz

Innsbruck

T i r o l

Kaunertal

Stubaier Alpen

Feichten 180

StauseeGepatsch Weißseegletscher

I TA L I E N 15 km

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26 KILOMETER LANG windet sich die Straße in 29 Kehren hinauf zum Gletscherskigebiet unter der Weißseespitze (Bild rechts außen)

farrer Hubert Rietzler wirkt nicht so, als ob er etwas zu beichten hat. Die Frage, ob der fast ganzjährige Wintersportbetrieb in seiner Gemeinde auch kritische Geister, um nicht zu sagen Widerständler auf den Plan gerufen habe, quittiert er mit mildem Lächeln und einem Kopfschütteln. Eher wittert er einen Zweifler in dem Mann, der nach 25 Jahren wieder ins Kaunertal kommt, um zu schauen, was geworden ist seit damals. Damals hatten die Kaunertaler ihren Weißseegletscher skitouristisch erschlossen und dafür viel verbale Prügel bezogen. »Weißgoldgräber« wurden ausgemacht, »profitgierige Spekulanten und kurzsichtige Dorfpotentaten« ebenso wie »Geschäftemacher, die das Kaunertal verkrüppeln«. Mit »Flachland-Industriellen, die etwa Chemikalien in den Rhein schütten«, wurden die Kaunertaler verglichen. Der Mann hatte sie gegen die polemischsten Kritiker verteidigt und in der ZEIT geschrieben: »Für Fremde sind die Kraxelberge nur schöne Staffage, ein Einheimischer muß von ihnen leben wie der Fischer vom Meer.« Jetzt ist er wiedergekommen, um zu sehen, ob das Urteil damals einen Tick zu blauäugig war. Ortspfarrer Rietzler, im 1275 Meter hoch gelegenen verschneiten Feichten, kann wohl keiner verdächtigen, der »allmächtigen Seilbahnlobby« anzugehören, die der Volkskundler und Schriftsteller Hans Haid überall in Tirol ortet. Auf einer Skala, die von Unmut bis Groll reicht, prangert Haid seit Jahrzehnten die skizirzensische Entwicklung im Tiroler Oberland an. Aber als Kaunertaler Gewissenshüter, noch dichter dran am Geschehen als Haid, konnte Hubert Rietzler bislang unter den Einheimischen keine Reumütigen entdecken, die bedauern, dass oben auf dem Gletscher nun die Snowboarder und Carver unterwegs sind. Er entbietet ein wie aus Alpenfels gehauenes Statement: »Die Kaunertaler schuften fast allesamt im Fremdenverkehr. Das ist ein Imperativ für sie. Die unnachgiebige Härte der alpinen Natur legt ihnen nach wie vor den Existenzkampf mit in die Wiege.«

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Der Pfarrer freut sich über die bunten Schmetterlinge im Schnee Der Geistliche verweist auf die Talchronik. Die wird, fährt man von Feichten aus die 29 Kehren der 26 Kilometer langen Mautstraße ins Gletschergebiet hoch, siedlungsmäßig veranschaulicht. Links, auf etwa 1400 Meter, ist der letzte bergbäuerliche Hof, bewirtschaftet von der Familie Stadlwieser, zu sehen. Rund 200 Höhenmeter weiter oben liegen verwitterte Grundmauerreste verstreut auf einer Hochwiese. Hier lebten einmal alteingesessene Almbauerndynastien – bis sie Mitte des 19. Jahrhunderts, als man die Bäche noch nicht regulierte, von ständigen Muren und Lawinenabgängen vertrieben wurden. Ganze Familien wanderten bis ins Elsass aus, wo sie sich etwa als Zimmerleute verdingten. Damals zählte das ganze Kaunertal nur noch 330 Einwohner. »Aber heute«, resümiert Pfarrer Rietzler, »dank Tourismus, der fast alle hier ernährt, ist die Bevölkerungszahl wieder auf 600 gestiegen. Und unser Vereinsleben floriert wieder. Rund sechzig Leut’, also etwa jeder Zehnte, spielen zum Beispiel bei der Kaunertaler Musi’ mit.« Zäh wie die Zirbelkiefer, die hierzulande bis auf 2500 Meter gedeiht und selbst 40 Grad minus überlebt, wirkt Hubert Rietzler. Längst habe er die siebziger Marke im Lebensslalom umwedelt und genieße, als Brettlrutscher der alten Tiroler Schule, auch mal selbst den Ferner, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Er erinnert sich noch gut, aber nicht wehmütig an die sanft geschwungenen, jungfräulichen Schneepolster der Gletscherregion, bevor diese von 1980 an mit einem Geflecht von Sessel- und Schlepplifts überzogen wurde. Heute gibt es dort oben einen Funpark mit Halfpipe und Obstacles für die Snowboarder, die etwa ein Drittel aller Wintersportler im Kaunertal ausmachen. Das übrige Brettlvolk findet ein Tummelrevier in der Größe eines Weilers mit den

Fichtenholzhütten der Skiverleiher, den Aufwärm-Iglus der Skischule und einem Panoramarestaurant mit Freeflow, sprich Selbstbedienung. Zurzeit schreibt der Dorfpfarrer an einer Version des göttlichen Schöpfungsakts, die im Kaunertal spielt: »… und ziemlich bald nach dem Licht schuf Er die Bewegung …« Das könne man auch auf jene Skifahrer, Snowboarder und Freerider münzen, die selbst im Sommer zum hochalpinen Carven und Powdern kommen: »Ein herrlicher Anblick droben auf dem Firn und Bruchharsch. Die kommen mir vor wie ein Schwarm bunter Schmetterlinge.«

Vor dem Hotel Kirchenwirt dampfen die Misthaufen Freilich muss auf derlei unerwarteten Enthusiasmus, wenn auch aus glaubwürdigem Munde, der eigene Lokalaugenschein in Feichten folgen. Investigativer Eifer ist in diesem recht kompakten Dorf auch heute nicht vonnöten. Vom Ortsbild geht für jedermann sofort die Botschaft aus: Die von Hans Haid etwa im Ötztal gesichtete »Beleidigungs-Architektur« hat bislang nicht Einzug gehalten. Keine paar Dutzend Meter vom vornehm, aber altbewährt mit Zirbenholz getäfelten Hotel Kirchenwirt dampfen die Misthaufen. Almbauer Edi Lentsch schaufelt den Schnee vorm Stall, in dem sein Grauvieh überwintert. Kleine Zeichen neuen Wohlstands gibt’s zwar schon, wie die prächtig geschnitzten Balkone an einem Chalet, die sein Besitzer morgens penibel schneefrei bürstet. Doch insgesamt ist die Skyline der Hotelfirste so niedrig und dem Lokalkolorit angepasst, dass selbst ein zurückgekehrter Auswanderer nicht übermäßig staunen würde. Auch die paar Après-Schuppen wie Zappa Dello oder die niedliche kleine Pfiffalm deuten an, dass die unter dem Dachbegriff »Porno alpin« etwa von Hans Haid in Sölden gesichtete »Dreiheit Ski, Sex und Suff« sich hier nur schwerlich entfalten könnte. Eher typisch für Feichten sind (im Sommer) die »Fledermausnächte«, bei denen Gäste das Nachtleben der Fauna im Naturpark kennen lernen. Und Triebhaftigkeit ohne Hüllen bieten allenfalls die einheimischen Steinböcke während ihrer Brunstzeit – falls man ein gutes Fernglas dabei hat. Nachdem die Steinböcke schonungslos dezimiert worden waren, auch durch die Kaunertaler selbst, die von der Armut zum Wildern getrieben wurden, ließ man ab Mitte des 20. Jahrhunderts via Pitztal neues Wild einwandern. Heute hat sich die Steinbockbevölkerung auf etwa 500 vermehrt. Sollten die Kaunertaler also, anders als in manchem Tiroler Remmidemmi-Tal eine geschickte Balance zwischen Naturschutz und skiwirtschaftlichen Interessen gefunden haben? Eugen Larcher ist Feichtener Altbürgermeister, Kirchenwirt, Geschäftsführer der Gletscherbahngesellschaft und nicht zuletzt seit seiner Jugend leidenschaftlicher Bergsteiger. Als »Niederschlagsbeobachter« der Tiroler Wasserwerke war er früher bis auf einer Höhe von 3300 Metern unterwegs und kennt sich aus mit Bergen und Lawinen. Bei denjenigen, die ihm skilifttechnischen Overkill vorwerfen, gilt er als einer der besagten »Weißgoldgräber«. Steigt er, um sein Weißgoldvermögen nicht zu deutlich zu zeigen, erst unten im Inntal in eine standesgemäße Limousine? Der Larcher Eugen lächelt: »Na, mehr als diesen gebrauchten BMW, günstig gekauft, hob i’ net.« Bislang wurden »zirka vierzig Millionen Euro« in die Gletscherbahnen investiert, und noch seien die Eigentümer, Talgemeinden und deren Agrargemeinschaften, von keinem Tröpfchen jener Profitniederschläge berieselt worden, von denen immer wieder gemunkelt wird. »Vor sechs Jahren, nach dem Lawinenunglück in Galtür, gab’s auch im Kaunertal einen Imageverlust. Wir haben damals eine Durststrecke durchgemacht. Die Pitztaler Liftkollegen haben uns aus der Klemme geholfen durch den Kauf von Anteilen bei uns. Inzwischen schreiben wir, bei optimistischer Bilanzierung, eine schwarze Null.«

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Einem Bergkenner wie dem Eugen Larcher entlockt man auch ohne Tarn-Skimütze eines Schneeund Eis-Wallraffs durchaus Selbstkritisches. Er macht keinen Hehl aus den Fauxpas der ersten GletscherskiJahre: »Da haben wir zum Beispiel die ContinentalLeute ihre Reifentests direkt auf dem Ferner machen lassen. So was ist mittlerweile tabu. Frostschutz- und Schneekettentests machen die Hersteller jetzt nur noch auf der Straße.« Er zeigt zur linken Hand auf den Gepatschfener: »In etwa hundert Jahren ist der um rund zwei Kilometer zurückgewichen.« Ist das nicht Schmelzwasser auf die Mühlen des Hans Haid, der »die touristische Nutzung« des nur bedingt ewigen Eises, »um die Skilaufhorden zufrieden zu stellen«, scharf kritisiert? »Wir haben bewusst nur ein eng begrenztes Gebiet erschlossen«, kontert Geschäftsführer Larcher, »lediglich etwa fünf von unseren insgesamt zweihundert Quadratkilometern.« Und der Einsatz von 17 Schneekanonen auf dem Ferner, trägt der nicht zum Treibhausklima bei? »In den letzten grünen Wintern«, erklärt der Lawinenexperte, »waren die ein wichtiger Sicherheitsfaktor. Mit ihnen konnten wir den ersten spärlichen und damit lawinenträchtigen Schwimmschnee festigen. Gletscherschmelzende Wärmeperioden sind global, nicht lokal bedingt. Die hat’s immer wieder gegeben. Beim Bau der Mautstraße vor fünfundzwanzig Jahren haben wir fünftausend Jahre alte Zirbelbaumreste unterm Eis ausgegraben.«

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Auf dem Dach des Kaunertals haben vor dem Gletscherrestaurant Weißsee, auf 2750 Meter Höhe, Pfarrer Rietzlers bunte Schmetterlinge hundertfach ihre Geräte im Tiefschnee aufgepflanzt. Zusammengerechnet landen pro Jahr etwa 300 000 auf dem Ferner. 32 Kilometer an Pisten sind auf einer Höhe zwischen 2150 und 3160 Metern trassiert. Das klingt doch nach Sättigungszahlen. Warum also plant die Gletscherbahnen GmbH eine »Zu- und Rückbringerbahn« auf die 3535 Meter hohe Weißseespitze? »Wir brauchen so einen hohen Lift für den Herbst, wenn die vielen Mannschaften bei uns trainieren, und für den sonnigen Firnschnee-Frühling. Ohne die beiden Jahreszeiten geht die Rechnung nicht auf – bei unserer niedrigen Gästebettenzahl.« Denn in der Bettenliga der Tiroler Gletschergebiete sei man absolutes Schlusslicht: mit 1700 weit hinter dem Stubaital (8000), dem Ötztal (10 000) oder dem Zillertal (30 000). Zur Beruhigung gibt der Umweltschützer Larcher ein paar Neuigkeiten mit auf den Weg ins Flachland. Unlängst wurde der Betrieb der Bergstation von Diesel auf Hydrostrom vom Stausee umgestellt. Und: »Demnächst kommen Solarzellen aufs Dach des Gletscherrestaurants.« Was erneuerbare Energie angeht, da ist das Kaunertal ganz vorn mit dabei.

