DIE ZEIT. Stöbern in der Geschichte:

June 15, 2016 | Author: Gert Kappel | Category: N/A
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DIE

Nr. 38 13. September 2007 62. Jahrgang

ZEIT

C 7451 C Preis Deutschland 3,20 €

Stöbern in der Geschichte: www.zeit.de/archiv

DKR 38,00 · FIN 5,80 € · E 4,30 € · F 4,30 € · NL 3,90 € · A 3,60 €

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WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK • WIRTSCHAFT • WISSEN UND KULTUR

Sind wir zu naiv? Im neuen ZEITmagazin: ANNE WILL Alle kennen sie, aber wer ist sie wirklich? S. 12 Ein Porträt

Viele wollten es nicht wahrhaben: Islamistische Terroristen bedrohen Deutschland. Wer sind sie? Wer bildet sie aus? Wie können wir uns schützen? POLITIK SEITE 2–6

ZERRISSENE FAMILIE Wie eine Behörde in Hildesheim eine Frau von S. 18 ihren Kindern trennte JEFF KOONS, Meister der Kitschkunst: Ein Besuch in seinem New Yorker Atelier S. 46 HELMUT SCHMIDT über die Torturen bei Empfängen S. 62 und Staatsbanketten Von der Bundesanwaltschaft präsentierte Fässer mit Wasserstoffperoxid, aus dem die mutmaßlichen Terroristen Sprengstoff herstellen wollten; Foto [M]: Ralph Orlowski/gettyimages

Alles, was Recht ist ... ... muss der Staatsmacht im Kampf gegen den Terrorismus erlaubt sein. Mehr nicht

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Fotos: Fotex (u.); Jim Rakete (o.r.)

reißig Jahre nach dem Deutschen Herbst, dem mörderischen Höhepunkt des RAF-Terrors, sollte die Bundesrepublik wieder Ziel eines fürchterlichen Anschlags werden. Geplant hatten ihn zum Islam konvertierte, in pakistanischen Trainingscamps ausgebildete junge Deutsche. Dass die Attentate verhindert werden konnten, ja, dass sie dank langmütiger Fahndung und einer dichten, wenn auch nicht pannenfreien Überwachung der Täter eigentlich gar nicht mehr stattfinden konnten – dies alles ändert nichts am Bewusstsein der Gefährdung. Innenminister Wolfgang Schäuble fühlte sich bestätigt: Die Onlinedurchsuchung privater Computer muss jetzt her. Wie vor dreißig Jahren flammt der Streit darüber auf, was der Staat zur Abwehr des Terrorismus (noch alles) tun darf und muss – und was nicht. Wo liegen die Schranken, jenseits derer die Staatsmacht das gefährdet, was sie eigentlich schützen soll: die bürgerlichen Freiheiten? Unter der Bedrohung durch die RAF prägte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt den Satz: »Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen will, muss innerlich auch bereit sein, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was vom Rechtsstaat erlaubt und geboten ist …« Im Jahr 1978 resümierte Schmidt dann: »Ich glaube, dass wir bis an die Grenzen des Rechtsstaates gegangen sind. Aber wir haben sie nicht übertreten.« Wo aber diese Grenze liegt, war damals, ist von jeher und bleibt wohl immer umstritten. Kann man wenigstens aus den zeitgeschichtlichen Erfahrungen lernen? Die Antwort ist höchst widersprüchlich: im Prinzip ja – im Einzelnen nein. Im Einzelnen gibt der zeitgeschichtliche Vergleich nämlich wenig her. Zu verschieden die Typen des Terrorismus damals und heute – zu verschieden die Ansatzpunkte staatlicher Abwehr und zu unterschiedlich demnach die potenziellen Gefährdungen individueller Grundrechte. Bei der RAF hatte man es mit Tätern zu tun, die sich als Avantgarde der Geschichte wähnten und den roten Morgen einer besseren Zukunft nicht nur herbeiführen, sondern auch erleben wollten. Diese Terroristen wollten hier leben, wirken, ja herrschen – Polizei und Justiz konnten sich auf sie einstellen und sie strafrechtlich verfolgen. Entsprechend bezogen sich alle damaligen Gesetzesverschärfungen auf den Katalog der Straftaten und die Regeln des Strafprozesses. Am schärfsten griff der Rechtsstaat damals ein in die Beziehungen zwischen den bereits gefassten Terroristen und deren Anwälten – schon deshalb, weil in der gesamten vorausgegangenen Rechtsgeschichte niemand ahnen musste, dass Rechtsanwälte mit den Verbrechern gemeinsame Sache machen, Kassiber verschieben und Waffen in Gefängnisse schmuggeln könnten. Mit anderen Worten: Der damalige Terrorismus war eine An-

gelegenheit, der man nicht zuletzt mit eskalierten Sanktionen auch noch nach der Tat beikommen konnte. Folglich waren auch die Verschärfungen der Gesetze in jeder Hinsicht so transparent und nachvollziehbar wie der Strafprozess, auf den sie sich bezogen. Heute ist dies ganz anders. Der islamistische

Terrorismus ausländischer Steuerung mit seiner Extremfigur des Selbstmordattentäters kennt nicht das summum malum des Thomas Hobbes, nämlich die Angst um das eigene Überleben als letzte Schranke des eigenen Handelns. Diesen Terroristen ist der eigene Tod nicht ein Übel, sondern ein Instrument, ungezählte Menschen mit in den Tod zu reißen, weder die eigene Zukunft noch die der angegriffenen Gesellschaft ist ihnen eine Überlegung wert. Und folglich handelt es sich nicht nur um einen weitaus gefährlicheren Terrorismus; vielmehr geht es um ein verbrecherisches Treiben, das nicht mit der Drohung nachträglicher Sanktionen, sondern nur durch rechtzeitige Prävention eingedämmt werden kann. Aber selbst unter diesen erschwerten Bedingungen geht es um den Schutz des Rechtsstaats, nicht um die Errichtung eines entgrenzten Präventionsstaats. Von der Sanktion zur Prävention: Damit verschiebt sich auch das Problem der Grenzen. Sanktionen erfolgen öffentlich, die Prävention aber vollzieht sich im Geheimen. Was immer der Staat sich auf diesem Gebiet an Befugnissen holt – der Bürger kann es nicht mehr durchschauen. Dass man seinen E-Mail-Verkehr, also seine bewusste Kommunikation mit Dritten, gegebenenfalls nach strengen (und kontrollierten) Regeln

Die Göttlichen Vor 30 Jahren starb die einzigartige Maria Callas. Was aber macht eine Diva aus? Und warum gibt es heute keine Diven mehr, sondern nur noch Stars? FEUILLETON S. 45–48

VON ROBERT LEICHT

überwacht, das kann er noch nachvollziehen – weil es im Wesen dasselbe ist wie die Überwachung der Post und des Telefons. Dass sein heimischer Computer heimlich mit allen Daten ausgespäht werden könnte, ist etwas ganz anderes, auch etwas anderes als eine konventionelle Durchsuchung seiner Wohnung, vor der ein Beamter an der Tür klingeln müsste – und bei der er Zeuge der Aktion bliebe. Wie sensibel die Grenze ist, die dabei überschritten würde, sieht man schon daran, dass für eine solche geheime Computerausspähung eine Verfassungsänderung erforderlich wäre. (Und dass man das Grundgesetz schon gar nicht ändern sollte, bevor das Bundesverfassungsgericht im kommenden Frühjahr über ein entsprechendes Gesetz aus Nordrhein-Westfalen entschieden hat, müsste eine pure Selbstverständlichkeit sein.) Wo hier die Grenze des Rechtsstaats verläuft, lässt sich allerdings nicht unter schieren Nützlichkeitsgesichtspunkten entscheiden. Präventiv zweckmäßig könnte es nämlich auch sein, die DNA-Sequenz jedes Bürgers von Geburt an vorsorglich zu speichern – ein Gottesgeschenk für jeden Fahnder, sollte man meinen; und doch unter rechtsstaatlichen Prinzipien völlig aberwitzig. Folglich muss man sich heute, wie vor drei Jahrzehnten, erst einmal über die Prinzipien verständigen: In welchem Staat wollen wir leben, mit welchen, insbesondere mit welchen geheimen Befugnissen? Sodann: Im Streit um die Grenzen des Rechtsstaats muss sich rechtfertigen, wer Grundrechte (wie die Unverletzlichkeit der Wohnung) einschränken will, nicht aber, wer sie verteidigt. Schließlich: Nicht alle irgendwie nützlichen, sondern nur die unbedingt unabweisbaren Einschränkungen können dabei überhaupt zur Diskussion stehen. Die geheime Computerausspähung komme, so heißt es jetzt besänftigend, nur fünf-, sechsmal im Jahr infrage. Wenn dies aufrichtig gemeint sein sollte, so würde es sich also nicht um ein schleppnetzartiges Präventionsinstrument handeln, sondern um eine klassische, sehr gezielte Fahndungsmaßnahme. Dafür aber reicht, wie man am jüngsten Fahndungserfolg sehen kann, das bisherige Instrumentarium aus. Wer wegen dieser wenigen Fälle das Grundgesetz ändern wollte, könnte genauso gut sagen: Wegen der fünf, sechs Hinrichtungen hätte man doch nicht die ganze Todesstrafe abschaffen müssen. Gewiss, bei all diesen Diskussionen um die Grenzen des Rechtsstaats kann man listig fragen, weshalb ausgerechnet beim nächsten kleinen Schritt das Ganze auf dem Spiel stehen soll. Aber die Freiheit stirbt eben schrittweise. Irgendwo auf dieser schiefen Bahn muss endlich haltgemacht werden. Audio a www.zeit.de/audio

Doppelter Ernstfall Zwischen globalisierter Wirtschaft und brodelnder Partei: Die SPD muss sich zu Schröders Reformen bekennen VON BRIGITTE FEHRLE

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ls sich Gerhard Schröder im Frühsommer 2005 zu Neuwahlen entschloss, geschah dies – neben allen egoistischen Gründen – in dem verzweifelten Willen, die SPD vor dem Untergang zu bewahren. Die Partei war in den Meinungsumfragen auf dramatische 28 Prozent abgestürzt. Schuld war die Agenda 2010. Tiefer geht’s nimmer, dachten die Sozialdemokraten damals. Doch, es geht. Jüngste Umfragen sehen die SPD bei 26 Prozent. Und die Partei ist zerrissener denn je. Inzwischen hat sich der Bazillus der Selbstzerstörung mitten in das Lager der Agenda-Befürworter gefressen. Steinmeier, Steinbrück und Müntefering sind »stolz« auf die Agenda. Kurt Beck sagt, er finde sie »richtig«, fordert aber ein Ende der »Zumutungen«. Der Streit scheint absurd. So absurd, dass man nicht wissen kann, ob den Beteiligten klar ist, wie ernst er ist. Denn hinter den Bekenntnissen zur Agenda, die alle Beteiligten diszipliniert wiederholen, verbirgt sich ein tiefer Dissens – oder ein großes Missverständnis über die Rolle der Sozialdemokratie. Steinbrück, Steinmeier, Müntefering verteidigen die Agenda mit aller Kraft und mit gutem Gewissen. Kurt Beck verteidigt Schröders Erbe auch. Aber er wirkt, als würde er die Agenda am liebsten ungeschehen machen. Ganz anders die Sicht der drei starken Minister. Sie erklären die Gegenwart zur bloßen Folge der richtigen Politik aus besseren Zeiten. Ihre Zeit, ihre Politik. Aufschwung, Rückgang der Arbeitslosigkeit, steigende Steuereinnahmen – alles verspätete Früchte rot-grüner Politik. Und weil sich Erfolge, die als Nachhall einer früheren Regierung daherkommen, nicht von selbst erklären, müssen sie bis zur Besserwisserei behauptet werden. Darin liegt die Schwäche der Agenten der Agenda. Weil sie behaupten und nicht beweisen (können), dass die Agenda den Aufschwung bewirkt habe, öffnet sich dem Zweifel die Tür. Und schon werden aus den unpopulären Elementen der rot-grünen Reformpolitik Zumutungen. Mitten in diesem Zweifel bewegt sich Kurt Beck. Dem Parteichef ist beim Verteidigen der Agenda ausgesprochen unwohl. Nun fordert er das Ende der »Zumutungen«. Und indem er das tut, indem er die Rhetorik der Kritiker aufnimmt, stellt er sich auf ihre Seite. Wer

die Agenda in diesem Sinne interpretiert, wird sie am liebsten verschweigen wollen. Vorwärts – und vergessen! Doch die SPD kann die Agenda nicht zum Verschwinden bringen, wie es die dogmatische Parteilinke um Ottmar Schreiner will. Sie kann sie aber auch nicht ins Geschichtsregal legen. Oder doch? Kurt Beck scheint gewillt, das zu probieren. Er will die verlorenen Wähler, die unzufriedenen SPDAnhänger, die rebellierenden Parteimitglieder an der Agenda vorbei in eine neue, sozialdemokratische Zukunft führen. Doch warum sollten die Wähler diesem Selbstbetrug folgen? Sie tun es nicht, zum Glück. Die SPD wird erst dann wieder attraktiv

und mehrheitsfähig, wenn sie ihre jüngste Regierungsgeschichte weder entsorgt noch beschönigt. Sie wird nicht umhinkommen, sich den Wählern mit einer differenzierten Analyse der Agenda-Politik zu stellen. Mit Schröders Reformen ist in schwierigen Zeiten und unter dramatischen Schmerzen das Realitätsprinzip in die Sozialdemokratie eingekehrt. Darauf müsste sich die SPD heute selbstbewusst stützen. Denn die Zeiten sind nicht einfacher. Der laue Aufschwung kann schon morgen vorbei sein. Die nächste Finanzkrise trifft vielleicht Europa und die deutschen Kleinsparer. Und auch die innenpolitischen Bedingungen sind seit Schröders Abwahl schwieriger geworden. Es gibt eine starke, populistische Linkspartei, die es den Leuten leicht macht, in Nischen des Selbstmitleids zu flüchten. Und es gibt eine Christdemokratie, die dazugelernt hat. Sie wird der SPD nicht den Gefallen tun, in altes politisches Lagerdenken zurückzufallen. Die SPD müsste also heute ein Politikangebot für den doppelten Ernstfall vorlegen. Eines, das Antworten sucht auf die Probleme der globalisierten Welt. Und eines, das auf die Gefühlslage des Landes passt. Die Welt haben Steinbrück, Steinmeier, Müntefering im Blick. Beck schaut auf die Stimmung. Könnte das zusammengehen? Es könnte. Unter Aufbietung aller Vernunft und guten Willens. Doch was wir jetzt sehen, ist ein Machtkampf, ein zäher Streit um die Führung. Konsequent zu Ende gelebt, wird er die SPD in die Politikunfähigkeit treiben. Audio a www.zeit.de/audio

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" WORTE DER WOCHE »Ich hätte mich ja eher in Dortmund oder Köln verkrochen. Aber vielleicht war Oberschledorn einfach nur Zufall.« Willi Dessel, Ortsvorsteher von Oberschledorn im Sauerland, wo die Polizei drei mutmaßliche islamistische Terroristen festnahm

»Das ist Muslim- und Bürgerpflicht.« Aiman Mazyek, Generalsekretär des Zentralrats der Muslime, zur Unterstützung der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen Terrorismus

»Die große Frage unter den Kollegen lautet heute: Ist dieser Bart echt?«

POLITIK Sind wir zu naiv?

Von der RAF zu Gotteskriegern: Deutschland macht seine Erfahrungen mit einem neuen Terror – und einer neuen globalen Wirklichkeit

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er in diesen Tagen Zeitung liest oder fernsieht, muss den Eindruck gewinnen: Die Deutschen interessieren sich mehr für den Terror, der dreißig Jahre her ist, als für den, der uns heute bedroht. Mehr für die RAF als für

»Dieser Wahlkampf wird sehr schmutzig.« Jarosław Wałęsa, Politiker und Sohn des früheren Präsidenten Lech Wałęsa, über die Neuwahlen in Polen

»Ihr macht alles kaputt, was ich aufgebaut habe.« Kurt Beck, SPD-Chef, zu den anonymen Kritikern in den eigenen Reihen

»Die Grünen müssen sich nur überlegen, ob sie aus der babylonischen Gefangenschaft mit den Sozialdemokraten herauswollen.« Michael Freytag, designierter Hamburger CDU-Vorsitzender, über die Option einer schwarz-grünen Regierung nach den Landtagswahlen im Februar

Jörg Haider, Landeshauptmann von Kärnten, über die Bedürfnisse muslimischer Frauen

DIE ZEIT Nr. 38

Gewaltsam erweiterter Horizont

Michael McConnell, amerikanischer Geheimdienstdirektor, über die neueste Videobotschaft von Osama bin Laden, auf der der Al-Qaida-Chef mit auffällig dunklem Bart erschien

»Die Frauen sind doch froh, wenn sie dieses blöde Kopftuch nicht tragen müssen. Die haben auch gerne eine schöne Frisur.«

13. September 2007

den Dschihad, mehr für Andreas Baader als für Daniel S., den deutschen Konvertiten, der mit seinen Glaubensbrüdern Sprengstoffattentate vorbereitet hat. Man staunt, wenn man die Reaktionen auf die Terrorgefahr damals und heute vergleicht.

Die Baader-Meinhof-Bande, ein gesellschaftlich isolierter, auf historisch verlorenem Posten kämpfender Haufen, hat die Bundesrepublik der späten siebziger Jahre zutiefst aufgewühlt. Der gewaltbereite Islamismus, ein globales Phänomen von massenmörderischer Zerstörungskraft, vermag die Ruhe der Nation kaum zu irritieren. Zivilisiert (und parteitaktisch) wird über Onlinedurchsuchungen, die Strafbarkeit der Terroristenausbildung und die Zugänglichkeit von Wasserstoffperoxid diskutiert. Von Panik keine Spur. Sind die Deutschen vernarrt in den vergangenen Terror und naiv gegenüber dem allgegenwärtigen? Dass das Pathos der bekannten, immer wieder aufreizenden deutschen Geschichts- und Moraldebatten in der neuen Konfrontation nicht mehr mobilisiert wird, kann man allerdings nur begrüßen. Als die Bundesrepublik sich zur Beteiligung am Afghanistankrieg entschloss, war die Begründungsrhetorik vielfach noch halsbrecherisch hochgespannt, als gehe es darum, ein für alle Mal mit einem finsteren Mittelalter Schluss zu machen. Heute definiert der deutsche Außenminister »Erfolg« in Afghanistan denkbar nüchtern:

stabile Selbstregierung des Landes, keine Rückzugsräume für Terroristen. Das heißt nicht, dass die Aufgabe jetzt bescheiden und einfach würde – Steinmeier will im Gegenteil mehr deutsches Engagement. Es heißt auch nicht, dass man seine moralischen Ansprüche aufgeben müsste – der Blick auf die Lage der Frauen in Afghanistan zeigt, dass sich seit der Intervention tatsächlich Chancen eröffnet haben, die man schützen und entwickeln muss. Vielleicht trägt auch das dazu bei, dass zwei Drittel der Bevölkerung gegen den Afghanistaneinsatz sind: Die Erfolge, die es dort auch gibt, sind hinter den Terroranschlägen und Entführungen oft verborgen – und sie sehen anders aus, als man sich das ausgemalt hatte. Die Burka sollte fallen, sie fiel nicht, jedenfalls nicht dauerhaft. Einen Rest Optimismus zu bewahren heißt darum, zweimal hinzusehen und die eigenen Wünsche nicht zum alleinigen Maßstab zu machen. Es geht nicht um unsere Gefühle, es geht um die Realität dort. Fast gewaltsam wird im Augenblick unser Risiko- und Aufgabenhorizont erweitert. Pakistan? Das schien ein Problem der Briten zu sein, die da Kolonialmacht waren und ein Magnet für Ein-

wanderer von dort. Jetzt ist Pakistan auch unser Problem, als Reiseziel für Terror-Tourismus aus der Bundesrepublik und als Gefahrenquelle für die deutschen Soldaten in Afghanistan. Der türkische Verdächtige bei dem jetzt aufgedeckten Terror-Plot bringt die Gewissheit ins Wanken, dass die Migranten in der Bundesrepublik von verlässlicher Harmlosigkeit seien, anders als die Nordafrikaner und Südasiaten in Frankreich und Großbritannien. Sogar der Irak geht uns mehr an. Der PetraeusBericht hat den Europäern den Krieg zurück ins Bewusstsein gebracht, der als amerikanischer Irrsinn, gegen den man Gott sei Dank seinen Widerstand zu Protokoll gegeben hatte, schon fast vergessen war. Von allen Seiten klopft es an. Kein Grund, die Nerven zu verlieren. Aber eine Gelegenheit, seine Gedanken und Empfindungen auf den Intensitätsgrad der Realität zu bringen. Nicht der Wirklichkeit von vor dreißig Jahren. Sondern der von heute. JR/BUL Siehe auch Seite 3–6 Was tun mit Pakistan? Was fasziniert die Konvertiten? Wie geht es den afghanischen Frauen?

»Wir werden hier hereingelegt. Und davon habe ich genug. Wir fliegen nach Hause.« Gerry McCann, Familienvater aus England, nachdem er und seine Frau in Portugal unter den Verdacht geraten sind, ihre vermisste Tochter Madeleine selbst getötet zu haben

»Wir müssen eher mehr als weniger tun«

»Nach dem dritten ›El Condor Pasa‹ auf der Panflöte muss wirklich einfach mal Schluss sein.« Dieter Küßner, CDU-Stadtrat aus Hannover, zur Begründung seiner Forderung, Straßenmusiker in Zukunft einer staatlichen Qualitätskontrolle zu unterziehen

»Eigene geistige und menschliche Entwicklung.« »Eva braun?« Helmut Böger, »Bild«-Kommentator, über Eva Hermans Lob auf die NS-Familienpolitik

" ZEITSPIEGEL Jesu Freunde Jesus Christus könnte doch noch rechtlich rehabilitiert werden. Fast 2000 Jahre nach seinem Tod. Eine Gruppe kenianischer Christen hat beim High Court in Nairobi eine Klage eingereicht, mit der Jesu Verurteilung für illegal erklärt werden soll. Und das ist noch nicht alles. Auch die Bibel wollen die »Friends of Jesus« berichtigen, denn sie stelle Jesus als Kriminellen dar, klagen sie. Ihre Klage begründen die Gläubigen damit, dass zu Jesu Lebzeiten neben dem römischen Recht auch jüdische Gesetze galten. Jesus wurde nach römischem Recht gekreuzigt, eine Strafe, die Räuber, Vergewaltiger und andere Kriminelle traf. Das war falsch, argumentieren die Freunde Jesus. Eigentlich hätte der Gottessohn nach jüdischem Recht verurteilt werden müssen, und zwar wegen Blasphemie. Auf die aber stand Steinigung und nicht Kreuzigung. Der Rechtsweg gestaltet sich allerdings etwas schwierig. Nach kenianischem Recht muss den Beklagten nämlich die Klageschrift zugestellt werden. Bislang aber konnten sie Kaiser Tiberius, Pontius Pilatus und König Herodes noch nicht zugesandt werden. Die Richterin ließ indessen ausrichten, die Angelegenheit sei nicht dringend genug, um die Ferien der obersten Richter zu unterbrechen. AKÖ

Foto: derifo/imago

" NÄCHSTE WOCHE IN DER ZEIT

Wozu noch heiraten? Wie ernst wird die Ehe genommen? Ist sie Privatsache, oder sollte sich der Staat mehr einmischen? Hochzeit feiern 2007 bedeutet: Mehr Inszenierung und weniger Illusionen. Dazu Fragen an einen Familienforscher und neue Statistiken DOSSIER So schön wird der Herbst! Die Sommerpause an den Bühnen geht zu Ende, der Kulturbetrieb läuft wieder auf Hochtouren: Von Keith Jarrett über Erinnerungen an Glenn Gould bis hin zum Neubau des Prado – was Sie sich nicht entgehen lassen sollten SPEZIAL Der rote Mond: Wie Moskaus Sputnik, der erste Satellit, vor fünfzig Jahren die westliche Welt in Aufruhr versetzte ZEITLÄUFTE

Foto [M]: Dominik Butzmann für DIE ZEIT

Eva Herman, Ex-NDR-Moderatorin, auf ihrer Homepage unter dem Punkt »Was mir wichtig ist«

DIE ZEIT: Herr Minister, Ihr Kollege, der neue französische Außenminister Bernard Kouchner, war vor drei Wochen in Bagdad. Wann fliegen Sie denn mal dahin? Frank-Walter Steinmeier: Bagdadreisen sind doch kein Wettbewerb. Unsere Haltung in der Irakfrage ist bekannt. Und ich will nicht den Eindruck erwecken, gerade wir könnten dort zur Zeit Entscheidendes ausrichten. ZEIT: Wäre es richtig, wenn sich die Amerikaner zurückzögen? Oder geht uns das nichts an? Steinmeier: Zwar haben wir schon vor vier Jahren befürchtet, was heute im Irak eingetreten ist. Doch warum sollten wir darüber Genugtuung empfinden? Und erst recht will ich mir nicht anmaßen, kluge Ratschläge zu geben. Eins aber ist gewiss: Es muss um jeden Preis versucht werden, einen Versöhnungsprozess zwischen den verfeindeten schiitischen und sunnitischen Gruppierungen einzuleiten. Ob der Rückzug von Militär notwendig und gerechtfertigt ist, kann nur auf Basis der Sicherheitslage vor Ort entschieden werden. Großbritannien hat sich in Basra gerade dafür entschieden, seine Kräfte aus der Stadt selbst abzuziehen. In den USA werden die Einschätzungen von General Petraeus und Botschafter Crocker Grundlage der weiteren Diskussion sein. ZEIT: Der UN-Beauftrage Tom Koenigs hat im Interview mit der ZEIT befürchtet: Wenn die Amerikaner aus dem Irak abziehen, wird dies die Extremisten in der Region ermutigen, aber auch in Afghanistan. Ist an dieser Befürchtung etwas dran? Steinmeier: Das ist nicht nur eine Befürchtung, die Tom Koenigs hat. Auch im Baker/HamiltonVorschlag, der im Dezember letzten Jahres veröffentlicht worden ist, wurde ein übereilter Rückzug abgelehnt, weil er das Gefährdungspotenzial erhöht. Stattdessen wurde ein Rückzug in Stufen und in Abhängigkeit von der Entwicklung der Sicherheitslage vorgeschlagen. ZEIT: In Basra haben nach dem Rückzug der Briten Schiiten auf Schiiten geschossen. Steinmeier: Ich habe nicht ohne Not gesagt, dass Entscheidungen über den Rückzug in Abhängigkeit von der Sicherheitslage zu treffen sind. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Diejenigen, die militärisch interveniert haben, tragen auch besondere Verantwortung für die Gestaltung eines Rückzugs. ZEIT: Welche Rückwirkungen wird dies auf Afghanistan haben – und damit auf deutsche Soldaten? Steinmeier: Zweifellos hat die irakische Situation Einfluss auf Afghanistan, vermutlich ist die erhöhte Zahl von Selbstmordattentaten in Afghanistan auch eine Konsequenz der Auseinandersetzung im Irak. Trotzdem rate ich zur Vorsicht. Ich bezweifle, dass das Nachdenken über Rückzug im Irak notwendigerweise eine Ermutigung für die regierungsfeindlichen Kräfte in Afghanistan bedeuten muss. Viel wichtiger ist doch, wie entschlossen die internationale Staatengemeinschaft an ihrer Präsenz in Afghanistan festhält und mög-

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) über das weltweite Wiedererstarken der Dschihadisten

licherweise sogar ihr Engagement zur Stabilisierung des Landes erhöht. ZEIT: Das bedeutet: Wenn die Amerikaner rausgehen, müssen wir noch stärker reingehen? Steinmeier: Ich habe von Engagement gesprochen. Das war nicht beschränkt aufs Militärische. ZEIT: Die Propaganda der Dschihadisten wird sein: »Wir haben Irak befreit«. Und daraus folgt: Das muss in Afghanistan fortgesetzt werden. Steinmeier: Es gibt nicht die Zwangsläufigkeit, die Sie mit Ihrer Frage unterstellen. Niemand kann es den Menschen hierzulande verdenken, dass sie fragen, welchen Umfangs, welcher Dauer unser Engagement in Afghanistan sein wird. Wir müssen immer wieder selbstkritisch überprüfen, wie weit wir mit unserem Engagement in Afghanistan gekommen sind. Gemessen an unseren übernommenen Selbstverpflichtungen, sage ich: Wir müssen eher mehr als weniger tun. Das gilt für den Auf- und Ausbau der afghanischen Poli-

»Zweifellos hat die irakische Situation Einfluss auf Afghanistan. Die Sicherheitslage ist insgesamt unbefriedigend

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zei, in noch größerem Umfang aber für Ausbildung und Ausstattung der afghanischen Armee – und erst recht für den zivilen Wiederaufbau. ZEIT: Werden in Afghanistan in letzter Zeit verstärkt Deutsche angegriffen? Steinmeier: Natürlich ist es ein Problem, wenn Deutsche angegriffen werden. Innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft herrscht aber durchweg nicht der Eindruck, dass die Deutschen spezifisch im Fokus von Angriffen in Afghanistan stehen. Leider ist die Sicherheitslage insgesamt unbefriedigend. Alle in Afghanistan Tätigen, nicht nur die Soldaten, auch die NGOs, sind gefährdet. ZEIT: Ist die Verbindung von militärischem und NGO-Engagement haltbar, oder wird sie für die NGOs zunehmend zum Problem? Steinmeier: Unsere militärische Präsenz in Afghanistan ist kein Selbstzweck. Sie rechtfertigt sich daraus, dass es ohne Sicherheit keinen Wiederaufbau geben kann und ohne Wiederaufbau keine Sicherheit. Selbst wenn einzelne NGOs sich nicht dem Schutz unseres Sicherheitsangebotes unterstellen möchten, hielte ich es dennoch nicht für verantwortbar, ohne den Schutz, den Soldaten bieten können, präsent zu sein. ZEIT: Müsste man nicht einmal klar und realistisch formulieren, was man in Afghanistan erreichen will? Eine Zeit lang sah es so aus, als wollten wir das ganze Land mit Mädchenschulen überziehen, dann hatten wir plötzlich mit einem Aufstand zu tun, den niemand mehr in dieser Stärke erwartet hatte.

Steinmeier: Nur wer zynisch denkt, wird so eine Behauptung aufstellen. Dieses Land ist durch 30 Jahre Krieg und Bürgerkrieg gegangen. Es hat unter einer Taliban-Herrschaft gelitten, unter der Tausende brutal zu Tode kamen, und es ist selbst eine Quelle für Unsicherheit in der westlichen Welt geworden. Unser Eingreifen dort, gemeinsam mit anderen, hatte einen Grund, der leider in Vergessenheit geraten ist. Wer sich daran erinnert, wird auch keine Schwierigkeiten haben, zu begründen, wohin wir wollen: Wir wollen, dass dieses Land zurückkehrt zu einem stabilen Staatswesen, das seine eigenen Sicherheitsaufgaben erfüllen kann und in dem Menschen wieder in der Lage sind, sich von eigenem Einkommen zu ernähren. Die Sicherheitslage ist unbefriedigend. In vielen anderen Bereichen sind Fortschritte erreicht worden, über die wir allerdings zu wenig reden. ZEIT: Wer ist in der Regierung dafür zuständig, dies den 67 Prozent der Deutschen zu erklären, die den Afghanistaneinsatz ablehnen? Steinmeier: Unter anderem der Außenminister, der sich dieser Aufgabe stellt und gleichwohl weiß, wie schwierig eine solche Aufgabe bleibt. Im Übrigen gehe ich davon aus, dass sich auch die anderen Mitglieder der Bundesregierung an dieser Aufgabe beteiligen. ZEIT: Das war bislang nicht sehr erfolgreich. Steinmeier: Was ist der Maßstab für den Umfang und die Dauer unseres Engagements? Ich sage doch nicht erst seit heute: Wir arbeiten dafür, dass Afghanistan in den Zustand versetzt wird, seine Aufgaben wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Ich halte es für realistisch, das zu schaffen. Dass dies in einer Situation, in der es scheinbar nur wenig vorangeht, in manchen Fällen sogar Rückschläge geben wird, eine schwere Aufgabe ist, muss man mir nicht sagen. Davon bekomme ich einen eigenen Eindruck, wenn ich im Land unterwegs bin. ZEIT: Die Terroristen, die in diesen Tagen in Deutschland zuschlagen wollten, wurden in Pakistan ausgebildet und erhielten Befehle von dort. Haben Sie mit der pakistanischen Seite darüber gesprochen, dass dies unterbunden werden muss? Steinmeier: Bei meiner letzten Reise nach Pakistan bin ich ins Grenzgebiet zu Afghanistan gefahren. Dort habe ich mich in Peschawar vom Gouverneur selbst über seine Einschätzung der Lage unterrichten lassen. Er macht sich keine Illusionen über das Ausmaß der Gefährdung. Aber die pakistanische Regierung hat auch erste Schritte unternommen, die sich als hilfreich erwiesen haben, etwa bei der Befriedung in Wasiristan, wo al-Qaida aus ihren Schlupflöchern vertrieben wurde. ZEIT: Wird die Stabilisierung im Süden Afghanistans, an der pakistanisch-afghanischen Grenze, von Pakistan aus hintertrieben? Steinmeier: Diese These ist so verbreitet wie eingängig. Ich bin nach meiner Pakistanreise aber skeptisch geworden, was die Haltbarkeit dieses Vorwurfs angeht. Mir scheint, in Islamabad ist

erkannt worden ist, dass eine ausgreifende Destabilisierung Afghanistans nicht im pakistanischen Interesse liegt. Sie würde ja nur die islamistischen Kräfte in den Stammesgebieten im Norden des Landes und darüber hinaus ermutigen. Die Gefahren einer solchen Destabilisierung Pakistans sind jüngst auf dramatische Weise durch die Besetzung der Roten Moschee und die vielen Anschläge, insbesondere in Islamabad, deutlich geworden. Ich ziehe aus dem Umdenken in Pakistan den Schluss, dass die Chancen vielleicht größer sind, als ich bisher angenommen habe, die beiden Regierungen in Dialog zu bringen. Deshalb haben wir als G8-Präsidentschaft Afghanen und Pakistaner zum Treffen der Außenminister nach Potsdam eingeladen, um die überfällige Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg befördern zu helfen. ZEIT: Für wie stabil halten Sie Pervez Musharraf? Steinmeier: Ich glaube, dass die Vorstellung korrekturbedürftig ist, das Land werde beherrscht von islamistischen Horden und stehe auf der Kippe. Trotz der Geschehnisse um die Moschee, trotz der jüngsten Anschläge, trotz des internen Streites um die Absetzung des Obersten Richters scheint mir Pakistan stabiler, als wir es aus der Entfernung wahrnehmen. Bei meinen Gesprächen habe ich erfahren, dass dieses Land eine politische Kultur hat, die wir oft unterschätzen. Man streitet um die Doppeleigenschaft des Staatspräsidenten – er ist gleichzeitig ziviler Präsident und militärischer Oberbefehlshaber – und um die Rückkehr der ehemaligen Ministerpräsidenten Benasir Bhutto und Nawas Scharif. Die Vernunft der politischen Klasse scheint mir auch so weit zu gehen, dass in beiden Punkten eine politische Lösung in Pakistan möglich wird. Das gibt mir die Hoffnung, dass trotz des Parteienstreits der gemeinsame Wille wach bleibt, sich gegen die islamistische Bedrohung zur Wehr zu setzen. ZEIT: Aber Nawas Scharif ist gleich nach seiner Rückkehr verhaftet und deportiert worden! Steinmeier: Ob dies rechtmäßig war, werden die pakistanischen Gerichte klären müssen. Die jüngsten Ereignisse haben aber auch ihre Vorgeschichte. General Musharraf ist ganz gewiss kein blindwütiger Diktator, und die pakistanische Zivilgesellschaft hat sich viel weiter entwickelt, als viele im Westen wahrnehmen. ZEIT: Warum soll das umstrittene Mandat für Operation Enduring Freedom verlängert werden? Steinmeier: Führen wir doch keine Debatte über Abkürzungen, sondern diskutieren wir doch endlich die politischen Fragen! Der Streit dreht sich im Kern darum, ob wir auf eines der Elemente – ziviler Wiederaufbau, militärische Präsenz zur Gewährleistung der Sicherheitslage und Bekämpfung des Terrorismus – verzichten können. Ich glaube, das ist noch nicht der Fall, und plädiere deshalb dafür, dass wir uns nicht aus der Verantwortung stehlen. DAS GESPRÄCH FÜHRTEN BRIGITTE FEHRLE, JÖRG LAU UND BERND ULRICH

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Sind wir zu naiv? POLITIK

DIE ZEIT Nr. 38

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Die Gotteskrieger, die wir riefen Pakistan gilt als Kaderschmiede des Terrors. Und das ist es auch. Der Westen hat das Land zum Gewaltexporteur gemacht

Amerika verteilte Schulbücher, die zum Heiligen Krieg aufriefen Musharraf kann die Terrorgefahr vermutlich nicht abwenden. Auch Benasir Bhutto ist als Frontfrau im Kampf gegen den Terror nicht vertrauenswürdig. Während ihrer zweiten Amtszeit als Ministerpräsidentin (1993 bis 1996) sind die Taliban von Pakistan erst »erfunden« worden. Auch Nawas Scharif, der Exilführer der Muslim League, der zweiten großen Volkspartei, ist kein Hoffnungsträger. Als er Ministerpräsident war, versuchte er die Scharia in Pakistan einzuführen. Wohin man in der politischen Landschaft Pakistans auch blickt, es gibt wenig Aussicht auf Besserung. Das Personal, das jetzt an die Macht drängt, ist das alte. Die Pakistaner sehen die Gesichter wieder, die sie vor dem Putsch Musharrafs im Oktober 1999 gesehen haben. Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben. Doch gibt es vorerst keine Alternativen zu den Bhuttos und Scharifs. Gerade darum ist es ratsam, den Blick abzuwenden und jenseits der aktuellen Machtspiele grundsätzliche Fragen zu stellen. Wie kann es möglich sein, dass so viel Terror aus einem Land kommt? Die Antwort lautet: Erst die Politik des Westens hat es möglich gemacht. Der Dschihad, den heute alle fürchten, ist als gewaltsame Form des islamistisch motivierten Kampfes nach Pakistan importiert worden. Nachdem die Sowjets 1979 Afghanistan besetzt hatten, wurde die pakistanisch-afghanische Grenze zur heißen Front des Kalten Krieges. Zehntausende Schüler in Pakistans Medressen haben sich ihr ideologisches Rüstzeug mit Hilfe von Büchern angeeignet, die mit Geldern der CIA in Amerika gedruckt worden waren. Zwischen 1984 und 1994

erhielt das Zentrum für Afghanische Studien an der Universität von Nebraska von der staatlichen Hilfsagentur USAID insgesamt 51 Millionen Dollar, um Schulbücher zu entwickeln, welche den Heiligen Krieg als zentrale Tugend eines jeden Muslims propagierten. Insgesamt 13 Millionen Exemplare solcher Dschihad-Schulbücher sind in Flüchtlingslagern und Medressen verteilt worden. Das Ziel war, möglichst viele junge Afghanen und Pakistaner dazu zu bringen, über die Grenze zu gehen, um dort dem sowjetischen Imperium eine Niederlage beizufügen. Dafür zahlten Amerika und Saudi-Arabien ingesamt einige Milliarden Dollar. Empfänger der Gelder war der pakistanische Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence). Der ISI übernahm die militärische Ausbildung und Bewaffnung der kampfeswilligen Gotteskrieger. Die Koranschulen entlang der Grenze versorgten die Schüler mit dem entsprechenden ideologischen Rüstzeug. In den achtziger Jahren kamen Tausende junger Männer aus arabischen Staaten nach Pakistan, Saudis, Ägypter, Jordanier, Algerier. Die Grenzstadt Peschawar wimmelte nur so von bärtigen Männern, die darauf brannten, gegen die gottlosen Russen zu Felde zu ziehen. Unter ihnen befand sich ein schüchterner, junger Mann, der gerade erst an der saudischen König-Abdul-Aziz-Universität sein Studium abgeschlossen hatte: Osama bin Laden. Der Spross einer steinreichen Familie hatte sein Leben in Luxus gegen den Dschihad eingetauscht. Damals knüpfte Osama bin Laden die ersten Verbindungen zu den afghanischen Mudschahedin und den pakistanischen Radikalen. Zwanzig Jahre später mündete diese Kooperation in die Anschläge des 11. September.

Ronald Reagan lobte die Mudschahedin einst als Helden Das ist die Geschichte, die der Westen nicht loswird und die man in Pakistan nicht vergessen hat. Viele Pakistaner haben das Gefühl, nichts weiter zu sein als der Spielball für die geopolitischen Interessen des Westens: gestern Freiheitskämpfer, heute Terrorist. »Die erste Welle des Extremismus erlebten wir in unserem Land, weil die Russen Afghanistan besetzt hatten. Die zweite Welle erleben wir, weil die Amerikaner in Afghanistan sind«, schreibt der pakistanische Publizist, Ayaz Amir, und weiter fragt er: »Wenn der erste, von den Amerikanern gestützte Dschihad legitim war, warum sollte der gegenwärtige plötzlich illegitim sein?« Wer diese Gedanken nicht ernst nimmt, wird auch den Terror aus Pakistan nicht besiegen können. Das Gefühl, missbraucht zu werden, ist vor allem in den Stammesgebieten verbreitet, die zu Zeiten der sowjetischen Besetzung Afghanistans Rückzugs- und Aufmarschgebiet der Gotteskrieger waren und die es heute wieder sind. Christine Fair, Wissenschaftlerin am United States Institute for Peace und eine ausgezeichnete Kennerin der Region, sagt dazu: »Man muss die Sichtweise der Einheimischen anerkennen: In den achtziger Jahren bat man sie, die Leute jenseits der Grenze zu unterstützen. Sie waren Freiheitskämpfer. Helden, die ihre eigenen Leute in Afghanistan vom Unterdrückerregime der Sowjets befreit haben und später von den Kriegsherren. Es ist für diese Menschen sehr schwer zu verstehen, dass sie jetzt Terroristen sein sollen. Und noch mehr: Sie glauben gar nicht, dass sie Terroristen sind!« Wie sollten sie auch, der damalige US-Präsident Ronald Reagan verglich die afghanischen Mudschahedin mit den Gründungsvätern der USA. Wer so hoch gelobt wird, kann schwer verstehen, dass er in die Hölle verdammt sein soll. Die Frage nach den Ursachen des Terrors in Pakistan ist nicht nur eine Frage nach den Mentalitäten, sondern auch eine nach den sozialen Strukturen. Der jahrzehntelange Kampf in Afghanistan hat die Gesellschaft in den pakistanischen Stammesgebieten tiefgreifend verändert. Diese Veränderung lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Die Mullahs haben die Macht gewonnen. Dazu muss man wissen, dass die Mullahs in den Stammesgebieten der Paschtunen traditionell einen schlechten Ruf haben. Die Paschtunen vergleichen sie gern mit »Hunden, die von den Tischresten anderer leben«. Gemeint ist damit, dass der Mullah keine eigenen Machtressourcen hat. Sein Einkommen, sein Prestige, sein Status – all das hing von den Stammesältesten ab, vom Wohlwollen des Maliks. Erst der von außen finanzierte Dschihad hat aus den Mullahs eigenständige Machthaber gemacht. Sie wurden zum bevorzugten Kanal, über den fundamentalistische politische Botschaften unters Volk gebracht wurden. Plötzlich verfügten sie über Geld, Kontakte, Zugang zu Waffen, vor allem aber über die religiöse Deutungs- und Begründungsmacht für den Dschihad. Bis heute verhindert die Regierung in Islamabad nach Kräften, dass säkuläre Parteien in den Stammesgebieten Fuß fassen, weil das Militär eng mit den Mullahs verbandelt ist. Bei Wahlen sind die Stammesgebiete für säkulare Kandidaten in der Regel tabu. Der Aufstieg der Figur des Mullahs brachte die potenziell universale Entgrenzung des Krieges mit sich. Denn die Gemeinschaft, an die sich der Mullah richtet, ist eine religiöse und nicht eine ethnische oder eine nationale, sie ist grenzenlos. Pakistan war für diese Figur ein idealer Boden, denn Pakistans Existenz gründet auf der Idee, Heimat der Muslime zu sein, einer religiösen Gemeinschaft, nicht einer Nation. Der Staat Pakistan freilich machte sich den universalen Charakter des Mullahs zunutze und formte den islamistisch motivierten Terror zu einem Instrument seiner Außenpolitik, im umstrittenen Kaschmir wie auch in

Foto (Ausschnitt): John Moore/gettyimages

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as tun mit Pakistan? Wer die Spuren islamistischer Terroristen verfolgt, landet früher oder später meist irgendwo zwischen Karatschi, Lahore und Quetta. Die mutmaßlichen deutschen Attentäter, Fritz G., Adem Y. und Daniel S., hatten Verbindungen zu Pakistan genauso wie die britischen Selbstmordattentäter, die am 7. Juli 2005 in London 57 Menschen in den Tod rissen. Der britische Geheimdienst schätzt, dass in den vergangenen Jahren 4000 islamistische Extremisten, die in pakistanischen Terrorcamps ausgebildet wurden, nach Großbritannien gekommen sind, genauer: zurückgekommen, denn die meisten von ihnen sind britische Staatsbürger. Pünktlich zum sechsten Jahrestag des 11. September meldete sich Osama bin Laden via Videobotschaft zu Wort, vermutlich aus einem Versteck in den Bergen Wasiristans. Was also tun mit Pakistan? Lange hieß die Antwort: »Freie Hand dem General. Er wird es schon richten.« Seit sich der pakistanische Machthaber Pervez Musharraf unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf die Seite Amerikas geschlagen hatte, war er zu einem bevorzugten Partner im Kampf gegen den Terror geworden. Präsident George W. Bush nannte Musharraf öffentlich mehrmals »my buddy« – seinen Kameraden. Doch buddy Pervez ist in arge Schwierigkeiten geraten. Nach acht Jahren unumschränkter Herrschaft hat er es sich mit allen Seiten verscherzt. Säkulare wie Islamisten wollen ihn aus dem Amt jagen, die einen im Namen der Demokratie, die anderen im Namen des Islams. Die USA rücken von ihm ab. Sie drängen Musharraf, seine Macht mit Benasir Bhutto, der Vorsitzenden der Pakistan Peoples Party, der größten Volkspartei des Landes, zu teilen. Ein solches Abkommen, das ist allen Beteiligten klar, wird das Ende Musharrafs einleiten. Eine Regierungsbeteiligung Benasirs soll zunächst Druck aus dem Kessel nehmen. Danach soll gewählt werden, frei und fair. Davon erhofft man sich eine dauerhafte Beruhigung, denn es war Musharrafs zunehmende autoritäre Herrschaft, die in den vergangenen Monaten mehr und mehr Menschen auf die Straße trieb. Was aber, wenn so viel Zeit nicht bleibt? Was ist, wenn aus Pakistan heraus ein größerer Anschlag auf Amerika erfolgt, ein Szenario, das die US-Geheimdienste für möglich halten? »Al-Qaida ist heute besser positioniert, um den Westen anzugreifen« – so der ernüchternde Titel eines fünfseitigen Dokuments des amerikanischen Nationalen Anti-Terrorismus-Zentrums. »Wir sehen mehr Training, mehr Geld und mehr Kommunikation«, kommentierte John Kringen, der stellvertretende CIA-Direktor, »al-Qaida hat sich vor allem in Pakistans gesetzlosen Gegenden gut eingenistet.« Wenn es einen Anschlag gibt, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Spuren in die pakistanisch-afghanische Grenzregion geben. Nun gibt es viele Gründe, den amerikanischen Geheimdiensten zu misstrauen – der Irakkrieg ist nur einer davon –, und doch ist den Deutschen vergangene Woche klar geworden, welche Gefahr auch ihnen droht. Die drei mutmaßlichen Attentäter hätten mit den Grundstoffen, die sie angesammelt hatten, eine Sprengwirkung von 550 TNT entwickeln können. Hunderte Menschen hätten sterben können. Nach Angaben des Verfassungsschutzes haben die drei jungen Männer Befehle aus einem Terrorcamp in Pakistan erhalten. Wie hätte die deutsche Bundesregierung im Falle eines erfolgten Attentates reagieren sollen? So wie es der demokratische Präsidentschaftskandidat Barack Obama im vergangenen August ankündigte? »Wenn wir schlüssige Hinweise auf Zielpersonen haben und Präsident Musharraf nicht handelt, dann werden wir es tun. Ich werde nicht zögern, militärische Gewalt anzuwenden, um Terroristen zu beseitigen, die eine direkte Bedrohung Amerikas darstellen.« Obama würde also den Krieg auch nach Pakistan tragen. Sollte das auch die deutsche Position sein?

VON ULRICH LADURNER

Afghanistan. Pakistan ist nicht nur Opfer westlicher Machinationen, es ist auch Täter. Die Instrumentalisierung des Terrors durch den Staat geschah nicht etwa aus islamistischen Überzeugungen, sondern aus geostrategischen Überlegungen. Pakistan suchte nach Mitteln, um seinem übermächtigen Erzfeind das Leben schwer zu machen, eines davon war der gewaltsame Dschihad. Militär und Geheimdienste unterhielten enge Beziehungen zu den Gruppen, die seit den achtziger Jahren wie Pilze aus den Boden schossen. Je nach Bedarf ließen die Militärs ihnen freien Lauf. Der 11. September 2001 jedoch beeinträchtigte das traute Verhältnis zwischen Militärs und den Islamisten. Musharraf versprach, gegen die Terroristen vorzugehen. Auf Drängen der USA schickte er im Jahr 2004, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes, die eigene Armee in die Stammesgebiete, um dort für Ruhe zu sorgen. Rund tausend Soldaten starben seither bei den Kämpfen mit den Stämmen. Die Zahl der getöteten Zivilisten ist nicht bekannt. Nach weniger als zwei Jahren schloss Musharraf einen Pakt mit den Stämmen, worauf sich die Armee in die Kasernen zurückzog und die ausländischen Kämpfer in den Stammesgebieten die Waffen niederlegten. Das klang gut, de facto erwies sich dies aber als eine Niederlage. Der Grund dafür war, wie es im Bericht des Nationalen Antiterror-Zentrums heißt, »dass al-Qaida Fuß fassen konnte«. Es dauerte nicht lange und die islamistischen Gespenster holten Musharraf im Herzen seiner Kapitale ein. Die Brüder Ghazi machten aus der Roten Moschee in Islamabad eine Hochburg der Extremisten, sie provozierten Musharraf so lange, bis er die Moschee stürmen ließ. Es gab Dutzende Tote, da-

runter Abdul Raschid Ghazi, einen der beiden Predigerbrüder. Seither erschüttern fast täglich Selbstmordattentate das Land. Der Terror ist ein Gespenst, das Pakistan ebenso heimsucht wie den Westen, der ihn dort nach Kräften gefördert hat. Aus dieser bitteren Erkenntnis ergibt sich noch kein Rezept, keine Antwort auf die Frage, was nun zu tun sei, da auch Deutschland ins Zielkreuz von Terroristen geraten ist. Was also tun mit Pakistan? Benasir Bhutto und Nawas Scharif drängen zurück an die Macht. Stoppen kann man sie nicht, sollte man auch nicht, denn faire Wahlen wird es nur geben, wenn auch sie frei kandidieren dürfen. Garanten für ein neues, friedliches Pakistan, das keinen Terror exportiert, sind die beiden jedoch gewiss nicht. Der Blick des Westens muss anderswohin gehen, er muss insgesamt ein anderer werden. Denn die Tatsache, dass man das Land nur als nützliches Trainingscamp für antisowjetische Guerilleros betrachtete, dass man es je nach Bedarf hätschelte und fallen ließ, all dies gebar die Monster, mit denen man sich heute herumschlägt. Was man ändern könnte, darauf gibt die Pakistankennerin Christine Fair einen Hinweis: »Wenn Präsident Bush von Pakistan redet, redet er über Musharraf. Das steht in einem starken Gegensatz zu der Art, wie er über Indien redet. Er redet über indische Kultur, indische Demokratie, indische Institutionen und Indiens Menschen …« Vielleicht ist es einfach Zeit, daran zu erinnern, dass Pakistan 160 Millionen Einwohner hat – und darunter dürfte man eine große Mehrheit finden, die möchte, dass ihr Land kein Terrorexporteur mehr ist.

DIE WACHT AM HINDUKUSCH Ein pakistanischer Soldat nahe seines Stützpunkts in Wasiristan, dem Grenzgebiet zu Afghanistan. Zu Extremisten aus dieser Gegend sollen auch die drei mutmaßlichen deutschen Terroristen Kontakt gehabt haben, die in der vergangenen Woche verhaftet wurden

POLITIK Sind wir zu naiv?

13. September 2007

Heimat Hölle Deutsche Bürgerkinder mit Blutdurst – kommt uns das wirklich so fremd vor?

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er Dschihad spricht jetzt auch deutsch und hört auf Namen wie Fritz und Daniel. Das ist nicht nur für die deutsche Mehrheitsgesellschaft ein Schock. Für die Islamverbände hierzulande hatte die Nachricht, dass zwei deutsche Konvertiten daran gehindert wurden, in Deutschland verheerende Anschläge zu begehen, eine ebenso bittere wie heikle Seite. Unter den hiesigen Muslimen machen Neubekehrte schätzungsweise höchstens zwei bis drei Prozent aus. Genaue Zahlen gibt es nicht, weil Moscheegemeinden keine Mitgliedslisten führen. Doch im Zentralrat der Muslime, dessen Vorsitzender Ayyub Axel Köhler auch den neuen Koordinationsrat der Muslime (KRM) anführt – Innenminister Schäubles Gegenüber in der Deutschen Islamkonferenz –, haben auffällig viele Konvertierte das Sagen. Vielleicht fällt darum die Stellungnahme des KRM zu den abgewehrten Anschlägen so merkwürdig klamm und schmallippig aus. Man verurteilt zwar den »erneuten Versuch des Missbrauchs der friedlichen und friedliebenden Religion des Islams für extremistische und terroristische Interessen«. Und appelliert, »jeglichen extremistischen Ideologien eine deutliche Absage zu erteilen und ihnen keinen Platz in Moscheen zu gewähren«. Doch die größte Sorge des KRM ist offenbar, dass durch die Terroristen »alle Muslime unter Generalverdacht« geraten könnten. Pflichtschuldig Distanz markieren und flugs in die Opferrolle abtauchen – so wird das peinliche Thema schnell entsorgt. Der Ball wird ins Feld der Nichtmuslime geschlagen, die bitte ihre Vorurteile im Blick behalten sollen: »Die Vorstellung, dass insbesondere Konvertiten anfällig für extremistische Positionen sind«, so Köhler, »weise ich entschieden zurück.«

Konvertiten suchen den echten, unverdünnten Stoff

EIN VORBILD der Verwandlung: Der Amerikaner Adam Gadahn wurde vom Hardrocker zum Dschihadisten

Hat Köhler nicht recht? Die große Mehrheit der Konvertiten hierzulande findet schließlich durch die weltliche Liebe zum Islam – meist deutsche Frauen, die einem Muslim heiraten. Und viele der Wortführer des deutschen Islams – neben Köhler etwa der frühere deutsche Botschafter Murad Winfried Hofmann oder der Berliner Imam Mohammed Herzog – sind spirituelle Sucher, keine politischen Islamisten. Sie haben in den glücklichen Tagen den Glauben gewechselt, als die deutsche Orientromantik – eine alte Tradition von Goethe über Friedrich Rückert und Karl May bis zu Annemarie Schimmel – noch nicht vom Qaida-Terror überschattet war. Sie sind Konservative, aber zweifellos keine Extremisten: Wer konvertiert, hat meist kein Interesse an Reform und Erneuerung. Man wechselt den Glauben nicht, um sich gleich wieder mit Zweifeln und Ambivalenz herumzuschlagen. Man sucht den echten, unverdünnten Stoff. Viele von ihnen sind enttäuschte Christen, die im Islam den »reineren« Monotheismus fanden. Keine umständlichen theologischen Konstruktionen wie die Dreifaltigkeit, keine haarspalterischen Debatten über die Natur Jesu als »wahrer Sohn und Mensch zugleich«. Und vor allem keine Ursünde, keine Kreuzigung, keine Auferstehung, keine Erlösung. Die Schöpfung ist gut und gerechtfertigt, wie sie von Allah erschaffen wurde. Der Koran ist das unverfälscht erhaltene Wort Gottes. Halte dich an die fünf Säulen und die sechs Glaubensgrundsätze, und du bist auf der sicheren Seite. Doch in diese heile Welt des orientalistischen Gottsuchertums sind nun Fritz und Daniel eingebrochen, Deutschlands erste echte homegrown terrorists. Sie haben mit dem Islam Handfesteres vor als die früheren islamophilen Deutschen, die

in der untergegangenen Welt des West-östlichen Diwans Erlösung suchten. Es ist nicht viel damit gewonnen, wenn die Islamverbände erklären, Fritz G. und Daniel S. seien qua Terrorismus keine Muslime, denn der Islam verbiete »Gewalt gegen Zivilpersonen«. Jene sehen sich durchaus als Muslime, und es hängen Menschenleben davon ab, ob man es verstehen lernt, wie sie und andere zu diesem radikalen Glauben kommen. Was treibt sie? Wer auf die Suche nach inneren Motiven geht, wie es inzwischen eine ganze Horde von Islamwissenschaftlern tut, wird immer wieder auf den recht banalen Befund treffen, es handele sich meist um junge Männer aus der Mittelschicht, die religiös vorgeprägt sind und in eine Lebenskrise geraten. Marc Sageman, ein forensischer Psychiater und früherer CIAMitarbeiter, hat Dutzende von Konversionen zum radikalen Islam analysiert. Das einzige gemeinsame Merkmal, so Sageman, sei, dass es sich durchweg um »isolierte, einsame und emotional entfremdete junge Männer« handelt. Anfangs sei darum für diese Verlorenen die Aufnahme in eine verschworene Gruppe sehr viel wichtiger als die dschihadistische Ideologie. Wenn sich erst einmal die Vorteile des Aufgehobenseins in der Gruppe bemerkbar machen, tritt die Ideologie in den Vordergrund: Durch regelrechte Übertrumpfungswettbewerbe signalisieren die Neubekehrten in der Gruppe ihre Zugehörigkeit. In den sich radikalisierenden Zirkeln ist ab einem bestimmten Punkt nicht mehr wichtig, wer Konvertit und wer als Muslim geboren ist: Denn alle sind im Geiste der Dschihad-Ideologie »wiedergeborene Muslime«. Die einen haben die Ungläubigkeit überwunden, die anderen die Trägheit ihrer traditionalistischen Glaubensbrüder, die im Blick des radikalen Islamismus noch schlimmer ist als Unglaube. Mit der Herkunft gebrochen zu haben verbindet neue Muslime wie Fritz G. und Daniel S. mit »born again muslims« wie dem türkischstämmigen Adem Y., der zusammen mit ihnen verhaftet wurde. Aber dies sind Mechanismen der Radikalisierung in Gruppen, die nicht spezifisch islamistisch sind. Man kennt sie auch aus der Beziehungsdynamik der RAF. Was ist das besondere Angebot, das jene Konvertiten ergreifen, die sich nicht so sehr zum Islam, sondern gleich zum Islamismus bekehren? Sie würden, wie es Benno Köpfer vom baden-württembergischen Verfassungsschutz ausdrückt, »nicht so sehr vom Islam als Religion angezogen, sondern vom Islam als Ideologie«. Und in diesem Sinn markiert die Verhaftung der Gotteskrieger Fritz und Daniel einen Einschnitt in der deutschen Protestgeschichte: »Der Dschihadismus«, stellt der Extremismusforscher Eberhard Seidel fest, »ist kein Importartikel mehr, sondern ein einheimisches Ideologieangebot. In Deutschland gibt es zurzeit zwei Heilsversprechen, die die Systemüberwindung und die Erhöhung der eigenen Person in Aussicht stellen: den Rechtsextremismus und den Islamismus. Der Islamismus verzichtet auf die Exklusivität des Blutes und lädt jeden ein, der sich in einem Akt des Voluntarismus zu ihm bekennt. Als Internationalismus des 21. Jahrhunderts ist der Islamismus deshalb auch für Sinn- und Aktionssuchende attraktiv, denen der Islam nicht in die Wiege gelegt wurde.« In der jüngsten Videobotschaft Osama bin Ladens ist dieser Internationalismus mit Händen zu greifen. Wer sich nicht vom gefärbten Bart des Terrorpropheten ablenken lässt, kann in der Ansprache den geschickten Versuch eines ideologischen Relaunches erkennen: Bin Laden präsentiert sich als Globalisierungskritiker. Er lobt Noam Chomsky und schimpft auf das amerikanische Kapital, das für die Erderwärmung

DIE ZEIT Nr. 38

Netzpolizei Berlin diskutiert drei neue Vorschläge zur Terrorbekämpfung VON JOCHEN BITTNER

VON JÖRG LAU

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verantwortlich sei. Bush klagt er an, als Büttel der Industrie das Kyoto-Protokoll zu missachten und Millionen Tote – »vor allem in Afrika« – in Kauf zu nehmen. Er hetzt nicht einmal mehr gegen die »Zionisten«, sondern betont die Toleranz des Kalifats gegenüber Minderheiten. Die europäischen Juden könnten noch leben, wären sie Schutzbefohlene unter islamischer Herrschaft gewesen. Der Islamismus löst sich vom Nahostkonflikt und erfindet sich neu als eine umfassende, alternative Form der Globalisierung im Zeichen der imaginären Umma.

Der Islam hat heute einen Nimbus des »radical chic« Bin Laden hat sein Angebot für ein neues Publikum überarbeitet: Die Al-Qaida-Rekruten für die neue Phase des Kampfes sind nicht mehr wütende junge Männer aus den Tyranneien des Nahen Ostens oder aus palästinensischen Flüchtlingscamps. Bin Laden zielt auf europäische Migranten der zweiten Generation wie die Londoner Rucksackbomber und auf Konvertiten, die beim Kampf in den westlichen Metropolen besonders nützlich sind. Der Islam hat heute einen unvergleichlichen Nimbus des radical chic. Mit jedem Anschlag von Terroristen und mit jeder Anfechtung durch islamfeindliche Rechtspopulisten wird dieser Nimbus weiter gesteigert. »Mit einem Punk«, sagt ein deutscher Konvertit aus ländlich-konservativem Elternhaus, »hätte meine Familie noch leben können. Aber der Übertritt zum Islam war nicht zu toppen.« Islamisten bieten neue Zugehörigkeit mit klaren Regeln für jede Lebenssituation, kombiniert mit größtmöglicher Andersheit gegenüber der Herkunft und radikalstmöglicher Ablehnung des bestehenden Weltsystems. Für einige junge Männer ist dies eine unschlagbares Angebot: Dabeisein und Dagegensein, Außenseitersein und Auserwähltsein in einer unaufschnürbaren Packung. Es gibt ein in Deutschland wenig bekanntes Vorbild für Konvertiten wie Fritz und Daniel: den Amerikaner Adam Gadahn, der es als Azzam al-Amriki bis ins »Medienkomittee« von al-Qaida geschafft hat. Gadahn stammt aus einer Familie von Hippies und linken Aktivisten mit einem jüdischen Zweig. Er war als Teenager eine Größe in der lokalen Death-Metal-Musikszene von Orange County und nahm sogar selbst Musik auf. Wie viele Konvertiten durchlief er eine Phase innerer Leere und brennender tanszendentaler Obdachlosigkeit. Bei einer evangelikalen Gruppe stieß ihn das »apokalyptische Geschwafel« ab. Dann las er im Koran und fand sich fasziniert von der totalen Transzendenz und Entrücktheit Allahs. Dass der Islam den Ruf hatte, mit der westlichen Moderne nicht in Einklang stehen zu können, machte ihn gerade anziehend. Die lange Mähne des Metal-Fans fiel, der Bart wuchs. Adam Gadahn hatte eine neue Form von Dissidenz gefunden, gegen die sich die Höllenmusik des Death Metal kindisch ausnahm. Über eine radikale Moschee kam er in Kontakt mit Dschihadisten, die ihm eine Reise nach Pakistan organisierten. Wenige Jahre später war Adam alias Azzam mit Ende zwanzig der jüngste Terrorist auf der »Most Wanted List« des FBI. Als erster Amerikaner seit 50 Jahren ist er des Hochverrates angeklagt worden. Genau wie den friedliebenden Muslimen fällt es auch dem nichtmuslimischen Mainstream einstweilen schwer, zur Kenntnis zu nehmen, dass entfremdete Bürgerkinder, die aus Weltekel, Selbsthass und Bravado vor Jahrzehnten vielleicht noch zu Linksradikalen geworden wären, heute ihren Blutdurst unter dem Banner des Propheten stillen.

Fotos: intertopics; Gamma/Studio X; action press; AFP/gettyimages (v.o.)

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efahr gebannt, Gefahren erkannt, lautet die politische Reaktion auf den Schock der Sauerland-Islamisten. Teils trotz, teils wegen des erfolgreichen Zugriffs auf die mutmaßliche Terrorzelle im Ferienhaus diskutieren die Sicherheitsexperten aus Bund und Ländern über drei Verstärkungen der Antiterrorgesetze. Die meisten der Vorschläge allerdings dürften bis auf Weiteres mehr politische Energie verbrauchen, als kriminalistische Synergie erzeugen. Mindestens noch bis zum 10. Oktober werden die Parteien ebenso erhitzt wie ergebnislos über die Onlinedurchsuchung streiten (die CDU will sie, die SPD ebenfalls, wenn auch nicht ganz so entschlossen, FDP und Grüne halten sie für den Beginn des Schnüffelstaats). Dann wird sich das Bundesverfassungsgericht in aller Ruhe mit den Grundrechtsfragen dieses Instruments beschäftigten. Schließlich ist gegen ein entsprechendes Gesetz, das es dem Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen erlaubt, Festplatten ohne richterliche Genehmigung zu durchleuchten, bereits seit März eine Verfassungsbeschwerde anhängig. Zu erwarten ist, dass das Gericht sich deutlich zu den Voraussetzungen und Grenzen eines solchen Eingriffs äußern wird. Völlig ungeklärt ist etwa noch, ob Telefonate, die über das Internet geführt werden, aufgrund der bisherigen Überwachungsgesetze abgehört werden dürfen. Denn technisch kommt es einer Onlinedurchsuchung sehr nahe, sie mitzuschneiden. Die Behörden müssen auch hier den Computer »knacken« und die Software manipulieren, um Gespräche zu erfassen, bevor diese digital verschlüsselt und übermittelt werden. »Möglicherweise«, sagt der innenpolitische Sprecher der SPD, Dieter Wiefelspütz, »haben wir bisher gar keine Rechtsgrundlage, um Internettelefonie abzuhören.« Eine Lücke, die Terroristen schnell nutzen dürften. Schon länger in Arbeit (da im Koalitionsvertrag vereinbart) ist die Idee, den Besuch eines Terrorcamps, etwa in Pakistan, unter Strafe zu stellen. Juristisch drängen sich dabei allerdings zwei Probleme auf. Erstens: Was genau ist eine »terroristische Ausbildung«, etwa in Abgrenzung zum Besuch einer fundamentalistischen Koranschule? In Großbritannien gilt seit 2006 eine Strafvorschrift, in der davon die Rede ist, das Training dürfe nicht »terroristischen Zwecken« dienen. Eine solche Scheindefinition würden Verfassungsrichter hierzulande als offenkundig unbestimmt zerreißen. Zweitens: Selbst wenn es gelingen sollte, einen präzisen Tatbestand zu formulieren – die »Beweise« gegen die Beschuldigten müssten regelmäßig ausländische Nachrichtendienste liefern. Und deren Angaben sind in deutschen Gerichtsprozessen – zu Recht – nicht verwertbar. Andererseits: Rückkehrer aus zweifelhaften Dschihadistenlagern gelten in Deutschland schon heute als »Gefährder« und können streng überwacht oder abgeschoben werden. Der dritte Vorschlag betrifft die »Sympathiewerbung« für Terroristen. Sie ist bisher nicht strafbar. Lediglich der gezielte Versuch, neue Mitglieder zu gewinnen, fällt unter den Paragrafen 129a des Strafgesetzbuches. Die Union will dies schon seit Langem ändern, Teile der SPD signalisieren nun Verhandlungsbereitschaft. Auch hier ergäbe sich eine Reihe von brisanten Folgeproblemen. Zum einen wären die Behörden gezwungen, schon beim ersten »Dschihad!«-Geschnatter einzuschreiten, statt erst einmal weitere Erkenntnisse über eine mutmaßlich militante Gruppe zu sammeln. Zum anderen sind in der Welt der Dschihadisten »Gruppen« meist nicht als solche zu erkennen. Wer da genau für wen Werbung macht, bleibt oft unklar. Und schließlich: Das Verbot der Sympathiewerbung würde nicht nur für Islamisten gelten, sondern auch für links- und rechtsextreme Gruppen. Eines müsste man dem programmierten Protest gegen eine solche Vorschrift wohl lassen: Der Vorwurf, der Staat wolle ein »Meinungsäußerungsdelikt« schaffen, wäre nicht völlig abwegig.

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Sind wir zu naiv? POLITIK

DIE ZEIT Nr. 38

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Foto: Susan Walsh/AP

»Wie kommen wir da raus?« Amerika streitet erbittert um seine Truppen im Irak. Die Befürworter eines Abzugs haben die populäreren, aber nicht die besseren Argumente VON MARTIN KLINGST Washington illkommen in der Schlacht um Washington«, begrüßt der Fernsehmoderator sein Publikum. Seit drei, vier Wochen tobt in der Hauptstadt ein wilder Kampf um Fakten, Trends und Interpretationen. Im Streit liegen Politiker, Wissenschaftler Lobbyisten und Militärs, also eigentlich alle, die im politischen Leben der Hauptstadt mitmischen. Es ist der Versuch, das Unkontrollierbare zu kontrollieren und die Hegemonie über die politische Debatte zu gewinnen. Die Frontlinien verlaufen zwischen und mitten durch die beiden großen Parteien. Es ist ein verwirrendes Spiel, und auch nach schier endlosen Expertenbefragungen, Talkshows und Diskussionsrunden kann niemand wirklich genau sagen, wie es im Irak weitergehen soll und wie die drohende Niederlage noch in einen amerikanischen Sieg umgemünzt werden kann. Zwei Dinge allerdings sind klar: Auf der einen Seite des Kampfes befinden sich George W. Bush und die Mehrheit seiner republikanischen Partei. Auf der anderen Seite stehen die Präsidentschaftskandidaten Hillary Clinton, Barack Obama, die Mehrheit der demokratischen Partei und, wie Umfragen belegen, auch die meisten Wähler. Der Präsident lässt in diesen Tagen keinen Versuch ungenutzt, um der Nation zu beweisen, dass sein Irakfeldzug allmählich doch ein Erfolg wird, dass einige Bataillone bald nach Hause dürfen, man aber für ein glückliches Ende einen langen Atem braucht. Clinton, Obama und Co, deren demokratische Partei die Mehrheit im Kongress hat, versäumen keine Gelegenheit, um ebendiese Argumente zu zerpflücken. Für sie zeichnen sich im Irak allenfalls marginale Verbesserungen ab. Der Einsatz habe das Ziel verfehlt, Sunniten, Schiiten und Kurden zu versöhnen. Beide Seiten schicken dieser Tage Dutzende Experten in die Schlacht um die Meinungsführerschaft. Die haben bisweilen einen schweren Stand, denn in der hitzigen Debatte ticken zwei Uhren, die nur schwer in Einklang miteinander zu bringen sind. Die Bagdad-Uhr richtet sich nach den Gegebenheiten im Irak und mahnt zu Geduld und Nachsicht. Die Washington-Uhr schlägt nach dem Takt des beginnenden Wahlkampfs, verlangt rasche Erfolge und eine baldige Heimkehr der Soldaten. Die Wähler, sagen die Umfragen, werden immer ungeduldiger. Zwei von drei Amerikanern wünschen einen möglichst vollständigen Rückzug der Armee, einen festen Zeitplan – und ein Ende des Krieges ohne Schaden an der nationalen Seele. Die Mehrheit ist der Ansicht, dass sich die Dinge im Zweistromland nicht zum Besseren wenden lassen, egal, wie sehr man sich auch anstrengt. Sie haben ihr Vertrauen in den Präsidenten und in viele Politiker in Washington verloren. Wenn sie überhaupt noch jemandem Glauben schenken, dann der Armee. George W. Bush hat deshalb diese Woche seinen wohl letzten Trumpf gezogen und den allseits geachteten General David Petraeus in den Zeugenstand gerufen. In stundenlangen Sitzungen im Repräsentantenhaus und im Senat gab sich Amerikas oberster Soldat im Irak alle erdenkliche Mühe, die Stimmung noch einmal zu wenden. Assistiert wurde ihm dabei vom US-Botschafter im Irak, Ryan Crocker. Die beiden sind ein eingespieltes Team, keine Hitzköpfe, sondern kühle Analytiker. Aufgestauten Frust schwitzen sie in gemeinsamen Joggingrunden durch die Grüne Zone aus, im Viertel der US-Verwaltung in Bagdad. Vor zwanzig Jahren promovierte David Petraeus an der Eliteuniversität Princeton mit einer Arbeit über die amerikanische Armee und die Lehren aus dem Vietnamkrieg. Sein Fazit: Das Militär braucht freiere Hand und darf nicht laufend am Gängelband der Politik geführt werden. Diesem Credo folgt er auch jetzt.

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Im Kongress hagelte es Fragen, auf die Petraeus und Crocker stets mit einem vierfachen Nicken antworteten: Ja, die Strategie des Präsidenten, mehr Soldaten in den Irak zu schicken und der Armeeführung freie Hand zu lassen, habe sich ausgezahlt. Ja, es gebe deutlich weniger Tote und weniger ethnisch-religiöse Gewalt, in einigen Gegenden wie in der Provinz Anbar sei sie sogar um 80 Prozent zurückgegangen. Ja, die irakische Armee mache Fortschritte und könne bald selbst einen Großteil der Verantwortung übernehmen. Ja, diese sichtbaren Erfolge ließen sich sogar mit weniger amerikanischen Soldaten aufrechterhalten. General Petraeus machte eine überraschende Rechnung auf: Einige Tausend Soldaten könnten schon in diesem Monat nach Hause fliegen, weitere Brigaden zu Jahresbeginn und im Frühjahr.

Im Juli 2008 sollten dann nur noch 130 000 US-Soldaten im Irak Dienst tun, so viele wie noch zu Anfang dieses Jahres, bevor George W. Bush weiteren 30 000 Frauen und Männern den Marschbefehl gen Bagdad gab. George W. Bush und sein General haben damit einen kleinen Coup gelandet und sich vielleicht eine kurze Verschnaufpause verschafft. Denn sollten tatsächlich bald die ersten Soldaten winkend und erleichtert in ein Flugzeug nach Hause steigen, werden diese Bilder die Schlagzeilen beherrschen. Wer dann mäkelt, wird schnell als Nörgler dastehen. Was das heißen kann, bekamen einige Bush-Kritiker schon jetzt zu spüren. Die Internetgruppe Moveon.org hatte eine Anzeige mit einem Wortspiel geschaltet: »General Petraeus or General Betray us« – General Petraeus oder General Betrüg uns – war da in großen Lettern zu lesen. Viele Amerikaner empörten sich, und schon wird nachgeforscht, ob einige Demokraten ihre Hand im Spiel hatten. Dabei geht die wahrhaft drängende Frage fast unter: Wann beginnt der wirkliche Truppenabzug, wann kommen die 130 000 Soldaten heim? General Petraeus antwortet darauf jetzt nur ganz pauschal. Natürlich könnten noch mehr Soldaten erwarten, ihre Rucksäcke zu packen. Einen Zeitplan aber will er dafür nicht nennen, die Lage im Irak sei derzeit zu fragil. »Grundsätzlich werden wir noch eine gewisse Zahl von Soldaten brauchen«, sagt er, »denn wir dürfen nichts überstürzen.« Ginge es nach Petraeus, müsste sich der größte Teil der US-Armee darauf einstellen, viele Jahre im Irak zu bleiben. Um das zerrissene Land in eine blühende Demokratie zu verwandeln, brauche man Ausdauer. Gerade einmal acht Monate ist es her, dass ein sehr einsam wirkender Präsident bekannt gab, er werde die US-Armee nicht aus dem Irak abziehen, im Gegenteil. The surge, die Truppenverstärkung, sei eine Art Einstieg in den Ausstieg, versprach George W. Bush dem teils verblüfften, teils entsetzten Volk. Mehr Soldaten, so die Logik, brächten zwangsläufig mehr Sicherheit, festigten also den Irak und machten die US-Präsenz wieder Schritt für Schritt verzichtbar. »Mission accomplished«, Mission erfüllt, vermelden jetzt General Petraeus und Botschafter Crocker, der Irak sei sicherer, der Abzug könne beginnen. Doch die meisten Amerikaner trauen der guten Botschaft nicht, und die Demokraten im Kongress warten mit eigenen Fachleuten auf. Vier Expertisen machen die Runde. 16 amerikanische Geheimdienste haben ihre Eindrücke in der »Nationalen Geheimdiensteinschätzung« (NIE) festgehalten. Das Government Accountability Office (GAO), eine Art Bundesrechnungshof des Kongresses, hat reportiert. Ende vergangener Woche legte der ehemalige Nato-Oberbefehlshaber General James Jones als Sachverständiger im Kongress Zeugnis über die Lage im Irak ab. Dazu kam der Petraeus-Bericht. Die Geheimdienste zeichnen ein düsteres Bild der irakischen Zukunft, und der Rechnungshof bemängelt, dass die Regierung in Bagdad noch immer nicht 11 von 18 Verpflichtungen erfüllt habe; zum Beispiel würde das Geld aus den Ölverkäufen äußerst ungerecht verteilt, die Sunniten hätten das Nachsehen. General Jones wiederum preist die großen Fortschritte der neuen irakischen Armee, hält aber die Polizeitruppen fürkorrupt und unfähig. Sein Fazit: Amerikas Soldaten müssten auf lange Zeit im Irak Dienst tun, möglichst in gegenwärtiger Stärke, sonst würden die kleinen Erfolge sofort wieder zunichte gemacht. General Petraeus ist da gegenteiliger Meinung. Doch beide Generäle halten den irakischen Premier Nuri al-Maliki für ein großes Problem. Die vier Berichte legen einen gemeinsamen Schluss nahe: Amerika wird sich dereinst nur dann als Sieger fühlen können, wenn sich die Völker und Religionen des Iraks versöhnen und ihr Land friedlich regieren. Wie man das schafft, ist derzeit die große Frage, die alle umtreibt. Zum Beispiel im Senatssaal Nummer 216. Hier lässt sich genau studieren, wo dieser Tage der Frontgraben zwischen Demokraten und Republikanern, zwischen alten Kriegsbefürwortern und neuen Kriegsgegnern verläuft. Im dunkel getäfelten Raum tagen die Ausschüsse für Verteidigung und Außenpolitik, um den Zeugen James Jones zu hören. Der General hat die wohl genaueste Expertise verfasst, sie umfasst 153 Seiten, an ihr haben 20 Leute mitgeschrieben. In knappen Worten legt Jones dar, warum die Ausweitung der US-Truppen im

AN DER FRONT IN WASHINGTON Irakbefehlshaber General Petraeus vor der Kongress-Anhörung

Großen und Ganzen erfolgreich ist, aber ebenso wenig verschweigt er Fehler und Versäumnisse. Ihm gegenüber sitzen unter anderen die Senatoren Hillary Clinton und John McCain. Beide bewerben sich um das Präsidentenamt, und jeder von ihnen – Ironie der Geschichte – reklamiert den Zeugen Jones und seine Erkenntnisse für sich. John McCain ist Republikaner, Senator aus Arizona, hochdekorierter Vietnamveteran und hat 2003 für den Irakkrieg gestimmt. Er vertritt die Meinung, dass mehr Soldaten in den Irak geschickt werden müssen. Jetzt, da diese Strategie seiner Meinung nach aufzugehen scheint, warnt er eindringlich davor, die Kampftruppen zu früh abzuziehen. Diese Haltung ist unpopulär und bringt ihm im Wahlkampf viel Ärger ein. Doch nun, da die Generäle Jones und Petraeus Erfolge vermelden, hofft er, das Blatt zu seinen Gunsten wenden zu können. »Hat die Aufstockung der Truppen wirklich messbare Fortschritte gebracht?«, fragt McCain. »Ja, sehr messbare«, antwortet James Jones. »Und würden wir diese mit einem Truppenabzug gefährden?« – »Ja«, sagt der General. Senator McCain spricht von einem taktischen und einem strategischen Erfolg des BushPlans, lächelt und lehnt sich zufrieden zurück. Das Wort hat nun Hillary Clinton. Auch sie hat für den

Irakkrieg gestimmt, möchte die Soldaten aber schrittweise abziehen, in weitaus stärkerer Zahl, als Bush und Petraeus dies beabsichtigen. »Stimmt es, dass die nationale Versöhnung noch in sehr weiter Ferne liegt?«, fragt die demokratische Senatorin aus New York. »Ja«, sagt der General. »Aber sollte die Truppenaufstockung die nationale Versöhnung im Irak nicht geradezu befördern? War dies nicht das erklärte Ziel?« – »Doch, ja«, antwortet James Jones. »Dann frage ich mich, was das Ganze soll und wie lange wir noch im Irak ausharren wollen, wenn unsere Präsenz keinerlei Einfluss auf die Arbeit der dortigen Regierung hat«, klagt Hillary Clinton. Der Bush-Plan bringe nur einen kurzfristigen taktischen Erfolg, es fehle die nachhaltige Strategie, sagt sie, lächelt und lehnt sich zufrieden zurück. »Ich gewinne einen ähnlichen Eindruck wie Senatorin Clinton«, pflichtet ihr ein Senator aus dem gegnerischen politischen Lager grummelnd bei, »und ich glaube, das amerikanische Volk auch.« Die jüngsten Meinungsumfragen scheinen ihn zu bestätigen. Am Wochenende wird eine Großdemonstration in Washington Hillary Clinton ein tausendfaches Echo geben. i Mehr zum Krieg im Irak unter: www.zeit.de/irak

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POLITIK Sind wir zu naiv?

13. September 2007

DIE ZEIT Nr. 38

»Ziehen Sie bloß Ihre Soldaten nicht ab« In Afghanistan verändert sich das Bild der Frauen. Sie spielen Fußball, sie verdienen Geld, sie gründen Frauenräte. ANDREA BÖHM hat sie besucht Herat/Zendajan s ist neun Uhr morgens, im Frühstücksraum eines Herater Hotels dröhnt der Fernseher. Der Nachrichtensprecher verliest die üblichen Bulletins über die Opiumrekordernte und die Nato-Scharmützel mit den Taliban. Fahima Vorgetts hat zu dieser Stunde schon genügend andere Sorgen. Ein paar Halbstarke haben Ibrahim, dem Computerlehrer, das Motorrad geklaut, das er für die Fahrt zu den Dorfschulen braucht; der Hauswarenhändler auf dem Basar hat die falschen Töpfe für die neue Kantine geliefert; und dieser jammernde Dorfälteste ruft jetzt schon zum dritten Mal an – irgendwelche Bürokraten blockieren die Bauarbeiten für die Mädchenschule. »Wahrscheinlich wollen sie Schmiergeld kassieren«, klagt sie. Zwei Stunden später hat sich die Lage etwas entspannt, Ibrahim hat auf dem Basar in Herat schnell ein neues Billigmotorrad made in China bekommen, auch die Töpfe sind umgetauscht. Nur der Dorfälteste muss warten. Sein Dorf liegt in der Provinz Laghman im Osten Afghanistans, Fahima Vorgetts aber rumpelt gerade in einem klapprigen Toyota durch den Westen des Landes, den Kofferraum beladen mit Küchenutensilien, die Handtasche vollgestopft mit zwei Handys, zerknüllten Notizzetteln und einer Dose Babytrockentüchern, die sie in Alkohol getränkt hat. Fahima Vorgetts, 52 Jahre alt, Afghanin mit amerikanischem Pass und eigener Mission, fürchtet die örtlichen Hygieneverhältnisse ebenso wie die Taliban. Gegen Letztere kann sie wenig ausrichten, gegen Erstere sehr viel. Jeder Löffel, jedes Teeglas wird desinfiziert. Für einen verdorbenen Magen hat sie keine Zeit. Seit fünf Jahren pendelt Vorgetts im Auftrag einer kleinen amerikanisch-afghanischen Frauenorganisation namens Women for Afghan Women (WAW) zwischen den Welten, sammelt in Amerika Spenden und Sponsoren und lässt mit dem Geld in Afghanistan Schulen bauen, Obsthaine anlegen, Brunnen bohren, manchmal eine Straße planieren. Rund zwanzig Orte stehen auf ihrer Empfängerliste – manche rund um die Großstädte Kabul und Herat, wo die Sicherheitslage leidlich gut ist, andere in gefährlichen Provinzen wie Logar, Laghman, Paktika, Wardak, Ghasni. Es sind kleine, billige Projekte, die alle einen Kniff haben: Gemeinden, die von Vorgetts Geld profitieren wollen, müssen sich auf Alphabetisierungskurse für Frauen und Schulunterricht für Mädchen einlassen. Es gibt Orte, aus denen muss sie unverrichteter Dinge wieder abreisen, weil der lokale Kriegsherr Geld abzweigen will. Und es gibt Orte, da bricht ganz leise die Revolution aus. Die Fahrt von Herat nach Zendajan geht auf der frisch geteerten Straße Richtung iranische Grenze, dann links ab auf eine Schlaglochpiste. Am Horizont ockerbraune, wild gezackte Berge, davor endlose Ebenen aus Geröll. »Menschen unerwünscht«, scheint diese Landschaft zu sagen. Dann tauchen die ersten Lehmhäuser auf und mit ihnen das Farbenspiel von Zendajan: grüne Bäume mit roten Granatäpfeln, Männer mit weißen, seidig schimmernden Turbanen, Frauen in blauen Burkas.

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Als Fahima Vorgetts 2003 zum ersten Mal nach Zendajan kam, waren die Menschen eifrig damit beschäftigt, ihre im Krieg zerstörten Häuser wieder aufzubauen. Es gab zwar – außer Opiumschmuggel – keine Arbeit, aber Aufbruchstimmung. Zusammen mit einer Herater Frauenorganisation spielte Vorgetts in Zendajan ihre mittlerweile erfolgserprobte Strategie durch: »Immer zuerst in der Moschee mit den Männern reden« – mit den Mullahs und den Angehörigen der Schuras, der ständigen Räte, die auf lokaler Ebene fast alles entscheiden. Dann im Ort die organisationstüchtigen Frauen identifizieren – »oft sind das die Lehrerinnen«. Schließlich einige liberal gesinnte und angesehene Männer finden. Denn um den Frauen die Chance zum Lernen zu verschaffen, braucht es Räume nur für Frauen. In Afghanistan aber verfügen allein die Männer über Land und Häuser. In Zendajan nun gründeten kaum ein Jahr nach Vorgetts erstem Besuch mehrere Frauen ihre eigene Schura; der Vater einer Lehrerin spendete ein paar Hektar Land, Vorgetts’ Organisation 28 000 Dollar für Baumaterial – und der erste Frauenrat von Zendajan hatte plötzlich ein stattliches Haus.

Die Frauentaktik: Immer erst mit den Männern in der Moschee reden Hier hocken an diesem Septembertag Rahima, Gulsada, Scherifa und Suraja, Frauen unbestimmbaren Alters mit zermürbten Gesichtern und rissigen, hennaroten Händen. Sie sind Schura-Mitglieder der ersten Stunde, haben hier Lesen und Schreiben gelernt, jetzt kümmern sie sich wechselweise um die Schura-eigene Seidenraupenzucht, arbeiten in der Bäckerei oder der Schneiderei – natürlich erst, nachdem zu Hause der Mann und die sechs bis zwölf Kinder bekocht, die Schafe versorgt, –die Ställe gesäubert, das Haus geputzt und die Wasserkanister aufgefüllt worden sind. An guten Tagen, wenn eine neue Bestellung für Brot, Süßgebäck oder Seidenschals eingegangen ist, bringen sie zwischen fünf und zehn Dollar mit nach Hause – das ist mehr, als ihre Männer als Tagelöhner zusammenbringen. Solche neuen ökonomischen Machtverhältnisse können sich zu Hause gefährlich auswirken, aber nur wenige müssen sich heimlich in das Schura-Haus schleichen. Die meisten kommen mit der Erlaubnis ihrer Männer, schließlich sind sie im Haus der Frauen sicher vor den Blicken anderer Männer. Suraja, sechsfache Mutter, vermeldet außerdem zufrieden, dass ihr Mann sie weniger schlage, »seit mehr Essen auf dem Tisch ist«. Ihre selten gewordenen Blutergüsse sind bei den Seidenspinnerinnen sofort Gesprächsthema. Die Schura ist nicht nur Arbeitsplatz, sondern auch Nachrichten- und Tratschbörse. Hier wird über Farsanahs »faule« Schwiegertochter hergezogen; hier wird debattiert, wie sich die Marmeladenproduktion steigern lässt, warum Sabira die Pille nicht verträgt und Gulsada, die Ärmste, nur Töchter zur Welt bringt. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist durchsetzt von der Verachtung für das eigene Geschlecht, daran ändern

auch die Predigten von Fahima Vorgetts so schnell nichts. »Egal, wie sehr ihr euch mit euren Schwiegertöchtern streitet: Wehe, ihr hetzt eure Söhne dazu auf, sie zu prügeln.« Spricht’s und ist schon auf dem Weg zum nächsten Frauenrat ein paar Schotterstraßen weiter. Es gibt inzwischen vier in Zendajan, die jeweils bis zu 200 Mitglieder zählen. Vorgetts liefert bei Schura Nummer zwei kleine Backöfen und vier Nudelmaschinen ab – made in China wie auch fast alle Nähmaschinen, Schraubenzieher und Fahrräder in Afghanistan. Nur kommen aus China nicht nur billige Produktionsmittel, sondern auch spottbillige Produkte. Was Afghaninnen in Nähwerkstätten herstellen, kann mit chinesischen Textilien nicht konkurrieren, weshalb sie in Zendajan lieber auf Nahrungsmittelproduktion setzen. Schura Nummer zwei hat gerade eine Bestellung über 150 Kilo Tomatenmark entgegengenommen. Eine Extraschicht wird nötig sein. Vorgetts, die in den USA ein Restaurant betreibt, schreibt noch rasch das Rezept für libanesischen Humus an die Tafel, »damit ihr mal ein paar Spezialitäten ins Angebot nehmt«. Dann rumpelt der Toyota wieder in das sengend heiße Niemandsland, und man begreift unter dem stickigen Tschador erst jetzt, was man da gesehen hat: kein »Frauenhilfsprojekt«, sondern Unternehmerinnen, eine völlig neue Spezies im ländlichen Afghanistan. Um die aufkeimende Euphorie über die Lage der Frauen wieder auf ein realistisches Maß zu dämpfen, reicht ein Blick in die Zeitungen. Aus den südlichen Kriegsprovinzen Helmand, Kandahar und Urusgan melden afghanische Journalisten Brandanschläge gegen Mädchenschulen und Morde an Lehrern, die Jungen nach den staatlichen Lehrplänen unterrichten. Von ursprünglich 224 Schulen in Helmand sind in diesem Jahr noch 90 geöffnet, in Urusgan hat jede dritte Dorfschule dichtgemacht. Nicht jeder Anschlag geht auf das Konto der Taliban. Schulen, vor allem Mädchenschulen sind mittlerweile ein Symbol zentralstaatlicher Autorität, die viele der »prowestlichen« Kriegsherren und Drogenbarone nicht dulden wollen. Es hilft auch – bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber afghanischen Statistiken – ein Blick auf die Zahlen: Das Land hat die weltweit zweithöchste Sterblichkeitsrate bei Müttern; sechs Jahre nach dem Sturz der Taliban sind nur knapp 16 Prozent der Frauen und 31 Prozent der Männer alphabetisiert; über 70 Prozent aller Frauen droht immer noch die Zwangsheirat – ein Schicksal, dem auch Vorgetts selbst vor dreißig Jahren nur durch Flucht aus ihrer Kabuler Familie entgehen konnte. Und es hilft vielleicht auch ein Blick in die Geschichtsbücher. In wohl keinem anderen Land ist die Emanzipation der Frau so oft zum Symbol der Modernisierung erklärt worden – und hat so oft militante Aufstände der Stämme hervorgerufen. Ein fortschrittlicheres Strafrecht, das die Verheiratung von Kindern verbot und Witwen die Wahl eines neuen Ehemanns gestattete, kostete in den zwanziger Jahren den liberalen König Amanullah den Thron. Afghanistans Kommu-

nisten befahlen 50 Jahre später per Dekret die Abschaffung »ungerechter, feudaler, patriarchalischer Beziehungen zwischen Mann und Frau«, erklärten den Schleier für reaktionär und die Koedukation bei der Alphabetisierung der Landbevölkerung zur Pflicht. Junge Kader rückten damals in die Provinzen aus, darunter auch eine Biochemiestudentin namens Fahima, die heute mit Nachnamen Vorgetts heißt.

Emanzipation mit Brechstange, Hammer und Sichel Die Emanzipation mit Brechstange, Hammer und Sichel war zweifellos nicht der Auslöser jener verheerenden Gewaltspirale, die in den folgenden Jahrzehnten das Land restlos verwüstete. Aber sie nährte den Hass Tausender empörter Mullahs und Klanchefs gegen die »Ungläubigen«. Nun also der nächste Versuch, maßgeblich angeschoben von einer internationalen Gemeinschaft, die sich für Frauenrechte in Afghanistan allerdings erst seit dem 11. September 2001 einsetzt. »Die Bürger Afghanistans – ob Männer oder Frauen – haben die gleichen Rechte und Pflichten vor dem Gesetz.« So steht es in der neuen Verfassung. Auch der haben die Taliban den Krieg erklärt. Kabul, Anfang September: Der jüngste Brief ist zwei Wochen alt und enthält die immergleiche Formulierung: »Es gibt Hinweise, dass ein Selbstmordattentäter auf Sie angesetzt ist. Wir empfehlen Ihnen, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.« Mit diesen Worten warnt die afghanische Regierung hoch gefährdete Parlamentsabgeordnete, und zu denen zählt seit drei Monaten auch Schukria Baraksai. »Das ist doch wunderbar«, sagt sie sarkastisch, »die empfehlen mir, meine täglichen Routen zur Arbeit zu wechseln. Zum Parlament führt nur eine Straße. Soll ich fliegen?« Das Gespräch findet in ihrem Haus in der 15. Straße im Bezirk Wasir-AkbarKhan statt. Die Straße ist für Autos gesperrt. Baraksai ist nicht das einzige Anschlagsziel, gegenüber befinden sich die Fernsehstudios von Tolo TV, das mit westlichen Musikvideos, indischen Seifenopern und Frauen als Moderatorinnen immer wieder die Wut religiöser Fundamentalisten auf sich gezogen hat. Baraksai ist ehemalige Journalistin und Mutter dreier Töchter, die wegen ihrer schicken Kleidung und des Make-up auf den Straßen Kabuls den Spitznamen »Miss Beauty« trägt. Mindestens ebenso berühmt sind ihre verbalen Attacken gegen jene Kriegsherren, die nach dem Abzug der Roten Armee das Land zu Asche schossen, dann von den Taliban vertrieben wurden – und schließlich nach dem 11. September 2001 mit westlichem Geld und westlichen Waffen das TalibanRegime stürzten und sich als »Befreier« wieder an die Futtertröge setzten. Warum die USA und Europa damals beschlossen haben, die Pest mit der Cholera auszutreiben, können die meisten Afghanen bis heute nicht verstehen. Auch Schukria Baraksai nicht. Seither wettert sie gegen die Aktivitäten ausländischer Geheimdienste, vor allem des pakistanischen, gegen die Korruption in den

Ministerien, gegen die internationalen Geldgeber, gegen das Amnestiegesetz, mit dem sich die Kriegsherren im Parlament Straffreiheit auf ewig garantieren wollen, gegen die anderen weiblichen Abgeordneten, deren »Frauensolidarität so gut wie nicht« existiere. Das klingt ein wenig nach fruchtloser Fundamentalopposition. Aber vielleicht ist es auch die Frustration einer erschöpften Politikerin, deren Mutter regelmäßig aus England anruft und sie anfleht, endlich dieses verrückte Land zu verlassen. Umso überraschender klingt ihre Antwort auf die Frage, ob sich denn für die Frauen in Afghanistan nichts Grundlegendes verbessert habe: »Wo denken Sie hin? Endlich gibt es eine Debatte über Zwangsheirat, es gibt Richterinnen an den Familiengerichten, es gibt Frauenhäuser. Das sind goldene Zeiten für uns.« Und viele junge Frauen testen die Grenzen aus. Es gibt eine afghanische Frauenfußballmannschaft. Im GhasniSportstadion, wo unter den Taliban öffentliche Hinrichtungen stattfanden, trainieren heute junge Boxerinnen – unter Anleitung von Männern. Die ersten Sängerinnen sind ohne Kopftuch aufgetreten. Fast erschrocken, als hätte sie das Wichtigste beinahe vergessen, fügt Schukria Baraksai am Ende des Gesprächs hinzu: »Und ziehen Sie bloß Ihre Soldaten nicht ab.« Pul-e-Alam, Provinz Logar, Anfang September: Es ist Fahima Vorgetts letzte Reise ins Hinterland vor ihrer Rückkehr in die USA. Ihre »Kriegskasse« ist leergeschöpft, ihre physischen Reserven ebenfalls. Diese Arbeit, sagt sie, sei ihre Form der Wiedergutmachung - für ihre Mitgliedschaft in einer kommunistischen Bewegung, die »Blut an den Händen hatte«. Und für ihr sicheres Leben im Exil, während ihre Landsleute den Krieg durchlitten. Sie hat die Lehrerinnen der Kurse für Alphabetisierung, Computerfähigkeiten und Nähen ausbezahlt, sie hat Backöfen, Nudelmaschinen, Stoffe, Schulhefte und Medikamente ausgeliefert. Ibrahim, der Computerlehrer in Herat, hat sein neues Motorrad, was er von seinem Gehalt abstottern muss, die Probleme beim Schulbau in Laghman sind gelöst, hier in Logar hat sie einen Rotary-Club gegründet – auch eine Form der Zivilgesellschaft. Nach Pul-e-Alam fährt sie ohne journalistische Begleitung, sie will das Baugelände für weitere Mädchenschulen sondieren, die Dörfler wollen keine ausländischen Reporter dabeihaben. Vor einigen Monaten sind hier zwei Mädchen auf dem Weg zur Schule von zwei Männern auf einem Motorrad erschossen worden. Vermutlich war es das Attentat eines gekränkten Mannes, der seine zwölfjährige Verlobte nicht mehr zur Schule gehen lassen wollte. »Nicht jede Schweinerei«, sagt Fahima Vorgetts, »geht auf das Konto der Taliban.« Auf dem Rückweg gerät sie in eine Polizeisperre. 20 Meter weiter entschärfen Entminer einen Sprengsatz am Straßenrand. »Ein fettes Ding«, sagt sie später und hält ihre Hände fußballweit auseinander. Sie ist ein bisschen blasser als sonst. i Afghanistan: www.zeit.de/afghanistan

Foto: Ulrich Ladurner für DIE ZEIT

WIEDERAUFBAU Zwei afghanische Frauen in Daikundi bei der Arbeit

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POLITIK

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DER WIND greift ihm unter die Arme: Der frühere Umweltminister in grüner Energielandschaft

Jürgen Trittin Geboren am 25. Juli 1954 in Bremen 1973 Abitur, dann Wehrdienst bis zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Danach Studium der Sozialwissenschaften in Göttingen 1980 Übertritt vom Kommunistischen Bund zu den Grünen

Foto: Andreas Teichmann/laif

1990–1994 niedersächsischer Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten 1994–1998 Bundesvorsitzender der Grünen 1998–2005 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Seit 2005 stellvertretender Vorsitzender der Grünen-Bundestagsfraktion

Der Triumph des ewigen Zweiten Jürgen Trittin ist die Schlüsselfigur der grünen Afghanistan-Debatte. Wird ausgerechnet er, der Linke, die Partei in ein Bündnis mit der Union führen?

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an hat den Redner schon oft erlebt, seine peitschende Rhetorik, die gepresste Tonlage, den ruckartig vorund zurückwippenden Oberkörper. Doch etwas ist anders auf diesem ersten Parteitag der Grünen nach ihrem Machtverlust. Joschka Fischer fehlt. Noch ist der Redner rot-grüner Minister. Doch gelingt es ihm schon mühelos, sich in den selbstgewissen, angriffslustigen Oppositionspolitiker aus früheren Jahren zurückzuverwandeln. Seine Rede ist die Demonstration seines Führungswillens. Sie übertönt den Schock der Niederlage und die beginnende grüne Desorientierung. Auf diesen Moment hat Jürgen Trittin lange gewartet. Der Parteitag wird ihn feiern. Dabei hätten manche Grüne ihn gerne mit Fischer von der Bühne geschoben. Wenn Joschka aufhöre, sei es nur konsequent, dass ihn Trittin, sein langjähriger Kumpan und Antipode, begleite, hatte Antje Vollmer bissig angeregt. Er dachte nicht daran. Ein Jahrzehnt lang war er nicht über Platz zwei in der Hierarchie hinausgekommen. Nun war der Weg frei an die Spitze der Partei.

Vorsicht: Schwarz-Grün! Es gibt Stimmverteilungen, bei denen nur Schwarz-Grün herauskommt oder die Große Koalition. Ein fiktives Wahlergebnis 39 %

Union Grüne

10 %

FDP

9%

Linke SPD

11 % 26 %

ZEIT-Grafik

Am kommenden Samstag kann Jürgen Trittin seinen Anspruch untermauern. In Göttingen tagt der Sonderparteitag der Grünen zum Afghanistaneinsatz, den die Parteibasis ihrer Führung aufgezwungen hat. Ob die Grünen auch weiterhin schonungslos offen und deshalb beispielhaft eine der kontroversesten Fragen der deutschen Politik debattieren und verantwortlich entscheiden, dafür trägt Trittin, seit Fischer nicht mehr da ist, die Hauptverantwortung. Zwar begann für Trittin die Oppositionszeit mit einer Niederlage bei der Wahl zum Fraktionsvorsitz, doch sagt die nominelle Führungsstruktur wenig über die innerparteilichen Machtverhältnisse. Auch Fischer brauchte kein Parteiamt, um die Grünen zu dominieren. So weit ist Trittin noch nicht, auch wenn er sich inzwischen an den vier Spitzen der offiziellen Hierarchie vorbeigeschoben hat. »Er ist ein Faktor« lautet die euphemistische Beschreibung seiner Rolle. Es überrascht, wie spielend Trittin seinen wiedergewonnenen Oppositionsgestus mit Treue zur rot-grünen Regierungspolitik kombiniert. »Es kann keine Rede davon sein, wir würden den außenpolitischen Kurs von Rot-Grün verlassen«, weist er den Verdacht zurück, die Partei verabschiede sich aus der schwer gewordenen rot-grünen Verantwortung. Zwei neue Mandate, für den Kongo- und den Libanoneinsatz, führt Trittin an. Den Isaf-Einsatz in Afghanistan habe die Partei in der Opposition dreimal verlängert. Das war nicht selbstverständlich. Eher schien nach dem Ende von Rot-Grün eine außenpolitische Wende rückwärts programmiert. Dass sie bislang ausgeblieben ist, daran hat Trittin großen Anteil. »Ihr denunziert grüne Außenpolitik«, warf er auf dem Parteitag im Herbst vergangenen Jahres den Kritikern des Afghanistan-Engagements

vor. Sicher, die rot-grüne Außenpolitik hat in der Partei viele Verteidiger. Aber Trittins Stimme und sein Einfluss im linken Lager geben den Ausschlag. Wer in der historisch umkämpften Frage von Krieg und Frieden bei den Grünen Mehrheiten organisieren kann, dessen Autorität reicht in der Partei weit darüber hinaus. Dabei wollen auch andere aus der grünen Führung Außenminister und Vizekanzler einer künftigen Regierung werden. Grüne, die noch zur Ironie fähig sind, behaupten, das sei inzwischen die Hauptfrage, mit der sich die Führung beschäftige. Die Vorsitzenden Reinhard Bütikofer und Claudia Roth sind im innerparteilichen Machtkampf schon ins Hintertreffen geraten. Um so ambitionierter bleiben die Fraktionsvorsitzenden Renate Künast und Fritz Kuhn. Dass die Partei davon profitieren würde, ist nicht zu sehen. Die grünen Themen boomen im Weltmaßstab. Die Grünen boomen nicht. Diesem gefährlichen Paradox scheint sich die Partei zu ergeben. Auch Trittin hat darauf keine Antwort. Annähernd zwei Jahrzehnte dauerte es, bis sich die Grünen von einer pazifistischen Oppositionspartei in eine interventionistische Regierungspartei verwandelt hatten. Trittin gehörte nicht zu den Vorkämpfern dieser Entwicklung. Immer sprang er spät, wenn auch nie zu spät, auf den fahrenden Zug grüner Realpolitik. Erst war er Gegner einer Regierungsbeteiligung, bis er sich 1990 plötzlich als Schlüsselfigur einer rot-grünen Koalition in Hannover wiederfand. Bis ins Wahljahr 1998 lehnte er die deutsche Beteiligung an Kampfeinsätzen strikt ab. Doch auch da erwies sich die Machtoption als Hebel für den Gesinnungswandel. Als Minister im Kabinett Schröder stimmte er der Kosovo-Intervention zu. Es habe »zwei falsche Alternativen« gegeben: der Vertreibung eines ganzen Volkes tatenlos zuzusehen oder ohne UN-Mandat zu intervenieren. »Wir haben uns für die weniger falsche Alternative entschieden«, erklärt er heute. Ohne den Druck der Regierungsbeteiligung ist die grüne Haltung zu den Militäreinsätzen nicht nur weniger bedeutsam, es ist auch schwieriger, die Partei immer wieder zu überzeugen: Die unklaren Stabilisierungsaussichten für Afghanistan, die zivilen Opfer, der Verdacht, deutsche Tornados könnten an den Bombenangriffen beteiligt sein, lassen die grüne Mehrheit schwanken.

Er kann die Zustimmung begründen, die Enthaltung aber auch Nun wäre die Stunde gekommen, in der der Taktiker Trittin jenseits aller Taktik für seine Position kämpfen könnte. Mit seiner Autorität und der Überzeugung, die Deutschen dürften sich – Tornados hin oder her – ihrer Verantwortung für Afghanistan nicht entziehen, könnte er den Ausschlag geben. Stattdessen sitzt der Exminister vergangene Woche in der Sonne eines Hamburger Straßenlokals und räsoniert, er könne sowohl die Zustimmung wie die Enthaltung schlüssig begründen - wie ein guter Advokat. Hat der Mann Überzeugungen? Eher kalkuliert er doch Argumentationsspielräume, wägt Mehrheiten ab, rechnet Wahrscheinlichkeiten und Risiken durch. So ist er weit gekommen. Seit er mit Fischers Zustimmung Parteichef wurde, handelte er mit ihm die Kompromisse aus und organisierte die nötigen linken Stimmen. Andere, wie Ludger Volmer oder Angelika Beer, die sich im Laufe der Jahre daran versucht haben, als Linke die Zustimmung für realpolitische Kursentscheidungen zu sichern, sind am Opportunismus, den diese Aufgabe erfordert, politisch zugrunde gegangen. Nur Trittin, der Virtuoseste, hat überlebt. Doch nun will er über die Funktion eines Mehrheitsbeschaffers hinaus. Er will die Par-

tei führen. Wie schwer das ist, wird sich am Wochenende wieder zeigen, wenn er »die Linke im Boot halten, seriös bleiben und auch noch den Helden des Parteitags spielen« will, lästert ein Führungsmitglied.

Leidenschaft ist bei ihm eine Funktion seines Kalküls Professionalität, Intelligenz, rhetorische Brillanz, nichts davon wird man Trittin absprechen. Er hat die längste Erfahrung, war Landes- und Bundesminister, dazu Parteichef vor der rot-grünen Koalition. Nur einer der leidenschaftlich seine Überzeugungen vertritt, war er nie. Leidenschaft ist bei ihm eine Funktion seines Kalküls. Das ist die etwas unheimliche Seite des Jürgen Trittin. Die Partei hat sie oft erfahren. Doch jetzt erzielt er bei den Wahlen zum Parteirat ein Spitzenergebnis. Es sind längst nicht mehr nur die Linken, die ihn schätzen. Nach Joschkas Regime wendet sich die Partei offenbar dem zu, dessen Autorität und Selbstgewissheit Fischer am nächsten kom-

VON MATTHIAS GEIS

men. Die vergrübelte Reflektiertheit Bütikofers oder die herzenslinke Emotionalität einer Claudia Roth passen nicht mehr zu den Führungserwartungen. Dabei strebt Trittin ja nicht in den Vorsitz. Bestimmende Figur der Partei zu sein würde ihm reichen. Und Schlüsselfigur einer künftigen Regierung. Wie die Grünen 1990 aus dem Bundestag flogen, um vier Jahre später wiederzukommen, wünscht er sich jetzt, »dass uns das mit der Regierungsbeteiligung genauso gelingt«. Er redet viel über mögliche und unmögliche Konstellationen. Aber das wirkt, als stelle Trittin gerade erst die Figuren aufs Brett. Unmöglich, unter den realistischen Optionen seine Präferenz herauszuhören: »Ich empfehle ganz nüchtern, sich zu fragen, wo Macht und Inhalte besser zusammenpassen.« Gut, eine Ampel sei denkbar, Schwarz-Gelb-Grün auf keinen Fall. Mit der Linkspartei sehe er die »größten programmatischen Überschneidungen«, provoziert er ein bisschen und gibt dann doch Entwarnung: Noch sei die Linke nicht regierungsfähig.

Bereitet Trittin dennoch die Linksoption vor oder will er ablenken von der entgegengesetzten Variante, Schwarz-Grün? «Die Grünen«, mahnt er, »dürfen nicht schwarz-grün etikettiert werden.« Das verschrecke rot-grüne Wechselwähler. Aber wissen zu wollen, was das am Tag nach der Wahl bedeutet, wäre vermessen. Bei den zwei großen Zäsuren der grünen Geschichte – in der Pazifismus- und der Machtfrage – gehörte Jürgen Trittin zu den Nachzüglern. Doch als Trittbrettfahrer ist er jetzt ans Ende gekommen. Nun wartet eine Hauptrolle mit allen Risiken. Gerhard Schröder, so hat Trittin einmal gesagt, war kein Rot-Grüner. Nur deshalb konnte er Bundeskanzler von Rot-Grün werden. Auf Trittin abgewandelt hieße das: Nur einer mit großem Einfluss, der nicht im leisesten Verdacht steht, ein SchwarzGrüner zu sein, könnte in seiner Partei SchwarzGrün durchsetzen. Er würde sicher sehr leidenschaftlich plädieren. Audio a www.zeit.de/audio

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POLITIK

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Mit dem Teufel reden Kein Afrika-Gipfel ohne Mugabe Ein richtig großer Gipfel soll es werden, wenn sich Afrika und Europa im Dezember in Lissabon begegnen, aber schon jetzt droht er zu schrumpfen. Denn die Briten wollen nicht kommen, wenn Präsident Robert Mugabe kommt, der Diktator, der gerade das schöne Simbabwe ruiniert. Die EU hat zwar ein Einreiseverbot gegen ihn verhängt, kann dieses aber aussetzen, damit die Afrikaner vollzählig erscheinen. Schließlich will Europa den Rückstand gegenüber China und Amerika aufholen, die sich einen Wettlauf um die Rohstoffe des »Schwarzen Kontinents« liefern. Hier die politische Moral, dort die ökonomischen Interessen in einem globalisierten Verteilungskampf um Energiereserven und Absatzmärkte – ein klassisches Dilemma, das die EU entzweit. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird auf jeden Fall nach Lissabon reisen. Sie hat soeben Afrika entdeckt und strebt jenseits der Almosendiplomatie eine echte Partnerschaft mit dem Nachbarkontinent an. Und die Schurken? Da können es die Europäer wie Benedikt XVI. halten. Der Papst empfing diese Woche Omar al-Baschir, den Präsidenten des Sudan, der für die Verbrechen in Darfur verantwortlich ist. Gebenedeites Motto: Wer mit der Hölle verhandelt, muss mit dem Teufel reden. BARTHOLOMÄUS GRILL

Stolz vor Scham Das Geschäft mit RAF-Verbrechen Noch fünf Wochen, dann ist auch dieser Deutsche Herbst zu Ende. 30 Jahre nach der Ermordung Hanns Martin Schleyers läuft die medial entsicherte Gedenkmaschinerie auf Hochtouren – einmal Stammheim– Mogadischu und zurück. Unter allen Motiven, die die Lust an der Erinnerung an diesen Terror speisen, ist das wirtschaftliche zwar das schnödeste, aber nicht das schwächste. Jeder verdient mit der RAF, so gut er kann – aber keiner verdient so obszön mit ihr wie Peter-Jürgen Boock. Der Exterrorist saß im Fluchtwagen, als Jürgen Ponto ermordet wurde. Er hat Schleyer verschleppt und in Bagdad die Entführung der LufthansaMaschine Landshut vorbereitet. Seit seiner Freilassung 1998 ölt Boock, stolz vor Scham, die Gedenkmaschinerie mit immer neuen, nicht nachprüfbaren Details aus dem Innenleben der RAF. Dabei schreckt er, gelernt ist gelernt, vor nichts zurück. Die jüngste ARDDokumentation zeigte Boock, wie er im Auto durch den Wald fährt, in dem Schleyer starb. Nun schreibt er mit an einem Drehbuch für einen Film, der von der Begegnung eines Terroristen mit einem früheren Opfer handelt. Die öffentliche Filmförderung bezahlt dafür. Am liebsten würde man sein Geld zurückverlangen. MATTHIAS KRUPA

Die linken Abweichler der Linken In Hessen steht die Linkspartei vor ihrer wichtigsten Bewährungsprobe. Und das Spaltungsfieber steigt

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essen, ausgerechnet das gute alte linke Hessen, Heimat der Roten Heidi und der längst vergessenen Rahmenrichtlinien, wo vor Jahren die letzten lebenden Exemplare der Kritischen Theorie ausgewildert wurden und Roland Koch heute nicht mehr weiß, wie er im Januar die Landtagswahl gewinnen soll – ausgerechnet in Hessen brach der Kavalierstart der Linkspartei ab. Mit einem Knall und schwefligem Nachblubbern. Nach ihrer Fusion vom Juni muss die Linke in diesen Wochen Landesvorstände wählen. Weil 2008 eine Serie von Landtagswahlkämpfen ansteht, auch Kandidatenlisten aufstellen. Sie vergibt Pöstchen und strapaziert erstmals ihre dünne Personalreserve. Es wird ernst. In Niedersachsen wurde am vergangenen Wochenende ein neuer Landesvorstand gewählt, in Brandenburg, Schleswig-Holstein und im Saarland. Überall ging das eher geräuschlos vonstatten, sieht man mal von der Phonzahl der Reden ab. Nur in Hessen ein Bömbchen: Die Delegierten hatten sich am 26. August einen ehemaligen DKPler aus Marburg zum Spitzenkandidaten gewählt, sein Name so kurz wie seine landespolitische Karriere. Pit Metz stach überraschend den ehemaligen DGB-Vorsitzenden Dieter Hooge aus, den die Parteiführung gewollt

hatte. Metz legte gleich nach seiner Wahl Wert darauf, »Kommunist« zu sein, und verglich Bundeswehrsoldaten in Afghanistan mit Mauerschützen. Jede Art von Regierungsbeteiligung der Linken in Hessen schloss er aus. Im anschließenden medialen Gegenwind fühlte er sich missverstanden und trat am 5. September wieder zurück. »Druck« will niemand auf ihn ausgeübt haben, schon gar nicht der Bundesvorstand. Dass Kritik an den DDR-nostalgischen Äußerungen auch aus den eigenen Reihen kam – der Kreisverband Odenwald veröffentlichte einen Protestbrief –, tat weh.

Man wird sich doch wohl noch als Kommunist bezeichnen dürfen Samstag früh, Bad Homburg-Kirdorf, in einem echt westdeutschen Mehrzweckflachbau, er nennt sich Bürgerhaus. Die Gänge hängen voller Silberpokale vom Hessischen Turnverband, an den Fensterscheiben Vogelsilhouetten, auf den Tischen schüttere Arrangements mit »Linke«-Wimpeln. Hier halten sie nun Kriegsrat und wählen einen neuen Kandidaten, die grauen Linkspanther mit ihren Schnauz-, Rausche- und Dreitagebärten. Karierte Hemden, ernste Betriebsrätegesichter. Unter ihnen ein paar enthusiasmierte

VON THOMAS E. SCHMIDT

junge Frauen. Ein Fünftel der Delegierten ist weiblich. Zur Begrüßung reibt man einander kollegial den Rücken. Das T-Shirt »Skaten – Saufen – Sozialismus« an einem jungen Blonden fällt bereits auf. Dieter Hooge lässt sich entschuldigen. Pit Metz bittet um Verständnis für alles. Man ahnte, dass die westdeutschen Landesverbände über ein gewisses Selbstzerstörungspotenzial verfügten – auch gesamtdeutsche Sektierer müssen manchmal an sich denken. Dass aber ausgerechnet die Hessen zu spinnen anfingen, war eine kleine Überraschung. Hessen galt als Vorzeigeverband, erprobt in drei Wahlkämpfen, ausgestattet mit zahlreichen kommunalen Mandaten. Die Präsenz von Kreisverbänden ist flächendeckend, das Personal bringt organisatorische Erfahrungen mit. Ein Gewerkschaftler wie Hooge hätte den Anspruch vielleicht sogar eingelöst, die Welt der Politsekten und Hartz-IV-Empfänger zurückzulassen und in bürgerlichere Milieus vorzustoßen. Statt dessen müpfte die Basis auf, das platte Land machte Front gegen den Frankfurter Vorstand, die Hessen gegen die Regisseure aus der Berliner Parteizentrale. »Panne passiert, ja«, fasst Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch den Konflikt lakonisch zusammen, »ich bin sicher, dass wir auch noch weitere Fehler machen.« Das mag sein, aber in Hessen gilt’s. Der Norden darf als aussichtslos bezeichnet werden, mit dem skurrilen Chansonnier Diether Dehm an der Spitze hängt die Fünfprozenthürde in Niedersachsen verdammt hoch. Dass die Linke in Hamburg in die Bürgerschaft einziehen wird, ist jedoch fest gebucht, in Stadtstaaten gelten besondere Bedingungen. Auch das Saarland ist Sonderzone. Dort wird in Friedrichsthal womöglich bald der erste linke Bürgermeister direkt gewählt, dort kennen die Leute ihren Oskar Lafontaine noch als Ministerpräsidenten. Selbst die familienpolitischen Ansichten seiner Frau können die Träume von 18,5 Prozent bei der Wahl 2009 nicht zum Platzen bringen. In Hessen ist das anders. Dort tritt die Linke unter Realbedingungen an, und nur wenn es ihr gelingt, sich im Landtag eines wichtigen westdeutschen Flächenlandes festzusetzen, hat das Projekt einer alldeutschen Linkspartei reüssiert, ist das Parteienspektrum wirklich erweitert worden. So steht in Hessen mehr auf dem Spiel als die Befindlichkeit der Delegierten. Sie jubeln ihrem Pit Metz zu, feiern sich selbst in ihm. Warum Metz wirklich zurücktrat, kann jetzt keiner mehr fragen, will auch keiner mehr wissen. Irgendwie ist man gedemütigt worden, fühlt sich aber bärenstark. Der Odenwälder Kreisvorsitzende Pfeiffer wird ausgebuht. Die Stimmung steigt. Dann sind die Medien schuld an allem, die Pit Metz das Wort im Munde herumgedreht haben. Man möchte so gerne in einer Welt Politik machen, in der man sich als »Kommunist« bekennen kann, ohne dass etwas Schlimmes mit einem passiert. Der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Gehrcke, auch er Alt-DKPist, fordert schneidig Selbstkritik, meint aber nur die Striemen auf dem Hintern der anderen. Der Westbeauftragte Ulrich Maurer ruft: »Wir haben eindrucksvoll den Vorwurf widerlegt, dass wir eine zentralistisch geführte Partei sind.« Man muss nicht Freud gelesen haben, um darüber ins Sinnieren zu geraten. Gregor Gysi nennt Pit Metz einen »richtig netten Kerl«. Das klingt wie: Er war ein Provinzdödel, der uns in der Medienwelt schadete, in der wir uns vor allem bewegen. Am Ende versichert Gysi Metz »für alles Weitere« seine Solidarität. Die Frage ist nur: Was soll hier das Weitere sein? So viel Heuchelei unter den Vertretern der Glaubwürdigkeitspartei, da will die Sonne an diesem Morgen gar nicht mehr aufgehen. Umfragen sahen die hessische Linke nach dem Rücktritt von Metz bei 4,3 Prozent. Das ist zwar nur ein Prozent weniger als vor der Kabale, aber die Partei wäre nicht im Landtag. Die Umfrage zeigt auch: Selbst Sympathisanten buchen

die Linke nicht länger blind. Sie blicken inzwischen genau hin, wer die Partei vertritt und was mit einer Stimme für die Linke wohl geschähe. Deswegen werfen die hessischen Vorgänge ein Schlaglicht auf die Situation der Gesamtpartei. Die rauft sich im Augenblick unter Stöhnen zusammen. Doch nicht bloß Ost und West, PDS und WASG, müssen einander finden, sondern all das politisch Unverträgliche, Unverdauliche in dieser Sammelbewegung muss rasch in einen Topf. Lange wird das dauern, und manches wird wohl noch überkochen, denn aus dem Westen purzeln die politischen Einzelkinder und Einzelkämpfer herbei, die Identitätsfreaks und Fundamentalisten des Guten. Sie haben in der DKP, SPD, PDS, DFU mitgemacht, in zahllosen Initiativen aller Art, traten aus, woanders wieder ein. Engagiert waren sie immer, aber nur sie allein können Stetigkeit in ihren politischen Biografien entdecken. Hartnäckig bestehen sie darauf, dass die neue Partei nicht allzu neu wird, sondern dass sie in ihr weiterhin ihre Vergangenheiten bewahren können. Was sie untereinander verbindet, ist Misstrauen gegenüber Disziplin und Kompromissen; der Parlamentarismus gehört für sie ins Reich des Bösen. Das hat – wie in Hessen – mit Psychologie mehr zu tun als mit politischer Führung. Der Linksradikalismus könnte am Ende mehr sein als eine Kinderkrankheit, er könnte auf Dauer den gesamten westlichen Lungenflügel lahmlegen. Viele Realos in der Partei gehen inzwischen denn auch auf Distanz zu Oskar Lafontaine, der mit seiner überspannten Rhetorik ganz gezielt die Illusion nährt, die Linke sei im Kern eine linksradikale Oppositionsbewegung, die sich vor allem »in der Gesellschaft« ausagiert. Unter den alten Westlinken ist es andererseits zum lieb gewonnenen Ritual geworden, sich über den Pragmatismus der rot-roten Landesregierung in Berlin zu mokieren und Parteimanager wie Bodo Ramelow oder Dietmar Bartsch als Rechtsabweichler zu schmähen, bei Gelegenheit auch Lothar Bisky und Gregor Gysi. Darüber beginnen sich die in Berlin zu ärgern. Wer, wie sie, Macht mit parlamentarischen Mehrheiten erringen will, meint eine andere Partei, eine, die auch koalieren kann. Beide Selbstverständnisse der Linken, die natürlich inzwischen auch unterschiedliche politische Strategien bedeuten, laufen derzeit nebeneinander her, und gelegentlich gibt es eine Havarie.

Der Spitzenkandidat bekennt sich zur außerparlamentarischen Opposition Mit dem neuen hessischen Spitzenkandidaten Willi van Ooyen ist die Klippe in Bad Homburg gerade noch mal umschifft worden. 91 gegen 28 Stimmen, das kann eben noch als Zeichen innerer Einheit der Partei durchgehen. Der parteilose Behindertenpädagoge van Ooyen, ehemaliger Geschäftsführer der Deutschen Friedensunion und Wiederbeleber der Ostermärsche, ist kein linksradikaler Heißsporn. Bei der Wahl von Metz war er Nummer sechs der Landesliste, hatte aber zugunsten eines Gewerkschaftsvertreters seinen Platz zur Verfügung gestellt. Brav hält er an diesem Samstag das Koalitionstürchen in Richtung SPD offen. Die eingeflogenen Berliner Gysi und Maurer werden es gern gehört haben. Aber dann sagt Willi van Ooyen noch was. Unmissverständlich erklärt er, er verstehe sich in erster Linie als »Transmissionsriemen« zwischen den außerparlamentarischen Initiativen und einer kommenden Landtagsfraktion. Und da ist sie dann schon wieder, diese seltsame Fliehkraft – raus aus dem Parlament, während man noch nicht einmal drin ist. Irgendwie ist das zwanghaft. Ein Transmissionsriemen will er sein. Das linke Signal von Bad Homburg: klare Bekenntnisse plus Elektrifizierung. Den hessischen Wähler wird es nachgerade in Entzücken versetzen. Dabei hat der Wahlkampf noch gar nicht richtig angefangen.

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Illustration: Jochen Schievink für DIE ZEIT; www.jochenworld.de

Wie viel Stolz darf’s denn sein? Die SPD schafft es nicht, den Streit um Schröders Erbe zu entscheiden. Nun mischt sich auch Frank-Walter Steinmeier in die Debatte ein

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ass uns nicht von Sex reden«, singen Blumfeld in der ersten Strophe eines Songs, der dann aber von nichts anderem handelt. So ähnlich wie der Pop-Band mit dem Sex geht es der SPD mit dem Streit um die Agenda 2010. Eigentlich gebietet es die Klugheit, nicht immer wieder dieselben heiklen Debatten und Nachhutgefechte zu führen, aber irgendwie gerät dann doch jeder Zwist zum Streit um die Grundsatzfrage: Wie hältst du es mit der Agenda? Fast wäre die leidige Debatte erstorben, und im Grunde waren selbst die meisten Agenda-Kritiker froh darüber. Schließlich wollte Kurt Beck Ende Oktober einen »Parteitag des Aufbruchs« feiern – neues Programm, neue Führung, neues Glück. Doch seit die designierten Vizevorsitzenden Finanzminister Peer Steinbrück und Außenminister Frank-Walter Steinmeier sowie der frühere SPDVorsitzende Matthias Platzeck ein Buch vorgelegt haben, mit dem sie »Stolz« auf die Reformpolitik anmahnen, frisst sich der alte Konflikt wieder durch, der Burgfrieden ist dahin. Vor allem auf Steinbrück konzentriert sich der Ärger, weil der seine Genossen als »Heulsusen« beschimpfte – ein Begriff, den immerhin jeder Sozialdemokrat verstanden hat, im Gegensatz zum »vorsorgenden Sozialstaat«, mit dem die Parteispitze Werbung macht. Stolz ist für die ehemals stolze SPD ein Reizwort geworden. Stolz entspringt laut Lexikon »der Gewissheit, etwas Besonderes, Anerkennenswertes oder Zukunftsträchtiges geleistet zu haben oder daran mitzuwirken. Dabei kann der Maßstab, aus dem sich diese Gewissheit ableitet, sowohl innerhalb eines eigenen differenzierten Wertehorizonts herausgebildet als auch gesellschaftlich tradiert sein. Im ersten Fall fühlt man sich in seiner Weltanschauung bestärkt, im anderen Fall sonnt man sich in der gesellschaftlichen Anerkennung.« Mit dem einen wie mit dem anderen hat die SPD ihre Probleme. Im Glanz der gesellschaftlichen Anerkennung sonnt sich die Kanzlerin, während die Sozialdemokraten noch grübeln, ob sich die eigene Regierungspolitik mit ihrem Wertehorizont verträgt. Infrage steht nicht nur, ob die Agenda lieber fortgesetzt oder doch besser klammheimlich beerdigt wird, sondern auch die Führungsstärke des Vorsitzenden Kurt Beck, dem das Umfragetief seiner Partei angelastet wird und der als zu

wenig profiliert gilt. Er reagierte auf die StolzOffensive mit einer Breitseite gegen Müntefering und die »Stones«, wie Steinmeier und Steinbrück in der SPD genannt werden. Er sei nicht stolz, »wenn Menschen beispielsweise keine Rentenerhöhung bekommen, länger arbeiten müssen oder lange keine Nettolohnerhöhungen mehr hatten«, so der Parteivorsitzende. Die »Zeit der großen Zumutungen« müsse »erst mal vorbei sein«, sagt Beck und versichert zugleich, er stehe zur Agenda. Ein klares Bekenntnis hört sich anders an. Auch Steinmeier, als Kanzleramtsminister unter Gerhard Schröder Miterfinder der Agenda 2010, ist darauf bedacht, keinen weiteren Zorn auf sich zu ziehen, schließlich muss er der SPD beim Parteitag schon das schwierige Thema Afghanistan- und Antiterroreinsatz beibringen. Stolz will er schon sein, aber auch wieder nicht so stolz, dass sich jemand dadurch provoziert fühlen könnte. »Das Programm der umfassenden politischen Erneuerung Deutschlands, später Agenda 2010 genannt, wurde nicht erfunden, um den Sozialstaat zu schleifen, sondern um ihn unter völlig veränderten Bedingungen zu erhalten und sicher für die Zukunft zu machen«, so der Außenminister zur ZEIT. Die neoliberalen Vorkämpfer hätten sich damals bei Schröder und der SPD »eine blutige Nase geholt, während die CDU zur selben Zeit mit stürmischer Begeisterung ihr Leipziger Programm beschlossen hat«. Solange Sozialdemokraten regierten, werde das Leipziger Programm der CDU nicht verwirklich. »Darauf bin ich stolz.« Als man 2003 die Agenda in Journalistenrunden vorgestellt habe, habe es geheißen: »Wenn ihr mit solchem Kleinscheiß kommt, dann bleibt gleich zu Hause. Das bringt nicht mal den Ansatz einer Wende.« Gleichzeitig habe sich innerhalb der SPD eine Diskussion mit dem Tenor aufgebaut: »Wenn ihr das vorschlagt, ist das Verrat an der SPD«, erinnert sich Steinmeier. Die Regierungskunst Schröders sei es gewesen, zwischen den Angriffen von verschiedenen Seiten Kurs zu halten. Die Entscheidungen der Regierung Schröder hätten der »Politik Gestaltungsmöglichkeiten zurückgegeben«. Nun zeige sich, »dass diese Ent-

Am helllichten Tage Ganz unverbindlich veranstalten CDU und FDP ein Treffen. Man möchte sich mal kennenlernen VON MATTHIAS GEIS

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wanzig Bundestagsabgeordnete von CDU und FDP sind im Adenauer-Haus zusammengekommen. »Wer mal miteinander regieren will, der braucht auch eine persönliche Gesprächsbasis«, hat FDP-Generalsekretär Dirk Niebel das Treffen begründet – und zugleich ein wenig abmoderiert. Kein Strategietreffen also, keine vorgezogenen Koalitionsverhandlungen, eher eine Wiederannäherung auf protokollarisch unterer Ebene. Das kann ja wirklich nicht schaden, wenn man irgendwann »mal miteinander regieren will«. Die letzten Versuche sind nicht allzu erfolgreich verlaufen. 1998 distanzierte sich Guido Westerwelle schon vor der Wahlniederlage der letzten schwarz-gelben Regierung von Kohl und dem Koalitionspartner. 2002 hätte sich dann die Union gern etwas deutlicher von der FDP distanziert. Der populistische Juxwahlkampf Westerwelle/Möllemann jedenfalls ergab zusammen mit der gesofteten Stoiber-Kampagne wieder keine Regierungsmehrheit. 2005 addierten sich die schwarze und die gelbe Spielart des drohenden Neoliberalismus – und sorgten neuerlich für den Misserfolg des bürgerlichen Lagers. Verständlich, dass jetzt die gegenseitigen Annäherungsversuche erst einmal ganz vorsichtig ausfallen.

Man hat ja auch noch die Westerwelleschen Schimpfereien im Ohr, mit denen er den ganzen Sommer über die Sozialdemokratisierung der Union beklagt hat. Umgekehrt enthält sich die Kanzlerin öffentlicher Erwähnungen der FDP. So wie Angela Merkel an der Macht ihr Verhältnis zu den Kräften des Marktes ein wenig korrigiert hat, so wird sie sich auch mit demonstrativen Freundschaftsbekundungen gegenüber den Liberalen eher zurückhalten. Nur kürzlich, als Wolfgang Schäuble einmal nicht mit Vorschlägen zum Verhältnis von Rechtsstaat und Innerer Sicherheit, sondern mit Spekulationen über ein schwarz-grünes Bündnis Aufsehen erregte, nuschelte die Kanzlerin etwas von einer schwarz-gelben »Priorität«. Jetzt, wo die Jungkonservativen in der Union ihr Recht einfordern, kann die Parteivorsitzende Schwarz-Grün-Debatten wirklich nicht gebrauchen. Da erinnert man sich doch lieber an das bewährte Muster, selbst wenn es sich seit fast einem Jahrzehnt nicht mehr bewährt. SPD und Grüne haben ebenfalls angekündigt, dass sie sich recht bald ein wenig näher kennenlernen wollen. Auch das kann ja nicht schaden.

scheidungen nicht nur keine Schieflagen produziert haben, sondern im Gegenteil Teilhabe erst wieder ermöglichen«. Doch was heißt das für die Frage nach der Zukunft der Agenda? Da wird der Innenpolitiker Steinmeier schnell wieder zum Diplomaten: »Abbau der Arbeitslosigkeit und faire Löhne – das wird auch der Schwerpunkt unserer Arbeit für die Zukunft sein.« Die SPD werde für »Investitionen an der richtigen Stelle« sorgen: »Mehr Geld für Kindergärten und Schulen, für Integration, Ausbildung und Weiterbildung.«

VON TINA HILDEBRANDT

Im Grunde verbirgt sich hinter dem Streit zwischen Vizekanzler, »Stones« und Parteichef weniger ein grundlegender inhaltlicher Konflikt als ein Streit um Symbole und die richtige Didaktik. Während Müntefering und Steinbrück fürchten, dass ein Abrücken von der Agenda einen Rückfall in die alten Oppositionsreflexe bewirken könnte, glaubt Beck, auf jene zugehen zu müssen, die unter der Reformpolitik gelitten haben oder den Begriff Agenda 2010 schlicht für rhetorisch und politisch verbrannt halten. Darunter leidet sein eigenes Profil – schließ-

lich praktiziert er als rheinland-pfälzischer Ministerpräsident wirtschaftsfreundlichen Pragmatismus. Ausgerechnet die SPD-Linke will nun von Labour lernen und einen Dritten Weg gehen. »Wir müssen dasselbe Kunststück wie Gordon Brown hinbekommen«, sagen Niels Annen und Andrea Nahles: »uns aus der Regierung erneuern, neue Akzente setzen, ohne alles, was vorher war, zu dementieren.« i Wer rettet die Sozialdemokraten? www.zeit.de/2007/spd

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In der Patchwork-Partei Horst Seehofer und Erwin Huber kämpfen in Bierzelten um den Parteivorsitz der CSU. Doch beide sind so unsicher wie die Partei selbst

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eit ist der Minister gereist, um sich unters Volk zu mischen. Vorbei an endlosen Feldern und winzigen Dörfern, ein Haus, ein Hund, eine Bushaltestelle. Das sündige Berlin liegt viele Kilometer hinter ihm, der Ort, an dem die CSU vom politischen Löwen zum Merkelschen Schoßhund wird. Tag für Tag zieht er durch die bayerische Provinz, hier ein Volksfest, dort eine Feuerwehrfeier, wo die CSU noch ist, was sie war und immer sein soll. Aber stimmt es denn? Ist die CSU noch die CSU? Jene Partei, die immer so sicher in sich ruhte? »Wir fragen nicht, wie groß ist der Ort, wir kommen einfach. Das macht die CSU aus«, sagt der Minister. Der Weiler Puch bei Markt Indersdorf ist ziemlich klein, eine Handvoll Menschen, Schweine gibt es ein paar mehr. So klein, dass ein Besucher sagt: »Dass der Minister in so ein Nest kommt, ist die reine Menschlichkeit.« Der Minister schmiegt sich an einen Traktor, ein Foto bitte. Morgen werden auf der Wiese Traktoren beim Oldtimer-Bulldozer-Festival um die Wette pflügen, heute aber gehört sie ganz dem Landwirtschaftsminister Horst Seehofer. Vorm Bierzelt lächeln selig der Schützenverein Eglersried in Reih und Glied sowie ein aufgeregter CSUOrtsvorsitzender. So viel Glanz in seinem Kreis. Drinnen warten gespannt der Wurstkönig, der sich so nennt, weil er beim Schießen immer nur den zweiten Platz gewinnt und mit einer Kette aus Würsten geehrt wird. Des Wurstkönigs Freund, der sich nach der ersten Maß als Hansi zu erkennen gibt, um zwei weitere Maß lang über die Politik zu schimpfen, diverse CSU-Ortsvereine, Feuerwehren und ein paar Hundert andere Menschen. Die Bläser ziehen die Wadlstrümpfe hoch, Taram, der Defiliermarsch. Herein marschiert der Minister, legt die Rechte wie einen Anker um das Rednerpult und redet, eineinhalb Stunden lang. Wie ein Fußballspiel und genauso anstrengend.

nen gern folgen, doch leider hat sie niemand eingeladen. »Das Netz ist hier so engmaschig, die kommt da nicht rein. Niemand will der Königsmörder sein«, sagt der Schorndorfer Bürgermeister Max Schmaderer. Und so wird der Dreikampf um die Dörfer zum Zweikampf. Seehofer startet mit einer Hypothek. Er weiß, dass er nicht der Favorit ist, dass ihn viele in der Partei für einen Querulanten halten. Und er ahnt, dass sie im Bierzelt Witze machen, tuscheln über seine Liaison in Berlin. Seehofer ist angeschlagen – und kokettiert damit. »Normalerweise bin ich von Freunden umzingelt, heute habe ich das Gefühl, dass ich von Freunden umgeben bin.« Seht her, hier stehe ich und kann nicht anders, der Rebell habe »Verwundungen und Narben« erlitten und sich trotzdem nicht umwerfen lassen. Das ist Seehofers Botschaft an die Menschen im Zelt. Seine Rede hat drei Kapitel. Die CSU, die Bauern, der Seehofer.

»Die Menschen sind nervös, niemand weiß, wie es weitergeht«

Foto [M]: Joerg Koch/ddp

»Das Netz ist so engmaschig, da kommt die nicht rein« Seehofer möchte gewählt werden, wenn die 1000 Parteitagsdelegierten am 28. September zusammentreten, um einen neuen Vorsitzenden zu küren. Gewählt werden wollen aber auch der bayerische Wirtschaftsminister Erwin Huber und die Fürther Landrätin Gabriele Pauli. Drei Kandidaten, das allein ist eine Sensation, wo es doch jahrzehntelang nur Thronfolger gab in der CSU. Im Jahr 1955 konnten sich die Delegierten das letzte Mal zwischen zwei Bewerbern entscheiden, damals siegte Hanns Seidel über den jungen Franz Josef Strauß. 52 Jahre später reisen Huber und Seehofer um die Wette, von Bierzelt zu Bierzelt, von Schützenfest zu Schützenfest. Pauli würde ih-

VON ANGELA KÖCKRITZ

BIER als Treibstoff einer jeden erfolgreichen Politikerkarriere? Erwin Huber und Horst Seehofer

Ausgiebig ehrt er die Großen der Partei, den Strauß und den Stoiber, deren Erbe er antreten möchte als Vorsitzender der »erfolgreichsten Partei Europas«. Das klingt ein wenig nach Größenwahn, ist aber beste CSU-Tradition des umfassenden Selbstlobes. Die perfekte Autosuggestion. »Wir haben es geschafft, zwischen bayerischer Heimat und CSU die totale Einheit herzustellen«, sagt Seehofer. Auf den Biertischen in Puch liegen, griffbereit zum Mitsingen, die Deutschland- und die Bayernhymne. Vom CSU-Bierdeckel »Aus Liebe zu Bayern Mitglied werden« grüßen vor Heimatkulisse Vater, Mutter, Kind. Erste Ehe, zweite Ehe, vielleicht gar wilde Ehe? Und das Kind, von ihm oder von ihr? Am liebsten redet Seehofer von den Bauern, er weiß, dass viele von ihnen im Publikum sitzen. Auf dem Karpfhamer Fest bei Bad Griesbach zum Beispiel. Die meisten, die ihm zuhören, sind vorher über die Landwirtschaftsschau geschlendert, vorbei an Biogasanlagen und Melkmaschinen. Der Landrat preist die Ausstellung Schweinszeit. Kultur mit dem Schwein , danach kämpft Seehofer eine Stunde lang für die Bauern, rhetorisch zumindest. Das kann er sehr gut. Die Bauern sind begeistert, viele würden ihn am liebsten wählen, und das ausgerechnet in Hubers Niederbayern. Wenn sie denn könnten. Laut einer Forsa-Umfrage vom Juli unterstützen 45 Prozent der CSUAnhänger Huber, 33 Prozent Seehofer und 15 Prozent Pauli. Paulis Kandidatur hat sich auf Seehofers Stimmen ausgewirkt. Über den Wahlausgang sagen die Zahlen allerdings nichts aus. Denn nicht die Basis wählt den Vorsitzenden, sondern die Delegierten wählen ihn. Und die favorisieren Huber, ganz so, wie es sein größter Unterstützer, der bayerische Innenminister und künftige Ministerpräsident Günther Beckstein, empfohlen hat. Laut einer aktuellen Umfrage des Focus unter Bezirksvorsitzenden kann Huber sogar mit einer Zweidrittelmehrheit rechnen. Beckstein und Huber sollen ein Abkommen getroffen haben: Beckstein wird Ministerpräsident, Huber Parteivorsitzender. Ein Gentlemen’s Agreement hinter verschlossenen Türen. In der Basis rumort es. In jedem Bierzelt finden sich einige, die meinen, dass Frau Pauli mit ihrer Kritik recht gehabt habe, auch wenn sie ihr Vorgehen nicht unbedingt billigen. Federico Bürsgens zum Beispiel, wissenschaftlicher Mitarbeiter in München, der eine Huber-Rede im Hofbräuhaus besucht. »Es gibt wenige Parteien, die demokratisch so ausgehöhlt sind wie die CSU.« Die einen wünschen den Neuanfang, die anderen würden die Uhr am liebsten zurückdrehen. »Die Menschen sind nervös. Niemand weiß, wie es weitergeht. Das ist wie bei einer großen Firma, wenn der Chef wechselt«, sagt Kaufmann Walter Rasshofer aus Taufkirchen im Hofbräuhaus. Die Unsicherheit sitzt tief, und sie steht oben, auf der Bühne. In Gestalt des Horst Seehofer, der die Berliner Postmoderne mit sich trägt. Und in

Gestalt des Erwin Huber, dem wandelnden Beweis dafür, dass man sich auch in München von der bayerischen Provinz entfernen kann. Der Bundes-Seehofer taucht ein in die bayerischen Bierzelte, der Niederbayer Huber fremdelt. Selbst im eigenen Wahlkreis, auf dem Arndtbier in Wippstetten, wirkt er seltsam verloren, als habe man ihn gerade hier ausgesetzt. Das Mikrofon röhrt, die meisten Besucher können den Wirtschaftsminister nicht verstehen, das macht aber nichts. »Hier wählt jeder den Huber, der ist einer von uns«, sagt eine Bäuerin. Auf der Nanzinger Kirta in Schorndorf sind die Bedingungen härter. Schon der Alleinunterhalter Markus hat es schwer, der »zwei braune Augen, die der Jäger nicht vergessen kann«, besingt, ohne dass es irgendwen zu interessieren scheint. Und dann kommt auch noch Bürgermeister Max Schmaderer von den Freien Wählern auf die Bühne, und der denkt gar nicht daran, eine artige Lobesrede zu halten. Stattdessen wettert er gegen das »blöde Landesentwicklungsprogramm« und jene Politiker, die in »München auf dem Geld hocken«, das Schorndorf doch so dringend brauche. Wirtschaftsminister Huber hat Bayern eine Radikalmodernisierung verordnet. »Wenn man die Sümpfe trockenlegt, darf man die Frösche nicht um Rat fragen«, hat er gesagt. Und jetzt reist er ausgerechnet dorthin, wo die Frösche warten. Und die sagen ihre Meinung. Huber ist sichtbar verstimmt, als er das Wort ergreift. Schwärmen wird er trotzdem, das gehört zum Repertoire. Von der dörflichen Gemeinschaft, dem katholischen Glauben, der großartigen Wirtschaftsentwicklung und natürlich von Bayern, wo doch ohnehin fast alle Deutschen leben möchten. Sagt der Minister und hebt die Arme gen Himmel wie der Pfarrer in der Kirche. Huber liebt die großen Gesten, doch irgendwie möchten die gestikulierenden Hände nicht zum Rest des Körpers passen. Fast sieht es so aus, als stehe hinter Huber einer, der die Hände an seiner statt bewegt.

Huber sagt nichts Schlechtes über Seehofer, Seehofer nichts über Huber Huber redet, an den Bierbänken raunt und tuschelt es. Erst als er seinen Trumpf, die rechte Karte, spielt, wird es still. Er ereifert sich über »monströse Moscheebauten in unseren Städten«, die den christlichen Charakter des Landes zu verändern drohten. Er ruft nach einem »christlichen Sittengesetz«, und das Publikum mag an Horst Seehofer denken, vielleicht aber auch nicht, denn auch sie kennen die Wechselfälle des Lebens und sind dagegen nicht immer gefeit. Huber spricht mehr Themen an als sein Konkurrent, klassische Unionsthemen, Kernkraft, Innere Sicherheit. Der Gegner ist rot-grün und das klingt mehr nach Kommunalwahlkampf als nach parteiinternem Wettbewerb. Ist Huber etwa schon einen Schritt weiter? Bei den Kommunalwahlen im Jahr 2008? Über seine Wettbewerber sagt Huber nichts Schlechtes, ohnehin erwähnt er sie nicht direkt, das macht auch Seehofer nicht. Pauli sieht keiner der beiden Männer als ernsthafte Konkurrentin, und miteinander wollen es sich die beiden nicht verscherzen. Huber wünscht sich Seehofer im Falle seines Siegs als Stellvertreter. Nicht nur, weil der ein bundespolitisches Profil und Anhänger hat, sondern auch, um Querschläge zu verhindern. 28. September, Parteitag der CSU in München. Millionen Wies’n-Besucher drängen in die Stadt, Menschen aus Buxtehude, Belgien und Barbados zwängen sich in Dirndl und Hirschlederne, um miteinander einen weiß-blauen Rausch zu feiern. Sechzehn Tage lang wird sich das große Illusionskarussell drehen, am Abend findet man die große Liebe, an die man sich am nächsten Morgen kaum erinnern kann. Vielleicht verflüchtigt sich dann auch die Verunsicherung, und die CSU findet zu jener Partei zurück, die sie mal war und gern sein möchte. Zumindest einen Abend lang. Ob sie sich am nächsten Morgen erinnern kann?

" FRAUEN IN DER CSU

Der Pauli-Faktor Was haben sie gelacht in der CSU, als Gabriele Pauli ihre Kandidatur für den CSU-Vorsitz erklärte. Eine Witznummer. Bis die Umfrageergebnisse kamen. 56 Prozent der CSU-Mitglieder befürworten Paulis Kandidatur. Den Sieg wird ihr das nicht bringen, an den scheint sie ohnehin nicht wirklich zu glauben: »Die Kandidatur hat Wirkung, weil sie die Diskussion in unserer Partei anfacht. Es ist ja selten, dass als Außenseiter jemand von unten kandidiert, meistens werden die Posten innerhalb der Führungsriege hinter verschlossener Tür vergeben.« Eine Demonstration also, ein Akt des politischen Protests. Pauli führt einen Wahlkampf, der eigentlich gar keiner ist. Niemand möchte sie einladen. »Ich bin ja oben nicht gelitten, da wollen sie nicht mit mir gesehen werden.« Und so bleibt Pauli gar nichts anderes übrig, als Interviews zu geben und auf ihren großen Moment zu warten. Die Rede auf dem Parteitag, wo sie

über mehr Demokratie in der Partei sprechen will und die Rolle der Frau. »Frauen bekommen in der CSU eine hohe Position nur von Mannes Gnaden, dafür müssen sie die alten Rollenbilder bedienen«, sagt Pauli. Tatsächlich sind Frauen in der CSU in hohen Positionen nur spärlich vertreten. Von 18 bayerischen Kabinettsmitgliedern sind gerade einmal drei weiblich, nur 24 von 124 Landtagsabgeordneten sind Frauen. Neben der CDU mit Merkel und von der Leyen wirkt die CSU wie deren altbackene Schwester. Pauli würde das gern ändern, viele finden das gut, doch nicht alle sind ihr dankbar dafür. »Das Verhalten von Gabriele Pauli hat uns Frauen in der Partei massiv geschadet«, sagt zum Beispiel die CSU-Bundestagsabgeordnete Dorothee Bär. Schon sagen einige Männer, da sehe man mal, wohin das führe mit den Frauen in der Politik. Was sollten Frauen da erst über Männer sagen? AKÖ

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Foto [Ausschnitt]: Silke Reents/VISUM

KAFKAESK ODER MODERN? Kritiker fordern den Umzug des Stasiarchivs

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ie Blamage hätte kaum größer sein können. Pünktlich zum Jahrestag des Mauerbaus präsentierte die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Marianne Birthler einen Schießbefehl als Sensation, der seit Jahren in ihrer eigenen Ausstellung hängt. Die Fehlleistung ist der Höhepunkt einer Serie von Pannen, die Deutschlands teuerstes Archiv in eine Legitimationskrise gestürzt hat. Es ehrt den Theologen Richard Schröder, dass er sich öffentlich vor die Behördenchefin stellt (ZEIT Nr. 36/07). Doch er tut es mit unlauteren Mitteln. Statt die Argumente der Kritiker zu widerlegen, versucht er, diese persönlich in Misskredit zu bringen. So behauptet Richard Schröder, die Kritiker wollten nur das Geld der Behörde, die sich der Bund jährlich rund hundert Millionen Euro kosten lässt. In Wirklichkeit hat niemand je diesen Anspruch erhoben. Er wäre auch reichlich weltfremd, denn keine der mit der SED-Diktatur befassten Einrichtungen – mit Ausnahme der Stiftung Aufarbeitung – wird vom Bund betrieben. Die Gedenkstätte im Stasigefängnis Hohenschönhausen zum Beispiel, der Schröder solche Absichten unterstellt, ist eine Stiftung des Landes Berlin. Da der Bund maximal 50 Prozent des Jahresetats (eine Million Euro) dazugibt, müsste erst das Land kräftig drauflegen, damit der Bund seinen Anteil aufstocken könnte – angesichts der desolaten Haushaltslage Berlins eine unwahrscheinliche Perspektive. Genau aus diesem Grund bedurfte es über sechs Jahre, bis der Gedenkstätte das Geld für eine Ausstellung an die Hand gegeben wurde. Deren Fehlen kreidet Schröder nun ihrem Leiter an. Die Behauptung, die Debatte über die Stasiakten-Behörde sei von Interessen bestimmt, weist eher auf ihre Urheber zurück: Schon Max Weber hat beschrieben, wie sich Bürokratien verselbstständigen und unentbehrlich machen wollen. Ein Amt mit 2000 Beschäftigten, mit Dienstwagen, Chauffeuren und einem exklusiven Aktenzugang gibt sich ungern selbst auf. Als Vorsitzender des Beirats, der die Behörde beaufsichtigen soll, ist Richard Schröder selbst befangen und verteidigt die eigene Arbeit.

Niemandem leuchtet ein, warum Stasileute Stasiakten bewachen Schon der erste Satz seines Plädoyers enthält eine Unwahrheit: Der Behörde sei es zu verdanken, dass die Stasiakten erhalten blieben. In Wirklichkeit gebührt dieses Verdienst den Bürgerrechtlern, die 1989/90 die Dienststellen der Stasi besetzten. Mit einem Hungerstreik setzten sie auch die Aktenöffnung durch. Als die Behörde gegründet wurde, hat man sie größtenteils vor die Tür gesetzt. Statt ihrer stellte man reihenweise DDR-Staatsbedienstete und sogar Stasimitarbeiter ein – was Schröder wortreich zu erklären versucht. Doch niemandem leuchtet ein, warum ausgerechnet Stasileute die Stasiakten bewachen müssen. Und wenn man wirklich Stasioffiziere brauchte, die den Weg durch die Archive zeigen sollten, musste man sie sicher nicht unbe-

fristet anstellen und unbeaufsichtigt an die Akten lassen. Weil die Behördenleitung ein schlechtes Gewissen hatte, verheimlichte sie sogar gegenüber dem Bundestag die wahre Zahl der Bediensteten, die früher im Sold des Ministeriums für Staatssicherheit standen. Dass die Verantwortlichen nicht erkennen wollen, wie sehr dies der Glaubwürdigkeit der Behörde schadet, zeigt, wie weit sie sich von den Opfern entfernt haben, deren Akten sie verwalten.