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ANREISE: Mit dem Auto über Füssen und Reutte oder München–GarmischPartenkirchen zum Fernpass und dann via Landeck und Prutz zum Kaunertal. Mit der Bahn bis Landeck und weiter mit dem Postbus über Prutz nach Feichten

GLETSCHER: Die 26 Kilometer lange Mautstraße von Feichten (von 7 bis 17 Uhr offen) zum Gletscher wird regelmäßig geräumt, Winterreifen sind ein Muss. Wer einen Skipass hat, zahlt keine Mautgebühr. Die Tageskarte kostet 33 Euro in der Hauptsaison, der Skipass für vier Tage 111,50 Euro, für sieben Tage 164 Euro UNTERKUNFT: Doppelzimmer mit Frühstück im Privatquartier pro Person zwischen 17 und 30 Euro, im Hotel mit Halbpension zwischen 29 und 105 Euro. Ferienwohnungen zwischen 26 und 95 Euro pro Tag

PAUSCHALEN: Zahlreiche Angebote, etwa vom 4. 2. bis 7. 4. donnerstags bis sonntags drei Übernachtungen, Drei-TageSkipass, Skibus, Mautgebühr ab 165 Euro AUSKUNFT: Tourismusverband,

i Die Österreich-Ausgabe der ZEIT online lesen. www.zeit.de

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Information

Tel. 0043-5475/29 20, www.kaunertal.com

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Foto[M]: Christoph Papsch/Das Fotoarchiv; Anja Haegele (u.)

Der Weg des Drachen

Sonnenuntergang in Halong. Der Legende nach bilden die KARSTFELSEN eine Drachengestalt

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Eine Dschunkenfahrt durch die Halong-Bucht im Norden von Vietnam VON ANJA HAEGELE

CHINA MYANMAR

LAOS

HalongBucht

THAILAND

KAMBODSCHA

An, 24, Nickelbrille, ist Reiseleiter und Schiffs-

manager auf der Dschunke Jewel of the Bay, einem hölzernen Drachenboot mit roten Segeln und drei Decks für acht Passagiere. Drei Tage lang werden wir mit An und der Jewel of the Bay durch den HalongNationalpark schippern, der 1994 von der Unesco zum Weltnaturerbe erklärt wurde. Ally aus Maine, Mitte zwanzig, ist auf Hochzeitsreise mit Tim aus Manchester. Trish und Ralph kommen aus Albany, Westaustralien. Außerdem ist Patricia mit an Bord: Sie betreibt mit ihrem Mann in Sydney ein erfolgreiches Kleinunternehmen; die beiden verkaufen Gartenbewässerungsanlagen. Am besten, so lernen wir auf dieser Reise, bewässert man Gärten unterirdisch. Da kann man literweise Wasser sparen, denn beim herkömmlichen Sprengen verdunstet viel zu viel davon. »Das Geld, das die unterirdische Bewässerung kostet, hast du nach zwei Jahren wieder drin, weil du so viel Wasser sparst«, erklärt Patricia. Wir beziehen unsere Kabinen: zwei Betten, ein Duschbad, schlichte, helle Rattanmöbel, die im

Hanoi

g kon Me

s war ein Drache«, beharrt An, unser vietnamesischer Fremdenführer. »Ein Drache ist vom Himmel gestiegen, um unser Land vor den Invasoren zu schützen. Dabei hat er mit seinem mächtigen Schwanz wie ein Wilder um sich geschlagen und das Land in tausend Stücke zerschmettert. Danach kam sein Verbündeter, das Meer. Es hat das Land überschwemmt und die Feinde ertränkt.« Nach dem apokalyptischen Spektakel blieb eine der schönsten Landschaften der Welt: Halong. Eine Bucht im Chinesischen Meer, 1500 Quadratkilometer groß im Norden Vietnams gelegen, mit mehr als 3000 Skulpturen aus Stein – Felseninseln in den unglaublichsten Formen. Mal glatt poliert, mal zerklüftet und schroff, einige kahl, die meisten mit Urwald bewachsen. Die meisten Felsen sind hohl, in ihren steinernen Bäuchen verbergen sich Tropfsteinhöhlen und Lagunen. Es gibt natürlich eine wissenschaftliche und recht prosaische Erklärung für die Entstehung der Bucht: Einsickerndes Regenwasser hat im Laufe von Jahrmillionen den porösen Kalkstein ausgewaschen. Geblieben sind nur die härteren Gesteinsschichten, bizarre Kegel, löcherig wie kariöse Zähne, deren innere Hohlräume in sich zusammenbrachen, Grotten bildeten und unterirdische Seen. Karstlandschaft nennen das die Geologen. »Nun ja«, gibt An zu, »das mag schon sein. Aber seht doch mal, die Landkarte. Ihr müsst zugeben, wenn man die Augen zusammenkneift und alle Inseln der Bucht zusammen betrachtet, haben sie die Form eines Drachen. Hier: Flügel, Körper und der Kopf mit der langen Nase!«

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Hainan

Südchinesisches Meer

VI ETNAM

500 km

Information ANREISE: Vietnam-Airlines fliegt dienstags und freitags ab Frankfurt direkt nach Hanoi. Tickets ab 760 Euro inklusive Gebühren DSCHUNKENFAHRT: Die »Jewel of the Bay« gehört Buffalo Tours. Über das Internet gebucht (www.buffalotours.com), kostet die Drei-TageKreuzfahrt inklusive Anreise von Hanoi, Unterkunft in der Zweibettkabine und Vollpension circa 190 Euro. Deutlich günstiger werden diese oder ganz ähnliche Touren in zahllosen Reisebüros in Hanoi verkauft. Auch deutsche Veranstalter, die Thailand im Programm haben, bieten als Baustein Dschunkenfahrten an

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Kontrast zum dunklen Holz der Dschunke recht elegant wirken. Dann holt An zu ein paar grundsätzlichen Erklärungen aus. Die meisten Touristen fahren nur für einen Tag nach Halong, manche buchen eine Nacht auf einer Dschunke. Aber drei Tage, »das ist Spitze! Da werdet ihr ordentlich was zu sehen bekommen«, verspricht An, der englische und russische Literatur studierte, bevor er den Job als Reiseleiter ergattert hat. Außer An und dem Kapitän sind fünf weitere Vietnamesen an Bord, Matrosen, die auch für die Gäste kochen. Das können sie überraschend gut. Zwar gibt es mittags und abends die immer gleiche Speisenfolge, nämlich Krebs, Tintenfisch, Languste, Barsch, Hühnchen und Obst als Nachtisch – doch jedes Mal sind die Grundzutaten anders gewürzt: pikant, mit Zitronengras und Chili, süßlich, mit Ingwer und Karamell, scharf, mit Fisch- und Chilisauce, würzig, mit Erdnuss-Pflaumensauce oder schlicht, mit Salz gegrillt. Dazu wird Reis gereicht und vietnamesischer Wasserspinat. Aus Paprika schnitzen die Matrosen hübsche kleine Schwäne, Möhren werden zu Pagoden, Tomaten zu üppigen Rosen und Birnen zu etwas, das Patricia an Sydneys Opernhaus erinnert. Ihr missfällt diese Form der Dekoration: »Meinem Sohn würde ich es jedenfalls verbieten, so mit dem Essen zu spielen«, sagt sie. Es ist diesig in Halong, die tropische Sonne setzt sich nicht gegen die extreme Luftfeuchtigkeit durch. Der Dunst macht die Landschaft noch geheimnisvoller. Immer mehr, immer neue Felsen tauchen auf, scheinen sich vor- und ineinander zu schieben. Manchmal ist die Fahrrinne zwischen zwei Inseln extrem schmal, dann wieder öffnen sich weite Buchten, die den Blick freigeben auf weitere Inseln am Horizont. Ohne Karte und Kompass wäre man in diesem Labyrinth wohl verloren. Nur ein paar Meter weiter sieht derselbe Felsen oft ganz anders aus, was gerade noch rund und sanft war, ist nach einem Perspektivwechsel eckig und schroff. Doch obwohl sie nur aus Wasser und Fels besteht, ist die Komposition dieser Landschaft nie eintönig. Es ist beinahe meditativ, den Felsen dabei zuzusehen, wie sie im Nebel an der Dschunke vorbeigleiten, immer wieder gleich und immer wieder anders. Wir nähern uns Hang Sung Sot – der 10 000 Quadratmeter großen »wunderbaren Höhle«. Am winzigen Pier liegen bereits zwei Dutzend andere Dschunken. Der Kapitän vertäut die Jewel of the Bay in vierter Reihe. An turnt flink über die Decks und Geländer an Land, winkt uns mit großer Gestik und beobachtet vom Pier aus kichernd, wie schwerfällig seine Gäste von Bord kommen. Mehr als zweihundert Stufen sind es bis zur Höhle, und in der Hitze vergeht beim Treppensteigen selbst An das Lachen. In den Grotten ist es kühl, Kondenswasser tropft von den Decken. An zeigt uns

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Stalagmiten, die Buddha heißen und Krokodil, sie sind in grellen Gelb- und Grüntönen angestrahlt. Ein anderer Tropfstein hat die Form eines riesigen Phallus, er ist pinkfarben beleuchtet, und An weicht Fragen nach diesem Stalagmiten schamhaft aus. An den Wänden der Grotte haben Vietcong, die sich während des Krieges hier versteckten, Durchhalteparolen hinterlassen. In einer anderen, noch größeren Höhle war damals eines der wichtigsten Lazarette Nordvietnams eingerichtet. Hier waren die Verletzten sicher vor den amerikanischen Bomben. Und heute wie damals nutzen Fischer die hoch gelegenen Höhlen als Schutzräume vor plötzlichen Fluten oder Taifunen. Mehrere Wochen können sie hier wohnen, denn das Sickerwasser, das in kleinen Seen in den Höhlen steht, ist trinkbar. Für die Nacht steuert der Kapitän einen der drei offiziellen Ankerplätze an. Es gibt strenge Regeln im Nationalpark, wild übernachten darf hier niemand, und Müll muss am Festland entsorgt werden. In kleinen Booten kommen Händler, die im Stehen rudern, an die Dschunken, holen den Müll ab und bieten ihren Fang des Tages sowie Obst und Gemüse an. Mehr als 2000 Menschen wohnen dauerhaft im Halong-Nationalpark. Allerdings bietet allein Cat Ba, die Hauptinsel, besiedelbare Fläche, die anderen Inseln sind so klein, felsig und steil, dass die meisten Fischer sich aus leeren Ölkanistern und Brettern Flöße bauen, auf denen sie bunte kleine Häuser errichten. Auf den meisten Häusern flattert die Flagge Vietnams: gelber Stern auf rotem Grund. Beim Abendessen verrät uns Ralph, dass er schon einmal im Land war. »In den Sechzigern, während des Krieges.« Das Gespräch verstummt. Keiner von uns hätte Ralph mit seinem muskulösen Körper für so alt gehalten. Und die meisten von uns wussten nicht, dass 50 000 australische Soldaten im Vietnamkrieg waren. Erst jetzt, fast vierzig Jahre später, und nachdem er fast die ganze Welt bereist hat, wagte Ralph, erneut nach Vietnam zu kommen. Trish begleitet ihn nur für ein paar Tage, den Rest der Zeit ist er allein unterwegs, mit sich und seinem Trauma. Vom Krieg aber sei, außer in den Museen, nicht mehr viel zu sehen. »Zum Glück.« Ralph will nicht weiter darüber reden. Stattdessen erzählt er uns, wie er sich vergangene Woche mit Reisbauern angefreundet hat. Er wollte den schmächtigen Vietnamesen mit den schweren Körben helfen, die sie an beiden Enden einer Bambusstange über der Schulter schleppten. »Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, wie sie das machen: Sie nutzen die Schwerkraft aus! Jedes Mal, wenn die Stange nach unten fällt, bleiben sie kurz stehen. Dann federt die Last zurück, und diesen Moment der Schwerelosigkeit nutzen sie, um einen oder zwei Schritte zu laufen. Deshalb sieht es