Der Streit um eine Spionagekartei erinnert an einen Roman von Kafka Dass die Gefühle der Opfer aus dem Blick geraten sind, zeigte sich auch Ende 2006, als das Stasi-Unterlagen-Gesetz novelliert werden sollte. Auch hier stellt Richard Schröder Marianne Birthler ein tadelloses Zeugnis aus, er selbst unterstützte sie damals vehement bei einer Bundestagsanhörung. Doch in falscher Einschätzung der Lage hatte sie einen kleinmütigen Gesetzentwurf vorgelegt, der das drohende Ende der Stasiüberprüfungen in Deutschland weitgehend sanktionierte. Selbst Bundestagsabgeordnete sollten nur noch bei massivem Verdacht durchleuchtet werden können. Als Opferverbände und DDR-Bürgerrechtler dagegen protestierten, wurden ihre Einwände beiseitegewischt. Nur weil Thüringen die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in letzter Minute zur Umkehr bewegen konnte, blieben wichtige Überprüfungsmöglichkeiten erhalten. Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Umgang mit westdeutschen Stasiverstrickungen. Die Behörde hat um das Thema jahrelang einen Bogen gemacht. Obwohl ihr die Amerikaner die entsprechende Stasispionagekartei (»Rosenholz«) übergaben, blieb diese für die Forschung lange Zeit gesperrt. Inzwischen werden die Unterlagen tröpfchenweise zugänglich gemacht. Doch der Kampf darum erinnert eher an Franz Kafkas Roman Der Prozess als an die Arbeit in einem modernen Archiv. Die ZEIT machte die Geheimnistuerei um die Rosenholz-Unterlagen schließlich öffentlich (ZEIT Nr. 26/06). Als sie auch noch von überzogenen Schwärzungen berichtete, wurde sie dafür von der Behörde verklagt. Den Prozess hat die Bundesbeauftragte inzwischen verloren – bezahlen muss der Steuerzahler. Wie die ZEIT berichtete, saßen im Bundestag mehr Stasiagenten als angenommen. Viele erwarteten deshalb, dass die Bundesbeauftragte die Stasidurchdringung des Parlamentes genauer untersuchen würde. Schließlich verfügt sie dafür über eine eigene Forschungsabteilung, die größer ist als manches historische Institut. Marianne Birthler meinte indes, es gebe wichtigere Aufgaben. Als auch die Koalitionsparteien erklärten, sie wollten bei ihr keinen Bericht darüber in Auftrag geben, sagte sie plötzlich, sie hoffe sehr, dass dies nicht das letzte Wort in dieser Sache sei. Auch so kann man sich einer Aufgabe entledigen. Die Liste der Kritikpunkte ließe sich fortsetzen: Forschungseinrichtungen warten seit Jahren

" BERLINER BÜHNE

Die fremden Blondinen Verglichen mit den Venezolanern sind unsere familienpolitischen Probleme lösbar. In Venezuela kämpft der Sozialismus auch gegen verrückte Vornamen. Es ist ein harter Kampf. Die Leute heißen dort Nixon, Kennedy oder Superman, Krishnamerk oder Olmelibey. Ecuadors Vizepräsident beispielsweise heißt Lenin Moreno. Die New York Times will erfahren haben, dass sich allein in Hugo Chávez’ Ölreich sechzig Leute »Hitler!« rufen lassen. Und wir glauben, dass wir Eva Herman skandalös finden sollten. In Wirklichkeit ritzen wir uns nicht an den Kanten des Mutterkreuzes, in Wirklichkeit sucht Deutschland wieder nach einer Gelegenheit, vor etwas Angst zu haben, und dieses Nächste ist blond. Die Blondine stellt die Integrationsfrage des 21. Jahrhunderts. Fliegen Christa Müller etwa die Herzen zu? Nahm es mit Diana ein gutes Ende? Nein, es stellt sich die Außenseiterproblematik in aller Härte neu. Blondinen stören unser Bild von der westlichen Kinderlosigkeit. Sie sterben, entgegen allen Behauptungen, überhaupt nicht aus. Vielmehr setzen sie dauernd Kinder in die Welt, Britney Spears zum

Beispiel. Sie geben ihren jungblonden Nachwuchs nicht in einer Krippe ab: alles schwere Fälle von reaktionärer Mütterlichkeit. Christina Aguilera ist schwanger, Nicole Richie auch, keiner mag diese Frauen. Blonde stören das Konzept eines modernen Konservatismus. Sie müssen nicht wählen, wieso auch? Sie haben schon die richtige Haarfarbe. Wenn man sich ihnen nähert, sind sie immer schon in Parallelgesellschaft. Sie immunisieren sich außerdem durch blöde Witze. Eberhard Diepgen soll in Berlin einen Verdienstorden erhalten. Es gibt unschöne Proteste dagegen. Diepgen ist eher fahl, aber im Sinne der kulturellen Sympathiezuschreibung natürlich blond. Auch an ihm zeigt sich, wie tolerant eine Gesellschaft wirklich ist. Hugo Chávez steht wahrscheinlich total auf blond. Wenn man Maolenin Rojas Delgado oder Garibaldi García Ramírez heißt, wird es vermutlich nicht anders sein. Das sozialistische Venezuela hat das Blondinenproblem gelöst, indem es sich ihnen einfach zu Füßen wirft. So weit sind wir noch nicht. Wir fangen erst einmal ganz langsam mit den Muslimkonvertiten an. THOMAS E. SCHMIDT

Selbstmord einer Behörde Warum die Stasiakten anders verwaltet werden müssen. Eine Erwiderung auf Richard Schröder VON HUBERTUS KNABE

vergeblich auf beantragte Akten. Ein Großteil des Archivs wurde bislang inhaltlich nicht erschlossen. Tausende herausgegebene Unterlagen sind durch Schwärzungen so gut wie unbrauchbar. Die Ausstellungszentren der Behörde haben kaum Besucher, und das 1992 begonnene StasiHandbuch ist immer noch ein Torso. Sicher wäre es ungerecht, die Behördenchefin persönlich für all diese Missstände verantwortlich zu machen. Doch man muss erwarten, dass sie sich überlegt, wie man sie abstellen kann. Stattdessen hat man den Eindruck, dass die Behörde ihr eigentliches Ziel – die Aufarbeitung der Vergangenheit – aus den Augen verloren hat. Viele, die sich dafür engagieren, fragen sich, ob man nicht neue Strukturen schaffen muss, um die Arbeit effektiver zu organisieren. Die meisten kommen nicht – wie Schröder suggeriert – aus dem Westen, sondern haben tapferer als er gegen die SED gekämpft. Der Schriftsteller Jürgen Fuchs etwa, der im Stasigefängnis von Hohenschönhausen saß, hat in seinem Buch Magdalena schon vor zehn Jahren die Missstände in der Behörde angeprangert und deshalb sein Beiratsmandat niedergelegt. Ganz abgesehen davon, dass die Plausi-

bilität von Argumenten nicht von deren regionaler Herkunft abhängt. Während früher viele Kritiker aus politischer Solidarität öffentlich geschwiegen haben, ist der Kredit der Behörde allmählich aufgebraucht. Der rapide Wissensverlust in der jungen Generation und die zunehmende DDR-Nostalgie bei den Älteren lassen für Untätigkeit und Dilettantismus keinen Raum mehr. Wenn die Behörde so weitermacht, droht zudem die Gefahr, dass das Kind mit dem Bade ausgeschüttet – und sie ohne jeden Ersatz geschlossen wird. Wenn Richard Schröder Marianne Birthler wirklich helfen will, dann sollte er sie zum Dialog mit ihren Kritikern ermutigen. Die Frage, wie die Aufarbeitung verbessert werden kann, duldet keinen Aufschub mehr. Seine Erfahrung mit dem Ende der SED-Politbürokratie müsste ihn eigentlich lehren, dass »Autismus«, wie ihn ein Gutachten der Behördenleitung unlängst bescheinigte, in den Untergang führt. Der Autor ist Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und Verfasser des Buches »Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur«

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WAHLPLAKAT der NPD in Anklam

Wie man Nazis zähmt Im Schweriner Parlament stellen sich die Demokraten gemeinsam der NPD entgegen. Doch auf dem Land wächst ihr Einfluss VON TORALF STAUD Ueckermünde/Schwerin ach dem Wahlerfolg der NPD in Mecklenburg-Vorpommern sah sich das deutschnationale Milieu zu den schönsten Hoffnungen berechtigt. Erst der spektakuläre Erfolg in Sachsen, nun der triumphale Einzug ins Schweriner Schloss. Künftig werde man »von Mitteldeutschland aus eine nationale Welle über das Land schwappen« lassen, tönte die NPD, die »die geistig-kulturellen Fundamente des Systems unterspülen« werde. Ein Jahr ist das nun her. Was hat die NPD in Mecklenburg-Vorpommern seither erreicht? Knapp zusammengefasst: Weniger, als sie sich erhofft hatte. Aber mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Zu Beginn ihrer Parlamentskarriere waren die frisch gewählten Abgeordneten noch voller Elan. Gleich am Montagmorgen nach der Wahl platzte eine Abordnung im Büro der Landtagspräsidentin in eine kleine Sektrunde und forderte Schlüssel zu den künftigen Büros. »Wir wollen anfangen mit der Arbeit.« Die demokratischen Abgeordneten mussten schnell feststellen, das ihre neuen Kollegen alle Geschäftsordnungstricks kannten: Der beste Zeitpunkt für Dringlichkeitsanfragen, die Ausdehnung der Redezeit durch Zwischenfragen aus der eigenen Fraktion – all das war den Neuen vertraut. Die Kenntnisse verdankten sie ihrem Fraktionsgeschäftsführer Peter Marx, einem Multifunktionär, der bis letzten Sommer den gleichen Job in Dresden erledigte. Doch außer ihm sind nur zwei Referenten klassische NPD-Kader, und unter den Abgeordneten hat lediglich einer, Landeschef Stefan Köster, eine Parteikarriere hinter sich. Dagegen stellen Neonazi-Kameradschafter etwa die Hälfte von Fraktion und Referentenstab. Sie bezeichnen sich offen als »nationale Sozialisten« und halten die NPD wegen ihres legalistischen Auftretens für verweichlicht. Die Arbeit im Parlament ist nicht ihre Sache.

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Foto [M]: Jörg Gläscher/laif

Fraktionsmitarbeiter dürfen nun nicht mehr vorbestraft sein Das geschlossene Auftreten der demokratischen Mehrheit im Parlament trug das ihre dazu bei, den Schwung der Neuen zu bremsen. Gleich zu Beginn der Legislaturperiode änderten SPD, CDU, PDS und FDP einmütig die Geschäftsordnung. Die NPD hat nun keinen Ausschussvorsitz und weniger Redezeit. Die Zuschüsse für kleine Fraktionen wurden gekürzt, statt 850 000 Euro pro Jahr bekommt die NPD nun nur 600 000 Euro, die ebenfalls betroffene FDP erhielt zum Ausgleich einen zusätzlichen VizepräsidentenPosten. Als Spitze gegen die NPD wurde eine generelle Regel erlassen, dass Fraktionsmitarbeiter nicht vorbestraft sein dürfen. Und da die NPD in Sachsen Videomitschnitte aus dem Parlament zu Schulungs- und Propagandazwecken einsetzt, wurden Filmaufnahmen im Plenarsaal in Schwerin untersagt. »Wir wollten nicht wehrlos dastehen«, sagt Landtagspräsidentin Sylvia Bretschneider (SPD). Mehrfach haben sich Schweriner Politiker in Dresden Rat geholt. Anders als anfangs in Sachsen verlassen die Demo-

kraten nicht den Saal, wenn die NPD das Wort ergreift, sondern sie widersprechen. Oft ist es die FDP, die einen überzeugenden Ton trifft. In Dresden konnte die NPD öffentlichkeitswirksame Eklats (»BombenHolocaust«) provozieren, die Schweriner produzieren nur überregionale Schlagzeilen, wenn mal ein Mitarbeiter im Landtag mit einem Schlagstock ertappt wird. In Sachsen gelang es der NPD mehrfach, die anderen Parteien gegeneinander auszuspielen und fremde Stimmen für ihre Anträge zu gewinnen. In Schwerin dagegen ist auch die CDU anders als in Sachsen bereit, mit der PDS gegen die NPD zusammenzuarbeiten. Im kleinen Plenarsaal im Schweriner Schloss sitzt die NPD ganz rechts, vom Rest des Landtags trennt sie ein breiter Gang. Die Bänke der NPD sind stets voll besetzt, Besuchern macht das Eindruck. An der Arbeit in den Ausschüssen beteiligen sich die Abgeordneten dagegen kaum; Redebeiträge und Zwischenrufe sind Sache weniger. Das Präsidium wiederum rügt Entgleisungen der NPDler so entschlossen, dass Schüler auf der Zuschauertribüne bisweilen nicht verstehen, wofür nun wieder ein Verweis erteilt wurde. Die NPD schmückt sich mit dem Tadel mittlerweile wie mit einer Trophäe, ihre Fraktionszeitung trägt den Titel Der Ordnungsruf. Die radikalsten Reden halten NPD-Leute sowieso nicht im Landtag. Auf einer Nazidemo rief Fraktionschef Udo Pastörs dazu auf, »diese ganze verfaulte Republik zu unterwühlen«. Im Plenum widmet er sich lieber dem Thema Gleichberechtigung, welche »bei den Männern die Entfaltung ihrer Männlichkeit« blockiere. Ihre größten Erfolge erzielt die NPD abseits ihrer ursprünglichen Themen. Als einzige Landtagspartei tritt sie gegen die Nutzung der grünen Gentechnik ein, die im agrarisch geprägten Mecklenburg-Vorpommern mit seiner wachsenden Biobranche ein heiß umstrittenes Thema ist. Inzwischen ist es der NPD gelungen, einzelne Bürgerinitiativen zu unterwandern. Das ist die Kehrseite des parlamentarischen Misserfolgs. In der Provinz gräbt die NPD ihre Wurzeln immer tiefer. Hier zeigt sich die Stärke der Kameradschaftskader, die im fernen Schwerin so unauffällig auftreten. Vor dem Wahlkampfbüro des Abgeordneten Tino Müller wartet ein junges Paar mit Baby, drinnen sitzt ein älterer Mann mit seinem Sohn auf dem Ledersofa. Der Büroangestellte, ein kräftiger junger Mann mit sehr kurzen Haaren, telefoniert gerade. Der Kopierer ist nagelneu, es gibt Fax und Laptop, die Flugblätter auf dem Infotisch sind akkurat zu einem Fächer ausgebreitet. Da liegen nicht nur Blättchen der NPD, sondern auch von einer »Initiative für Volksaufklärung e.V.« und der »Bürgerinitiative Schöner und Sicherer Wohnen«. Beides sind Vorfeldorganisationen örtlicher Neonazis. Der Landtagsabgeordnete Tino Müller, 29, war in Neonazi-Kameradschaften aktiv, bevor er vor zwei Jahren zur NPD fand. Damals verdiente er seinen Lebensunterhalt als Maurer und machte Politik nur am Wochenende. Nun ist er Politiker, und die Steuerzahler finanzieren seine Propaganda mit.

Tino Müller ist anzumerken, dass er im vergangenen Jahr sicherer geworden ist im Reden. »Die kommunale Arbeit ist mir persönlich viel wichtiger«, sagt er, aber der Landtag sei sehr nützlich. Dort holt er sich Geld und Informationen. Bürgersorgen trägt er mit schriftlichen Anfragen nach Schwerin, die Antworten verarbeitet er zu Hause in Flugblättern. In seiner Eigenschaft als Volksvertreter interessiert sich der NPD-Abgeordnete Müller etwa für Krebserkrankungen im Umfeld einer Mobilfunkstation oder die Zukunft der Justizvollzugsanstalt in Ueckermünde (»Können bei einer eventuellen Schließung betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen werden?«). Die Wähler wissen das zu schätzen.

Die Demokraten sind in einigen Dörfern nicht mehr vertreten »Wir sind angekommen im Volk«, sagt Müller. Die Ausgrenzung im Landtag nimmt in Ueckermünde kaum jemand wahr. Sein Kollege aus Anklam, Michael Andrejewski, berät Hartz-IV-Empfänger und verteilt Infoblätter zum »Verhalten bei Hausbesuchen durch das Arbeitsamt«. Andrejewski trägt wie vor der Wahl alte, ausgebeulte Hosen und Strickjacken. Von den 4464 Euro monatliche Diäten spart er so viel wie möglich. »Das ist meine kleine Kriegskasse«, sagt er. Sein Wahlkreismitarbeiter ersteigerte kürzlich gemeinsam mit dem Mitarbeiter von Tino Müller eine alte Kaufhalle im Zentrum von Anklam, 500 Quadratmeter für 17 000 Euro. Die örtliche Sparkasse sagt, sie habe die Neonazis beim Verkauf nicht erkannt. Gut möglich, dass die NPD dort ein Schulungszentrum einrichten wird. Die Immobilie ist nun Privateigentum der Kameraden. Bei einem möglichen NPD-Verbot, feixt Andrejewski, »haben wir hier verbotssichere Strukturen«. Mit der Lkw-Zufahrt samt Lieferrampe ist die Halle für die Auslieferung von Druckerzeugnissen wie geschaffen. Kürzlich hat sich Andrejewski eine Schneide- und eine Druckmaschine zugelegt. Tino Müller baut seine Infostände auch außerhalb der Wahlkämpfe auf. Wenn auf einer Bürgerversammlung über Abwasserrohre gestritten wird, ist Andrejewski oft der einzige Politiker, der sich überhaupt sehen lässt. »Es schmerzt, so was zu hören«, sagt im fernen Schwerin CDU-Fraktionschef Armin Jäger. Seine Partei schulte schon vor der Wahl ihre Kommunalpolitiker. Aber in manchen Dörfern gibt es schlicht niemanden mehr von der CDU – und schon gar nicht von der SPD, die in ganz Mecklenburg-Vorpommern weniger Mitglieder hat als in der Großstadt Dortmund. 2009 sind wieder Kommunalwahlen. Dann könnte es sich auszahlen, dass der Abgeordnete Tino Müller eine Belohnung zur Ergreifung der Übeltäter ausgesetzt hat, die den Ueckermünder Badestrand verschmutzen. »Wir«, steht auf einem bunten Plakat vor seinem Büro, und die drei Buchstaben sind doppelt so groß wie der Rest des Satzes: »Wir sind für Sie da!«

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Die Zwillinge nicht aussitzen Selbst wenn Kaczyński die Neuwahlen in Polen verliert – davon werden die deutsch-polnischen Beziehungen nicht besser VON ALICE BOTA

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un also doch. Nach langem Hin und Her wird Polen im Oktober ein neues Parlament wählen. Der Westen atmet auf. Schluss mit der barschen Art, mit der Premier Jarosław Kaczyński und sein Bruder Lech, der Präsident, in den vergangenen Monaten Europa und besonders Deutschland vor den Kopf gestoßen haben. Vor einigen Jahren prahlten die Zwillinge damit, noch nie einem deutschen Politiker die Hand geschüttelt zu haben. Zur Bundeskanzlerin waren sie etwas freundlicher, warfen ihr aber trotzdem »postkoloniale Reflexe« vor und den Deutschen Geschichtsvergessenheit. Im Streit um den EU-Verfassungsvertrag brachte Jarosław Kaczyński die polnischen Opfer aus dem Zweiten Weltkrieg als Argument für ein größeres Stimmgewicht Warschaus ins Spiel. Mit Polen zu verhandeln war in den vergangenen zwei Jahren kein Vergnügen. Möglicherweise wird sich das auch nicht ändern. Die polnischen Wähler könnten die Erwartungen auf vorzeitige Erlösung zunichte machen. In den vergangenen zwei Wochen hat Kaczyńskis Partei Recht und Gerechtigkeit in den Umfragen rasant zugelegt. Momentan stehen die Chancen für Jarosław gar nicht so schlecht, wieder Regierungschef zu werden – wenn er denn einen Koalitionspartner findet. Und weil sich antideutsche Rhetorik schon früher im Wahlkampf bewährt hat, wird es auch diesmal wieder hoch hergehen. Vor zwei Jahren gewann Lech Kaczyński damit die wenigen entscheidenden Stimmen gegen seinen Konkurrenten Donald Tusk. Kaczyński behauptete, Tusks Großvater habe für die Wehrmacht gekämpft. Eine Lüge – aber Kaczyński wurde Präsident. Was also soll Deutschland, was soll die Bundesregierung tun? Die Zähne zusammenbeißen, stillhalten und im schlimmsten Fall noch vier Jahre aussitzen, bis die Vernünftigen in Polen wieder regieren?

Einer kann in zwei Jahren nicht zerstören, was vorher gut war

Eine große Geste wäre jetzt, im Wahlkampf, verschenkt Auch in der Frage des Vertriebenenzentrums geht es nicht um grundlose Neurosen. Die Idee einer Dokumentationsstätte in Berlin, unweit des Holocaust-Mahnmals, geht zurück auf die CDU-Politikerin und Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach und den inzwischen verstorbenen Sozialdemokraten Peter Glotz. Eine merkwürdige Allianz war das, die Vorschläge aus Polen und Tschechien, ein europäisches Vertriebenenzentrum in Breslau zu bauen, ablehnte. Natürlich wird die Sturheit in dieser Frage nicht mit den Privatpersonen Glotz und Steinbach in Verbindung gebracht – sondern mit ihren Parteien. Auch Angela Merkel hat sich bis heute nicht gegen das Projekt ausgesprochen. Das provoziert – nicht nur die Kaczyńskis, auch Linksliberale. Ähnlich verständnislos reagiert Polen auf das Phänomen der Preußischen Treuhand. Die Bundesregierung distanziert sich von den Entschädigungsforderungen dieser Gesellschaft und wiederholt zugleich beständig, man könnte Privatpersonen nicht an ihrem Tun hindern. Könnte man doch. Zum Beispiel, indem die Bundesregierung ein von Warschau gefordertes deutsch-polnisches Abkommen zum gegenseitigen Verzicht auf Entschädigung abschließt, selbst wenn im schlimmsten Fall die Bundesregierung sich mit Entschädigungsforderungen von Deutschen herumschlagen müssten. Solche Gesten wären jetzt, in der aggressiven Wahlkampfstimmung, verschenkt. Was also tun? Abwarten, zuhören, handeln. Abwarten, bis der Wahlkampf vorbei ist und die antideutsche Kampfrhetorik abklingt. Dann werden zwar aus den Kaczyński-Brüdern noch immer keine Diplomaten, sie bleiben schwierige Partner. Doch Isolation ist allen Kampfansagen zum Trotz nicht ihr politisches Ziel. Das hat auch ihr Vorschlag zur Schaffung einer gemeinsamen europäischen Armee im vorigen Jahr gezeigt. Dann: Zuhören und Ängste aus Warschau nicht als polnische Spinnereien abtun; die Angst mag übersteigert sein, aber sie ist da. Und schließlich, wenn Ruhe eingekehrt ist, auf die polnische Regierung zugehen – mit einer starken Geste, deren symbolische Kraft für einen Neuanfang reicht. Dazu braucht es keinen Kniefall, sondern einen Handschlag. Siehe auch

WIRTSCHAFT, SEITE 34/35

Foto: Michael Peuckert/Agentur Focus

Das empfiehlt sich nicht. Erstens sind die Zwillinge keine Diktatoren, sondern demokratisch gewählte Politiker. Schon deshalb kann man sie nicht einfach isolieren und ignorieren. Zweitens: Jarosław Kaczyński und sein Bruder haben mit ihren antideutschen Parolen das deutsch-polnische Verhältnis beschädigt, aber sie haben es nicht ruiniert. Die Kaczyńskis haben nur verschlechtert, was seit Längerem in miserablem Zustand war. Und daran trägt Deutschland – besonders in Gestalt der Regierung Schröder – eine Mitschuld. Das gefühlte deutsch-polnische Verhältnis, so wie es die meisten Politiker in Berlin wahrnehmen, dürfte ein anderes sein: Ja, reicht es denn nicht mit unseren Bemühungen? Wer hat denn Polen in die EU geholt, wer bei verbalen Attacken aus Polen aufs Zurückbellen verzichtet und weiter auf Kooperation gesetzt? Aber dass es damit nicht einfach gut ist, dass es zwischen Deutschen und Polen nicht gut steht – das ist keineswegs die Haltung allein von bornierten Konservativen. Auch linksliberale Intellektuelle beklagen, dass die Bundesrepublik ihr Bild vom östlichen Nachbarn seit 1989 nicht wirklich neugierig weiterentwickelt hat. Polens Belange werden noch immer nicht so wahrgenommen wie die Frankreichs oder Großbritanniens, als normale Ansprüche eines gleichberechtigten europäischen Partnerlandes. Daran hat auch der EU-Beitritt wenig geändert. Sind die polnischen Beschwerden übertrieben, womöglich hysterisch? So einfach sollte man es sich nicht machen. Es genügt, sich an den deutsch-russischen Deal über

eine Gaspipeline durch die Ostsee zu erinnern. Gerhard Schröder und Wladimir Putin beschlossen die Energiepolitik der kommenden Jahre hinter Polens Rücken, in Polen sprach man vom »deutschen Verrat«, von einem zweiten Hitler-Stalin-Pakt. Eine entgleiste Polemik, aber das Gefühl der polnischen Regierung, dass ihre nationalen Interessen mit Füßen getreten wurden, konnte man verstehen. Die deutsche Russlandpolitik sorgt noch immer für Nervosität in Polen. Man erinnert sich an die Kumpelfotos von Gerhard Schröder und Wladimir Putin, an die vielen Besuche Schröders in Moskau, bei denen der Halt in Warschau nicht mehr als ein kurzer Zwischenstopp eines Reisenden mit festem Ziel war. Angela Merkel macht vieles anders, doch ihr Außenminister setzt die Schrödersche Tradition in der Ostpolitik fort. Erst in der vergangenen Woche hat der Exkanzler bei seiner Buchvorstellung in Moskau kritisiert, die russisch-europäischen Beziehungen seien eine Geisel antirussischer Reflexe in Polen. Dass es sich nicht einfach um Reflexe, sondern um Erfahrungen handelt, hätte Schröder wissen können.

ZWEI LÄNDER ohne Grenzen? Von wegen

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Der lange Weg in den Abgrund Mitjas Mörder hat einen mühsamen Kampf gegen seine pädophile Neigung geführt – alle Chancen zerrannen ihm unter den Händen

Foto: Reuters

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er Mord am neunjährigen Mitja aus Leipzig ist ein Klassiker des Schreckens. Als hätte eine finstere Macht beschlossen, Fritz Langs alten düsteren Kinothriller M – Eine Stadt sucht einen Mörder Wirklichkeit werden zu lassen. Ein pädophiler Sexualstraftäter trifft auf ein Schulkind, bringt es vom Nachhauseweg ab, kauft ihm eine Kleinigkeit, lockt es fort, missbraucht es – und bringt es um. Die ganze Stadt jagt den Täter. Und findet ihn. Die Stadt, die den Kindermörder Uwe Kolbig im Februar dieses Jahres eine Woche lang jagte, war Leipzig. Sein Foto füllte die Bildschirme und die Zeitungen. Helikopter und Suchhunde waren ihm auf der Spur. Ein Kriminalbeamter würde die Fahndung nach Mitjas Mörder später im Prozess als »unser Lebenswerk« bezeichnen. Nirgends konnte der Flüchtige bleiben. Keine ruhige Minute, kein Essen, kein Wasser. Schließlich stürzte Kolbig sich nachts vor eine Straßenbahn der Linie 11 und blieb schwer verletzt liegen. »Wie heißen Sie?«, fragten die Polizisten den Mann auf den Schienen, und er flüsterte: »Ich bin der, den ihr sucht.« Jetzt sitzt der Gesuchte grau im großen Sitzungssaal 115 des Landgerichts Leipzig. Hinter ihm haben sich bewaffnete Beamte aufgebaut, von denen nicht klar ist, ob sie dem Schutze der Bevölkerung dienen oder eine Art Drohkulisse gegen das gesunde Volksempfinden darstellen. Die Pressefotografen und Kameras haben sich um eine Einblickschneise auf Kolbig geschlagen, und der Sender N24 überträgt pausenlos live aus dem noch leeren Sitzungssaal. »Geh nicht mit fremden Männern!«, sagen die Mütter zu ihren Kindern. »Lass dich nicht ansprechen! Lass dich nicht einladen!« Doch genau das hat Mitja getan: Er ist mitgegangen am Nachmittag des 22. Februar 2007, als er gegen 16.30 Uhr aus der Kindertagesstätte Sonnenhügel kam. Zu seiner Trambahnhaltestelle sind es bloß zehn Minuten. Auf dem Weg muss er sich Kolbig angeschlossen haben. Mitja ist ein zutrauliches Kind, das wenig Distanz hält, er spricht fremde Leute an, fragt nach der Uhrzeit und ist auch schon nach Hause getrampt. Mit Kolbig zusammen besteigt er die Straßenbahn der Linie 11, die Überwachungskamera ist defekt, doch wie durch ein Wunder schaltet sie sich ausgerechnet in dem Moment, als der Mann und das Kind schäkernd nebeneinandersitzen, wieder ein. Und zeichnet die Szene auf. Die Bilder werden Kolbig später überführen. Um 17 Uhr betreten Kolbig und Mitja einige Stationen weiter eine Konditorei. Die Verkäuferin kennt den Jungen vom Sehen. Doch diesmal ist er nicht allein. »Wer war bei ihm?«, fragt der Vorsitzende Johann Jagenlauf die Zeugin aus der Bäckerei. »Der Herr da«, antwortet die und weist auf den Angeklagten. Mitja, der weder ängstlich noch beklommen wirkte, habe sich einen Kuchen aussuchen dürfen, der Mann habe sich abseits gehalten und schließlich bezahlt. Dass Mitja sich von Kunden etwas spendieren ließ, kam öfter vor, und dieser Begleiter sah alles andere als bösartig aus. Könnte der Vater sein, denkt die Verkäuferin bei sich. Sie blickt den beiden noch eine Zeit lang nach. Die Letzte, die das Kind lebend sieht. Kolbig hat zu Beginn des Prozesses seinen Verteidiger ein schriftliches Geständnis verlesen las-

Nur kurz schaltet sich die Kamera der Tram ein: Das Bild von MITJA UND SEINEM MÖRDER entsteht

sen. Darin hat er zugegeben, er habe mit Mitja Analverkehr gehabt und ihn später erstickt. Diese Aussage wird von den rechtsmedizinischen Befunden bestätigt. Doch was sich zwischen ihm und seinem Opfer genau abgespielt hat, darüber schweigt der Angeklagte. Sicher ist, dass er Mitja in seine Wohnung mitnahm, wo der den Kuchen aß und fernsah. Dass er sich eine ganze Zeit lang ungezwungen in Kolbigs Wohnung bewegt haben muss, beweisen die kindlichen Fingerabdrücke, die überall gefunden wurden. Kolbig will sich noch zwei Stunden lang in der Küche Mut angetrunken haben, bevor er über Mitja herfiel. An jenem 22. Februar, als Kolbig den Neunjährigen mit nach Hause nimmt, ist er an seiner persönlichen Endstation angekommen. Seine Hoffnungen sind zunichte, er hat nichts mehr zu verlieren. Hinter ihm liegen 43 Lebensjahre, in denen er einen erbitterten Kampf geführt hat – gegen sich selbst, seine Neigungen, seine Defizite. Jetzt ist er gescheitert. Und dass er einen Krieg verloren hat, sieht man ihm auch im Prozess an. Zerstört sitzt er neben seinem Verteidiger Malte Heise, der hier nur noch pastorale Funktionen erfüllen kann. Schon als 16-Jähriger wird Uwe Kolbig auffällig, als er sich an einer Fünfjährigen vergreift. Ein Jahr später verurteilt ihn das Kreisgericht Bitterfeld wegen dreifachen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Jugendstrafe von einem Jahr. Ein Psychiater stellt bei dem Halbwüchsigen eine »pädophile Fixierung« fest, die neben einer normalen Heterosexualität existiert. Außerdem konsumiert Kolbig – damals

Maurer – Bier in großen Mengen, seine Taten begeht er immer in alkoholisiertem Zustand. 1982 missbraucht Kolbig eine Sechsjährige, 1984 hat er Analverkehr mit einer Zwölfjährigen. Er wird zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt mit anschließender Unterbringung in der Psychiatrie. Erst als er nach seiner Entlassung eine Küchenhilfe aus der Klinik heiratet, stabilisiert sich sein Leben. 25 Jahre ist er alt, die Frau zwölf Jahre älter und ein mütterlicher Typ, der Kolbig Halt gibt. Unter ihren Fittichen gelingt es ihm sogar, seinen Alkoholkonsum zu kontrollieren. Er macht den Führerschein, arbeitet zeitweise als Fahrer und lässt sich acht Jahre nichts zuschulden kommen.

Mit seiner Familie war Kolbig glücklich. Doch das hielt nur kurz an 1996 wird Kolbig arbeitslos, er lässt sich gehen und trinkt wieder. Im August 1997 überfällt er einen elfjährigen Angler und versucht, ihn zu vergewaltigen. Der Junge schreit, und Kolbig wird gefasst, 2,9 Promille hat er im Blut. Er wird vom Berliner Kriminalpsychiater Hans-Ludwig Kröber untersucht, der feststellt, dass Kolbig zu einer befriedigenden Sexualität mit erwachsenen Frauen durchaus imstande und seinen pädosexuellen Bedürfnissen keineswegs hilflos ausgeliefert ist. Er hält den Delinquenten allerdings für weiterhin gefährlich, sollte der seinen Alkoholmissbrauch – den sicheren Vorboten der Sexualstraftaten – nicht in den Griff bekommen. Kolbig wird zu zwei Jahren Gefängnis und einer Entzugstherapie im Maßregelvollzug Leipzig verurteilt.

VON SABINE RÜCKERT

Wieder scheint es bergauf zu gehen. Kolbig reißt sich zusammen, um vom Alkohol loszukommen. Er findet einen Job und wird 1999 aus der Klinik beurlaubt. Seine Beurteilungen klingen zuversichtlich. Dann gerät Kolbig in eine Ehekrise, fängt wieder an, heimlich zu trinken, und schwänzt die Arbeit. Als die Klinik dahinterkommt, dass der Patient sich nicht an die Auflagen hält, bricht sie die Behandlung aufgrund vermeintlicher Aussichtslosigkeit ab. Der Psychiater Kröber, der Kolbig für den Mitja-Prozess nun erneut begutachtet hat, nennt dieses ärztliche Verhalten »keine gute Entscheidung«. Anstatt Kolbig wie den Kranken zu behandeln, der er war, und mit ihm die Hintergründe seines Rückfalls zu thematisieren, anstatt zu erkennen, dass der Rückfall ja gerade den Alkoholiker – wie überhaupt den Abhängigen – ausmache, hätten die Ärzte ihm keine Chance mehr gegeben. Dafür werfen sie Kolbig in ihrer Stellungnahme Vertrauensbruch und Dissozialität vor und entlassen einen kranken Straftäter sehenden Auges zurück in die Gesellschaft. Trotzdem geht es Kolbig gut. Von 2000 bis 2005 steht er unter Führungsaufsicht, was bedeutet, dass er von seiner Bewährungshelferin regelmäßig kontrolliert wird. Er hat jetzt nicht nur Arbeit, sondern auch großes Glück. Was ihm 2001 widerfährt, muss dem Vorbestraften, dem ehemaligen Maßregelpatienten vorgekommen sein wie ein Wunder: Bei einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme verliebt sich die 22-jährige hübsche Isabell S. in ihn. Er ist ihr erster Mann. Er trennt sich von seiner Frau, Isabell wird seine Freundin, sie zieht bei ihm ein, sie wird von ihm schwanger, sie bekommt sein Kind. Eine Tochter. Kolbig ist plötzlich Familienvater. Auch Isabell tritt vor dem Landgericht Leipzig als Zeugin auf. Und obwohl sie nur flüsternd antwortet, ist zu spüren, wie sie innerlich bebt vor Wut. Kein gutes Wort findet sie für den ehemaligen Geliebten. Der Mord an Mitja und die überraschende Konfrontation mit Kolbigs verborgenen Neigungen – von denen sie nichts ahnte – überschatten alles. In Isabells Augen ist Kolbig nichts als ein Lügner, Säufer, Rabenvater. Und als der Sachverständige Kröber sie fragt, was ihr denn früher am Angeklagten gefallen habe, schweigt sie so lange, dass es scheint, sie habe die Frage gar nicht gehört. Dann räumt sie mit ganz kleiner Stimme ein, dass »es schön war«, dass Uwe Gitarre spielte und zärtlich war und ihr Dinge sagte, »die ich gern hören mochte«. Zum Beispiel? »Eine wie dich hab ich noch nie getroffen.« Jetzt, im Gefängnis, hat Kolbig nur einen einzigen Gegenstand aus der alten Wohnung wiederhaben wollen: ein Familienfoto. Es zeigt die herzhaft lachende Isabell und das strahlende Kind in einem herzförmigen Rahmen aus schwerem Glas. Kolbig sitzt als Dritter dabei und starrt in die Kamera wie einer, der sein Glück nicht fassen kann. Der Anfang vom Ende ist da, als Isabell im Herbst 2006 auszieht. Kolbig hat die innere Entfremdung, die nach der Geburt des Kindes schleichend einsetzte, nicht aufhalten können. Er weiß nicht, wie man Partnerschaftsprobleme löst und die Korrosion einer Beziehung stoppt. Also greift er zu den eingeschliffenen Verhaltensmustern: Rückzug und Rausch. Als Isabell ihm wegen seiner Trinkerei das Recht auf Umgang mit der

Tochter verweigert, gerät er in den Zustand totaler Verzweiflung. Auch die Führungsaufsicht – also die regelmäßige Zuwendung des Staates – ist inzwischen erledigt. Erst seit dem 18. April 2007 kann über Sexualstraftäter diese Maßregel unbefristet verhängt werden, was bedeuten kann, dass die Delinquenten sich ein Leben lang bei ihren Bewährungshelfern melden müssen, dass kontrolliert wird, ob sie sich an die Auflagen (zum Beispiel: kein Alkohol, kein Kontakt zu Kindern) halten und dass sie bei Zuwiderhandlung aus dem Verkehr gezogen werden. Der Grund für die erweiterte Führungsaufsicht ist die Erkenntnis, dass Rückfälle in dieser Tätergruppe nicht aus heiterem Himmel geschehen, sondern meistens durch instabile Verhältnisse oder Krisen ausgelöst werden. Vielleicht hätte es dem Kind Mitja das Leben gerettet, wenn eine Amtsperson in dieser desperaten Phase nach Kolbig gesehen hätte, doch für ihn kommt die Gesetzesreform zu spät. Er ist im Februar 2007 ganz auf sich gestellt.

Warum hat er Mitja getötet – und nicht wie frühere Opfer gehen lassen? Am Tattag hat Uwe Kolbig Urlaub. Er treibt sich am Leipziger Bahnhof herum, trinkt Bier. Als er in die Trambahn der Linie 11 steigen und heimfahren will, sitzt seine geschiedene Frau darin. Sie erschrickt über sein Aussehen. Er schämt sich und steigt wieder aus. Später begegnet er zufällig Mitja. Und es vollzieht sich das, was der Psychiater Kröber vor Gericht als »typischen Rückfall« bezeichnet: Kolbig nimmt Kontakt zu dem Kind auf, obwohl er weiß, dass er es nicht tun sollte. Aber was ist schon dabei? Sich mit einem Jungen unterhalten ist doch nicht verboten! Doch im Laufe dieses Annäherungsprozesses gewinnt der Mann allmählich die totale Kontrolle über das Kind. Kröber sagt, Kolbig habe sich langsam, aber sicher »auf die Tat zurutschen lassen«. Das Landgericht Leipzig verurteilt den voll schuldfähigen Uwe Kolbig am 11. September zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit besonderer Schwere der Schuld und anschließender Sicherungsverwahrung. Eine höhere Strafe gibt das deutsche Recht nicht her. Kolbig wird voraussichtlich nie wieder freikommen. Die Richter gehen davon aus, dass er den Jungen in seinem Schlafzimmer anal vergewaltigt und ihm dabei erhebliche Schmerzen zugefügt hat. Danach habe er ihn erstickt, um die Tat zu verdecken. Kolbig hatte bis zu diesem 22. Februar neuneinhalb Jahre straffrei gelebt. Als er Mitja den Arm von hinten um den Hals schlingt und ihm mit der anderen Hand die Atemöffnungen verschließt, ist das Kind schon wieder vollständig angezogen. Warum hat Kolbig, dessen frühere Opfer alle überlebt haben, diesmal getötet? Er selbst schweigt dazu. Doch er wusste, dass ihm die Sicherungsverwahrung bevorstand, sollte Mitja zur Polizei gehen. Kolbig hatte, auch was das Strafmaß betrifft, nichts mehr zu verlieren. Und das ist die schreckliche Kehrseite der rasanten Strafverschärfungen für Sexualdelikte: Steigen die Strafen für sexuelle Übergriffe ins Exorbitante, macht es für den Täter irgendwann keinen Unterschied mehr, ob er eine Vergewaltigung begeht oder einen Mord. Insofern ist es vorstellbar, dass Kolbig, der sich durch seinen Rückfall jeder Zukunft beraubt sah, in einem Akt der Selbstaufgabe sein Zerstörungswerk vollendet hat.

NordrheinWestfalen

LÄNDERSPIEGEL

13. September 2007

DIE ZEIT Nr. 38

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ZUM BEISPIEL

Foto: Michael Latz/ddp

RheinlandPfalz BadenWürttemberg

Zurück in die Siebziger

Michael Czaszkóczy Fotos (Ausschnitt): S. Schimankowitz-Bochum

Ein Linker wird Lehrer – nach jahrelangem Rechtsstreit

In NORDRHEIN-WESTFALEN lassen CDU und SPD den alten Streit um die Gesamtschule wieder aufleben VON PATRICK KREMERS

Darf man ein HUMANISTISCHES GYMNASIUM schließen? Lehrer, Schüler und Eltern protestieren

Bochum uf dem Bochumer Gymnasium am Ostring drückte schon Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) die Schulbank, Herbert Grönemeyer bereitete sich dort im Leistungskurs Musik auf das Abitur vor, und Manfred Eigen paukte am Ostring Latein und Griechisch, bevor er 1967 den Nobelpreis für Chemie verliehen bekam. Das humanistische Gymnasium blickt auf eine lange Tradition zurück. Die könnte bald ein jähes Ende nehmen, denn das Ostring soll mit einem anderen Bochumer Gymnasium, der Albert-Einstein-Schule, zusammengelegt werden. Schon schlagen die Wellen hoch in Bochum, Schüler und Eltern protestieren, eine Podiumsdiskussion gerät zum Tribunal. Dieser Tage aber werden sie noch höher schlagen. Denn dann wird die CDU in Bochum ihr neues Plakat aufstellen: »Die SPD will diese Schule schließen«, wird darauf stehen. Und: »Mit der SPD-Einheitsschule ins Chaos«. Das Plakat ist Teil einer landesweiten Kampagne der Regierungspartei CDU gegen die Pläne der Opposition, die Schüler der unterschiedlichen Bildungsgänge in Zukunft zwar nicht immer gemeinsam, aber wenigstens unter einem Dach unterrichtet wissen möchte. Bis zur nächsten Landtagswahl dauert es noch drei Jahre; die CDU könnte also gelassen weiterregieren. Doch der Vorstoß der Sozialdemokraten hat offenbar alte Reflexe geweckt. Die Wortwahl der CDU entstammt dem ideologisch aufgeladenen Kulturkampf der siebziger Jahre, als die Konservativen die Gesamtschulen der SPD mit dem

A

DDR-Begriff der Einheitsschule als Beispiel sozialistischer Gleichmacherei denunzierten. Zurück in die Siebziger? Bis zum jüngsten Schulstreit in NRW standen die Zeichen in der deutschen Bildungspolitik auf Entideologisierung und Konsenssuche. Unionsregierte Länder wie Bayern und das Saarland schaffen die Hauptschulen ab; auch die Verteidiger des dreigliedrigen Systems wie Bundesbildungsministerin Schavan plädieren seit Längerem dafür, die Grenzen zwischen den Schulformen durchlässiger zu machen.

Wer bedroht das Gymnasium – die SPD oder der Schülermangel? In Bochum wirkt die Rückkehr des Schulkampfes besonders absurd. Denn das Ostring-Gymnasium wird ja nicht durch Gesamt- oder Gemeinschaftsschulpläne bedroht – sondern durch die Geburtenstatistik. Die Schülerzahlen in Bochum sinken, elf Gymnasien sind für die Stadt zu viele. Darum sollen nun die Gymnasien mit den niedrigsten Schülerzahlen und den höchsten Sanierungskosten zusammen in ein noch zu bauendes Schulzentrum umziehen. Während die Albert-EinsteinSchule schon die gemeinsame Zukunft der neuen Schule plant, gehen Eltern und Kollegium des Ostring-Gymnasiums auf die Barrikaden. So könne man nicht mit einer Traditionsschule umgehen, schimpften sie auf einer Podiumsdiskussion am vergangenen Donnerstag, schon gar nicht mit einer humanistischen. Was aussieht wie ein kommunales Problem, beschäftigt Bildungspolitiker in ganz Deutschland. Im Jahr 2020 wird es in Deutschland rund

Antisemitismus? Bei uns? Nach dem Attentat auf einen Rabbiner sehen sich die Muslime in HESSEN zur Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen gezwungen VON CANAN TOPÇU Frankfurt as geht es mich an«, fragt der Mann aus Palästina mit schockierender Rohheit, »wenn so ein Scheißrabbiner stirbt? In Palästina sterben jeden Tag Menschen.« Er selbst lebt in Frankfurt und verdient sein Geld als Taxifahrer. Und überhaupt, fügt er hinzu, wäre ein Muslim überfallen worden, würde »die Sache nicht so aufgebauscht«. Frankfurt, die schwarz-grüne Großstadt, die Multikultistadt Daniel Cohn-Bendits, hat eine Niederlage erlitten. Der lebensgefährliche Anschlag auf einen Rabbiner, begangen durch einen Mann mit südländischem Aussehen, dessen Sprache sich Zeugenaussagen zufolge »arabisch« angehört haben soll – diese Tat hat der Stadt eine der hässlichsten Seiten der multikulturellen Wirklichkeit drastisch vor Augen geführt, den virulenten Antisemitismus, der in der islamischen Community gärt. »Wieso Antisemitismus?«, fragt in aller Naivität der palästinensische Taxifahrer. Der Täter sei doch kein Deutscher gewesen. Am Freitagabend, als im bürgerlichen Stadtteil Westend ein Unbekannter junger Mann dem Rabbiner Zalman Gurevitch mit den Worten »Du Scheißjude, ich stech dich jetzt ab« ein Messer in den Körper stieß, trafen weiter nördlich im Stadtteil Hausen an die 400 Gäste im Hof der Abu-Bakr-Moschee ein, um die Einweihung des Gebetshauses zu feiern. Vertreter der muslimischen und christlicher Gemeinden waren gekommen, etliche Kommunalpolitiker und auch Claudia Korenke von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Auch das gehört zur multikulturellen Wirklichkeit Frankfurts. Dennoch, nach Belegen für muslimischen Antisemitismus muss man nicht lange suchen. Da sind die gehässigen Bemerkungen, die sich die Spieler des jüdischen TUS Makkabi anhören müssen, wenn sie gegen Mannschaften mit hohem Türkenanteil antreten. Da sind die Pöbeleien auf der Straße, von denen Mitglieder der jüdischen Gemeinde berichten. Da ist die Erzieherin, die sich in der Öffentlichkeit nicht mit ihrem Davidstern zeigt. Und da ist ihre jüdische Kollegin, die ihre Identität nicht verbergen will und darum von Frankfurt ins Umland gezogen ist, »wo es ruhiger zugeht«. Als Fuß-

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gängerin fühle sie sich in der Frankfurter Innenstadt oft unwohl, sagt sie. »Traurig ist das, dass wir uns nicht entspannt auf der Straße bewegen können.« Wer in den Gemeinden der Muslime um Stellungnahmen zu solchen Klagen bittet, der stößt schnell an die Grenzen der Parallelgesellschaft. Während die gut integrierte jüdische Gemeinde unmittelbar nach der Tat Stellung bezog und ohne jede unangemessene Verallgemeinerung den Antisemitismus innerhalb der muslimischen Gemeinschaft anprangerte, haben viele Muslime von dem spektakulären Verbrechen in ihrer eigenen Stadt auch vier Tage nach der Tat noch nichts erfahren – sie verfolgen die Berichterstattung in den deutschen Medien nicht. Allgemein bekannt ist, dass die judenfeindliche Haltung junger Muslime durch arabische Sender geschürt wird, die via Satellit zu empfangen sind. Das Verbrechen wird einhellig verurteilt. Darüber hinaus aber zeugen die Reaktionen von einer Mischung aus Ahnungslosigkeit, Hilflosigkeit und Naivität. Von einem Schock spricht Ünal Kaymakç , der Vorsitzende der Hazrat-Fatima-Gemeinde, der in Hausen bauen will und derzeit gegen Widerstände kämpft. Der Dialog der Muslime mit der jüdischen Gemeinde müsse intensiviert werden, sagt er. Keinesfalls dürfe der Nahostkonflikt die Beziehungen der Religionen in Deutschland beeinträchtigen – als sei das nicht längst der Fall. Im Übrigen plagt ihn vor allem die Sorge, die Muslime könnten nun auch noch als »Judenfeinde an den Pranger gestellt werden« – ein Anliegen, das er mit dem jüdischen Gemeindevorsitzenden Salomon Korn teilt. Auf keinen Fall, sagt Korn, dürften aufgrund »der Tat eines Individuums Muslime für das Verbrechen verantwortlich gemacht werden«. Mohamed Seddadi, »Sozialberater« der AbuBakr-Moschee und Sprecher einer Reihe weiterer Gemeinden, kündigt an, dass das Thema Antisemitismus am kommenden Freitag in einer Predigt behandelt werde. Darüber hinaus ist seinen Äußerungen zu entnehmen, dass das Problem bislang nicht erkannt, vielleicht auch nicht ernst genommen worden ist. Auf die Frage, wie die Gemeinde auf Antisemitismus unter ihren Mitgliedern reagieren würde, entgegnet er: »Es der Polizei melden.«

20 Prozent weniger Schüler als im Jahr 2000 geben. In Ballungsräumen wie Bochum können die Kommunen diese Entwicklung auffangen, indem sie Schulen gleicher Bildungsgänge zusammenlegen. In ländlichen Gegenden geht das nicht. Dort drohen Orte ohne Gymnasien zu bleiben. Die Antwort der SPD auf dieses Problem ist das Konzept der Gemeinschaftsschule. Nach der sechsten Klasse sollen die Schüler zwar wie bisher im dreigliedrigen System in parallelen Bildungszweigen mit unterschiedlicher Leistungsanforderung und unterschiedlichen Schwerpunkten unterrichtet werden. Doch soll der Unterricht in gemeinsamen Gebäuden erfolgen und der Wechsel zwischen den unterschiedlichen Leistungsniveaus einfacher möglich sein als bisher. Nach der zehnten Klasse sollen die Schüler dann in ausgegliederten gymnasialen Oberstufen ihr Abitur machen können. Natürlich steckt hinter diesem Konzept mehr als nur die Notwendigkeit, eine pragmatische Antwort auf den demografischen Wandel zu finden. Das Mittel der ideologischen Überhöhung ist auch der SPD nicht fremd. »Die Gemeinschaftsschule macht individuelle Förderung erst möglich«, sagte SPD-Parteivorsitzende Hannelore Kraft auf dem Sonderparteitag Ende August, als die SPD sich auf ihre Pläne festlegte. Nur fünf Tage danach holte die CDU zum Gegenschlag aus. Man werde der SPD auf allen Ebenen Druck machen, erklärte CDU-Generalsekretär Hendrik Wüst in Düsseldorf und stellte eine große Kampagne vor, mit der die Union »den geplanten Systemsturz« verhindern möchte. Kernstück dieser Kampagne ist das Plakat, das nun auch in Bochum

zum Einsatz kommen soll: »Mit der SPD-Einheitsschule ins Chaos: Die SPD will diese Schule schließen«. Mit diesem Plakat und diversen Postkarten sollen CDU-Mitglieder sich vor Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien aufstellen. »Wir wären mit der Einführung der SPD-Einheitsschule das einzige Bundesland ohne gymnasiales Angebot«, sagte Bernhard Recker, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU im Landtag. Das sei verheerend für den Standort Nordrhein-Westfalen. Blickt man etwa aus Sachsen oder aus Schleswig-Holstein auf den jüngsten Kulturkampf in NRW, dann erscheint die aktuelle Aufregung um die Schulpolitik befremdlich. In beiden Ländern regieren Christdemokraten, in beiden gibt es bereits Gemeinschaftsschulen, wie die SPD sie einführen will.

Ein CDU-Bürgermeister plant die erste Gemeinschaftsschule Auch in Nordrhein-Westfalen könnte schon bald eine Gemeinschaftsschule ihren Betrieb aufnehmen. Robert Wenking, Bürgermeister der Stadt Horstmar im Münsterland, möchte gemeinsam mit der Gemeinde Schöppingen die erste Gemeinschaftsschule des Landes gründen. Die beiden Nachbarkommunen haben sich zusammengetan, weil an beiden Orten außer den örtlichen Hauptschulen keine weiterführenden Schulen vorhanden sind. In einer Umfrage bekundeten die Eltern großes Interesse an dem Modell. Jetzt muss nur noch die Landesregierung den Schulversuch genehmigen. Vielleicht wird Bürgermeister Wenking dann sein Parteibuch helfen. Er ist Mitglied der CDU.

Heidelberg ichtig freuen, sagt er, werde er sich vielleicht in zwei Wochen. Im Moment habe er zu viel zu tun. Anfang der Woche hat Michael Czaszkóczy seinen neuen Job angetreten. Er ist nun Lehrer. Ein fast vier Jahre währender Rechtsstreit ist damit zu Ende. Am Dienstag hat er zwei achten Klassen einer Heidelberger Realschule seine ersten beiden Unterrichtsstunden gegeben, Kunst und Geschichte. Dass das nicht früher möglich war, lag an Czaszkóczys politischen Aktivitäten, die oftmals nicht den Beifall der baden-württembergischen Landesregierung fanden. Mal stellte er sich schützend vor bedrohte Asylbewerber, als ein randalierender Mob vor deren Baracke zog. Mal nahm er seinen Wohnsitz in einem angeblich linksextremistischen Bauwagencamp. Vor allem aber engagierte er sich in einer Gruppe aus der autonomen Szene, die durch revolutionäre Parolen und ihren Einsatz gegen Neonazis und das Kampftrinkermilieu der studentischen Burschenschaften auf sich aufmerksam macht. Für einen Lehrer gehöre sich so etwas nicht, befand das Stuttgarter Kultusministerium. Czaszkóczy, obwohl zweifellos ein guter Pädagoge, sei leider auch ein Verfassungsfeind und werde darum nicht eingestellt – aus Sicht des Ministeriums »ein ganz normaler Vorgang«. Mehr als drei Jahre dauerte es, bis ein Gericht die Stuttgarter Normalität an den Normen des Grundgesetzes maß. Nach Prüfung des Beweismaterials erklärte der Verwaltungsgerichtshof in Stuttgart dasselbe im Frühjahr dieses Jahres in deutlich befremdetem Ton für unerheblich. »Dass die bloße Teilnahme an Veranstaltungen und Demonstrationen, die ersichtlich ebenso vom Grundgesetz gedeckt ist wie die freie Meinungsäußerung, überhaupt erwähnt wird, vermag der Senat kaum nachzuvollziehen.« Hat sich mit der Einstellung des Lehrers auch die Einstellung der Landesregierung geändert? »Zweifel an der Verfassungstreue müssen gut begründet sein« – diese Lehre zog das Kultusministerium aus dem Rechtsstreit. Grund, sich bei Czaszkóczys zu entschuldigen, sehe man nicht. FRANK DRIESCHNER

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DIE ZEIT

Nr. 38

" MURSCHETZ

POLITIK 2

3

IN DER ZEIT

13. September 2007

33 Marketing Hilferuf eines

Terror Außenminister Frank-Walter

Steinmeier über die Lage im Irak und die deutsche Verantwortung in Afghanistan Pakistan Was tun gegen die Kaderschmiede des Terrors?

35 Korruption Hexenjagd in Polen?

Andris Piebalgs? 37

a

VON SOPHIE BÜNING

Anlagebetrüger Die Justiz ist

Deutschland Warum gerade junge

schwach, die Strafen sind gering VON NADINE OBERHUBER

5

Männer zum Islam konvertieren Rechtspolitik Neue Vorschläge zur Terrorbekämpfung VON JOCHEN BITTNER Petraeus-Bericht Washington streitet über den Truppenabzug aus dem Irak VON MARTIN KLINGST Afghanistan Die Lage der Frauen im Land hat sich deutlich verbessert

38 Banken Die öffentlichen Institute

werden gebraucht

a Grüne Jürgen Trittin, der Krieg und die grüne Macht VON MATTHIAS GEIS 8 Linke Die Linke quält sich selbst SPD Agenda 2010. Die SPD traut sich nicht, stolz zu sein VON TINA HILDEBRANDT Schwarz-Gelb FDP und CDU testen einander auf Koalitionstauglichkeit 10 CSU Der Kampf um den Parteivorsitz und um die Tradition VON ANGELA KÖCKRITZ 11 Stasi-Unterlagen Die Birthler-Behörde ruiniert sich selbst VON HUBERTUS KNABE 12 NPD Wie man Nazis zähmt

können häufig schlimmer sein als die Krankheit selbst VON CLAUDIA WÜSTENHAGEN Nationaler Ethikrat Ein Lob zum Abschied VON ANDREAS SENTKER 41 Technik Die Forschungsstation Neumayer III wird in die Antarktis verschifft VON BURKHARD STRASSMANN 42 Mathematik Günter Ziegler organisiert das Mathematikjahr 2008 VON CHRISTOPH DRÖSSER

HERKULES PETRAEUS

Der lange Weg in den Abgrund

44

FEUILLETON

VON SABINE RÜCKERT

15 LÄNDERSPIEGEL

Foto: Reuters

Nordrhein-Westfalen Der Schulstreit der

VON CHRISTIAN SCHÜLE

VON CHRISTA BÜRGER

22 Wochenschau Warum mussten sieben

Menschen in einem China-Restaurant sterben? VON JAN PFAFF

Ihre kraftvollen Bilder gehören längst zu den Klassikern der Moderne, ihr Leben zwischen Paris und Worpswede fasziniert bis heute. Im Herbst feiert die Kunstwelt mit einer Vielzahl von Ausstellungen Werk und Leben der Paula ModersohnBecker, die vor 100 Jahren gestorben ist

WIRTSCHAFT 23 Rundfunk Ein unbefriedigendes Urteil

32 Volkswagen Porsche-Chef Wiedeking

stichelt

VON DIETMAR H. LAMPARTER

ZEITLÄUFTE SEITE 86

66

CHANCEN 69 Büro Der Computer verdrängt

liebgewonnene Dinge vom Schreibtisch 70 Schule Freiburger Schüler bereiten sich selbstständig aufs Abitur vor VON ARNFRID SCHENK

71 Hochschule Karl Biehler von der

Universität Marburg Arbeitnehmer krank

VON CHRISTINE LEMKE-MATWEY

Pavarotti wird ewig leben. Ein Begräbnisbesuch VON PETRA RESKI 50 Diskothek Nachruf Zum Tod des Jazzmusikers

Joe Zawinul VON JAN FREITAG Klassik Lieder aus Theresienstadt

VON ALEXANDRA WERDES

ZEITLÄUFTE 86 Kunst Die Farben der Einsamkeit

RUBRIKEN

46 Was wurde aus den sterblichen Über-

48 Pavarotti ist tot. Ein Nachruf

VON DANIEL GROSS

72 Beruf Zu wenig Lob macht

VON ELISABETH BRONFEN

resten der Callas? VON HELMUT KRAUSSER 47 Cecilia Bartoli hat Maria Malibran wiederentdeckt, die erste aller Diven

Klimawandel/Frisch vom Markt Grönland Für Meereskajakfahrer ist die Ostküste das Größte VON THOMAS HÄUSLER Blickfang »Ladli«/Lesezeichen Vielflieger Ein Gymnasiast sammelt Flüge VON JULIANE VON MITTELSTAEDT Kreuzfahrt Kiel, Deutschlands Hafen Nummer eins VON HEIDE FUHLJAHN

2 Worte der Woche 38 Macher und Märkte 43 a Stimmt’s?/Erforscht und Erfunden 53 LESERBRIEFE 54 a Das Letzte/Was mache ich hier?

Wörterbericht/Impressum

ANZEIGEN 20 57 67 72

Link-Tipps Museen und Galerien Spielpläne Bildungsangebote und Stellenmarkt

100 Klassiker der Modernen Musik

James Brown

VON JONATHAN FISCHER

Willemsen hört McCoy Tyner 51 Kino Filme der Festspiele von

Venedig

VON KATJA NICODEMUS

Die »Berlinka« Ein Plädoyer für mehr

Verständnis im Streit zwischen Deutschen und Polen VON STEPHAN WACKWITZ 52 Pop Brighton, Zentrum des englischen Musikbusiness VON FRANK SAWATZKI Theater Dimiter Gotscheff spielt »Hamletmaschine« in Berlin VON PETER KÜMMEL

ZEIT i ONLINE

Illustration: Dieter Duneka für ZEIT online

VON THOMAS FISCHERMANN

Maria Callas, Inbegriff der Diva

Abb. (Ausschnitt): Paula Modersohn-Becker »Die Hand am Kinn«, 1906, Privatbesitz

bedrohen den Thunfischbestand im Mittelmeer und die Existenz der Fischer

30

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VON SUSANNE MAYER

Die Göttlichen Vor 30 Jahren starb

POLITIK SEITE 14

Die Farben der Einsamkeit

17 Fischerei Industrielle Fangflotten

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63

a

DOSSIER

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Wörter zu viel gesagt

Die schreckliche Wahrheit gleicht dem düsteren Kinothriller »M – Eine Stadt sucht einen Mörder«. Die Stadt ist Leipzig. Der Mörder des neunjährigen Jungen Mitja wurde gerade zur höchsten Strafe verurteilt, die das deutsche Recht vorsieht. Ein Prozessbericht

allem schuld VON ALICE BOTA 14 Prozess Langsamer Weg in den Abgrund

27

VON REINER LUYKEN

62 Magnet Dithmarscher Kohltage

45 Deutsche Szenen Eva Herman hat drei

13 Polen Die Kaczyńskis sind nicht an

26

Mark O’Keefe durch Glasgow

Afrika In Malawi kämpfen Sozial-

arbeiter mit Theater und Fußball gegen Aids und Sexmythen VON MARIA BENNING

VON TORALF STAUD

25

a

61 Großbritannien Mit dem Trompeter

64

39 Epilepsie Die psychischen Folgen

7

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VON RÜDIGER JUNGBLUTH

WISSEN

VON ANDREA BÖHM

aus Karlsruhe VON GÖTZ HAMANN Finanzkrise Wie schlimm wird es? Wärmedämmung Streit zwischen Mietern und Vermietern ist programmiert VON ULRIKE MEYER-TIMPE Gebäude Neue Vorschriften sind geplant VON MARTIN HINTZE Klimaschutz Gelingen globale Verpflichtungen? VON CERSTIN GAMMELIN Verkehr Der Wissenschaftler Hermann Knoflacher attackiert das Auto Emissionen Der Weg zu sparsameren Autos VON FERDINAND DUDENHÖFFER Mindestlohn Kampf um den Briefmarkt VON GUNHILD LÜTGE Lokalfernsehen Erfolg mit Großstadtsendern VON BERND GÄBLER USA Greenspan, der Ex-Notenbankier, veröffentlicht Memoiren

REISEN

36 Was bewegt … EU-Energiekommissar

4

Siebziger flammt auf VON PATRIK KREMERS Hessen Mordversuch in der MultikultiStadt Frankfurt VON CANAN TOPÇU Baden-Württemberg Ein Linker darf Lehrer werden VON FRANK DRIESCHNER

Maler und Dichter VON EVELYN FINGER Stillleben mit Buch; Büchertisch; Gedicht

VON CHRISTIAN TENBROCK

VON ULRICH LADURNER

6

60 Kaleidoskop Wolfgang Mattheuer als

Wissenschaftlers VON LORENZ M. HILTY 34 Polen Die Wirtschaft brummt

Foto: Marc Trautmann

16

Der Preis des Wohlstands Rund 1,40 Euro kostet ein Liter Superbenzin. Wir zeigen, wer daran verdient – von den Ölfeldern des Nahen Ostens bis zur Tankstelle www.zeit.de/benzin

Gewalt Ihre Ursachen und Hintergründe – ein Themenspezial www.zeit.de/gewalt

54 Kunst Stan Douglas in der Stuttgarter

Kunstgalerie

VON HANNO RAUTERBERG

LITERATUR 55 Novelle Botho Strauß »Die

Unbeholfenen« VON JENS JESSEN Gesamtausgaben: Särge in Leinen und Leder VON ULRICH GREINER 56 Roman Michael Lentz »Pazifik Exil« VON HELMUT BÖTTIGER Homosexualität Robert Aldrich (Hrsg.) »Gleich und anders« 57 Mutter Teresa »Komm, sei mein Licht« VON JAN ROSS

BENZINPREIS

Aus politischen Zeitschriften

Friedhof der Flugzeuge Besuch auf einem letzten Landeplatz in der kalifornischen Wüste a Männer Martenstein über die armen Männer in der Sexindustrie Hüte machen groß und elegant – jeder Herr sollte einen haben a

Ich habe einen Traum Georges Moustaki, Meister des Chansons

Die so a gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im Premiumbereich von ZEIT.de unter www.zeit.de/audio

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DIE ZEIT

Nr. 38

13. September 2007

FISCHER Pedro aus Palamós an der Küste Kataloniens bringt morgens die Netze aus

Die leeren Netze von Palamós Lange ernährte der Rote Thun die spanischen Fischer. Dann begann die industrielle Jagd. Jetzt ist der König der Meere vom Aussterben bedroht

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as Wunder geschieht nicht. Nicht einmal Maria del Carmen kann verhindern, dass der Thunfisch aus dem Meer verschwindet. Sie weint nicht, ihr Lächeln, eingefroren wie der letzte Fisch der Kühlfabrik, hört nie auf. Während sie hinter Glas hinaus aufs Wasser späht, trägt sie den Spross des ewigen Lebens im Schoß. Noch immer kommen die Fischer von Palamós und Barbate in die kleinen Hafenkapellen und huldigen ihrer Schutzheiligen, vor dem Schrein stehen Sträuße von Weizengelb bis Blutrot in Einweggläsern. Seit Jahrtausenden hat die Jungfrau del Carmen den Fischern von Palamós und Barbate volle Netze beschert. Palamós liegt in Katalonien, Barbate in Andalusien. Beide Orte waren legendäre Thunfangbastionen. Beide gehören zu einem Teil Europas, der vom Fischfang lebt, der seinen Niedergang mitbetrieben und nun darunter zu leiden hat. Die Tragödien der Meere spielen sich lautlos unter der schäumenden Oberfläche ab, unsichtbar für Fernsehkameras. Jeder Grundfisch ist in seiner Existenz bedroht. 78 Prozent der Bestände vor den Küsten der Industrieländer sind abgefischt oder bereits kollabiert, 90 Prozent aller großen Raubfische sind aus den Weltmeeren verschwunden. Scholle, Seezunge und Schwertfisch sind extrem dezimiert, die Rotbarschbestände weltweit um 90 Prozent geschrumpft. Die Lage des Seehechts ist so katastrophal wie die des atlantischen Lachses; Goldbrassen, die beim Fischhändler eintreffen, stammen ausschließlich aus Netzkäfigen und Teichen. Nach einer Hochrechnung der Dalhousie University Halifax aus dem vergangenen Jahr wird es 2048 weder Kabeljau noch Heilbutt mehr geben. Überfischung gilt neben dem Klimawandel als größte Gefahr für die Weltmeere. Der Rote Thunfisch ist die Allegorie dieser Erschöpfung, weil er das Symbol des Mythenraums

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Europa ist, das Symbol mediterraner Traditionalität und Grazie, der Weisheit, der Nachlässigkeit, der Gier. Ein Fisch, der als transatlantischer Langstreckenschwimmer mit bis zu 90 Stundenkilometern die Meere durcheilt, der eilt, um sein eigenes Absinken zu verhindern. Ausgewachsen kann ein einziges Exemplar bis zu fünf Meter lang und 600 Kilogramm schwer werden; sein natürliches Höchstalter liegt bei 30 Jahren. Er hat ein großes Herz, runde Augen und eine blaumetallisch glänzende Haut. Sein Körper ist torpedoförmig, die Schwanzflosse gleicht einer Sichel. Nach Einschätzung der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) steht seine Auslöschung kurz bevor.

In der Hafenkneipe beschwören Schwarz-Weiß-Fotos die guten Zeiten Mitte Juli hatten sie wieder ihre Boote geschmückt und waren in einer Prozession durch die Häfen der Küstendörfer und Kleinstädte hinaus aufs Meer gefahren, die Statue aus kitschigem Gips in Hellblau und Milchweiß irgendwo in ihrer Mitte. Es war ein blumenreiches Spektakel, Tausende in den Städten hatten in heiterer Folklore gejubelt. Kein Fischer versäumt diesen Tag, denn die Virgen del Carmen sichert von jeher das Überleben ihrer Familien. Doch jetzt, am Ende der Fangsaison, muss gesagt werden, dass sie in Palamós nicht einen einzigen Thunfisch gesehen haben. Es ist kaum noch etwas zu retten. Sie ahnen, dass ihre Kultur zu Ende geht: das Duell des Einzelnen mit dem Tier, der Mythos vom alten Mann und dem Meer, das Glücksgefühl der Erschöpfung nach dem Sieg über den wertvollsten und anmutigsten Fisch des Mittelmeers. Wer an die Jungfrau glaubt, hat noch Hoffnung auf ein Wunder. Wer nicht, hofft auf die Europäische Union. Wer das tut, muss verzweifeln.

Früher war Palamós ein großer Ort der Thunjäger. Die Schwarzweißfotografien an den Holzwänden der Fischerkneipe Casa del Mar beschwören eine herrliche, vergilbte Vergangenheit. Palamós scheint geübt in der nostalgischen Verklärung seiner selbst, jener goldenen Zeit, als Enrique und Pedro, die Heroen der letzten Generation, noch ihre Leinen auswarfen, umflort von Geheimnissen zur Überlistung des Königs der Meere, die nur sie kannten. In der Casa del Mar frühstücken die heimgekehrten Fischer eine Flasche Bier. Keiner sitzt mit dem Rücken zur Tür, alle sehen hinaus. Das Meer in seiner Pracht! Einer liest die Sportzeitung, die anderen schweigen. Um neun Uhr sind es 28 Grad Schwüle. Der letzte Thun, den ein Mann aus dem Meer der Costa Brava holte, erreichte zweieinhalb Meter und wog 250 Kilogramm. Eine im Verblassen begriffene Aufnahme zeigt Enrique mit dem weißen Haarkranz, sie ist von Anfang 1990. Er war es, der den letzten König vor Palamós besiegt hat. Enrique posiert neben dem an der Hinterflosse aufgehängten Fisch und raucht Pfeife. In seinem Gesicht verbrüdern sich Stolz, Demut und ein bisschen Schüchternheit. Die Bilder daneben rücken einen grauhaarigen Mann mit Sonnenbrille ins Blickfeld. Jeder in der Casa del Mar kennt ihn. Es ist Pedro Cubo Ramos, gerade so groß wie ein mittlerer Thunfisch. Ihm gehört das einzige rot gestrichene Boot im Hafen, man erkennt es sofort. Es ist nach dem Großvater benannt und heißt L’Avi Chichi. Pedro war der beste Thunfischer von Palamós. Von seinem epochalen Kampf sprechen sie noch heute. »Ja, es ist wahr, am 8. Juni 1982 habe ich so viele Stunden mit einem 300 Kilo schweren Thun gerungen, dass ich schließlich in meinem Boot lag und keine Kraft mehr hatte,

VON CHRISTIAN SCHÜLE

das tote Tier hereinzuziehen.« Nie redet Pedro lauter als nötig, und morgens scheint er so gefasst zu sein wie abends, als könne ihn um der Heiligen Jungfrau willen nichts aus der Ruhe bringen.

Von jeher kommt der Thun aus dem Atlantik zum Laichen ins Mittelmeer Als die L’Avi Chichi an jenem Junitag 1982 in den Hafen einlief, jubelten die Fischer von Palamós, und gemeinsam zogen sie den Thun an Land. Der Fisch war so lang wie Pedros Boot, Pedro bekam umgerechnet 600 Euro. Heute wäre derselbe Fisch 6000 wert. Damals lebten 400 Fischer in Palamós. Heute sind es 250. Die anderen haben resigniert, viele von ihnen arbeiten auf dem Bau. Früher haben die Fischer den ins Boot gespülten Restfisch mit nach Hause genommen. Heute wird sogar der versteigert. Palamós lebt jetzt von Touristen und dem großen Kreiskrankenhaus. Seit Jahrtausenden kamen zum ersten Vollmond im April die Schwärme des Thunnus thynnus auf dem immergleichen Weg vom Atlantik durch die Meerenge von Gibraltar, um in den warmen Gewässern des Mittelmeers ihre Nachkommen zu zeugen. Das Wort Thun entstammt dem Griechischen und bedeutet »eilen« oder »rasen«. Der größte Thun ist der Blauflossenthun, der seines tiefroten Fleisches wegen auch Roter Thun genannt wird. In die Dosen globaler Supermärkte kommt der pazifische Bonito, Filets im eigenen Saft, abgepackt in Thailand. Der Rote Thun ist zu wertvoll. Das Mittelmeer hat den weltweit größten Bestand. Immer schon waren neben dem Golf von Mexiko nur die balearischen Gewässer um Ibiza, Mallorca und Menorca seine Geburtsstätte und Wiege. Jeden Juni pflegt der Rote Thun dort zu laichen, dann entlassen die Weibchen Millionen

von Eiern aus ihren Körpern, und die Männchen stoßen ihren Samen in großen Wolken aus. Sein Weg zu den Laichgebieten nördlich der Balearen führt den Thun von Süden hinauf zuletzt die Costa Brava entlang, an Palamós vorbei. Ende Juli verlassen die Schwärme das Mittelmeer wieder durch Gibraltars Meerenge, hinaus in den Atlantik, wo sie Barbate passieren. Auf dieser Präzision der Natur konnten die Fischer von Palamós ihre Kultur errichten, und sie warfen ihre Langleinen so hoffnungsvoll aus wie die Almadraberos in Barbate ihre monströsen Netze. Jene vierhundert Anker, die sich stramm wie Regimentssoldaten im Hafen von Barbate reihen, sind von oben bis unten mit Rost bezogen; das Netz daneben riecht nach Tang und Tod. Das Blut Tausender Thunfische ist in seine Fasern gedrungen, jetzt liegt es schlaff in der unbarmherzigen Sonne Andalusiens, umschwirrt von Myriaden hysterischer Fliegen. Man spürt die metaphysische Kraft, die sich entfaltet, wenn es, straff wie ein Sprungtuch, von 130 Almadraberohänden gespannt und zugleich gezogen wird. Im Hafen von Barbate ist es still, eine Stille, die benommen macht. Aus dem Pinienhain über der Stadt strömt harziger Duft herab, vermischt sich mit Teer und Öl – Barbate, atlantisch rau, unsinnlich, maskulin. Die Konservenfabrik ist schon lange dicht, die Salzfirmen sind pleite. Das flache kalkweiße Gebäude, in dem die Fischer und Netzflicker nebeneinander ihre Werkstätten haben, wird bald abgerissen. Am Ende des Hafens, vis-àvis einer stillgelegten Thunverarbeitungsfabrik ohne Fenster, toben Hunde an der Kette, und zwei Fischerbootwracks stecken im Boden, die Holzrippen ihrer Brustkörbe zersplittert. Auf dem verlassenen Platz gegenüber hat der italienische WanFortsetzung auf Seite 18

Foto: Heinrich Vökel für DIE ZEIT

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Fotos [Ausschnitte]: Heinrich Völkel für DIE ZEIT

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PEDRO, 55-jähriger Fischer. An der Wand ein Bild des letzten Thuns, der 1990 in Palamós gefangen wurde

Die leeren Netze … Fortsetzung von Seite 17

derzirkus Gottani seine sonnenblumengelben Zelte aufgebaut. Ein Mann mit kurzer Hose und Schlappen, aus dessen Transistorradio der schmerzhafte Gesang einer von der Liebe enttäuschten Frau kriecht, schlurft mit seinem Kampfhund zum Security-Kabuff der Kühlfabrik Frialba. Sonst ist niemand zu sehen. Im Hafen von Barbate herrschen Ruin und Rost. 38 Grad und manchmal eine Böe Wind, die man vor Hitze nicht spürt. Almadraba heißt das Netz der Thunfischfänger von Barbate, ebenso wie die Tradition des Thunfischfangs in Andalusien. Der Almadrabero ist eine Art Torero des Meers. Er trägt den Stolz einer sehr männlichen Tradition in sich. Die Almadraberos sind eine archaische Jagdgemeinschaft. Wie der Torero den Stier erlegt der Almadrabero den Thun mit höchstem Respekt, auch wenn es den Anschein von Blutdurst hat und der Fisch stets das Nachsehen. Die Almadraba ist ein fixiertes Fangsystem aus verzweigten Gängen und Kammern, ein Stellnetzlabyrinth, ein insgesamt sieben Kilometer langes System aus Täuschung und List dreißig Meter unter null, ein gewaltiges Konstrukt aus Tausenden Ankern und Bojen, Bleigewichten, Stahltauen und Netzteilen. Jede Almadraba wird von 400 bis 500 Eisenankern im Boden fixiert, ein Anker wiegt 450 Kilogramm, die Strömung ist stark. Vor 80 Jahren gab es mehr als 100 Almadrabas an den Küsten, dort, wo der Atlantik zum Mittelmeer kommt und mit ihm der Thun. Jetzt gibt es noch vier: in Tarifa, Conil de la Frontera, Zahara de los Atunes – und Barbate. An einer Almadraba arbeiten 60 bis 80 Männer. 400 Fischer, dazu Netzflicker, Salzfabrikarbeiter, Tiefkühlfirmenbeschäftigte und ihre Frauen und Kinder, sind in Andalusien noch vom Thun abhängig. Von alters her warten Barbates Almadraberos auf zwei Fangtermine: im April, wenn der Thun kommt, und im Juli, wenn er wieder geht. 1000, 2000, 5000 Tonnen waren es früher. Im Juli vergangenen Jahres fingen sie einen einzigen Thun. Fast alle Thunfische der Welt enden in Tokyo. Japan importiert jährlich 28 000 Tonnen. Seine eigenen Küsten sind leer gefischt. Wie kein anderer Fisch exemplifiziert der Thun marktwirtschaftliche Logik. Der Grad seiner Ausrottung entspricht der gestiegenen Nachfrage der vergangenen 20 Jahre. Seit Anfang der 1980er Jahre sind Sushi und Sashimi vom Distinktionsmerkmal der japanischen Oberschicht zur Massenware geworden. Die Nachfrage hat das Angebot erweitert, das erwei-

terte Angebot die Preise sinken lassen, wodurch wiederum die Nachfrage erhöht wurde. Japanische Multis haben in die Infrastruktur seiner Verfrachtung investiert. Neben Kaviar ist Roter Thun die zurzeit teuerste und also lukrativste Delikatesse. Wer eine Lizenz als Lieferant am Tokyoter Fischmarkt haben will, muss tief in die Tasche greifen. Jede Nacht werden aus aller Welt per Schiff, Lkw oder Flugzeug bis zu 80 Tonnen Thun angeliefert, und jeden Morgen ab 5.30 Uhr werden auf dem weltgrößten Fischmarkt an die 3000 schockgefrorene Exemplare versteigert. Mit Äxten werden Spalten in die Rücken getrieben, damit die Zwischenhändler die Güte des Fleischs erkennen, wenn sie um 4 Uhr mit der Taschenlampe eine erste Besichtigung vornehmen. Je heller das Fleisch, je fettreicher, desto edler und teurer. Für ein Kilo werden bis zu 500 Dollar geboten, der Preis hängt von der Qualität ab und variiert erheblich. Innerhalb einer Stunde ist alles versteigert. Die Händler holen ihre Ware, filetieren sie, zerschneiden die Körper mit elektrischen Sägen. Dann wird die Fracht an die Restaurants des Landes geliefert.