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immer so aus, als würden sie traben.« Wir verstehen das Prinzip nicht ganz, deshalb steht Ralph auf und führt uns ein paar Schritten vor – es ist der typisch eilige Asiatentrab. Früh morgens lässt An Kajaks ins Wasser. Wir wollen der aufgehenden Sonne entgegenpaddeln. Vom Wasser aus sehen die Felsen noch größer und steiler aus, und je mehr man sich ihnen nähert, desto besser erkennt man, wie das Salzwasser ihre Fundamente anfrisst: Dort wo die Wellen an den Stein schlagen, ist er bis zu einen Meter schmaler als weiter oben. »Immer mal wieder kommt es vor, dass eine Insel einfach umfällt«, sagt An. Ohne das Motorengeräusch der Dschunke hören wir Affen auf den Felsen schreien. Wir sehen Reiher, Kormorane und die schwarzen Krabben, die zu Hunderten über die Klippen wuseln. In einem Felsen öffnet sich, wie ein Tor, eine riesige Höhle. Wir paddeln ins Dunkel. Mit einem zirpenden Geräusch ruft An die Fledermäuse, die hier nisten. Die Tiere antworten. Nach einer Weile sehen wir Licht. Die Höhle ist in Wahrheit ein Tunnel, der zu einer Salzwasserlagune im Inneren der Insel führt. Vor Tausenden von Jahren war dies keine Lagune, sondern eine Höhle, so lange, bis ihre morsche Decke zusammenbrach. Beinahe kreisrund ist die Lagune, von der Außenwelt durch die mehr als hundert Meter hohen Felsen abgeschirmt. Es ist beinahe unheimlich, als in dieser Idylle auf einmal die Sonne durch den Dunst bricht. Das türkisgrüne Wasser ist spiegelglatt und glasklar. Nicht einmal Patricia spricht mehr. Durch einen noch engeren Tunnel paddeln wir zurück ins offene Meer. Der Knoten im Hals löst sich erst, als Tim sich den Kopf stößt. »Hey, mach die Felsen nicht kaputt«, scherzt An. Die Route, die wir auf unserer Tour gefahren sind, hat An in die Landkarte eingezeichnet. Obwohl die Dschunke große Strecken zurückgelegt hat, haben wir nur einen winzigen Teil von Halong gesehen. Ein letztes Mal sitzen alle auf dem Sonnendeck. Tim und Ally spielen Steineraten. Es geht darum, den Felsen Namen zu geben, die möglichst gut zu ihrer Form passen: Pyramide, Kaffeekanne, Elefant, Schildkröte … Einen kleinen, geduckten Felsen, auf dem wie ein Krönchen ein einzelner Baum wächst, taufen wir Froschkönig. Da mischt sich An ein, der das Spiel bisher nicht mochte. Er zeigt auf eine Felsformation am Horizont, einen schmalen, gebogenen Rücken und zwei kleinere Kegel, direkt davor. Es könnte ein Krokodil sein, das in der Sonne döst. Aber weil An uns mit weit aufgerissenen Augen und freudiger Erwartung in der Stimme fragt »Na, was ist das für ein Felsen?«, antworten wir wie einstudiert: »Ist doch klar, An. Das ist der Drache!«

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nterwegs zu Rembrandt. Vorbei an Großmarkthallen, an graugrünen Wiesen, an schnurgeraden Wasserwegen, wo ein paar Fischreiher in konzentrierter Anspannung lauern. »Zu Rembrandt? Nichts leichter als das«, hatte der Mann vom Museum am Telefon gesagt, »nehmen Sie den Hauptausgang am Leidener Hauptbahnhof; gehen Sie immer geradeaus durch die Fußgängerzone, und wenn Sie McDonald’s an der rechten Seite sehen, nach links, nur fünf Minuten, dann sind Sie an der Lakenhalle.« Leidens Fußgängerzone ist eine Einkaufsmeile, billig, banal und nichtssagend. Ein meterhohes Transparent zwischen Bankgebäuden und Handelskammer verkündet: »In Leiden sah Rembrandt das Licht.« Links und rechts sieht man nur Leuchtreklamen. Aber schon ein paar Schritte weiter öffnet sich eine andere Perspektive: der Oude Singel, eine Grachtenstraße in westöstlicher Richtung mit Treppengiebelhäusern und glänzenden Fensterscheiben steht da wie ein Zitat aus dem Bilderbuch der Geschichte und mittendrin nüchtern, barock, zurückhaltend und prächtig zugleich die Lakenhalle, die Tuchhalle, in der sich die Herren der feinen Stoffmanufaktur trafen. Der Wind spielt mit leise schwankenden Spiegelbildern im dunklen Wasser. Über den Dächern erheben sich die Türme und Kuppeln der Altstadt, von einer Brücke aus geht der Blick auf Windmühlenflügel. Könnte es so gewesen sein vor 400 Jahren, als Leiden nicht irgendeine mittlere Großstadt mit Imageproblemen am Rande der Touristenrouten war, sondern die stolze, reiche Rivalin von Amsterdam?

Rembrandts Leiden

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40 km Wes tfr ie

Damals hatte die Hansestadt am Flüsschen Rijn trotz spanischer Belagerung und Hungersnot den Kampf um die Freiheit gegen die katholische Übermacht schon gewonnen, war aufgestiegen zur Metropole der Lakenherstellung im alten Europa, auserwählt und weithin bekannt als Sitz der ersten Universität der nördlichen Niederlande. In Zeiten der Religionskriege setzten die Stadtväter in schönem Selbstverständnis auf Mercurius und Minerva als neue Schutzpatrone. Handel und Weisheit statt Krieg und Verderben lautete die Parole. So sollte das Goldene Zeitalter beginnen, als Rembrandt van Rijn im Juli 1606 in einem kleinen Haus am Weddesteeg, direkt neben der elterlichen Mühle, am Rande von Leiden das Licht der Welt erblickte. Er war der jüngste Sohn, das neunte von zehn Kindern einer Familie, die als Müller und Bäcker ihr Brot verdient hatte und im ersten Aufschwung des 17. Jahrhunderts Land aufkaufte, Mietshäuser bauen ließ und Ansehen in der Stadt erwarb. Seine Brüder Willem, Adrian und Gerrit wurden Schuhmacher, Kornträger und Müller. Den jungen Rembrandt schickten die Eltern auf die Lateinschule und schrieben ihn, kaum war er 14, für das Studium der Literatur an der Universität ein. Offensichtlich galt er als begabt, offensichtlich wollten die Eltern das Beste für den Jüngsten. Aber, so meldet der Chronist der Stadt im Jahre 1641, »da er ganz und gar keine Lust oder Geneigtheit« zum Studium zeigte, »dagegen all seine natürlichen Bewegungen zur Malerei und Zeichenkunst strebten, sahen sie sich genötigt, ihren Sohn aus der Schule zu nehmen und ihn nach seinem Begehren unterzubringen bei einem Maler.« Drei Jahre Lehrzeit beim »Höllenmaler« Jacob van Swanenburgh in Leiden, ein paar Monate Weiterbildung beim Historienmaler Peter Lastmann in

VON ELISABETH WEHRMANN

Fotos: Niederländidches Büro für Tourismus & Convention

Seine Brüder wurden Schuhmacher, Kornträger und Müller

Die Geburtstadt des niederländischen Malers erinnert mit einer großen Ausstellung und einem Spazierweg an den Beginn der goldenen Zeiten

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NIEDERLANDE

Nordsee Amsterdam Den Haag

Enschede

Leiden

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Eine Fibel führt auf des Malers Spuren durch Leiden. Die »ALTE FRAU LESEND IN EINEM BUCH« ist in der Lakenhalle zu finden

BELGI EN Brüssel

Köln

Information AUSSTELLUNG: »Rembrandts Mutter, Mythos und Wirklichkeit«; De Lakenhal, bis 19. März, Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr; Eintritt: 10 Euro; www.lakenhal.nl. Auskunft über weitere Ausstellungen und Ereignisse: Tel. 0031-71/ 516 58 74, www.rembrandt400-Leiden.nl UNTERKUNFT: Hotel Valk (Haagse Schouwweg 14, Tel. 0031-71/573 17 31) 69,50 Euro pro Person Übernachtung im Doppelzimmer, 3-Gänge-Menü, Eintritt Lakenhalle; im kleinen Jugendstil-Hotel Marienpoel (Marienpoelstraat 1 a, Tel. 003171/528 35 39, www.marienpoel.com) Doppelzimmer mit Eintritt Lakenhalle 125 Euro

AUSKUNFT: Niederländisches Büro für Tourismus, Tel. 01805-34 33 22, www.holland.com

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Amsterdam, und Rembrandt kehrte zurück nach Leiden, wohnte wieder zu Hause und zeichnete und malte alte Männer, alte Frauen in historischen Szenen, in biblischen, in zeitgenössischen Gewändern. Eindeutig Rembrandts Vater, eindeutig Rembrandts Mutter, fanden die Kunstkenner des 18. und 19. Jahrhunderts. Im frühen 20. flimmerte die ganze Familie heroisch und herzergreifend dramatisch über die Kinoleinwand; in den letzten 30 Jahren dominieren die Zweifel, denn Belege gibt es nicht. »An dieser Stelle wollten wir einsetzen«, erklärt Christian Vogelaar, der Kurator des Städtischen Museums Lakenhalle. Es gehe darum, im großen Fest zum 400. Geburtstag (22 Ausstellungen allein in den Niederlanden, dazu Rembrandt in Eis, Rembrandt im Musical, Rembrandt im Symposium und andere Spektakel) gleich zu Beginn ein symbolisches Zeichen zu setzen: »In der Vaterstadt Leiden eine Ausstellung über Rembrandts Mutter – Mythos und Wirklichkeit; zurück zu den Anfängen!« Zu den Mutter- und Vatergestalten. Kein schöneres Haus für Rembrandts Bilder wäre zu finden als die Lakenhalle zu Leiden. Das Licht fließt, der historische Kontext stimmt. Hier residierten zu Rembrandts Zeit die königlichen Kaufleute einer jungen Republik, die keinen König mehr brauchte. Im Foyer blühen frische Blumen. Wo ehedem aus den Färbereien der Gestank von Urin herüberwehte, duftet heute frischer Kaffee. Ein erster Blick: wenig Menschen, große Räume, 90 gut gehängte Exponate. Zweiter Blick: so viel Alter war nie; nie so viel auf einmal, so konzentriert, so viele Falten, so tiefe Runzeln, so arge Krähenfüße, eingefallene Mundwinkel, spitze Nasen, alte Augen. Im Katalog findet sich das Zitat des Rembrandt-Zeitgenossen, Joachim von Sandrart, der 1675 in der »Teutschen Akademie« erklärte: »In der Ausbildung alter Leute und derselven Haut und Haar zeigte er einen groszen Fleisz, Geduldt und Erfahrenheit, so dasz sie dem einfältigen Leben ganz nahe kamen.« Auf dem Bild aus dem Jahre 1631 mit dem Titel Alte Frau lesend in einem Buch sitzt sie, die vielleicht Rembrandts Mutter war, vor leerem dunklem Hintergrund, das Licht fällt von links oben auf ihr golddurchwirktes Kopftuch, auf den warmen burgunderroten Stoff ihres Gewandes, auf die große Bibel in ihrem Schoß. Die Augen und die rechte Hand folgen den Buchstaben, der Mund ist leicht geöffnet, so, als sei sie dabei, die Worte leise mitzusprechen. Eine in sich ruhende Einheit, die fast tastbare zärtliche Andacht zwischen Frau und Buch entfaltet sich wie sonst nur die zwischen Mutter und Kind, zwischen der katholischen Madonna und ihrem Erlösersohn. Eine ähnlich konzentrierte Aufmerksamkeit zeigt ein kleines Porträt eines Mannes. Der »alte Mann, der sein Geld zählt« blickt mit hochgezogener Stirn, mit leicht geöffnetem Mund auf die Münze, die er in der rechten Hand hält, betrachtet sie, prüfend, andächtig, so wie einstmals der katholische Priester die Hostie bei der Wandlung betrachtete. In Leiden mochte die alte Frau als Allegorie des Glaubens, der alte Mann als Sinnbild des Geizes, die eine als Vorbild, der andere als Warnung verstanden werden. Im ganz realen Aufbruch des Frühkapitalismus aber, im »geldsüchtigen Amsteldam«, wo »ein heilloses Volk zum heiligen Gold« strebte (wie ein dichtender Zeitgenosse klagte), hatte der Wertewandel schon stattgefunden. Postmodern gesagt: Geiz war geil. Beide Gemälde sind in Leiden entstanden, wo man heute auf den Spuren des jungen Malers durch die alte Stadt spazieren kann. Dazu gibt für 2,95 Euro eine Karte des berühmten

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Kupferstechers Joan Blaeu aus dem Jahr 1669 und eine Fibel voller Erklärungen aus dem Jahr 2005 auf Englisch und Niederländisch. Zwölf Stationen im Leben und Wirken von Maler und Stadt sind eingezeichnet. Mit etwas Mühe lässt sich der vorgezeichnete Weg finden. Leichter und sicherlich genauso schön ist es, sich im Gewimmel und Gewusel zwischen Fischbrücke, Grünhasengracht, Muskadellensteg, Korbmachergasse, Apothekerdeich, Aalmarkt und Frauenkirchenchorgasse zu verlaufen. Unterwegs, auf der Langebrug, wäre ein Haus mit Namen Gekrönte Liebespforte zu entdecken, in dem der Maler Jan Steen wohnte, und gleich nebenan Nummer 89 das Haus des Rembrandt-Lehrers Swanenburg. Wer durch die blanken Fenster der alten Lateinschule am Schoolsteeg blickt, sieht ein »lebendes Bild« von Schulbuben aus dem 17. Jahrhundert und mitten unter ihnen den jungen Rembrandt. Im Bourhaave Museum, an der Lange Agnietenstraat 10, wo früher das Irren- und Pesthaus stand, ist heute ein Nachbau des Theatrum Anatomicum der Leidener Universität zu sehen; da fanden seit 1596 zur Winterszeit und öffentlich »Leichenzergliederungen« statt.