Die Fischer fuhren dorthin, wo die Möwen waren und das Wasser quirlte Am anderen Ende der Welt tuckert die L’Avi Chichi früh am Morgen mit 50 PS aus dem Hafen von Palamós. Fünf Kilometer vom Ufer entfernt, um kurz nach sechs, wenn die Sonne aufgeht, wirft Pedro sein Netz aus. Jetzt ist der ehemalige Thunjäger Pedro einer von drei Langustenfischern. Es sind ihrer nicht mehr, weil nur drei wissen, wo die Langustengründe liegen. Um sein Wissen vor der Konkurrenz zu schützen, täuscht Pedro die anderen mit Hunderten bunter Bojen ohne Netz. Früher, als er Thunjäger war, der berühmteste von Palamós, da hat er oft gesehen, wie einen Kilometer von der Küste entfernt die Thunmännchen aus dem Wasser sprangen, um sich den Weibchen zu empfehlen, wie sie sprangen, wenn sie auf Makrelen- oder Sardinenschwärme stießen und ihren Hunger stillten. Und wenn sie sprangen, kamen die Möwen, und wo die Möwen waren und das Wasser quirlte, da fuhren die Fischer hin und täuschten den Thun, indem sie eimerweise Makrelen auskippten und ihn, den Fisch, in Sicherheit wiegten, ehe sie ihre Angel auswarfen und die Leine so über das Wasser zogen, dass der Thun denken musste, der Köder am Haken lebe noch. Wie man den Thun überlistet, hat Pedro von seinem Vater und dieser von seinem Vater gelernt. Die Thunfischer von Palamós waren schon immer einsame Männer, je größer der eigene Fang und je kleiner jener des Nachbarn, desto besser war es.

»Anfang der Neunziger kamen die ersten Industrieflotten aus Frankreich zu uns und jagten die Schwärme um Mallorca herum. Das war die Zeit, da ich zum letzten Mal einen Thun aus dem Wasser springen sah, hinter dem Hafen von Palamós«, sagt Pedro. Es hat nichts Elegisches, wenn er über den König spricht. Als junger Mann, mit 15, ist er schon zum Thun hinausgefahren. Das Meer ist sein Arbeitsplatz, das Meer ist sein Leben. Er ist jetzt 55. Pedro hat eine tiefe, heisere Stimme und ist von zurückhaltender Natur. Nach drei Stunden holt er das Netz ein, Meter um Meter nichts, er kurbelt, aber keine Languste hat sich verheddert, er kurbelt weiter, stoisch, in weiser Gelassenheit, während die Sonne tausend Brillanten auf dem Meer zum Tanzen bringt. Drei Seeteufel stecken in den Maschen, ein Großer Drachenkopf, eine Seezunge. Da endlich kommt die erste Languste. Die Fühler sind lang. Den Körper einer Languste findet Pedro graziös. Sechs Langusten werden es an diesem Morgen. Die größte wiegt zwei Kilo, sie muss um die 20 Jahre alt sein. Wenn Pedro sie dem Luxusrestaurant La Gamba wie immer direkt verkauft, wird er dafür 60 Euro erhalten. Von diesem geheimen Abkommen soll die Fischereigenossenschaft nichts erfahren. Pedro trägt eine Ray Ban. Er liebt das Meer. Mit den Fischen sterben die Traditionen. »Mein Sohn wollte nicht mehr fischen«, sagt Pedro, »er macht in Immobilien. Es ist normal geworden, dass unsere Kinder die Mühsal nicht mehr auf sich nehmen wollen. Als Fischer arbeitet man wie ein Sklave, manchmal am Tag, manchmal nachts. Die Jungen wollen Sicherheit, Bequemlichkeit, Unabhängigkeit und vor allem ein festes Gehalt.« Im Winter leben die Fischer von dem, was sie im Sommer gefangen haben, und im Sommer fangen sie längst zu wenig, um es noch ehrenvoll Fischen zu nennen. In guten Jahren verdiente Pedro 18 000 Euro netto, in schlechten die Hälfte davon. Der Preis für Dieselöl hat sich in den letzten Jahren verdoppelt, der für eine Languste ist stabil geblieben. Auf den Booten arbeiten jetzt Einwanderer aus Marokko und Arbeiter aus Russland und der Ukraine, die es hinnehmen, dass ihre Löhne an die Fangmenge im Netz geknüpft sind. Wenn Pedro in zehn Jahren zu arbeiten aufhört, wird er vielleicht der letzte Fischer gewesen sein. In den vergangenen zehn Jahren wurde die legale Fangquote für den Roten Thun regelmäßig um bis zu 40 Prozent überschritten. Seit 20 Jahren ist die Anzahl zeugungsfähiger Großtiere in Mittelmeer und Atlantik um 80 Prozent gesunken. Der Rote Thun steht an der Spitze der Nahrungskette. Stirbt er, profitieren seine Beuteopfer davon, die Quallen und Tintenfische. Ihre Invasion ist

schon jetzt Sommeralltag im spanischen Süden. Tintenfische ernähren sich von Sardinen. Stirbt der Thun, sterben die Sardinen. Sterben die Sardinen, gehen die Sardinenfischer vor die Hunde. Jedes Jahr verzweifelter empfehlen Wissenschaftler des Standing Committee on Research and Statistics (SCRS) der ICCAT eine niedrigere Fangquote. Die ICCAT, die Internationale Kommission zum Schutz des Atlantischen Thunfischs, wurde 1969 als Tochter der Welternährungsorganisation (FAO) der Vereinten Nationen gegründet, hat ihren Sitz in Madrid und vertritt 41 Mitglieder. Jedes von ihnen muss ihr Jahr für Jahr den Umfang seines Thunfischfangs berichten. Die ICCAT legt auf ihrer jährlichen Sitzung eine für alle Mitglieder verbindliche Quote fest und teilt sie auf. Innerhalb der ICCAT spricht die EU mit nur einer Stimme, und innerhalb der EU-Delegation sind die Thunfischereiländer Frankreich, Italien und Spanien die einflussreichsten Kräfte.

In Farmen an den Küsten wird der Thunfisch heute gemästet Im Oktober 2006 hatten die SCRS-Wissenschaftler eine Reduzierung der Thunfischfangquote von damals 32 000 auf maximal 15 000 Tonnen empfohlen. Ihren Schätzungen zufolge sind im vergangenen Jahr sogar 50 000 Tonnen Thun aus dem Mittelmeer geholt worden. Schon die erlaubten 32 000 Tonnen für die Jahre 2003 bis 2006 lagen um 23 Prozent über dem, was Wissenschaftler für das vertretbare Maximum halten, um die Auslöschung der Art Thunnus thynnus zu verhindern. Dann kam Dubrovnik. Alle Betroffenen starrten auf die kroatische Hafenstadt, in der vor knapp einem Jahr die ICCAT-Konferenz stattfand. Das Wort vom »Schicksal« machte die Runde, manche sprachen von der letzten, andere von der allerletzten Chance für den Roten Thun, der nach Ansicht Dritter ohnehin keine mehr hatte. Auf Panel 2 fanden sich die 19 Vertreter der Sektion Atlantischer Blauflossenthun zusammen, darunter die Europäische Union, Algerien, Libyen, Marokko, Tunesien, Türkei, die Vereinigten Staaten, China, Kanada. Sebastián Losada, Meeresbiologe und Ozean-Kampaigner bei Greenpeace Spanien, war Zeuge, wie die norwegische EU-Delegierte, nachdem sie öffentlich einen strikten Erholungsplan für den Roten Thun gefordert hatte, heftig attackiert wurde. »Die Thunfischindustrie«, sagt Losada, »stellt innerhalb der EU-Delegation eine sehr mächtige Lobby dar, der es Jahr für Jahr gelingt, biologisch vernünftige Quoten zu verhindern.« Thunfischerei ist die weltweit profitabelste Fischindustrie. Der legale Thunfischfang des Jah-

res 2004 war 2,5 Milliarden Euro wert, inklusive der illegalen Erträge sind es 4 Milliarden. Nach neun Tagen rang sich die ICCAT zu einer verbindlichen Quote durch: 29 500 Tonnen für das Jahr 2007. Für Greenpeace, den WWF und Rafael Marquez Guzman war das die Fortsetzung des darwinistischen Albtraums. Da stand er wie jeden Tag am Netz, in orangefarbenem Gummi, mit 64 Kollegen, die Freunde waren, Alte und Junge, den ganzen Mai hindurch, und es herrschten ein Schweigen und eine Stille mitten auf dem Atlantik, ein Moment der Andacht, 39 Grad am frühen Mittag. Dann hob der Kapitän die Hand, und gleichzeitig zogen sie das Netz aus 30 Meter Tiefe hoch, Meter für Meter. Keiner sprach, und dann kam die Minute, da Rafael zur Jungfrau del Carmen betete, es möge ein reicher Fang sein, und er war sich sicher, dass alle anderen ebenso beteten, weil sie schwiegen wie er. Sie sahen die ersten Flossen, die Fische sprangen um ihr Leben, das Wasser schien zu kochen wie ein Geysir. Er hüpfte hinunter, mit drei anderen, hinein ins Netz, ins Thungewühl und tötete jeden der Könige mit zwei gezielten Stichen, dass das Blut spritzte, während die anderen die Tiere über Bord in die Boote zogen und jeder Einzelne genau wusste, was er zu tun hatte. Rafael hat ein Foto von sich als Henker als Bildschirmschoner auf seinem PC, und was in seinen rehbraunen Augen schimmert, ist das Fluoreszieren archaischer Romantik. Die Almadraba ist mehr als nur das Netz. Sie ist das Medium zur Antike und zu den phönizischen, griechischen und römischen Thunfischern, eine Kultur-, mehr noch: eine Lebensform. Der Thunfischfang geht zurück bis zu den Phöniziern, man hat 3000 Jahre alte Münzen mit aufgeprägtem Thun gefunden, und die römischen Ruinen von Bolonia ein paar Kilometer südwärts waren einst Gemäuer einer Thunverarbeitungsfabrik. In die Seelen der Almadraba ist die Weisheit ökonomischer Logik eingewebt, dem Meer mehr zu lassen, als ihm zu nehmen. Was unter 70 Kilogramm dick ist, schlüpfte schon immer durch die extragroßen Maschen der Almadraba hindurch. Rafael ist der jüngste Almadrabero von Barbate. Er ist 37 und bereits Unterkapitän. Wenn er erzählt, flüstert er, als berichte er einem Kind von einem Wunder. Am Tag, als sein Vater Paco, ein der Ehre ergebener Almadrabero, vor 14 Jahren plötzlich starb, fragte Diego, der Chef, als Ersten ihn, Rafael, den Sohn, ob er auf Pacos Platz am Netz wolle, weil die Almadrabero-Söhne das Recht auf den Arbeitsplatz des Vaters haben, der schon jener des Großvaters und Urgroßvaters war; so ist das hier im Süden. So wurde der Autolackierer

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Fotos [Ausschnitte]: William Boyce/corbis (li.); Heinrich Völkel für DIE ZEIT (re.)

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THUNFISCHE werden an Bord eines Schiffes gehievt (2002). Rechts Rafael Marquez Guzman, Fischer in Barbate

Rafael ein Almadrabero und nahm den Spitznamen Rafa an, und seine Mutter sagte nach dem ersten Tag mit ganzem Stolz: Sohn, du riechst ja wie der Vater! Rafa raucht nicht, und er trinkt kein Bier. Seinen drahtigen Körper trainiert er mit dem Mountainbike. Sein elfjähriger Sohn Francisco will Almadrabero werden. Rafa will, dass sein Sohn glücklich wird. Als Reaktion auf die Verluste haben sich ab 1996 Mastfarmen an den Mittelmeerküsten angesiedelt. Weil sich Thunfisch nicht aus Fischeiern züchten lässt, wurden mehr und mehr Jungfische aus dem Meer geholt. Sogenannte Ringwadennetzboote, ausgerüstet mit neuester Echolottechnik, Radar und Satellitenkarten der Wassertemperaturen, können jeden Thun vom ersten bis zum letzten Moment seiner mediterranen Anwesenheit aufspüren. Unter Wasser werden die Fische von Tauchern aus den »Geldbeutel«-Netzen in Großkäfige geleitet, welche sogenannte TAC-Boote zu den küstennahen Mastfarmen ziehen. In den Farmen werden die Fische in stationäre Käfige verladen und mit Sardinen und Heringen gemästet, bis sie ausreichend gewachsen sind und nach Japan verkauft werden können. 80 Prozent des Thunfangs aus dem Mittelmeer durchlaufen diese Farmen. Nach einer ICCAT-Studie aus dem vergangenen Jahr betreiben elf Mittelmeeranrainer 58 Mastfarmen mit einer Gesamtkapazität von 51 000 Tonnen; 13 davon sind allein in Spanien zu finden. Ihr Selbstverständnis unterliegt kapitalistischem Kalkül: Mehr Nachfrage heißt mehr Thunfisch heißt abermals gesteigerte Nachfrage heißt größere Fangflotten; heißt größere Umsät-

Sterbende Fischerdörfer Palamós

Vigo

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300 km ZEIT-Grafik

ze; heißt steigender Gewinn. Wichtigste Voraussetzung war bislang, dass die Fänge undokumentiert, also unkontrolliert bleiben. »Fünf verschiedene Methoden, den illegalen Transport zu verfolgen, haben zu den gleichen Ergebnissen geführt«, sagt Susana Sainz-Trápaga, FischereiOzeanografin im WWF-Büro Barcelona: Ein Zehntel des nach Japan verkauften Roten Thuns stammt aus illegalem Fang. Durch den Vergleich der Export- und Importbilanzen lässt sich die Höhe der illegalen Fangquote errechnen, und mit Hilfe der Fahrpläne japanischer Kühlschiffe konnten die Wege der Thunpiraten nachgezeichnet werden. Mediterraner Mastfarm-Oligopolist ist die andalusische Firma Ricardo Fuentes e Hijos, ansässig in Cartagena, Provinz Murcia. Der Thunmast-Baron ist nicht geneigt, Fragesteller zu empfangen. Dem einflussreichen Schweiger gehören nach Beobachtungen von WWF und Greenpeace die meisten Thunfischfarmen von Spanien über Tunesien bis Italien und Zypern; angeblich kontrolliert er bis zu 70 Prozent des gemästeten Thuns im gesamten Mittelmeerraum. Laut dem WWF Spanien ist der Wert der Thunfischproduktion allein in der Region Murcia von 3 Millionen Euro 1996 auf 107 Millionen Euro 2002 gestiegen. Für alle, die sich um das Sterben des Thunfischs sorgen, liegt das Schlüsselproblem in der Überkapazität der Fangflotte, die auf das Vierfache des maximal Vertretbaren berechnet wird. Es ist die Masse jener äußerst mobilen Ringwadennetzschlepper mit ihren enormen, bis zu zwei

Kilometer langen Netzen, die an der unteren Leine zugezogen werden wie eine Geldbörse. Zurzeit jagen 1707 kommerzielle Schiffe den Thun im gesamten Mittelmeer, auf denen 3768 Fischer beschäftigt sind. Einige ihrer Besitzer chartern Flugzeuge, die die Thunschwärme ausspähen, was offiziell verboten ist, und die Routen über Funk an die Schiffe weitergeben, welche dann in die Laichgebiete eilen. Unerwünschter Beifang sind Delfine und Schildkröten, die halb verendet ins Meer zurückgekippt werden. Hier beißt sich, wie eine Redensart aus Palamós besagt, der Fisch in die Schwanzflosse, denn die ICCAT als Dachorganisation aller mit Thunfisch befassten Länder legt jene Quoten fest, die ihre Mitglieder ausgehandelt haben. Ist Frankreich oder Italien an hohen Quoten interessiert, hat der Fisch das Nachsehen. Die EU teilt die ihr zugedachte Menge unter ihren Mitgliedsstaaten auf. 2006 wurden der EU 18 300 Tonnen zugestanden, für 2007 sind 16 779 ausgewiesen. Auf Spanien entfallen dabei 5568 Tonnen, auf Italien 4336 und auf Frankreich 5493. Mit Rücksicht auf Rentabilität erteilen die nationalen Ministerien Lizenzen für ihre Langleinenund Festnetzfischer, für die Schleppnetz- und die Ringwadennetzboote.

Jüngst haben auch die Chinesen das edle Fleisch für sich entdeckt Für Letztere hat Madrid 6 Lizenzen vergeben, Paris 38, Rom 72. Wenn Spanien für die gleiche Fangmenge 6, Frankreich aber 38 und Italien 72 Lizenzen ausstellt, gibt es neben dem wirtschaftlichen auch ein ethisches Problem. »Die Franzosen und Italiener geben ihrer Fischereiindustrie die Lizenz zur illegalen Überfischung«, sagt Sebastián Losada. Damit jedes Ringwadennetzboot rentabel bleibt, muss es eine weit größere Menge Fisch fangen, als der Quotenanteil erlaubt. Jedes der 38 unter französischer Flagge fahrenden Schiffe beschäftigt eine Crew von vier bis zehn Mann, dazu kommen Jobs in den Fischfarmen, beim Bootsbau, auf den Werften, bei den Netzbauern, den Konservenfabriken und allen Zulieferern. Drohungen, Hunderte von Arbeitsplätzen abzubauen, beeindrucken heute jede Regierung, zumal Firmen, die an den Thunfischunternehmen beteiligt sind, auch kräftig in die Infrastruktur der Küsten investieren. Piraterie ist der Angelpunkt des Dramas um den König des Mittelmeers. Was nicht gemeldet wird, ist nicht zu dokumentieren. Was nicht zu dokumentieren ist, kann nicht reguliert werden. Was nicht reguliert ist, wird nicht kontrolliert. Nimmt man einen durchschnittlichen Preis von 4,50 Euro pro Kilogramm Thun an, setzt ein Ringwadennetzschlepper, wenn er im Schnitt 200 Tonnen Roten Thun im Jahr fängt, etwa 900 000 Euro um. Abzüglich der Instandhaltungs- und Fixkosten, die auf 800 000 Euro veranschlagt werden, erzielt ein einziges Boot einen Jahresgewinn von 100 000 Euro. Beschränkten sich die Lizenzbesitzer auf das legale Maximum von 128 Tonnen pro Schiff, hätten sie einen Nettoverlust von 224 000 Euro pro Jahr zu verbuchen. Die meisten Almadraberos arbeiten das halbe Jahr: im Februar und März das Netz zusammenbauen, im April und Mai fischen, im Juni und Juli das Netz abmontieren. Wer, wie fast alle hier, nicht noch Autolackierer, Mechaniker, Bauarbeiter oder Nachtportier ist, wird sechs Monate minimal vom Staat unterstützt. Rafa hat ein Festgehalt von jährlich 11 000 Euro netto, dazu kommen Prämien: sechs Prozent bei 1000, zwölf bei 2000 Fischen. Noch hat Crespo niemanden entlassen, aber es sieht nicht gut aus. Eine Almadraba ist auch ein soziales Netzwerk, und Crespo, sagen die Almadraberos, setze seine Leute nicht einfach auf die Straße, Crespo habe Anstand, Crespos ganze Familie arbeite für die Almadraba, Crespo achte Tradition und Ehre, und weil dieser Crespo ein feiner Kerl ist, wollen alle Fischer von Barbate einen Job an seiner Almadraba, obwohl es keinen Thun mehr gibt. Diego Crespo ist Chef der Almadraba Cabo Plata in Barbate, der ältesten Spaniens, und seit 1999 ist er Präsident der OPP51, der Vereinigung aller vier verbliebenen Almadraba-Gesell-

schaften an der Küste von Cádiz. Er ist Ende 40, hat schwarze, gewellte Haare, trägt ein gestreiftes Hemd und besitzt ein erstaunlich gelassenes Gemüt. Lachen sieht man ihn selten. Hinter seinem Schreibtisch hängt ein Kalender von Tokyo Seafoods, daneben befinden sich große und kleine Bildchen der Virgen del Carmen im Goldrahmen. Crespo leugnet keineswegs Direktverträge mit japanischen Importfirmen, deren Vertreter extra Spanisch gelernt hätten. 80 Prozent des Thuns aus Barbate gehen direkt ins Kühlhaus Frialba und dann nach Tokyo, der Rest zur morgendlichen Auktion im Ort. »Seit 2001«, sagt Crespo, »ist die AlmadrabaFischerei in einer schweren Krise.« Er spricht vom steten Niedergang. »Das Meer ist tot.« Das Meer, aus dem die Almadraberos im Jahr 1950 noch 15 000 Tonnen Thun fischten, 1800 im Jahr 2000

und 1100 im vorigen Jahr. Crespo ist zu diplomatisch, um schäumende Anklagen vorzubringen. »Es hat ein Wettrüsten ohne Ende gegeben«, sagt er nur. Der einst beste Thunfänger von Palamós möchte nicht mehr 15 Stunden täglich arbeiten. Wofür? Lieber sitzt er in der Casa del Mar mit der scheppernden Klimaanlage und redet über die großen Legenden, als dass er die kleinen Fische fängt, von denen er weiß, dass sie nie eine Chance hätten, sich zu vermehren. Die Maschen seiner Netze bleiben grob, auch wenn sie überall sonst die Maschen enger ziehen. »An den Mittelmeerküsten lebt noch die alte Fischermentalität fort: Ziehe heute so viel aus dem Meer, wie du kannst; morgen könnte es leer sein.« Dieses Denken, sagt der alte Pedro, sei so urtümlich, dass die Fischer Europas nicht auf die Idee

kämen, den Fischmarkt, von dem sie alle lebten, gemeinsam zu erhalten und zu regeln. Weil die Fischer von Palamós den Fisch nicht in die Schwanzflosse beißen lassen wollen, haben sie doch tatsächlich die Regierung in Madrid um die Einrichtung eines »Bio-Reservats« an ihrer Küste gebeten, das für die Fischerei entweder geschlossen bleiben oder nur unter strenger Aufsicht befischbar sein soll. Geht es nach Pedro Cubo Ramos, darf man das als neue Meeres-Moral bezeichnen, eine, die sich zwar zaghaft entwickelt, aber Besinnung und Verstand zu ihren Verbündeten zählt. War die Saison 2007 nicht die beste seit Jahren? Hat die Virgen del Carmen die Fischer für ihren Wagemut nicht belohnt? Und werden die IndustrieflottenunFortsetzung auf Seite 21

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Fotos [Ausschnitte]: Heinrich Völkel für DIE ZEIT

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WRACKS und Fischerboote in Barbate. Die Schutzheilige der Fischer, die Jungfrau Carmen, wacht über die Männer

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ternehmer jetzt nicht wieder sagen, die Kassandras schrien umsonst, alles sei doch in bester Balance? Bestenfalls unbeabsichtigt, gewiss mit fataler Ironie nährt die Europäische Kommission das Desaster, indem sie den Geist der Nachhaltigkeit zu unterstützen vorgibt. In den Jahren 2000 bis 2006 hat der EU-Strukturfonds Financial Instrument for Fisheries Guidance die europäische Fischwirtschaft mit 4,1 Milliarden Euro subventioniert. Die jeweiligen Mitgliedsstaaten können über die Zuschüsse frei verfügen; je nach nationaler Agenda gehen sie in Küstenschutzmaßnahmen, den Schiffsbau, die Modernisierung der Flotte oder den Mastfarmbetrieb. Nach Schätzungen des WWF haben Ringwadennetzflotten- wie Mastfarmindustrie in Europa in den Jahren 2000 bis 2003 mindestens 30 Millionen Euro erhalten. Seit dem 1. Januar 2007 heißt der EU-Strukturfonds European Fisheries Fund (EEF); die Ziele des Fonds sind dieselben geblieben – laut

der »Common Fisheries Policy«-Reform von 2002 die nachhaltige Nutzung der Ressourcen; eine stabile Balance zwischen den Ressourcen und der Flottenkapazität; stärkerer Wettbewerb und Förderung umweltfreundlicher Fischerei. Die Subventionen des EEF für die Periode 2007 bis 2013 belaufen sich auf 3,89 Milliarden Euro, wovon Spanien rund 1 Milliarde, Frankreich 192 Millionen und Italien 376 Millionen Euro einstreicht. Jetzt zieht die Karawane ostwärts, weil der Westen erschöpft ist. In Spanien wurden sogar Mastfarmen geschlossen, in Zypern und der Türkei werden neue errichtet. Zurzeit arbeitet die Bootsbauindustrie an Thunfangflotten für Tunesien und Algerien. Das letzte Thunfischreservat liegt in den unregulierten Gewässern vor Libyen. Seit Europäer und Amerikaner Sushi für trendy erachten, ist die Nachfrage nach Rotem Thun weiter gestiegen, und nun haben vor allem die Chinesen sein edles Fleisch für sich entdeckt. Sogar Maria del Carmen ist machtlos gegen die instrumentelle Unvernunft in den Köpfen der Fischer, Konzernlenker, Mastfarmbetreiber und Regionalpolitiker. Was neben der angebrachten Hul-

digung der Heiligen Jungfrau zu tun wäre, ist seit Langem bekannt. Francesc Benaiges, Präsident der Fischereigenossenschaft von Palamós, fordert die EU auf, das gesamte Mittelmeer mit Schonzeiten zu überziehen und ein Sanktions- und Strafenregister aufzubauen. Er und Diego Crespo, der WWF, Greenpeace und das Wissenschaftskomitee der ICCAT – sie alle fordern von der Europäischen Kommission endlich ein verbindliches Regelwerk samt Kontrollsystem: ein vorübergehendes Thunfangverbot für den Monat Juni im gesamten Mittelmeerraum, da der Juni die Hochphase der Reproduktion ist; ein Fanggrößenminimum von über 30 Kilogramm; die Reduktion der Flottengröße; Kennzeichnung aller auf den Markt gelangten Fische; die Annahme des »Plans zur Erholung« der SCRS auf der nächsten ICCAT-Konferenz im kommenden November in Antalya und vor allem eine Beschränkung der jährlichen Fangquote bis mindestens 2010 auf 15 000 Tonnen. Nachdem die EU Nationen wie Frankreich und Italien, die in den Jahren 2005 und 2006 eine deutlich überhöhte Fangquote auf ihrem Konto hatten, zum Entsetzen der Kritiker in Du-

brovnik pauschal amnestiert hat, existiert seit Anfang 2007 die Community Fisheries Control Agency, die noch aus Brüssel operiert, in Kürze aber in der galicischen Hafenstadt Vigo ansässig wird. Sie soll ein Kontrollsystem aus BlueboxSchallwellentechnik, Satelliten- und Flugzeugüberwachung, aktiver Bordbeobachtung sowie statistisch fundierter Dokumentation aufbauen und Sanktionen EU-weit harmonisieren. Für Aktivisten und Ozeanologen ist das die erste gute Nachricht seit Jahren. Rafa steht am Fluss Barbate, ein paar Meter vor der Mündung ins Meer, neben den Schiffen, deren halb versunkene Rümpfe aussehen wie Dinosaurierskelette. Seit vierzehn Jahren ist er Almadrabero. Kein Beruf könnte härter sein, keinen würde er mehr lieben. Der Thun prägt seine ganze Familie, prägt die Küstendörfer und die Kleinstadt Barbate, die in den 1930er Jahren vom Generalísimo Franco als bedeutsamer Fischerort entworfen wurde und deren Avenidas noch immer die Namen von Faschistengenerälen tragen. Die Mütter und Großmütter sprechen von den Netzen, den Kabeln, den Ankern, den Werkzeugen; die Kinder kennen die

Fahr- und Fangzeiten, das Leid der Fischer, die Freude, die Sorge, und wenn der Fang gut war, redet davon die ganze Stadt, und die Gastronomen im Luxusrestaurant Campero richten ihre Speisekarte nach dem Thun aus, »Ventresca de Atún de Almádraba a la plancha: 20,90 Euro«. Jeden Morgen um fünf ist Rafa mit den Kollegen rausgefahren, jeden Abend kamen sie zu ihren Frauen zurück. Jeden Tag sah er die Sonne aufsteigen aus den Tiefen des Meers bei Zahara de los Atunes. Die Almadraba werde es nicht mehr lange geben, sagt er. Die Almadraba werde sterben wie der König des Mittelmeers. Vielleicht ist er der letzte Fischer von Barbate. Aber vielleicht kommt der Thun auch zurück, wenn man ihn lässt. Vielleicht vergibt er ihnen. Die Fischer am Hafen bekreuzigen sich vor der Heiligen Jungfrau aus Gips in Hellblau und Milchweiß. Wenn die ICCAT den Plan zur Erholung sofort umsetzt, wird es frühestens in zehn Jahren wieder jene Roten Thunfische geben, die die großen Maschen der Almadraba nicht mehr durchlassen. Ja, es ist eine traurige Zeit. Eine Zeit für Wunder.

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DIE ZEIT

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MOMENT

WOCHENSCHAU »Ich traute es ihnen nicht zu« Der siebenfache Mord im China-Restaurant von Sittensen glich einer Hinrichtung. In dieser Woche begann der Prozess VON JAN PFAFF

24-STUNDEN-SUPERMARKT

STRASSENMUSIK

ANITA RODDICK

Konsum ohne Grenzen

In London dürfen nur die Besten spielen

Die Gründerin des Body Shop ist tot

Eine der ersten Internetbanken trug den Namen Bank24. Die Zahl im Namen stand für die 24 Stunden des Tages und versprach Verfügbarkeit jederzeit. Der Bankname baute auf die Sehnsucht des Menschen, nie mehr vor verschlossenen Türen zu stehen. Längst heißt die Internetbank anders, weil Geldinstitute im Netz immer geöffnet sind. In der Realität ist die Furcht vor dem Ladenschluss geblieben, auch wenn er immer weiter in den Abend wanderte. Man hat sich daran gewöhnt, dass im Internet die Läden nie geschlossen sind. Endlich hat ein Supermarkt in Berlin tatsächlich 24 Stunden geöffnet – die Realität passt sich dem Virtuellen an. Wer den 24-Stunden-Supermarkt besucht und ob des geringen nächtlichen Andrangs darauf schließt, das Unterfangen sei ökonomischer Unfug, der irrt. Die Idee eines 24-StundenSupermarktes besteht nicht vor allem darin, nachts, wenn andere Märkte geschlossen sind, mehr einzunehmen, sondern dem Einkäufer, der gewöhnlich um 18 Uhr in den Laden kommt, zu versprechen: Ich bin rund um die Uhr für dich da. Und damit: Du wirst nie wieder Stress haben. Dieses Versprechen werden 24-Stunden-Supermärkte allerdings nicht einhalten können. Der Stress wird schon bald ein anderer sein. Denn die Auskunft im Büro, man müsse nach Hause, um noch einen schnellen Einkauf zu erledigen, ist dann unglaubwürdig geworden. MATTHIAS STOLZ

Täglich beschallen Dutzende von Straßenmusikern Hannovers Innenstadt mit Gitarren, Panflöten und Saxofonen. Weil die Qualität des Vortrags mitunter zweifelhaft anmutet, fordert der CDUStadtrat Dieter Küßner nun den Eignungstest für Straßenmusiker durch eine fachkundige Jury. In London ist dieser Vorschlag schon Realität. Neben den überall gängigen Verboten für Verstärker und Holzblasinstrumente gelten in anderen Großstädten allerdings noch andere Regeln:

Sie hatte sich viel vorgenommen für ihren Lebensabend: Die Welthandelsorganisation wollte sie zerschlagen, die Rüstungsindustrie zum Teufel jagen. Die britische Geschäftsfrau Anita Roddick war eine Aktivistin mit Millionen in der Tasche. Ihrer Kosmetikkette The Body Shop, die sie 1976 gegründet hatte, verdankte sie ihren Reichtum. Die Tochter italienischer Einwanderer warb bei ihren Kunden mit dem Gefühl, nicht nur sich selbst, sondern auch der Umwelt beim Kauf ihrer Produkte Gutes zu tun. Ihrem Grundsatz »Firmen, die nicht moralisch, sondern nur aus Profitgier handeln, schaden ihrem Geschäft« ist die Ökopionierin immer treu geblieben. Ihre Idee, Produkte mit natürlichen Inhaltsstoffen und ohne Tierversuche herzustellen, wurde vielfach kopiert. Die Kosmetikkette Body Shop unterhält mehr als 2000 Läden in 54 Ländern. Auf die Frage der Queen, die sich bei der Verleihung des Ehrentitels Dame of the British Empire besorgt nach ihren Energiereserven erkundigte, erwiderte Roddick: »Ich brenne lieber aus als dass ich zu Tode roste.« Im vergangenen Jahr hatte sie ihre Firmenanteile dann an den französischen Großkonzern L’Oréal verkauft. Sie habe vor, verteidigte Roddick ihre Entscheidung, mit dem Geld Kampagnen gegen Gewalt, Kinderarbeit und Menschenrechtsverletzungen zu unterstützen. Am Montag starb die 64-Jährige an den Folgen einer Hirnblutung.

A

München: Hier sollte man nicht zu gut spielen, denn große Zuschauermengen führen zum Abbruch des Auftritts. Wien: Straßenmusiker müssen 25 Meter Respektsabstand zu Kirchen halten. Von Beerdigungen haben sie sich ebenso fernzuhalten. London: Um in der U-Bahn spielen zu

dürfen, müssen Musiker ein jährliches Auswahlverfahren durchlaufen. Nur 259 Bewerber erhalten die Erlaubnis. New York: Musizieren unter freiem Him-

mel ist in den USA ein Grundrecht. Die besten Plätze in der New Yorker U-Bahn sind allerdings den knapp 200 Teilnehmern des Music-Under-New-YorkProgramms reserviert. Singapur: Das öffentliche Musizieren

ist erst seit 1994 wieder erlaubt, allerdings nicht für Ausländer. Kuwait: In Kuwait gilt Straßen-

musik als Bettelei und wird mit Gefängnis bestraft.

KARIN CEBALLOS BETANCUR

DIE FRAU in der Mitte ist Star und Anti-Star zugleich: Kate McCann, 39, die Mutter der seit Mai vermissten Madeleine. Hunderte von Einwohnern und Touristen säumten in der vergangenen Woche die Straße im portugiesischen Portimao, an der sich die Büros der Kriminalpolizei befinden. McCann sieht noch aus, wie wir sie aus ihrer weltweiten Medienkampagne kennen: tapfer und entschlossen, alles zu tun, um ihre Tochter zu finden. Mancher wunderte sich über das rechte Verhältnis von öffentlicher Darstellung und privater Trauer. Jetzt ändert sich Kate McCanns Rolle in den Augen der Öffentlichkeit, ohne dass sie noch Kontrolle darüber hätte: Sie und ihr Mann Gerry werden offiziell verdächtigt, in den Tod Madeleines verstrickt zu sein und die Leiche verborgen zu haben. Nun verließen sie Portugal. Und wir, die Zuschauer, suchen in Kate McCanns Gesicht nach dem anderen Film, der womöglich in ihrem Kopf abläuft. SG

FOTO: MIGUEL A. MORENATTI/AP

Restaurant schloss und wie viele Personen sich dort dann noch aufhielten. Vor Gericht geben sich die Angeklagten schweigsam. Als sie in Handschellen einzeln hereingeführt werden, schauen sie teilnahmslos aneinander vorbei. Die Anwälte überhäufen das Gericht zu Beginn mit Anträgen. Die Übersetzer beherrschten den nordvietnamesischen Dialekt eines Angeklagten nicht und seien nicht neutral, weil sie bereits während der Ermittlungen gedolmetscht hätten. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. In der Pause erzählt Karl Ermschl, er habe die Brüder D. in Bremen als ruhige, hart arbeitende Menschen kennengelernt,

DAS RESTAURANT Lin Yue im Februar. Nur das Kind der Wirtsleute überlebte

die gerne kochten und in der Gastronomie arbeiteten. Während einer als Verdächtiger bereits im Februar verhaftet worden war, sei der andere im April noch zu seiner Grillparty gekommen. »Er war vielleicht etwas nachdenklicher als sonst, aber ansonsten unverändert.« Auch die zwei anderen Brüder sollen seit Jahren eher unauffällig in Bremerhaven und Bremen gelebt und sich vor allem in Kreisen vietnamesischer Einwanderer bewegt haben. Wegen Diebstahls und kleinerer Drogendelikte war einer der Polizei bereits bekannt. Die beiden haben Teilgeständnisse abgelegt. Einer sei als Fahrer beteiligt gewesen, der andere sei mit in das Haus gegangen und habe die Opfer gefesselt, von den Schüssen will er aber nichts mitbekommen haben. Die vier Angeklagten sollen sich regelmäßig in einer Spielhalle in Bremen getroffen haben, einem beliebten vietnamesischen Treffpunkt. Irgendwann beim Zocken muss der Plan entstanden sein, ein China-Restaurant außerhalb der Stadt zu überfallen. Die Besitzer des Lin Yue galten unter den asiatischen Einwanderern als reich, sie liebten große Autos und teure Kleidung. Offenbar hofften die Täter, eine große Menge Bargeld zu erbeuten. Circa 8000 Euro, zwei Notebooks und 13 Handys wurden den Mordopfern geraubt. Die Anträge der Verteidiger, die Übersetzer auszutauschen, lehnt das Gericht ab. Kurz nach Verlesung der Anklageschrift gerät die Verhandlung am Dienstag aber erneut ins Stocken. Die Strafkammer sei nicht zuständig, argumentiert ein Verteidiger. Der Prozess könnte wegen der zahlreichen Anträge und der undurchsichtigen Beweislage bis weit ins nächste Jahr andauern. Und die Menschen in Sittensen werden wohl noch lange auf Antworten warten müssen.

Fotos [M] v.l.n.r.: Gero Breloer/dpa - Report; Schneider-Press/NZ; Joerg Sarbach/AP Photo

E

in schmaler, blasser Mann steht vor dem Schwurgerichtssaal des Landgerichts Stade. Der 40-jährige Karl Ermschl schiebt seine Schildmütze hin und her, er beobachtet den Prozess, weil er mit zwei der angeklagten Vietnamesen, den Brüdern D., befreundet gewesen sei, wie er sagt. Einer von ihnen habe zwei Straßen weiter gewohnt, man habe zusammen Kaffee getrunken, sei ein paarmal Billard spielen und in der Disco tanzen gewesen. Aus der Zeitung hat er erfahren, dass die Brüder im niedersächsischen Sittensen sieben Menschen umgebracht haben sollen. »Ich kann es mir nicht erklären, ich hätte ihnen das niemals zugetraut«, sagt er. Nun sitzen die Brüder mit drei anderen Männern auf der Anklagebank. Auch die Menschen in der 5500 Einwohner zählenden Gemeinde Sittensen erhoffen sich von dem Prozess Antworten, die das Unfassbare erklären. »Es kommt jetzt alles erneut hoch«, sagt Bürgermeister Stefan Tiemann. Am Dienstag begann nach mehreren Verzögerungen das Verfahren zu einem der blutigsten Verbrechen der letzten Jahre. Sieben Menschen wurden im China-Restaurant Lin Yue am 4. Februar ermordet: das Wirtsehepaar sowie fünf ihrer Angestellten. Nur die zweijährige Tochter der Besitzer ließen die Täter am Leben, offenbar sahen sie in dem Kind keine Gefahr. Die Morde erinnerten in ihrer Ausführung und Kaltblütigkeit an Hinrichtungen. Weil die Opfer alle aus Asien stammten, spekulierten die Medien unmittelbar nach der Tat, ob es sich um einen Racheakt der chinesischen Mafia oder eine Fehde vietnamesischer Zigarettenschmuggler handelte. »Ganz ausschließen können wir einen Hintergrund der Organisierten Kriminalität nicht«, sagt Burkhard Vonnahme, Sprecher der zuständigen Staatsanwaltschaft Stade. »Die Spuren deuten aber alle in eine andere Richtung.« Nach Einschätzung der Staatsanwälte war ein Raubüberfall geplant, der eskalierte. Gemeinschaftlicher siebenfacher Mord, um eine andere Straftat zu verdecken, lautet die Anklage. Folgendes hat sich demnach abgespielt: Die Täter kamen, nachdem die letzten Gäste das Restaurant gegen elf Uhr verlassen hatten. Einer wartete im Wagen, während drei Männer das Gebäude betraten, sie hatten eine Pistole mit Schalldämpfer dabei. Mit Kabelbindern fesselten sie fünf ihrer Opfer die Hände auf dem Rücken – der Frau des Restaurantbesitzers, zwei Kellnerinnen und zwei Hilfsköchen. Dann begannen sie, Restaurant und angrenzende Wohnungen nach Geld und Wertsachen zu durchsuchen. Doch etwas muss schiefgegangen sein. Offenbar bemerkten sie, dass der Koch sich in der Küche versteckt hatte und versuchte zu fliehen. Die Polizei fand ihn und den Restaurantbesitzer später, von mehreren Kugeln getötet, im Treppenhaus. Um Zeugen zu beseitigen, wurden die gefesselten Opfer anschließend mit Kopfschüssen regelrecht hingerichtet. Auf der Anklagebank des Schwurgerichtssaals sitzen fünf Vietnamesen, zwischen 30 und 42 Jahre alt, zwei Brüderpaare und ein ehemaliger Mitarbeiter des Lin Yue, der Informationen für den Überfall geliefert haben soll. Er kannte die Räume, wusste, wann das

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WIRTSCHAFT

Der Osten blüht Politisch geht es in Polen drunter und drüber. Wirtschaftlich könnte es kaum besser laufen Von Christian Tenbrock Seite 34

Urteil ohne Netz Das Karlsruher Gebührenurteil

Wer soll das bezahlen?

DACH DÄMMEN Kosten 63 750 Euro Energieersparnis 1160 Euro/Jahr SOLARANLAGE FÜR WARMWASSER Kosten 12 500 Euro Energieersparnis 464 Euro/Jahr FASSADE DÄMMEN Kosten 58 800 Euro Energieersparnis 2320 Euro/Jahr NEUE FENSTER Kosten 41 510 Euro Energieersparnis 464 Euro/Jahr

Gut gedämmte Häuser schonen das Klima. Doch viele Vermieter scheuen die Kosten – und die Mieter wollen sie auch nicht tragen VON ULRIKE MEYER-TIMPE

NEUE HEIZUNG Kosten 8600 Euro Energieersparnis 2668 Euro/Jahr KELLERDECKE DÄMMEN Kosten 5000 Euro Energieersparnis 928 Euro/Jahr

Illustration: J. Kaschtalinski/Golden Section Graphics für DIE ZEIT; www.golden-section-graphics.com

A

uf den ersten Blick erscheint alles prima. Mehr Klimaschutz? Wunderbar, denken die meisten Deutschen. Vor allem bei den Wohnhäusern ließe sich viel CO₂ einsparen? Großartig, dann sinken ja gleichzeitig die Energiekosten fürs Wohnen. Doch erst mal sind dafür hohe Investitionen nötig. Auf 60 Milliarden Euro schätzte das Wirtschaftsministerium deren Höhe in den nächsten zwölf Jahren. Die Frage ist: Wer bringt dieses Geld auf? Klimaschutz gibt es nicht zum Nulltarif – weder für Eigentümer noch für Mieter. Bis 2020 sollen die deutschen KohlendioxidEmissionen um 40 Prozent gegenüber 1990 gesunken sein. Das Einsparpotenzial beim Wohnen ist besonders hoch, höher noch als bei der Industrie und dem Verkehr. Deshalb macht die Regierung Druck. Beim Treffen in Meseberg hat das Kabinett fünf neue Vorschriften zu Wohnhäusern angestoßen (siehe Seite 24), bis November sollen sie festgezurrt sein. Harte Auflagen für Neubauten lassen sich leicht durchsetzen, dort ist bereits seit 2002 der Niedrigenergiestandard Pflicht. Das Problem sind ältere Gebäude, die man aufwendig nachrüsten muss. Die Gebäudesanierung würde nicht nur dem Klima helfen: 40 Milliarden Euro an Heizkosten könnten die Deutschen damit bis 2020 sparen, sagt Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee. Das lässt vor allem die Besitzer von Eigenheimen aufhorchen. Schon in den vergangenen Jahren stieg deren Interesse an Energiesparmaßnahmen beträchtlich. Die gemeinnützige Beratungsgesellschaft co2online, Träger der Initiative »Klima sucht Schutz«, hat allerdings festgestellt: Wegen

Die Berechnung bezieht sich auf ein frei stehendes, 1000 Quadratmeter großes Mehrfamilienhaus von 1910 mit ausgebautem Dachgeschoss und Doppelverglasung. Es verbraucht 20 000 Liter Heizöl pro Jahr zum derzeitigen Preis von 11 600 Euro Quelle: co2online

der hohen Kosten verzichtete jeder zweite Interessent dann doch darauf, Modernisierungsvorschläge umzusetzen. Denn nicht dem Klima gilt die primäre Sorge – im Vordergrund steht letztlich das eigene Portemonnaie. Die hohe Investition in die Gebäudedämmung bringt nicht sofort eine verlockende Rendite. Geld für mehr Energieeffizienz auszugeben ist vor allem eine Wette auf die Zukunft – darauf, dass die Energiepreise weiter enorm steigen. Das ist zwar mehr als wahrscheinlich. Doch um davon zu profitieren, muss man einen langen Zeithorizont haben. Wer sich ein Haus oder eine Wohnung kauft, sieht darin meist eine Investition zur Altersvorsorge. Als Rentner möchte er keine Miete zahlen, bis dahin soll die Immobilie schuldenfrei sein. Doch vom kostenlosen Wohnen im Alter kann keine Rede sein, wenn dann horrende Heizkosten anfallen. Deshalb sind Eigenheimbesitzer eher bereit, in

energiesparende Maßnahmen zu investieren: Sie bessern so quasi ihre künftige Rente auf – und investieren in die eigene Zukunft. Auch die großen Wohnungsbaugesellschaften denken langfristig und haben längst begonnen, ihren Bestand energetisch aufzurüsten. »Zwanzig Jahre muss man mindestens rechnen, bis sich wesentliche Veränderungen amortisieren«, sagt Lutz Freitag. Er ist Präsident des Bundesverbands der deutschen Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW) und vertritt rund zwei Drittel aller professionellen Vermieter, insbesondere große Genossenschaften und ehemals kommunale Unternehmen. »Wir sind schon froh, wenn wir so die Vermietbarkeit steigern und keine Verluste eintreten«, sagt er. »Wir machen das, um unsere Bestände für die Zukunft zu erhalten.« Allerdings gehören zwei Drittel der Mietshäuser in Deutschland privaten Eigentümern, darunter sind

viele ältere Menschen. Die scheuen oft die hohen Ausgaben für mehr Energieeffizienz, die sich erst langfristig amortisieren. Zudem fühlen sie sich von der Planung der Maßnahmen häufig überfordert und fürchten Ärger mit Mietern, die sich gegen Baulärm und Mieterhöhungen sperren. »Meine größte Sorge ist die unglaubliche Investitionsträgheit der privaten Vermieter«, sagt Franz-Georg Rips, Präsident des Deutschen Mieterbundes, der mehr Klimaschutz beim Wohnen fordert. Zwar ist die Sanierung von Mietshäusern wirtschaftlicher als die von Einfamilienhäusern, weil nur eine neue Heizung für viele Wohnungen anfällt und vergleichsweise weniger Dach-, Kellerund Fassadenfläche zu dämmen ist. »Doch da haben wir es mit einem Nutzer-Investor-Dilemma zu tun«, sagt Andreas Troge, Präsident des Umweltbundesamtes. Damit beschreibt er eine fatale Situation, die eine umfassende CO₂-Ersparnis bei Deutschlands Wohngebäuden erschwert: Der Vermieter muss große Summen investieren, die Heizkosten aber spart der Mieter. Was also sollte den Hausbesitzer bewegen, das eigene Portemonnaie zu leeren, wenn er keinen Nutzen davon hat? Wie jeder andere wird auch er überlegen, ob sich die Investition für ihn rentiert. »Die Regierung argumentiert: Wenn wir jetzt nichts für den Klimaschutz tun, wird der volkswirtschaftliche Schaden am Ende gewaltig sein – deshalb würden sich die Investitionen allemal rechnen«, sagt Rolf Kornemann, der als Präsident von Haus & Grund die privaten Immobilienbesitzer vertritt. Nur werde sich manch ein Vermieter Fortsetzung auf Seite 24

Es darf ein bisschen mehr sein. Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstag ein Urteil zur Höhe der GEZ-Gebühren verkündet, und damit ist klar: Die Bürger werden in den kommenden Jahren nicht weniger, sondern mehr zahlen müssen. Sowohl im Fernsehen wie auch im Internet dürfen ARD und ZDF weiter wachsen. Dieses Urteil ist gut und schlecht zugleich. Es ahndet einen Rechtsbruch, den die Ministerpräsidenten vor einiger Zeit begingen. Sie sind für die Medienpolitik zuständig und haben im Jahr 2004 die Höhe der Rundfunkgebühr willkürlich festgesetzt, anstatt sich an das vorgesehene Verfahren zu halten. Dass sie damit nicht durchkommen, ist eine gute Sache. In einem zentralen Punkt ist das Karlsruher Urteil aber enttäuschend. Es zeigt, dass die Richter vom Internet und den dortigen Fernseh- und Videoangeboten wenig verstehen. Sie nehmen die wachsende Vielfalt nicht wahr, sie übergehen die Intensität des publizistischen Qualitätswettbewerbs. Stattdessen behaupten sie eine generelle »Standardisierung des Angebots« bei den Privaten. Sie übersehen auch, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinem wachsenden Internetangebot private Konkurrenz verdrängen wird. Die Bedingungen des Fernsehens ändern sich derzeit rasant, und die Medienpolitik steht vor der Aufgabe, jene Rolle zu definieren, die ARD und ZDF im Internet ausfüllen sollen. Frühere Urteile des Bundesverfassungsgerichts waren immer auch hilfreich, die Zukunft des Fernsehens politisch zu gestalten. Das aktuelle Urteil hilft dabei nicht. GÖTZ HAMANN

Weniger Kredite ... ... bedeuten weniger Wachstum Kaum dass der Aufschwung richtig begonnen hat, heißt es wieder Abschied nehmen. Die Krise an den Finanzmärkten greift allmählich auf die reale Wirtschaft über, und das nicht nur in den USA, sondern wohl auch in Deutschland. Die Hoffnung der Banken, die Klemme am Geldmarkt werde sich rasch verflüchtigen, hat getrogen. Die Refinanzierungskosten der Institute verbilligen sich nicht, weshalb nun auch Kredite an Unternehmen und Haushalte teurer werden. Selbst eine Kreditrationierung ist nicht mehr ausgeschlossen. Das bremst. Auf rund einen halben Prozentpunkt weniger Wachstum lauten die ersten Schätzungen für die kommenden zwei Jahre. Und sie stehen unter der optimistischen Annahme, dass es den Notenbanken weiterhin gelingt, die Krise einzudämmen. Sonst droht der Weltwirtschaft eine Rezession. Was tun? Die Europäische Zentralbank muss noch in diesem Jahr die Zinsen senken, zum ersten Mal seit 2003. Und Finanzminister Peer Steinbrück sollte seinen Ehrgeiz aufgeben, einen ausgeglichenen Haushalt hinzulegen oder sogar noch Schulden abzubauen. Das bremst unnötig. ROBERT VON HEUSINGER

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Wer soll das bezahlen? Fortsetzung von Seite 23

fragen, warum ausgerechnet er dafür zahlen solle, dass es nicht so weit komme. »Unsere Klientel muss das Geld dafür aufbringen und profitiert nicht«, sagt Kornemann. Mieterbund-Chef Rips kann diese Einwände zumindest teilweise verstehen. »Der Klimaschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der sich auch die Mieter beteiligen müssen«, sagt er. »Natürlich wird das Wohnen dadurch teurer.« Denn die Vermieter werden versuchen, ihre Ausgaben auf die Miete zu schlagen: Laut Gesetz dürfen sie pro Jahr elf Prozent der Modernisierungskosten umlegen. Doch neue Heizungsanlagen, bessere Fenster und die Fassadendämmung kosten sehr viel Geld. Schon für ein einziges Mehrfamilienhaus kommen schnell weit mehr als hunderttausend Euro zusammen. Entsprechend drastisch könnte die Mieterhöhung ausfallen. »Da ergibt sich dann die Frage, ob der Markt das hergibt«, sagt Mieterbund-Chef Rips. »Womöglich zieht der Mieter einfach aus, obwohl das nicht vernünftig ist.«

»Würden Sie eine höhere Miete akzeptieren, wenn gedämmt wird?« Die Kaltmieten, die der Vermieter kassiert, sind in den vergangenen sieben Jahren kaum gestiegen, die durchschnittlichen Heizkosten explodierten hingegen um fast 70 Prozent. Der Mieter aber unterscheidet meist nicht zwischen beidem und glaubt, seine Miete steige unaufhörlich. Wenn dann wegen Dämmung und neuer Fenster noch eine Erhöhung ansteht, geht er womöglich auf die Barrikaden. Dabei spart er dadurch langfristig Geld. »Würden Sie eine höhere Miete akzeptieren, wenn Ihr Vermieter das Haus besser dämmt oder eine neue, effizientere Heizungsanlage einbaut?«, fragt der Mieterverband auf seiner Homepage – über die Hälfte der Antworten lautet »nein«. Und die Kommentare zeigen, dass vielen der Zusammenhang mit den steigenden Heizkosten nicht klar ist. Mieterverbandschef Rips weiß, dass da noch »sehr viel Aufklärungsarbeit zu leisten« ist. Er sagt: »Die Preisexplosion im Energiesektor wird weitergehen, das müssen sich die Mieter klarmachen. Auch einkommensschwachen Menschen ist nicht damit gedient, wenn sie eine geringe Grundmiete haben, sich aber an den Heizkosten zu Tode zahlen.« Zwar wünscht sich der Mieterbund eine »warmmietenneutrale Sanierung«, also dass man nur genau das an Miete mehr zahlt, was man sofort bei den Heizkosten spart. Doch das wird nicht zu erreichen sein. Seit dem Jahr 2000 hat die WBG Nürnberg, die zu 40 Prozent der Stadt gehört, knapp ein Viertel ihrer 18 000 Wohnungen energetisch modernisiert. Bevor sie ein neues Projekt beginnt, studiert sie ge-

nau ihr Portfolio: Bei welchem Haus erreichen wir mit geringstmöglichem Aufwand den größten Effekt – und wo gibt die Miete eine Erhöhung überhaupt her? Nicht bei jedem Gebäude lohnt sich der Aufwand. Schon deshalb ist es schwierig, die Sanierung aller alten Häuser gesetzlich zu erzwingen. Die durchschnittlichen Heizkosten betragen heute etwa einen Euro pro Quadratmeter. Bei einem Haus, das die WBG kürzlich besonders energiesparend modernisierte, hätte die Mieterhöhung aber 2,51 Euro pro Quadratmeter betragen müssen, wenn das Unternehmen die erlaubten elf Prozent der Kosten auf die Jahresmiete umgelegt hätte. Um die Mieter nicht allzu sehr zu schocken, bürdet die Gesellschaft ihnen deshalb anfangs meist nur sechs bis acht Prozent ihrer Kosten auf und vereinbart lieber eine Staffelmiete. Dass eine Umrüstung zum Niedrigenergiehaus für den Mieter sofort plus/minus null ausgehen könnte, hält WBG-Geschäftsführer Peter Richter für ausgeschlossen: »Die Warmmiete steigt unter Umständen um 1,50 Euro pro Quadratmeter.« Die Bewohner müssen also bereit sein, ebenfalls eine Wette auf steigende Energiekosten einzugehen: Was sie heute mehr zahlen, werden sie eines Tages sparen – falls sie dann noch in der Wohnung leben. »Aber die Leute arbeiten heute in Nürnberg und morgen in Hamburg«, sagt Richter. Seine jungen Mieter lebten im Schnitt nur drei Jahre lang in der Wohnung. Rein finanziell gesehen, wird es sich für sie nicht lohnen, eine höhere Miete hinzunehmen. Um ihnen den Sinn der anstehenden Bauarbeiten und die Gründe für die folgende Mieterhöhung zu erklären, muss der Vermieter vorab intensiv mit den Bewohnern kommunizieren. WBG-Chef Richter hat dabei schon alle Varianten erlebt. Mal gibt es nicht eine Beschwerde; mal sind die Mieter erst sperrig und später begeistert; dann wieder verweigern sich die Bewohner eines Hauses total. Was in einem solchen Fall geschieht? »Dann machen wir eben nichts«, sagt Richter. »Das können wir nicht durchhalten, um den Zugang zu jeder Wohnung und jede einzelne Mieterhöhung lauter Prozesse zu führen.« Er fordert deshalb eine Änderung des Mietrechts, damit sich die Bewohner gegen die energetische Sanierung mit all ihren Konsequenzen nicht wehren können. Nur so sei eine umfassende Sanierung der älteren Häuser überhaupt denkbar. Das würde allerdings nichts daran ändern, dass der Vermieter die anstehende Mieterhöhung ausführlich begründen muss. Er muss den bisherigen und den künftigen Zustand des Hauses ausführlich dokumentieren und die daraus folgende Energieeinsparung genau berechnen, stellte der Bundesgerichtshof im vergangenen Jahr fest. Zudem soll bei jeder Maßnahme klar sein, wie hoch der Moderni-

Die zweite Miete Entwicklung von Gaspreis und Kaltmieten im Vergleich 200

indiziert 2000 = 100

Gas

150

100

Kaltmiete

50 Jan. 2000

Juni 2007

ZEIT-Grafik/Quelle: Destatis

sierungs- und wie hoch der Instandsetzungsanteil ist. Wenn nämlich die Fenster ohnehin erneuert werden müssten, darf den Mietern nur ein Teil der Kosten aufgebürdet werden. Große Wohnungsbaugesellschaften wie die Berliner HoWoGe setzen deshalb zwölfseitige Schreiben an ihre Mieter auf. Private Eigentümer hingegen sehen sich von solchen Prozeduren meist überfordert. Sie bringen ihr Haus selten komplett, sondern allenfalls Stück für Stück in Schuss, zumal es ihnen oft an Geld fehlt für die Generalmodernisierung.

Die neue Heizung rechnet sich schnell, neue Fenster lohnen sich oft nicht Wenn ein Altbau vom Dach bis zur Kellerdecke komplett modernisiert wird, kann man ohne Weiteres 70 Prozent der Heizkosten sparen. »Dabei muss man realistischerweise mit Investitionen von etwa 250 Euro pro Quadratmeter rechnen, bei Einfamilienhäusern sogar mit bis zu 350 Euro«, sagt Peter Hennig. Als Energieberater entwickelt der Berliner konkrete Sanierungspläne und rechnet dabei aus, wie viel Heizkosten sich durch welche Maßnahme sparen lassen. Allgemeingültige Aussagen dazu gibt es nicht, weil der gegenwärtige Zustand jedes Hauses anders ist. Meist sei aber der Austausch der Heizung am wirtschaftlichsten, weil in Deutschlands Häusern viele veraltete Anlagen stünden: Da sei dann die Energieeinsparung besonders hoch im Vergleich zur Investition. Der teure Fensteraustausch hingegen rechne sich meist nicht so

schnell, weil es kaum noch Wohngebäude mit Einfachverglasung gebe. Selbst Institutionen wie das Bundesumweltamt oder das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gehen nicht davon aus, dass ein Eigentümer sein Haus energetisch aufrüsten lässt, wenn nicht ohnehin Sanierungsarbeiten anstehen. »Das Dämmen der Fassade etwa ist nur wirtschaftlich, wenn sie sowieso gestrichen und dafür ein Gerüst aufgebaut werden muss«, sagt Stefan Thomas vom Wuppertal Institut. »Mit der Dämmung von Keller- und oberster Geschossdecke ist das anders, die kann man jederzeit veranlassen.« Wie sein Institut die Wirtschaftlichkeit definiert? »Am Ende der Nutzungsdauer müssen die Investitionen einschließlich der Kreditzinsen den eingesparten Energiekosten entsprechen«, sagt Thomas. »Und wenn Eigenkapital eingesetzt wurde, muss es die marktüblichen Zinsen gebracht haben.« Wenn die Sanierung ein Bündel von Maßnahmen umfasst, geht Thomas von durchschnittlich 25 Jahren Nutzungsdauer aus, spätestens dann muss ohnehin wieder investiert werden. Vermieter wie die Nürnberger WBG rechnen ähnlich. Nur setzen sie statt der eingesparten Energiekosten den Modernisierungsaufschlag auf die Miete ein. Der verhindert allerdings künftige Mieterhöhungen, weil dafür Vergleichswohnungen als Maßstab gelten, die möglicherweise unsaniert sind. Deshalb müsste der Mietspiegel, der die erlaubten Erhöhungen definiert, zwischen Energiesparhäusern und unsanierten Gebäuden unterscheiden, fordern die Vermieterverbände. Und auch Mieterbund-Präsident Rips meint, dass der Mietspiegel an die Energieeffizienz des Hauses gekoppelt sein sollte. Tatsächlich müsste es mehr Anreize geben, damit die Vermieter älterer Häuser ihre Gebäude energetisch modernisieren. Umweltamtspräsident Troge könnte sich sogar vorstellen, den Mietspiegel von der Kalt- auf die Warmmiete umzustellen. Wichtig wäre ihm auch, dass die Vorschriften für die Energieausweise noch mal geändert werden, die von nächstem Jahr an Pflicht sind. Dann muss der Vermieter oder Verkäufer von Wohngebäuden einen solchen Ausweis vorlegen, der anhand einer Farbskala von Grün bis Rot den energetischen Zustand des Hauses dokumentiert. Allerdings darf er dabei auch einfach den derzeitigen Verbrauch zugrunde legen, der je nach Bewohner stark schwankt. Troge fordert hingegen, dass es ausschließlich bedarfsorientierte Ausweise geben sollte, die den baulichen Zustand des Hauses beschreiben. Er

sagt: »Wenn ich ein Auto kaufe, orientiere ich mich doch auch nicht am Verbrauch des Vorbesitzers, sondern an dem, was der Wagen grundsätzlich schluckt.« Der Energieausweis wird künftig das Bewusstsein der Mieter für die anfallenden Heizkosten schärfen – und damit auch das der Vermieter für notwendige Energiesparmaßnahmen. Doch damit sie die wirklich umsetzen, brauchen die privaten Eigentümer Unterstützung, hat das Wuppertal Institut erkannt. Es schlägt die Förderung regionaler Beratungsstellen vor, die sanierungswilligen Immobilienbesitzern rundum helfen – bei der Analyse möglicher Investitionen und dem Beantragen von Förderkrediten, beim Umgang mit den Mietern und der Auswahl von Handwerkern, die das Projekt fachkundig und kostengünstig umsetzen. Ein solches Angebot würde das Tempo der Gebäudesanierung in Deutschland sicher steigern, ganz wie es die Regierung aus gutem Grund wünscht. Allerdings wird sich die Politik auch mit den Folgen auseinandersetzen müssen. »Es muss eine Debatte darüber geführt werden, dass wir mit Sicherheit höhere Wohnkosten bekommen werden«, sagt GdW-Chef Freitag und denkt dabei unter anderem an die Lage mancher Rentner. Schon heute führt die Nürnberger WBG endlose Diskussionen mit der Behörde, die für Hartz IV zuständig ist, damit die Mieter nach der energetischen Modernisierung in ihren nun teureren Wohnungen bleiben dürfen. So wird der Staat wohl nochmals seine Kassen öffnen müssen, über die Zuschüsse für verbilligte Sanierungskredite hinaus – für eine Erhöhung des Wohngelds. MITARBEIT: MARTIN HINTZE i Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/arbeit

Fordern und fördern Die Bundesregierung setzt Hausbesitzer unter Druck Auf ihrer Kabinettsklausur im brandenburgischen Meseberg hat die Bundesregierung ein milliardenschweres Klimaschutzprogramm beschlossen. Fünf der 29 Eckpunkte betreffen Wohngebäude

Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz Der Einsatz

von erneuerbaren Energien für Heizung und Warmwasser soll Pflicht werden. Bislang liegt deren Anteil insgesamt bei sechs Prozent, künftig soll er bei jedem Neubau mindestens 15 Prozent betragen. Bei Altbauten werden zehn Prozent vorgeschrieben – allerdings nur dann, wenn ohnehin eine »grundlegende Sanierung« ansteht. Neben Solarthermie sind auch Wärmepumpen, Holzpelletheizungen und Kraft-Wärme-Kopplung zugelassen, um die neuen Vorschriften zu erfüllen. Alternativ kann das Haus besser gedämmt werden. Zugleich plant die Bundesregierung, das Förderprogramm Erneuerbare Energien von 213 auf 350 Millionen Euro pro Jahr aufzustocken. Aus diesem Topf erhalten vor allem diejenigen Zuschüsse, die die gesetzlichen Quoten übererfüllen oder besonders innovative Technologien einsetzen. Energieeinsparverordnung Von 2020 an sollen

in Neubauten Heizungen ohne fossile Energieträger laufen. Zusätzlich werden die Anforderungen bei Nachrüstungen verschärft – bei einem Austausch der Heizung muss die neue Anlage beispielsweise 30 Prozent effizienter arbeiten. Das soll die Energieeinsparverordnung (EnEV) von 2009 an vorschreiben. Bislang regelt sie beispielsweise, welche Fenster eingebaut und welche Dämmstoffe benutzt werden dürfen. Allerdings wird es Ausnahmen geben, da die Vorschriften »im Rahmen der wirtschaftlichen Vertretbarkeit« und »unter Berücksichtigung finanzieller Härtefälle« gelten. Für den Austausch der umweltschädlichen Nachtspeicherheizungen ist eine Übergangsfrist von zehn Jahren geplant, Härtefälle bleiben ebenfalls verschont. CO2-Gebäudesanierungs-Programm Bis 2011 sollen jährlich 700 Millionen Euro aus Steuermitteln für energiesparende Sanierungen zur Verfügung stehen. Mit dem Geld ermöglicht der Staat die günstigen Kredite der KfW-Förderbank. Auch für 2008 und 2009 hatte er jeweils 700 Millionen Euro für die Subventionierung der Darlehen eingeplant. Nach Auskunft der KfW-Bankengruppe war die Nachfrage bereits im vergangenen Jahr so stark, dass der Bund Mittel nachschießen musste. Wer die günstigen Kredite bekommen will, muss strenge Auflagen erfüllen. Es wird nur die Kombination mehrerer Sanierungen unterstützt, etwa wenn gleichzeitig das Dach und die Außenwände ge-

VON MARTIN HINTZE

dämmt sowie die Fenster oder die Heizung erneuert werden. Die Zinsen liegen derzeit bei 2,52 Prozent, die Zinsbindung beträgt zehn Jahre. Tilgungszuschüsse gibt es für die Hausbesitzer, die die Anforderungen der Energieeinsparverordnung übererfüllen. Die KfW vertreibt die Darlehen allerdings nicht direkt, sondern nur über die Hausbanken, die damit für die Bonitätsprüfung zuständig sind und das Ausfallrisiko tragen. Wer sein Haus bereits hoch beliehen hat oder aufgrund seines Alters als nicht mehr kreditwürdig gilt, könnte es schwer haben, Geld zu bekommen. Betriebskosten bei Mietwohnungen Bei der Heiz-

kostenabrechnung soll der Verbrauch des jeweiligen Haushalts mehr Gewicht bekommen. Derzeit sind nur 50 bis 70 Prozent der Heizkosten verbrauchsabhängig, der Rest wird auf alle Mieter je nach Wohnfläche umgelegt. In Zukunft sollen de Bewohner mehr davon profitieren, wenn sie ihre Heizkörper runterdrehen. Denn es gilt die Faustregel: Ein Grad mehr Raumwärme verursacht sechs Prozent mehr Heizkosten. Großes Konfliktpotenzial birgt der Vorschlag, dass Mieter bei einem gravierenden Verstoß des Vermieters gegen Energiestandards den Heizkostenbetrag kürzen können sollen. Zudem will die Bundesregierung klären, wie groß die Energieeinsparung durch Contracting ist. Dabei überlässt der Eigentümer eines Hauses per Vertrag (contract) Einbau und Betrieb der Heizungsanlage einem spezialisierten Dienstleister. Die Mieter zahlen für die Wärme direkt an das Unternehmen, das im Gegenzug für die Instandhaltung aufkommt. Intelligente Stromzähler Die Bundesregierung will die veralteten Drehstromzähler innerhalb von sechs Jahren durch intelligente Messgeräte ersetzen, die allerdings noch nicht auf dem Markt sind. Mit ihnen sind monats- und tagesgenaue Auswertungen möglich, die Stromfresser entlarven sollen. Statt den Haushalten die Anschaffungskosten von rund 100 Euro aufzubürden, erhofft sich die Regierung den Einzug der neuen Messtechnik durch mehr Wettbewerb beim Stromablesen. Derzeit ist immer der Netzbetreiber dafür zuständig – das soll sich nun ändern. Das Energiewirtschaftsrecht soll so schnell wie möglich entsprechend angepasst werden. Zudem hofft die Regierung darauf, dass durch die genauere Messung des Stromverbrauchs neue Tarife auf den Markt kommen, die auch für Privathaushalte nachts günstigeren Strom anbieten. Unter Umständen könnten dann rumpelnde Waschmaschinen zur Schlafenszeit für Ärger in Mietshäusern sorgen.

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WIRTSCHAFT

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Abgerechnet wird auf Bali

D

icke Regentropfen trommeln an das Fenster hinter Nobuo Tanaka. Der Japaner steht am Montag dieser Woche zum ersten Mal als Direktor der Internationalen Energieagentur (IEA) in der Öffentlichkeit. Und das nicht am Stammsitz in Paris, sondern in Berlin. Was er verkündet, ist so trist wie das Wetter. Die Menschen verschwendeten weiterhin gewaltige Mengen Energie mit ihren Elektrogeräten zu Hause, beim Autofahren und in Fabriken. Die Effizienz beim Energieverbrauch wachse nur noch halb so schnell wie in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die Industriestaaten befänden sich »eindeutig nicht« auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft, sagt Tanaka streng – und schiebt eine Botschaft hinterher. »Wir müssen sehr entschlossen handeln, und zwar schnell!« Eigentlich ist diese Botschaft für jene Leute gemeint, die gerade ein paar Kilometer entfernt am Pariser Platz sitzen. Dort beraten nämlich zur selben Stunde die Umwelt- und Energieminister aus zwanzig Staaten über den klimafreundlichen Umbau der Energiesysteme. Es sind die Staaten, die besonders viel Energie konsumieren (Grafik) – und dadurch die Atmosphäre besonders stark aufheizen. Im Jahr 2005, auf dem G8-Gipfel in Gleneagles, gelobten sie Besserung und beschlossen diese regelmäßigen Treffen und die regelmäßige Berichte der IEA. Sie haben schon in St. Petersburg und Heiligendamm getagt. Sie haben ernste Gesichter gemacht und ihr Versprechen erneuert, künftig deutlich effizienter zu wirtschaften, in saubere Technologie zu investieren und diese um die Welt zu tragen. »Jedes Abwarten kostet Geld«, steht auch in der Berliner Abschlusserklärung. Das Treffen in Berlin ist allerdings mehr als eine weitere Bestandsaufnahme. Es ist ein Auftakt. Im Dezember reisen Abgesandte aus aller Welt auf die indonesische Insel Bali und beginnen komplizierte Verhandlungen. Im besten Fall beschließen sie dort ein Mandat. Damit könnten sie 2008 Verhandlungen über ihr ganz großes Ziel beginnen: ein neues Weltklimaschutzabkommen, ein Post-Kyoto-Protokoll. Darin sollen sich alle Länder von Australien bis zu den USA zum Klimaschutz verpflichten. Es müsste bis Ende 2009 fixiert sein, um wie geplant nach 2012 in Kraft zu treten.

Hans Joachim Schellnhuber, ein weltweit anerkannter Klimaforscher aus Potsdam und zudem Berater von Kanzlerin Angela Merkel, nennt das begonnene Verhandlungsmarathon »ein globales Spiel um den höchstmöglichen Einsatz«. Klimabeauftragte jetten um die Welt. Amtierende und pensionierte Regierungschefs, Diplomaten, Umweltschützer, UN-Beauftragte, Konzernlenker und andere Enthusiasten sammeln Ideen und Stimmungen, entwerfen Konzepte und produzieren Papiere, chambrieren und antichambrieren. Vergangene Woche in Sydney, diese Woche in Berlin. Und bevor es zum Jahresende nach Bali geht, wird auch noch Wichtiges, vielleicht Entscheidendes in kleineren Runden geschehen. Zum Bespiel am 20. September in New York. Dort treffen sich die Außenminister der mächtigsten acht Industriestaaten. Vier Tage später tagen die Vereinten Nationen. Angela Merkel wird grundsätzlich Verbindliches zum Klima sagen. Weitere zwei Tage später wird US-Präsident George W. Bush mit den größten Klimasündern der Welt in Washington um die ideelle Vorherrschaft in der Klimafrage pokern. Und so weiter.

Die einen wollen neue Pflichten, die anderen freiwillige Lösungen Zwei Lager wollen den Kurs zur Klimarettung bestimmen. Das eine Lager wirbt für völkerrechtlich verbindliche Regelungen, um den Ausstoß des Klimagases CO2 zu verringern – allen voran die Europäische Union. »Eurozentristen« nennt sie der Klimaforscher Schellnhuber. Ihnen gegenüber sitzen die Befürworter freiwilliger Absichtserklärungen – vor allem Australien, die USA und einige asiatische Staaten. Das sind die »Amerikazentristen«. So kann man den Terminkalender der nächsten Monate auch lesen als das Drehbuch für einen Schlagabtausch dieser beiden Klima-Lager. Erst treffen sich die Eurozentristen, kurz darauf die Amerikazentristen. Dann prallen die Lager aufeinander. Dann geht es wieder von vorn los. Der Streit der Industriestaaten um das richtige Modell berge die große Gefahr, »dass uns die Schwellen- und Entwicklungsländer irgendwann die kalte Schulter zeigen«, warnt der Potsdamer

Wissenschaftler. Staaten wie Brasilien, Indien und China in Verpflichtungen einzubinden sei indes »entscheidend über Erfolg oder Misserfolg«, weiß Mohamed El-Ashry, Berater im UNKlimasekretariat und selbst einst Konzernchef. Eine Reihe pensionierter Politstars will beim Vermitteln helfen, mischt sich aber auch in die Debatte ein. Ricardo Lagos gehört dazu, der ehemalige Präsident Chiles und jetzige Chef des Club de Madrid. Das ist eine Vereinigung, in der sich mehr als zwanzig ehemalige Regierungschefs versammelt haben. Im Namen dieses Clubs schlug Lagos in Berlin vor, mittelfristig einen 50Millionen-Dollar-Fonds einzurichten, aus dem beispielsweise der Transfer grüner Energien in die vom Klimawandel am stärksten betroffenen Entwicklungsländer finanziert werden könnte. Gro Harlem Brundtland gehört auch dazu. Die Norwegerin war erst Umweltministerin und später Premierministerin. Jetzt reist sie im Auftrag von UN-Chef Ban Ki Moon um die Welt und sammelt nationale Klimakonzepte, »damit bei den Vereinten Nationen ein Konsens gefunden werden kann«. Auch der ehemalige US-Senator Timothy Wirth ist im Auftrag der UN unterwegs und schürt die Hoffnung, dass ökologisch interessierte Gouverneure wie Arnold Schwarzenegger (Kalifornien), Charlie Crist (Florida) oder Eliot Spitzer (New York) bald den Ton im Land des Umweltschutzverweigerers George W. Bush angeben könnten. Wozu braucht man überhaupt ein neues Klimaschutzabkommen? Der deutsche Wissenschaftler Schellnhuber sagt, dass das bisherige Kyoto-Abkommen einfach nicht reiche. Die schon beschlossenen Verpflichtungen zur Reduzierung der klimaschädlichen Treibhausgase seien »völlig ungeeignet und unterdimensioniert«. Kyoto habe auch deshalb nicht zu sinkenden Emissionen geführt, weil nicht alle Staaten der Welt es ratifiziert hätten und sein Ende absehbar sei. Im Zweifel entscheide sich ein Land eher für Wirtschaftswachstum heute als für die Zukunft der Menschheit. Deshalb fordert der Merkel-Berater ein »kraftvolles Nachfolgeregime, das drei entscheidende Elemente vereint, nämlich Ökologie, Ökonomie und Soziales«. Das ökologische Langfristziel: Es soll auf der Erde höchstens zwei Grad heißer sein als vor der Industrialisierung. Soziales Lang-

Foto [M]: Dennis McDonald/INDEX Stock/Avenue Images

DICKE LUFT in Port Huron im USStaat Michigan

Ein neues Abkommen soll den globalen Klimaschutz befördern. Aber Europa und Amerika sind sich noch uneinig VON CERSTIN GAMMELIN

fristziel sei das »gleiche Recht auf gleiche Emissionen für jedermann«. Und an dem »globalen Handel mit Emissionsrechten« führe kein Weg vorbei. »Kohlenstoff muss einen angemessenen Preis bekommen.« Freilich, der Wissenschaftler ist auch Realist. Sein Konzept setze »auf die ideale Welt mit idealen Verhandlungen und einem idealen Deal«. Wahrscheinlich bliebe in Bali »nicht viel davon übrig«.

Gemeinsam für die Erderwärmung CO2-Emissionen der Länder in Millionen Tonnen pro Jahr (CO2-Emissionen in Tonnen pro Kopf) 5799,9 (19,73)

USA

Sind Angela Merkels ökologische Forderungen zu radikal? Die Eurozentristen hoffen auf Angela Merkel. Allen voran Schellnhuber. Die deutsche Kanzlerin könne als G8-Chefin und mächtigste Frau der Welt »die sensiblen Verhandlungen entscheidend beeinflussen«. Mit ihrem jüngsten Vorschlag, langfristig jedem Menschen die gleiche Menge CO2 zu genehmigen, habe sie »die Tür geöffnet, durch die die Schwellen- und Entwicklungsländer gehen könnten«. Schellnhuber hat auch dafür die konkrete Zahl parat: Im Jahr 2050, wenn voraussichtlich rund neun Milliarden Menschen auf dem Erdball wohnen, könnte jeder nur noch jährlich zwei Tonnen Treibhausgase ausstoßen, ohne die Natur aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dafür müssten die Industriestaaten ihre Emissionen um 85 Prozent reduzieren. Die Emissionen der Schwellenländer dürften noch langsamer anwachsen und müssten spätestens in zwanzig Jahren auf etwa die Hälfte des heutigen Niveaus sinken. Eine Utopie? Nicht nur hiesige Wirtschaftsführer sprechen von der drohenden »Deindustrialisierung«. Auch Brundtland ist verwundert. Bei einem Abendessen im Hotel Adlon verpackt sie ihr Erstaunen in diplomatische Worte. Merkels Idee sei ein »interessanter Gedanke und langfristig ein ganz neuer Weg«, sagt sie zwischen grünem Salat und Fisch. »Er würde die Basis unserer Diskussionen ändern.« Viele Staaten hätten bisher eine Diskussion über einen solchen Plan blockiert. Als das Dessert serviert wird, ist die Norwegerin mit ihren Gedanken schon zwei Wochen weiter. Auf der UN-Vollversammlung werde Merkel ja sprechen, sagt sie versöhnlich. »Sie wird ihren Vorschlag erläutern.« Dann sind es noch immer zehn Wochen bis Bali.

4732,3 (3,65)

China Russland

1528,8 (10,63)

Japan

1215,0 (9,52)

Indien

1102,8 (1,02)

Deutschland

846,6 (10,29)

Kanada

550,9 (17,24)

Großbritannien

537,0 (8,98)

Italien

462,3 (7,95)

Südkorea

462,1 (9,61)

Frankreich

386,9 (6,22)

Mexiko

373,7 (3,59)

Australien

354,4 (17,53)

Südafrika

343,4 (7,54)

Indonesien

336,3 (1,55)

Brasilien

332,3 (1,76)

Spanien

329,8 (7,72)

Polen

296,1 (7,75)

Portugal

60,3 (5,73)

Nigeria

48,0 (0,37)

Welt

26583 (4,18)

ZEIT-Grafik/Quelle: Int. Energieagentur, alle Zahlen 2004

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WIRTSCHAFT

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DIE ZEIT Nr. 38

Denkpause im toten Winkel: Autohändler auf der ESSEN MOTOR SHOW

Foto: ullstein

»Das Auto macht uns total verrückt« Wir legen immer größere Distanzen zurück, um dieselben Bedürfnisse zu befriedigen. Ein Gespräch mit dem Verkehrswissenschaftler Hermann Knoflacher Professor Hermann Knoflacher lehrt seit mehr als 30 Jahren am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien. Der 67-Jährige wurde durch seine Konzepte für Wien bekannt. Er entwickelte Fußgängerzonen, legte die Straßenbahn auf Trassen und schlug ein Radwegenetz vor

DIE ZEIT: Lehnen Sie das Auto ab? Hermann Knoflacher: Ich lehne das Auto nicht ab.

Aber ich bin mir bewusst, was es für unsere Gesellschaft bedeutet. ZEIT: Fahren Sie selbst Auto? Knoflacher: Ich besitze keines, aber ich fahre hin und wieder auch selbst. ZEIT: Welchen Einfluss hat denn die Motorisierung auf unsere Gesellschaft? Knoflacher: Einen unglaublichen Einfluss. Das Auto ist wie ein Virus, das sich im Gehirn festsetzt und Verhaltenskodex, Wertesystem und Wahrnehmung total umkehrt. Ein normaler Mensch würde unseren derzeitigen Lebensraum als total verrückt ANZEIGE

bezeichnen! Wir ziehen uns mehr oder weniger freiwillig in abgedichtete Häuser mit Lärmschutzfenstern zurück, um den Außenraum dem Krach, dem Staub und den Abgasen der Autos zu überlassen. Das ist doch eine völlige Werteumkehr, die uns nicht einmal mehr auffällt. ZEIT: Wie kam es Ihrer Meinung nach dazu? Knoflacher: Unser Problem ist der aufrechte Gang. Wir benötigen verhältnismäßig viel Muskel- und Steuerungsenergie zur Stabilisierung unseres Körpers. Denken Sie an die Bewegungsschwierigkeiten unter Alkoholeinfluss. Im Auto verbrauchen wir nur ein Sechstel unserer Körperenergie und haben den Eindruck, wahnsinnig schnell und stark zu sein. Das ist eine Komponente. Die andere ist die Vorgabe an die Stadtplanung, das Auto in unmittelbarer Nähe zu allen Aktivitäten unterzubringen.

Damit zerstört man den natürlichen Lebensraum, den öffentlichen Verkehr, die Nahversorgung und letztlich auch das soziale Netz, das der Mensch im Laufe von Jahrtausenden aufgebaut hat. ZEIT: Das Auto macht die Evolution zunichte? Knoflacher: Nein, aber die menschlichen Errungenschaften der letzten Generationen sind durch das Auto zerstört worden. ZEIT: Bedeutet das Zeitalter des Autos unseren kulturellen Untergang? Knoflacher: Das würde ich so nicht sagen, denn der kulturelle Untergang ist meiner Meinung nach kein wirkliches Problem. Damit bricht ja nur eine sehr späte Evolutionsschicht weg. Viel schlimmer sind die fortlaufenden, strukturellen Zerstörungen, die das Auto anrichtet. ZEIT: Ist Autofahren eine Sucht? Knoflacher: Auf jeden Fall! Das Auto ergreift vom Menschen Besitz. Der Autofahrer unterscheidet sich ja vom Menschen mehr als jedes Insekt. ZEIT: Wie meinen Sie das? Knoflacher: Insekten haben mit dem Menschen gemeinsam, dass sie Mobilität mit ihrer eigenen Körperenergie bewältigen. Der Autofahrer muss das nicht. Und es gibt keine Insekten, die aus Bequemlichkeit den Lebensraum ihrer Nachkommen zerstören oder sich so schnell bewegen, dass sie sich dabei selbst töten. ZEIT: Wie mobil sollte eine Gesellschaft denn Ihrer Meinung nach sein? Knoflacher: Jede Gesellschaft muss mobil sein, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Könnten wir alle unsere Bedürfnisse vor Ort erfüllen, wären wir Pflanzen, keine Menschen. Menschliche Mobilität entsteht immer infolge einer Mangelerscheinung vor Ort. ZEIT: Warum sind wir auf unsere Mobilität stolz? Knoflacher: Sie sprechen von technischer Mobilität. Auf Mobilität an sich waren wir, historisch gesehen, keineswegs stolz. Im Gegenteil: Mobilität war immer ein Ballast. Sesshaft zu werden bedeutete die Befreiung von der Zwangsmobilität. Man war geistig mobil genug, um zu wissen, wie man Pflanzen züchtet und Tiere domestiziert. ZEIT: Ist das der Grund, warum Begriffe wie Zigeuner oder Landstreicher Schimpfworte sind? Knoflacher: Ist doch klar: Die Sesshaften haben ihr Territorium erobert und jedem anderen den Zutritt verwehrt. Sesshaftigkeit funktioniert nach dem Prinzip der Exklusivität. Die Nomaden machen den Sesshaften ihre Raumressourcen streitig und werden dafür gehasst. ZEIT: Sie sind ein Kritiker des Verkehrswesens und zugleich Planer. Wie passt das zusammen? Knoflacher: Am Beginn meiner Karriere entdeckte ich, dass das traditionelle Verkehrswesen auf bloßen Annahmen basiert. Die Folgen für die Gesellschaft oder die Ökologie wurden lange Zeit nicht einmal angedacht. Kein Mensch achtete darauf, ob Lärm- oder Abgasprobleme entstehen, ob Menschen sterben, die Wirtschaft verändert oder Arbeitslosigkeit geschaffen wird. Mein Ziel ist es, die Verkehrsplanung auf wissenschaftliche Grundlagen zu stellen. Unter diesem Aspekt halte ich das Verkehrswesen für eines der spannendsten wissenschaftlichen Gebiete, die es derzeit gibt. ZEIT: Sie kritisieren die mangelnde Vernetzung der Verkehrsplanung mit anderen Disziplinen.

Knoflacher: Ja. Die Kernthesen des Verkehrswesens sind meines Erachtens völlig falsch! Die Idee des Mobilitätswachstums beruht auf einer unvollständigen Betrachtung des Systems. Man nahm an, dass mit zunehmender Motorisierung die Mobilität steigt. Mittlerweile weiß man aber, dass nur die Anzahl der Autofahrten steigt, die Summe der getätigten Wege aber gleich bleibt, weil die Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln und die Fußwege gleichzeitig abnehmen. Die zweite falsche Annahme ist jene der Zeitersparnis durch Geschwindigkeitserhöhung. Diese These bildet die Grundlage vieler Wirtschaftlichkeitsberechnungen in der Verkehrsplanung. Tatsächlich gibt es keine Zeiteinsparung durch höhere Geschwindigkeiten. Es steigen nur die Entfernungen bei gleicher Wegzeit. ZEIT: Wie weist man so etwas nach? Knoflacher: Indem man das menschliche Zeitbudget kritisch betrachtet. Interessanterweise ist die Zeit, die täglich für Mobilität aufgewandt wird, rund um den Globus mehr oder weniger konstant. Allerdings sind die bewältigten Distanzen unterschiedlich. Der Philosoph Ivan Illich hat in den sechziger Jahren nachgewiesen, dass die Energiemenge, die der Mensch in das Auto und die zugehörige Infrastruktur investiert, ausreichen würde, um die gleiche Distanz zu Fuß zurückzulegen – und das in einer wesentlich schöneren und ruhigeren Umgebung. Wir wissen, dass höhere Geschwindigkeiten keine reale Zeitersparnis bringen! ZEIT: Aber wächst nicht die Mobilität einer Gesellschaft, wenn sie größere Distanzen bewältigt? Knoflacher: Nein. Ganz im Gegenteil. Die zusätzliche Distanz ist ja zwecklos. Der Mensch legt die größeren Entfernungen zurück, um dieselben Bedürfnisse zu befriedigen wie zuvor. Er macht dasselbe wie früher, nur fährt er dafür weiter. ZEIT: Aber wir erweitern doch unseren Horizont. Knoflacher: Wie soll sich der Horizont erweitern, wenn ich an meiner Umgebung mit 100 Stundenkilometern vorbeirase? Sie engen Ihren Horizont aufgrund der schnellen Bewegung extrem ein! ZEIT: Man nimmt andere Dinge wahr, wenn man nach Indien in Urlaub fährt statt nach Bayern. Knoflacher: Es kommt nicht darauf an, wohin Sie fahren, sondern was Sie dort entdecken. Auf einem ausgetretenen Touristenpfad in Indien erleben Sie auch nicht mehr als in Bayern. Ganz im Gegenteil können Sie mit Wachsamkeit und Neugier in Bayern Dinge entdecken, die Sie in Indien nicht finden. Geschwindigkeiten, die unsere evolutionär gewachsenen Möglichkeiten überschreiten, übersteigen auch unsere Wahrnehmung. Wir sind den Distanzen, deren Bewältigung wir technisch ermöglicht haben, geistig nicht gewachsen. ZEIT: Aber wir fühlen uns mächtig. Knoflacher: Selbstverständlich. Mobilität bedeutet immer Macht. Studien belegen übrigens, dass Eltern keine Rücksicht auf ihre eigenen Kinder nehmen, wenn sie zwischen einem Parkplatz vor der Haustür und einer verkehrsberuhigten Zone wählen müssen. Die Bewegungseinschränkung, ja sogar die Todesgefahr für den eigenen Nachwuchs wird bewusst in Kauf genommen, wenn es um einen möglichst nahe gelegenen Parkplatz geht. ZEIT: Ist Autofahren komplett verrückt?

Knoflacher: In Anbetracht der Bedingungen, die sich der Mensch für sein Auto geschaffen hat, ist Autofahren eindeutig die angenehmste Form der Mobilität und daher durchaus rational. Betrachten Sie im Vergleich nur einmal die Bewegungsinfrastruktur der Fußgänger. Gehsteige in ihrer heutigen Form sind doch ein Witz! Früher durfte der Fußgänger die gesamte Straßenfläche beanspruchen – 7000 Jahre lang! Während der letzten 50 Jahre haben wir den Fußgänger an den Rand gedrängt und wundern uns, warum diese Mobilitätsform verschwindet. Wir haben Strukturen gebaut, die die Menschen zum Autofahren zwingen! ZEIT: Leben wir in einer Diktatur der Autofahrer? Knoflacher: Absolut! ZEIT: Lässt sich das verändern? Knoflacher: Freilich. Es würde schon genügen, die Parkraumorganisation zu verändern. Wenn Sie auf dem Weg zum Autoabstellplatz bei einer Haltestelle des öffentlichen Verkehrs oder bei einem Geschäft – das sich automatisch ansiedeln würde – vorbeikommen, würde der Autofahrbedarf sinken. Heutzutage quält man die Menschen mit Symptomherumpfuscherei. Man kassiert ein wenig Parkgebühr hier, ein bisschen Maut dort. Das ist total unfair. Zuerst baut man Strukturen, die die Menschen dazu auffordern, das Auto zu benutzen, und dann kassiert man ab. Man muss als Planer

man ja auch keine steuerfreien Drogen, obwohl dieser Wunsch mit Sicherheit vorhanden wäre. ZEIT: Lässt sich das Problem Ihrer Meinung nach über den Benzinpreis lösen? Knoflacher: Nein! Jede Benzinpreiserhöhung ist eine rein symptomatische Behandlung und führt automatisch in die soziale Falle. Wenn sich nur Reiche das Benzin leisten können und Arme nicht, bleibt das Verkehrsproblem ungelöst, und eine soziale Ungerechtigkeit kommt hinzu. Man muss beim Parkplatz und beim Weg dorthin ansetzen. Wenn man den Parkraum richtig organisiert, entstehen autofreie Bereiche mit hoher Lebensqualität. Wer ruhig schlafen will, der muss halt weiter zum Auto gehen. Und wer das Auto vorzieht, der muss eben dort wohnen, wo es laut und stinkig ist. Man muss die Autoabstellplätze so organisieren wie die Haltestellen des öffentlichen Verkehrs. ZEIT: Sie plädieren für mehr Parkverbote? Knoflacher: Da sehen Sie, wie Auto-indoktriniert Sie denken. Wenn dem Fußgänger verboten wird, eine Straße zu überqueren, wo er will, ist das ganz normal. Eine Umordnung der Verkehrszonen in Fußgänger- und Autobereiche wird als Autoverbot verteufelt, ohne darüber nachzudenken, dass diese Trennung den besten Lösungsansatz bietet. ZEIT: Wie steht es um die viel beschworene Freiheit des Autofahrers?

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Verkehrsgefüge schaffen, die die Menschen vom Zwang zum Autofahren befreien! ZEIT: Das klingt nach einem konfliktreichen Job. Knoflacher: Seinerzeit hat man mir prophezeit, dass meine Idee, die Kärntnerstraße in Wien zur Fußgängerzone zu machen, ihren wirtschaftlichen Tod bedeuten würde. Später sagte man mir, dass Radfahren für die Wiener vollkommen unattraktiv sei und dass eine Beschleunigung des öffentlichen Verkehrs durch aufgepflasterte Haltestellen einen Aufstand der Autofahrer auslösen würde. Angeblich war alles unpopulär. Dennoch haben die Wiener diese Ideen angenommen, und die Lebensqualität der Stadt ist im internationalen Ranking gestiegen. Man kann nicht immer nur Wählerwünsche befriedigen. Rauschgiftsüchtigen gibt

Knoflacher: Das ist eine rein virtuelle Freiheit, die über die Werbung verkauft wird. Gezeigt wird eine leere Landstraße in wunderschöner Umgebung, auf der ein einziges Auto herumsaust. Würde die Realität des Verkehrs mit Staus gezeigt werden, wäre kein Mensch so dumm, ein Auto zu kaufen. ZEIT: Autos verkaufen sich nach wie vor sehr gut. Knoflacher: Ja, weil Autofahrer auch noch eine andere Art von Freiheit genießen, eine Rechtsfreiheit. Im Gegensatz zu allen anderen Menschen dürfen sie die Umwelt straffrei verlärmen, verunreinigen und die öffentliche Sicherheit gefährden. Ein randalierender Betrunkener wird wegen Lärmbelästigung verhaftet, Autofahrer, die zu allen Tages- und Nachtzeiten unsere Häuser beschallen, werden akzeptiert. Würde ich als Fußgänger mit einer Dose

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Fotos (Ausschnitt): © Brigitte Kraemer/teamwork; aus: -Mann und Auto-, Klartext Verlag, Essen 2007

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Aus dem Buch »MANN UND AUTO« der Fotografin Brigitte Kraemer

So wird das Auto grün Die geplante CO2-Steuer bringt es nicht. Viel wirksamer ist ein anderes Modell krebserregende Substanzen versprühen, wäre das gesetzeswidrig. Tausende Autofahrer tun das täglich ungehindert und verkürzen die Lebenszeit von uns allen um durchschnittlich zwölf Jahre. ZEIT: Der Autofahrer ist ein Killer? Knoflacher: Ja, aber nicht aus böser Absicht. Das Auto versetzt uns in ein Raum-Zeit-Gefüge der Verantwortungslosigkeit, das wir weder begreifen noch bewältigen können. Und es hat eine starke Lobby: Die Autoindustrie, die Bauindustrie, auch die Banken, die Kredite zum Autokauf vergeben, achten tunlichst darauf, dass derartige Studien wie die gerade erwähnte von der Weltgesundheitsorganisation WHO nicht veröffentlicht werden. ZEIT: Schon Teenager träumen von Autos. Knoflacher: Weil sie durch das Mitfahren jahrelange Unfreiheit erfahren haben. Ein Kind wird durch das Auto in seiner Mobilität radikal eingeschränkt. Es darf nicht zur oder über die Straße gehen, darf nicht überall spielen, wird stundenlang in das enge Heck eines Autos gesperrt und auch noch festgeschnallt. Klar, dass Teenager es kaum erwarten können, ihre Freiheit mit dem FührerANZEIGE

schein und einem eigenen Auto wiederzuerlangen. ZEIT: Denken Sie, dass Autos Kriege verursachen? Knoflacher: Hundertprozentig! Und dabei muss man gar nicht in den Irak blicken. Auch bei uns ist permanent Krieg. In Österreich werden jeden Tag auf der Straße zwei Menschen umgebracht. Der Verkehr fügt jedes Jahr 40 000 Menschen physische Schäden zu. Und da sind jene, die laut WHO infolge der Abgase sterben, noch gar nicht eingerechnet. ZEIT: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie an suburbanen Shoppingcentern, Möbelmärkten und ähnlichen Einrichtungen vorbeifahren? Knoflacher: Das sind Parasiten! Jede Stadt mit solchen Strukturen tut mir leid. Das Verkehrsproblem ist ja unter anderem ein Kind solcher Shoppingcen-

ter und Möbelhäuser am Stadtrand. Das Hauptproblem sind die riesigen Gratisparkplätze. Die müssten so massiv besteuert werden, dass das Parken dort genauso viel kostet wie im Stadtzentrum. Jeder soll bauen dürfen, wo er will, aber es kann doch nicht sein, dass die Geschäftsleute in den Innenstädten mit Parkgebühren kämpfen, während am Stadtrand alles gratis zur Verfügung gestellt wird. ZEIT: Glauben Sie, dass in zehn Jahren Europas Städte so aussehen werden wie die viel verlachten US-Städte mit ihren ausgedehnten suburbanen Einfamilienhauszonen, riesigen Shoppingcentern und wenigen öffentlichen Verkehrsmitteln? Knoflacher: Nein, denn in Europa findet derzeit in vielen Städten eine Reurbanisierung statt. Das hat auch mit der Überalterung der Bevölkerung zu tun. Alte Menschen können am Stadtrand nicht den Service bekommen wie im Zentrum. Sie müssen einfach in die Stadt zurück. Davon abgesehen, wird die Energiefrage die Menschen dazu zwingen, in die Städte zurückzuziehen. ZEIT: Sie meinen den Benzinpreis? Knoflacher: Nein, ich meine den Energiepreis im Allgemeinen. Dieser wird sich mit Sicherheit erhöhen und alle Lebensbereiche entscheidend beeinflussen. Das betrifft Heizung, Stromversorgung, Transport – und all das fällt in der Isolierung im Einfamilienhaus am Stadtrand viel mehr ins Gewicht als im Stadtzentrum. Und ältere Menschen benötigen viele energieaufwendige Serviceleistungen, die bei Preiserhöhungen sehr teuer werden. Dabei denke ich nicht nur an »Essen auf Rädern« oder ähnliche Angebote. Je zersiedelter die Menschen wohnen, desto mehr Energie ist erforderlich. Und das werden wir uns bald nicht mehr leisten können. Das heißt, wir müssen schon jetzt nachhaltige städtische Strukturen schaffen, um die Zukunft finanzieren zu können. Denn die jetzigen Städte mit ihren Randsiedlungen sind das definitiv nicht. ZEIT: Stimmt das Argument, dass die gesellschaftlichen Folgekosten der Mobilisierung höher sind als deren Gewinne, zu denen ja auch die Arbeitsplätze in der Autoindustrie gehören? Knoflacher: Das stimmt absolut. Und die Rechnung wird sich für die Konsumenten noch verschlimmern, denn momentan ist Mobilität ja mehr oder weniger gratis, und das wird sich demnächst stark ändern. ZEIT: Warum werden in Bezug auf Mobilität und Klimaschutz jetzt plötzlich die Flugreisenden kritisiert und nicht die Autofahrer? Knoflacher: Erstens ist die schädliche Wirkung des Flugverkehrs nicht unerheblich und die Kritik berechtigt. Das liegt auch daran, dass die Billigfluglinien Passagiergruppen aktivieren, die sonst nicht im Flugverkehr anzutreffen wären. Grundsätzlich ist Fliegen die entwürdigendste Art des Transports überhaupt. Fliegen erinnert mich immer an Massentierhaltung: Hühner in einer Legebatterie, die abgefüttert werden. Im Unterschied zu den Menschen im Flugzeug sind die Hühner zumindest nicht angeschnallt. DAS GESPRÄCH FÜHRTEN MARTIN HABLESREITER UND SONJA STUMMERER

Z

wei gegensätzliche Trends prägen die Internationale Automobilausstellung. Alle Autobauer stellen neue Spritspartechnologien vor. Zugleich boomt der Markt für leistungsstarke, sportliche Geländewagen (SUV) wie nie. Um das Jahr 2010 könnte in Deutschland jeder zehnte Neuwagen ein SUV sein. So aber können die CO₂-Einsparziele nicht erreicht werden. Der Preis von sparsamen Fahrzeugen ist zu hoch, derjenige der Spritfresser zu niedrig. Der theoretisch eleganteste Weg zur Lösung

des Problems wäre die Erhöhung der Mineralölsteuer. Wer mit einem Spritfresser unterwegs ist, bezahlt für seinen höheren CO₂-Ausstoß. Dagegen steht die Realität. Erstens ist es äußerst unrealistisch, anzunehmen, dass in den 27 EUStaaten ähnliche CO₂-Steuern pro Liter Kraftstoff umgesetzt werden. Noch größere Preisunterschiede an den europäischen Tankstellen und ein weiter steigender Tanktourismus wären programmiert. Zweitens würden CO₂-Aufschläge auf den Treibstoff, die im Einklang mit denen in anderen Branchen stehen, keinerlei Änderung im Kauf- und Fahrverhalten bewirken. Würde die Tonne CO₂ zu 25 Euro in den Spritpreis eingerechnet – zu diesen Preisen soll nach dem Jahr 2010 an den europäischen Emissionshandelsbörsen die Tonne CO₂ gehandelt werden –, ergäbe sich an der Tankstelle eine Erhöhung des Dieselpreises von sechs Cent pro Liter. Der Liter Benzin würde um fünf Cent steigen. Kein Mensch kauft wegen solcher Beträge ein teures Dreiliterauto. Die Bundesregierung plant eine Neuetikettierung der Kfz-Steuer. Statt nach Hubraum wie bislang soll diese nach CO₂-Emission gestaffelt werden. Die gewünschte Verbrauchsreduzierung für Autos wird aus vier Gründen nicht erreicht. Erstens: Die Lösung ist eine deutsche Lösung, in anderen europäischen Länder gibt es solche Überlegungen nicht. Zweitens weiß kein Mensch, wie die sogenannte CO₂-Steuer wirkt. Es ist völlig unmöglich, zu sagen, ob mit der Steuer das vorgegebene Ziel von 130 Gramm CO₂ pro Kilometer für die Neuwagen 2012 erreicht wird. Drittens: Selbst wenn die Steuer sehr hoch wäre, würde sie das Kaufverhalten der Neuwagenkäufer kaum beeinflussen. Die Steuer wird nämlich in der Zukunft bezahlt. Beim Kauf eines Neuwagens stehen dagegen der beim Vertragsabschluss geltende Preis, dessen Finanzierung und die emotionale Attraktivität des Autos für den Käufer im Mittelpunkt. Aus dem Studium des Käuferverhaltens wissen wir, dass zukünftige Belastungen, wie eine jährliche Besitzsteuer, nur sehr bedingt in die Kaufentscheidung eingehen. Viertens: Die Steuer hat zu den CO₂-Preisen in anderen Branchen keinerlei Bezug. Damit wird ein wichtiges ökonomisches Prinzip verletzt, das besagt, dass dort die CO₂Einsparung vorgenommen werden soll, wo die Kosten der Einsparung am geringsten sind. Die neuetikettierte Kfz-Steuer erfüllt das gesteckte Klimaziel nicht und ist darüber hinaus volkwirtschaftlich uneffizient.

VON FERDINAND DUDENHÖFFER

Der einfachste und beste Weg zum »grünen« Auto

führt über den CO₂-Handel. Die uralte Idee des Marktes lässt sich nach folgender Regel anwenden: Jeder Autobauer müsste für jeden Neuwagen, der in Europa verkauft wird, CO₂-Zertifikate einkaufen. Verbraucht zum Beispiel ein Porsche Cayenne Turbo 358 Gramm CO₂ pro Kilometer, müsste Porsche pro verkauftem Fahrzeug CO₂-Zerifikate in dieser Menge an einer Börse einkaufen. Die EUKommission könnte eine Börse beauftragen, den CO₂-Handel mit den Autobauern zu organisieren. Das könnte zum Beispiel die European Energy Exchange AG (EEX) in Leipzig sein, die heute schon CO₂-Zertifikate für die Kraftwerksbetreiber handelt. Der Trick bei der Sache ist, dass die EEX insgesamt nur so viel CO₂-Zertifikate anbieten würde, dass im Durchschnitt für jeden verkauften Neuwagen nur Zertifikate für 130 Gramm CO₂ pro Kilometer erworben werden können. Porsche kann dann Zertifikate für 358 Gramm für jeden seiner Cayenne Turbo erwerben. Dafür muss aber ein anderer, etwa der Smart-Produzent, mit weniger auskommen. Alle Autobauer würden sich zu Jahresbeginn mit den Zertifikaten für die kommende Verkaufssaison eindecken. An der EEX würde sich sehr schnell ein Preis für die Zertifikate bilden. Es entstünde ein Anreiz, dass die Kunden »grüne« Autos kaufen, denn der Spritfresser würde teurer werden. In einer Modellrechnung haben wir das simuliert: Der Smart würde um 800 Euro billiger und der Porsche um 4000 Euro teurer als heute. Das Klimaziel würde erreicht.

System: Wir brauchen keine Ingenieure, die festlegen, wer wie viel verbrauchen darf. Ein weiterer Vorteil: Der Autokäufer muss sich um nichts kümmern. Der Zertifikatshandel läuft zwischen den Autobauern ab. Deutschland könnte die mit hohem Verwaltungsaufwand versehene Kfz-Steuer abschaffen. Der Käufer müsste wie bisher nur auf den Preis des Neuwagens achten. Den Rest regelt die »unsichtbare Hand« des Marktes. Zudem hat das System den Charme, dass die Kosten der Einsparung pro Gramm CO₂ in der Autoindustrie mit denen anderer Industrien vergleichbar sind. Man könnte also zusätzliche CO₂Zertifikate aus dem Energiebereich an die Autobauer über die Börse verkaufen. Wer viel fährt, soll mehr bezahlen, lautet eine ein-

gängige Forderung. Ist eine Ausgestaltung des CO₂-Handels denkbar, bei der nicht »pauschal« pro Neuwagen bezahlt wird, sondern in Abhängigkeit von der Fahrleistung? Auch das ginge. Es ist kein Problem, mit einem geeichten Tachometer die jährliche Fahrleistung festzuhalten. In unserem Modell bezahlt jeder Neuwagen für zehn ANZEIGE

Der Einwand der deutschen Autobauer, Anbieter

von Kleinwagen wie Fiat kämen durch den CO₂Handel in eine Monopolposition, kann entkräftet werden. Jeder müsste bei der Börse einkaufen – auch Fiat. Die Befürchtung der Bundeskanzlerin Merkel, dass das (größere) Familienauto gegenüber dem Kleinwagen benachteiligt wird, kann ebenfalls ausgeräumt werden. Die Einnahmen, welche die Börse aus dem Verkauf von CO₂-Zertifikaten an die Autohersteller erzielt, könnten den Autobauern wieder zurückgezahlt werden. Freilich mit einer kleinen Modifizierung: Für jeden Kleinwagen gäbe es eine Zahlung zurück, die zum Bespiel 110 Gramm CO₂ entspricht. Wenn das Auto weniger verbraucht, ist es ein »Netto-Gewinner«, und sein Preis sinkt. Wenn es mehr verbraucht, ist es »Netto-Zahler«, und der Autokäufer muss einen höheren Preis bezahlen. Jeder Autobauer hätte einen starken Anreiz, CO₂-arme Autos anzubieten, und jeder Kunde hätte den Anreiz, das CO₂-arme Fahrzeug zum günstigeren Preis zu kaufen. Bei Familienfahrzeugen könnte man das Gleiche machen. Es muss auch nicht befürchtet werden, dass in dem System dann nur noch Familienautos gebaut werden und das Klimaziel 130 Gramm CO₂ pro Fahrzeug im Durchschnitt verletzt wird. Selbst wenn nur große Autos verkauft werden, steigt in diesem System der Preis im CO₂-Handel so stark, dass einige der Familienautos bald unter 130 Gramm CO₂ verbrauchen würden. Definieren wir also zwei Standards, etwa für Familienautos und Kleinwagen, werden die Preisvorteile für den Smart deutlich unter 800 Euro liegen, dafür würde der Porsche weniger als 4000 Euro teurer. Das Schöne an dem

Jahre oder 200 000 gefahrene Kilometer die CO₂Zertifikate. Sind die Kilometer abgefahren, muss er neue CO₂-Zertifikate zukaufen. Der Treibstoffverbrauch wird heute in den Rechnern der Motormanagementsysteme erfasst. Also kann man das System mit überschaubaren Kosten zu einem System ausbauen, bei dem gilt: Wer viel fährt oder mit Bleifuß unterwegs ist, bezahlt mehr. Die Bundesregierung sollte die Monstersteuer unter dem Etikett CO₂-Steuer in der Schublade lassen: Sie hilft weder dem Klima noch der deutschen Autoindustrie und schon gar nicht den Autofahrern. Ferdinand Dudenhöffer ist Direktor des Center of Automotive Research (CAR) an der Fachhochschule Gelsenkirchen

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WIRTSCHAFT

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arauf muss man erst einmal kommen: Briefmarken in Sparkassen zu verkaufen und dort Postschalter zu eröffnen. Die vielversprechende Idee hatte Günter Thiel, der Chef der Pin Group AG. Das Unternehmen mit Sitz in Luxemburg ist einer der maßgeblichen Konkurrenten der Deutschen Post. Wenn in Deutschland – im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern Europas – 2008 das Restmonopol fällt, soll auch bei Pin in ganz großem Stil die Post abgehen. Eine verlockende Perspektive – wäre da nicht die heftige Debatte um Mindestlöhne. Kommt alles so, wie von dem neuen Arbeitgeberverband Postdienste (AGV) und den Gewerkschaften geplant, wird die Regelung schon bald für alle Anbieter auf dem Briefmarkt gelten: Je nach Region sollen es zwischen acht und 9,80 Euro je Stunde sein, die als Mindestlohn gezahlt werden müssen. Die Pin Group AG (Hausfarbe grün) und TNT (Hausfarbe orange) saßen allerdings nicht mit am Tisch. Die beiden großen Herausforderer des gelben Riesen laufen gegen die Abmachung Sturm. An ihrer Seite kämpfen Zeitungsverleger, Unionspolitiker und Dieter Hundt, der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Arbeitsminister Müntefering begrüßte hingegen den Abschluss. Und die bei der Post einflussreiche Gewerkschaft ver.di drohte Ende vergangener Woche mit einem »heißen Tanz«, wenn das Vorhaben gestoppt werden sollte. Innerhalb weniger Tage waren die Fronten also klar – seitdem zieht der Konflikt immer weitere Kreise.

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Alle sehen nur noch gelb Der Streit um einen Mindestlohn auf dem Briefmarkt zieht immer weitere Kreise VON GUNHILD LÜTGE

besonders prekär. Er wird womöglich bald zwei rivalisierende Verbände in seinen Reihen haben: zum einen den bereits gegründeten und von der Post dominierten AGV, zum anderen einen von Pin und weiteren Unternehmen initiierten Verband. Diese Woche könne es klappen, kündigte Pin-Chef Thiel am vergangenen Dienstag an. Arbeitgeberpräsident Hundt hat bereits »schwerwiegende Bedenken« gegen den Mindestlohn-Tarifvertrag angemeldet. Ein wesentliches Argument: Es seien zu viele Bereiche betroffen. So zum Beispiel jeder Zeitungszusteller, der gleichzeitig Briefe austrage. Damit scheint so gut wie sicher, dass es der zuständige Tarifausschuss ablehnen wird, das Regelwerk für allgemeinverbindlich zu erklären. Dort nämlich hat die BDA ein wichtiges Wort mitzureden. Doch selbst dann, wenn die Mehrheit dieses Gremiums ihre Zustimmung verweigert, kann die Koalition den Mindestlohn per Gesetz in Kraft

Foto: Ponizak/Caro

Für Arbeitgeberpräsident Hundt ist die Situation

Briefträger haben einen KNOCHENJOB

setzen. Allerdings herrscht auch in den Reihen der Union keinerlei Einigkeit. Während Stefan Müller, CSU-Arbeitsmarktpolitiker, zunächst noch davon ausging, dass sich dem Mindestlohn »niemand mehr in den Weg stellen wird«, kritisierte CDUWirtschaftspolitiker Michael Fuchs nur wenig später, dass »diese Tarifpartner mit aller Härte den Wettbewerb im Postsektor verhindern wollen«. Einem solchen Vorgehen könne der Gesetzgeber nicht die Hand reichen. Der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger hat die Bundesregierung bereits aufgefordert, die Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrages abzulehnen und »die durchsichtigen taktischen Manöver rund um den Tarifvertrag zu beenden«. Alles andere sei ein »schwerer Affront gegen neue Wettbewerber im Postmarkt, zu denen auch viele Zeitungsverlage zählen«. An der Pin Group hält der Axel Springer Verlag mit 71 Prozent die Mehrheit. Auch TNT, dort fungiert die niederländische Post als größter Anteilseigner, reagierte empört. Der neue Tarifvertrag halte weder verfassungsrechtlichen, kartellrechtlichen noch tarifrechtlichen Bedenken stand, so die Argumente der Post-Rivalen. Die Löhne eines Exmonopolisten könnten nicht als Maßstab für eine gesamte Branche gelten. Verbandschef Wolfhard Bender verweist allerdings auf das Lohnniveau in anderen Branchen: »Auch eine Abrisshilfskraft am Bau verdient 9,40 Euro.« Die Untergrenze auf dem Briefmarkt stelle sicher, dass die Beschäftigten ihren Lebensunterhalt mit ihrer Arbeit bestreiten könnten und nicht auf ergänzendes Arbeitslosengeld II angewiesen seien, erklärt Andrea Kocsis vom ver.di-Bundesvorstand. Auf viele Betroffene wirkt die Debatte trotzdem deprimierend. Postbote sei einmal ein angesehener Ausbildungsberuf gewesen, beklagen jene, die schon länger dabei sind. Ihr Eindruck: Mit Hilfe der Privatisierung werden die früher allseits geschätzten Briefträger zu Niedriglöhnern degradiert. Auch Ulrich Bösl fände es schade, »wenn der Beruf zum Billigjob verkomme«. Bösl ist Chef der Christlichen Gewerkschaft Postservice und Telekommunikation. Er unterzeichnete – ebenso wie ver.di – den Mindestlohn-Tarifvertrag. »Das ist ein ordentlicher Vertrag«, sagt er. Post-Chef Klaus Zumwinkel hatte schon länger einen solchen Vertrag gefordert. Seine Kontrahenten verdächtigen ihn deshalb, nur sein Monopol verlängern zu wollen. Zumwinkel beklagt hingegen, dass die Post und ihre Mitarbeiter pro Jahr 2,3 Milliarden Euro in die Sozialkassen einzahlten, während Wettbewerber sich ihre Marktpräsenz quasi über Niedriglöhne und Transferleistungen

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aus den Staatskassen finanzieren ließen. Der PostChef zahlt seinen Briefträgern zwischen 11 und 16 Euro die Stunde – je nach Betriebszugehörigkeit. Die durchschnittlichen Stundenlöhne bei der Konkurrenz liegen hingegen bei acht Euro. Ver.di kritisiert, dass beispielsweise in Schleswig-Holstein der Einstiegslohn bei Postkonkurrenten im Schnitt sogar nur vier Euro betrage. Manchmal würde nur ein Stücklohn gezahlt: also ein paar Cent pro zugestelltem Brief. Mangels Masse, sagen Betroffene, gehe ein Zusteller nicht selten mit einem Hungerlohn nach Hause. »Die Gewerkschaft kann alles behaupten«, entgeg-

net Günter Thiel. Das System der Stücklohnvergütung oder Löhne von vier Euro die Stunde gebe es bei Pin grundsätzlich nicht mehr. Er könne zwar nicht völlig ausschließen, dass das im Einzelfall noch Praxis sei, aber: »Sobald es mir bekannt wird, wird es abgestellt«, so Thiel. Er zweifelt im Übrigen daran, dass Mindestlöhne ein geeignetes Instrument seien, um Langzeitarbeitslose in Lohn und Brot zu bringen. »Das war ein abgekartetes Spiel«, kritisiert er. Wolfgang Abel, Landesbezirksleiter bei ver.di, saß mit am Verhandlungstisch. »Ich bin kein Undercoveragent der Post«, sagt er. »Wir sind für einen fairen Wettbewerb.« Aber der solle nicht über Lohndumping geführt werden. Postboten machten einen Knochenjob. Wer glaube, dass Vorhaben torpedieren zu müssen, werde erleben, »dass der Konflikt mit der Telekom nur ein Spaziergang war«, so Abel. Es gebe inzwischen rund 670 000 Aufstocker in Deutschland, so Arbeitsminister Müntefering. Das sind Beschäftigte, die so wenig Geld verdienen, dass sie zusätzlich Arbeitslosengeld II benötigen. Zu diesen Aufstockern zählen bereits 8400 Mitarbeiter auf dem Briefmarkt. »Bei bestimmten Postdienstleistern sind die Briefmarken nur deshalb so billig, weil der Staat indirekt einen Teil des Lohnes zahlt«, so Müntefering. Das sei marktwirtschaftlicher Unfug. Der deutsche Arbeitsminister hat ungewöhnliche Verbündete. »Unternehmen, deren Existenz lediglich davon abhängt, ihren Beschäftigten weniger als einen zum Leben ausreichenden Lohn zu zahlen, sollen in diesem Land kein Recht mehr haben, weiter ihre Geschäfte zu betreiben. Mit einem zum Leben ausreichenden Lohn meine ich mehr als das bloße Existenzminimum – ich meine Löhne, die ein anständiges Leben ermöglichen.« Das sagte der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt – vor fast 75 Jahren. i Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/arbeit

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WIRTSCHAFT

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" WIRTSCHAFTSBUCH

Treffen im Bratwurst-Salon

Jäger und Gejagter

Privates Lokalfernsehen war tot. Dann kam André Zalbertus. Sein dritter Sender startet gerade in Bremen. Jetzt steigen Großverlage ein und schneiden die Beiträge am Arbeitsplatz. Lichtoder Tonprobleme werden dabei schon mal durch Enthusiasmus wettgemacht. In Bremen soll es allerdings zwei spezialisierte Cutter geben. Während die jährlichen Kosten für traditionelle Lokalsender wie Hamburg1 oder TV.Berlin zwanzig bis dreißig Millionen Euro betragen, kommt Zalbertus mit »einem niedrigen einstelligen Millionenbetrag« aus, wie er sagt. Hier macht sich die minimale technische Ausstattung bemerkbar, die inhaltliche Selbstbeschränkung und ein Konzept, das handwerkliche Fehler zum Senderstil erklärt. Die lokale Werbung beim Heimatfernsehen läuft derweil vielversprechend an. Für ein paar Tausend Euro basteln Sendermitarbeiter Werbespots für lokale Autohäuser und Rolladenhersteller, für den Partyservice und den Fotohändler und strahlen sie dann hundertfach aus. Weil die Unternehmer die Erfahrung machen, dass sie von ihren Kunden darauf angesprochen werden, buchen sie wieder. Sie spüren die Werbewirkung unmittelbar.

»Center.tv ist Clownsfernsehen«, sagt Rüdiger Oppers von der WAZ Zalbertus fühlt sich wohl als David mit der handlichen Technik. Die Goliaths – in Köln sind das der WDR und der Verleger Neven DuMont – haben zuerst geschlafen, dann geschwiegen. Nun laufen sie hinterher. Der Verlag will gemeinsam mit einem Partner, der Germany 1 Media AG, einen Lokalsender für das Kölner Kabelnetz auf die Beine stellen. Hinter der Germany 1 Media stehen mehrere Hamburger Unternehmer, die schon lange im Lokalfernsehen tätig sind. Unter anderem sind sie an Hamburg 1 und TV.Berlin beteiligt – in Düsseldorf sind sie der Partner von Zalbertus. Zurzeit richtet auch der WDR neue lokale Studios ein und geht mit der Sportberichterstattung in immer tiefere Ligen. Als Zalbertus startete, konnte er sich die für die Kabeleinspeisung nötigen Lizenzen für Köln und Düsseldorf einfach abholen. Kein anderer wollte sie. Jetzt sind plötzlich alle wach. »In Nordrhein-Westfalen gibt es im Gerangel um lokales Fernsehen fast schon eine Stampede«, lacht er. Von einem »Zalbertus-Effekt« spricht auch Jürgen Brautmeier, der für die Lizenzen zuständige stellvertretende Direktor der Landesmedienanstalt: »Sicherlich hat André Zalbertus mit seinem Heimatfernsehen für eine neue Dynamik gesorgt. Da sind einige andere unruhig geworden.« Derzeit liegen von sieben Unternehmen, darunter alle relevante Zeitungsverlage der Region, Anträge auf Lokalfernsehlizenzen vor. Noch hat der Lizenzgeber allerdings viele Fragen an die potenziellen Veranstalter. »Wenn Verleger nun in Regionen lokales Fernsehen veranstalten wollen, in denen sie mit ihren regionalen Abo-Zeitungen den Markt beherrschen, dann erfordert dies selbstverständlich auch die Prüfung, ob vorherrschende Marktmacht gegeben ist«, sagt Brautmeier. Am Ende wird es wohl zu einigen Kooperationen kommen. Sorgfalt gehe vor Schnelligkeit, aber spätestens bis Jahresende sollen alle Lizenzen vergeben sein. Für das Ruhrgebiet, Aachen und den Niederrhein sind sowohl Zalbertus wie die große WAZ im Rennen. Rüdiger Oppers, früher Unternehmenssprecher des WDR, wird am 1. Dezember Chefredakteur der zum WAZ-Konzern gehörenden Neuen Ruhr/Neuen Rhein Zeitung. Zugleich ist er TVStratege des Konzerns. Oppers bestätigt: »Die WAZ hat die ernste Absicht, ein qualitativ anspruchsvolles lokales Fernsehen zu veranstalten.« Doch er fühlt sich bedrängt. Auf der einen Seite stört ihn sein alter Arbeitgeber: »Ich bin nicht vom Paulus zum Saulus geworden, aber als langjähriger WDR-Mitarbeiter weiß ich, wovon ich rede. Wenn der WDR mit seinen Gebührenmillionen nach den Regionen nun auch die Städte und Gemeinden erobern will,

Der Heimatkanal feiert den lokalen Fußball – gerade wenn es nicht läuft

ANDRÉ ZALBERTUS sorgte für Aufbruchstimmung im lokalen Fernsehen Foto: Hoffmann/imago

In Köln hat Zalbertus vorgemacht, wie ein solches Basisfernsehen als Fankanal funktioniert. Das spektakuläre erste Training des exzentrischen Christoph Daum wurde für das Heimatfernsehen das, was der 11. September 2001 für CNN war: ein Sonderprogramm rund um die Uhr, gedreht aus allen Perspektiven. Gerade wenn es auf dem Platz nicht gut läuft, hält das Heimatfernsehen zum Heimatverein. Auch das gehört zum Konzept. Darüber hinaus gibt es Talk-, Sport- und Hip-Hop-Beiträge. Sogenannte Veedels-Journalisten nehmen in Köln ihre kleine Videokamera und berichten aus den Stadtteilen, aus den Vereinen und von Bürgerfesten. In Kirchen liegen Fürbitt-Bücher aus, in denen Gläubige aufschreiben, wofür sie beten. Das Heimatfernsehen geht solchen Wünschen nach. André Zalbertus, der in Düsseldorf geboren wurde, dort aufwuchs, studierte und noch immer lebt, hält an der Legende fest, dass ihn ausgerechnet die Teilnahme an der Karnevalssitzung »Lachende Köln-Arena« davon überzeugt habe, sein Konzept vom gefühlsbetonten Lokalfernsehen zu verwirklichen. Ein solches Angebot festige die Dorfgemeinschaft in Zeiten der Globalisierung. In Bremen wird es naturgemäß weniger Karneval geben. Stattdessen will Zalbertus eine Talksendung mit Entscheidern aus der Stadt moderieren, die Bratwurst-Salon heißt. Die Bratwurst sei klassenübergreifend, sagt der studierte Historiker. Auch sonst stellt er das Kleine gern in größere Zusammenhänge. Selbst seine Geschäftsidee. In seinem Leben, sagt er fast pathetisch, habe er drei historische Umbrüche erlebt: den Fall der Mauer und den Zerfall des Sowjetimperiums als Reporter. Jetzt wolle er als Unternehmer die Digitalisierung gestalten. In ihr sieht Zalbertus eine nur mit der industriellen Revolution vergleichbare Umwälzung. Was er macht, nennen andere verächtlich »AldiFernsehen« oder »loser generated content«, ein von Verlierern gemachtes Programm. Zalbertus hingegen sieht darin eine Chance. So wie sich mit der Aufklärung das Lesen und Schreiben verbreitet habe, verliere nun auch das Fernsehen seine Exklusivität. Zalbertus will das vorantreiben. Er hat ein Lehrbuch für Hobbyreporter geschrieben. Bevor er sein Selbermach-Fernsehen startete, bildete er gemeinsam mit dem US-Pionier Michael Rosenblum viele Journalisten von öffentlich-rechtlichen Regionalprogrammen zu Videojournalisten aus. So ähnlich arbeiten auch die Redakteure seines Heimatfernsehens. Sie drehen mit kleinen Digitalkameras

geht er weit über seinen Auftrag hinaus.« Auf der anderen Seite fürchtet Oppers, dass Zalbertus als frecher Herausforderer bei der Medienanstalt einen Bonus habe. Mit ihm zusammenarbeiten will er auf keinen Fall: »Center.tv von André Zalbertus ist kommunales Clownsfernsehen. Inhaltlich entspricht dieses Programm nicht den Qualitätsstandards der WAZ-Gruppe.« Darüber lacht der vermeintliche »Clown« mit der kleinen runden Nickelbrille. Einen wesentlichen Unterschied zur Konkurrenz sieht er darin, dass sein Sender keine Sex-Clips und keine Show mit Telefon-Animierdame zeigt. Zalbertus weiß aber auch, dass er als ideenreicher Einzelkämpfer auf Dauer nicht überlebensfähig ist. »Mein Interesse gilt den Marken«, sagt er. »Center.tv ist eine Marke, Heimatfernsehen ein Begriff. Mit einem erfolgreichen Programm kann man sogar weltweit expandieren. Dazu braucht man aber Partner: Verlage oder Finanzinvestoren – ich bin da offen.« In Düsseldorf hat Zalbertus bereits die Rheinische Post und Germany 1 Media beteiligt, in Köln will er bis zu 74,2 Prozent seiner Anteile an Investoren abgeben.

Lokalsender in Deutschland

VON BERND GÄBLER

Greifswald TV

(Auswahl) Hamburg 1 Bremen: center. tv

tv. berlin Fürstenwalde Oskar TV Leipzig Fernsehen

Duisburg: Studio 47 Düsseldorf: center. tv Köln: center. tv

Zwickau TV

Ransbach-Baumbach: Westerwald Wied TV Mainz: k3 kulturkanal

Saarbrücken: Saar. TV

Steinwiesen: Rodachtal TV TV Touring Schweinfurt Amberg: Oberpfalz TV

Stuttgart: Regio.TV

Passau: TRP1

Augsburg: Flott TV Freiburg: TV Südbaden

Antenne Berbisdor

tv.münchen

ZEIT-Grafik/Quelle: ALM-Bericht, Landesmedienanstalten

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eit dem 5. September hat auch die Hansestadt Bremen ihr »Heimatfernsehen«. Nach Köln und Düsseldorf ist es die dritte Großstadt, in der André Zalbertus sein bürgernahes Lokalfernsehen gestartet hat. Die Idee ist jung. Vor drei Jahren hat Zalbertus in Köln begonnen. Heute sei sein Sender dort etabliert, sagt er. Nun wolle er expandieren – von Ort zu Ort mit wechselnden Geschäftspartnern. Zu diesem Zweck hat Zalbertus die Holding Centerstone AG gegründet, der frühere Reporter ist seither Vorstandsvorsitzender. André Zalbertus lacht viel und erzählt gern. Der von ihm eingeschlagene Weg sei wohldurchdacht. Hinter dem Lokal-TV-Projekt stecke eine klare Analyse dessen, was durch die rasante Entwicklung der Medientechnik möglich geworden sei: Fernsehen als Graswurzelbewegung für jedermann. Noch vor fünf Jahren galt Lokalfernsehen als unfinanzierbar, doch seither sind bereits 13 Ballungsraumsender entstanden. Zusammengenommen sollen sie im Jahr 2006 bundesweit schon eine Einschaltquote von zwei Prozent erreicht haben. »Wir machen emotionales Fernsehen. Wir wissen, in welchen Städten das funktioniert – dafür haben wir einen ›Emotion-Code‹ entwickelt«, sagt Zalbertus. Aber was steckt hinter diesem hochtrabenden Begriff? Zalbertus holt weiter aus: Bremen, erklärt er, sei ideal – groß genug für ein rentables Sendegebiet, klein genug, um eine »emotionale Einheit« zu bilden. Und auf die komme es an. Und dazu gebe es mit Werder Bremen einen überaus populären Fußballclub. Für den Sendebetrieb braucht Zalbertus nicht viel mehr als eine Büroetage. Noch wenige Tage vor Sendebeginn stapelten sich in den Räumen in der Bremer Innenstadt, die über denen von Hapag Lloyd und dem königlich-norwegischen Konsulat liegen, die Kartons. Bildschirme wurden ausgepackt und Kabel gezogen. Mitarbeiter verzieren die Wände des kleinen Studios mit Stichen vom alten Bremen – man will nicht aussehen wie der Nachrichtensender n-tv. 18 Redakteure sollen mitmachen, die ersten haben schon ein paar Stadtteilporträts gedreht und Gäste für Talkshows ausgewählt. Sie sind Feuer und Flamme für den neuen Job. Der lokalen Betreibergesellschaft gehören als Gesellschafter neben Zalbertus ein regionaler Stromversorger, die Sparkasse und auch die führende Lokalzeitung, der Weserkurier, an. Geschäftsführer der Firma ist der 34-jährige Maik Wedemeier, Sohn des ehemaligen SPD-Bürgermeisters Klaus Wedemeier, der heute als Unternehmensberater arbeitet. Die Netze sind also dicht geknüpft. Mit dem Fußball-Bundesligisten Werder Bremen ist schon geklärt worden, dass die Reporter des Heimatfernsehens nach jedem Spiel für Interviews in die »Mixed Zone« dürfen, also dorthin, wo sich die Spieler aufhalten. Drei Stunden frisches Programm täglich wird es geben, der Wesersport wird davon eine Stunde einnehmen.

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Thomas Knipp hat einen guten Namen als Recherchejournalist, erworben mit seinem Buch über den Zusammenbruch der Metallgesellschaft. Als 1999/2000 die Übernahme des in Düsseldorf beheimateten Mannesmann-Konzerns durch Vodafone lief, war er Co-Chefredakteur des Handelsblatts – mit Sitz in Düsseldorf. Er hat zweifelsfrei einen exquisiten Zugang zu Informationen über jenen »Deal«, der Wirtschaftsgeschichte geschrieben hat. Doch er wird hier beschrieben in der Schlichtheit eines Groschenromans: Der Erzähler sitzt gleichsam im Kopf der handelnden Figuren, er ist immer dabei. Aber von den Quellen, aus denen er schöpft, nennt der Autor keine. Dabei ist sicher anzunehmen, dass seine Schilderungen weitgehend aus dem Munde der Porträtierten stammen, vor allem aus dem des damaligen Vorstandschefs von Mannesmann, Klaus Esser. Knipp stilisiert das Geschehen zu einem Drama hoch: Er beschreibt Esser und seinen Widerpart bei Vodafone, Chris Gent, als zwei, die aufeinandertreffen müssen, weil es, so Knipp, unter dem ehernen Gesetz der Kapitalmärkte nur zwei Formen der Existenz gebe: Man ist Jäger oder Gejagter. Der Übernahmekampf sei unvermeidbar gewesen. Offen sei allein gewesen, wer wen angreift und wer obsiegt. So hätten sowohl die Strategen in Newberry (Vodafone) wie auch die in Düsseldorf (Mannesmann) die Lage analysiert. Was entschied die Schlacht am Ende zugunsten Vodafones? Im Zentrum stand der Preis, der dem Gekauften hoch genug und dem Käufer trotzdem noch gerechtfertigt erscheinen musste. Den entscheidenden Hinweis gibt Knipp mit der »Theorie der Finanz-Alchemie«: »Aus eins und eins könnte mehr als zwei werden.« Den »Alchemismus« erläutert Knipp unter Bezug auf die zuvor erfolgte Übernahme der US-Telefonfirma Airtouch durch Vodafone: »Was hatte das Team aus diesem Deal mit Airtouch gelernt? Erstens: Die Theorie war aufgegangen, mit Deals, für die man mit Aktien bezahlte, Wert zu steigern. Zweitens: Es war von großer Bedeutung, die Aktionäre, die Märkte und die Öffentlichkeit über bestimmte Journalisten zu ›managen‹. Der übermäßige Aufwand an Kommunikation mit ihnen war wichtig und kritisch für den Erfolg. Damit die 1 + 1 = 5-Strategie aufgehen konnte, musste man die angesehenen Finanzjournalisten auf seine Seite ziehen …« So wurden die Milliarden wohl auch gezielt herbeigeschrieben. Der Leser, der es genau wissen möchte, ist nach der Lektüre frustriert. Doch von Knipp, heute Partner eines PR-Unternehmens, ist realistischerweise nicht mehr an Klartext zu erwarten. Ein Buch mit Aperitif-Charakter nur. Schade. HANS-JOCHEN LUHMANN Thomas Knipp: Der Deal

Die Geschichte der größten Übernahme aller Zeiten; Murmann Verlag, Hamburg 2007; 247 S., 22,50 Euro

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Viele Fragen an den Maestro D er Eintrag vom 31. August 2007 ge- Nächste Woche erscheinen die riet um 11.05 Uhr pazifischer Küstenzeit ins Internet und war wohl das Memoiren von Alan Greenspan. ungewöhnlichste Finanzmarkt-Web- Seine Kritiker meinen: Der log aller Zeiten. Erstens blieb es bei einer einzigen ehemalige Notenbankchef war Wortmeldung, fünf Absätze über Finanzcrashs, Booms und die Wirtschaftsaussichten für das Jahr verantwortlich für Finanzkrisen 2030. Zweitens war der Autor Alan Greenspan. und die US-Immobilienblase Der Maestro, der Mister Dollar, der Master of the Universe, wie sie ihn nannten, als er zwischen VON THOMAS FISCHERMANN 1987 und 2006 der Chef der amerikanischen Notenbank war. Das war eine kleine Sensation. Eine klar verständliche Äußerung von Greenspan! Von dem Mann, der 18 Jahre lang voller Absicht verschlüsselt und unverständlich vor sich hin gemurmelt hatte! An einer Stelle stand sogar ein Ausrufezeichen! Der plötzliche Mitteilungsdrang des 81-Jährigen hat seine Gründe: Greenspan ist auf Werbetournee. Am kommenden Montag erscheinen seine Memoiren mit dem Titel The Age of Turbulence – Adventures in a New World (in der deutschen Übersetzung heißt es etwas langweiliger Mein Leben für die Wirtschaft). Das britische Verlagshaus Penguin soll ihm einen stolzen Vorschuss von 8,5 Millionen Dollar gezahlt haben, und die müssen sich erst mal lohnen. Darum schrieb er das Weblog, darum plant er eine Serie von Auftritten in amerikanischen Fernsehshows, darum versucht der Buchhandel einen Hype, um eine angebliche »Sensation« im Herbstgeschäft zu entfachen. Ravi Batra weiß schon länger darüber Bescheid, dass man mit dem Namen Greenspan trefflich Bücher verkaufen kann. Der Ökonom von der unbekannten Southern Methodist University in Dallas ist nämlich ein Bestsellerautor in den Vereinigten Staaten, seine fünf Bücher über die Wirtschaft und die Politik der USA haben sich gut verkauft. Und das hat viel mit Batras beißenden Attacken auf den angeblichen Meister des Geldes zu tun. 2005 erschien Batras Buch Greenspan’s Fraud (Greenspans Betrug), die unfreundlichste Biografie, die je über den Chef der Federal Reserve Bank geschrieben wurde. Im Januar dieses Jahres würzte Batra auch seine neueste Schrift über Das neue Goldene Zeitalter – die Revolution gegen politische Korruption und wirtschaftliches Durcheinander mit bösen Kapiteln über den pensionierten Notenbankier. Was Batra von Greenspans Memoiren hält? »Ich wünsche ihm viel Glück«, sagt er. »Soll er sich ruhig ein Denkmal setzen und viel Geld verdienen. Es tut mir nur leid für all die armen Leute, die bis heute unter seinen Entscheidungen zu leiden haben.« Das muss man erst einmal wegstecken. So viel Bitterkeit gegen den Mann, dem Anleger, Bankiers und Finanzjongleure 18 Jahre lang fast grenzenloses Vertrauen entgegenbrachten? Unter Greenspan lief die amerikanische Wirtschaft rund. Die Nachfrage aus den USA zog manche festgefahrene Volkswirtschaft aus dem Dreck. Greenspan sei der »größte Zentralbanker, der je gelebt hat«, gewesen, schrieb der Geldtheoretiker Alan Blinder von der Universität Princeton. In Greenspan We Trust, fasste das Magazin Fortune einmal die Stimmung zusammen.

Ist er ein Held, oder hat er die Probleme verursacht?

ALAN GREENSPAN baut sich ein Denkmal

Foto [M]: Ladov/intertopics; Montage: DZ

Das große Vertrauen hatte vor allem mit einer Reihe von Finanzkrisen zu tun, die in Greenspans Amtszeit fielen – und die er allesamt mit ruhiger Hand einzudämmen wusste. Nach ein paar Wochen im Amt musste Greenspan 1987 gleich mit dem berüchtigten Schwarzen Montag umgehen, einem Rekordeinbruch am Aktienmarkt. Auf manch einem Börsenparkett brachen Faustkämpfe aus, aber Greenspan blieb cool und rettete die Konjunktur durch Finanzspritzen und beruhigende Worte. Das wiederholte er immer wieder: bei den Währungskrisen der späten 1990er Jahre in Lateinamerika, Asien und Russland, auch beim Zusammenbruch des großen Hedgefonds LTCM im Jahr 1998, beim Platzen der Internetblase zur Jahrtausendwende und nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Kritiker wie der Ökonom Batra sehen die Sache hingegen ganz anders: Greenspan mag der Retter in der Not gewesen sein – hat aber manche Krise selbst erst verursacht. Batra ist zum Beispiel davon überzeugt, dass Greenspan in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Spekulationsblase mit Technologieaktien erst so richtig befeuert hatte. »Mitten in der Dotcomblase sagte der Mann, dass die Gewinnerwartungen dieser Firmen solide seien«, schimpft der Ökonom. »Danach ist der Dotcomboom abgegangen wie eine Rakete.« Tatsächlich: Greenspan war damals vom NewEconomy-Fieber angesteckt. Er sagte unter anderem voraus, dass das Internet die Unternehmen produktiver machen werde und behielt damit auf längere Sicht sogar recht. Viele Kritiker werfen ihm aber vor, dass solches Gerede von einem Notenbankchef die Finanzmarktspekulanten zum Übermut verleitet habe. Und dann senkte er im Jahr 1998 auch noch die Leitzinsen, um auf die damaligen Finanzmarktunruhen zu reagieren. Das heizte den Aktienboom zusätzlich an. Wenn die Zinsen fallen, steigen ja meistens auch die Aktienkurse. Immerhin versuchte Greenspan dem entgegen-

zuwirken: Der für seine verklausulierten Formulierungen bekannte Maestro schimpfte bald in klaren Worten über den »irrationalen Überschwang« vieler Marktteilnehmer. 2001 holte Greenspan wieder das gleiche Rezept zur Krisenbewältigung hervor. Die Technologieblase war geplatzt, die amerikanische Konjunktur drohte zu kollabieren, und im Herbst steuerten Al-Qaida-Piloten drei Flugzeuge ins World Trade Center und das Pentagon. Greenspan ließ in dieser Situation den Leitzins rapide fallen, von 6,5 Prozent auf bloß noch 1 Prozent in den folgenden Jahren. Viele Kritiker sagen heute: Das sei die Voraussetzung für die aktuelle Immobilienblase in Amerika gewesen. Greenspan war schuld an den Kreditproblemen, die im Augenblick die Weltfinanzmärkte erschüttern.

Greenspans Entscheidungen trieben die Hauspreise in die Höhe Tatsächlich sind die amerikanischen Hauspreise seit dem Jahr 2001 rasant gestiegen. Der Grund: Die Zinsen fielen, also konnten sich mehr Leute einen Hypothekenkredit leisten, und ihre steigende Nachfrage nach Immobilien trieb wiederum die Hauspreise. Diese hohen Hauspreise verleiteten Immobilienfirmen dann dazu, weitere Gebäude hochzuziehen. Außerdem entstand der berüchtigte subprime-Markt für Hypotheken, der heute so vielen Banken und Investoren Ärger bereitet. Geld wurde auch an immer mehr Leute mit geringer Kreditwürdigkeit verliehen. Greenspan selbst lobte das im Jahr 2004 als willkommene, soziale Entwicklung. Eine Immobilienblase mochte er nicht erkennen. Da habe sich höchstens »Schaum« gebildet. Je tiefer jetzt die Krise, desto lauter wird allerdings auch die Kritik am Maestro. Im Internet gibt es neuerdings eine Diskussions-Webseite, die sich ausschließlich diesem Thema widmet. Sie heißt »Das Durcheinander, das Greenspan hinterlassen hat«. »Er glaubt sicher fest daran, dass er die Finanzmärkte gerettet hat«, sagt der Greenspan-Kritiker Batra, »aber sein wahres Erbe ist ein anderes: eine starke Wirtschaft, die auf gewaltige Schulden gebaut ist.« Für ein Urteil, ob das nun gut oder schlecht war, ist es freilich noch zu früh. Es gilt abzuwarten, ob sich die derzeitige Immobilienkrise in Wohlgefallen auflöst. Tut sie es, ist Greenspans Heldenstatus bis auf Weiteres gesichert. Tut sie es nicht, ist auch das Erbe des Maestro in ernster Gefahr. »Die menschliche Spezies hat noch kein Rezept gegen Blasen gefunden«, verteidigte sich Greenspan selbst erst Anfang des Monats in einer Ansprache vor Ökonomen in Washington. Tatsächlich hat er schon immer behauptet, dass ein Notenbankchef nicht viel gegen die Auswüchse der Spekulation tun könne. Besser warte man das Platzen der Blasen ab, sammle hinterher die Reste auf und schütze die Konjunktur. Viele Ökonomen sehen das ähnlich, übrigens auch Greenspans Amtsnachfolger Ben Bernanke. Es gibt aber noch einen zweiten Vorwurf gegen den ehemaligen Fed-Chef: Er sei allzu eng mit der Regierung Bush verbandelt gewesen und habe ihr den einen oder anderen politischen Gefallen getan. Beweise dafür haben die Kritiker nicht, aber sie stützen sich auf Indizien. So durchforstete Kenneth H. Thomas von der Wharton School in Philadelphia im Jahr 2004 Greenspans Terminkalender und ermittelte, dass der Notenbanker ungewöhnlich häufig im Weißen Haus und in den Ministerien der Bush-Regierung ein- und ausging. Jedenfalls häufiger als Fed-Chefs zuvor. Donald Kettl von der University of Wisconsin in Madison sprach von einem »schockierenden Anstieg der Kommunikation (zwischen Notenbank und Regierung, Anm. d. Red.), sodass man sich nur fragt, worüber die eigentlich reden.« Haben sie darüber geredet, dass Greenspan die Zinsen seit dem Jahr 2001 besonders kräftig senken sollte, auch um der Bush-Regierung zu helfen? Und wie stand es um Greenspans öffentliche Unterstützung für Bushs großes Steuersenkungsprogramm, das vor allem den wohlhabenderen Schichten zugute kam? Greenspan hatte Bushs Pläne öffentlich und mit Verve unterstützt. Einige Spitzenpolitiker der Demokratischen Partei zweifelten danach seine Unabhängigkeit an. Der Ökonom und Bush-kritische Kommentator Paul Krugman warf Greenspan sogar einen »Mangel an Seriosität« vor. Er habe »das Vertrauen in das Amt des Fed-Chefs verspielt«. Der Zeitpunkt für die Veröffentlichung der Greenspan-Memoiren könnte also brisanter nicht sein. Zum Jahresbeginn schien sich der frühere Herr des Geldes bereits selbst abzusichern, als er eine ungewöhnlich pessimistische Konjunkturprognose abgab. Er sagte, dass es Ende 2007 oder Anfang 2008 »vielleicht« eine Rezession geben könne. Der Aktienmarkt brach daraufhin kurz ein. Und Greenspan war wieder in seinem alten Geschäft. Bevor er ökonomischer Berater von Präsidenten und schließlich Notenbankchef wurde, hatte er in Washington eine Firma für Konjunkturprognosen betrieben. Nur – in diesem Punkt sind sich seine Biografen ziemlich einig – Greenspans Prognosen waren nie besonders zutreffend. i Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/2007/38/greenspan

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Der Machtkampf beginnt Porsche-Chef Wendelin Wiedeking will das System VW umkrempeln und sorgt mit Sticheleien für Ärger

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Zukunftsfähigkeit, und das heißt für positive Veränderungen offen sein.« Kaum war das Interview in der Welt, meldeten sich die Hirten der »heiligen Kühe« zu Wort. VWBetriebsratschef Bernd Osterloh, der wie Wiedeking im Aufsichtsratspräsidium sitzt, glaubte, dem seit Januar 2007 amtierenden VW-Chef Martin Winterkorn gegen die Attacken aus Stuttgart beispringen zu müssen. Und der niedersächsische IG-Metall-Chef Hartmut Meine meldete seine Truppen kampfbereit, um den Haustarif zu verteidigen. Dabei wird erst mal gar nichts passieren. Und doch hat die von VW-Aufsichtsratchef Ferdinand Piëch und Wiedeking angestrebte Kulturrevolution begonnen. Die Wolfsburger Aufgeregtheiten sind auch eine Reaktion auf eine Machtverschiebung, deren Konsequenzen nun offenbar werden. Dass VW trotz großer Fortschritte in Sachen Effizienz

Foto [M]: G. Schober/Brauer Photos

r hat es immer klar gesagt, seit er im vergangenen Jahr in das Aufsichtsgremium von Volkswagen einzog und dort gleich einen Platz im Präsidium, dem eigentlichen Machtzentrum, zugeteilt bekam. Er verstehe sich als aktiver Aufsichtsrat und habe nicht vor, die Vorlagen des Vorstands einfach abzunicken. Seinem Vorsatz ist Wendelin Wiedeking treu geblieben. Seit die von ihm geführte Porsche AG mit rund 31 Prozent der mit Abstand größte Aktionär des einstigen Staatsunternehmens ist und das Land Niedersachsen (20 Prozent) überflügelt hat, widmet Wiedeking einen Großteil seiner Energie dem Wolfsburger Großkonzern. Als Erstes formulierte er Ziele. Ebenso erfolgreich wie Toyota müsse der größte europäische Autokonzern werden, gab der Manager vor. Er selbst hat – ebenfalls mit Rückgriff auf Toyota-Rezepte – die schwäbische Sportwagenschmiede zum rentabelsten Automobilhersteller der Welt gemacht. Vergangene Woche hat Wiedeking dann in einem Interview mit den Stuttgarter Nachrichten einige Dinge gesagt, die aus seiner Sicht »Selbstverständlichkeiten« sind. Auf die Frage nach der Zukunft der »besonderen Mitbestimmung« und des Haustarifvertrags bei VW entgegnete er: »Wir sind heute bei VW in der Rolle eines Großaktionärs. Sollten wir jedoch eines Tages ein Konzern sein, werden sicherlich einige Themen auf die Tagesordnung kommen. Man muss permanent alles hinterfragen: Ist das noch zeitgemäß, passt das noch? Da darf es keine heiligen Kühe geben, denn die gibt es auch bei Porsche nicht. Wir kämpfen um unsere

VON DIETMAR H. LAMPARTER

DIE CHEFS haben gut lachen: Wendelin Wiedeking (Porsche, links) und Martin Winterkorn (VW)

der Abläufe und Profitabilität noch längst nicht auf Toyota-Niveau ist, kann keiner bestreiten. Dabei haben die Arbeitnehmer schon erhebliche Zugeständnisse gemacht. Nachdem sich die niedersächsische IG Metall zur Sicherung der Arbeitsplätze im vergangenen Jahr auf eine Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich eingelassen hat, liegen die einst als »üppig« gescholtenen Tarife der VW-Werker in etwa auf dem Niveau ihrer Kollegen von Audi in Bayern und BadenWürttemberg. Auch die meisten Porsche-Werker arbeiten nach dem im Ländle gültigen Tarif. Die AudiLeute und erst recht die Porsche-Kollegen bekommen sogar noch ordentliche Gewinnbeteiligungen obendrauf. Nach Auskunft von VW-Personalvorstand

Horst Neumann sind die Löhne bei Porsche höher als bei VW. Übernommene Lehrlinge der VW-Werke in Wolfsburg, Salzgitter oder Emden müssen sich mit einer Bezahlung auf dem Niveau des niedersächsischen Flächentarifs begnügen. Heikler ist die Frage der »besonderen Mitbestimmung«. Betriebsratschef Osterloh will Einfluss auf wichtige Entscheidungen nehmen. Zum Beispiel wenn es darum geht, an welchem Standort welches Auto gebaut wird. Osterloh hat eine starke Machtbasis: Fast 100 Prozent der westdeutschen VW-Werker sind in der IG Metall organisiert. Doch künftig muss sich der VW-Betriebsratschef seine Macht mit den Stuttgarter Kollegen teilen. Die Porsche wird unter dem Dach einer neuen Führungsgesellschaft namens Porsche Automobil Holding SE, die nach europäischem Recht gegründet wurde, eingegliedert. Sie wird auch die Porsche-Anteile an VW halten. Der Porsche-Betriebsratsvorsitzende Uwe Hück hat stolz verkündet, dass es gelungen sei, »die Grundzüge der deutschen Mitbestimmung« auf die neue Gesellschaft zu übertragen. Tatsächlich sitzen im Holding-Aufsichtsrat paritätisch je sechs Kapitalund Arbeitnehmervertreter. Allerdings kommen alle sechs Arbeitnehmervertreter von Porsche und der IG Metall Baden-Württemberg, die Kollegen von VW und Niedersachsens IG Metall bleiben außen vor. Das hat Osterloh offenbar massiv verärgert, aber er kann dagegen nichts machen. Der Ärger wird wohl noch zunehmen. PorscheChef Wiedeking hat schon eingeräumt, dass man in Stuttgart bereits über Optionen für den weiteren Zukauf von VW-Anteilen verfüge. Ob und wann

diese ausgeübt werden, ob Porsche gar die Mehrheit übernehmen will, ließ er offen. Vor dem Herbst wird aber wohl nichts passieren. Denn erst dann steht eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs darüber an, ob das geltende VW-Gesetz mit europäischem Recht vereinbar ist. In dem Gesetz ist unter anderem festgelegt, dass kein VW-Anteilseigner mehr als 20 Prozent der Stimmrechte ausüben darf. Das stört Wiedeking und die Aktionäre aus den Familien Piëch und Porsche. Es wird allgemein erwartet, dass das Urteil der europäischen Richter die Stimmrechtsbeschränkung beseitigen und Porsche den Weg frei machen wird. Die Mehrheit an VW könnte dann in die Hände der Familien Porsche und Piëch kommen. Der Aufsichtsrat in Wolfsburg hätte als Machtinstanz ausgedient. Das Mitbestimmungsgremium, auf das es daraufhin ankäme, wäre der Aufsichtsrat in Stuttgart. Für diesen Fall ist eine »angemessene« Berücksichtigung der VW-Vertreter vorgesehen. Angemessen für Hück und seinen baden-württembergischen Kollegen sind drei der sechs Arbeitnehmersitze, wie zu hören ist. Für Osterloh ist das unakzeptabel, ist doch die Belegschaft von VW um ein Vielfaches größer als die von Porsche. Ferdinand Piëch, der derzeitige VW-Aufsichtsratschef, dürfte freilich wenig Mitleid mit seinen alten Verbündeten haben. Dass die ihm halfen, den in Ungnade gefallenen VW-Chef Bernd Pischetsrieder abzuservieren, ist Schnee von gestern. Bei Porsche sind die Machtverhältnisse ohnehin klar: Gegen die Piëchs und Porsches geht gar nichts.

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Markt, Lügen und Video Wer sind die Kunden der Wissenschaft? Gedanken eines Informatikprofessors bei einem Marketingkurs VON LORENZ M. HILTY

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ir sind angetreten, um zu lernen, wie wir unsere Forschungsergebnisse besser vermarkten können. Herr Dr. M., er wird vorgestellt als erfahrener Marketingberater, erscheint auf der Bühne. Marketing sei eine Geisteshaltung, sagt er. Marketing mache man immer, sogar unbewusst. Sogar wenn wir nur miteinander redeten, machten wir Marketing. Wozu Marketing gut ist, zeigt sein erstes Beispiel: Das Videosystem VHS habe sich im Markt durchgesetzt, obwohl das Konkurrenzsystem – er nennt es »Beta 2000« – technisch überlegen gewesen sei. Wir staunen. Wie ist das Wunder möglich gewesen? VHS habe eben das bessere Marketing gehabt, sagt Herr M. Ein Raunen im Publikum. Da sieht man doch gleich, dass die Welt ohne Marketing arm dran wäre. So arm, dass man bessere Videorekorder gehabt hätte. Moment mal, Herr M.! Überträgt man Ihr Beispiel auf die Wissenschaft, bedeutet das ja: Forschungsergebnisse schlechter Qualität lassen sich mit dem richtigen Marketing gegen besser fundierte Ergebnisse durchsetzen. Oder die seriösere Forschungsgruppe verliert bei der Einwerbung von Drittmitteln gegen die Konkurrenz, weil diese die schöneren Anträge schreibt. Ich hege zwar den Verdacht, dass das so ist, habe es aber bisher nicht für eine förderungswürdige Seite des Wissenschaftsbetriebs gehalten. Offenbar fehlt mir dazu noch die richtige Geisteshaltung. »Guter Punkt!«, erwidert Herr M. auf meine skeptischen Einwände und sammelt weitere Fragen, rastlos durchs Publikum streifend. Nun kommt der Referent auf das Thema Qualität zu sprechen. »Qualität ist, was den Kunden zufriedenstellt«, verkündet er und hechtet wieder auf die Bühne. Meine Gedanken schweifen ab. Ich erinnere mich an Professor R. von der Universität Genf, der mit seinen Studien immer wieder belegte, dass Passivrauchen für die Gesundheit unbedenklich sei. Bis bekannt wurde, dass er ein zweites Einkommen von der Tabakindustrie bezog. Hut ab! Der Kerl hat gewusst, was Qualität ist. Der muss zufriedene Kunden gehabt haben. Zufrieden konnte auch der Exxon-Konzern sein, der Forscher und Institute bis 2005 dafür bezahlte, Erkenntnisse über den Klimawandel infrage zu stellen und professionell Verwirrung zu stiften. Harte 10 000 US-Dollar für jeden Wissenschaftler, der einen Artikel schrieb, der den Klimabericht der UN in Zweifel zog. Jetzt wird mir alles klar: Das waren Qualitätsprämien! Insgesamt 16 Millionen Dollar. Für dieses Geld hätte man noch ein paar Touristen den Aletschgletscher zeigen können, bevor er ganz verschwindet. Aber es geht hier ja um Forschungsmarketing, nicht um Tourismusmarketing.