Wo die Knochen seiner Eltern ruhen, spielen heute Kinder Fangen Irgendwann landet man doch im Weddesteeg, wo ein auffallend alter Stein in einem einfach so dahin gesetzten Neubau angibt, hier sei am 15. Juli 1606 Rembrandt van Rijn geboren worden. Die elterliche Mühle steht nicht mehr. Aber immer noch fließt da in der Nähe der Witte Poort, auch Mors-Poort (Todespforte) genannt, das »Galgenwasser«. Der junge Rembrandt wuchs nicht nur im Schatten der Windmühlenflügel auf, er hatte wahrscheinlich auch einen Ausblick auf die städtische Hinrichtungsstätte, sah gehenkte, tote, verwesende Körper. Ein Eindruck, der ihn noch beschäftigt haben muss, als er auf dem Höhepunkt seiner Karriere in Amsterdam die Anatomiestunde des Doktor Nicolaas Tulp malte, und noch später, als er sich gegen Ende seines Lebens 1664 zum Amsterdamer Richtplatz Volewijk rudern ließ, um Elsje Christiaens zu zeichnen, die, zwischen zwei Balken erdrosselt, am Pfahl hing. Es ist eine kleine Zeichnung, voller Mitgefühl für die 18-jährige dänische Dienstmagd, die in Amsterdam Glück und Geld suchte und dabei umkam. Weithin sichtbar in Rembrandts Leiden und noch heute ein kultureller Mittelpunkt im Leben der Stadt ist die Pieterskerk mit ihrer hohen, großartig leeren gotischen Halle. Die Heiligen sind verschwunden, ein paar Kinder spielen heute Fangen über den Grabplatten, unter denen irgendwo noch die Knochen von Rembrandts Eltern liegen. Die Leere seit dem Bildersturm erzählt von Zerstörung und birgt das Versprechen auf eine neue Zeit: »Ich bin nicht leer, ich bin offen.« Das letzte Gericht des Lucas van Leiden, einst in der Pieterskerk, heute in der Lakenhalle, erinnert noch einmal an die alte, die mittelalterliche Ordnung. Im gleichen Saal hängt ein frühes Historienstück von Rembrandt. Er selbst steht hinter einer Säule, ein junger Mann, der dem jungen Bob Dylan verblüffend ähnlich sieht, und schaut, neugierig beobachtend, auf die Szene, die vor seinen, in seinen Augen zum Welttheater wird. Es ist das erste bekannte Selbstporträt. Eines der letzten, nach dem Bankrott in Amsterdam, zeigt Rembrandt van Rijn als alten Mann. Ohne Kulissen, ohne Bibel, ohne Geld schaut er uns, seine Betrachter, an, wissend, mit sehr traurigen Augen.

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Foto [M]: Ingo Wandmacher

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Information RÄUCHEREI: Rehbehn & Kruse, Jungfernstieg 19, 24340 Eckernförde, Tel. 04351/28 14, www.rehbehn-kruse.de. Führungen nach Voranmeldung (ab 10 Personen) UNTERKUNFT: Hotel & Restaurant Siegfried Werft (Tel. 04351/757 70): Einzel- ab 56, Doppelzimmer ab 72 Euro ohne Frühstück. Strandhotel Kiek in de See (Tel. 04351/29 56), Einzelab 34, Komfort-Doppelzimmer ab 82 Euro

AUSKUNFT: Eckernförde Touristik, Tel. 04351/717 90, www.ostseebad-eckernfoerde.de

Pro Fuhre kommen rund 4000 SPROTTEN, etwa 80 Kilogramm, in den Ofen

Gold am Spieß In Eckernförde lebte man lange vom Fischfang. Noch heute kommt eine Spezialität aus der Ostseestadt – die Kieler Sprotte VON MARTIN DOMMER ine Hand locker am Hosenbund, stehen Kalle und Krischan über dem Eingang des roten Backsteinhauses am Kattsund 26. Lässig lehnen die beiden an einem Schild mit der Jahreszahl 1783. Mit Vollbart und breitkrempigem Hut, der eine ein Ruder, der andere einen Käscher in der freien Hand, geben sich die farbigen Holzfiguren schnell als Fischer zu erkennen. Darunter prangt der Spruch: »In Eckernför, dar hebbt wi’t rut ut Sülwer Gold to maken.« Für den, der’s nicht versteht: In Eckernförde, da haben wir es raus, aus Silber Gold zu machen. Im Kattsund, in der Eckernförder Altstadt, lebten früher die Fischer mit ihren Familien. Heute sind die meist kleinen Häuser liebevoll restauriert, Rosenstöcke und Efeu schmücken die Utluchten, die Erker. Und wo früher die Fischerboote festmachten, liegen heute moderne Segelyachten und Sportboote vor Anker. Für die Fischerei sind in der Ostseestadt die goldenen Zeiten Vergangenheit. Wie vergessen wirkt zwischen den vielen weißen Masten ein traditioneller Kutter mit seinen schweren Seilwinden und Fangnetzen. Der Tourismus soll dem Ostseebad, das schon 1831 seine erste Badeanstalt eröffnete, ertragreiche Zeiten bescheren. Gerade erst wurde am Südstrand ein neues Wassersportzentrum eingerichtet, wo die Gäste surfen und tauchen lernen können, und die Siegfried-Werft nahe der alten Holz-Klappbrücke wurde aufwändig zu einem nostalgischen Hotel mit Fischrestaurant umgebaut. Aber es gibt sie noch in Eckernförde, die kundigen Männer, die aus Silber Gold machen können. Bei Rehbehn & Kruse am Jungfernstieg kann man es erfahren – dort werden aus unscheinbaren silbernen Fischen goldene. Seit 1919 stellt die Traditionsräucherei eine Spezialität her, die Eckernförde einst reich machte – Kieler Sprotten. Früher verwandelten viele in Eckernförde die Fische, auch im Kattsund 26, wo die Inschrift daran erinnert.

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»Vor dem Krieg gab es noch mehr als 40 Räu-

chereien im Ort, heute sind wir als Einzige übrig«, sagt Bernd Kruse. Er leitet den Familienbetrieb in der vierten Generation. Mit der Ballonmütze, dem weißen Arbeitskittel und der Kunststoffschürze erinnert der stämmige Mitvierziger ein wenig an die Arbeiter der dreißiger Jahre. Wie alte Fotos zeigen, prägten damals qualmende Schornsteine das Stadtbild, dichter Rauch verpestete vor allem in den Wintermonaten, wenn Fangzeit war, die Luft. Mit dem extremen Rückgang der Berufsfischerei, steigenden Lohnkosten und der Einführung von Fangquoten verringerte sich zusehends auch die Zahl der Fisch verarbeitenden Betriebe. Und auch die traditionellen Altonaer Öfen der Räuchereien, schrankwandgroße Verschläge mit sechsfach unterteilter Eisentür zum Befeuern und Entlüften, entsprachen nicht mehr den modernen Abgasnormen. Als einziger Räuchermeister in Eckernförde investierte der Vater von Bernd Kruse in neue Sprottenöfen. Doch die mussten erst einmal entwickelt werden. Es wurde viel experimentiert und umgebaut, bis Sprottenspezialisten, EU-Kontrolleure und Gewerbeaufsicht zufrieden waren. »Heute laufen die sechs Anlagen computergesteuert und haben moderne Katalysatortechnik«, erklärt Bernd Kruse stolz. In den weiß gefliesten Produktionsräumen im Hinterhaus ist es deutlich kühler als im Verkaufsraum, der Geruch von Meerwasser liegt in der Luft. An langen Wannen und Sortier-

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tischen aus blank gescheuertem Edelstahl stehen die Mitarbeiter in Gummistiefeln. Sprattus sprattus nennen die Biologen die 12 bis 15 Zentimeter kleinen Fische, die mit Hering, Sardelle und Sardine verwandt sind. Die Sprotten leben in der Nord- und Ostsee. Kruses Lieferanten bringen die fangfrische Ware, die aus skandinavischen Fischgründen stammt, noch vor Morgengrauen vom Großmarkt in die Räucherei, wo täglich rund 60 000 Sprotten »vergoldet« werden. Um sie haltbarer zu machen, werden die Fische erst einmal eine knappe Stunde lang in Salzlake gelegt, anschließend kommen sie auf die blitzblanken Sortiertische, wo sie flink und »schön mit Abstand, wie Zinnsoldaten«, so Chef Kruse, zu etwa 40 Stück auf lange Metallspieße, Spitts, gesteckt und in metallene Räucherwagen gehängt werden. Pro Fuhre kommen rund 4000 Sprotten, etwa 80 Kilogramm, in den Ofen. »Wir trocknen die Fische mit 40 Grad, stei-

gern uns dann auf 50 bis 60 Grad. Der ganze Prozess dauert etwa eine Stunde«, erklärt Räuchermeister Bernd Kruse. Noch heute benutzt man Buchen- und Erlenholz. Der Fisch muss vollständig getrocknet sein, erst dann dringt das Raucharoma in sein Fleisch ein. Wenn die großen Edelstahltüren der Öfen nach dem Räuchern automatisch aufspringen, sieht man den dichten, gelblichen Rauch, den die verbrannten Erlenholzchips erzeugt haben. Es riecht nach Lagerfeuer, doch nur wenige Sekunden später geht die automatische Entlüftung an und saugt mit Getöse die letzten Wolken weg. Gekonnt demonstriert der Meister, wie ein echter Eckernförder Sprotten verzehrt: Kruse nimmt einen der noch warmen goldenen Fische zwischen Daumen und Zeigefinger, entfernt mit der anderen Hand Kopf und Schwanzflosse, drückt dann leicht auf Bauch und Rücken, um das Fleisch von den Gräten zu lösen, zieht die Mittelgräte heraus und fasst zusammen: »Kopf ab, Schwanz ab, Bauch kraulen, Gräte ziehen. Guten Appetit!« Vom Arme-Leute-Essen, das einst die Arbeiter des Ruhrgebiets sättigte, sind Kieler Sprotten heute zur Delikatesse geworden. Sie schmecken holzig-rauchig und leicht salzig, und sie enthalten eine Menge Fett und Eiweiß. Das Kilo, in der traditionellen Holzkiste verpackt, kostet rund 16 Euro. Zwar hängen die Eckernförder Räucherer auch andere maritime Leckereien wie Aale, Makrelen oder Lachse in ihre Öfen, für das touristische Marketing jedoch hält nur der kleine Goldfisch her – alljährlich wird er während der »Sprottentage« gefeiert. Mit Erfolg. Die Besucherzahlen steigen. Jedes Jahr im Juni können die Gäste Sprotten in allen Variationen probieren. Einige Räuchermeister befeuern dann sogar noch einmal einen ihrer alten Traditionsöfen und erklären die einzelnen Arbeitsschritte. Ihren Namen verdanken die Kieler Sprotten übrigens der Post. Genauer gesagt deren Stempeln. Im 19. Jahrhundert verschickte man die Räucherwaren mit Fuhrwerken nach Kiel, um sie von dort mit der Bahn nach ganz Europa zu exportieren. In Kiel bekamen die Eckernförder Räucherfische den Stempel des Verladebahnhofs auf die Kiste gedrückt und wurden so zu Kieler Sprotten. Als es 1881 die Bahn auch bis Eckernförde schaffte, war der Qualitätsbegriff bereits etabliert. Schon damals reisten die Sprotten weit. Sogar über den Atlantik nach Nordamerika.