Auf jede kritische Frage entgegnet der Referent: »Guter Punkt«

Illustration: Nicolas Mahler für DIE ZEIT; www.mahlermuseum.at

Während ich mir diese Gedanken mache, läuft unser Wanderprediger zur Hochform auf, wirbelt wieder im Publikum herum. »Guter Punkt!«, entgegnet er immer wieder auf kritische Fragen der Kollegen. Ja, diese anfängliche Skepsis sei bei Akademikern aus dem Elfenbeinturm der Forschung immer zu spüren. Aber wir haben ja noch einen ganzen Tag vor uns, um gemeinsam daran zu arbeiten. Wie naiv war ich doch, bevor ich diesen Workshop betrat. Ich betrachtete uns Wissenschaftler als »Zwerge auf den Schultern eines Riesen«, wie man seit Bernhard von Chartres sagt. Zwerge, die bemüht sind, einen bescheidenen Beitrag zum Wissensfortschritt zu leisten, damit unsere Kinder dereinst auf noch höhere Schultern steigen können. Ja, ich glaubte allen Ernstes, die Scientific Community hätte ihre eigenen Qualitätsmaßstäbe. Ich war dem Aberglauben an Unvoreingenommenheit, Präzision und Integrität verfallen. Jetzt erfahre ich: Ich bin gar kein Zwerg! Ich bin eine Marionette des Marktes! Da bin ich aber erleichtert. Wie gut, dass es Berater wie Herrn M. gibt, die einem dazu die richtige Geisteshaltung eintrichtern. Kunden, Kunden, Kunden. Studierende sind Kunden, Fördertöpfe sind Kunden, Evaluationsteams sind Kunden, einfach alle sind Kunden. Die Welt ist voller Kunden-Könige – eine Universalmonarchie. Nur wir sind die Deppen, wir stehen

knapp vor dem Eingang in die selbst verschuldete Unmündigkeit. In gewisser Weise hat Herr M. vielleicht sogar recht. Wenn wir uns darauf einigen könnten, dass die kommenden Generationen die wichtigsten Kunden der Wissenschaft sind, wären wir gar nicht so weit auseinander. Es ist nur so schwierig, mit dem Referenten Argumente auszutauschen. Anscheinend kann er auf Fragen und Kommentare nur mit »Guter Punkt!« antworten und seine Slide-

show weiterklicken, um animierte Leere zu zeigen. Das wirkt, als hätte ihn jemand dressiert. Schade, sonst hätte ich ihn noch gefragt, wie man etwas an Kunden verkauft, die noch nicht geboren sind. Stattdessen verlasse ich den Saal. Den Ausspruch »Guter Punkt« könnte ich kein weiteres Mal ertragen. In einem Workshop über Forschungsmarketing hätte ich etwas weniger Show und mehr Diskussion erwartet. Aber ich bin hier ja nur Kunde. Nur Kunde? Genau: Mit der Verinnerlichung des

Marketing-Evangeliums scheint es beim Referenten noch ein wenig zu hapern. Trotz froher Kunde bin ich kein froher Kunde. Guter Punkt? Interessiert es Sie, was die Videokassette im Innersten zusammenhält? Mich eigentlich nicht. Dennoch sei der Form halber ergänzt, dass das Eingangsbeispiel von Herrn M. sachlich falsch war. Es gab nie ein Format namens Beta 2000. Die Konkurrenzformate von VHS waren Betamax und das technisch überlegene Video 2000. Dieses hat den

Konkurrenzkampf hauptsächlich deshalb verloren, weil der Philips-Konzern, so seltsam das klingt, aus religiösen Motiven keine Lizenzen an die Pornofilmindustrie verkaufen wollte. Und die Videotheken mit ihren Pornos haben das Rennen entschieden. Marketing ist nicht an allem schuld. Prof. Dr. Lorenz M. Hilty leitet die Abteilung Technologie und Gesellschaft der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa und lehrt an den Universitäten St. Gallen und Zürich

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Blühender Osten Polen steckt im politischen Chaos. Der Wirtschaft ist das egal: Das Land boomt VON CHRISTIAN TENBROCK

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ast alles habe sich geändert, sagt Mirosław Dziewiór. Nur wenige Menschen verlieren sich in den Gängen des Arbeitsamts an der Millionowastraße in Łódź. Hunderte seien es noch vor ein paar Jahren gewesen, sagt Direktor Dziewiór, jeden Tag aufs Neue, und nur die wenigsten hätten sich Hoffnung auf einen Job machen können. Damals, als in der zentralpolnischen Großstadt 60 000 keine Arbeit hatten und die Arbeitslosenquote bei rund 20 Prozent lag. Heute hängen die neuen Jobs auf Dutzenden Zetteln an den Wänden des Arbeitsamts aus, einer neben dem anderen, fünf, sechs Reihen übereinander und pro Reihe zehn, zwölf Angebote. Aus der Region, aus ganz Polen und auch aus Großbritannien, Spanien, Irland oder Schweden. Gesucht werden Verkäufer. Vertreter. Monteure. Installateure. Lkw-Fahrer. Bäcker. »Jobs gibt es genug«, sagt Direktor Dziewiór, »es mangelt an Leuten, die sie haben wollen.« Die Arbeitslosenquote in Łódź ist auf unter 12 Prozent gesunken. Das ist die offizielle Zahl, in Wirklichkeit dürften es vielleicht halb so viel sein, weil viele, die Geld vom Staat beziehen, zugleich schwarzoder im Ausland arbeiten. Von knapp 20 Prozent vor drei Jahren auf rund 12 Prozent heute, das ist die Entwicklung der Arbeitslosenquote auch in ganz Polen. Die Stadt ist typisch für das Land: Łódź boomt, Polen ebenfalls. Im ersten Halbjahr 2007 wurde ein Wachstum von 7,1 Prozent verzeichnet, fast dreimal so viel wie beim Nachbarn Deutschland. Das Exportgeschäft brummt, Auslandsinvestoren geben sich bei städtischen Entwicklungsämtern die Klinke in die Hand, Läden und Einkaufszentren sind voll. »Wir verzeichnen ein breites und stabiles Wachstum, getrieben vom Konsum, vom Export und von den Investitionen«, sagt Maciej Reluga, Chefökonom bei der Warschauer Bank Zachodni. Das ist erstaunlich. Steckt Polen nicht im politischen Chaos? Erst am vergangenen Freitag stimmte das Parlament in Warschau seiner Selbstauflösung zu; nun soll es am 21. Oktober Neuwahlen geben. Damit wurde ein Monate dauernder Kampf beendet, in dem es weniger um Inhalte als um Korruption, abgehörte Minister und geheime Treffen zwischen Wirtschaftsoligarchen und ihren Lakaien in der Politik ging (siehe nebenstehenden Bericht). Schon zuvor war die rechtskonservative Koalitionsregierung unter der Führung von Jarosław Kaczyński immer wieder durch interne Konflikte in die Schlagzeilen geraten. Wenig Politik, viel Kampf und Krampf: Das schien das Motto der letzten zweieinhalb Jahre zu sein. Nur – der Wirtschaft hat das wenig ausgemacht. »Der Wirtschaft war die Politik weitestgehend egal«, sagt Andrzej Koźmiński. Der Gründer und Chef einer der angesehensten privaten Managementschulen Warschaus gilt als intimer Kenner der polnischen

Ökonomie und Politik. »Vergleichen Sie uns mit Italien«, sagt Koźmiński mit einem verschmitzten Lächeln: »Hier wie dort wechseln die Regierungen häufig, und ihre Kompetenz ist begrenzt. Die Schattenwirtschaft blüht, Korruption ist weit verbreitet. Aber in beiden Ländern gibt es viel Unternehmergeist, und beiden Ländern geht es ganz ordentlich.« Mehr als ordentlich, meint Hans-Werner Höfer. Zum

Beweis bittet der Leiter der Bosch-Siemens-Hausgerätefabrik in Łódź den Besucher ans Fenster seines Büros und lässt ihn auf den Firmenparkplatz schauen. »Sehen Sie kleine, alte Fiats?«, fragt er. »Die gibt es kaum noch. Vor ein paar Jahren war das anders.« Zurück am Konferenztisch, sagt Höfer, dass Polen kein Billiglohnstandort mehr sei. »Polen entwickelt sich vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmerland.« Will sagen: Arbeitgeber können nicht mehr so frei schalten und walten, seitdem Arbeitnehmer – gute und qualifizierte zumal – rar geworden sind. Höfer sucht schon an den Universitäten und Schulen nach neuen Leuten und hat während der letzten vier Jahre jährlich durchschnittlich sechs bis acht Prozent mehr Lohn gezahlt. In diesem Jahr wird es im Durchschnitt aller polnischen Firmen sogar ein Plus von zehn Prozent geben. Bei Bosch-Siemens liegt der Verdienst eines Facharbeiters inzwischen bei umgerechnet 660 Euro brutto, in etwa so viel wie auch im Rest des Landes. In Warschau allerdings ist eine qualifizierte Kraft kaum unter 1000 Euro zu haben, und in der Hightechbranche müssen für einen Informatiker auch schon mal 1500 bis 2000 Euro gezahlt werden. Das Selbstbewusstsein der arbeitenden Klasse nimmt zu. Polenweit wurden im ersten Halbjahr 2007 mehr als 120 Streiks gezählt, so viele wie lange nicht. Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften – in Łódź wie überall sonst – hat viele Ursachen. Neben dem schlechten Bildungssystem ist die Emigration eine der wichtigsten. Seit das Land 2004 Mitglied der EU wurde, haben bis zu 1,5 Millionen Polen ihrer Heimat den Rücken gekehrt, vor allem in Richtung Großbritannien und Irland, die ihre Grenzen für die Osteuropäer öffneten. Überwiegend gingen dabei die Jungen und die gut Gebildeten. Die Warschauer Migrationsforscherin Krystyna Iglicka schätzt, dass mehr als jeder zehnte Pole unter 35 inzwischen im Ausland lebt – ein Aderlass, der nur schwer verkraftbar ist. Denn der Boom fordert immer neue Arbeitskräfte. Besonders deutlich wird das am Bau. Hier verzeichneten die Statistiker allein im ersten Quartal 2007 eine Zunahme der Bruttowertschöpfung gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum um sagenhafte fast 40 Prozent. Die Zahl der von den Banken vergebenen Hypothekenkredite ist seit 2004 jedes Jahr um 60 Prozent gestiegen. Längst kann die Nachfrage nach Wohnungen und Büros von

polnischen Baufirmen mit polnischen Arbeitskräften kaum mehr befriedigt werden. Im Westen des Landes arbeiten schon die ersten deutschen Kolonnen – wohlgemerkt: mit deutschen Arbeitern. Ansonsten kommen Ukrainer, Russen, Weißrussen, Usbeken und Tadschiken. 600 000 Ausländer sollen inzwischen ohne Papiere im Land leben. Das Warschauer Arbeitsministerium sondiert, ob künftig auch Chinesen und Inder eine Arbeitserlaubnis bekommen. Nicht nur das Baugeschäft floriert, auch die private Nachfrage nach Konsumgütern steigt. Autos, Elektronik, Haushaltswaren – die Polen kaufen ein. Vielfach kaufen sie von Auslandsfirmen, die in ihrem Land produzieren. Für Unternehmen wie etwa Fiat, VW, Opel, Bosch-Siemens oder japanische und koreanische Elektronikkonzerne ist Polen zu einem zentralen europäischen Produktionsstandort geworden. Das Land wird 2007 zur Nummer eins in Europa bei der Herstellung von Flachbildschirmen; 2,5 Millionen Waschmaschinen, 2,4 Millionen Kühlschränke und über 600 000 Autos dürften in diesem Jahr seine Fabriken verlassen. All das treibt auch das Exportgeschäft. Schon 2006 hatten die polnischen Ausfuhren gegenüber dem Vorjahr um 23 Prozent zugelegt. 2007 dürfte der Zuwachs wieder zweistellig ausfallen. Der größte polnische Exporteur ist dabei Fiat, das seinen neuen Kult-Kleinwagen, den Fiat 500, ausschließlich in der Stadt Tychy bauen lässt. Als Ziel ausländischer Investoren steht Polen unter allen Staaten Osteuropas trotz gestiegener Löhne inzwischen wieder auf einem Spitzenplatz. 2006 schaufelten sie über 11 Milliarden Euro ins Land, während der ersten sechs Monate dieses Jahres waren es erneut 4,9 Milliarden. Damit werde Polens Kapitalismus noch immer weitestgehend mit ausländischem Kapital gebaut, sagt in Łódź Bürgermeister Jerzy Kropiwnicki. Mit dem Kapital kommt aber auch Technologie ins Land. Im Hinterhof des Łódźer Rathauses hat der Bürgermeister einen Gedenkstein aufstellen lassen; »Philips – 17.06.2004, Dell – 21.11.2006«, steht darauf zu lesen. Dass eine Elektronik- und eine Computerfirma sich in diesen Tagen endgültig für Łódź entschieden hätten, sei Symbol für den Wandel seiner Stadt, meint Kropiwnicki. Schließlich galt Łódź einmal als das Manchester Osteuropas. Nach dem Ende des Kommunismus gingen hier Zehntausende Arbeitsplätze verloren, vor allem in der Textilindustrie. Vor fünf Jahren war die Stadt praktisch pleite. Seither haben ausländische Kapitalisten rund 1,3 Milliarden Euro in neue Arbeitsplätze investiert. Aus den ehemaligen Textilfabriken wurden Einkaufszentren und Bürogebäude, die vor dem Ersten Weltkrieg errichteten Paläste und Villen früherer Textilfabrikanten erstrahlen in neuem Glanz. Dazu feiert Łódź neuerdings seine jüdischdeutsch-polnischen Wurzeln mit Festivals und Aus-

Agenten, Politiker, Milliardäre Der Kampf gegen die Korruption wird zum Wahlkampfthema in Polen. Die Opposition befürchtet eine Hexenjagd

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s war wie eine Mischung aus Polizeithriller und Action-Reißer, als am letzten Donnerstag im August morgens um sieben vermummte Mitglieder des polnischen Inlands-Geheimdienstes an einer Wohnungstür in Warschau klingelten – vor laufenden Kameras. Verhaftet wurde Polens Exinnenminister Janusz Kaczmarek. Festgenommen wurde an anderem Ort auch der frühere Polizeichef des Landes, Konrad Kornatowski. Zeitgleich stürmten ein Dutzend Agenten eine Villa in Gdańsk. Ihr Besitzer Ryszard Krauze, Softwareunternehmer, Immobilienhai und Milliardär, war allerdings nicht zu Hause. Er hatte sich ins Ausland abgesetzt, möglicherweise in die Schweiz. Kaczmarek, Kornatowski und Krauze wurden beschuldigt, in eine Affäre verwickelt zu sein, in der es um die Weitergabe geheimer Informationen über Ermittlungen der Zentralen Antikorruptionsbehörde (CBA) geht. Inzwischen wird davon kaum noch geredet, Kaczmarek und Kornatowski sind längst wieder auf freiem Fuß. Ein Video, das angeblich ein Treffen des Exministers mit dem Unternehmer im 41. Stock eines Warschauer Hotels dokumentiert, ist möglicherweise gefälscht. Die schmutzige, verworrene Affäre weist nach vorn – auf einen wahrscheinlich noch schmutzigeren Wahlkampf. Und sie weist zurück: Bei ihrem Amtsantritt vor zwei Jahren verschrieb sich die bislang amtierende rechtspopulistische Regierung des Premiers Jarosław Kaczyński dem Kampf gegen Korrup-

tion und mächtige Seilschaften aus früheren Geheimdienstagenten, Politikern und einflussreichen Unternehmern. Dass es diese Seilschaften gibt, ist unbestritten. Wirkliche Erfolge im Antikorruptionskampf gab es für Kaczyński bislang allerdings kaum – bis vor Kurzem nach Informationen des Nachrichtenmagazins Wprost in Geheimdienstakten Material über die Anfänge einiger polnischer Firmeninhaber gefunden wurden, auch über Ryszard Krauze.

Foto [M]: Lukasz Ostalski/Reporter/Eastway

ŁÓDŹ galt als das Manchester Osteuropas. Nach 1989 wurden manche Textilfabriken stillgelegt (Foto ganz rechts). Aus anderen wurde das Einkaufs- und Kulturzentrum Manufaktura. Neuerdings blüht die Stadt wieder auf, viele Wohnungen werden gebaut

Kein Unternehmer ist mit so vielen Politikern auf Du wie RYSZARD KRAUZE

Seither spekulieren polnische Medien darüber, ob dem 51-jährigen Milliardär Ähnliches geschieht wie manchem russischen Oligarchen. Kein anderer Unternehmer ist mit so zahlreichen Politikern per Du wie Krauze. Sowohl zu Linken (Expräsident Aleksander Kwaśniewski) wie zu Rechten (Exlandwirtschaftsminister Andrzej Lepper) hält er gute Kon-

takte. Einflussreiche Politiker halfen ihm möglicherweise, aus seiner Anfang der Neunziger noch kleinen Softwarefirma Prokom mit Hilfe von Staatsaufträgen einen in Polen mächtigen Giganten zu machen. Inzwischen ist Krauze außerdem an einem der größten Wohnimmobilienprojekte Europas in Warschau beteiligt und hält Anteile an Ölfirmen in Asien. Dem Unternehmer wird nachgesagt, er benötige nur eine Viertelstunde, um jeden um den Finger zu wickeln. Nur – Nachweise über korrupte Praktiken hat es bislang nicht gegeben. So werfen die bisherigen Oppositionsparteien PO (Bürgerplattform) und LiD (Linke und Demokraten) Kaczyński denn auch vor, mit Hilfe von Feindbildern wie Krauze zu einer Hexenjagd auf den politischen Gegner zu blasen, die Polens Demokratie beschädige. Staatliche Strafverfolgungsorgane würden für illegale Abhöraktionen und Bespitzelungen missbraucht – nicht nur von Politikern, sondern auch von Journalisten. Kaczyński und seine Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) freilich richten ihre Kampagne für die Wahlen am 21. Oktober bereits auf den Kampf gegen die »Reichen und Mächtigen« im Lande aus. »Wir sorgen dafür, dass diese Leute ihre Privilegien verlieren«, drohte der Premier. Damit spricht er jenen aus dem Herzen, die daran glauben, dass Polens Kapitalismus nur einer Minderheit viel, der Mehrheit aber wenig nutzt. Und weil Millionen so denken, könnte Jarosław Kaczyński nicht nur der bisherige, sondern auch der nächste Premier des Landes sein. TEN/MZ

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Fotos [M]: (v.l.n.r.) Mark Power/Magnum Photos/Agentur Focus; Lukasz Trzcinski/laif; Bastian/Caro (2); Mauritius

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stellungen. »Seit fünf Jahren hat die Stadt sich rasant entwickelt«, stellt Hans-Werner Höfer fest, »wohl auch dank einer sehr guten Politik.« »Eine gute Politik?« Da muss Adam Szejnfeld

lachen. Nicht um Łódź geht es ihm, um Wrocław, Poznań, Gdańsk oder andere polnische Städte und Regionen, die inzwischen ihr Comeback geschafft haben. Der wirtschaftspolitische Sprecher der oppositionellen Bürgerplattform (PO) reagiert auf die Frage, ob auch eine gute Politik der Regierung Kaczyński für Polens gute ökonomische Lage verantwortlich sei. »Diese Regierung«, sagt er, »hatte keine Wirtschaftspolitik. Polen hat durch sie Jahre verloren.« Nicht nur der Oppositionspolitiker denkt so. Auch die meisten Experten glauben, dass die neue Stärke des Landes wenig mit seinem gegenwärtigen politischen Führungspersonal zu tun hat. »Die Bausteine für die gute Entwicklung wurden von früheren Regierungen gelegt – die Privatisierung, die Liberalisierung der Wirtschaft und die Schaffung eines stabilen institutionellen Rahmens. Dazu kommen seit 2004 die Impulse durch den EU-Beitritt«, sagt etwa Tomasz Kalinowski, Ökonom am Institut für marktwirtschaftliche Forschung in Gdańsk. »Um Wirtschaftsfragen hat sich die Politik während der vergangenen zwei Jahre nun wirklich nicht gekümmert«, ergänzt Witold Orlowski, der den früheren polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwaśniewski beriet und heute in Diensten von PricewaterhouseCoopers in Warschau steht. Bemängelt wird vor allem, dass Jarosław Kaczyński das Land in den gegenwärtig guten Zeiten nicht fit für schlechtere Tage gemacht hat. Schon Ende 2006 rügte die EU-Kommission, dass die polnische Regierung nicht genug für eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung tue. Notwendig wären dafür schmerzhafte Sozialreformen. Polen steckt Milliarden in die Frühverrentung, in Invaliditätshilfen sowie in Sonderzahlungen für Bauern und gibt mehr Geld für Soziales aus als der Durchschnitt der in der OECD organisierten Industrieländer. Von den staatlichen Töpfen profitiert vor allem jenes Drittel der polnischen Gesellschaft, das beim Übergang zur Marktwirtschaft nicht mitgekommen ist. Aus diesen teilweise bitterarmen, überwiegend auf dem Land lebenden Gruppen wiederum speist sich ein guter Teil der Wähler der Kaczyński-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Klar also, dass der Regierungschef keinen strikten Sparkurs gefahren ist – und es auch nicht vorhat: Nur wenige Tage vor der Parlamentsauflösung kündigte die PiS-Regierung an, dass künftig noch mehr Polen früh in Rente gehen

Polen in Zahlen O STSE E

Gdańsk Szczecin

Warschau Łódź

P O LE N Kraków 200 km

38,1 Millionen

Einwohner Bruttoinlandsprodukt pro Kopf

Durchschnittl. Monatslohn (brutto)

7077 Euro 630 Euro

Wirtschaftswachstum

5,8 %

Inflationsrate

1,3 %

wichtigste Handelspartner: Importe Exporte

Deutschland, Russland, China Deutschland, Italien, Frankreich

ZEIT-Grafik/Quelle: bfai; alle Angaben 2006

könnten. Nach Schätzungen des Verbands polnischer Arbeitgeber wird das den Staat pro Jahr knapp eine Milliarde Euro zusätzlich kosten. Für Investitionen in die Zukunft ist dagegen zu wenig Geld übrig. Die Ausgaben für Wissenschaft und Forschung sind lächerlich gering, viele Straßen, Bahnstrecken und Flughäfen nach wie vor in einem maroden Zustand. Weder in Ost-West- noch in Nord-SüdRichtung besitzt Polen durchgehende Schnellstraßen, überhaupt gibt es erst 665 Kilometer Autobahnen. Geld fehlt auch für eine Reform des nach Worten von

Andrzej Koźmiński »völlig unzureichenden« öffentlichen Dienstes. Nicht nur steht das Heer der Staatsbediensteten unter der Knute der Politik (Koźmiński: »Selbst Putzfrauen werden nach einem Machtwechsel ausgetauscht«), es ist vielerorts auch unterbezahlt, überbesetzt und unfähig, seine Aufgaben zu erfüllen. Ein Fünftel der Arbeitszeit privater Firmen gehe für den Umgang mit Behörden drauf, beklagen polnische Arbeitgeber. Die Rahmenbedingungen für Unternehmen gehören laut einem Index der Weltbank zu den schlechtesten in der EU.

Überhaupt liegt Polen trotz der zuletzt rasanten Aufholjagd noch weit zurück. Während die Region Warschau inzwischen mehr als drei Viertel des Durchschnittseinkommens der EU erreicht haben dürfte, steht das Land insgesamt bei nur wenig mehr als der Hälfte. Deshalb ist Polen größter Nettoempfänger von EU-Finanzmitteln. Von 2007 bis 2013 wird das Land bis zu 60 Milliarden Euro aus dem Europäischen Regionalfonds und 30 Milliarden für seine Bauern erhalten. »Europa ist für Polen ein wichtiger Stabilisierungsfaktor«, sagt der Ökonom Maciej Reluga.

Davon allerdings wird im aufziehenden Wahlkampf wenig die Rede sein. Auch die Frage, wie Polen auf schlechtere Zeiten vorbereitet werden kann, dürfte keine große Rolle spielen. Schon vor einigen Wochen drohte Exjustizminister Zbigniew Ziobro, er habe Dossiers über halbseidene Verstrickungen diverser Oppositionspolitiker angelegt. »Der Wahlkampf«, sagt der PO-Mann Adam Szejnfeld voraus, »wird unglaublich schmutzig werden.« MITARBEIT: MAŁGORZATA ZDZIECHOWSKA

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WIRTSCHAFT

13. September 2007

DIE ZEIT Nr. 38

Was bewegt …

Andris Piebalgs?

Mister 100 000 Volt D ie nächste Woche wird hart für Andris Piebalgs. Am Montag wird er 50 Jahre alt, was er »traurig« findet, weil es von nun an abwärts gehe. Feiern wolle er das nicht. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass er zwei Tage später den, wie er sagt, »wichtigsten Tag« seiner bislang knapp dreijährigen Zeit als Europäischer Energiekommissar erleben wird. Die EU-Kommission will am Mittwoch gleich fünf Gesetzesvorschläge verabschieden, die schließlich zu einem freien Strom- und Gasmarkt in Europa führen sollen. Piebalgs ist als Energiekommissar verantwortlich für die Texte, auf die sich alle 27 Kommissionsmitglieder einigen müssen. Zwar macht bereits ein Entwurf in Brüssel die Runde, doch sicher ist bis Mittwoch nichts. Piebalgs wird bis zuletzt Einzelgespräche führen müssen. Jeder Satz steht bis dahin auf dem Spiel. Der Druck ist enorm. Dem freundlichen Mann in dem dunkelblauen Anzug scheint die Situation nicht aus der Ruhe zu bringen. Er nimmt sich Zeit für seine Gesprächspartner, hört genau zu und spricht, wenn er kann, in deren Sprache. Sein Deutsch ist sehr gut. Auch sein Englisch, Französisch, Russisch und Estnisch soll fließend sein. Nur das weiche, singende in seiner Aussprache verrät, dass er aus dem Osten Europas stammt. Andris Piebalgs kommt aus Lettland, dem mittleren der drei baltischen Länder, die seit März 2004 in der EU sind. Damals ahnte keiner, dass das Thema Energie eine so große Bedeutung bekommen würde. Und

weil nun mal jedes Mitgliedsland einen Kommissar stellen darf, bekam der freundliche lettische Bürokrat den Job. Piebalgs war schon seit 1998 in Brüssel, wo er zunächst als Botschafter, später als stellvertretender Staatssekretär im Außenministerium die Beitrittsverhandlungen seines Landes führte. Unabhängig von der Erweiterung im März des Jahres musste die Kommission turnusgemäß im Herbst neu aufgestellt werden. Nachdem die lettische Kandidatin aber wegen einer Parteispendenaffäre kurzfristig ausgetauscht werden musste, brauchte die Regierung in Riga einen neuen Kandidaten, der sowohl dem Land als auch der Kommission keinen Kummer mehr bereiten würde. Das war Andris Piepalgs. Der Diplomat. Piebalgs zeigte sich seiner neuen Aufgabe gewachsen. Viele seiner Landsleute sind stolz auf ihn. Nur E.on-Chef Wulf Bernotat ist auf Piebalgs nicht gut zu sprechen. Schon dreimal ist der Energiemanager nach Brüssel gereist, um Piebalgs persönlich die Zerschlagung seines Konzerns auszureden. »Piebalgs vertritt seine Position mit Nachdrücklichkeit, aber er lotet aus, was politisch machbar ist«, sagt die Europaabgeordnete Angelika Niebler, die dem Energieausschuss vorsitzt. Stur ist der Kommissar nicht. »Ein gerechter, kluger Technokrat«, lobt der lettische Abgeordnete Aldis Kuskis. »Ein Pragmatiker, aber kein Kämpfer«, relativiert der konservative Abgeordnete Herbert Reul. Es gibt auch Leute, die behaupten, er sei vor Deutschland und Frankreich eingeknickt, die so vehement gegen sein Gesetz angehen.

Fotos: Monasse/modusphoto.com; (Ausschnitt) Mauritius (u.)

Der Brüsseler Energiekommissar ist der Angstgegner der deutschen Strombosse. Denn der freundliche Lette betreibt die Zerschlagung der Energiekonzerne VON SOPHIE BÜNING

Nach dem jetzigen Stand wird sich die Kommission nächste Woche auf einen Gesetzestext einigen, der zwei Varianten vorsieht. An erster Stelle steht die sogenannte Entflechtung, die Piebalg bevorzugt. Kein Unternehmen dürfte noch gleichzeitig Energie erzeugen und Übertragungsnetze betreiben. In Deutschland ist das bis heute der Fall. Piebalgs und seine Unterstützer bezweifeln, dass diese Energiekonzerne ihre Netze wirklich öffnen, geschweige denn verbessern, wenn sie befürchten müssen, dass ihre eigenen Konkurrenten sie besser attackieren können. Elf der 27 EU-Länder, wie England, Italien oder Spanien, die schon heute getrennte Märkte haben, setzen sich für gleiche Bedingungen im restlichen Europa ein. Im Gegenzug halten insbesondere die Schwergewichte Frankreich und Deutschland die Zerschlagung für maßlos übertrieben und drohen seither mit Boykott. Genau deshalb hat Piebalgs eine zweite Variante in seinem Text akzeptiert. Die sieht vor, dass die Aktionäre von E.on oder RWE zwar weiterhin Besitzer der Netzwerke bleiben dürfen, die Entscheidungen über Investitionen und Nutzungsrechte aber von einem unabhängigen Gremium getroffen werden. Piebalgs weiß sehr wohl, dass bei einem so sensiblen Thema wie Energie, wenn überhaupt, nur ein Kompromiss die Chance hat, durch den Rat zu kommen. Die Kommission darf als einzige Institution Gesetze vorschlagen. Je mehr Spielraum der Gesetzesentwurf lässt, desto geringer die Gefahr, dass Rat und Parlament sich festbeißen und am

Ende gar nichts verabschiedet wird. So ist dieses Nachgeben also nicht Schwäche, sondern Kalkül gewesen. »Es ist klug von ihm, lieber einen kleinen als gar keinen Schritt zu wählen«, sagt Niebler. Doch der Streit unter den Regierungschefs wird auch so nicht zu vermeiden sein. Denn aus Deutschland ist bereits zu hören, dass die Bundesregierung mit diesem Kompromiss ebenfalls noch nicht zufrieden ist. In Brüssel bezweifelt schon der eine oder andere Beobachter, dass es überhaupt zu einem Gesetz kommen wird. Für den europäischen Energiemarkt, letztendlich auch für Piebalgs, muss das aber nicht unbedingt eine Niederlage bedeuten. Die Diskussion hat Europas Energiegiganten längst in Bewegung gebracht. So haben etwa die Netzbetreiber der drei Beneluxländer gemeinsam mit Frankreich und Deutschland in diesem Sommer ein Abkommen unterzeichnet, demzufolge sie von 2009 an den überregionalen Stromhandel erleichtern wollen. Und genau das bedeutet die Realisierung von Piebalgs Ziel: Dann werden Netzbetreiber endlich in die bislang überlasteten Kuppelstellen an den Landesgrenzen investieren. Dann kann theoretisch bald jeder Deutsche Windkraft aus Holland kaufen. »Das Ziel dieses Abkommens ist natürlich die Marktintegration, also die weitere Stärkung des Wettbewerbs«, sagt ein RWE-Sprecher. Was der Auslöser für diesen neuen wettbewerbsfreundlichen Tatendrang der Energiekonzerne ist, lässt sich leicht vermuten: »Ich denke schon, dass die Unternehmen vor allem aufgrund des Drucks aus Brüssel handeln«, sagt Parlamentarier Reul. Andris Piebalgs genießt diesen heimlichen Triumph. Es ist nicht der einzige Erfolg. So ist es unter anderem auch dem geduldigen Letten zu verdanken, dass sich Europas Regierungschefs im März verbindlich darauf einigten, den Anteil der erneuerbaren Energien in Europa in den kommenden 13 Jahren auf 20 Prozent zu verdoppeln und die Treibhausgase bis dahin um mindestens 20 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Piebalgs hatte in den drei Monaten zuvor eine Europatour gemacht und alle 27 Landeschefs oder deren Minister persönlich in den Hauptstädten aufgesucht. Wie Bundeskanzlerin Angela Merkel ist Piebalgs Physiker. Wie Merkel versteht er, wie man aus Atomspaltung, Sonne, Pflanzen, Wind oder Wasser Strom machen kann. Und als ehemaliger Lehrer kann er es sogar so erklären, dass normale Politiker die Argumente für mehr alternative Energien verstehen. Diese Gespräche seien gut gewesen, sagt er. Doch dann habe ihn enttäuscht, wie schwer es für Merkel gewesen sei die Regierungschefs letztendlich zu einer Unterschrift zu bewegen. Diese Naivität wundert ein wenig, bedenkt man, dass der Mann drei Jahre lang Bildungsminister und zwei Jahre lang Finanzminister in Riga war. Er ahne bereits, sagt er, wie schwer nun der zweite Schritt werde. Bis zum Ende des Jahres will er ein Gesetz vorschlagen, dass eine politisch machbare Lösung für das Wie der 20-ProzentZiele beschreibt. »Im Gegensatz zu seiner Regierung ist Piebalgs ein Grüner«, sagt die lettische Journalistin

Sanita Jemberga, »genau wie seine Landsleute.« Deshalb sei er zu Hause auch beliebt. Aber die Regierung steht nicht hinter ihm. Die ist genau wie die deutsche gegen die Zerschlagung der Energieriesen. Zudem interessiere sie sich nicht sonderlich für die erneuerbaren Energien. »In der lettischen Politik geht es nur um Geld und Geschäfte«, sagt die lettische EU-Abgeordnete Tatjana Zdanoka. Zurzeit streite sich das ganze Land darüber, wer die Nutzungsrechte für ein gerade entdecktes Gasfeld bekommen solle. »Für Piebalgs wird das noch eine Probe werden.« Aber Piebalgs wird versuchen, sich da herauszuhalten. In die lettische Politik wolle er auf keinen Fall zurück. Damals, kurz nach der Unabhängigkeit von Moskau, hatte er seinen Job als Schuldirektor aufgegeben und die liberale Partei Lettlands Weg mitgegründet. Er wurde Bildungsminister, später Finanzminister. Doch das ging nicht gut aus für ihn. Bereits im zweiten Amtsjahr, 1995, trat der damals 38-jährige Physiklehrer zurück. Während einer Bankenkrise hatte er dem Volk Hilfe versprochen, eine Zusage, die er dann nicht einhalten konnte. »Damals hat er seine politische Glaubwürdigkeit verloren«, erinnert sich die Journalistin Jemberga. Das war sein Ende in der lettischen Politik. Ein Jahr später war Piebalgs als Botschafter in Estland, später ging er als Botschafter bei der EU in Brüssel. Dass er nicht zurück in die lettische Politik möchte, kann man sich vorstellen. Am liebsten wäre es ihm, wenn er zurück in den diplomatischen Dienst gehen könnte. Doch daran ist vorerst nicht zu denken. Die Diskussionen um die Energiegesetze werden zäh verlaufen. Mit etwas Glück bringen Piebalgs und Kommissionschef José Manuel Barroso die Gesetze bis Ende 2009 durch Rat und Parlament. So weit zumindest der Plan. Dann ist nämlich auch diese Kommission an ihrem Ende angelangt. Und dann wird es auch für Piebalgs genug sein. Eine neue Kandidatur komme für ihn nicht infrage, sagt er. Vor neun Jahren ist Piebalgs mit seiner Frau, den drei Kindern und seinem Labrador Lou nach Brüssel gezogen. Die heute 25- und 28-jährigen Töchter leben und arbeiten beide inzwischen in England. Seine Frau pendelt mittlerweile für einen Job nach Riga. So bleiben Piebalgs unter der Woche sein 16-jähriger Sohn und der Hund, mit dem er jeden Morgen um sechs Uhr spazieren geht. Der Mann, der in Brüssel bei dem 20-Kilometer-Lauf mitmacht spricht freimütig davon, dass er mit dem in der kommenden Woche anstehenden 50. Geburtstag die besten Jahre hinter sich haben werde. Dass sein Lebenswerk im Grunde schon vollendet sei. Man könnte glauben, hier wolle jemand mit einer falschen Bescheidenheit kokettieren. Aber man nimmt Piebalgs solche Sätze ab, seine melancholische Gelassenheit, wenn er da auf dem Sofa sitzt und in diesen für ihn so nervenaufreibenden Zeiten besonnen lächelnd aus dem Fenster schaut.

"

Der Physiker Andris Piebalgs wird am 17. September 1957 in Valmiera in Lettland geboren. Er studiert Physik, wird Lehrer, Schuldirektor und zu Sowjetzeiten Abteilungsleiter im lettischen Bildungsministerium, später dann Bildungsminister, Finanzminister und

Diplomat. Seit 22 Jahren lebt der heute fast 50-jährige Familienvater im Ausland, davon die meiste Zeit in Brüssel, wo er als Energiekommissar einen Kampf vor allem gegen deutsche und französische Stromkonzerne führt.

Globale Märkte WIRTSCHAFT 37

DIE ZEIT Nr. 38

" DIE WELT IN ZAHLEN

Kalkulierbares Risiko

Handy-Flut

Sie prellen Anleger um Millionen, aber werden milde bestraft: Wie Großbetrüger die Schwächen der Justiz nutzen

VON NADINE OBERHUBER

Verbreitung von Informationstechnologie in Deutschland und den USA 2006 (Angaben je 100 Einwohner) In Deutschland gibt es mehr Mobilfunkanschlüsse als Einwohner. Auf 100 Deutsche kommen 104 Verträge und Prepaidkarten – in den USA sind Handys nicht so weit verbreitet. Der Grund: In der Bundesrepublik nutzen immer mehr Menschen ein zusätzliches Geschäftshandy. Dagegen hemmen unterschiedliche Standards und die stärkere Regionalisierung der Anbieter in den USA den Handyabsatz. Von einem Bundesstaat in den anderen mobil zu telefonieren war lange sehr teuer. Die Zahl der PCs ist in den Vereinigten Staaten allerdings im Vergleich mit Deutschland doppelt so hoch. Und es nutzen deutlich mehr Amerikaner das Internet.

Deutschland USA

U

nterm Strich blieb ordentlich was über: Zu 300 000 Euro Geldstrafe verurteilte das Gericht Max Strauß vor drei Jahren. 650 000 Euro soll er mit seinen Tätigkeiten als Berater für die Wirtschaftsanalyse und Beratung Aktiengesellschaft (Wabag) eingenommen haben. Die Wabag hatte Tausende Anleger um einen zweistelligen Millionenbetrag erleichtert. Das Gericht begründete damals, die Strafe für Strauß sei deshalb mild ausgefallen, weil er ein Geständnis abgelegt hatte. Zwar wurden die Hauptverantwortlichen des Wabag-Betruges zu bis zu acht Jahren Haftstrafe verurteilt. Ungewöhnlich häufig scheinen aber Großbetrüger mit Kleinststrafen davonzukommen. »Kapitalanlagebetrug ist ein absolut kalkulierbares Risiko. Die Vorstände werden in Deutschland in der Regel nicht verurteilt und gehen auch nicht in den Bau«, sagt Hans-Peter Schwintowski, Professor für Wirtschaftsrecht an der Berliner Humboldt-Universität. Falls es doch mal passiert, sind die Verurteilten oft schnell wieder draußen. Vor gut einem Jahr erregte etwa die Verurteilung der Geschäftsführerin der insolventen Phoenix Kapitaldienst GmbH Aufsehen: Das Unternehmen hatte Anleger mit Termingeschäften gelockt und sammelte bei 30 000 Anlegern rund 800 Millionen Euro ein. Davon sind bis heute 600 Millionen verschwunden. Die langjährige Chefsekretärin und spätere Geschäftsführerin wurde vor gut einem Jahr wegen Untreue zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Sie sei inzwischen wieder auf freiem Fuß, monieren Anlegeranwälte. Die systematische Abzocke mit Scheingeschäften und Schneeballsystemen wird in Deutschland geradezu als Kavaliersdelikt behandelt. Selbst wenn Zehntausende Sparer dabei oft ihre Altersvorsorge verlieren – mehr als eine milde Strafe drohe den allermeisten Anlagebetrügern nicht, sagt Kriminalitätsforscher Karlhans Liebl.

teln einfache Schutzpolizisten in solchen komplexen Fälle. Das führe – wenn Wirtschaftsstraftaten denn verhandelt würden – zur »unwahrscheinlich langen Dauer« der Prozesse, so hat es Franz-Hellmut Schürholz, Expräsident des LKA Baden-Württemberg, zusammengefasst. Manchmal schleppen sich die Ermittlungen so lange hin, dass das Verfahren nach Jahren einfach eingestellt wird. Wirtschaftsstrafsachen gehören zu den unbeliebtesten Delikten, die es vor Gericht zu verhandeln gilt. Weil sie so viele Aktenordner füllen, dass sie mehrere Regalmeter bestücken. Weil sie so viel Fachwissen verlangen, dass jedem Nicht-Betriebswirtschaftler der Kopf schwirrt. Und zu denen gehören Richter nun mal, stellt Ralph Neubauer vom Justizministerium Nordrhein-Westfalen fest. Das Bundesland hat fünf Schwerpunktstaatsanwaltschaften – die Hauptstadt Düsseldorf gilt als deutsche Hochburg des grauen Kapitalmarktes und der dubiosen Anlagefirmen. »Die Staatsanwälte haben gebündeltes wirtschaftliches Fachwissen. Aber Richter sind immer Juristen. Es gibt zwar Wirtschaftsstrafkammern, aber keine echte Spezialisierung. Da kann man den Gerichten als Bundesland auch nicht reinregieren«, sagt er. Nach Forscher Liebls Erfahrung setzen die Gerichte sogar bevorzugt Berufsanfänger auf solche Fälle an, weil sie keiner von den Älteren übernehmen mag.

Die Finanzaufsicht darf nur Formalien prüfen

Liebl hat als Professor der Fachhochschule für Polizei rund 6000 Wirtschaftsstrafprozesse verglichen. Sein Ergebnis: Die Ungleichbehandlung in der Rechtsprechung hat offenbar System. »Einfache Fälle werden stärker kriminalisiert. Wenn jemand um 3000 oder 10 000 Euro betrogen hat, können Richter aus eigener Erfahrung ermessen, wie schwer das wiegt. Wenn es aber 4,5 oder 45 Millionen sind, dann sind es nur noch Zahlen auf dem Papier. Ab der sechsten Stelle vor dem Komma verliert sich der Maßstab über die Höhe der Schädigung.« Für viele Richter dürften Straf- und Zivilverfahren mit Tausenden Geprellten zudem ein regelrechtes Bedrohungszenario darstellen: Müssen alle vor Gericht gehört werden und das nacheinander, kann das leicht Jahre dauern. Sammelklagen wie in den USA, die solche Mammutverfahren bündeln, gibt es in Deutschland in dieser Form bislang nicht. Gegen die möglicherweise falschen Verkaufsprospekte der Telekom klagen derzeit 16 000 Anleger allein in Frankfurt. Dabei arbeitet das Gericht die Akten einzeln ab. Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG), das seit zwei Jahren in Kraft ist, erlaubt es zwar mittlerweile, dass sich Sammelverfahren durchfechten lassen. Dennoch muss letztlich jeder Beteiligte einzeln um die Höhe seiner Ansprüche streiten. Die Anwälte der Beschuldigten nutzen die Lage gern aus – und verhehlen das auch nicht. Rüdiger Spormann hat sich auf die Verteidigung von Wirtschaftsstraftätern spezialisiert. Seine Methode: »Wenn es in einem Fall 580 Zeugen zu vernehmen gibt, sagt ein guter Verteidiger: Die müssen wir alle hören, mein Mandant sagt zum Fall nichts.« Das wirke fast immer bei den Richtern. So kämen am Anfang jedes umfangreichen Strafprozesses zunächst Absprachen zustande, in denen sich Richter und Verteidiger gern auf einen Vergleich einigten. Manchmal schließen beide Seiten darüber eine Stillschweigensvereinbarung. »Die Strafen sind dann oft überraschend gering, weil die Richter nahezu ohnmächtig vor den Fällen stehen und sie bloß nicht verhandeln wollen«, sagt Spormann. Biete ein Richter ausnahmsweise keine Absprache an, sagt er, »wird er spätestens nach dem siebten Verhandlungstag mürbe«. Kein Wunder, denn die Gerichte sind hoffnungslos überlastet, sagen fast alle, die dort tagtäglich zu tun haben. »Wir haben in der Justiz einen dramatischen Personalnotstand«, sagt Anlegeranwalt Jens Graf, »es ist so, als würde man die Hälfte der Notarztfahrer entlassen und den Patienten sagen: Ab 18 Uhr wird keiner mehr abgeholt.« Zur Verfolgung wirtschaftlicher Straftaten fehlt nicht nur das Personal, sondern auch die Fachkompetenz, auch bei der Polizei, beklagen die Landeskriminalämter. Oft ermit-

Illustration: Birgit Lang für DIE ZEIT; www.birgitlang.de

»Wir haben in der Justiz einen dramatischen Personalnotstand«

" ANLAGEBETRÜGER VOR GERICHT

Zeit, Geld und Psyche Die Masche der Betrüger: Oft reicht es schon, wenn ein Anlagevermittler im Prozess versichert: »Ich habe das Produkt und das Geschäftsmodell selbst nicht verstanden«. Bei Firmengründern zieht auch der Satz »Wir haben selbst an diese Umsatzzahlen geglaubt« ungewöhnlich gut. Denn dann kann das Gericht ihnen nur noch schwer beweisen, dass sie die Anleger arglistig über die Gewinnaussichten getäuscht haben. Die Verurteilung eines Betrügers ist allerdings eine zweischneidige Sache, sagt Rechtsanwalt Jens Graf. »Von einer strafrechtlichen Verurteilung der Täter hat der einzelne Geschädigte oft nichts. Wenn die im Gefängnis sitzen, bekommt er noch viel seltener sein Geld zurück.« Die Opfer sollten sich trotzdem wehren. Denn nur mit viel Öffentlichkeit und politischem Druck lassen sich bestehende Missstände ändern, sagen Anlegerschützer wie Hartmut Strube von der Verbraucherzentrale NRW. Anlagebetrug ist keine Bagatelle, sondern ver-

nichtet jährlich Kapital in Milliardenhöhe. Das Deutsche Institut für Anlegerschutz hat errechnet, dass Sparer dadurch in den vergangenen fünf Jahren rund 270 Milliarden Euro verloren haben. Viele Geprellte scheuen aber den Gang vor Gericht, hat Stephan Holzinger beobachtet. Er ist Sprecher der Kanzlei Tilp, die sich auf Anlegerschutz spezialisiert hat. »Zeit, Geld und Psyche sind dabei wichtige Aspekte: Die meisten Geschädigten haben ein großes Bedürfnis nach Diskretion und erstatten deshalb keine Anzeige«, sagt Holzinger. Viele wollten den Reinfall schnell verdrängen und sich nicht noch jahrelang mit dem Erlebnis beschäftigen. Etliche Mandanten hätten auch nicht das Geld, um solche Verfahren durch alle Instanzen durchzufechten. Der Gang bis vor den Bundesgerichtshof kann sich aber durchaus lohnen, wie Anlegeranwalt Jens Graf weiß: »Der Gerichtshof gilt in solchen Fragen als ausgesprochen anlegerfreundlich.« NOB

Während sich die Justiz mit den Fällen schwer tut, machen die Gesetze es den Betrügern geradezu leicht. Die Anlagemärkte für Aktien, Fonds und Derivate unterliegen zwar staatlicher Aufsicht, der graue Kapitalmarkt aber nicht. Dazu gehören etwa ausländische Warentermingeschäfte, geschlossene Fonds und Hedgefonds. Gerade dubiose Anbieter werben zwar immer wieder, ihre Anlageprodukte würden von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) geprüft. Doch Fakt ist: Das Einzige, was die Aufsichtsbehörde kontrollieren darf, ist, ob der Prospekt formale Kriterien erfüllt. Ob also eine Firmenadresse im Prospekt steht und der Name eines Vorstands sowie bestimmte Standardhinweise. Welche Zahlen die Unternehmen dort abdrucken und ob die realistisch sind, prüft niemand. Zudem rutscht auch der Aufsichtsbehörde mal ein großer Brocken durch, wie im Fall Phoenix geschehen: Hier rückte die Bafin zur Sonderprüfung an und beanstandete – nichts. Dabei soll die Firma jahrelang Kontoauszüge und Abrechnungen im großen Stil gefälscht haben. Anlegeranwälte wollen die Bafin nun zur Rechenschaft ziehen. In Österreich muss die Finanzaufsicht für Versäumnisse haften, wie jetzt im deutsch-österreichischen Pleitefall AMIS. »In Deutschland will das Thema Staatshaftung niemand anfassen, weil die Angst groß ist, dass dann enorme Klagewellen auf den Bund zurollen«, sagt Anwalt Peter Gundermann von der Kanzlei Tilp, die in Arbeitskreisen des Bundestags für Anlegerschutz eintritt. »Dass da aus Berlin eine Initiative kommt, halte ich für ausgeschlossen. Und wenn, dann in vielen Jahren.« Der Fall AMIS offenbart noch ganz andere Lücken. Erstreckt sich ein Fall über mehrere Länder, etwa weil eine Depotbank in Luxemburg sitzt oder ein Aufsichtsrat in einer Holdinggesellschaft in einer Steueroase wie den Cayman Islands, ist der Angeklagte umso besser dran. Dann streiten sich die Behörden ewig untereinander. »Im AMIS-Verfahren haben die Anleger allein ein Jahr dadurch verloren, dass die österreichischen Behörden mit den Luxemburgern über Kreuz lagen«, erinnert sich Gundermann, »es ist ein typischer Fall, der nach einer einheitlichen Umsetzung der EU-Gesetze schreit.« Auch die LKA-Fachleute mahnten schon 2004 Amtshilfe an, ohne die »Staatsgrenzen für die Strafverfolgungsbehörden nach wie vor nur schwer zu überwindende Hindernisse« seien. Auch viele Gesetzesdefinitionen erschweren die Strafverfolgung. Etwa wenn darüber gestritten werden muss, wann ein vorsätzlicher Betrug stattgefunden hat. Deshalb fordern Anlegerschützer neue Formulierungen. Die wird es aber wohl nicht geben: »Der Fachabteilung ist nicht bekannt, dass es im Gesetz zum Kapitalanlagebetrug oder dessen Anwendung Unzulänglichkeiten gibt«, sagt ein Sprecher des Bundesjustizministeriums. »Äußerungen, dass es Probleme gebe, werden oft getätigt, ohne dass sie ordentlich empirisch evaluiert sind. Das ist unseriös.« Professoren wie Karlhans Liebl hören dem frustriert zu. »Manchmal meint man, die wirklichen Betrüger sollen gar nicht verfolgt werden. Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.« Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/wirtschaft/geld Audio a www.zeit.de/audio

60 76

Internetnutzer

45

PCs

89 104

Mobiltelefone

76

ZEIT-Grafik/Bitkom

Baby-Ebbe Entwicklung der Geburtenzahlen in den vergangenen fünf Jahren 734 475

719 250

706 721

705 622

685 795

672 724

2001

2002

2003

2004

2005

2006

ZEIT-Grafik/Quelle: Destatis

Der Geburtenrückgang in Deutschland geht weiter: Im vergangenen Jahr kamen etwa 13 100 Kinder weniger auf die Welt als 2005. Die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau ist damit von 1,34 auf 1,33 gesunken. Im Osten Deutschlands werden mit durchschnittlich 1,30 Kindern noch weniger als im Westen geboren, wo der Schnitt 2006 bei 1,34 Kindern lag. Die Geburtenziffer war in den neuen Bundesländern seit dem Tief 1995 gestiegen. Seit 2004 stagniert der Wert jedoch. Im Westen sinkt der Durchschnitt seit drei Jahren.

Aktien Entwicklung des Aktienindex TecDax in den vergangenen drei Monaten

950

900

850

800 JUNI

JULI

AUG.

SEPT.

Weltbörsen Nasdaq

2581

(+ 0,3 %)

Dax

Euro Stoxx 50

4197

(– 4,9 %)

S & P 500

1462

(– 3,1 %)

7458

(– 3,2 %)

Nikkei

15 878

(– 11,0 %)

Dow Jones

13 235

(– 1,4 %)

Stand: 11. 9. 2007, 18.00 Uhr, 3-Monats-Änderungen

Tops und Flops Entwicklung der drei besten und schlechtesten Branchen im Index MSCI in den vergangenen vier Wochen

MINUS

Telekommunikation

+ 2,3

Informationstechnologie

+ 2,2

– 0,4 – 1,6

+ 3,2

Energie

Industriebetriebe

PLUS

zyklische Konsumgüter

– 2,5

Finanzdienstleister

in Prozent

Zinsen Anlagedauer

Stand 10.09.07

1 Monat 1 Jahr 5 Jahre 6 Jahre 7 Jahre 10 Jahre

Täglich verfügbare Anlage Termingeld (Zinsen) Finanzierungsschätze Bundesobligationen Serie 150 Bundesschatzbriefe Typ A Bundesschatzbriefe Typ B Sparbriefe (Zinsen) Börsennotierte öff. Anleihen Pfandbriefe

Hypothekenzinsen von Banken

1,50 - 5,00 1,60 - 4,20 3,75 4,06 3,95 4,00 4,00 - 5,00 4,22 - 4,60 4,46 - 4,71 Effektivzins

5 Jahre fest

4,61 - 5,69

10 Jahre fest

4,75 - 5,80 Quelle: FMH Finanzberatung

Konjunktur Kennziffern ausgewählter Länder Länder Angaben in Prozent

Deutschland Euroland USA Japan Polen

BIPWachstum

Erwerbslosenquote*

Inflationsrate

zum Vj.-Quartal

2,5

6,4

1,9

II/06-II/07

7/07

8/07

2,5

6,9

1,8

II/06-II/07

7/07

8/07

1,8

4,6

2,4

II/06-II/07

8/07

7/07

1,7

3,6

0,0

II/06-II/07

7/07

7/07

6,8

9,7

2,3

II/06-II/07

7/07

7/07

*Quelle: Eurostat

ZEIT-Grafik/Quelle: Datastream

13. September 2007

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WIRTSCHAFT

13. September 2007

" MACHER & MÄRKTE

" MURSCHETZ

BMW: Vorneweg

DGB: Besorgt

Noch in diesem Jahr will BMW 400 000 Fahrzeuge absetzen, die bis zu 20 Prozent weniger Sprit brauchen als ihre Vorgängermodelle. Dieser Hightech-Initiative haben die Konkurrenten Mercedes und Audi bislang wenig entgegenzusetzen. Nicht einmal der neue Audi A4, der auf der IAA in Frankfurt vorgestellt wurde, hat Spartechniken wie Start-Stopp-Automatik oder die Rückgewinnung von Bremsenergie aufzuweisen. Man werde aber bald nachziehen, versprechen die Verantwortlichen von Audi und Mercedes. »Manchmal hat der eine, manchmal der andere die Nase etwas vorne«, kommentierte DaimlerChrysler-Chef Dieter Zetsche auf der IAA den ewigen Wettlauf der drei deutschen Nobelmarken. Doch BMW-Chef Norbert Reithofer sieht sich in einem weiteren Punkt vorn. Meldungen, nach denen die Münchner bei der Rendite hinter die Stuttgarter und die Ingolstädter zurückgefallen seien, wies er zurück: »Man darf hier nicht Äpfel mit Birnen vergleichen.« Bei der Konzernumsatzrendite habe nur einer im ersten Halbjahr 2007 vor BMW mit seinen 7,2 Prozent gelegen: Toyota. Nischenhersteller wie Porsche einmal ausgenommen. Die oft betrachtete »Rendite im Autogeschäft« könne täuschen, erläutert der Manager. Im wichtigen Markt USA seien zuletzt immer mehr BMW über Leasing finanziert worden. »Und diese Gewinne fallen bei uns in der Sparte Financial Services an.« DHL

Jeder dritte Beschäftigte in Deutschland ist mit seiner Arbeit unzufrieden. Jeder zweite vermisst Anerkennung. Jeder sechste empfindet keinerlei Verbundenheit zu seinem Arbeitgeber. Das sind Kernergebnisse des »Index Gute Arbeit«, den der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) erstmals ermittelt hat. Das neue Barometer für die Verhältnisse am Arbeitsplatz basiert auf einer repräsentativen Befragung von mehr als 6000 Arbeitern und Angestellten verschiedener Branchen und Berufe. Künftig soll jedes Jahr eine vergleichbare Erhebung folgen, um Veränderungen aufspüren zu können. Mit dem Index will der DGB das Thema Arbeitsbedingungen »auf die Agenda heben« – und das eigene Engagement auf diesem Feld unterstreichen. Der Index ist ein Ergebnis des bereits vor drei Jahren gestarteten Projekts Trendwende, mit dem der DGB den rasanten Mitgliederschwund stoppen will. RUD

Spiegel: Interessiert Zumindest einer im deutschen Journalismus hat Humor. Dass die Hälfte der Financial Times Deutschland (FTD) zum Verkauf steht, konnte ausgerechnet das Handelsblatt melden. Die beiden Wirtschaftszeitungen liefern sich normalerweise einen harten Konkurrenzkampf, wobei

Foto: DER SPIEGEL

MARIO FRANK, Geschäftsführer des SpiegelVerlags

SPIELZEUG AUS CHINA

Bürgermeister: Ersetzbar Zwei amerikanische Elite-Universitäten, ein Gedanke: Ray Fisman von der Columbia Business School in New York und Eric Werker von der Harvard Business School schlagen vor, man solle künftig Unternehmen als Bürgermeister wählen dürfen. Vor allem in Entwicklungsländern seien Stadt- und Gemeindeverwaltungen häufig korrupt und im modernen Management unerfahren. »Warum sollte man nicht Ernst & Young zu einem Kandidaten im Bürgermeisterrennen in Mexico City machen?«, fragen die Ökonomen daher. Die Bürger könnten Unternehmen meist besser beurteilen als einzelne Politiker. Man kenne ihre Produkte, ihren Ruf als gut oder schlecht geführte Firmen und ihre Haltung zur Korruption. Unternehmen könnten auch freier über den Einsatz geeigneter Verwaltungsmanager entscheiden. Der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson von der Universität Harvard ist eher skeptisch. Wirtschaftsprüfungsfirmen seien nicht notwendigerweise Vorbilder für korruptionsfreies Management. »Da braucht man nur an die Firma Arthur Andersen zu erinnern, die wegen ihrer Rolle bei der gestürzten Energiefirma Enron zerstört wurde.« TF

Ratings: Überbewertet die FTD seit sieben Jahren die Rolle des Angreifers einnimmt, während das Handelsblatt seine Marktführerschaft verteidigt. Und nun lieferte ausgerechnet die FTD am vergangenen Dienstag die größte Unternehmensschlagzeile für den Konkurrenten. Derjenige, der es dem Handelsblatt verraten hat, dürfte sich über seine eigene Chuzpe amüsiert haben. Es geht um 50 Prozent der Anteile, die dem britischen Medienkonzern Pearson (Financial Times) gehören. Verhandlungskreise bestätigen, dass Manager des Hamburger Spiegel-Verlags exklusiv mit Pearson verhandeln. Der Geschäftsführer des Spiegel-Verlags, Mario Frank, ist dafür bekannt, dass er die Gesellschafter bei solchen Plänen früh informiert. Widerstand lassen weder die Mitarbeiter erkennen, denen die Hälfte des Verlags gehört, noch die Erben des Gründers Rudolf Augstein. Und Bernd Kundrun, dem Vorstandschef von Gruner + Jahr, käme die Sache auch gelegen. Dem von ihm geführten Verlag gehört die zweite Hälfte der FTD. Es ist Kundruns persönliches Projekt, und er musste zuletzt mit ansehen, wie sein Mitgesellschafter aus England ungeduldig wurde. Denn die FTD hat in sieben Jahren nie Gewinn erzielt. Mit dem Spiegel-Verlag würde Kundrun nicht nur einen neuen Gesellschafter gewinnen. Er würde ihn auch ein wenig beeinflussen können, weil Gruner + Jahr gut ein Viertel am Spiegel-Verlag besitzt. GOH

DIE ZEIT Nr. 38

Ratingagenturen besäßen bei der Regulierung von Banken eine viel zu starke Stellung – auf ihr Urteil sollten sich die Aufsichtsbehörden nicht mehr verlassen. Das fordert das Joint Shadow Financial Regulatory Committee, ein Zusammenschluss internationaler Expertengruppen, das sich regelmäßig zu Regulierungsfragen äußert. Die aktuelle Krise zeige die Sollbruchstellen des Finanzsystems deutlich. »Wieder einmal haben die Ratingagenturen bei der Einschätzung der Kreditwürdigkeit von Wertpapieren kräftig danebengelegen«, sagt Reinhard H. Schmidt, deutsches Mitglied im europäischen Schattenkomitee. Deshalb müsse Basel II, das neue, internationale Regelwerk für die Regulierung der Banken, nachgebessert werden. Die Noten der Ratingagenturen dürften darin künftig keine Rolle mehr spielen. Genauso wichtig wie mehr Transparenz bei den Hedgefonds, wie sie inzwischen selbst von Bundeskanzlerin Angela Merkel gefordert wird, sei außerdem mehr Transparenz bei den Conduits, sagt der Frankfurter Professor. Conduits sind die Zweckgesellschaften, in denen die Banken neuartige Wertpapiere refinanzieren und verstecken. Im Gegensatz zu Hedgefonds könne die Bankenaufsicht hier »ohne weiteres Transparenz herstellen«, sagt Schmidt. HEU

" ARGUMENT

»Verzockt« heißt nicht »verzichtbar« Sparkassen und Landesbanken müssen wieder einmal ihre Existenz rechtfertigen. Sie können es

D

as Ansehen der deutschen Landesbanken nähert sich dem von Atomkraftwerken an. Ein Störfall folgte auf den anderen. Erst verunglückten Aktienspekulationen bei der WestLB, die Verluste summierten sich auf 600 Millionen Euro. Dann ging die Sächsische Landesbank im Strudel der amerikanischen Hypothekenkrise unter und konnte nur durch einen Notverkauf gerettet werden. Zuvor war bereits die Düsseldorfer Industriekreditbank (IKB) kollabiert und hatte aufgefangen werden müssen; sie ist zwar eine börsennotierte Aktiengesellschaft, aber mit ihrer Großaktionärin KfW zugleich ein halbstaatliches Institut. Die Legitimation der öffentlichen Banken steht infrage. Von ihnen wird erwartet, dass sie ein Element der Stabilität auf den Finanzmärkten sind. Nun haben sich einige Institute als regelrechte Zockerbuden erwiesen, die mit dem Geld der Allgemeinheit hochriskante Geschäfte machten. Wie konnte es dazu kommen? Die Krise hat im Wesentlichen zwei Ursachen. Zum einen erleben wir ein Versagen der globalen Finanzmärkte, welches alle Banken trifft, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Die Einbrüche auf dem amerikanischen Immobilienmarkt und die Zahlungsprobleme von Millionen Hausbesitzern sind ein schwieriges, ein langwieriges, aber beherrschbares Problem. Viel gefährlicher ist der Systemkollaps, der darauf folgte. Er kam auch für Insider völlig unerwartet. Die Banker haben so komplexe Anlageprodukte erfunden, dass sie nun selbst nicht mehr durchschauen. Als die Schwierigkeiten der amerikanischen Eigenheimer unerwartet stark anwuchsen, hat es der Markt wider Erwarten nicht richten können. Für eine ganze Klasse von zweifelhaften, aber durchaus nicht wertlosen Wertpapieren gab es plötzlich keine Preise mehr und damit auch keine Verkaufsmöglichkeit. Die Sachsen LB hatte besonders viel Geld im Feuer. Dass ausgerechnet Landesbanken so riskante Geschäfte machen, lässt sich zum Teil damit erklären, dass sie es in ihrem Stammgeschäft mit Krediten an Firmenkunden heute schwerer haben als früher. Bis vor zwei Jahren waren die Landesbanken privilegiert. Weil hinter ihnen Bundesländer und deren Steuerzahler standen, galten sie als besonders sichere Geldhäuser. Sie konnten sich am Kapitalmarkt das Geld viel billiger beschaffen als die privaten Banken und ihren Kunden daher besonders at-

VON RÜDIGER JUNGBLUTH

wie einige aktuelle Beispiele veranschaulichen. So hat allein die Stadt Hagen mindestens 24 Millionen Euro durch Zinswetten verloren, die sie mit der Deutschen Bank eingegangen war. Auch Dortmund und Würzburg verloren durch riskante Geschäfte viel Geld. Die Deutsche Bank beharrt darauf, ihre Kunden umfassend über die Risiken dieser sogenannten Zins-Swaps aufgeklärt zu haben. Das werden die Gerichte klären müssen. Auf die Bank rollte jetzt eine Klagewelle zu. Aber das (Steuer-)Geld ist erst mal weg. Noch aus einem anderen Grund sind die öffentlichen Banken für die Volkswirtschaft von Vorteil. So wird fast jede zweite Existenzgründung in Deutschland von Sparkassen finanziert. Ihre Mitarbeiter sind mit den Verhältnissen vor Ort in der Regel am besten vertraut. Die Sparkassen sind viel stärker in das regionale Wirtschaftsgefüge eingebunden als andere Kreditgeber. Daraus entstehen bisweilen unschöne Verquickungen, aber die Vorteile überwieDie Sparkassen und ihre Spitzeninstitute versorgen die gen. Das meint auch Bundespräsimittelständische deutsche Wirtschaft zuverlässiger dent Horst Köhler, der selbst von mit Krediten, als man das von privaten Großbanken mit 1993 bis 1998 Präsident des Deutihren häufigen Strategiewechseln erwarten kann schen Sparkassen- und Giroverbandes war. Er sieht in den kommunalen Banken ein lokales Gegenmittelständisch strukturierte deutsche Volkswirt- gewicht zu den stärker werdenden Kräften der Gloschaft in der Öffentlichkeit stark unterschätzt wird. balisierung. Es steht andererseits außer Frage, dass es in Addiert man aber die Bilanzsummen der 450 Sparkassen und der mit ihnen verbundenen Institute, Deutschland gegenwärtig zu viele Landesbanken kommt man auf 3300 Milliarden Euro. Damit ist gibt und dass diese personell überbesetzt sind. Zuder deutsche Sparkassenverbund die größte Finanz- sammenschlüsse unter den jetzt noch sieben selbstgruppe der Welt. Die wichtigste Geldquelle der ständigen Instituten mit ihren rund 50 000 Mitarheimischen Unternehmen ist sie sowieso. Und auch beitern sind schon lange überfällig. Das ist ein schwieriger Prozess, denn die Interessen der Sparder größte Arbeitgeber im Land. Für die deutsche Wirtschaft sind die öffent- kassen, ihrer regionalen Verbände und der jeweilichen Banken von einigem Nutzen. Sie versorgen ligen Landesregierungen sind zum Teil gegenläufig kleinere und mittlere Unternehmen zuverlässiger – wie das Gezerre um die WestLB zeigt. Dabei ist mit Krediten, als das die privaten Großbanken mit die Idee, den Landesbesitz an der WestLB an priihren häufigen Strategiewechseln tun. Die staatli- vate Investoren zu verkaufen, wenig durchdacht. chen und halbstaatlichen Eigentümer dieser Ban- Die öffentlichen Banken haften füreinander, sie ken können sich außerdem mit einer niedrigeren können aber nicht auch noch für private AnteilseigVerzinsung zufriedengeben als die Aktionäre inter- ner mithaften. Bei der anstehenden Neuordnung muss nicht national operierender Investmenthäuser, wie etwa die Deutsche Bank eines ist. Das ist gut für die gleich ein neuer nationaler Bankenchampion entstehen, die Superlandesbank, von der manche träuKunden. Die öffentlichen Banken sind auch ein besserer men. Aber drei oder vier stabile und solide Institute Partner der Kommunen als die privaten Banken, sind besser als sieben risikoreiche. traktive Kreditangebote machen. Die Europäische Kommission hat dafür gesorgt, dass ihnen dieser Wettbewerbsvorteil genommen wurde. Die Staatsgarantien sind weg. Heute konkurrieren die Landesbanken mit den privaten Banken zu gleichen Bedingungen – und viele von ihnen tun sich sehr schwer damit. Es wäre aber falsch, aus den spektakulären Spekulationsverlusten zweier Landesbanken den Schluss zu ziehen, dass dieser Banktyp generell ein Auslaufmodell ist. Dagegen spricht nicht nur das Beispiel solide wirtschaftender Kreditinstitute wie die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW). Landesbanken werden weiterhin benötigt als Spitzeninstitute der Sparkassen. Sie sind ein unverzichtbarer Teil eines Systems, dessen Bedeutung für die

Element der Stabilität

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DIE ZEIT

Nr. 38

13. September 2007

WISSEN

Ufo auf dem Eis Die deutsche Forschungsstation in der Antarktis versinkt im Schnee. Das Alfred-Wegener-Institut baut am Südpol ein Haus auf Stelzen Seite 41

Danke! Ein nachgetragenes Lob des Nationalen Ethikrats

Abb.: David B. aus »Die heilige Krankheit - Geister«/Edition Moderne, Zürich

Angst vor dem Fall Für Epilepsiekranke sind die psychischen und sozialen Folgen ihrer Krankheit oft schlimmer als die Anfälle selbst. Viele verheimlichen die Diagnose VON CLAUDIA WÜSTENHAGEN

ALS EIN ALLGEGENWÄRTIGES UNGEHEUER schildert David B. in dem Comic »Die Heilige Krankheit« die Epilepsie seines Bruders

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enn es um Minuten ging, saß bei AnnaKatharina G. jeder Handgriff. Zwölf Jahre lang war die junge Frau aus Ulm Rettungsassistentin bei der Bundeswehr, vier Jahre davon Pilotin eines Notfallhubschraubers. Sie rettete verunglückte Fahrer auf der Autobahn, versorgte Verwundete im Kosovo und träumte davon, eines Tages bei den Ärzten ohne Grenzen anzufangen. Dieser Traum ist seit einem Sommertag im vergangenen Jahr vorbei – dem Tag, an dem AnnaKatharina G. beim Einkaufen in der Ulmer Fußgängerzone plötzlich bewusstlos zusammenbrach und ihr Körper sich auf dem Pflaster unter Krämpfen wand. Was sie zu Boden warf, war ein epileptischer Anfall, der erste von vielen. Heute darf die 34-Jährige sich nicht einmal mehr ans Steuer eines Autos setzen, vom Helikopter ganz zu schweigen. Ausgelöst werden epileptische Anfälle durch kurze, verstärkte Entladungen von Nervenzellen im Gehirn. Häufig rufen diese Störungen Muskelkrämpfe oder Zuckungen hervor, manchmal Bewusstlosigkeit. Die Symptome sind zahlreich und nicht immer sichtbar (siehe Kasten Seite 40). In Deutschland leiden etwa 600 000 Menschen an Epilepsie, weltweit sind es 50 Millionen. Anna-Katharina G. möchte ihren vollen Namen nicht nennen. Sie hat Angst, die Leute könnten mit

dem Finger auf sie zeigen. Viele Betroffene verbergen ihre Krankheit, so gut es geht. Denn noch immer ist Epilepsie ein Tabu. Nur wenige haben den Mut, offen mit ihrer Krankheit umzugehen und andere aufzuklären. Auf dieses Problem weist auch die Deutsche Epilepsievereinigung beim Tag der Epilepsie am 5. Oktober in Dresden hin. »Jetzt bloß nicht umfallen«, lautet das Motto.

Blinkende Disco-Lichter und Alkohol können einen Anfall auslösen Wer jederzeit von einem Anfall überrascht werden kann, der hat mehr zu verlieren als nur die Kontrolle über den eigenen Körper. Seit Jahren zeigen Studien, wie schwer die psychischen und sozialen Folgen sind. Wer Epilepsie hat, fühlt sich häufig stigmatisiert und ausgegrenzt, ist seltener verheiratet und überdurchschnittlich oft arbeitslos. Betroffene neigen zu einem geringeren Selbstwertgefühl, leiden häufig an Depression oder Angstzuständen und haben ein erhöhtes Selbstmordrisiko. Wie ein »Granateneinschlag« hat es die damalige Soldatin erschüttert, als sie den Grund für ihren Zusammenbruch erfuhr. Ein anomales Blutgefäß machten die Ärzte für die Epilepsie verantwortlich. Eine Operation kommt bei ihr nicht infrage, zu groß ist die Gefahr, dass sie gelähmt aus

der Narkose erwacht. Das ist deshalb besonders hart, weil Anna-Katharina G. zu jenen 30 bis 40 Prozent aller Patienten gehört, bei denen sich die Anfälle nicht mit Medikamenten ausschalten lassen. 14 verschiedene Mittel hat sie in einem Jahr ausprobiert, dadurch acht Kilo zugenommen. Die Anfälle blieben. »Der Hammer«, wie sie die Krankheit nennt, schlug zeitweilig fast täglich zu. Weil sie sich und andere gefährden können, dürfen Epilepsiekranke wie Anna-Katharina G. nicht Auto fahren. Ausnahmen sind möglich, etwa wenn die Anfälle mindestens ein Jahr ausbleiben und Ärzte ein Risiko ausschließen. Davon ist die 34-Jährige weit entfernt. »Ich hasse es, ständig fragen zu müssen, ob mich jemand irgendwo hinfährt«, sagt sie. Eine Umfrage unter Epilepsiepatienten in Deutschland und neun weiteren europäischen Ländern ergab 2003, dass jeder Zweite der Befragten stärker auf andere angewiesen ist, als ihm recht ist. Ebenso viele gaben an, auf Dinge verzichten zu müssen, die sie am liebsten täten. Jugendliche Epilepsiepatienten leiden oft darunter, dass sie nicht mit ihren Freunden in die Disco dürfen, wo blinkende Scheinwerfer einen Anfall provozieren könnten. Alkohol gilt ebenfalls als Auslöser. Doch nicht einmal nüchtern empfiehlt es sich, Nächte durchzumachen, da ein ungleichmäßiger Schlafrhythmus Anfälle begünstigen kann. Aus dem glei-

chen Grund scheuen sich manche Betroffenen davor, im Urlaub in andere Zeitzonen zu fliegen. Ausgerechnet beim Schwimmen muss AnnaKatharina G. nun aufpassen, darf nur noch in Begleitung ins Wasser. Dabei war die junge Frau früher eine Könnerin, erreichte Spitzenzeiten in der Rücken- und der Delfinlage. Sogar bei den deutschen Meisterschaften ist sie vor einigen Jahren angetreten. Heute könnte sie ertrinken, wenn man sie im Notfall nicht rechtzeitig aus dem Becken zöge. In manchen Fällen ist die Vorsicht aber auch übertrieben. Vor allem Eltern neigen dazu, ihre epilepsiekranken Kinder zu sehr zu behüten und gleichsam in Watte zu packen. »Für Eltern ist die Diagnose eine Katastrophe«, sagt Susanne Fey, Vorsitzende des Epilepsie Bundes-Elternverbands. Viele hätten Schuldgefühle und große Angst vor den Folgen der Anfälle. Dennoch sei eine größtmögliche Freiheit für die Entwicklung der Kinder wichtig. Das Leben dürfe sich nicht nur um die Krankheit drehen. Obwohl sich Anna-Katharina G. ihr Leben so wenig wie möglich von den neuen Launen ihres Körpers diktieren lassen will, fühlt sie sich manchmal unsicher. Während sich Anfälle bei anderen durch Warnsignale, sogenannte Auren, ankündigen, fällt sie einfach um, »wie ein Stock«, sagt sie. Fortsetzung auf Seite 40

Am Dienstag trat ein letztes Mal der Nationale Ethikrat in Berlin zusammen. Am 2. Mai 2001 hatte die Regierung Schröder die Konstituierung des Gremiums beschlossen, fünf Wochen später hatten sich die Experten zum ersten Mal versammelt: Juristen und Politiker, Theologen und Mediziner, Forscher und Philosophen. Ein Rat von Schröders Gnaden sei da ins Leben gerufen worden, unkten Kritiker. Der Kanzler habe einen Unterstützerchor für seine biopolitische Großoffensive geschaffen. Tatsächlich hatte Gerhard Schröder kurz zuvor gefordert, die Entwicklungen der Biomedizin müssten »ohne ideologische Scheuklappen« diskutiert werden. Aber diesen Marschbefehl hatte weder der Rat nötig, noch hatte Schröder tatsächlich Gelegenheit, sich zwischen Gentests und Klonbabys politisch zu profilieren. Der Erlass zur Gründung des Gremiums aber ist noch heute die Lektüre wert. Denn die dort garantierte Unabhängigkeit haben die Vertreter sichtbar und fruchtbar genutzt. Dabei ist ihnen Größeres gelungen, als nur den Ruf der politischen Unbeeinflussbarkeit zu festigen. Sie haben in der Diskussion über die großen Fragen zu Lebensbeginn und Lebensende, Identität und Selbstbestimmung die Konsenskultur der verunsicherten jungen Bundesrepublik endlich verlassen und Mut zum Dissens bewiesen. Im Zwang zur Einigkeit, das zeigt ein Blick in die Empfehlungen anderer Gremien, geht vielen Aussagen die Tiefe verloren – und den Diskutanten die notwendige Nähe zum alltäglichen Leben und zum Willen der Bürger. Darum lesen sich die Empfehlungen des Nationalen Ethikrates mitsamt den Minderheitsvoten und Gegenworten als kluge und glaubwürdige Zeugnisse des offenen Diskurses in einer aufgeklärten Gesellschaft. Stammzellforschung, Fortpflanzungsmedizin, Organspende, Sterbehilfe – der Rat hat nicht nur seine Arbeitsweise, sondern auch seine Themen selbst gesucht und hat sich dabei nicht gescheut, schwelende Debatten erst richtig anzufachen. Formal war die vom Bundestag berufene und manchmal als Konkurrenz auftretende Enquete-Kommission »Recht und Ethik der modernen Medizin« stärker legitimiert, zu aktuellen biopolitischen Fragen das Wort zu ergreifen. Im Ergebnis war die Arbeit des Ethikrats oft nachhaltiger. »Wir waren der Stein im Wasser«, sagt die Ratsvorsitzende Kristiane Weber-Hassemer. So manche vom Rat erzeugte Welle ist noch lange nicht abgeebbt. Die Diskussion um Organspenden hält an. Die Debatte ums Stammzellgesetz wird weitergehen. Manchen Stein gilt es erst noch zu werfen. Das große Feld der Neuroethik, von der Debatte um den freien Willen bis zu chirurgischen und pharmakologischen Eingriffen ins Ich, gilt es zu diskutieren. Das darf und muss jetzt das Nachfolgegremium, der Deutsche Ethikrat, leisten. Name und Besetzung des Gremiums wandeln sich nun. Die Bundesregierung und der Bundestag berufen ihre Ratgeber gemeinsam. Die Tugenden aber müssen erhalten bleiben. Vor allem der Mut zum Dissens in Fragen, auf die es keine letzten Antworten gibt. ANDREAS SENTKER

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WISSEN

Angst vor dem Fall Fortsetzung von Seite 39

Einmal brach dabei ihr rechtes Sprunggelenk, ein anderes Mal ein Finger. Auch im Zug ist sie schon mal hingeschlagen, auf dem Weg zum Speisewagen. Fast eine Stunde lang war sie danach bewusstlos. »Diese Anfälle verändern Menschen«, sagt Bernhard Steinhoff, Ärztlicher Direktor am Epilepsiezentrum Kork und ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie. Die Unberechenbarkeit der Aussetzer wirke traumatisierend. Depressionen, Angststörungen oder Psychosen sind unter Betroffenen keine Seltenheit. Selbst wer jahrelang anfallsfrei sei, werde die Unsicherheit oft nicht mehr los. Schlimmer als die Angst vor dem nächsten Sturz und schmerzhafter als ihre Knochenbrüche sind die Erfahrungen, die Anna-Katharina G. mit der Umwelt gemacht hat. Welch krassen Vorbehalten Epilepsiekranke ausgesetzt sein können, wenn sie in der Öffentlichkeit einen Anfall haben, erfuhr sie, als sie auf dem Pflaster der Ulmer Fußgängerzone wieder zu sich kam. Auf sie herab blickten verständnislose Gesichter von Passanten, die stehen geblieben waren, um zu gaffen, nicht um zu helfen. Ihr Kopf dröhnte, alle Muskeln schmerzten. Sie wollte um Hilfe bitten, konnte aber nicht sprechen. Statt sinnvoller Sätze brachte sie nur Gestammel heraus. Die Sprachstörung, ein Symptom bei bestimmten Anfällen, werteten die Umstehenden als ein Zeichen schwerer Trunkenheit und hielten es für angebracht, die junge Frau als Alkoholikerin und »Schandbild« zu beschimpfen. »Diese Erfahrung ist typisch«, sagt Ann Jacoby, Medizinsoziologin der University of Liverpool. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit der Stigmatisierung von Epilepsiekranken und weiß: »Die Krankheit wird vollkommen missverstanden.« Noch immer gebe es in vielen Gesellschaften ein großes Maß an Ignoranz. Das bestätigte auch eine bundesweite Emnid-Umfrage im Jahr 1996: 14 Prozent der Befragten hatten noch nie etwas von Epilepsie gehört, jeder Fünfte hielt sie für eine Geisteskrankheit. Ebenso viele wollten nicht, dass ihre eigenen Kinder einen Epilepsiekranken heirateten. Außer Ignoranz ist es oft Hilflosigkeit, die Beobachter passiv herumstehen und gaffen lässt. »Viele sind geschockt und wissen nicht, was sie tun sollen«, sagt Jacoby. Vor allem große, sogenannte Grand-Mal-Anfälle wirken gefährlich. Oft schreien Betroffene, bevor sie bewusstlos hinfallen, sie krampfen heftig, auf ihren Lippen schäumt Speichel. Manchen versagt die Blase. »Wenn Leute, die einen Anfall erleben, negativ reagieren, dann spricht aus ihnen oft die Furcht, dass ihnen so etwas auch passieren könnte«, sagt Jacoby. Einige Wissenschaftler erklären abweisende Reaktionen auch damit, dass die Unberechenbarkeit der Anfälle einen Angriff auf soziale Normen darstellt. »Gesellschaften funktionieren nach impliziten Regeln, die jeder versteht«, sagt Jacoby. Selbstkontrolle sei eine davon. »Wer einen Anfall hat, verstößt in gewisser Hinsicht gegen eine Verhaltensregel«, erklärt sie. Es ist auch auf die oft erschreckenden Symptome zurückzuführen, dass Epilepsie in der Vergangenheit als Ausdruck von Sünde und dämonischer Besessenheit galt. In einigen Ent-

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wicklungsländern hat sich dieses Vorurteil bis heute gehalten, ebenso wie das der Ansteckungsgefahr. Obwohl Epilepsie bei den alten Griechen als »heilige Krankheit« galt und Persönlichkeiten wie Sokrates, Julius Cäsar und Vincent van Gogh Anfälle erlitten haben sollen, kennt die Geschichte grausame Diskriminierungen. Im Mittelalter wurden Betroffene als Hexen verfolgt, im »Dritten Reich« fielen sie der Euthanasie zum Opfer. Auch wenn solche Gräueltaten Schrecken der Vergangenheit sind, fürchten viele Betroffene noch immer, stigmatisiert zu werden, und halten ihr Anderssein im Verborgenen. Im Juli stellte das International Bureau for Epilepsy (IBE) auf einem Kongress in Singapur die Ergebnisse der weltweit größten Umfrage unter epilepsiekranken Kindern und Jugendlichen und deren Eltern vor. Fast ein Viertel der Eltern gab an, die Krankheit ihres Kindes geheim zu halten, meist aus Sorge, es könnte sonst anders behandelt werden. Unter den jungen Patienten hatte sich jeder Dritte für das Schweigen entschieden. Wie schwer es ist, als Jugendlicher Freunde zu finden, wenn man anders ist, weiß Dani gut. Die 23-Jährige leidet seit zwölf Jahren unter Epilepsie. Auf der Realschule musste sie zweibis dreimal in der Woche den Klassenraum verlassen, weil ihr schwindelig war, ihr linker Arm zu zittern anfing und manchmal wie von Geisterhand in die Höhe gerissen wurde. Mit solch sonderbaren Vorfällen waren keine Freunde zu gewinnen, schon gar nicht in der Pubertät, in der schon eine falsche Turnschuhmarke in die Isolation führen kann. »Keiner wusste, wie er damit umgehen sollte, also haben mich alle ignoriert. Ich hatte niemanden«, erzählt Dani.

Epilepsiekranke sind nicht automatisch leistungsschwach Auch die Lehrer waren überfordert. Manche gerieten in Panik, etwa eine Sportlehrerin, die bei einem von Danis Anfällen vor Ratlosigkeit in der Turnhalle unentwegt im Kreis lief. Eine andere Lehrerin hatte gar die Idee, das Mädchen auf eine Sonderschule zu schicken. Dabei sind epilepsiekranke Schüler nicht automatisch leistungsschwach. Eher sind es die Medikamente, die die Aufmerksamkeit trüben und den Gedankenfluss lähmen. »Wie benebelt« habe Dani wegen der Antiepileptika manche Unterrichtsstunde verfolgt. Ein Fall für die Sonderschule war sie deshalb noch lange nicht. Im Gegenteil – sie wechselte auf ein Gymnasium und machte ihr Abitur. Schwierigkeiten gibt es häufig auch auf dem Arbeitsmarkt. Eine Studie aus dem Jahr 2000 zeigt, dass Epilepsiekranke in Deutschland überdurchschnittlich häufig arbeitslos sind. Nur 45 Prozent der Studienteilnehmer waren erwerbstätig im Vergleich zu 68 Prozent bei der Gesamtbevölkerung. Wissenschaftler der Universität Marburg haben kürzlich errechnet, dass die Frühberentung der größte Faktor unter den indirekten Kosten der Epilepsie ist. Dass Epilepsiekranke es oft schwer haben, eine Stelle zu finden, hat viele Gründe. Die eingeschränkte Mobilität und das Unfallrisiko auf einem Baugerüst oder am Steuer eines Lastwagens gehören dazu. Doch viele Bewerbungen scheitern schlicht an den Vorbehalten der Arbeitgeber. Nachdem Anna-Katharina G. die Bundeswehr verlassen musste, bemühte sie sich lange vergeblich um Klinikposten und Bürojobs. Nicht einmal

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im Supermarkt wollte man sie Regale einräumen lassen. Mit dieser Krankheit, so die Begründung, komme sie nicht infrage. Dani hörte bei einem Bewerbungsgespräch für eine Lehrstelle sogar den Satz: »Sie kann man ja nicht auf die Leute loslassen.« Und das, obwohl das Zucken bei ihr seit Jahren nur noch nachts auftritt.

Das Verletzungsrisiko bei der Arbeit liegt unter einem Prozent pro Jahr »Oft fürchten Arbeitgeber ein erhöhtes Unfallrisiko und Haftungsansprüche«, sagt Rupprecht Thorbecke, der die Sozialtherapeutischen Dienste im Epilepsiezentrum Bethel leitet und Anfallskranken dabei hilft, sich beruflich zu orientieren. Verschiedenen Studien zufolge liegt das anfallsbedingte Verletzungsrisiko am Arbeitsplatz jedoch nur bei null bis ein Prozent pro Jahr. Auch das Vorurteil, Epilepsiekranke hätten höhere Fehlzeiten als andere Beschäftigte, ist in Studien widerlegt worden. Betroffene müssen ihre Krankheit nicht einmal angeben, wenn der Arbeitsplatz keine besonderen, mit der Epilepsie verbundenen Risiken beinhaltet. »Das können viele bei einer neuen Stelle vorher aber nicht einschätzen«, sagt Thorbecke. Auch für Arbeitgeber ist es nicht leicht zu beurteilen, welche Aufgaben unbedenklich sind. Zwar geben die Berufsgenossenschaften ein Heft mit entsprechenden Empfehlungen heraus. Dennoch hält Thorbecke das Wissen deutscher Chefs für unzureichend. Umso wichtiger sei es, dass die Betroffenen selbst gut über ihre Krankheit Bescheid wüssten und Vorbehalte entkräften könnten. Wie sich Vorurteile anderer abbauen lassen, lernen Epilepsiekranke beispielsweise in dem Schulungsprogramm Moses, das der Verein zur Förderung von Epilepsie-Schulungen bundesweit anbietet. Für Jugendliche gibt es sogar einen Comic im Manga-Stil mit dem Titel Epilepsie? – Bleib cool!. Darin lesen sie, wie sie mit der Diagnose leben und ihre Freunde aufklären können. Der Weg aus der Verborgenheit braucht Mut, ist aber sehr wichtig, betont Ann Jacoby. »Wenn man sich ewig versteckt, ändert sich ja nichts«, sagt die Medizinsoziologin. Etwas verändern wollen Anna-Katharina G. und Dani. Gemeinsam mit Susanne Rudolph, die den Ulmer Treffpunkt für Jugendliche und junge Erwachsene mit Epilepsie gegründet hat, haben sie ein kleines Buch veröffentlicht. Ein beinahe fast normales Leben heißt das Heft, das aus ihrem Alltag erzählt. Es ist der zaghafte Versuch 14 junger Menschen, das Schweigen zu brechen und Denkanstöße zu geben. »Wir wollen die Krankheit der Gesellschaft näherbringen, schließlich kann sie jeden treffen«, sagt Rudolph. Seit April hat sie fast 5000 Exemplare verschickt. Schon nach kurzer Zeit war die erste Auflage vergriffen. Das zeigt, wie wichtig es war, ein solches Heft zu schreiben, nicht bloß für Betroffene, sondern um mit Vorurteilen Schluss zu machen. Wie es beruflich für sie weitergeht, hat AnnaKatharina G. unterdessen herausgefunden. Auch wenn sie nie wieder einen Hubschrauber fliegen wird, kann sie weiterhin anderen Menschen helfen. Trotz Epilepsie hat sie eine Zusage vom Auswärtigen Amt bekommen, wo sie bald als Projektleiterin für medizinische Entwicklungshilfe anfangen wird. Aufgegeben hat die 34-Jährige sich nicht. »Ich will noch was erreichen«, sagt sie. i Weitere Informationen und eine Anleitung für den Umgang mit Krampfanfällen finden Sie im Internet: www.zeit.de/2007/38/epilepsie

" EPILEPSIE

Epileptische Anfälle sind kurzzeitige Störungen des Gehirns, ausgelöst durch eine abnorm starke und gleichzeitige Entladung vieler Nervenzellen. Fünf bis zehn Prozent aller Menschen erleiden mindestens einmal im Leben einen solchen Anfall. Von einer Epilepsie spricht man erst dann, wenn jemand mehr als zwei Anfälle im Abstand von mindestens 24 Stunden erlitten hat, für die keine Ursache erkennbar ist. Die Diagnose liefert ein Elektroenzephalogramm (EEG), das über die Kopfhaut die elektrische Aktivität der Hirnzellen aufzeichnet (siehe Bild links). Insgesamt gibt es mehr als zehn verschiedene Anfallsformen. Mediziner unterscheiden zwischen fokalen Anfällen, die nur von einem bestimmten Teil des Gehirns ausgehen, und generalisierten Anfällen, an denen beide Hirnhälften gleichzeitig beteiligt sind. Am bekanntesten sind Grand-Mal-Anfälle, bei denen Epilepsiekranke bewusstlos zu Boden fallen, ihr Körper sich erst versteift und dann heftig zuckt. Die Haut kann sich blau verfärben, manche nässen sich ein. Eine weniger dramatische, generalisierte Form sind Absencen, kurze Bewusstseinspausen,

in denen Betroffene ins Leere starren und vermindert ansprechbar sind. Bei fokalen Anfällen kommt es häufig zu Zuckungen einzelner Körperteile, außerdem zu Taubheitsgefühlen oder Kribbeln. Auch Sprach-, Hör-, Seh- und Geschmacksstörungen sowie Angstgefühle sind möglich. Komplexe fokale Anfälle gehen mit Bewusstseinsstörungen und Automatismen einher. Betroffene schmatzen, kauen oder schlucken unentwegt oder nesteln an ihrer Kleidung. Zu Unrecht wird Epilepsie oft mit Behinderung gleichgesetzt. Nur in seltenen Fällen ruft eine Hirnschädigung beides gleichzeitig hervor. Die meisten Erkrankungen treten im frühen Kindesalter oder bei älteren Menschen auf. Kinder erkranken oft infolge einer Hirnschädigung bei der Geburt. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind es meist schwere Kopfverletzungen, die die Krankheit hervorrufen, während bei Älteren oft Durchblutungsstörungen oder Tumoren des Gehirns ursächlich sind. Viele Epilepsien lassen sich mit Medikamenten weitgehend in den Griff bekommen. Die Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Konzentrationsprobleme oder Übelkeit können aber beträchtlich sein. Doch moderne Antiepileptika

erlauben immer individuellere Therapien. So lassen sich etwa gewichtsreduzierende Mittel einsetzen. Außerdem gibt es Medikamente, die bei Schwangeren das Risiko einer Fehlbildung des Kindes senken. Trotz der Fortschritte schlagen die Mittel bei 30 bis 40 Prozent der Patienten nicht ausreichend an. Für einige von ihnen besteht die Möglichkeit, Teile des Gehirns operativ entfernen zu lassen. Bildgebende Verfahren (siehe Bild rechts) und moderne OP-Technik ermöglichen immer präzisere Diagnosen und Eingriffe. Allerdings kommt eine OP nur für etwa 10 Prozent der pharmakoresistenten Epilepsien infrage. Voraussetzung ist, dass die Störung von einer Stelle im Gehirn ausgeht, die sich abgrenzen und entfernen lässt, ohne dabei neue Schäden anzurichten. Bundesweit operieren Chirurgen 600 Patienten im Jahr. Bernhard Steinhoff, Ärztlicher Direktor am Epilepsiezentrum Kork, schätzt die Zahl der Kandidaten auf bis zu 18 000. Bei bestimmten Epilepsien sei die OP sogar die Therapie der Wahl. Eine weitere, neue Therapie ist die Vagusnerv-Stimulation, bei der ein Pulsgenerator und Elektroden elektrische Reize an das Gehirn leiten. WÜS

Fotos: Stefan Enders/Bilderberg (2); Jens Wolf/dpa (r.)

Das Gewitter im Kopf

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WISSEN

DIE ZEIT Nr. 38

41

0° 30°

30°

60° Atlantischer Ozean Station Neumayer 60°

60°

KöniginMaud-Land

Indischer Ozean

geografischer Südpol

90° 0st

ANTAR KTIS 120°

120° Pazifischer Ozean

150°

100 km ZEIT-Grafik

150°

Das deutsche Forschungslabor in der Antarktis versinkt unter den Schneemassen. Im November schickt das Alfred-Wegener-Institut die Nachfolgestation zum Südpol VON BURKHARD STRASSMANN

180°

WESTEN NORDEN

OSTEN

SÜDEN

Auf Stelzen wird sich die 68 Meter lange Station NEUMAYER III über dem Eis der Antarktis erheben. Droht sie zu versinken, können die Ingenieure jedes Bein einzeln anheben und neuen Schnee darunter schaufeln

B

remerhaven, Fischereihafen. Eine Stahlbauhalle am Kai. Vor dem Hallentor ragt ein rohes Stahlgerüst 30 Meter in die Höhe. Ein paar Container sind eingehängt, ein Aufzugschacht ist eingebaut. Es wird gebohrt, geschraubt, nachgemessen. Es könnte sich um die Aufbauten eines Schiffes handeln. Wären da nur die schlanken, knallrot lackierten Beine nicht, auf denen die Konstruktion steht. Wenn alles mitspielt, das Wetter, das Eis und nicht zuletzt die Financiers, dann wird aus dem stählernen Segment demnächst die »Neumayer III«, die nach dem deutschen Polarforscher Georg von Neumayer (1826 bis 1909) benannte neue deutsche Antarktisstation. Noch wird montiert. Für den Rohbau ist der Bremerhavener Anlagenbauer J. H. Kramer zuständig, die Inneneinrichtung liefert der Isolierspezialist Kaefer. Jetzt besteht die erste und letzte Chance, einen Eindruck von der Polarstation zu bekommen, bevor sie im November im ewigen Eis verschwindet. Bundesforschungsministerin Annette Schavan war Anfang September da, um ihr liebes (und vermutlich weit über 26 Millionen Euro teures) Kind zu besuchen und zu verkünden, dass sie es dereinst in der Antarktis besuchen will. Und vergangenen Samstag organisierte das Alfred-Wegener-Institut (AWI), Betreiber der Neumayer III, einen Tag der offenen Tür. Im November bringt ein eisgängiges dänisches Versorgungsschiff die insgesamt 4000 Tonnen schwere Station – wieder in ihre Einzelteile zerlegt – ins eisige Königin-Maud-Land. Im anbrechenden antarktischen Sommer soll gebaut werden. Der Neubau wurde notwendig, weil die Vorgängerstation Neumayer II im Wortsinne plattgemacht wird. Die jetzige Antarktisherberge besteht aus zwei voluminösen Stahlröhren. Diese liegen gerade mal 15 Jahre im Ekström-Schelfeis. Weil es ANZEIGE

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dort viel schneit, sind sie mittlerweile von einer gut zwölf Meter dicken, viele Tonnen schweren Schneeschicht bedeckt. Von der anfänglichen eliptischen Form ist nichts mehr übrig. Die Röhren sind abgeplattet und wie Bananen gekrümmt. Mit lautem Knall verabschieden sich immer wieder Bolzen. In ein paar Jahren wird man die Station ganz aufgeben müssen. Die künftigen Insassen der Neumayer III dagegen werden über das Schneetreiben lachen. Denn ihre neue Station, die ein bisschen an ein Ufo erinnert, hat ja Beine. Und kann – klettern. Bei Bedarf hebt sie die Füße hydraulisch gesteuert an, man schaufelt Schnee darunter, sie stellt sich auf den Schneeberg – und steigt so eigenen Fußes aus dem Schnee. Wenn das wie geplant funktioniert, wird Neumayer III nicht

mehr im Schnee versinken. Ein im Grundriss 68 mal 34 Meter messendes Stahlbauwerk, das klettern kann – hört sich kompliziert an, ist es auch. Doch Bauen in der Antarktis ist ohnehin alles andere als trivial. Da sind nicht nur die extremen Temperaturbedingungen (plus vier bis minus 50 Grad), der viele Schnee, der starke Wind. Es existiert gelegentlich nicht mal solider Baugrund. So wirkt das Schelfeis bei der deutschen Station wenig Vertrauen erweckend; eher wie zäher Pudding: Es fließt. Für Neumayer III muss zunächst eine acht Meter

tiefe Baugrube ausgehoben werden. »Das dürfte der problematischste Augenblick sein«, sagt AWIProjektleiter Saad El Naggar. »Wind kann die Grube gleich wieder zuwehen – eine Sisyphusarbeit.« In der Grube werden die 16 Beine der Station auf Fundamente gestellt, und schnell kommt ein Deckel drauf. Die Grube, in die ein Aufzug führt, soll künftig als Garage für Kettenfahrzeuge und Motorschlitten dienen. Das gesamte System wird über die roten Beine sowie seitliche, ebenfalls hydraulisch steuerbare Abstützungen fixiert – und so in der Waage gehalten. Bei starkem Wind zum Beispiel oder bei langsamem Absacken der Station kann der »Maschinist« der Neumayer III nachregulieren, damit den Wissenschaftlern nicht die Reagenzgläser vom Labortisch rollen. Am Grubendeckel werden Werkstatt, Hydraulikzentrale, Fitnessräume und Lebensmittellager aufgehängt. Die eigentliche Station ruht ebenfalls auf Stützen, sechs Meter über dem Schnee. Windkanaltests haben gezeigt, dass dieser Platz nötig ist, damit der Wind den Schnee unter der Station optimal hindurchund fortweht. Oben verteilen sich über zwei Etagen Aufenthaltsräume, Küche, Krankenstation und OP, Doppel- und Mehrbettzimmer, Labors und eine Sauna. Alles ist in genormten Containern untergebracht, die dick isoliert werden. Steht einmal der Rohbau, wird eine 120 Millimeter dicke Hülle darüber gestülpt, in den klassischen AWI-Farben blau-weiß-rot angemalt. Aufs Dach kommt noch eine Kammer, in der die Helium-Messballons aufgeblasen werden. Daneben ist Platz für weitere Messeinrichtungen, Antennen – und natürlich eine Fahne. Auf die Idee mit dem aufwendigen Stelzenbau

kam das AWI auch, weil das antarktische Umweltschutz-Protokoll, seit 1998 in Kraft, für den »sechsten Kontinent« besonders strikte Umweltauflagen vorsieht. Eine Röhre wie Neumayer II einfach im Schnee versinken zu lassen ist seitdem nicht mehr gestattet. Auch sonst gibt man sich jetzt in Bremerhaven alle Mühe, die Antarktis möglichst sauber zu halten. Das Abwasser wird biologisch geklärt und dann wieder für die Toilettenspülung verwandt. Die Reste aus der Kläranlage werden getrocknet und wie anderer Müll wieder mit nach Hause genommen. Und obwohl die Station im Gegensatz zur alten nun voll im Wind und im eisigen Wetter liegt und mit 15 Schlafräumen und 12 Labors und Büros erheblich größer ist, verbraucht sie nur 30 Prozent mehr Polardiesel (Diesel plus Kerosin). Das verdankt sie insbesondere einer effektiveren Heizung und Stromerzeugung in einem Blockheizkraftwerk. Zum strahlenden Vorbild wird man so in der Antarktis allerdings noch nicht. Belgien stellt zeitgleich mit den Deutschen eine Null-Emissions-

Station 200 Kilometer von der Küste entfernt ins Eis, die »Princess Elisabeth«. Aus Holz! Nach dem Passivhaus-Konzept wird hier nur mit Wind- und Solarenergie und der Körperwärme der Bewohner geheizt. Die Deutschen nehmen immerhin schon mal eine Windenergieanlage mit. In Zukunft ist in der Nähe der Station ein Windpark geplant. Doch zuerst muss das Ufo mal landen. Projektleiter

Saad El Naggar hofft, dass am Ende des kurzen antarktischen Sommers die für insgesamt 40 »Gäste« konzipierte Station steht; im nächsten Jahr folgt der Innenausbau. Der sechs Kilometer weite Umzug von Neumayer II nach Neumayer III ist für Februar 2009 geplant. Dann können die neun Wissenschaftler, Mediziner und Techniker, die als soge-

nannte Überwinterer hier neun Monate lang vollständig isoliert sind, den verbesserten Komfort genießen. Die Forscher haben zum Arbeiten etwa doppelt so viel Platz wie zuvor. Zum Entspannen gibt es eine geradezu üppig dimensionierte Lounge mit Bar. Und wenn die polare Sonne einmal scheint, kann man sich sogar ans Fenster setzen. In den unterirdischen Neumayer-II-Röhren herrscht dagegen stets schwarze Nacht. Der einzige klare Nachteil der oberirdischen Position: In der neuen Station wird es laut werden. Man wird den Wind heulen und den Schnee übers Blech fegen hören. Dafür hat vielleicht bessere Chancen, wer schwer erkrankt oder verunglückt. Der überwinternde Mediziner kann sich nämlich dank der Segnungen der Telemedizin bei Operationen von Kollegen des Kli-

nikums Bremerhaven-Reinkenheide in Echtzeit assistieren lassen. Wegen der guten medizinischen Ausrüstung der Station wird Neumayer III künftig zahlreiche Stationen in der antarktischen Nachbarschaft medizinisch mit betreuen. 25 bis 30 Jahre soll Neumayer III zu nutzen sein. Wissenschaftlich wird fortgesetzt, was bisher getan wurde: die Erfassung meteorologisch relevanter Daten, Erdmagnetfeldmessungen, die Kontrolle klimarelevanter Gase. Und das Belauschen von Meeressäugern mit Hilfe von Unterwassermikrofonen. Datensammeln, nicht mehr und nicht weniger. »Was hat die Menschheit denn bisher auf der Erde hinterlassen?«, fragt Saad El Naggar. »Sie hat alles verbrannt! Wir können für die kommenden Generationen wenigstens Daten sammeln.«

ZEIT-Grafik/Dieter Duneka; Quelle: AWI; Fotos: Alasdair Jardine/fotoetage für DIE ZEIT

90°West

Ufo über dem Eis

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DIE ZEIT Nr. 38

Er war schon als Schüler ein Überflieger und machte eine Blitzkarriere an der Universität.

GÜNTER ZIEGLER will im Mathematik-Jahr 2008 die Deutschen für ihr Angstfach begeistern VON CHRISTOPH DRÖSSER

Ein etwas anderer Streber I

n Mathe war ich immer schlecht«, steht auf einem von Günter Zieglers T-Shirts. Genauso heißt auch eine Kolumne, die er in den DMVMitteilungen schreibt, dem Zentralorgan der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Aber natürlich war er nie schlecht in Mathe. Günter Ziegler ist Präsident der DMV, und er bekennt: »Ich war in der Schule ein Streber.« Fünfmal nahm er als Schüler am Bundeswettbewerb Mathematik teil, die letzten beiden Male wurde er Sieger. Dreimal beteiligte er sich an »Jugend forscht« und bekam auch da einmal den ersten Preis. Wenn neben der Mathematik noch Zeit war, dann hat er »gelesen wie ein Staubsauger«. Literatur, nicht Mathematik. Das äußere Erscheinungsbild will zum StreberImage nicht so recht passen. Ziegler ist jetzt 44, aber er sieht immer noch jungenhaft aus. Die Haare kurz geschoren, manchmal auch strohblond gefärbt, im rechten Ohr ein auffälliger Ohrring. Selbst unter den Mathematikprofessoren mit ihrem informellen Dresscode ist er ein Paradiesvogel.

»Hier ist ein ganz toller Student, der will zurück nach Deutschland« Der Käfig dieses Vogels ist aus Beton, ein leicht bröckliger Zweckbau der Technischen Universität Berlin an der Straße des 17. Juni, gebaut in den achtziger Jahren. In seinem von Büchern überquellenden Büro versucht Ziegler die vier Jobs unter einen Hut zu bringen, die er zurzeit macht: Neben der Professur und dem Vorsitz der Mathematikervereinigung leitet er noch die Berlin School of Mathematics (BSM), eine neue Graduiertenschule der drei Berliner Universitäten. Und im nächsten Jahr wird er die deutsche Mathematik repräsentieren. 2008 ist vom Forschungsministerium zum »Jahr der Mathematik« bestimmt worden, Ziegler soll die Idee nun mit Inhalt füllen. Die Streberkarriere des Schülers Ziegler ging auch nach dem Abitur im Turbotempo voran: Nach drei Semestern Mathematik in München hatte er das Vordiplom. Nach sechs Semestern ging er in die USA, ans Massachusetts Institute of Technology (MIT), und machte dort die Doktorprüfung – das Diplom ließ er einfach aus. Die Chancen standen gut für eine Hochschulkarriere in den Vereinigten Staaten. Aber dann

Fotos: Uwe Arens für DIE ZEIT; DZ (u.)

nahm der junge Wissenschaftler an einem Literaturseminar in Deutschland teil, es ging um Rilkes Duineser Elegien. »Deutscher bist du nicht, oder?«, fragte ihn ein anderer Teilnehmer, als er Zieglers amerikanischen Akzent hörte. »Da dachte ich: Jetzt war ich lange genug weg.« Er nahm eine Stelle an der Universität Augsburg an. Das Angebot kam von Martin Grötschel, Spezialist für mathematische Optimierung, und es war der Beginn einer mathematischen Partnerschaft, die bis heute andauert. »Ein amerikanischer Kollege schrieb mir eine EMail«, erinnert sich Grötschel. »›Hier ist ein ganz toller Student, der zurück nach Deutschland will, hast du nicht eine Stelle für ihn?‹« Grötschel hatte. Das Spezialgebiet von Günter Ziegler sind Polytope. In der Ebene sind das Vielecke, im dreidimensionalen Raum Polyeder wie Würfel oder Fußbälle. Aber Mathematiker betrachten Polytope auch in höherdimensionalen Räumen. Wenn man dabei nur die Ecken, Kanten und Flächen ansieht und nicht das Maß ihrer Länge oder des Rauminhalts, dann ist das ein Zweig der sogenannten diskreten Mathematik – eigentlich reine Forschung, die zweckfrei neue Erkenntnisse gewinnt. Bei Grötschel in Augsburg lernte Ziegler aber Optimierung, ein Gebiet der angewandten Mathematik, bei dem es darum geht, in konkreten Fällen aus der Wirklichkeit mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel zu erreichen. Reine und angewandte Mathematik, das waren in den achtziger Jahren an den meisten Universitäten noch zwei Lager, die einander recht wenig zu sagen hatten. In Augsburg klappte die Kommunikation jedoch so gut, dass Grötschel den jungen Kollegen 1991 mit zu seiner neuen Stelle an der Technischen Universität Berlin nahm. Drei Jahre später war Günter Ziegler mit 32 Jahren der jüngste Professor an der TU. Für Mathematiker ist es nicht ungewöhnlich, schon in jungen Jahren Karriere zu machen. Da ähneln sie den Leistungssportlern: Jenseits der 40 traut man ihnen nicht mehr so viel zu. »Die Katastrophe war, dass ich acht Jahre lang der jüngste Professor an der TU geblieben bin«, sagt Ziegler. Die Hochschule baute massiv Arbeitsplätze ab, die Hälfte der Stellen für das Lehrpersonal wurde gestrichen. Früher gehörte Berlin nicht zu den ersten Städten, die im Zusammenhang mit Mathematik in Deutschland genannt wurden. Das änderte sich mit

der Wiedervereinigung, die Hauptstadt hatte plötzlich drei Universitäten. Die Berliner Mathematiker haben inwischen viele Grenzen überwunden: zwischen Ost und West, zwischen »Angewandten« und »Reinen«. Die Kooperation begann mit einer gemeinsamen zweitägigen Veranstaltung pro Semester. Dann kam 1998 der Weltkongress der Mathematiker nach Berlin. Inzwischen hat Berlin mit dem Matheon das größte Zentrum für anwendungsorientierte Mathematik in Deutschland und mit der BSM die wichtigste Graduiertenschule.

Eine Psychologin soll Balance in sein Leben bringen Günter Ziegler hat mit dazu beigetragen, dass Berlin heute auch in der Mathematik die deutsche Hauptstadt ist. Martin Grötschel, der inzwischen dem Matheon vorsteht, beschreibt es so: »Wir haben hier keine Kleinkriege – der eine hat eben Spaß daran, Probleme in der Praxis zu lösen, braucht dazu Theorie, und wenn wir da nicht weiter kommen, dann rufen wir zum Beispiel Günter Ziegler und seine Gruppe an.« Wie kann man noch höher hinaus, wenn man in so jungen Jahren schon Professor auf Lebenszeit ist? Zum Beispiel, indem man den höchstdotierten deutschen Forscherpreis gewinnt. 2001 bekam Ziegler den mit 1,5 Millionen Mark dotierten Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Und er hat das Geld nicht in den »süßen kleinen gelben Porsche« investiert, der im Showroom neben dem Institut stand. Das durfte er auch gar nicht, denn das Geld ist für wissenschaftliche Zwecke gedacht. Ziegler finanzierte eine Gastprofessur und konnte dafür neun Stunden Lehrtätigkeit pro Woche abgeben. Die Auszeichnung hatte zwei Effekte für ihn. Zum einen schob sie seine wissenschaftliche Arbeit an, er hatte mehr Zeit für die eigene Forschung, bekam mehr Anerkennung von den Kollegen. Zum anderen hatte er das Gefühl, dass endlich der Druck von ihm abfiel, der ihn bis dahin seine Karriere so kompromisslos hatte vorantreiben lassen. »Das war der Punkt, an dem ich gemerkt habe: Ich muss niemandem mehr irgendetwas beweisen«, sagt Ziegler. »Ich glaube, da habe ich endlich das Strebertum abgelegt.«

" Der Mensch … Günter Ziegler (44) wird im nächsten Jahr viel in den Medien zu sehen sein: Er organisiert im Auftrag des Forschungsministeriums das Mathematikjahr 2008. Ziegler wurde mit 32 Jahren der jüngste Professor an der Technischen Universität Berlin – und blieb es acht Jahre lang. Er leitet außerdem die Graduiertenschule Berlin School of Mathematics und ist Vorsitzender der Deutschen Mathematiker-Vereinigung.

… und seine Idee Die Forschungsobjekte von Günter Ziegler sind Polytope – Strukturen von Ecken, Kanten und Flächen in Räumen mit beliebig hoher Dimension. Dieses Teilgebiet der diskreten Mathematik ist eigentlich eine zweckfreie Disziplin. Zunehmend nutzen Mathematiker diese Strukturen aber auch, um praktische Probleme zu lösen – zum Beispiel um den U-Bahn-Fahrplan einer Großstadt zu optimieren.

Sagt es und schaut so, als würde er sich das selbst nicht recht glauben. Denn langsamer ist er die Dinge auch nach dem Leibniz-Preis nicht angegangen. Nach wie vor besteht sein Tag vor allem aus Mathematik. Um Viertel nach sieben morgens ist er im Büro (»Ich muss sowieso früh aufstehen – mein Mann ist Arzt«), und meistens werden die Tage lang. Immerhin hat er das Problem erkannt, dass er mit seinen vielen Jobs irgendwann »strukturell überlastet« ist, wie er es nennt. Inzwischen lässt er sich von einer Psychologin coachen, versucht mit ihrer Hilfe, Beruf und Privatleben in eine Balance zu bringen. Bisher mit mäßigem Erfolg: »Das heißt nicht, dass ich jetzt nicht mehr überlastet bin«, sagt er, »aber ich fühle mich besser dabei.« Dass Günter Ziegler mit seinen guten Vorsätzen im Jahr 2008 wesentlich weiterkommen wird, ist nicht zu erwarten. Denn auch an die Aufgabe, das Jahr der Mathematik inhaltlich zu organisieren, geht er mit dem ihm eigenen Ehrgeiz heran. Er hat sich vorgenommen, dass daraus kein kurzes PR-Strohfeuer werden soll. Die vergangenen Wissenschaftsjahre waren ja durchaus von unterschiedlicher Qualität. Während das Einsteinjahr 2005 mit viel Brimborium begangen wurde, nahmen vom Jahr der Informatik erheblich weniger Menschen Notiz, und dass wir uns gerade im Jahr der Geisteswissenschaften befinden, weiß außerhalb der entsprechenden Fakultäten kaum jemand. Aber das müsse ja auch nicht das Hauptziel dieser Wissenschaftsjahre sein, sagt Ziegler; viel wichtiger sei ein nachhaltiger Effekt für das Fach selbst. Das bedeutet für ihn vor allem, den mathematischen Nachwuchs zu fördern und besonders Schüler für das Fach zu begeistern. Außerdem will er versuchen, die Öffentlichkeitsarbeit für die Mathematik auch über das Mathejahr hinaus zu fördern, etwa mit einem Redaktionsbüro, das mathematische Themen für die Medien aufbereitet. »Man kann ja nicht alles machen, und schon gar nicht gleichzeitig«, sagt Günter Ziegler einmal im Verlauf des Gesprächs. Das bezog sich auf mathematische Fachgebiete, aber kann auch als Einsicht gewertet werden, dass eine gewisse Selbstbeschränkung manchmal nötig ist. 2009 will er dann ernsthaft anfangen, diese Einsicht in die Praxis umzusetzen, »ganz bestimmt«.

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WISSEN

DIE ZEIT Nr. 38

" ERFORSCHT UND ERFUNDEN

" STIMMT’S?

Kopfbälle versursachen keine im Rückenmark

Weibliches verboten

nachweisbaren Hirnschäden. Das haben schwedische Wissenschaftler aus Tests mit 23 Amateurfußballern geschlossen. Eine Woche nach dem Training entnahmen die Forscher den Probanden flüssige Proben aus dem Rückenmark. Sie suchten nach biochemischen Markern, die Nerven und Gliazellen im Hirn bei einer Schädigung absondern. Die Spurensuche ergab jedoch nichts, egal, ob die Spieler zehn- oder zwanzigmal geköpft hatten. Bei einer früheren Studie mit Amateurboxern hingegen konnten auf diese Weise Hirnschäden entdeckt werden. (British Journal of Sports Medicine, Bd. 41, S. 574)

Ist es wahr, dass die griechischen Mönchsrepublik Athos nicht nur Frauen, sondern sogar weiblichen Tieren wie Hühnern, Ziegen und Schafen den Zutritt MARION KURZ, HAMBURG verwehrt?

Die Mönchsrepublik Athos, auf dem östlichsten »Finger« der griechischen Chalkidiki-Halbinsel gelegen, genießt eine weitgehende Autonomie und kann es sich deshalb leisten, einige seltsame Regeln aufzustellen. Selbst das Europaparlament, das keine nationalen Extrawürste mag, hat nichts dagegen ausrichten können. Nicht einmal griechische Polizisten gibt es auf der Halbinsel. So sind die internen Konflikte der frommen Männer schon des Öfteren in wüste Schlägereien ausgeartet. Die Athos-Mönche wollen unter sich sein, und auch als Besucher dulden sie nur Männer. »Avaton« nennt sich diese Bestimmung; sie gilt seit dem Jahr 1045. Und tatsächlich erstreckt sie sich auch auf weibliche Tiere, soweit das überhaupt praktisch feststellbar ist. Der Sinn dieser Regel verliert sich im Dunkel der Geschichte. Die einzige Ausnahme sind Katzen (gegen die Rattenplage) und Hühner – denn die Ikonenmaler brauchen Eigelb, um ihre traditionellen Farben anzurühren. Allerdings haben die Mönche schon mal Ausnahmen gemacht – zum Beispiel im griechischen Bürgerkrieg von 1946 bis 1949. Da fanden auch Frauen und Kinder Zuflucht in den abgelegenen Klöstern der Halbinsel. CHRISTOPH DRÖSSER

Gesichter sprechen Bände. Sie können sogar

Krankheiten verraten. Mehr als 700 genetische Syndrome hinterlassen Spuren im Gesicht, etwa das Williams-Syndrom, das mit einer kurzen, nach oben deutenden Nase, vollen Lippen und einem kleinen Kiefer einhergeht. Eine neue Software könnte dabei helfen, anhand solcher Merkmale Krankheiten schnell zu erkennen. Die Technik, die auf dem Festival der British Association for the Advancement of Science (BA) in York vorgestellt wurde, vergleicht individuelle Gesichter mit 3-DBildern von Personen, die an diesen Krankheiten leiden. Bislang lag die Software, die in einer Londoner Klinik erprobt wird, zu 90 Prozent richtig.

Gibt es Hoffnung für die Erde? Bisher gingen die

meisten Astronomen davon aus, dass die Sonne sich in spätestens fünf Milliarden Jahren, wenn ihr Wasserstoffvorrat aufgebraucht ist, zu einem »Roten Riesen« aufblähen und dabei die inneren Planeten einschließlich der Erde verschlucken wird. Eine internationale Forschergruppe hat nun einen exosolaren Planeten entdeckt, der um einen Roten Riesen kreist und offenbar die kosmische Katastrophe überlebt hat (Nature, Bd. 449, S. 189). Allerdings kreist er nun fast in der doppelten Entfernung um sein Zentralgestirn wie vorher.

" Afrika aus der Vogelperspektive Das Nahe kann schmutzig, stinkend, hässlich und deprimierend und gefährlich sein. Vielleicht lieben wir darum die Vogelperspektive so sehr. Michael Poliza, Schauspieler, IT-Unternehmer und Weltenbummler, setzte sich 2006 in einen Helikopter und flog knapp acht Wochen lang über Afrika. Aus einer Distanz, die auch müllverdreckte Megacitys in »ein Fest aus Mustern und Texturen« verwandelt, schoss er zahlreiche Fotos, die er jetzt in dem Bildband »Eyes over Africa« publiziert hat (teNeues Verlag, Kempen, 98 Euro). Aus der Luft betrachtet, scheinen sich nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Landschaften in stabilen Strukturen zu organisieren: der ägyptische Nassersee mit seinen blattartigen Ufern; flüchtende Anti-

" ACHT FRAGEN IM STEHEN Foto: Horst Galuschka/action press

Kannibale und Liebe KLAUS M. BEIER leitet das Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Berliner Charité Sie haben den Fall des »Kannibalen von Rotenburg« untersucht und nun ein Buch über sexuellen Kannibalismus geschrieben. Wie war Ihre erste Begegnung mit dem Täter Armin Meiwes?

Recht bizarr. Das lag allerdings nicht an ihm, sondern daran, dass man mir in der Justizvollzugsanstalt zwei Wachleute zur Seite gestellt hatte, die mich auf Schritt und Tritt begleiten sollten. Man hat dort offensichtlich angenommen: Der Mann fällt mich an und isst mich als Nächstes auf, ähnlich wie Hannibal Lecter aus dem Film Das Schweigen der Lämmer, der Menschen gegen ihren Willen tötet und verspeist. So etwas würde Meiwes nie tun. Er ist weder ein geistesgestörter Mörder noch ein Sadist. Was waren dann seine Motive?

Meiwes leidet an einer schweren Bindungsstörung und einer extremen Form von Fetischismus. Diese richtet sich auf Fleisch, das von Männern stammen muss, die ihm sympathisch sind und sich freiwillig zur Verspeisung anbieten. Er hatte schon vor der Pubertät das Gefühl, dass er eine echte Bindung nur erreicht, indem er sich den anderen einverleibt. Um das zu verstehen, muss man sein Verständnis von Sexualität erweitern. Die meisten verbinden damit ausschließlich Lust. Aber zur Sexualität gehört auch die Beziehungsdimension. Mit dem Schlachten seines Opfers wollte Meiwes keinen Lustgewinn erreichen, wie es bei Sadisten der Fall wäre, sondern eine Bindung eingehen. Und da ist er auf Bernd Brandes gestoßen, der sich bereit erklärt hatte, sich schlachten und essen zu lassen. Ein abstruses Traumpaar?

det sich einfach ein viel größerer Pool an Menschen mit abweichenden Neigungen. In der Folge entstehen dort Gruppennormen, die das Pathologische mehr und mehr als normal erscheinen lassen. Dadurch sinkt die Schwellenangst, Fantasien in die Tat umzusetzen. Das war auch bei Meiwes und Brandes so. Wie entstehen solche bizarren Neigungen überhaupt?

Es ist schwer zu erklären, warum ausgerechnet bei den beiden diese spezifische neuronale Verschaltung im Hirn zustande gekommen ist. Natürlich finden wir Erklärungsansätze in ihren Biografien. Aber das ist zu wenig. Denn wie bei vielen Störungsbildern gilt: Es gibt immer andere Menschen, die ganz ähnliche Risikofaktoren aufweisen und keine derartige Störung herausbilden. Hätte man die beiden therapieren können?

Die sexuelle Präferenz können wir nicht ändern. Aber man muss Menschen damit aussöhnen und ihnen ihre Schuldgefühle nehmen, weil sich niemand seine sexuellen Neigungen aussucht. Und man muss vor allem dafür sorgen, dass solche Menschen anderen keinen Schaden zufügen. Das bedeutet natürlich, dass sie ihre Fantasien nicht realisieren können. Es gilt: Vorstellen kann man sich alles, tun nichts. Verändern können Sie die Impulse also nicht, wohl aber vollständig kontrollieren, gegebenenfalls auch mit Medikamenten. Hätte das in einem solchen Extremfall etwas genützt?

Grundsätzlich können wir Menschen erreichen, deren sexuelle Neigungen andere gefährden – wenn sie zu einer Therapie motiviert sind. Denn in ihrem Erleben und Verhalten sind sie anderen Menschen ansonsten völlig vergleichbar, meist unterscheiden sie sich nur, was ihre besonderen sexuellen Präferenzen angeht. Waren Sie von Meiwes’ Neigung und Tat überhaupt nicht schockiert?

Welche Rolle spielte das Internet in dieser fatalen Beziehung?

Man muss an die Welt der sexuellen Abweichungen nüchtern herangehen. Das will ich auch mit meinem Buch zeigen. Zum einen muss man bei allen Menschen beachten, dass die Beziehungsebene großen Einfluss hat und Menschen auf Bindungen programmiert sind. Zum anderen muss man akzeptieren, dass wir alle in bestimmter Weise determiniert sind, auch sexuell. Wir müssen aber die Verantwortung für diese Determinierung übernehmen, wenn wir damit anderen schaden können. Dazu müssten Betroffene ohne moralische Bewertung professionelle Hilfe in Anspruch nehmen können – und zwar im Vorfeld. Wenn wie bisher vor allem Internetforen als Anlaufstelle dienen, dann blüht da die Subkultur. Daraus erwachsen die nächsten Taten.

Letztlich die entscheidende. Die beiden haben sich ja über ein Forum kennengelernt. Im Internet bil-

INTERVIEW: ALEXANDRA FRANK

Nein. Zwar waren beide mit den Taten einverstanden, aber ihre Ziele deckten sich in keiner Weise. Sie haben sich gegenseitig etwas vorgemacht. Brandes wollte sich den Penis abtrennen lassen und Qualen erleiden, ein extremer Fall von Masochismus. Dafür hat er seinen Tod in Kauf genommen und so getan, als wäre es das Größte für ihn, wenn Meiwes ihn sich einverleibt. Dem wiederum waren die quälenden Handlungen zuwider, aber er nahm sie in Kauf, um an sein Ziel zu kommen. Im Grunde genommen handelte es sich um gegenseitiges Instrumentalisieren; ein Phänomen, das wir auch in normalen Partnerschaften finden.

lopen in einem ausgetrockneten Sumpf. Von oben gesehen, wirken selbst die katastrophale Bodenerosion in Khartum und tote Bäume noch schön und grandios. Und die sich suhlenden Nilpferde geheimnisvoll. Nun hat der Fotograf die Vogelperspektive auf Afrika nicht etwa erfunden, sie ist fester Bestandteil der Ikonografie des Kontinents. Jenseits der Landschaftsbilder von rot glühenden Wüsten und beinweißen Küsten, die auch Computergrafiken sein könnten, rühren den Betrachter denn auch am ehesten die Blicke auf einzelne Tiere, auf Bauernhöfe, Hütten – wie auf diesem Bild – und Anpflanzungen. Hinter dem etwas mitleidlosen Vogelblick erwacht doch wieder eine Neugierde oder eine Sehnsucht. Nach Details, nach Lebenszeichen.

Foto: © 2007 Michael Poliza, www.eyes-over-africa.com, www.michaelpoliza.com

Autistische Mäuse haben Forscher der University

of Texas erzeugt. Die genetisch veränderten Tiere verbrachten im Vergleich zu ihren Artgenossen weniger Zeit mit anderen Mäusen und hielten sich lieber in der Nähe lebloser Gegenstände auf. Außerdem fanden sie sich wesentlich besser in einem Wasserlabyrinth zurecht. Zusätzlich testeten die Forscher die elektrische Aktivität des Gehirns und fanden in den Nervenzellen der Autistenmäuse eine gesteigerte hemmende Aktivität, was Hinweise auf mögliche Therapieansätze liefern könnte. (Science Express, online)

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Die Adressen für »Stimmt’s«-Fragen: DIE ZEIT, Stimmt’s?, 20079 Hamburg oder [email protected]. Das »Stimmt’s?«-Archiv: www.zeit.de/stimmts Audio a www.zeit.de/audio

JETZT AM KIOSK: Das aktuelle ZEIT Wissen berichtet über einen Mann, der mit Prothesen schneller läuft als mancher normale Leistungssportler

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Fotos: Verena Mörath

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NUR NOCH MIT KONDOM wollen die Sexarbeiterinnen in Chigiwirizano ihre Dienste anbieten

»Lasst uns über Sex reden« D

»Niemand will sofort über Sex reden. Deshalb verteile ich Fußbälle und Frisierutensilien. Erst dann komme ich, fast beiläufig, auf Sex zu sprechen«, sagt Bessie. Die gelernte Krankenschwester trägt ein knöchellanges Kleid und flache Sandalen. Ihre schwarz glänzenden Haare sind glatt gebürstet und zu einem perfekten Pagenkopf frisiert. Nur am Hinterkopf ragen einige widerspenstige Strähnen heraus. Ihre Safer-SexShow präsentiert sie auch im Youth Life Center in Kwale, einem ärmlichen Stadtteil im Westen der malawischen Hauptstadt Lilongwe. Vorn auf der Veranda des Jugendzentrums spielen junge Männer Schach. Im Hinterhof fängt jemand an zu trommeln. Junge Frauen und Männer tanzen. Dann singt ein Chor. Übersetzt lautet der Text des Liedes: »Auf, auf zum Aids-Test. Wer nicht geht, ab auf den Friedhof.« »Wenn es dieses Jugendzentrum nicht gäbe, würde ich nur herumhängen und mit Sex anfangen«, sagt Kathie Chikonyo, eine der Tänzerinnen. Die energische 19-Jährige hat sieben Geschwister. Ihr Vater ist Hilfsarbeiter, die Mutter verkauft selbst gebackene Kuchen auf dem Markt. Mit einigen Unterbrechungen hat Kathie es gerade bis zum Abitur geschafft. Jetzt bemüht sie sich, ein »Sponsorship« zu finden, um Rechnungswesen zu studieren. Kathie ist überzeugt davon, dass Sex auf Mädchen wie eine Droge wirkt. »Frauen kommen von den Folgen nicht mehr los, und dann war alles für die Katz. Schule, Ausbildung, alles«, sagt sie. In Mangiri, einem Dorf, 15 Kilometer von Lilongwe entfernt, ist mittwochs und freitags Markt. Heute ist Bessie zum ersten Mal mit ihrer Safer-Sex-Show hier. Kalanga heißt Geschlechtsverkehr auf Chichewa, der Amtssprache Malawis. Kein Kalanga ohne Kondom. Die Botschaft ist einfach, doch schwer zu vermitteln. Denn schnell kommen am Markttag Internatsschülerinnen auf die Idee, sich ein wenig Taschengeld dazuzuverdienen. Und schnell erkennen sie, dass der Verdienst höher ist, wenn sie kein Kondom verlangen, hat Bessie beobachtet. Bevor sie sich ins Gewimmel stürzt, wickelt sie sich ein bunt bedrucktes Baumwolltuch um die Jeans.

Mit Theater, Tanz und Rollenspielen kämpfen Sozialarbeiter in Malawi gegen die Ausbreitung von Aids. Tradierte Sexmythen und uralte Riten machen ihnen die Arbeit schwer VON MARIA BENNING

BESSIE NKHWAZI leitet das Aufklärungsprojekt, das Kondome und Aids-Tests bei der Bevölkerung populär machen soll

»Frauen in Röcken werden mehr respektiert«, erklärt sie. Es riecht nach Bratfett, Ziegen und Zwiebeln. Sorgfältig stapeln Gemüsehändler Zitronen und Tomaten zu Türmchen auf, Metzger zerteilen ein Rind, Heilerinnen bieten Knollen feil. Berge von Bananen und Flip-Flops warten auf Kundschaft. »Ich bin Geschäftsmann«, erklärt ein Mann. Acht Kilometer ist er zum Markt gelaufen, um einen Sack Kartoffeln zu kaufen. In Lilongwe will er Pommes frites daraus machen. Für die 15 Kilometer dorthin gönnt er sich, wenn das Geschäft gut läuft, den Bus. Läuft es nicht so gut, mietet er sich ein Fahrrad oder geht zu Fuß. Von Aids hat der Mann schon gehört. »Gefährlich«, sagt er. Am Rande des Marktplatzes bieten zwei Sanitäter der Family Planning Association Aids-Tests an. Wer sich in dem betongrauen fensterlosen Raum testen lässt, weiß eine halbe Stunde später Bescheid. Fünfzehn Leute wollen es an diesem Morgen wissen, zwei von ihnen – eine 25-jährige Frau und ein 24-jähriger Mann – sind positiv.

»Lasst uns einen Kreis bilden!«, ruft eine Anti-AidsAktivistin aus Bessies Team durchs Megafon. »Einen großen Kreis!« Marktfrauen und Händler strömen herbei. Wieder wird getrommelt und gesungen. »Kümmert euch um eure Ausbildung, ihr Mädchen. Heiratet nicht zu früh. Kein Sex vor der Ehe«, lautet der Refrain. Mit Sketchen, Plakaten und Rollenspielen verkünden die Helfer: Kondome sind kostenlos, geht zum Aids-Test, wer infiziert ist, kann Medikamente bekommen. Anders als in Europa und Nordamerika stecken sich in Afrika die meisten Menschen über heterosexuelle Kontakte mit HIV an. Frauen sind unter den Neuinfizierten deutlich in der Mehrzahl. »Sich hierzulande für Frauenrechte einsetzen heißt Leben retten«, sagt Bessie. Oft hört man die Losungen »Be faithful« und »Condomize«, sei treu und benutze Kondome. Aber solche Botschaften gehen an der Realität der Frauen vorbei. Auch eine treue Frau kann sich anstecken, wenn der Mann fremdgeht. Vor allem aber erschweren die traditionellen Riten und Bräuchen den Kampf gegen Aids. Viele Menschen in Malawi glauben, dass das Sperma des Mannes heilende Kräfte hat. Babys werden damit eingerieben, Mädchen vor der Ehe »ausgespült«. Fisi oder Cleansing nennt man diesen Brauch, bei dem ein Mann – nicht der Bräutigam – mit der Braut Sex hat, um sie vor der Hochzeit zu »reinigen«. Auch werdende Mütter sollten, so eine verbreitete Meinung, möglichst oft mit Sperma gestärkt werden. Und wird eine Frau Witwe, muss sie erneut »gesäubert« werden – von einem Verwandten des Mannes und am besten sofort, noch bevor der Verstorbene unter der Erde ist. Solcher Aberglaube ist mit dem Gebrauch von Kondomen nicht zu vereinbaren. Hinzu kommen viele andere vormoderne Sexmythen, die sich gegen den Einsatz von Kondomen richten. Etwa die Mär vom »Spermarückstau«, der den Mann krank mache. Oder der Glaube, dass sich mit dem Gebrauch von Kondomen Unfruchtbarkeit einstelle. Nicht wenige halten Sex ohne Kondom auch für einen Liebes- und Vertrauensbeweis, den man vom Partner einfordern darf, hat Bessie beobachtet. »Angesichts dieser Vorstellungen ist es oft leichter, gar keinen Sex zu haben, als lange Auseinandersetzungen auszufechten«, sagt sie. »Es gilt, die Frauen zu stärken. Nur selbstbewusste, gut ausgebildete und ökonomisch unabhängige Frauen können wirklich selbst bestimmen.«

Bessies Sex-Arbeiterinnen-Projekt in Chigiwirizano, einem Stadteil von Lilongwe, beginnt am späten Abend. »Edzi, edzi, edzi!«, schreit ein DJ ins Mikrofon. Das heißt nicht Aids, sondern Kondom. »Kondom, Kondom, Kondom!«, tönt es weiter. Die Boxen wummern. Vor der Bühne stehen ein paar stiernackige Männer und halten nach willigen Frauen Ausschau. Ein Mädchen in engen weißen Jeans und rosa Top umwickelt mit ihrem Schal einen dicken Mann. Neben der Bühne verkauft jemand Eier. Willkommen im »Culture Club of Malawi«. 50 Kwacha kostet ein Kuche Kuche, das malawische Bier. 200 bis 500 Kwacha eine Nummer mit einer der vielen Sexarbeiterinnen. 200 malawische Kwacha sind etwa ein Euro. Als Bessie hier im November 2006 zum ersten Mal auftrat mit ihrer SaferSex-Show, spöttelten die Frauen: »Süßigkeiten in der Verpackung, die schmecken doch nicht.« Heute gebe es bei ihnen keinen Sex mehr ohne, sagen sie. »5000 ohne, 500 mit, so versuchen manche Freier uns zu ködern«, erzählt Brandinah Khulamba, eine 18-jährige Sexarbeiterin, die wie ihre Kolleginnen auf keinen Fall als Prostituierte bezeichnet werden will. »5000 Kwacha – da kann ich nur lachen. So viel hat hier nämlich sowieso keiner.« Brandinahs Geschichte ist typisch für die Frauen, die vom Sex leben. Ihre Eltern sind tot. Mit ihren zwei Schwestern und den beiden Brüdern kam sie zu einem Onkel. »Uns Mädchen behandelte er schlecht«, sagt sie. Als es auch in der Schule nicht klappte, lief sie aus ihrer Heimatstadt Blantyre im Süden des Landes weg. Seither bringt sie sich und ihre zwölfjährige Schwester, die ein Internat besucht, als Sexarbeiterin durch. Auf der Bühne startet ein Tanzwettbewerb. Frauen tanzen beckenbetont in Richtung Boden. Männer springen hoch in die Luft. Eine Frau und ein Mann demonstrieren – als Trockenübung –, wie man Kondome für Männer und Frauen benutzt. Die Vorführung erinnert an das Luftgitarrenspiel von Rockstars. Unter den Sexarbeiterinnen ist die HIV-Infektionsrate extrem hoch, berichtet Bessie. Von 451 Geteste-

ten waren 393 positiv. »Ja, ja«, antwortet lachend ein Mann auf die Frage, ob er an Aids denkt, wenn er mit einer Frau weggeht. Am Nachmittag sieht es anders aus im Culture Club: Kleinkinder laufen umher, Babys werden gestillt. Etliche Sexarbeiterinnen wirken jetzt wie biedere Hausfrauen. Sie haben mit Bessie ein Theaterstück einstudiert, vor der Aufführung wird gemeinsam gebetet. Das Stück spielt im Milieu und handelt von einem Mädchen, das versucht, einem Freier klarzumachen, dass er ein Kondom benutzen soll. Es gibt Streit, aber das Mädchen setzt sich durch. Die Zuschauerinnen klatschen Beifall. Bessie hat es geschafft, zwölf Sexarbeiterinnen dazu zu bringen, dreimal wöchentlich Fußball zu spielen. Nach dem Spielen sind sie dann oft zu müde zum Arbeiten; aber trotz der finanziellen Einbuße wollen sie auf das Gefühl körperlicher Fitness nicht mehr verzichten. Auch die 18-jährige Mary Duikumba hat ein Faible für Fußball. Am liebsten würde sie Profi werden. Ihre beiden Altersgenossinnen Joyce Amonie und Wongari Mbenje träumen von einer Zukunft als Soldatinnen. Die drei haben die Schule beendet, jetzt wissen sie nicht recht, wie es weitergehen soll. Oft sitzen sie im Friseursalon des Youth Life Center in Kwale, obwohl sie pefekt frisiert sind. Sie kommen hierher, um zu reden. Ungestört – ohne Männer.

Werbeposter für Haarverlängerungen hängen hier, Pappschachteln mit Kondomen stehen herum. Auf einem wackeligen weißen Plastikstuhl in der Ecke sitzt eine junge Frau unter einer Trockenhaube. Dicht gedrängt schauen Kinder durch das vergitterte Fenster. Hinter ihnen ruft der Muezzin zum Gebet. »Rede darüber. Schütze Deine Zukunft. Ein Kondom zu benutzen ist ein moralisches Gebot« steht auf einem Plakat neben dem Frisierspiegel. Was bespricht Bessie hier mit den Frauen? »Sex schadet, besonders den Frauen. Das sage ich ihnen«, antwortet sie. »Wer eine Ausbildung will und ein Auskommen, sollte ganz einfach die Finger davon lassen. Es kommt nicht nur darauf an, was ich sage, ich bin einfach hier. Ein Vorbild. Ich bin für viele Frauen wie ein seltenes Tier im Zoo«, fügt sie lächelnd hinzu. Sie sei eines der wenigen Beispiele dafür, dass es für eine Frau möglich ist,

Jeder Zweite stirbt an Aids SAMBIA

Malawisee

ie Notiz ist handgeschrieben. »Pride is a poor substitute for intelligence.« Stolz ist ein schlechter Ersatz für Klugheit. Geschrieben mit einem dicken braunen Filzstift, hängt der Spruch am Eingang der Family Planning Association of Malawi. »Höchste Zeit, offen über Sex zu sprechen«, sagt Bessie Nkhwazi, die den Zettel aufgehängt hat. Die 30-Jährige ist eine von 60 »Gesundheitshelfern«, die für die Family Planning Association of Malawi, eine Nichtregierungsorganisation, »up-to-date sex education« anbietet. Nach dem Motto »Sex hat man, aber man spricht nicht darüber« waren Familienplanung und Verhütung bis vor Kurzem Fremdwörter in Malawi, genauso Safer Sex. Und das, obwohl es seit Jahren viel zu viele Teenager-Schwangerschaften gibt. Die Müttersterblichkeit in Malawi gehört zu den höchsten der Welt. Womöglich noch schlimmer ist die Bedrohung durch Aids. Von zwölf Millionen Malawiern sollen rund eine Million das HI-Virus in sich tragen. Aber Aids ist genauso ein Tabuthema wie Verhütung. Damit sich das ändert, entwirft Bessie seit einem Jahr Safer-Sex-Shows und Aids-Aufklärungskampagnen für Jugendzentren, Schulen, Marktplätze und Bordelle. »Nach Kondomen zu fragen ist ein Menschenrecht«, heißt es auf einem Plakat, das hinter ihr an der Wand hängt. »Verzichte auf Sex« steht auf einem anderen daneben.

TANSANIA

M AL AW I Lilongwe

MOSAMBIK 100 km

SIMBABWE ZEIT-Grafik

allein zu leben – ohne Mann, ohne Teenager-Schwangerschaft und den damit verbundenen Schulverweis. »Ich lebe, also geht es.« Schnickschnack heißt auf Chichewa Pascha Pascha. Und Pascha Pascha kann Bessie sich nicht leisten. »Aber das Notwendigste zum Leben haben wir schon«, sagt sie. Wir? Sie lebt doch allein. Aber »allein« heißt in Malawi nur so viel wie »nicht verheiratet«. Zu Bessies Single-Haushalt gehören insgesamt acht Personen: minderjährige Schwestern, ein Cousin und »andere Kinder«. Auch für eine Großmutter und einen Onkel, die woanders leben, kommt sie auf. Dass die Größe ihres Haushalts Europäer befremdet, bleibt Bessie nicht verborgen. Um abzulenken, erzählt sie aus ihrem Leben. Und wieder ist es dieses stereotype Schicksal, das so viele Frauen in Malawi trifft. Auch Bessies Eltern sind tot. Auch sie kam zu einem Onkel, den sie nicht mochte und von dem sie wegwollte. Anders als die Sexarbeiterin Brandinah hatte sie allerdings das Glück, eine Ausbildung zu haben. Es war ihre Großmutter, die darauf bestand, dass sie und ihre Schwestern die Schule besuchten. »Frauen, die etwas können, lassen sich nicht so schnell auf etwas ein, was sie nicht wollen«, sagte die Oma. Bessie ist bis heute fest davon überzeugt, dass sie recht hat. Und irgendwann in diesem Gespräch kommt die Frage auf, ob auch aus Bessies Familie schon einmal jemand an den Folgen von Aids starb. »Ja«, antwortet sie und schaut traurig zu Boden. »Alle.« Audio a www.zeit.de/audio

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DIE ZEIT

Nr. 38

13. September 2007

FEUILLETON

KULTURSAISON Oper, Tanz, Theater, Kunst – in der kommenden Woche erscheint unsere Feuilleton-Beilage mit den Höhepunkten der neuen Spielzeit

Ausgeplappert Diva heißt »die Göttliche«. Aber was macht eine Diva aus? Die vor 30 Jahren verstorbene Maria Callas gilt als die letzte und größte unter den Diven. Zu den ersten gehörte die Spanierin Maria Malibran, die nun von Cecilia Bartoli wiederentdeckt wird (Seite 47). Der in der vergangenen Woche verstorbene Tenor Luciano Pavarotti steht für die neue Zeit: Er war ein Megastar des industrialisierten Kulturbetriebs (Seite 48)

Nicht ganz von dieser Welt Am 16. September 1977 starb Maria Callas vereinsamt in Paris. Ihr Leben hat wie kein anderes gezeigt, was eine Diva ist VON ELISABETH BRONFEN

D

ie Diva, göttlich und irdisch zugleich, ist eine Auserwählte im Starsystem. Wie aus dem Nichts erscheint sie plötzlich im öffentlichen Raum und zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Zwar wissen wir, dass sie wie jede andere Berühmtheit das Produkt einer geschickt gesteuerten Starmaschinerie ist. Doch die Diva ist kein bloß manipulierter Kunstkörper. An ihr zieht uns etwas an, dessen wir nicht habhaft werden können. Im Timbre ihrer Stimme, im Ausdruck ihrer Gestik liegt eine Authentizität, die Voraussetzung für das Starimage ist und Bedingung für unseren Genuss. Ihre außerordentliche Begabung sowie die tragischen Umstände ihres Lebens sorgen dafür, dass die persönliche Geschichte vom Image nie zu trennen ist. Dadurch stellt sich bei der Diva die Frage nach der existenziellen Substanz, von der ihr Starkörper zehrt, mit besonderer Brisanz. Sie verkörpert nicht nur Glamour, sondern auch einen Schmerz: Der reale Leib in seiner Versehrtheit hat am verführerischen Spiel immer teil. Weil die Diva bereit ist, in ihrer Kunst alles zu riskieren und sich uneingeschränkt zu verausgaben, sind wir bereit, sie grenzenlos zu bewundern. Doch dieses Tauschgeschäft hat einen hohen Preis. Nicht ganz von dieser Welt, ist die Strahlkraft der Diva immer gefährdet. Kaum eine Sängerin hat uns den Glanz und das Leid der Diva so vollkommen vorgeführt wie Maria Callas. Der veralteten Operntradition des Belcanto hat sie den Einzug in die Massenkultur ermöglicht, weil sie über ein rein vokales Feuerwerk hinaus in der dramatischen Intention der Musik eine emotionale Wahrheit entdeckte, der sie mit ihrem expressiven Gesicht, glamourösen Körpergesten und einer makellosen Gesangstechnik Ausdruck verlieh. Ihre subtile schauspielerische Darbietung der melodramatischen Heroinen des 19. Jahrhunderts ließ erkennen, wie modern diese Frauen in ihrer Lebenslust, ihrer Eifersucht, ihrer Verzweiflung und in ihrem Selbstopfer sein konnten. Darin glich Callas ihren Rollen, war doch auch sie bereit, aus einer grenzenlosen Liebe für die Musik selbst ihre Stimme nicht zu schonen und sich den Forderungen ihres Gesangs wie eine Hohepriesterin zu unterwerfen. Von einem ausgeprägten Perfektionswahn und der Begeisterung für die Opern von Bellini, Rossini und Verdi getrieben, fand ihre Leidenschaft als Sängerin und als Frau in den Emotionen der Norma, Medea und Traviata die perfekte Ausdrucksform. Callas machte sich das Schicksal dieser Frauenfiguren zu eigen und war zugleich von diesem selbst besessen. Der Kunsthistoriker Aby Warburg spricht von Pathosformeln, um jenes Zusammenspiel von rauschhafter Ergriffenheit und Besonnenheit zu benennen, das die Oper auszeichnet. Auf der Bühne setzen sich große Emotionen in Gestik um. Die Intensität des Pathos und die musikalische Formalisierung halten sich jeweils die Waage. Nachhaltig berühmt bleiben die Auftritte der Callas, weil sie ihre persönliche Leidenschaft in die der von ihr verkörperten Heroinen übergehen lassen konnte. In der Distanz zu sich selbst, die über das Anlegen der Rolle gewonnen wurde, lag jene Intimität, die ihrem Publikum den Eindruck vermittelte, dass sie die Emotionen nicht nur darstellt, sondern mit

ihnen verschmilzt. Zugleich blieben diese Darbietungen eine Pose, aus der die Callas nie herausfiel. In der Rolle der Tosca in Zeffirellis Inszenierung in Covent Garden 1964 – ihrer letzten Opernaufführung überhaupt – erscheint sie nicht als souveräne Diva, sondern als hilflose und verzweifelte Liebende, die scheinbar wirklich weint, während sie singt. Dennoch besteht kein Zweifel: Diese erstaunliche Vermengung von Sängerin und Bühnengestalt ist zugleich Ausdruck ihres Diventums: Sie scheute nie davor zurück, in ihren Auftritten bis an die Grenze ihrer stimmlichen und dramatischen Möglichkeiten zu gehen – und dennoch blieb sie immer unnahbar. Maria Callas hat zwar für den Einzug des Schauspiels in die Opernwelt gesorgt, doch mit ihr ist die Diva von dieser Bühne verschwunden. Erfolgreiche Sängerinnen wie Cecilia Bartoli oder Anne Sophie von Otter geben sich bodenständig und planen in weiser Voraussicht. Klug berechnen sie ihre Karriere und wollen lieber den Weg einer Christa Ludwig einschlagen, die noch im hohen Alter Konzerte meistern konnte, als sich zu verausgaben und vorzeitig zu erlöschen. Doch auch auf anderen Schauplätzen unserer zeitgenössischen Medienlandschaft taucht die Diva nicht auf, als wäre ihre Kompromisslosigkeit aus der Mode geraten. So sehr Callas sich zeit ihres Lebens gegen die Vorwürfe von Operndirektoren und Musikkritikern zur Wehr setzen musste, so sehr vertrat die in Brooklyn aufgewachsene Tochter griechischer Einwanderer die Pathosgeste des individuellen Widerstands. Gern behauptete sie von sich: »Ich bin frei, weil ich keine Konzessionen mache.« Diese Souveränität hat in unserer Welt, deren liberalisierte Ökonomie immer mehr Flexibilität von den Menschen fordert, kaum Platz. Jede Diva zeichnet eine strenge Disziplin aus, die dazu führt, dass sie sich ihrer Arbeit gänzlich verpflichtet, und Callas forderte von sich selbst, ihrer Vorstellung von künstlerischer Perfektion immer treu zu bleiben. Sie wollte sich nicht geschmeidig den Belangen der Opernwelt anpassen und reibungslos in dieser funktionieren. Deshalb war sie unnachahmbar. Ungeachtet jeglicher Konsequenzen, verfolgt eine Diva hartnäckig ihr Ziel. In eine Öffentlichkeit, in der Meinungsumfragen alles beherrschen, passt eine solche Aufrichtigkeit schlecht. Vermarktungsstrategien sind überall sichtbar, alles wird im Voraus genau berechnet. Funktionieren kann eine Berühmtheit heute, wenn sie gefällig ist. Selbst eine Kontroverse muss den Befindlichkeiten des Publikums angepasst sein. Eine begabte Politikerin wie Hillary Clinton sichert ihre öffentlichen Auftritte mit derselben Absolutheit ab, mit der eine Diva bereit ist, alles aufs Spiel zu setzen. Jede Reaktion, die die Senatorin mit ihren Aussagen auslösen könnte, ist immer schon mitkalkuliert. Dies mag zwar für eine Anwärterin auf die US-Präsidentschaft pragmatisch sein, führt jedoch auch zum Vorwurf fehlender Glaubwürdigkeit. Aus Hillary Clinton sprechen so viele fremde Stimmen, dass man den Eindruck gewinnt, sie spreche als politischer Automat aus, was ihre weltklugen Berater ihr eingeflößt haben. Zugleich gelingt es ihr nicht, Fortsetzung auf Seite 46

Foto [M]: Cinetext

Eva Herman hat drei Wörter zu viel gesagt und soll büßen Schock! Empörung! Entsetzen! Dicke Krokodilstränen perlen seit dem Wochenende über die Medienseiten der Presse, auf denen eine Extremblondine mit Cherry-Lipgloss lockt: Eva Herman. Eine Extremblondine ist eine, die an trüben Tagen die dunkle Sonnenbrille kontrastreich ins helle Haar schiebt. Eva Herman ist eine Talkmasterin sowie Autorin des mutterschaftsbeschwörenden Eva-Prinzips, die bei der Vorstellung ihres neuen Buches über das »Dritte Reich« geplaudert hat. Damals sei vieles schlecht gewesen, Hitler zum Beispiel, aber doch lobenswert die Wertschätzung der Mutter, leider ein Opfer der bösen 68er … Hitler? »Drittes Reich«?! Nach all dem Trommeln und Wirbeln, Talken, Promoten, nach Hermans giftsprühendem Gehetze gegen Emanzen, berufsgeile Mütter, verwahrloste Alleinerziehendenkinder – drei Wörter zu viel geplappert. Und plötzlich feuern alle, voran NDR-Programmdirektor Volker Herres, EvaDarling aus der medialen Umlaufbahn, in die sie himmelhoch katapultiert wurde, mit ein bisschen Bild, dem Dritten und so weiter. Sterntalerkind hat noch das Röckchen voller goldener Taler, man nennt sie Tantiemen. Schmollt jetzt. Was hab ich Falsches gesagt? Nichts anderes als zuvor! Was stimmt. Wie das deutsche Wesen an der Mutter genesen soll, die Beschwörung von heldischen Männern, ihnen dienenden Weibern, hätte man schon vorletzte Woche anstößig finden können, selbst als Mann. Man muss sich ja nicht naiver geben, als Eva Herman es tut. Die Idee des Eva-Prinzips wurde in der Zeitschrift Cicero ausgekocht, die schon so manchen Schlachtplan gegen linke Feindbilder zusammengerührt hat. Die alleinerziehende Karrierefrau Herman hatte sich gierig in die Rolle des Muttertiers gekuschelt. Und braucht plötzlich eine neue Heimat, da jetzt selbst konservative Kreise laut darüber nachdenken, ob Hausfrauenmuttitum die Milliarden an Steuersubvention wert ist oder nur eine rückständige Gesellschaft zementiert. Drei Wörter zu viel? Aber sie gurren doch wie ein Lockruf! Man sollte Frau Herman warnen. Das Mutterkreuz, Evalein, ist kein Klunker von Bulgari. Eher ein Balken im Auge, der die Sicht darauf verstellt, dass die Nazis nicht Familie, sondern zweckkopulierende Schönmenschen präferierten, deren Brut maßgeschneidert war. Lebensborn ist kein DesignSpa. Diktaturen haben Familie immer gefürchtet, weil ihre Innerlichkeit sich dem äußeren Machtanspruch entgegensetzt. Praktische Wertschätzung für Frauen und ihre Kinder wurde in Deutschland übrigens politisch erstmals im Müttermanifest gefordert. Von der Frauenbewegung. Antje Vollmer hat unterzeichnet, 1986. Und das Heim als Sakralraum, in dem Eva Herman die Mutterschaft als Götzendienst inszeniert – das ist, ihr Missverständnis, gar nicht so Nazi, sondern Biedermeier. Ein Depressionssymptom. Abschottung nach außen nach gescheiterter Revolution. Man sieht es auf alten Ölschinken: Sie stickt, er thront, es lächelt. Keiner rührt sich. Es herrscht Totenstille. SUSANNE MAYER

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FEUILLETON Die Göttlichen

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DIE ZEIT Nr. 38

Mein Teelöffel voll Callas-Asche Offiziell wurden die sterblichen Überreste der Callas in die Ägais gestreut. Wahrscheinlicher aber ist, dass ein Fan sie heimlich mit nach Hause genommen hat VON HELMUT KRAUSSER

DIE CALLAS bei ihrem Auftritt in der Hamburger Musikhalle im Mai 1959

Foto (Ausschnitt): ullstein

V

iel ist geschrieben worden über das Leben der Maria Callas. Dem habe ich nichts Wesentliches hinzuzufügen. Aber ein dunkles Kapitel in ihrem Nachleben sei doch einmal erwähnt. Es betrifft den Diebstahl ihrer Urne vom Père Lachaise in Paris, wo sie für zwei Jahre eine vorläufig letzte Ruhe fand. In der Nacht vom 25. Dezember 1977 wurde das Urnengrab aufgebrochen und das Gefäß mit den sterblichen Überresten der Callas gestohlen. Seltsamerweise, denn ohne dass die Diebe von der Polizei oder einem Nachtwächter gestört worden wären, fand man die Urne am nächsten Morgen auf dem Friedhofsareal an einem der Zäune. Sie wurde in Verwahrung genommen, später nach Griechenland gebracht, und ihr Inhalt wurde in die Ägäis geschüttet, dem Meer übergeben, wie es wohl, der Feierlichkeit des Anlasses gemäß, heißen sollte. Nur – wie kann irgendjemand annehmen, dass jene Urne wirklich noch Callas enthielt? Viel wahrscheinlicher ist doch, dass sich die Diebe mit ihrer Beute in einen besonders stillen Winkel des Friedhofs zurückzogen, um die Asche in einen Sack abzufüllen und die Urne mit anderer, mitgebrachter Asche wieder aufzufül-

len. Schon um einen gewissen Fahndungsdruck von sich abzuwenden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass irgendein verrückter Callas-Verehrer ihre Asche per Auftragsdiebstahl in seinen Besitz überführt hat und diese heute noch bei sich aufbewahrt. Ich versuche, mir einen solchen Menschen vorzustellen, und muss konstatieren, dass ich angesichts einer solchen Aktion nicht nur Abscheu fühle. Vielmehr auch Faszination. Da mir bislang keine Händler begegnet sind, die mir (und ich wäre nach meinem Callas-Roman Der große Bagarozy sicher ein Adressat gewesen) einen Teelöffel Callas-Asche zum Liebhaberpreis angeboten haben, lässt sich annehmen, hier habe jemand, ganz von der eigenen Obsession gelenkt, strikt im ureigensten Interesse gehandelt. Der Dieb wollte die tote Callas in seiner Nähe haben, wollte sein Zuhause mit ihr teilen. Das ist vielleicht kein direkter Akt der Liebe, aber einer der Verzweiflung. Und irgendwie hatte er ja recht: Eine Callas gehört auf keinen Friedhof. Sie gehört ihren Fans, und ob die Ägäis viel Verwendung für sie gehabt hätte, sei dahingestellt. Es gibt jenen kuriosen Dokumentarfilm, in dem ein asiatischer Einstein-Verehrer nach langer Recherche das in Formalin eingelegte Gehirn Albert

Einsteins ausfindig macht. Enthusiasmiert vom Fund, bittet er den Besitzer, das Gehirn Albert Einsteins einmal mit seinen Fingern berühren zu dürfen. Der gewährt ihm die Bitte, und, kaum glaublich, schlägt ihm sogar vor, sich als persönliches Souvenir eine Scheibe jenes die Welt verändert habenden Organs abschneiden zu dürfen. Der Einstein-Verehrer, hoch beglückt, greift zum Brotmesser und folgt der Einladung. Ich mag diese Szene. Nach langem Überlegen. Zeigt sie doch eine pragmatische Verbindung von beinahe religiöser Bewunderung und Rationalität. Denn dieses Gehirn, so viel es auch geleistet haben mag, ist nur mehr von geringem praktischen Wert. Das Beste, was es noch zu leisten vermag, ist wohl, einen weit gereisten Fanatiker glücklich zu machen. Ich gehöre zu jenen Gottlosen, denen die Störung der Totenruhe wenig bedeutet. Denn wie kann man sicher sein, dass irgendeiner jener illustren Menschen sich strikte Totenruhe verordnet hat? Lenin wäre wohl recht angetan gewesen, auch so viele Jahrzehnte nach seinem Tod von noch so vielen Besuchern angestarrt zu werden. Ebenso kann ich mir vorstellen, dass die Callas gerührt wäre, wüsste sie, dass jemand das Gefängnis riskiert hat, um ihr einmal so nahe sein zu können, wie es ihm,

solange sie lebte, nie möglich gewesen wäre. Zwar hat sie sich die Seebestattung gewünscht, vielleicht aber nur in Ermangelung vorstellbarer Alternativen. Auch Chaplins Leiche (er starb zufällig an ebenjenem bereits erwähnten 25. Dezember 1977 – was für eine Nacht!) wurde geklaut, vielleicht mit dem Vorsatz, von den Nachkommen Lösegeld zu erpressen. Das wäre wirklich widerlich. Auch Rationalisten fühlen sich von bestimmter toter Materie ab und an besinnlich gestimmt. Als 1945 der Goethe-Sarg geöffnet wurde, äußerte sich einer der Zeugen sinngemäß, der Tote habe sich »in einem beklagenswerten Zustand befunden«. Nichtsdestoweniger wird er es als Auszeichnung und Kitzel empfunden haben, Goethe ins wenn auch unbekleidete Gesicht sehen zu dürfen. Momentan geistert durch italienische Zeitungen die unter Spezialisten allerdings längst bekannte Meldung, dass Puccinis Geliebte, Giulia Manfredi, einen Sohn von ihm gehabt hat. Puccinis Enkelin Simonetta würde sicher eine DNA-Probe ihres Großvaters verweigern, sie ist aber schon alt

und kann sich nicht mehr lange gegen die Wahrheit wehren. Vorauszusehen ist, dass der Sarg Puccinis in absehbarer Zeit geöffnet werden wird, um den Nachkommen jener Giulia Manfredi Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und ehrlich gesagt, würde ich einiges dafür geben, in jenem Moment dabei zu sein, um Puccini, dem ich fast zehn Jahre Recherchearbeit gewidmet habe, einmal (›leibhaftig‹ ist gewiss das falsche Wort) zu begegnen. Von daher bin ich auch geneigt, dem Dieb, der den Fischen der Ägäis eine irritierende und verständnislose, wahrscheinlich einfach nur gleichgültige Begegnung mit Callas-Materie erspart hat, zu verzeihen. In Süskinds Parfüm-Roman essen die von den Düften Grenouilles berauschten Einwohner von Paris den Erzeuger jener himmlischen Düfte zuletzt auf, verzehren ihn bei lebendigem Leib. Seien wir ehrlich: Welcher Künstler wäre um ein solches Ende nicht neidisch? Um den letzten Satz des Romans zu zitieren: Sie hatten zum ersten Mal in ihrem Leben etwas aus Liebe getan.«

Nicht ganz von …

Partner unentwegt zu: »Sind sie nicht schrecklich, Jon, sind sie nicht schrecklich?« Der Zauber der Callas besteht darin, keine virtuose Gesangsmaschine, sondern eine Frau zu sein, die ihre Bühnenrollen mit eigener Lebenskraft speist. Ungeniert enthüllt sie auf der Bühne die Frau hinter der Maske, um von ihrem Publikum die ihr gebührende Achtung einzufordern. Eine Diva braucht die Zuneigung ihres Publikums. Jeder Entzug verletzt sie nicht nur in ihrem Stolz als Künstlerin, sondern in ihrem Wesen. Zugleich verlangt man von ihr jedes Mal ein Wunder. Deshalb hat die Diva vor dieser Bewunderung, die sie sich mit jedem Auftritt von Neuem erobern muss, auch Angst. Für Maria Callas mündete dies in einen schrecklichen Widerspruch: Als Ende der sechziger Jahre ihre Auftritte hörbar schlechter wurden, wuchs ihre Beliebtheit. Der unsicheren stimmlichen Darbietung spendete das Publikum ohne Vorbehalte und enthusiastisch Applaus.