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In fremden Betten: Royal Windsor Hotel, Brüssel belgische Himmel, die Wände weiß, wie gemacht, um mit dem Projektor bunte Dias aufzumalen. Vor den Fenstern Bambus, der in Los Angeles sicher ein sorgloseres Leben führen würde, aber Knotts Zimmer zu einem globalen Raum macht. Der schwarze Sessel in überdimensionaler Legosteinform – ein Stück New York. Die sinnlich großen Lederkissen – ein Hauch Marokko. Während das Bett dahintreibt wie eine Eisscholle – einsam und ohne Nachttischlampen. Was Knott dazu sagt: »Mein Zimmer ist mein privater Raum, am Tag und in der Nacht. Ein Ort, den man mit jemandem teilt, der einem nah ist.« Wenn dieser jemand 250 Seiten hat, die klein bedruckt sind, fühlt man sich jedoch recht allein. Doch wen schert Einsamkeit, wenn eine neue Robe wartet? Die nächste Fashion-Suite, entworfen von Kaat Tilley. Tagsüber kann man in der eleganten Galerie du Roi Kleider aus ihrer Kollektion erwerben, nachts umgibt man sich mit den Raum gewordenen Visionen der Modekünstlerin. Tilleys Stoffe werfen Falten, bilden Lagen, sind transparent und feminin, als würden sie von Elfen getragen. Und so wirkt die Suite der Designerin: wie der Palast der Schneekönigin oder wie eine Kulisse für den Krieg der Sterne. Jüngst hat sich hier ein Autor zurückgezogen, um seinen Fantasy-Roman zu beenden. Alles ist in Weiß gehalten, mal gebrochen, mal rein, die Wände sind versehen mit einem gipsartigen Belag, das Baldachinbett wird getragen von weißen, misantroph blickenden Figuren. »Kleider und Lebensräume sind das Gleiche«, befindet denn auch die 46-jährige Designe-

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rin, »sie spielen mit demselben emotionalen Register.« Bei einem japanischen Hochzeitspaar löste Kaat Tilley jedoch Beklemmung aus – die Farbe Weiß steht in Japan für Todesfälle. Man quartierte sie zu Pascale Kervan – mitten in einen Agentenfilm. Die erste Einstellung zeigt eine Martini-Bar, schwarz-weiß, sie ist das Vorzimmer. Die Fotos an den Wänden erinnern an die legendären James-Bond-Gespielinnen: langbeinige Mädchen in kurzen Siebziger-JahreRöckchen, die Haare auftoupiert, die Augen schwarz von Kajal. Diese Bar war auch das Highlight auf dem Rundgang der Modedesigner, die erst am Schluss die Arbeiten ihrer Kollegen bewundern durften. Sie spendierten Applaus für die Rebirth-Suite von Romy Smits, die ein Bett in Eiform kreiierte, und betrachteten neugierig die aktuelle Kleiderkollektion in den Räumen des Designerduos Mademoiselle Lucien. Denn hier findet sich, was wir bisher vergeblich suchten: Die Couturiers präsentieren ihre Kleider! Die Designer des Labels Mademoiselle Lucien allerdings ziehen diese auf Barbiepuppen. Fünf der nahtlos gebräunten Damen stolzieren durch Schaukästen und werden alle sechs Wochen in die neuesten Kreationen gehüllt. Das macht ein bisschen neidisch und wäre der uneigennützige Wunsch weiblicher Gäste: im Fashionroom einen ganzen Schrank mit Designerstücken zu finden! Zum wilden Ausprobieren und um endlich selbst über den Laufsteg zu defilieren … INKEN HERZIG

Modedesigner haben Hotelzimmer gestaltet: KAAT TILLEYS Suite wirkt wie der Palast der Schneekönigin (l.o.) PASCALE KERVAN bevorzugt Schwarz-weiß (r.o.), bei JEAN-PAUL KNOTT (l.) hat der Sessel Legosteinform

Fotos: Royal Windsor Hotel

Wenn Models über Laufstege defilieren, versprühen sie jenes Maß von Entrücktheit, das sie wie orchideenhafte Wesen wirken lässt, die nur noch wenig Menschliches an sich haben. Wir haben davon umso mehr, während wir Patisserie-schwer durch die Gänge des Royal Windsor Hotels eilen. Mit Spannung halten wir Ausschau nach zwölf Zimmern, die nicht die üblichen Maßschränke und Hosenbügler verheißen, sondern so exklusiv sind, dass sie einer edlen Haute-Couture-Robe gleichen. Das Royal Windsor thront nur eine Saumnaht vom meistfotografierten Brüsseler, dem Männeken Pis, entfernt und stammt aus den siebziger Jahren. Zwölf Räume des FünfSterne-Hauses mit dem Eingang, der wie ein polierter Bechstein-Flügel glänzt, waren überholungsbedürftig. Doch sie sollten nicht, wie derzeit en vogue, von Künstlern gestaltet werden, sondern einen direkten Bezug zur Modestadt Brüssel bieten. So sprach Manager Claude Dufor die Hautevolee belgischer Couturiers an und erntete Begeisterung. Von Marina Yee zu Nina Meert, Haider Ackermann, Nicolas Woit oder dem Ausstatter der belgischen Königsfamilie, Gerald Watelet – zwölf Designer kreierten ihren ganz intimen Modehimmel. Der Aufzug schnurrt mit dem Brummen eines verwöhnten Siamkaters in den dritten Stock, ein Schild verweist auf die Suite von Jean-Paul Knott. Der 39-jährige Belgier wurde 2004 mit seiner puristischen Kollektion gefeiert, die Kritiker an die Architektur von Le Corbusier erinnerte. Man meint, in ein Musiker-Loft geraten zu sein. Spiegelnder Betonboden, grau wie der

Royal Windsor Hotel, 5, rue Duquesnoy, Brüssel, Tel. 0032-2/505 55 55, www.warwickhotels.com, Fashionroom ab 420 Euro

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Lesezeichen Die kulinarische Szene Deutschlands könne sich

langsam sehen lassen, meint Erwin Seitz. Und wer vermag das besser zu beurteilen als einer, der Metzger und Koch gelernt, Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte studiert hat und als Gastrosoph nicht nur genau hinschmeckt, sondern auch über den Tellerrand hinausschaut. »Doch wie orientiert man sich bei der Vielzahl von Trends und Verlockungen, Traditionen und Schnäppchen?« Cotta’s Kulinarischer Almanach, den Seitz seit 2002 herausgibt, antwortet in Band Nummer 13 mit 26 Essays und Rezepten. Darunter ein Un-Sittengemälde über das Essen im Stehen und Gehen und ein Loblied auf die hora sacra, den klassischen Mittagstisch. Hanns-Josef Ortheil schwärmt von Marktbesuchen, Sabine Herre von der »Rückkehr der Regionen«, und Katja Mutschelknaus nennt die

»Retter der Tafelrunde«: Demeter, Manufaktum und Slow Food. Grünkohl wird in Variationen aufgetischt und ein Kartoffellexikon geboten. Spitzenköche lüften ihre Topfdeckel, und Kenner sprechen vom neuen Selbstverständnis der deutschen Rotweine und der Raffinesse deutscher Sektkultur. Und das alles sehr appetitlich bibliophil. H. K. Erwin Seitz (Hrsg.): »Cotta’s Kulinarischer Almanach. Nr. 13. Thema: Deutschland«. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005; 254 S., 21,50 ¤

Durch die Havelstadt zu streifen lohnt umso mehr, wenn dabei die Geschichte lebendig wird, die sich hinter den Fassaden abspielte. »Voltaire nannte den Hof Friedrichs des Großen ein ›Paradies für Philosophen‹, Hans Christian Andersen las hier seine Märchen vor, Carl von Ossietzky korrigierte im Café Rabien die Fahnen der ›Weltbühne‹, und Pe-

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ter Huchel machte an der Städtischen Oberrealschule Abitur.« Auf fünf Spaziergängen durch das literarische Potsdam nimmt Autor Wolfgang Feyerabend die Besucher mit. Er führt sie von der Altstadt mit ihren barocken Erweiterungen und dem Holländischen Viertel durch die Parks von Sanssouci und Charlottenhof und vom Neuen Garten bis in die Vorstädte. Er sucht die Wohn- und Wirkungsstätten von Schriftstellerinnen und Schriftstellern auf, die das geistig-kulturelle Potsdam prägten. Er erinnert an namhafte Gäste und beschreibt, wie sich Heinrich und Thomas Mann mit der Stadt und Friedrich dem Großen auseinander gesetzt haben. Ein Extraspaziergang ist Babelsberg gewidmet, das weit mehr ist als eine Filmfabrik. H. K.

»Uisge Beatha« ist die ursprüngliche, gälische Bezeichnung für ein schottisches Lebenswasser, das heute weltweit unter dem englischen Synonym bekannt ist: Whisky. Speziell für dessen Liebhaber stellte Andreas Hofer einen Reiseführer über Schottland zusammen. Auf neun Routen zwischen Highlands und Islands geht es zu ausgewählten Destillerien, die, mit Adresse, Telefonnummer, Öffnungszeiten und Eintrittspreisen versehen, kurz vorgestellt werden. Wissenwertes über Produktion und Geschichte sowie Fachbegriffe rund um den Whisky finden sich auf Extraseiten. Empfehlungen für Übernachtung, Essen und Trinken sowie Tipps für Ausflüge abseits der Destillerien runden das Büchlein ab. TV

»Mingalabar!« hört man ständig in Myanmar. Die

Wolfgang Feyerabend: »Spaziergänge durch das literarische Potsdam«. Arche Verlage, Zürich/Hamburg 2005; 144 S., 14,80 ¤

Andreas Hofer: »Schottland für Whiskyfreunde« aus der Serie »Merian live!«. Travel House Media, München 2005; 128 S., 8,95 ¤

Susanne Kracke/Walter M. Weiss: »Burma«. Bruckmann Verlag, München 2005; 112 S., 24,90 ¤

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Fotografin Susanne Kracke folgte diesem Willkommensgruß in alle Regionen des südostasiatischen Landes. Ihre Impressionen veröffentlichte sie in dem Panorama-Bildband Burma. Im Fokus steht die Gelassenheit der Burmesen, die das ganze Land prägt und die in ihrer gelebten Alltäglichkeit gezeigt wird. Bilder von Heiterkeit und Gleichmut bieten insbesondere die buddhistischen Mönche in ihren leuchtenden purpurnen Roben. Darüber hinaus gehören Pilgerstätten, Pagoden, Buddha-Statuen und natürlich die Naturschönheiten zu den Motiven. Anschaulich beschreibt dazu Autor Walter M. Weiss jede Region, und er vergisst nicht die Militärdiktatur, unter der das Land steht. TV

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Tipps und Termine Was im Krankenhaus passiert, erklärt dieneue »MediZity«: Diese virtuelle Medizinstadt macht Achtbis Vierzehnjährige spielerisch und kindgerecht mit allem vertraut, was den jungen Patienten begegnen kann. Mit Bildern von Ärzten, Pflegern und Untersuchnungen, einem Quiz und ein paar Spielen hilft »MediZity« außerdem Ängste abzubauen. Die Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg und die Hochschule für Medien in Stuttgart sowie die Klaus-Tschira-Stiftung haben gemeinsam www.medizity.de aufgebaut. Wie sieht die Mensa in Harvard aus? Wo spielt das

Käpt’n gesucht

beste Frauen-Soccer-Uni-Team der USA? Welche Hochschule hat die höchsten Gebühren? Woher bekommen Studierende Geld, um dort trotzdem zu studieren? All das und viel mehr steht im Studienführer College and University Education in the United States, den das US-Außenministerium herausgegeben hat. Wer in die USA will, klickt auf http://usinfo.state.gov/journals/itsv/1105/ijse/ rdeducate.htm

Die deutschen Reedereien sind so gut im Geschäft, dass ihnen das Personal ausgeht VON JULIAN HANS we Schweitzer hat eine Aufgabe, um die seine Kollegen ihn beneiden. Er darf wirklich tun, wofür eigentlich Tausende Vermittler der Bundesagentur für Arbeit in Deutschland angestellt sind: Er vermittelt Arbeitsplätze. Und während bundesweit Millionen auf den Fluren der Behörde darauf warten, ein weiteres Mal vertröstet oder in eine Weiterbildungsmaßnahme gesteckt zu werden, spielt Schweitzer heile Welt: In der Zentralen Heuerstelle Hamburg stehen die Arbeitgeber Schlange, und die Arbeitnehmer dürfen zwischen den attraktivsten Angeboten wählen.

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Im Abschlussbericht für 2005 schlägt der

Leiter der bundesweiten Fachvermittlung für Seeleute den bekannten Sorgenton der BA-Papiere – wenn überhaupt – nur am Rande an, und das unter verkehrten Vorzeichen: »Stellenangebote für Schiffsmechaniker, Erste Nautische Offiziere und Zweite Technische Offiziere waren das ganze Jahr über kaum noch zu besetzen.« Altersarbeitslosigkeit? »Insbesondere bei den Kapitänen ist ein Alter von 60 Jahren und mehr kein Problem.« Von den rund 300 Offizieren, die sich im vergangenen Jahr bei Arbeitsvermittler Schweitzer nach einer Stelle erkundigt haben, war jeder Vierte in einem festen Heuerverhältnis und wollte sich nur nach besseren Konditionen umsehen. »Wir haben schöne Zeiten für Arbeitnehmer«, sagt Hans-Heinrich Nöll, Hauptgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Reeder (VDR). Während Werke geschlossen werden, weil Menschen Radios anderswo billiger bauen als in Deutschland, gehört seine Branche zu den Globalisierungsgewinnern. Auf Schiffen fahren die Maschinen nach China, und auf Schiffen kommen die fertigen Radios zurück nach Deutschland. Weit über 90 Prozent der internationalen Warenströme werden auf dem Seeweg bewegt. »Die Weltwirtschaft wächst, noch schneller wächst der Handel und noch schneller der Containerverkehr«, sagt HansHeinrich Nöll. Genau genommen wächst der Containerverkehr fast doppelt so schnell wie die Weltwirtschaft. Und die deutschen Reedereien stehen an der Spitze, dirigieren mittlerweile fast ein Drittel der weltweiten

Containerflotte. Innerhalb von nur fünf Jahren hat sich die Zahl der Handelsschiffe im Besitz der rund 300 deutschen Reedereien auf rund 2700 verdoppelt. Der Reederverband rechnet damit, dass in den kommenden Jahren 160 neue dazukommen – pro Jahr. Doch ausgerechnet der fehlende Nachwuchs ist zur Barriere auf dem Wachstumskurs geworden. Die Reeder suchen ungeduldig nach Nautischen und Technischen Offizieren, die ihre Frachter über die Weltmeere steuern. Die Absolventen der deutschen Seefahrtschulen können sich ihren Job aussuchen. Die EU schätzt den Bedarf an Schiffsoffizieren in den Mitgliedsländern auf 30 000 in den nächsten zehn Jahren. Jetzt rächt sich, dass auch die Reeder jahrelang glaubten, ohne deutsches Personal auszukommen. Es war billiger, die Schiffe unter kenianischer Flagge mit ausländischer Besatzung fahren zu lassen. Miese Jobaussichten ließen die Zahl der Studienanfänger immer weiter sinken, bis sich die Hochschulen schließlich fragten, wozu sie sich die teuren Nautikstudiengänge überhaupt noch leisten sollen. 2002 wurden die lettzen Patente an der Seefahrtschule Grünendeich verliehen. An der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaften macht in diesen Tagen der letzte verbliebene Seefahrtstudent seinen Abschluss, bevor der Fachbereich zum Semesterende geschlossen wird. Hamburg, Deutschlands wichtigster Hafen und der zweitgrößte in Europa, muss sich sein nautisches Know-how dann von auswärts holen.

»Wer Visionen hat,sollte zum Arzt gehen«, hat Helmut Schmidt gesagt. Wer eine Vision für Europa hat, kann eine Reise nach Brüssel gewinnen. Die Vertretung der EU-Kommission in Deutschland ruft alle 15- bis 21-jährigen Schüler, Auszubildenden, Studenten und jungen Arbeitnehmer der zwölf deutschen WM-Städte auf, ihre »EURopäischE VISION« zu entwickeln. Die Idee soll zu zweit, zu dritt oder zu viert eingereicht und in ei-

DER BESONDERE TIPP

nem Videoclip, Radiobeitrag, Web-Magazin oder einer Fotostory präsentiert werden. Die Kommissionsvertretung kommt zwischen Ende März und Juni in die zwölf Austragungsorte und prämiert die Gewinner. Wann sie wo sind und der Einsendeschluss stehen auf: www.europaeische-vision.de i Tipps zur Stellensuche und einen aktuellen Job-Newsletter finden Sie unter www.zeit.de/chancen

Die Entscheidung über das Ende der See-

fahrtschulen in Grünendeich und Hamburg war schon gefallen, als die Maritime Konferenz in Kiel 2003 die Wende einleitete: Die Bundesregierung stellte den Reedern in Aussicht, die Lohnnebenkosten zu senken und an der günstigen Tonnagesteuer festzuhalten. Im Gegenzug versprachen die Reeder, binnen zwei Jahren auf mindestens 100 Schiffen wieder die deutsche Flagge aufzuziehen – der Startschuss für den Run auf den Nachwuchs. Die Motive, Seefahrer zu werden, sind dabei andere als früher. »Ich wollFortsetzung auf Seite 78

Illustration: Daniel Matzenbacher für DIE ZEIT, www.matzenbacher.de

WIE WIRD MAN KAPITÄN? Viele Wege führen zum Karriere-Ziel Kapitän. Voraussetzung für alle ist die Seediensttauglichkeit. Diese prüft ein Arzt der See-Berufsgenossenschaft. Bewerber mit Abitur oder Fachhochschulreife studieren acht Semester lang an einer der fünf Fachhochschulen in Deutschland. Der Frauenanteil in den Studiengängen ist relativ gering, doch der Reederverband hätte gern mehr Frauen unter den Kapitänen. Die Studenten können zwischen zwei Schwerpunkten wählen: Decksdienst oder Maschine. Zum Studium gehören immer zwei Praxissemester, denn Voraussetzung für die Ausstellung des Nautischen beziehungsweise Technischen Befähigungszeugnisses ist, dass der Kandidat mindestens zwölf Monate zur See gefahren ist. Die praktische Erfahrung kann auch vor dem Studium gesammelt werden. Während der Ausbildung zum Nautischen oder Technischen Offiziersassistenten (NOA/TOA) ist der angehende Seemann bei einer Reederei angestellt und gilt an Bord als Besatzungsmitglied. An die 12-monatige (NOA) beziehungsweise 18-monatige (TOA) Fahrtzeit schließt sich ein dreijähriges Studium an

der Seefahrtschule an. Bewerber mit Haupt- oder Realschulabschluss können eine Ausbildung zum Schiffsmechaniker machen. Im Anschluss steht ihnen die Weiterbildung zum Offizier offen. Ein Seiteneinstieg für Facharbeiter aus Metallund Elektroberufen ist ebenfalls möglich. Der Berufseinstieg beginnt gewöhnlich als dritter Offizier. Zum Kapitän wird man frühestens nach drei Jahren Seefahrtzeit befördert. Weitere Informationen gibt es beim Verband Deutscher Reeder: www.reederverband.de und bei der Beratungsstelle für Schifffahrtsberufe bei der Bundesagentur für Arbeit:Tel. 040/76 74 47 51

SEEFAHRTSSCHULEN: Fachbereich Seefahrt in Elsfleth (FH Oldenburg/Ostfriesland/Wilhelmshaven): www.fh-oow.de/fbs Institut Seefahrt in Leer: www.seefahrtschule-leer.de Fachschule für Seefahrt in Flensburg: www.fs-seefahrt.fh-flensburg.de/ Hochschule Wismar: www.sf.hswismar.de Hochschule Bremen: www.hs-bremen.de

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Foto: privat

JÜRGEN HEYER, 42, Key-Account-Manager und Schwabe, besucht einen HochdeutschSprachkurs

Natürlich. Aber Marmeladebrötchen, Büchsenmilch und Kartoffeln sind mir zurzeit lieber. Durch meinen Sprachkurs bin ich auf das Hochdeutsche getrimmt. Sie sind in Schwaben geboren und sprechen seit mehr als 40 Jahren Schwäbisch.Nun lernen Sie Hochdeutsch. Was ist am Schwäbischen so unsexy?

Schwäbisch ist nicht unsexy, im Gegenteil. Ich mag den Dialekt, und in manchen Situationen passt er besser als das Hochdeutsche. Schön ist etwa die Verniedlichung. Wenn ich heimkomme, sage ich zu meiner Frau: Schätzle, i bin do. Das ist doch viel zärtlicher. Aber es gibt eben Menschen, die mich nicht verstanden haben. Wer hat Sie nicht verstanden?

Meine Kunden. Ich reise viel und stelle die Produkte von Reckitt Benckiser in ganz Deutschland vor. Die Düsseldorfer und Hamburger, aber auch die Hessen und Sachsen fragen häufig nach, ich muss dann Sätze wiederholen. Das nervt. Sie schreiben und lesen Hochdeutsch, und die Sendungen im Fernsehen sind auch nicht auf Schwäbisch. Warum ahmen Sie nicht einfach die Sprecher der »Tagesschau« nach?

Das habe ich versucht, aber ohne Hilfe ist das nicht so einfach. Wenn ich besonders gut und deutlich sprechen wollte, um meinen Dialekt zu überspielen, habe ich einzelne Wörter überbetont – sehen und gehen zum Beispiel. Das aber hat auch nur zur Belustigung beigetragen. Der Schwabe als Witzfigur, benachteiligt im Job?

Witzfigur würde ich nicht sagen, aber zur Belustigung tragen wir schon bei. Und was ich beobachtet habe: Wenn man in eine Verhandlung geht und dort ein Saarländer, ein Franke und ein Hesse sitzen und alle Dialekt sprechen, sagt nach der Begrüßung niemand: Ach, wir haben auch einen Saarländer. Es heißt nur: Aha, es ist auch jemand aus dem Schwabenland dabei. Mein Dialekt wird sofort erkannt und benannt.

Käpt’n gesucht Fortsetzung von Seite 77 te noch die Welt kennen lernen«, sagt Hans-Georg Benver, Berufsberater für seemännischen Nachwuchs bei der zentralen Heuerstelle. Doch die modernen Containerschiffe löschen ihre Ladung innerhalb von Stunden. Da bleibt keine Zeit, fremde Länder zu erkunden. »Das Leben an Bord hat mit Romantik nicht mehr viel zu tun, stattdessen viel mit Einsamkeit.« Dafür kann ein Wachoffizier mit 4000 Euro Einstiegsgehalt rechnen und hat vielleicht mit Mitte 30 schon eine Führungsposition. Benver rät allen Interessenten, zunächst in einem Schiffspraktikum auszuprobieren, ob sie

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Gefragt

Herr Heyer, verstehen Sie mich noch, wenn ich von Gsälzweggle, Bixamilch und Grombiera spreche?

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Eliza Doolittle übt in dem Musical »My fair lady« die perfekte Aussprache mit dem Satz: Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen. Welcher Satz ist für einen Schwaben am schwierigsten?

Wo ich gehe und stehe, sehe ich Rehe in meiner Nähe. Ich habe Probleme mit dem e und ä und mit der Überbetonung. Welche Übungen machen Sie noch im Hochdeutschkurs?

Anfangs meist Atemübungen. Wenn man nicht genügend Luft hat, werden die Sätze unklar, und der Klang ist nicht schön. Die Sätze wirken dann gepresst, dazu neigt der Schwabe leider. Das Verschlucken von einzelnen Buchstaben kommt daher, dass man nicht die richtige Sprechtechnik hat. Die lerne ich nun. Und dann sagen wir häufig die schwäbische und die hochdeutsche Version, damit wir den Unterschied hören. Sie üben auch zu Hause. Wie reagiert da Ihre Familie?

Meine Töchter sprechen Hochdeutsch, in der Schule gibt es ja kaum noch Lehrer, die Dialekt sprechen. Sie waren also dem Dialekt nie so ausgesetzt wie meine Generation und finden meine Übungen sehr witzig. Meine Frau spricht Schwäbisch. Wenn ich dann spreche oder wenn ich versuche, ihr das korrekte Sprechen beizubringen, lacht sie nur. Lohnt sich die Mühe?

Sicher. Wenn ich heute in Hamburg eine Präsentation mache, wird viel seltener nachgefragt, weil ein Satz aufgrund des Dialekts nicht verstanden wurde. Das ist für mich natürlich eine schöne Bestätigung. Und ein guter Freund, ein Schwabe übrigens, ist ganz begeistert von meinem neuen Spruch auf dem Anrufbeantworter. Er findet die Betonung schöner, die Sprache sei klarer, und man könne es besser verstehen. Dann sprechen Sie jetzt perfekt Hochdeutsch?

Noch nicht. Ich werde noch einen Kurs besuchen, um meine Aussprache zu verfeinern. Ich denke zwar, dass ich schon große Fortschritte gemacht habe. Aber ein bisschen Verbesserung geht schon noch. INTERVIEW: MADLEN OTTENSCHLÄGER

das wochenlange Alleinsein an Bord ertragen. Immerhin, der La Paloma-Refrain »Seemannsbraut ist die See, und nur ihr kann er treu sein« ist längst überholt. Die meisten Seeleute kehren der See heute schon nach vier Jahren den Rücken, um einen Job an Land anzunehmen und bei ihrer Familie zu sein. Denn auch Lotsen, Bundesbehörden und die Reedereien suchen Fachkräfte. »Die Tonnagesteuer verlangt, dass die Schiffe im Inland gemanagt werden«, sagt der Verbandschef Hans-Heinrich Nöll. »Wenn wir weiterwachsen, brauchen wir dringend Personal an Land.« Doch selbst wenn das Wachstum sich verlangsamen sollte, die Nachfrage nach jungen Führungskräften an Bord wird bleiben, von den etwa 4400 deutschen Offizieren auf deutschen

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Die Stadt Duisburg will junge Migranten für den öffentlichen Dienst gewinnen VON GUDRUN WEITZENBÜRGER

GOLEO macht das Stadion zum Kinderzimmer

ls Adlan Manai sich nach dem Einstellungstest bei der Stadt Duisburg von seiner Schwester abholen ließ, hatte er keine Hoffnung auf den begehrten Ausbildungsplatz. »Das waren alles ›Urdeutsche‹«, sagte er sich. »Das kannst du vergessen.« Diese Haltung haben viele Jugendliche ausländischer Abstammung, die Beamtenlaufbahn erscheint ihnen als unerreichbarer Traum. Also versuchen es die meisten gar nicht erst. Nur acht von sechzig Jugendlichen, die sich bei der Duisburger Stadtverwaltung im mittleren Dienst bewerben, sind Ausländer. Die Angst vor dem Auswahlverfahren ist groß. Immerhin konnte die Quote seit 2001 auf 13 Prozent gesteigert werden. Mit dem Projekt »Junge Migrantinnen und Migranten für den öffentlichen Dienst gewinnen« will die Behörde mit Hilfe von Bundesmitteln und finanzieller Unterstützung der Europäischen Union bis April ausländische Jugendliche anwerben. Für Adlan Manai, der sich mit Fachabitur beworben hatte, stellte der Test eigentlich keine große Hürde dar. Er sollte Fragen über die Verwaltung im Allgemeinen beantworten; politisches Basiswissen rund um die Funktionen von Bundeskanzler, Bundesrat und Bundestag wurde abgefragt sowie Prozentrechnen getestet. »Ich habe mir wegen meiner Abstammung keine Chancen ausgerechnet«, erzählt der gebürtige Tunesier, der einen deutschen und einen tunesischen Pass hat. Umso größer war die Freude, als er doch zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurde, wo er schließlich als letzte Hürde aus einem Thesenblatt einen zwanzigminütigen Vortrag ausarbeiten musste. Das war vor vier Jahren. Im Sommer 2005 hat der inzwischen 24-jährige Manai seine Ausbildung abgeschlossen und arbeitet seither im Ordnungsdienst der Stadt Duisburg. Das heißt, er wird zum Beispiel aktiv, wenn Bürger der Stadt Duisburg sich nicht ummelden oder ihr Auto nicht ordnungsgemäß anmelden, und wenn sie die Kraftfahrzeug-

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Schiffen ist jeder Zweite älter als 50. Die guten Berufsaussichten haben sich inzwischen herumgesprochen; die Zahl der Studienbewerber an den verbleibenden fünf deutschen Seefahrtschulen in Leer, Elsfleth, Flensburg, Bremen und Warnemünde ist im letzten Jahr sprunghaft gestiegen. Wenn sich die Ständige Arbeitsgemeinschaft der Küstenländer für das Seefahrt-Bildungswesen am 19. Januar zu ihrer nächsten Sitzung trifft, steht sogar die Einführung eines Numerus clausus auf der Tagesordnung. Die Entwicklung ist absurd: Der deutsche Reederverband und die Europäische Union werben mit Filmen voll Seefahrerromantik um Nachwuchs. Nach Schätzungen braucht die maritime Wirtschaft in den kommenden Jahren jährlich

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steuer nicht rechtzeitig bezahlen, schreibt er Mahnungen. Der Kaufmann für Bürokommunikation ist dabei nicht nur ausführender Beamter, sondern bringt auch für den Arbeitgeber insbesondere interkulturelle Kompetenzen mit, die bei seiner Arbeit von Vorteil sein können. »Zwischen Menschen derselben Nationalität gibt es keine Schwellenangst«, sagt Sinan Kumru, Projektmitarbeiter der Regionalen Arbeitsstelle zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien, kurz RAA, bei der Stadt Duisburg. »Da kann eine Akte schneller bearbeitet werden, weil Missverständnisse erst gar nicht auftreten oder schneller aus dem Weg geräumt werden.« Manai beispielsweise hat kein Problem, einem Tunesier oder Marokkaner zu sagen, dass er der gesuchte Fahrzeughalter ist, der zu schnell gefahren ist. Zwischen einem deutschen Beamten und einem ausländischen Bürger kann es doch schon mal Probleme geben, hat Manai erfahren. Gabriele Petrick, die Ausbildungsleiterin bei der Stadt Duisburg, ist stolz, vierzehn verschiedene Nationalitäten unter ihren Auszubildenden zu vereinen. Um aufzuklären, gehen Manai und Kumru auch in Schulen und erklären, wie in der Verwaltung gearbeitet wird. »Wir wollen die Messlatte bei den Einstellungstests nicht tiefer legen, um damit die Quote erhöhen zu können«, sagt Petrick, »aber trotzdem verdeutlichen, dass die Ausbildung für jeden offen ist.« Bei vielen scheitere die Bewerbung schon daran, dass sie nicht genügend informiert seien über ihre Möglichkeiten. Der Deutschtunesier Adlan Manai fand die Arbeit in der öffentlichen Verwaltung noch aus einem anderen Grund besonders attraktiv. Einem Grund übrigens, den er mit vielen »urdeutschen« Bewerbern gemeinsam hat. »In der Wirtschaft wollte ich nie arbeiten«, sagt er, »da ist man nur ein Rad im Getriebe. Und irgendwann wird man wegrationalisiert.«

700 bis 1000 Nachwuchskräfte. Gleichzeitig müssen die Hochschulen den Zugang beschränken, weil sie bis an ihre Grenzen ausgelastet sind. »In unseren Hörsälen sitzen die Studenten schon auf den Heizkörpern«, sagt Peter Irminger, Professor in Bremen. Derzeit gehen jedes Jahr gerade einmal 120 bis 130 Absolventen von allen deutschen Seefahrtschulen ab. »Selbst wenn alle maritimen Ausbildungsstellen ihre Kapazitäten verdoppeln würde, würde es nicht reichen«, sagt Irminger. Stattdessen stehen immer wieder Ausbildungsstätten auf der Kippe. Zuletzt sollte die Seefahrtausbildung in Leer abgeschafft werden. Ein Gutachten stellte die Wissenschaftlichkeit der Ausbildung infrage. Zudem überlegte die Hochschulleitung, ob man sich mit Leer und

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Tore hat ein Elchgeweih auf dem Kopf. Über dem braunen Fell trägt er ein grün-weißes Shirt. Tore ist kein Elch, sondern Maskottchen des VfB Lübeck, der in der Regionalliga Nord um den Aufstieg in die Zweite Fußballbundesliga spielt. Tore sieht nicht so gut. Einmal ist er über einen Spieler gestolpert, der am Rand behandelt wurde, und fiel hin. Das ganze Stadion hat gelacht. Er soll den Leuten eben Freude machen. In erster Linie besteht der Job eines Maskottchens (meist muss ein Tier dafür herhalten) aber darin, seinem Team Glück und Erfolg zu bringen. Die meisten Fans, speziell beim Fußball, reagieren auf Maskottchen trotzdem aggressiv. Wenn der Berliner Hertha-Bär Herthino für seinen Arbeitgeber durch die Telefonwerbung tapst, fliegen Gegenstände Richtung Fernseher. Dem WMLöwen Goleo geht es da nicht besser. Kaum hatte er sich im Mai 2005 der Öffentlichkeit vorgestellt, hagelte es schon Häme. »Der hat keine Hose an!«, fand die Boulevardpresse heraus, und von Thomas Gottschalk musste er sich fragen lassen: »Hatte deine Mutter was mit einem Lama?« Leider gab Goleo die Frage nicht zurück. Maskottchen haben es schwer. Das liegt nicht daran, dass die Fans meinen, sie seien schuld, wenn ihr Verein verliert. Schließlich steht in Köln immer noch Geißbock Hennes an der Linie, obwohl der 1. FC seit Monaten zu Hause nicht mehr gewonnen hat. Das Problem liegt tiefer: Goleo und seinesgleichen sehen aus wie die misslungenen Geschwister von Ernie & Bert. Der Löwe kommt auch tatsächlich aus der Sesamstraßen-PuppenWerkstatt Henson Company in den USA. Seine Mähne ist extra lang und weich, damit auch Frauen und Mädchen von ihm angesprochen werden. Goleo-Puppen in den Größen »kleiner Finger« bis »Kleinwagen« sollen die Kassen klingeln lassen. Goleo bringt so die WM in die Kinderzimmer. Genau darum behandeln die Ultragruppen auf den Stehrängen ihn und seine Kumpane wie hässliche Schnuffelsäcke oder einen nervtötenden Hofnarren. Fußball ist schließlich eine ernste Sache. Das Kuscheltier aber macht das Stadion zum Freizeitpark, zum Kinderzimmer. Und das geht ja nun wirklich nicht. MARKUS FLOHR

Elsfleth zwei maritime Ausbildungsstätten unter dem Dach der fusionierten Hochschule Oldenburg überhaupt noch leisten könne. Im letzten Augenblick sprang im vergangenen Dezember die Reedergemeinschaft Ems-Achse in die Bresche und stiftete kurzerhand drei Professorenstellen. Eine Lösung, die sich Peter Irminger auch für Bremen wünschen würde. »Wir brauchten dringend vier oder fünf Stiftungsprofessuren«, sagt er. Und: »Ich habe in den vergangenen drei Jahren insgesamt mehr als ein Jahr Überstunden gemacht.« Der gegenwärtige Boom der Branche ist der beste Zeitpunkt, darum zu werben, glaubt der Bremer Professor. »Die Reeder haben viel Geld in der Tasche; und sie geben es zum ersten Mal zu.«

Illustration: Niels Schröder für DIE ZEIT, www.niels-schroeder.de

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12. Januar 2006

Neger«, »NIGGER«, »Toter de »Die Kulturschan in das ick Frankreichs« – Bl n ite Album des Gefre 2005) 7– 91 (1 . W Gottfried chfeldzug. aus dem Frankrei nen Die aufgeschlage s, Seiten zeigen Foto Juni 1940 die er um den 18. léans nordöstlich von Or t ha aufgenommen

Keine Kameraden ach dem Einfall der Wehrmacht in Polen Anfang September 1939 war es im Westen zunächst seltsam still geblieben. Obwohl neben Großbritannien auch Frankreich dem Bündnispartner Polen Hilfe zugesagt und dem Reich den Krieg erklärt hatte, wartete man in Paris lange Zeit ab. Zu lange. Im Frühjahr 1940 rollt die deutsche Militärmaschine gegen den Westen los. Die Wehrmacht überfällt die neutralen Nachbarn Holland, Luxemburg und Belgien. Nach kürzester Zeit ist das Gros der englisch-französischen Truppen in Nordfrankreich und Belgien eingeschlossen. Am 5. Juni 1940 beginnt die zweite deutsche Offensive. Jetzt geht es gegen die französischen Kernlande, auf Paris zu. An der Somme bauen die Franzosen hastig eine neue Verteidigungslinie auf. Unter den Einheiten dort befinden sich zahlreiche Regimenter mit schwarzen Rekruten aus Französisch-Westafrika. Das 24. Senegalschützenregiment (Régiment de tirailleurs sénégalais, RTS) leistet in der Nähe von Amiens heftigen Widerstand, muss aber nach zwei Tagen zurückweichen. In der Nacht vom 8. zum 9. Juni wird der Großteil dieses Regiments etwa 40 Kilometer südlich in einer Gruppe von Dörfern bei Erquinvillers eingekesselt, in der folgenden Nacht aufgerieben und gefangen genommen. Was sich dann abspielt, ist in den Kriegsberichten weißer französischer Offiziere nachzulesen. »Nach der Gefangennahme«, notiert der Kommandeur des Regiments Oberst Amadée Fabre, »stürzten sich die Deutschen mit noch nie dagewesener Brutalität auf die Senegalesen. Sie stachen sie mit den Bajonetten und schlugen mit Gürtelschnallen auf sie ein. […] Als ich gegen die Misshandlungen der gefangenen Soldaten protestierte, antwortete mir ein deutscher Oberst: ›Das sind doch nur Wilde.‹« Ein anderer Offizier berichtet: »Die Europäer mussten sich an einer Böschung hinsetzen, während die etwa fünfzig Senegalschützen, die noch übrig waren, in der Nähe mit Maschinenpistolen erschossen wurden.«

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Hitler verachtet die Franzosen als »vernegertes« Volk Wie viele schwarzafrikanische Gefangene die Deutschen in dieser Nacht ermordet haben, ist nie geklärt worden. Es gibt in Erquinvillers und den umliegenden Dörfern Hunderte von französischen Soldatengräbern, aber nach dem Krieg ließ sich nur noch schwer feststellen, wer in gnadenlosem Nahkampf umgekommen und wer nach der Gefangennahme erschossen worden war. Ein sehr vorsichtiges französisches Dokument nennt 150 als Gefangene erschossene Westafrikaner und acht weiße Offiziere, andere Erhebungen sprechen von 400 bis 600 ermordeten Schwarzen. Fest steht, dass es sich keineswegs um die einzigen Wehrmachtverbrechen an farbigen Truppen im Westfeldzug von 1940 handelte. Mehrere hundert Westafrikaner wurden vom 5. bis 7. Juni in der Nähe von Airaines (westlich von Amiens) erschossen, und noch am 19. und 20. Juni, nachdem Frankreich bereits um Waffenstillstand gebeten hatte, ordneten deutsche Befehlshaber die Erschießung zahlreicher Schwarzer und einiger weißer Offiziere in der Nähe von Lyon an.

Die Geschichte vom »ritterlichen« Krieg im Westen ist eine zähe Schulbuch-Mär: Während ihres Frankreichfeldzugs 1940 verübten Hitlers Soldaten zahlreiche Massaker an schwarzafrikanischen Gefangenen VON RAFFAEL SCHECK

Die Archivquellen dokumentieren die Ermordung von etwa 1500 Schwarzen während des Feldzugs. Aber die wirkliche Zahl dürfte mindestens doppelt so hoch sein, da die Quellen große Lücken aufweisen. Außerdem wurde eine unbestimmte Zahl von Schwarzen erschossen, ohne Gelegenheit zu bekommen, sich zu ergeben. Oft machten die Deutsche bei der Suche nach versprengten schwarzen Soldaten »keine Gefangenen«. Wie sind diese bis heute hierzulande unbekannt gebliebenen Verbrechen zu erklären? Anders als zu Beginn des Vernichtungsfeldzugs gegen die Sowjetunion ein Jahr später gab es 1940 keine Weisung wie den berüchtigten Kommissarbefehl, der die Ermordung bestimmter Gruppen von Kriegsgefangenen verlangte. Die Wehrmacht blieb im Westfeldzug an die Genfer Konvention von 1929 gebunden; die Misshandlung von Kriegsgefangenen war unter keinen Umständen erlaubt, auch nicht als Racheakt für Kriegsrechtsverletzungen der anderen Seite. Wie aber legitimierten es deutsche Offiziere und Soldaten dann, schwarze Gefangene zu erschießen? Es gab in Deutschland eine Tradition der Stigmatisierung schwarzer Soldaten, die auf die Zeit der großen Aufstände in den deutschen Kolonien in Südwest- und Ostafrika (1904 bis 1907) zurückgeht. Damals verbreitete die konservative Presse Gräuelgeschichten über die Rebellen, um die brutalen Unterdrückungsmaßnahmen der kaiserlichen Armee zu rechtfertigen, die bis zur Vernichtung ganzer Volksgruppen reichten. Obwohl die Gräuelpropaganda von der SPD und der Zentrumspartei entlarvt und kritisiert wurde, erfuhr sie einen neuen Aufschwung, als Frankreich im Ersten Weltkrieg koloniale Truppen an der Westfront einsetzte. Die Fantasie der »Kriegsreporter« kannte keine Grenzen. Schwarze Soldaten, so hieß es, hätten deutschen Gefangenen die Ohren und Köpfe abgeschnitten, ja, sich sogar kannibalisch über die Leichen hergemacht. Doch obwohl es schon in jenen Tagen vereinzelt zu Morden kam – deutsche Soldaten erschossen farbige Gefangene, farbige französische Soldaten deutsche Gefangene –, hat es Massaker wie die von 1940 nicht gegeben. Nach dem Ersten Weltkrieg steigerte sich die deutsche Propaganda nochmals, als 1918 bis 1920 einige westafrikanische Regimenter bei der Besetzung des Rheinlandes durch französische Truppen dabei waren. Mit Unterstützung des Auswärtigen

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Amtes entfachte die deutsche Presse eine wahre Hetzkampagne, »Schwarze Schmach« genannt, welche die Stationierung der Kolonialtruppen als Verbrechen und Provokation darstellte. Alles war jetzt wieder da: Wie »schwarze Wilde« den biederen »deutschen Mann« demütigten, wie »deutsche Frauen und Kinder« von den »Bestien« vergewaltigt würden und so weiter und so fort. Die Hetze hinterließ Wirkung; kritische Gegenstimmen drangen kaum durch. Besonders begeistert beteiligten sich die Nationalsozialisten an der »Schwarze Schmach«-Kampagne und hielten die Erinnerung daran auch nach 1933 wach. Viele gemeinsame Kinder von rheinländischen Frauen und Kolonialsoldaten – als »Rheinlandbastarde« diffamiert – wurden während des »Dritten Reichs« erfasst und heimlich sterilisiert. Adolf Hitler selbst hatte den angeblichen Gräueln der schwarzen Soldaten im Weltkrieg und während der Rheinlandbesetzung hasserfüllte Passagen in seiner Programmschrift Mein Kampf gewidmet. Wie viele andere Autoren und Propagandisten der völkischen Rechten betrachtete er die Franzosen als ein »vernegertes« Volk, das seine niedrige Geburtenrate durch Vermischung mit »minderwertigen Rassen« zu kompensieren suche. Das Feindbild vom schwarzen Soldaten wurde während des Westfeldzugs von 1940 durch eine groß angelegte Propaganda-Offensive neu belebt und verstärkt. Ende Mai, also wenige Tage bevor das 24. RTS zum Opfer hundertfacher Kriegsverbrechen wurde, verlangte Propaganda-Chef Joseph Goebbels nach Absprache mit Hitler in einer geheimen Ministerkonferenz, dass in spätestens 14 Tagen das ganze deutsche Volk mit Wut und Hass gegen Frankreich erfüllt sein müsse. Um dieses Ziel zu erreichen, sollte der ganze Propaganda-Apparat Erinnerungen an die »Schwarze Schmach« verbreiten und die französischen Kolonialtruppen beschuldigen, Kriegsverbrechen begangen zu haben. Zeitungen, Rundfunk und Wochenschau setzten Goebbels’ Direktiven sofort um. Schon am 31. Mai hetzte der Völkische Beobachter unter der Überschrift So führt das verkommene Frankreich Krieg! ausführlich in Bild und Wort: »Auch heute wieder hat Frankreich die grausamen schwarzen Bestien aus dem Urwald auf uns losgelassen, und wiederum haben sie ihren tierischen Instinkten freien Lauf gelassen.« Ein anderer Artikel drohte ganz offen: »Diese Mordbestien finden bei uns kein Pardon.«

»Man sollte das ganze Gelichter vergasen« Die Kampagne war erfolgreich. Sie weckte vielfach das Verlangen nach mörderischer »Vergeltung«. Beamte des SS-Sicherheitsdienstes, die eifrig Berichte über die Stimmung im Volk sammelten, konnten schon in den ersten Junitagen einschlägige Kommentare notieren. »Man sollte das ganze Gelichter vergasen, denn es ist zu schade um jeden einzelnen deutschen Soldaten, der dieser Bande zum Opfer fällt«, und: »Diese schwarzen Bestien [muss man] sofort nach der Gefangennahme erschießen.« Man darf wohl vermuten, dass die Propaganda auf die Truppe ähnlich gewirkt hat wie auf die Zivilbevölkerung. Tatsächlich finden sich in Soldatenbriefen und anderen persönlichen Dokumenten jener Tage zahlreiche Echos der vorherrschenden

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»Pressestimmung«. Auffallend ist auch, dass die meisten Verbrechen an schwarzen Gefangenen in die Zeit nach dem Beginn der Kampagne fallen. Wenn die offizielle Zeitung der NSDAP unverhohlen die Erschießung dieser Gefangenen androhte, dann lag für einen Frontsoldaten die Folgerung nahe, dass äußerste Brutalität nicht nur toleriert, sondern sogar gewünscht war. Allerdings: Es kam nicht überall zu solchen Exzessen. Die Behandlung der schwarzen Gefangenen durch die Wehrmacht war äußerst widersprüchlich. Bei Erquinvillers zum Beispiel half ein deutscher Soldat, einen Kameraden von einem Massaker abzubringen. Die große Mehrheit der Afrikaner wurde in gewöhnliche Gefangenenlager überführt. Während mancher Schwarzer auf dem Weg dorthin und auch später noch Misshandlungen erlitt, hoben nicht wenige französische Offiziere und Regimentsärzte die gute Behandlung der afrikanischen Soldaten durch die Deutschen hervor. Die Widersprüchlichkeit des deutschen Handelns legt es nahe, über die tieferen Motive hinaus nach bestimmten Auslösern für die Verbrechen zu fragen. Mancher Offizier wie zum Beispiel der Kommandeur der 1. Kavalleriedivision General Kurt Feldt begründete die Erschießung der Schwarzen damit, diese Soldaten hätten deutsche Gefangene »verstümmelt«. Die Beschuldigung war wahrscheinlich nicht immer grundlos. So zeigten manchmal auch die Senegalschützen, nachdem sie davon erfahren hatten, wie es ihren gefangenen Kameraden ergangen war, keine Gnade mehr. Ein französischer Offizier berichtet, dass er einen von ihnen energisch davon abhalten musste, zwei verletzten deutschen Gefangenen den Kopf abzuschneiden. Mit den viel beschworenen »Verstümmelungen« aber hatte es noch eine andere Bewandnis. Beim Nahkampf in unübersichtlichem Terrain benutzten viele Schwarze ihre traditionelle (und vollkommen legale) Nahkampfwaffe, das Coupe-coupe. Dieses etwa vierzig Zentimeter lange Messer, von einem Soldaten in Todesangst auf kleinem Raum geführt, konnte dem Gegner schwere Schnittwunden zufügen. Wenn deutsche Soldaten einen Kameraden mit solchen Wunden fanden, vermuteten sie sofort Verstümmelung. Denn das hatten sie ja überall gehört und gelesen: dass die »Wilden« ihre Opfer grundsätzlich verstümmeln. Da durfte »kein Pardon gegeben« werden. Doch auch in dem Fall, der General Feldt vorlag, stellte sich bald heraus, dass der angeblich verstümmelte Landser im Gefecht gefallen war. Feldt hatte allerdings bereits »Vergeltungsaktionen« angeordnet. Um die Erschießungen dennoch zu rechtfertigen, wurde der Präfekt des Départements, der spätere Widerstandskämpfer Jean Moulin, dazu gedrängt, eine Erklärung zu unterschreiben, die Schwarzen hätten französische Zivilisten ermordet. Moulin weigerte sich. Er wurde gefoltert und schließlich laufen gelassen, nachdem er versucht hatte, sich selbst zu töten. Ein zweiter Grund für die Entfesselung der Mordwut kam hinzu. Seit dem 5. Juni 1940, als die Wehrmacht begann, auf Paris zuzumarschieren, gingen die französische Armee und die wenigen verbliebenen britischen Verbände zu einer verzweifelten Taktik über. Sie bildeten getarnte Widerstandsnester, so genannte Igel. Sie ließen die deutschen Verbände passieren und beschossen sie dann überraschend von der Seite und von hinten. Um diese Stellungen zu nehmen, mussten die Deutschen zeitraubende und verlustreiche Nahkämpfe führen.

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Der Zorn, den diese Angriffe auslösten, traf vor allem die schwarzen Gegner. Wenn weiße Franzosen oder britische Soldaten die Deutschen in mörderische Kämpfe Mann gegen Mann verwickelten, aus Bäumen schossen oder in Ruinen lauerten, galt dies als legitim. Nur wenn Schwarze daran beteiligt waren, sprachen die Wehrmachtberichte von heimtückischen Anschlägen. Einmal mehr wird deutlich, dass die Tatsache, einem schwarzen Soldaten gegenüberzustehen, an und für sich schon einer Schmähung gleichkam. Der schwarze Soldat war kein Kamerad. Er war ein »wildes Tier«, das aus dem Hinterhalt zuschlägt – die »Bestie«, die vernichtet werden musste. Je brutaler die Deutschen vorgingen, desto wütender wurde der Widerstand. Senegalschützen, welche schon erste Gerüchte über die Gräuel gehört hatten, leisteten erbitterten Widerstand, selbst als Paris am 14. Juni gefallen war und jede Stunde mit dem Einstellen der Kämpfe gerechnet wurde. Ihre Stellungen zu erstürmen kostete Hunderte von Verletzten und Toten, und deutsche Soldaten, die sich schon halb im Frieden wähnten und tagelang auf keinen Widerstand mehr gestoßen waren, kannten in ihrer Rache keine Grenzen. Zumal sie es hier nicht mit Weißen zu tun hatten, die in aussichtsloser Lage noch heldenhaft »um ihre Ehre« kämpften – dafür hätte man ein »ritterliches« Verständnis gehabt –, sondern um »unmenschliche, freche Neger«. »Eine so niedrige Rasse verdient es überhaupt nicht, gegen eine so zivilisierte Rasse wie die Deutschen Krieg zu führen«, zitiert der Kommandeur des 3. Bataillons des 16. RTS Lucien Maurice Carrat einen deutschen Offizier.

Die Nazifizierung der Truppe ist schon weit fortgeschritten Die historische Literatur zum Westfeldzug bescheinigt der Wehrmacht im Allgemeinen ein »korrektes Verhalten« in Frankreich – das in scharfem Kontrast stehe zur deutschen Kriegführung »im Osten«. Dieses Bild ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Massaker zeigen, wie weit die Nazifizierung der Truppe bereits 1940 fortgeschritten war. Allerdings funktionierte dieser Prozess noch nicht reibungslos. Oft wurden, wie beschrieben, schwarze Gefangene korrekt behandelt, manchmal führten deutsche Offiziere auf Betreiben französischer Kommandeure eine Erschießung nicht aus, in anderen Fällen kamen sogar Deutsche den Afrikanern zu Hilfe. Als Hitler und die Führungsstellen der Wehrmacht und SS den Feldzug gegen die Sowjetunion vorbereiteten, versuchten sie von vornherein keinen Raum für solche Inkonsistenz zu lassen. Die Befehle für die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener schlossen Mord an bestimmten Gruppen und das Verhungernlassen von Millionen anderer Gefangener mit ein, und die Kommandeure und Soldaten der Wehrmacht zeigten immer seltener Skrupel, verbrecherische Befehle dieser Art auszuführen. So geriet das »Unternehmen Barbarossa« von Anfang an zu einem Vernichtungs- und Auslöschungskrieg. Die Massaker in Frankreich aber gehörten zu seiner mörderischen Ouvertüre. Der Autor ist Professor für europäische Geschichte am Colby College in Maine (USA). Im März erscheint sein Buch zum Thema: »Hitler’s African Victims: The German Army Massacres of Black French Soldiers in 1940« (Cambridge University Press, New York; 212 S., Abb., $ 65,–; ISBN 0521857996)

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