Fortsetzung von Seite 45

die eigene Machtlust zu verbergen, sodass jede Selbstkritik, mit der sie eine frühere Entscheidung in der öffentlichen Meinung zu korrigieren sucht, als reine Markttauglichkeit begriffen wird. Das perfekte Kalkül stützt zugleich unwillentlich jenen paranoiden Hang unserer zeitgenössischen Kultur, der mit Vorliebe alles unter Verdacht stellt, hinter allem eine Verschwörung wittert und deshalb allen öffentlichen Personen misstraut. Einer Diva hingegen muss man uneingeschränkt Vertrauen schenken können. Die nachhaltige Bewunderung für Maria Callas fungiert als Korrektiv zur heutigen Inflation von Startum, in dem Berühmtheiten allgegenwärtig und deshalb beliebig geworden sind. Statt des Pathos der Diva, das eine Intensität des Ausdrucks mit jener Diskretion verbindet, die im Einhalten der auserwählten Pose liegt, findet sich in unserer Medienlandschaft eine manipulierte Intimität, die gar keinen Anspruch auf Authentizität oder Wahrheit des Ausdrucks hat, sondern nur auf messbaren Effekt. Schrecken die Paparazzi von heute vor nichts zurück, um verfängliche Fotos eines Stars zu ergattern, fehlt es auch den Opfern ihres Furors an Zurückhaltung. Doch wenn in der Boulevardpresse nichts mehr vor dem Auge der Fans zurückgehalten werden kann und in den Realityshows alles preisgegeben werden soll, verschwindet das Geheimnis aus der Welt der Stars, deren Funktion es immer war, uns zum Träumen zu verleiten. Darf man den tragischen Ausgang von Princess Dianas gefährlichem Spiel mit den Medien nachträglich als das Aufflackern einer Eintagsdiva begreifen, erscheint Paris Hilton nur noch als Prototyp einer medial entleerten und zugleich multioptionalen Projektionsfläche: Barbiepuppe einer Spaßgesellschaft, die das Image von Jugend und Reichtum bar jeder Substanz in Umlauf bringt. Diana gelang es immerhin, sowohl Begeisterung als auch Verachtung auszulösen, weil an ihr eine Veränderung der britischen Gesellschaft ablesbar wurde, die schließlich in der Debatte um ihre Trauerfeier öffentlich ausgetragen wurde. Die glatte Oberfläche des schönen Scheins ist hingegen der Diva fremd. Die Leidenschaft der Maria Callas war von einer doppelten Willenskraft getragen: Sie war entschlossen, jegliche Hindernisse zu überwinden – und sie wusste um die Möglichkeit des eigenen Scheiterns. Der Sänger Jon Vickers schildert von einem gemeinsamen Auftritt an der Scala folgende Anekdote: Während des Liebesduetts in Medea war der Callas ein hoher Ton misslungen, und einige Zuschauer hatten begonnen, sie auszupfeifen. Deshalb drehte sie sich von ihrem Partner ab, wandte sich direkt dem Publikum zu, streckte ihre Arme aus und änderte den Text. Zu Verdis Musik verkündete sie: »Ich habe alles geopfert und es stattdessen an euch gegeben.« Einen Moment lang war die Spannung so groß, dass im Opernhaus kein Geräusch zu hören war, dann tobte das Publikum vor Begeisterung. Doch die Pointe der Anekdote führt zur Fragilität der Diva zurück. Während sie sich gemeinsam verbeugten, flüsterte Maria Callas ihrem

Helmut Krausser ist Schriftsteller und lebt in Potsdam. Im Frühjahr erscheint sein Roman »Die kleinen Gärten des Maestro Puccini«

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Vielleicht war die Ablehnung der früheren Jahre in Mitleid umgeschlagen, weil man ahnte, dass sie kurz davor war, für immer abzutreten. Selbst ohne die Kraft ihrer Stimme hatten zudem ihre Pathosgesten den vertrauten Zauber nicht verloren. Ihr Timbre und ihr interpretatorischer Ausdruck waren stärker denn je. Wenn man bedenkt, wie sehr ein Teil ihrer Faszination als Sängerin gerade darin lag, dass sie nicht nur die Leidenschaften großer Opernheroinen mit ihrer idiosynkratischen Klangfärbung versah, sondern zudem die eigenen Mängel als Sängerin nie vertuschte, könnte man folgende Vermutung anstellen: Callas wirkte während ihrer letzten Auftritte so überzeugend, weil sie eine Fragilität ausstrahlte, in der die Sängerin und jene Opernrollen, die unweigerlich auf das Verstummen des Soprans im letzten Akt hinauslaufen, gänzlich übereinstimmten. Zugleich muss es für die Perfektionistin schrecklich gewesen sein, zu erkennen, dass der Zauber des Bühnenauftritts trotzdem funktionierte oder vor allem deshalb. Das Idol, das sie nie sein wollte, hatte sich verselbstständigt. Kein Wunder, dass ihr das Herz stillstand am 16. September 1977. Ob die unnachahmbare Strahlkraft der Diva nochmals aufleben kann, ist ungewiss. Dass sie uns fehlt hingegen, ist sicher. Elisabeth Bronfen ist Literaturwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin und lehrt in Zürich. 2002 hat sie mit Barbara Straumann das Buch »Diva – eine Geschichte der Bewunderung« veröffentlicht

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Die Göttlichen FEUILLETON

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Ein Gebet an die Göttin des Mondes Die sagenumwobene Maria Malibran war die erste Diva der Theatergeschichte. Cecilia Bartoli hat sie nun wiederentdeckt

Denn wo sie das hoch disziplinierte, von den üblichen PR-Maschinisten sorgsam getaktete, der Vorhersehbarkeit geschuldete Leben einer modernen Starsängerin führt, da hat La Malibran an einem Abend hintereinander Fidelio und Amina gesungen oder ist, längst Blut hustend, noch als Semiramis auf die Bühne getaumelt. Wo die kleine Cecilia mit vier Jahren in Verdis Aida noch die echten Elefanten und Löwen auf der Bühne der Caracalla-Thermen bestaunt, da steht die kleine Maria bereits unter der Knute ihres Vaters, des legendären andalusischen Rossini-Tenors, Komponisten und Gesangspädagogen Manuel del Pópolo Vicente García, der ihr (wie ihrer gleichfalls berühmten Schwester Pauline Viardot auch) das Singen buchstäblich eingeprügelt haben soll. Und wo die Bartoli mit Maria nun ihr nächstes, homöopathisch austariertes Konzeptalbum auf den Markt bringt, da flieht Madame Malibran, der drohenden Cholera wegen, mal eben zu Fuß von Lucca nach Mailand oder reißt ihrem Kutscher entnervt die Zügel aus der Hand, um den Mehrspänner (!) aus eigener Kraft nach Brüssel zu peitschen. The good die young? »O wäre ich doch heute nur im Stande gewesen zu singen! – nie war ich so bei Stimme!« – soll Malibran ausgerufen haben, als man sie wenige Tage vor ihrem Tod, von epileptisch-hysterischen Krämpfen geschüttelt, aus der Kirche trug, in der sie anlässlich des Manchester Musikfestes 1836 auftreten sollte. Und Nathan schwärmt von ihrer »grenzenlosen Herzensgüte«, ihrem »weiblichen Edelmuth«. Eine genial emanzipierte Frau also, ein »gelebter Mythos« (Roland Barthes), das »letzte Märchen« (Ingeborg Bachmann), immer »göttlich« und immerzu vom Tode bedroht (Elisabeth Bronfen) – und insofern eine treffliche Wahl. Vor 20 Jahren bekommt Cecilia Bartoli vom Decca-Produzenten Christopher Raeburn ein Bildnis der Malibran in die Hand gedrückt – und begreift dies als Aufforderung. Was die Existenzialität der Kunst betrifft, die Verbindlichkeit des Wesens, das Spiel mit dem Feuer, so mag sie intuitiv gespürt haben, würde sie der Spanierin niemals das Wasser reichen. Dafür war sie selbst durchs Marketing viel zu sehr als römisches Zirkuspferdchen, Artistin und Koloraturenwunder gesetzt. Aber am Repertoire, da gab es etwas gutzumachen. Callas, Tebaldi, Sutherland & Co. mochten Belcanto-Reißer wie Bellinis Sonnambula oder Pirata wieder ausgegraben haben – sie, Bartoli, die Muse der historischen Aufführungspraxis, würde diesen Stücken geben, was ihnen ästhetisch-stilistisch gebührt. 430 Hz also für den

Foto (Ausschnitt): Denis Rouvre/corbis outline

vielfach unterschätzte Filmregisseur, widmete ihrem Sterben schon 1971 einen Fernsehfilm (mit der allerdings wenig charismatischen Christine Kaufmann). »Mariquita«, so wird die Malibran in ihrem Herkunftsland Spanien genannt: die Wiedergeburt der griechischen Circe, Odysseus’ Sirene, kurz: der »personificirte Gesang«, wie es 1837, ein Jahr nach ihrem Tod, in Isaac Nathans höchst lesenswerter Biografischer Skizze heißt. Fast möchte man ihr lieber nicht leibhaftig begegnet sein, aus Angst, verschlungen zu werden von der lodernden Intensität ihrer Kunst, die so viele glaubhaft bezeugen, und vielleicht ist es ja gerade jene unüberbrückbare Distanz, die Bartoli gleichermaßen fasziniert und in Sicherheit wiegt.

CECILIA BARTOLI (2003)

Kammerton im Orchester (La Scintilla unter Adam Fischer) und ran an Vortragsbezeichnungen, Gesangsschulen und frühestmöglich überlieferte Aufnahmen. Die Geburt der Romantik aus dem Geiste der Rhetorik. Nicht mehr und nicht weniger will das Album Maria. Welcher Anlass wäre hierfür sprechender als der 200. Geburtstag der Malibran am 24. März 2008 – und welche Arien dankbarer als Giovanni Pacinis wie auf der Nähmaschine herunterzuratterndes Ira del ciel, als der Kastagnettenohrwurm Yo que soy contrabandista aus der Feder des Vaters, als Hummels jodelselige Air à la Tiroliènne oder Malibrans eigenes, von Bartoli buchstäblich unter Elektrizität gesetztes Rataplan. Eine hochexplosive Mischung, bei der man das Mikrofon und die Frage, ob Bartolis durchaus nicht unbeschädigter, bisweilen klirrender Mezzo derlei auch im Konzert noch zu leisten vermag, nahezu vergisst. Die Arbeit mit den Originalen, mit Autografen und Quellen, sagt Bartoli, besitze für sie dabei eine unverzichtbar erotische Magie. Abgeguckt hat sie sich das von Nikolaus Harnoncourt, und man stellt es sich nur zu gerne vor, wie die passionierte Sammlerin und Starsängerin von Auktionshäusern bemustert wird oder sich durch Bibliotheken und Archive frisst, um ihre eigenen kritischen Ausgaben herzustellen. Auch wenn sie diese Kärrnerarbeit am Ende gewiss nicht selbst verrichtet und schon gar nicht allein. Wie sehr solcher Aufwand lohnen kann, zeigt der Karfunkelstein des Albums, Bellinis Casta diva. Sie habe sich zeitlebens gefragt, erzählt Bartoli, warum diese Cavatine von der Rezeptionsgeschichte zu einem derartigen Schlachtross aufgezäumt wurde: »Und dann sitze ich in Rom über der Handschrift und sehe, dass Bellini schreibt: Gebet. Welches Gebet?, denke ich, und es trifft mich wie ein Blitz. Die Zeit bleibt stehen. Normas Gebet an die Göttin des Mondes, natürlich! Und zwar im doppelten Pianissimo. Sotto voce!« Und genauso betet Bartoli hier: aufs Zärtlichste, Innigste, als liebkoste ihr Atem alle Resonanzen zum letzten Mal. Als gäbe es danach nie wieder einen Klang. Maria Malibran übrigens starb an den Folgen eines

Foto (Ausschnitt): ullstein

V

on Cecilia Bartoli sind, was das Leben und die hohe Kunst betrifft, keine größeren Überspanntheiten zu befürchten. Sie liebe Spaghetti, hat es anfangs gerne geheißen, dio mio, was erwartet man von einer Italienerin; sie habe überdies ein heiteres Gemüt und sei stets zu Scherzen aufgelegt – ihr legendärer Auftritt in einer Talkshow an der Seite von Sir Peter Ustinov etwa, als beide akustisch die Jagd in einem klapprigen Fiat durch Rom imitierten, vergisst sich so leicht nicht. Außerdem reist sie, so oft es geht, in Gesellschaft ihrer Mutter (und einzigen Gesangslehrerin), fährt viel lieber Zug, als dass sie fliegt und ist mit dem Schweizer Bariton Oliver Widmer liiert. Und wer sie an einem frösteligen Frühherbstmorgen im Foyer des Zürcher Opernhauses zum 45-Minuten-Gespräch trifft, der darf sich getrost an einer Spur Goldpuder überm sonnengebräunten Dekolleté erwärmen. Vier Wochen Südfrankreich, strahlt Bartoli und ringt verlegen nach Vokabeln, da müsse sie ihr Englisch erst wieder aus der Mottenkiste holen. Selbstredend findet sie sie rasch, die Worte, die richtige Tonlage zwischen Emphase und Beflissenheit, um ihre jüngste Leidenschaft ins rechte Licht zu rücken: Maria Malibran lautet diese, »Zigeunerin«, Koloratur-Mezzosopranistin vom kleinen E bis zum hohen C und Inbegriff der historischen Diva, von Rossini, Bellini, Victor Hugo und Chopin heiß umschwärmt, eine Ikone des romantischen Belcanto, die erste Sängerin, so Bartoli, die die Opernbühne mit der Seele gesucht und den Kanon der alten Affekte gesprengt habe. Maria & Cecilia, Cecilia & Maria also, eine treffliche MarketingSchwesternschaft, über der, ohne dass es je ausgesprochen werden müsste, auch die andere Maria schwebt, die Assoluta des 20. Jahrhunderts – Maria Callas. »Ich verehre Sie so sehr, dass ich Sie am liebsten aufessen möchte«, schreibt die Malibran an ihre Primadonnen-Kollegin Giuditta Pasta. Solche kannibalischen Gelüste würde man Cecilia Bartoli niemals unterstellen. Auch von der Ausdruckswut einer Callas scheint sie Lichtjahre entfernt. Die Frau ist ein Vollprofi und liebreizend und nett obendrein. Und selbst wenn ihre Nettigkeit nichts anderes wäre als professionell, man wäre’s zufrieden. Im Dienste der Sache tourt Bartoli demnächst mit einem Bus über Land, vom toskanischen Lucca bis nach Berlin. Das heißt: Weder lenkt sie das sperrige Gefährt selbst (wie die passionierten Bushalter Hilary Hahn oder Christoph Schlingensief es vielleicht täten), noch sitzt sie kurvengebeutelt hinten drin. Man mag sich das Ganze eher vorstellen wie die mobilen Blutspendedienste des Roten Kreuzes oder jene Bücherbusse, die die deutsche Provinz mit Lektüre versorgen, und Cecilia Bartoli wäre hier also wahlweise Lesetante oder Oberschwester. Nur dass sie selbst eben per Limousine oder Eurocity erster Klasse voraus- respektive hinterherfährt, und das zu transportierende Gut aus Handschriften, Briefen, Schmuck, Möbeln und anderen Artefakten besteht. Reliquien der Maria Malibran! Zeitgenössische Kaffeekannen, Porzellanpfeifen oder Intarsienarbeiten mit deren Konterfei; Büsten und Stiche; eigene Kompositionen, Gemälde und großflächige Stickereien; und natürlich die Totenmaske mit ihrem ewig sonnigen, friedfertigen Gipslächeln. Ein rollender Showroom. Die Malibran war 28, als sie starb, und Werner Schroeter, der

VON CHRISTINE LEMKE-MATWEY

MARIA MALIBRAN (1808-1836), gemalt von Henri Decaisne, 1830

Reitunfalls, den sie im Londoner Hyde Park erlitten hatte. Trotz eines Blutgerinnsels im Gehirn und diverser Knochenbrüche klopfte sie sich nur kurz den Staub aus den Kleidern, wischte sich das Blut von der Stirn – und sang noch Monate umjubelt weiter. Und eine kleine Zickigkeit gibt es denn doch auch von Cecilia Bartoli zu vermelden. Bei Zürcher Opernpremieren hat sie es sich ausbedungen, die in der Tagespresse erscheinenden Fotos vorgelegt zu bekommen. In der NZZ führt dies mittlerweile dazu, dass Kritiken von Bartoli-Events ganz auf eine Bebilderung verzichten. Der Tagesanzeiger hingegen veröffentlichte letzthin statt eines Szenenfotos eine umfängliche, wenig vorteilhafte Karikatur der Sängerin. Daraufhin klingelte am nächsten Morgen das Redaktionstelefon: Buon giorno, hier Bartoli, wo, bitte schön, kann ich diese wundervolle Zeichnung erwerben? Solange Diven noch Humor haben, geht die Welt bestimmt nicht unter. Cecilia Bartoli: Maria

Orchestra La Scintilla, Leitung Adam Fischer (Decca 475 9077)

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FEUILLETON Die Göttlichen

13. September 2007

DIE ZEIT Nr. 38

Zum Tod des italienischen Meistersängers Luciano Pavarotti VON WOLFRAM GOERTZ

Der Tenor V für jede Gelegenheit

or ein paar Wochen hieß es noch, er wolle trotz allem eine Platte aufnehmen – geistliche Lieder, dem Ernst der Lebenskrise angemessen. Vielleicht hatte Luciano Pavarotti gehofft, das fromme Liedgut könne göttliche Hilfe bei der Genesung von seinem Krebsleiden erwirken. Vielleicht hatten aber auch seine Manager gedacht, der Zeitpunkt sei nun gekommen, die letzte Scheibe des Ruhms anzuschneiden, auf dass von deren Verkauf die Ewigkeit und die junge Witwe profitierten. Man würde bei einer solchen allerletzten Platte alles empathisch mithören, den abgemagerten Maestro, die Schmerzen, die Operation, die Therapien, die Ängste. Ob sie schon in großen Kisten zu uns unterwegs ist? Vollendet ist nun also die Lebenszeit eines der letzten Giganten, vorbei die große und seltsame Zeit, da die wichtigen Tenorpartien unter dreien aufgeteilt oder bei ausgewählten Gelegenheiten von diesen dreien gleichzeitig gesungen wurden. Jetzt sind es nur noch zwei, Placido Domingo und José Carreras, die ebenfalls in ihrem sängerischen Spätherbst versuchen, das Karrierefeuer nicht erlöschen zu lassen. Sie wissen am besten, was ihr Konkurrent Pavarotti zeitlebens für die Oper und den Stimmfetischismus bedeutete: Er war der öffentliche Tenor schlechthin. Er war für die Massen da, er umschlang sie, winkte ihnen mit dem Taschentuch zu, lachte, weinte, barmte, siegte. War Rudolf Schock der Tenor für die ganze deutsche Familie, so war Luciano Pavarotti der Tenor für die ganze Welt.

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Der Bäckersohn hatte es nie nötig, Gesangsunterricht zu nehmen Eine Pavarotti-CD fehlt in kaum einem Regal, er ist verträglich mit jedem Musikgeschmack. Pavarotti war nicht nur Klassik, sondern auch Pop, eine Marke, die man sich in ausgesuchten Momenten gönnt wie Champagner. Manche hören ihn auch beim Putzen. Die Fachleute sind sich in ihren Metaphern uneins, ob Pavarottis Stimme edelmetallisch oder nach flüssiger Lava klinge, ob sie Schmelz oder Schmiss habe. Aber dass sie unter Tausenden unverwechselbar ist, bestreitet niemand. Luciano Pavarotti wurde in all den Jahren als leichtlebiger Rodolfo in La Bohème, umlichterter Manrico in Il Trovatore und nach tausendfach

geschmettertem Nessun dorma als »Startenor« geführt. Ein achtlos aufgeklebtes Etikett der PR-Branche, die jeden zum Star erklärt, wenn er nur in Fernsehen und Klatschpresse präsent ist. Dort ruhte Big P. zufrieden in seiner Leiblichkeit und machte die Zuschauer glauben, dass Singen gut für die Seele sei. Darüber hinaus aber war er in seinen vielen besten Momenten den Kohorten lispelnder, summender, hüstelnder, knödelnder, schwächelnder, abstürzender Tenorini so wolkenkratzerhoch überlegen, dass allein er das »Star«Prädikat verdient hatte. Star war Luciano Pavarotti auch deshalb, weil er aus dem Nichts heraus die Bilderbuchkarriere des Bäckersohns aus Modena gemacht hatte. In jungen Jahren hatte er nie richtigen Gesangsunterricht gehabt, was für seine Entwicklung kein Fehler war. Man kennt diese italienischen Chöre, die bei Wettbewerben regelmäßig Preise abräumen, weil bei ihren Mitgliedern das korrekte Singen genetisch veranlagt ist. Der Mund geht auf, der Ton kommt heraus, sitzt richtig und klingt golden. So war es auch bei Pavarotti. Die Technik lernte er von den in Fachkreisen namhaften Herren Arrigo Pola (fürs richtige Deklamieren) und Ettore Campogalliani (fürs richtige Atmen). Nach seinem Debüt am 29. April 1961 erfolgte bald der Abflug in die Tenor-Stratosphäre, etwa als lyrisch-equilibristischer Edgardo in Lucia di Lammermoor. Zu jener Zeit war Pavarotti ein typischer »Tenore di grazia«, bestens geeignet für agile, himmelhoch jubelnde Partien von Donizetti oder Bellini. Gemeinsam mit der mütterlich besorgten Joan Sutherland unternahm er erste Tourneen; Kenner und Laien wurden auf eine exemplarisch schöne Stimme aufmerksam. Als jugendlicher Rodolfo in La Bohème nahm er an der Seite von Mirella Freni und Herbert von Karajan im Thronsaal der Plattengeschichte Platz. Man hörte eine Stimme von gleißender Bravour, hell timbriert, berückend sinnlich. Damals befand sich Pavarotti auf dem Gipfel seiner Kunst. Als Tonio in Donizettis Regimentstochter warf er hohe Cs in den Saal wie Feuerwerker ihre Raketen in den Himmel. In seiner Reißernummer Nessun dorma imponierte er mit einem schier in die Luft geschmiedeten vincerò, und damit wirklich keiner schlafe, hielt er die Spitzentöne so laut und lange aus, dass ängstliche Zuhörer dabei ein Vaterunser beten konnten. In der Kalaf-Partie deutete sich jedoch bereits Pavarottis Neigung an,

Glanz durch stimmliche Presswehen zu entbinden. Diese Untugend verstärkte sich, als er sich an Partien wagte, für die seine Stimme nicht gemacht war, an Radames etwa oder an den baritonal grundierten Otello. Pavarotti hatte gleichwohl begriffen, dass das Publikum an den Debatten der Connaisseure gar nicht interessiert war. Es gierte vor allem nach den sexuellen Dimensionen des Tenorgesangs: nach hohen, lauten Tönen und deren Standfestigkeit. Indes blieb Pavarottis Stimme immer öfter hinter solchen Ansprüchen zurück. Er griff zu Tricks, ließ manche Partien tiefer transponieren – und erfand den Marketing-Clou, mit wenigen Konzerten mehr Leute denn je zu erreichen. In Stadien, Arenen, Messehallen und Flugzeughangars trat er auf, das Mikrofon half bei vokalen Indispositionen, und im Hintergrund spielte irgendeine Staatsphilharmonie aus Ungarn oder Mähren.

Die Zeit fuhr ihn an wie eisiger Wind, die Abschiedstour fiel aus 1990, zur Eröffnung der Fußballweltmeisterschaft in Italien, trat Pavarotti erstmals mit den Kollegen Domingo und Carreras im Trio auf – noch lauter, noch suggestiver, jedoch heiteren Gemüts. Jetzt konnte sich einer bei einem Spitzenton mal ausruhen, zwei andere waren ja oben. Und Pavarotti musste mit seinem von Teigwaren und Kalbsschnitzeln genährten Körper nicht mehr in enge Leibchen gedrückt werden, in denen er auf einer Opernbühne nach jugendlichem Helden aussah. Er trug nun Frack mit Bauchbinde, sein bleckendes Lachen, den Finsterbart und das strandlakengroße Winketuch in der Hand. Alsbald wurde das Wort vom »Klassik-Event« geboren. Big P. goes Big Apple: Das war 1993 der Megaknaller der Branche – 500 000 Menschen hingen im Central Park von New York live an Pavarottis Tönen. Aber bald fuhr die Zeit über Pavarotti wie ein eisiger Wind, der dem Sängerhals zu nahe kommt. Geschichten über den Ruin der Stimme mehrten sich, eine Abschiedstournee wurde abgesagt. Schließlich die Schicksalsdiagnose: Krebs der Bauchspeicheldrüse, Operation. Aus dem Hospital kamen Töne der Beruhigung: Bald wolle er wieder singen. Nein, er konnte nicht mehr. Eine der schönsten Stimmen ist jetzt im Alter von 71 Jahren verstummt.

Bescheiden! Großzügig! Einzigartig! Bei der Beerdigung Pavarottis in seiner Heimat Modena weinen und jubeln 50 000 enge Verwandte

A

m Ende der Trauermesse habe ich nur noch einen Wunsch: als Italienerin zu sterben. Als berühmte Italienerin. Von einem ganzen Volk glücklich betrauert, mit Weihrauch, Ave Maria und der Mutter aller Kunstflugstaffeln, der Frecce Tricolori, den dreifarbigen Pfeilen der italienischen Luftwaffe. Genau in jenem Augenblick donnern die Flugzeuge über unsere Köpfe hinweg, als der Sarg von Luciano Pavarotti aus dem Dom getragen wird. Die Sonne hüllt sich in Weihrauchdunst, der Applaus rollt wie Meeresbrandung über die Piazza Grande hinweg, und alle weinen wie die Kinder: Finanzgeneräle in goldbetressten Uniformen, Leibwächter in schwarzen Anzügen, italienische Fernsehsternstäubchen, schärpengeschmückte Bürgermeister. Die Journalisten schluchzen, bis sie Schluckauf bekommen, die Menge ruft Lucia-no, Lu-cia-no, addio, Lu-cia-no. Fast ein Staatsbegräbnis. Die Moderatorin von Tele 5 hatte das schon mittags festgestellt, als sie die Vorbereitungen für die Beerdigung live von der Piazza Grande kommentierte. Da war in der emilianischen Tageszeitung Il Resto del Carlino schon längst die Rede von einem Königsbegräbnis. Und davon, dass Modena sich in diesen Tagen im Auge des weltumspannenden PavarottiOrkans befände, der via CNN und BBC bis auf die Kurilen ziehen würde.

LUCIANO PAVAROTTI (1935 – 2007); das kleine Foto zeigt Benito Cocchi, den Erzbischof Modenas, am vergangenen Samstag an Pavarottis Sarg

Fotos [M]: Yousuf Karsh/Camera Press/Picture-Press (grosses Foto; dpa (o.)

Am Vormittag noch hatte ich vor dem Dom in

der Schlange der Trauernden gestanden, die ihm die letzte Ehre erweisen wollten. Nessun Dorma fiel aus den Lautsprechern, und Pavarotti lächelte von einer Leinwand, auf der »Addio Maestro« zu lesen war. Neben mir warteten tätowierte Mädchen mit Prinzesstaillen und bemerkenswertem Bauchansatz. Unermüdlich prüften sie die Kamerafunktion ihrer Mobiltelefone, bis ein Ordner sagte, es sei verboten, Fotos vom toten Pavarotti zu machen. Rodolfo-Doppelgänger mit messerscharf geschnittenen Bärten und breiten Kreuzen nestelten nervös an ihren Hemdkragen, Väter mit spuckenden Babys auf dem Arm drängelten sich an eleganten weißhaarigen Männern vorbei, deren nachtblaue Leinenanzüge keine einzige Falte warfen. Alle waren ernst und sprachen selbst dann nur ganz leise, wenn ihnen eines der am Rande lauernden Kamerateams ein Mikrofon hinhielt. Bescheiden! Großzügig! Einzigartig! sei Pavarotti gewesen, flüsterte das Trauervolk, Modenas größter Sohn, der unsterblichste Emilianer, ein großer Italiener, Santo subito. Ein Familienbegräbnis. Mit 50 000 Verwandten. Ich dachte daran, wie ich Pavarotti einmal interviewt hatte, in einer Zeit, als er schon längst

nur noch ein Popstar war – auch wenn ihn die Italiener immer noch voller Liebe und Bewunderung il divo nannten, weil sie das Recht auf Launen, Eigenwillen und gefärbte Haare nicht nur Frauen, sondern auch Männern zugestehen. Ich hatte ihn im Hotel Palace in Meran getroffen, jenem Hotel, in das er stets zum Abspecken fuhr. Ich wusste, dass mein Interview ein Rädchen in der großen Pavarotti-&-Friends-Verwertungsmaschine sein sollte, blickte in sein stark geschminktes Gesicht und stellte kleine Schlaumeier-Fragen, etwa, was er zum Mittagessen gegessen habe oder ob es ihn schmerze, wenn man ihn als singenden Großunternehmer bezeichne, und inwiefern Nicoletta sein Leben verändert habe. Er antwortete mir auf alle Fragen mit der Aufrichtigkeit eines Kindes, und ich weiß noch, dass ich mich danach schämte. Und jetzt lag er da, in dem Sarg aus Ahornholz, auf einem Podest aus rotem Theatersamt, mit wächsernem Gesicht und seltsam schmal, und ich bekreuzigte mich, obwohl ich aus der Kirche ausgetreten bin. Weil ich dazugehören wollte. Zu Italien, jener seltsam zänkischen Familie, in Schmerz und Freude vereint, die um ihren Luciano trauerte. Um einen, der es geschafft hatte, ohne seine Ursprünge zu verleugnen, einen, der Italien zur Ehre gereicht hatte – anders als Berlusconi etwa, der sich stets im Ausland blamiert hatte, anders als all die italienischen Politiker, die nun alle zur Trauermesse angereist waren, Ministerpräsident Prodi, Kulturminister Rutelli, der Verteidigungsminister Parisi, Vittorio Sgarbi, das Enfant terrible der italienischen Kultur. Die ganze Piazza war nun voller Trauernder, die sich die Wartezeit bis zur Trauerfeier damit vertrieben, auf den Stufen zu sitzen und ein Panino zu essen. Und wenn das Vincerò aus Nessun Dorma ertönte, applaudierten alle, weinten und aßen weiter ihre Panini. Unter den Arkaden stand die Weltpresse: Japanerinnen, die nicht wussten, wo sie ihren Rollenkoffer lassen sollten, wenn die Messe beginnt, Amerikanerinnen, die schon eine Stunde vor der Beerdigung die wichtigsten Zitate aus der Rede des Bischofs durchgaben: Er drückte seinen Glauben durch den Gesang aus. Okay? Das reicht. Mehr Zitate brauchen wir nicht! Und Al-Jazeera-Journalisten, die sich darum stritten, wer die Panini bezahlen darf. Die Messe selbst war dann seltsam entrückt. Die Kabaivanska sang das Ave Maria, Andrea Bocelli das Ave Verum, der Ex-Kulturstaatssekretär schrieb während der gesamten Messe E-Mails mit seinem Blackberry, die Journalisten kritzelten die Namen der Anwesenden in ihre Notizblöcke, Bono, Zeffirelli, Kofi Annan, Zucchero, Jovanot-

VON PETRA RESKI

ti, Carla Fracci, und fragten mich flüsternd, ob die Frau mit dem weißen Schal die erste Frau von Pavarotti sei, und ich überlegte, ob ich die Gelegenheit nutzen sollte, die italienische Öffentlichkeit in Form von Repubblica, Il Giornale, Corriere della Sera und der italienischen Nachrichtenagentur Ansa irrezuführen, endlich mal besaß ich Herrschaftswissen, es hatte sich ausgezahlt, bei der Fußpflege Oggi gelesen zu haben. Adua ist die blonde Dame ganz rechts, sagte ich großherzig, und dann flüsterten wir noch etwas erregt darüber, warum keiner der überlebenden zwei Tenöre Pavarotti die letzte Ehre erwies. Außer Nicoletta und den drei Pavarotti-Töchtern weinte niemand. Nicolettas ganzer Körper bebte, und ich dachte daran, wie Pavarotti bei dem Interview gesagt hatte: Sie behandelt mich, als wäre sie meine Mutter. Und ich tue so, als wäre ich ihr Sohn. Die restlichen 50 000 Verwandten draußen ju-

belten beim Halleluja und applaudierten jedes Mal, wenn vom Bruder Luciano die Rede war. Auf der Piazza ist es viel schöner, da ist man bewegter!, flüsterte ich. Der Agenturjournalist entgegnete: Quatsch, draußen wird nur mehr gefeiert. Aber als die Frecce Tricolori über uns hinwegdonnerten, fing auch er an zu weinen. Die Ministerpräsidenten, Botschafter und Popstars waren alle wie verschluckt, als der Leichenwagen im Schritttempo durch Modena fuhr, vom Dom bis zur Piazzale San Francesco. Nur Vittorio Sgarbi, der Ex-Kulturstaatssekretär, lief schärpengeschmückt in dem Zug mit, lächelte, wenn man ihm zurief, Du bist unser Mythos!, schüttelte Hände, verteilte Autogramme und versprühte Sentenzen: Der Tod werde durch die Lebenskraft ausgeglichen, sagte er, und dass Nicoletta zwar eine ganze Welt verloren habe, es sich bei dem Pavarotti im Sarg aber lediglich um seine sterbliche Hülle handele. Der eigentliche Pavarotti sei bei ihr, Nicoletta. Als der Leichenzug auf der Piazzale San Francesco ankam, küsste Sgarbi Nicoletta und streichelte ihr über die Wange wie einem untröstlichen Kind. Dann fuhr die Kolonne los, zum Friedhof von Montale Rangone, wo Luciano Pavarotti seiner Familie eine Grabstätte reserviert hat: ein schlichtes Totenfach, wie es für Millionen von Italienern üblich ist. Als die Autokolonne verschwunden war, stand nur noch Sgarbi da, umringt von der Menge. Eine Frau reichte ihm einen Zettel für ein Autogramm, und Sgarbi fragte: Für wen? Für Laida, sagte die Frau. Was für ein schöner Name, sagte Sgarbi. Audio a www.zeit.de/audio

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FEUILLETON Diskothek

13. September 2007

DIE ZEIT Nr. 38

" WILLEMSEN HÖRT

Schwarzer Stolz

Grand Hand

Während 1968 in Dutzenden von amerikanischen Großstädten die Ghettos brannten und täglich Soldaten in Zinksärgen aus Vietnam zurückkamen, spielte der Mann, dessen Musik den rebellischen Stolz der Bürgerrechtsbewegung in harte Funkrhythmen umsetzte, ausgerechnet eine Heimatschnulze ein: America Is My Home. Klar, dass James Brown bei den radikalen Intellektuellen unten durch war. Was auch immer an der Geschichte dran ist, bewaffnete Black Panther hätten den Soulbrother Number One wegen seines mangelnden Engagements für die schwarze Sache zur Rede gestellt: Noch im selben August war der Soulsänger wie ausgewechselt. Nicht nur die einst so glatt-pomadisierten Haare hatte er sich zu einem stolzen Afro wachsen lassen. Auch seine Stimme schien einem anderen zu gehören. Einer mutigeren, radikaleren, kompromissloseren Version des alten James Brown: Say it Loud– I’m Black And I’m Proud. Brown, der als Junge wegen ärmlicher Kleidung einmal aus der Schule nach Hause geschickt worden war und später im Puff und an den Straßenecken in Augusta für ein paar Münzen tanzte, kannte alle Facetten des Rassismus, wusste, dass er seinen Erfolg hauptsächlich einem schwarzen Publikum zu verdanken hatte. Insofern hatte Say It Loud durchaus autobiografischen Charakter. »Now we demand a chance to do things for ourself / We’re tired of beatin’ our head against the wall / And workin’ for someone else.« Mit Hilfe des begnadeten Schlagzeugers Clyde Stubblefield lässt Brown Melodie und Harmonie hinter sich. Die Gitarre, die Bläser, das Piano: alles nur noch Rhythmusinstrumente. Der Text ist zu energischen

McCoy Tyner war ein Junge, als eines Tages der legendäre Pianist Bud Powell bei ihm daheim erschien, sich ans Klavier setzte und den jungen Mann fassungslos, doch mit dem Wunsch zurückließ, selbst Pianist zu werden. Manche Musiker spielen nicht nur gut, sie verändern zugleich den Stil, wie ihr Instrument behandelt wird. Zu diesen sollte McCoy Tyner gehören. Er war Mitte zwanzig, als ihn John Coltrane in sein Quartett einlud, und bald befruchtete McCoy Tyner dieses alles erneuernde Quartett durch seinen ausladenden, manchmal großflächig malenden, in perlenden Bögen komponierenden Stil. Ja, er hat Coltranes Reisen in immer komplexere Harmonien so gut mitvollziehen können, dass selbst dieser Unbestechliche von seinem »Einfallsreichtum«, der »Klarheit der Ideen«, dem »persönlichsten Ausdruck« schwärmte. McCoy Tyner verließ das ColtraneQuartett 1966 mit dem Satz: »Das ist jetzt nur noch was für Experten« und suchte den persönlichsten Ausdruck auf dem selbst komponierten Album The Real McCoy (Blue Note) von 1967. Da sind sie wieder, seine flirrenden Farbmalereien, raumgreifenden Exkursionen, virtuosen Rhythmuswechsel. Man erlebt diese kraftvolle Musik wie eine Befreiung, der Mann ist am Klavier ganz in seinem Element, das er rauschhaft mit großen Händen teilt. Über viele Jahre war er immer der Jüngste gewesen, der Lernende. 1994 wollte er selbst Pate sein und versammelte um sich ein paar Große, Junge, Wilde. Abgesehen von den beiden eher fragwürdigen Chopin- und Beethoven-Bearbeitungen, offenbart Prelude and Sonata (Milestone) die Grandezza eines Weichherzigen, der sich als Elder Statesman auch gern in Pianissimi zurückzieht. In Loss of Love etwa stimmt er – angelehnt an eine Melodie von Henry Mancini – eine Elegie an auf verblichene Gefühle, und schon der »Touch« der Einleitungstakte verrät den großen Pianisten. Dann übernimmt Antonio Hart mit altsaxofonischem Schmachten, pochend gewarnt vom Bass Christian McBrides, bevor McCoy Tyner solistisch in See sticht, den Grund der Ballade erkundend. Wenn später noch sein funkelndes Farbenspiel durch die Meditation von Good Morning Heartache bricht, dann scheint der Herzschmerz, den dieses Album grüßt, gnädig, lässt es die Liebenden doch leben, sogar hochleben. ROGER WILLEMSEN

Soul Shouts und stotternden Fragmenten verdichtet. James Browns Besessenheit, den Beat immer auf die Eins zu setzen, hatte den Soul näher an Afrika gerückt als je zuvor. Wen störte es da, dass der Chor von I’m Black And I’m Proud hauptsächlich aus weißen und asiatischen Kindern besteht? Der stolze Besitzer eines Learjets und eines Schlösschens sah sich im Grunde nie als Politprediger: Er wollte tanzen, die Welt zu seinem Rhythmus aus den Angeln heben. So versöhnt das der Single nachgeschobene Album die Widersprüche der eigenen Geschichte, präsentiert James Brown in all seinen schillernden Facetten. Da schmachtet er auf I Guess I’ll Have To Cry, Cry, Cry seine heiseren Liebesschwüre; lässt auf das Orgel-Instrumental Shades Of Brown die sexbesessenen Stakkato-Rhythmen von Licking Stick folgen, um, teils Sänger, teils Baptistenprediger, seine Hörer in Trance zu spielen. Der Flirt zwischen Black Power und James Brown hielt nicht lange. Doch auch wenn Brown bald wieder zu aalglatter Conk-Frisur und Patriotismus zurückkehrte: Es ist der Afro-gekrönte Soulmann, auf den sich Chuck D stellvertretend für Generationen von Hip-Hoppern bezieht: »James Brown«, so der Public-Enemy-Frontmann, »bereitete mich auf die Grundschule vor – und den Rest meines Lebens: Say it loud, I’m black and I’m proud«. JONATHAN FISCHER James Brown: Say It Loud – I’m Black And I’m Proud (Polydor/Universal)

Als der Jazz elektrisch wurde Zum Tod des Pianisten und Klangzauberers Joe Zawinul

A Foto: Zuma Press Inc./action press

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James Brown: Say It Loud – I’m Black And I’m Proud

Foto: © DALLE/Intertopics, Wolfram Mehl/intertopics (o.)

" 100 KLASSIKER DER MODERNEN MUSIK

m 18. Februar 1969 bekam der Jazzpianist Josef Erich Zawinul in New York einen Telefonanruf. Der Mann aus Wien, so hieß es, möge auf der Stelle zu Aufnahmen in die Columbia Studios kommen. Ein paar Stunden später saß er inmitten einer sensationellen Truppe um Miles Davis neben zwei anderen Keyboardern und legte ein neues Stück mit raffiniertem Titel vor: In a Silent Way. Das gefiel allen so sehr, dass sie es erst einmal zerlegten und umschrieben. Trotzdem, dieser Josef war ein toller Joe und ein echter Könner, fanden auch die Kollegen Shorter, Hancock, Corea, Holland, Williams und McLaughlin – der Titel blieb und gab dem Album den Namen. Leise also wurde der Jazz an die Steckdose gebracht, und der Mann aus Vienna war einer der Strippenzieher. An diesem Tag wurde der Europäer Joe Zawinul in der Jazzhauptstadt New York endgültig verheimatet, obwohl er dort schon lange mit Julian Cannonball Adderley gespielt hatte und als Begleiter von Dinah Washington überaus angesehen war. Jetzt hatte Zawinul den elektrischen Jazz mitgestaltet und fand die Zeit reif, eigene Pläne zu reali-

VON WOLFRAM GOERTZ

sieren. Für seine neue Band Weather Report gab er gleich die stürmische Parole aus: »Entweder spielt keiner ein Solo – oder alle gleichzeitig.« Das klang wie ein hübscher Aufruf aus demokratischer Gesinnung, doch die klanglichen Ergebnisse waren eine Simultanattacke der Fantasie, ein solcher Cluster an Ideen, dass man vor allem den Lautesten hörte. Im Wetterbericht drängte sich sozusagen immer das Nebelhorn von Wayne Shorters Saxofon vor. Joe Zawinul musste sich etwas anderes ausdenken. Aber das fiel ihm nicht schwer, denn in dem 1932 geborenen Wiener Arbeiterkind mit ungarischem, tschechischem und Zigeunerblut schlug ein erlebnisfrohes und volkstümliches Herz; die ausgefuchste Bastelei an Funk-Arrangements, wie sie etwa Herbie Hancock gleich nach In a Silent Way anstellte, war seine Sache nicht. Joe Zawinul liebte den Spaß der Rhythmen, liebte zünftige Melodien und ließ sich schon gar nicht seine Soul- und Blues-Wurzeln kappen. Mit Mercy, Mercy, Mercy hatte er bereits bei Cannonball Adderley einen humanistisch-wirksamen Kracher gezündet, jetzt

schrieb er die Explosivnummer Birdland, eine flippige, übersichtliche, sehr gesangliche, mit BluesRiffs und funkigen Offbeats gespickte Nummer, bei welcher Jaco Pastorius den E-Bass beinahe zum perfekten Schlagzeug aufwertete. Birdland wurde eine tönende Geschichtsstunde des Jazz, eine entzückende Ode an den New Yorker Jazzclub auf der 52. Straße und dessen glorreiche Zeiten. Seitdem die Vokalgruppe Manhattan Transfer den Song und seinen Text in ihren Konzerten multipliziert, ist Birdland ein Welthit. Weather Report spielte knapp anderthalb Jahrzehnte, dann hatte sich die vielleicht populärste Fusion-Band jener Zeit erledigt. Zawinul hatte neue Pläne: Die Leute sollten zum Jazz tanzen können, Pop und Weltmusik mussten irgendwie mit hinein. Das frisch entstandene Zawinul Syndicate hielt sich zwanzig Jahre mit beträchtlichem Erfolg und spielte auch jene Evergreens mit Pep und nie fad. Joe gab Gas, wo er konnte. Und anders konnte er nicht. Jetzt ist Joe Zawinul 75-jährig in einem Wiener Krankenhaus an Krebs gestorben.

Aus dem Herzen der Finsternis

Die ZEIT empfiehlt

KLASSIK: Lieder aus Theresienstadt

Neue Kino-DVDs

VON OSWALD BEAUJEAN

David Lynch: Der Elefantenmensch Universal Pictures; 1 DVD, 118 Min.

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er tiefste Schmerz kann zu Musik nicht werden …«, schrieb Viktor Ullmann in seinem Theresienstädter Tagebuch Der fremde Passagier. Diesen Satz sollte nicht vergessen, wer Musik aus dem vorgeblich »jüdischen Siedlungsgebiet« hört. Selten war die Kluft zwischen Leben und Kunst so unüberbrückbar wie hier. Theresienstadt war die perfideste Propagandalüge des »Dritten Reiches«. Das zunächst verbotene, später geduldete und unter dem Motto »Kameradschaftsabende« sogar geförderte Musik- und Kulturleben im »selbstverwalteten Ghetto« sollte nicht nur das Ausland täuschen. Die Nazis hatten erkannt, dass sich mit Kunst und Unterhaltung auch die Moral im Konzentrationslager heben ließ, und holten Konzerte, Theater und Kabarett aus dem Halbdunkel der Keller und Dachböden. So ließen sie Musiker wie Ull-

mann, Pavel Haas, Gideon Klein oder Hans Krása, auch heute völlig vergessene wie Karel Svenk oder Adolf Strauss, bei deren verzweifeltem Versuch, im Grauen letzte kulturelle Überlebensräume und -träume zu retten, an einer monströsen Lüge mitstricken, bevor sie sie im Oktober 1944 nach Auschwitz in die Gaskammer schickten. Die Lieder aus Theresienstadt, die Anne Sofie von Otter und Christian Gerhaher in ihrem Terezín-Projekt vorlegen, reflektieren das, egal, ob sie dem Kabarett, dem Volks- oder dem Kunstlied entstammen. Sie flüchten sich ins beklemmend Ironische – »Ja wir in Terezín, wir nehmen’s Leben sehr leicht hin …« – oder besingen mal pathetisch, mal ergreifend schlicht die Hoffnung auf bessere Tage. Und auch wenn Erwin Schulhoff nicht nach Theresienstadt deportiert, sondern im bayerischen

Wülzburg ermordet wurde, gehört er auf diese CD. Daniel Hope, dem die »entartete Musik« Ullmanns, Krásas und Schulhoffs seit Jahren ein Herzensanliegen ist, spielt dessen Sonate für Violine solo mit fulminant musikantischem Zugriff. Christine Schäfer mag vor Jahren Ullmanns Sonette op. 34 schöner gesungen haben, und gelegentlich scheint bei Anne Sofie von Otter allzu deutlich die Interpretin des romantischen Kunstliedes durch. Am Wert dieser CD, die letztlich ihr Projekt ist, ändert das nichts. Vom »tiefsten Schmerz« vermag sie zwar nicht zu erzählen. Doch immerhin die Erinnerung an ihn hält sie wach. Terezín – Theresienstadt

Anne Sofie von Otter, Christian Gerhaher, Bengt Forsberg, Daniel Hope u. a. (DG 477 6546)

Das verstörende S/W-Meisterwerk über die Leiden des deformierten John Merrick als zur Schau gestelltes Jahrmarktmonster ist zugleich eines über die Anfänge der Schaulust des Kinos

Michael Powell: Augen der Angst – Peeping Tom Universal Pictures; 1 DVD, 97 Min. Der Film über den psychopathischen Kameramann (delirierend gespielt von Karlheinz Böhm), der davon besessen ist, die Todesangst in den Augen sterbender Frauen zu filmen) wurde noch in den Sechzigern in Großbritannien verboten

François Truffaut: Der Wolfsjunge Fox; 1 DVD, 81 Min. Die Geschichte vom jungen Arzt Jean Itard (Truffaut), der ein sprachloses, »wildes« Kind liebevoll für die Zivilisation rüsten möchte, hat Truffaut seinem Lieblingsschauspieler Pierre Léaud gewidmet, den der Regisseur ebenfalls als Jungen entdeckt und zum Film gebracht hatte

13. September 2007

FEUILLETON

DIE ZEIT Nr. 38

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LIEBE ALS WIDERSTAND: Tang Wei und Tony Leung in Ang Lees »Lust/Caution«

Foto (Ausschnitt): © Tobis

Zu erschöpft für all den Sex Ausgebrannte Typen ohne Familienleben: Ein Irakkriegsfilm von Paul Haggis und Ang Lees Widerstandsschnulze »Lust/Caution« bei den Filmfestspielen in Venedig VON KATJA NICODEMUS

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ie Filmfestspiele von Venedig haben schon die Vermutung genährt, dass derzeit das amerikanische Kino von resignierten und psychotischen Helden, von großen Depressiven bevölkert wird (ZEIT Nr. 37/07). Nun stellt sich die Frage, wie es bei den Helden zu Hause aussieht. Wer wartet eigentlich auf Brad Pitt, wenn er als Jesse James heimreitet? Und warum kommen Susan Sarandon und Tommy Lee Jones als Ehepaar aus In the Valley of Elah nicht auf die Idee, sich dem Tod des Sohnes gemeinsam zu stellen? In Paul Haggis’ Irakkriegsfilm ist Sarandon nur in drei, vier Kurzauftritten und zumeist am Telefon zu sehen. In ihrer Familie wird alles, auch die Dosierung von Trauer und Verzweiflung, vom Vater und Exmilitär geregelt. »Nie wäre unser Sohn in den Krieg gezogen«, sagt Sarandon einmal, »wäre es in diesem Haus nicht die einzige Möglichkeit gewesen, sich als Mann zu fühlen.« Ähnlich schattenhaft und irgendwie ungeschlechtlich wirkt die Ehe des großen Räubers und Revolvermannes in Andrew Dominiks Spätwestern Die Ermordung von Jesse James durch den Feigling Robert Ford. Wenn Brad Pitt, der für die Rolle mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet wurde, im Film einmal allerliebst mit seinen Kindern spielt, fragt man sich, wie diese wohl entstanden sind. Halb unsichtbar schleicht Frau James mit ihrer Schürze durch ein seltsam steriles Haus. Und George

Clooney hat in dem Thriller Michael Clayton einen Sohn, aber schon lange keine Frau mehr. Leider können wir uns nicht damit beruhigen, all diese Ex-, Halb- und Nichtbeziehungen als populärkulturelles Krankheitsbild der angeschlagenen amerikanischen Nation abzutun. Nicht hoffnungsfroher sah auf den Lido-Leinwänden das internationale Geschlechterverhältnis aus. Das Kino, so scheint es, hat als Schlachtfeld der Liebe ausgedient. In Venedig begegnete man nur noch müden und enttäuschten Kriegern und Kriegerinnen. Dass Ang Lees Film Lust/Caution, dem Gewinner des Goldenen Löwen, der Ruf seiner Sexszenen vorauseilt, führt zu falschen Erwartungen. Lees Kostümfilm spielt im japanisch besetzten Shanghai der vierziger Jahre. Eine junge Widerständlerin inszeniert eine Affäre mit einem Kollaborateur, um dessen Ermordung vorzubereiten. Aber gegen ihren Willen entwickelt sie Gefühle für den verschlossenen Mann, einen Sadisten und Folterer. Jawohl, die Sexszenen sind lang und beeindrucken durch die Spannung zwischen Entfesselung und ornamentaler Inszenierung. Und ja: Einmal ist Tony Leungs Penis im Halbschatten zu sehen. Aber Lust/Caution handelt keineswegs von der Überwindung der Fronten und Ideologien, kurz: der Fremdheit durch sexuelle Obsession. In diesem Film ist Sex die einzig mögliche Sprache zwischen einem Mann und einer Frau, die in zwei

verschiedenen Welten leben. Es ist eine Sprache ohne Zukunft oder Vergangenheit, eine Beschwörung des reinen Moments, ein verzweifeltes Körpertreffen im Zentrum einer Geschichte, die nur in Tod und Trauer enden kann. So überhöht die Orgasmen, so perfekt das Licht, so symmetrisch und gummigleich sich Ang Lees Paar in fantasievollen Stellungen arrangiert – manchmal ist man auch froh, wenn ein Film seine Hauptfigur auf den schnöden Boden der Tatsachen führt. In Abdellatif Kechiches Film La Graine et le mulet (Spezialpreis der Jury) ist der Held so sehr mit Überleben beschäftigt, dass ihm für Sex keine Kraft bleibt. Unermüdlich läuft Herr Slimane durch die südfranzösische Hafenstadt Sète, um Lebensgefährtin und Exfrau, Töchter und Stieftochter, Enkel und Schwiegersöhne zu einem großen Familiengewebe zu verbinden. Was er an der einen Stelle flickt, reißt an der anderen wieder ein. Ein schwimmendes Couscous-Restaurant soll das große Projekt am Ende seines Lebens werden. Aber auch hier kommt Slimane seine Familie in die Quere, deren Zukunft er doch eigentlich sichern will. La Graine et le mulet ist das lebendige, mit ungemein agiler Kamera gefilmte Porträt eines Mannes, der nicht aufgibt, obwohl er eigentlich keine Chance mehr hat. Am Ende wird ein junges Mädchen mit einem langen Bauchtanz die Geschichte retten.

Erotik als Mittel zur Betriebs- und Familienrettung, Sex als Waffe, erstarrte Ehen, Paare, die nach der Reproduktion nur noch nebeneinander herleben. Wie erholsam ist es doch, dass Todd Haynes das alte Geschlechtergewurschtel in seinem Bob-Dylan-Film I’m not there (ebenfalls Spezialpreis der Jury) von Anfang an transzendiert. Er verteilt Dylans Lebens- und Schaffensphasen auf sechs Darsteller; Cate Blanchett übernimmt die Rockphase. Sie ist ein zugleich ruppiger und zerbrechlicher Dylan. Ein Dylan, der schon immer eine Frau, oder Cate Blanchett, die schon immer ein Mann war. Danach erschien es ganz natürlich, dass sich Brad Pitt bei der Entgegennahme des Darstellerpreises von einer Frau und Blanchett von einem Kollegen vertreten ließ. Hätte Heath Ledger seine/ihre Dankesrede nicht mit einer freundlichen, aber überflüssigen Feststellung begonnen, wir hätten es fast nicht bemerkt: »Ich bin nicht Cate Blanchett.«

" SEHENSWERT »Karger« von Elke Haucks. »Tuyas Hochzeit« von Wang Quan’an. »Am Ende kommen Touristen« von Robert Thalheim. »The Dixie Chicks: Shut up & Sing« von

Barbara Kopple und Cecilia Peck

Nutzt diese Schätze gemeinsam! Ein Streit über die Rückgabe von Kulturgütern entzweit Polen und Deutsche. Plädoyer für mehr Nachsicht und Verständnis

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er große Lesesaal der Jagiellonen-Universitätsbibliothek in Krakau scheint wie aus einer college novel von C. P. Snow in die Wirklichkeit unserer Zeit hineinkopiert. Der fußballfeldweite, von einer Galerie gesäumte Raum bewahrt den internationalen Stil der dreißiger Jahre ganz ungestört und rein. Die friedliche Herde der Schreibtische, mit grünem Leder bezogene Arbeitsflächen, Papiere und Bücherstapel, diskret beleuchtet von altmodischen Kranlampen. An manchen Tagen sieht man von einer kleinen, noch ganz realsozialistischen Cafeteria in die Braunkohlennebel des polnischen Herbstes. Dann wieder liegt die kontinentweit brütende Hitze des Hochsommers über der großen Ebene. Oder der Park vor der Bibliothek ist erfüllt von den Knospen und Blüten des Krakauer Frühlings, der nach den langen Wintern keinem Frühling irgendwo sonst gleicht. Tief unter der Erde, in den Magazinen der bedeutendsten Bibliothek Polens, großenteils noch unerforscht, wenig erschlossen und bei Weitem nicht vollständig restauriert, liegt eines der größten Konvolute deutscher Handschriften und Inkunabeln, die sogenannte Berlinka, um deren Besitz und richtigen Aufenthaltsort in der polnischen und in der deutschen Presse wieder laut gestritten wird, inzwischen auf beiden Seiten mit viel nationaler Emphase. Als vor über sechzig Jahren die Bombardierung Berlins begann und die Front sich näherte, wurden die etwa 300 000 Stücke aus der Preußischen Staatsbibliothek – Autografen Goethes sind darunter, der Nachlass des Ehepaars Varnhagen und fast alle bekannten Originalhandschriften Beethovens und Mozarts – nach Breslau ausgelagert. Als in der »Festung Breslau« jede Straßenecke von der SS gegen die Rote Armee »verteidigt« wurde (unter anderem mit Hilfe der Anlage eines Flugplatzes in der unersetzlichen mittelalterlichen Innenstadt), hatte jemand den Kunstsinn, den gesunden Menschenverstand und die glückliche Hand, das irgendwo in der brennenden Stadt versteckte Kistengebirge nach Krzeszów zu bringen, in eins der wundervollen, in ländlicher Vergessenheit versunkenen schlesischen Klöster. Dort ist es den Polen dann, sozusagen als bewegliches Zubehör der bedeutendsten östlichen Provinz des deutschen Reichs, nach 1945 zugefallen. Es sei damals vor allem darauf angekommen, diese Kostbarkeiten vor dem Zugriff der sowjetischen Besatzer für eine gemeinsame europäische

abschlossen und ein neues, modernistisches Kapitel aufschlugen. Dem dienten die ernsten und feierlichen Formen der Bibliothek. Das beglaubigten die allegorischen Monumentalskulpturen des Bergbaus und der Wissenschaft, die vor der MontanUniversität ein paar Schritte die Allee aufwärts im Verkehrsgetöse der Gegenwart thronen. Dieses neue Polen symbolisierten der Gebäudeberg des Nationalmuseums einen Straßenblock in die entgegengesetzte Richtung und all die Fassaden, Fensterfronten, Parkeingänge, Denkmäler und Art-déco-Friese, die damals auch in New York und Paris ein Jahrhundert der Wissenschaft, des Fortschritts und des Friedens bedeuten, prophezeien und herbeiführen sollten. Die Bibliothek wurde zu Beginn der dreißiger Jahre geplant. Eröffnet worden ist sie dann von dem deutschen »Generalgouverneur« Hans Frank. Die Jagiellonen-Universität selber war damals schon geschlossen. In ihren spätmittelalterlichen College-Gebäuden hatte sich eine rasse- und siedlungsamtliche Institution breitgemacht, ein »Forschungsinstitut für den deutschen Osten« oder so ähnlich. Man findet ihre pompösen und haltlosen VeröffentliDer deutsche Staat fordert kostbare Bücher und chungen heute noch in WühlkarKunstwerke zurück, die nach dem Zweiten Weltkrieg tons vor Krakauer Antiquariaten. Als Handapparat für den dort zu an Polen fielen. Polnische Nationalisten verfassenden Unsinn musste nun benutzen das Thema im heraufziehenden Wahlkampf eine Bibliothek herhalten, die, schon lange bevor ihr die BerlinDas mag, von Deutschland aus gesehen, ganz ka zufiel, eine der großen europäischen Bücherfalsch sein und ist außerdem wahrscheinlich eine sammlungen war. Die Bergbau-Universität war Regierungssitz unhaltbare Rechtsposition. Aber Gefühle, auch politische, sind bekanntlich weder richtig noch falsch. des generalgouvernementalen MarionettenSie sind subjektive Tatsachen. Vielleicht hilft es, die staatswesens geworden (dessen Oberhaupt in der polnischen Gefühle in dieser Angelegenheit zu- Königsburg seinen Geschäften nachhing und für mindest ein wenig nachvollziehen zu können, seine privaten Wohnzwecke ein klassizistisches wenn man den Blick einen Moment lang auf den Palais der Familie Potocki auf dem Land bestädtebaulichen Zusammenhang des Hauses rich- schlagnahmt hatte). Und das Nationalmuseum, tet, unter dem die preußischen Kunst- und Litera- ein Bau von den Ausmaßen der New Yorker Public Library, hatte man schlechterdings zur Kanturschätze eingeschreint sind. Die Jagiellonen-Bibliothek, deren Hauptgebäu- tine der generalgouvernementalen Verwaltung de gegen den Park hin in den letzten Jahren durch gemacht. Polen hatten dort keine Zugangsbeeinen historisch sensiblen Erweiterungsbau von rechtigung. Wie übrigens weder für das ganze Romuald Loegler ergänzt worden ist, liegt an der Stadtviertel noch für den angrenzenden Park zweiten der in Krakau »Alleen« heißenden Ring- und die Villenviertel jenseits der großen innerstraßen, an derjenigen, mit der die städtebaulich städtischen Wiese, auf der heute Versammlungen sehr ehrgeizigen Stadtregierungen der Zwischen- mit dem Papst oder die großen Popkonzerte kriegszeit die Baugeschichte des 19. Jahrhunderts stattfinden. Zukunft zu retten und den Bestand überhaupt zusammenzuhalten, der sonst irgendwo in Moskau oder St. Petersburg kaputtgegangen wäre – oder verschleudert auf irgendwelchen Auktionen, um die Finanzlöcher der sozialistischen Ökonomie zu stopfen. Das sagte mir 1999, als ich zum ersten Mal hinkam, der damalige Leiter der Bibliothek in lupenreinem Deutsch. Im Übrigen sei man vollkommen offen für deutsch-polnische Ausstellungsprojekte und für jeden Forscher von wo auf der Welt auch immer, der sich mit den Beständen beschäftigen wolle. Was damals schon hinter dieser (ganz ehrlich gemeinten und vielfach durch tatkräftige Zusammenarbeit bewiesenen) Offenheit unausgesprochen stand, war das starke und naive Gefühl, die Kultur und die konservatorische Sorgfalt zu einer Zeit auf seiner Seite gehabt zu haben, als man sich in Deutschland um nichts anderes gekümmert habe als erst um den Endsieg und dann um Wirtschaftswunder und Westintegration.

Die »Berlinka«

VON STEPHAN WACKWITZ

Man lässt sich leicht ein wenig von einer unwillkürlichen Wut mitreißen, wenn man in der Gegend der Krakauer Universitätsbibliothek spazieren geht und sich die betreffenden historischen Zusammenhänge klarmacht. Es ist vermutlich genau diese Wut, die viele polnische Politiker, Publizisten, Historiker, Wähler und Bürger angesichts der deutschen Rückerstattungsforderungen erfasst, wie berechtigt oder unberechtigt diese auch immer sein mögen. Manchmal hilft Spazierengehen eben auch beim Verständnis von Politik. Die von den Polen gefundene und vielleicht gerettete Berlinka ist ein Realsymbol eines Gefühls. Auch juristisch begründbare Forderungen werden an dem in ihr verkörperten Zorn noch lange zerbrechen. Diese Bücher und Manuskripte sind eine Art Beweis für etwas Vergangenes, das immer wieder lebendig wird. Die Polen werden das, glaube ich, in absehbarer Zeit nicht aus der Hand geben können. Auch die Politik von Demokratien ist oft nicht rational. Unterdessen werden die Manuskripte in den unterirdischen Magazinen ihr seltsames Leben in der Erinnerung zweier Völker und ihre Reise durch die Zeit fortsetzen. Es gibt menschenfreundliche und fortschrittliche Ideen, wie man sie gemeinsam nutzen könnte, gerade in Krakau, wohin es von den meisten Orten auf der Welt auch keine weitere Reise wäre als nach Berlin. Man könnte diesen Büchern und Handschriften ein schönes Gebäude am Rand des Jordan-Parks bauen. Man könnte eine europäische Forschungseinrichtung gründen. Die Berlinka wäre dann zwar nicht wieder unser, aber sie würde uns in einem weiteren und vielleicht höheren Sinn wieder gehören. Die derzeitigen Restitutionsforderungen sind von der Art, hinter die man nicht zurückgehen kann, ohne politisch das Gesicht zu verlieren. Mir aber werden, wohin es mich immer verschlagen wird, gewisse Herbstnachmittage in Erinnerung bleiben, die ich in der Nähe der Berlinka verbracht habe, während es im Jordan-Park langsam dunkel wurde und im großen Lesesaal der Krakauer Jagiellonen-Bibliothek die Lichter angingen. Es wird noch für lange Zeit genügen müssen, dass man als deutscher Forscher oder Leser nur in diesem Sinn sagen kann, dass das unsere Bücher und Handschriften seien. Der Autor leitete bis vor Kurzem das Goethe-Institut in Krakau; jetzt arbeitet er für die Dependance in New York

FEUILLETON

Der kleine Weltfriedhof Dimiter Gotscheff spielt in Berlin »Hamletmaschine« VON PETER KÜMMEL

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chon im Titel liegt die Kraft. 2001 brachte die Berliner Volksbühne eine Produktion mit dem Titel Erniedrigte und Beleidigte heraus (Regie: Frank Castorf, nach dem Roman von Dostojewskij), und Mitglieder des Hauses raunen, man habe sich damals für dieses Werk allein deshalb entschieden, weil es sich wunderbar als Schlagzeile für die Lage in Deutschland eignete. Was Heiner Müllers Stück Hamletmaschine (1977) angeht, so arbeitete der Autor selbst an der Verbreitung der Meinung, der Stücktitel verdanke sich den Initialen des Autors, HM. Offenbar gefiel es dem 1995 verstorbenen Müller, sich selbst als Fleischesund Geistesmaschine zu sehen, als eine Gespensterkonstruktion aus Empfindsamkeit und Mechanik: leidende Seele, grinsendes Skelett. Auf der Höhe seiner Formulierungskunst war Müller immer dann, wenn er individuellen Schmerz (Hamlet) gegen das Leere, Unerbittliche der Geschichte (die Maschine) ausspielte. Die Welt drehe ihre Runden im Gleichschritt der Verwesung, so lautet ein Sprachbild in der Hamletmaschine, »gib mir ein Mauseloch und ich ficke die Welt«, heißt es im Text, und: »Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich wohnen kann in meiner Scheiße.« Am Deutschen Theater Berlin hat jetzt Dimiter Gotscheff die Hamletmaschine inszeniert. Gotscheff, soeben von einer Kritikerjury zum Regisseur des Jahres gewählt, hat 1964 in Ost-Berlin Heiner Müller kennengelernt und ist seinen Texten seitdem verfallen. Die Hamletmaschine inszeniert er nicht nur, er spielt sie auch. Und das ist ein bisschen so, wie wenn in Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie der für den Einsatz einer berüchtigten Foltermaschine zuständige Offizier sich am Ende, um deren Wirkung zu feiern, in die Maschine selbst einschirrt. Gotscheff lässt also Müllers Sprache auf sich wirken. Vorsichtig behaucht der Bulgare den deutschen Text. Er liest ihn wie eine uralte Überlieferung, summt ihn, schmeckt ihn mit geschürzten Lippen nach, ein gespensterhafter Mann in Anzug und Krawatte. Er zerrt an seinem Haar wie an einem Bündel weißer Marionettenfäden, welche verschlungen, widerstreitend, nutzlos in seinem Schädel münden. Es ist eine Qual, aber auch eine Lust. Dieser Mann ist weniger bei Heiner Müller, dem Herold des Todes, der abtickenden Zeit, als bei Samuel Beckett, dem Zauberer der Starre, der stillstehenden Zeit. In die Bühne (Mark Lammert) sind zehn offene Gräber eingelassen. Die Untoten der Geschichte schlüpfen hier ungesehen ein und aus. Dimiter Gotscheff umschlurft den kleinen Weltfriedhof so, wie der Kuttenmensch aus Becketts Stück Quadrat das Loch im Bühnenboden umkreist, das ihn verschlingen wird. Ihm ist nicht unbehaglich dabei. Es gibt in Gotscheffs Inszenierung auch eine Ophelia, Valery Tscheplanowa spielt sie: eine Frau im Hängerkleid, eine Ertrinkende, die einem in der Luft baumelnden Mikrofon sich entgegenreckt und spricht, als beziehe sie aus Heiner Müllers Text letzte Luftreserven. »Man muss«, sagte Müller, »die Toten befragen, bis sie hergeben, was an Zukunft mit ihnen begraben wurde.« So macht es Gotscheff nun mit Müller. Und sei es nur, um in dessen Schwärze Frieden zu finden. Müller hatte sein Stück über Hamlet einst als großes Drama geplant, 200 Seiten, lange Dialoge zwischen Hamlet und dem toten Horatio, von stalinistischen Säuberungen sollte die Rede sein, vom ungarischen Aufstand, aber auch vom Verhältnis zum eigenen Vater: ein Weltstück. Geblieben sind neun Seiten. »Das ist eigentlich das Ende des Dramas«, sagte Müller. »Die Maschine steht, das Öl läuft raus und die Zahnräder knirschen.« Das gilt vermutlich noch immer. Die Erzählmaschine steht. Aber Müllers Öl ist unübertroffen, wenn es darum geht, sich angesichts dieses Zustandes mit Genuss die Hände zu reiben. ANZEIGE

13. September 2007

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Brighton ist voll von Londonern, die dem Lärm der Metropole entfliehen

Die 250 000-Einwohner-Stadt ist ein einziges kreatives »Network« Heute hat die Seaside etwas Kulissenhaftes, sie wirkt wie eine PR-Wand für weit größere Aufführungen. Brighton 2007 macht mit Party, mit Pop, mit seiner selbstbewussten schwulen Gemeinschaft und den großen Kulturfestivals, mit New Media und Secondhandshopping Schlagzeilen – als Modellgemeinde für eine erfolgreiche Subkultur, die bis in die feinsten Adern des Stadtkerns reicht. Als Brighton vor zehn Jahren mit dem Nachbarn Hove zur 250 000Einwohner-Stadt zusammengelegt wurde, war diese Entwicklung nicht absehbar, doch inzwischen kommt man nach Brighton auch der Künste wegen. Die Manager der großen Plattenfirmen aus dem nur 50 Minuten entfernten London gehen längst auf Einkaufstour quer durch die Clubszene, Londoner Bands nehmen den Auftritt in Brighton als zweites Heimspiel, die Blood Red Shoes wurden zu Headlinern der NME New Music Tour 2007 erklärt. Liest man die einschlägigen Musikgazetten, gewinnt man den Eindruck, in Brighton befinde sich die Pforte zu einem neuen Pop-Paradies. Das sind dann die Geschichten, die zur Aufheiterung der lädierten Schallplattenindustrie taugen – wie im Kleinen und Überschaubaren Weltgültiges entsteht. Solche Kleinstadtballaden sind schon geschrieben worden, sie handelten zumeist von Orten, die von den kulturellen Hitzewellen der Metropolen nicht erfasst worden sind – Bergen in Norwegen, das oberbayerische Weilheim oder Bristol an der Südwestküste Englands, wo Anfang der 1990er ein Bastard namens TripHop geboren wurde. Sound Of Bristol war bald ein Markenzeichen. Ein verbindlicher »Sound Of Brighton« ist bis heute noch nicht geortet worden, eine Corporate Identity fände man in diesen individualistischen Kreisen auch etwas billig. Die Musikszene in Brighton wirbt lieber mit ihrer kuriosen Vielfalt, das reicht von DJ Scotch Eggs Gabbertechno-Gemetzel auf dem Gameboy bis zum frei assoziierten Folk des Kollektivs Hamilton Yarns. Brighton darf als Musterstädchen postmodernen Networkings gelten, ein hemmungsloses Miteinander, Band-Hopping und Zweit- und Drittbandprogramm bestimmen den Pop-Alltag. Man muss nur die richtigen Orte kennen, die Knotenpunkte und gültigen Szenebörsen: die Brighton Electric Studios, das gerade mal wieder geschlossene Freebutt’s und den von einem JohnPeel-Besuch geadelten Edgeworld Record Shop, der im Dachgeschoss eines Klamottenladens über dem polyglotten Treiben in den Laines thront. Bands wie das Go!Team, die Pipettes, Electric Soft Parade, die Brakes oder die Blood Red Shoes haben das Image Brightons als Pop-City von überregionaler Bedeutung gefestigt. Ihnen gemein ist vielleicht nur die unausgesprochene Übereinkunft,

DIE ZEIT Nr. 38

Secondhandästhetik eines Laptop-Nerds durchwirkt, der die 30 schon überschritten hat. Am liebsten hätte Ian Parton seine Mitstreiter in einem Wohltätigkeitsladen aufgelesen, wie die Ein-Pfund-Platten, aus denen er wertvolle Rohstoffe für seine Songs gewinnt. Dann eilte es mit der Aufstellung der Band aber, und Parton trommelte sein Go!Team über Zeitungsanzeigen, Freunde und Bekannte zusammen. Die Bandfotos sehen aus, als wären sie für den Wettbewerb »United Colours Of Brighton« entstanden, eine paritätisch besetzte Rasselbande aus Jungs und Mädels, aus Vertretern verschiedener Ethnien und Pop-Sozialisationen. Gebt dem Go!Team nur eine TV-Serie, dann wird es so berühmt wie damals die Monkees.

er nicht in Brighton lebt, ist verrückt und sollte eingesperrt werden.« Dieser Satz stammt nicht aus der aktuellen Werbebroschüre des South East England Tourist Board, sondern von Stuart Petre Brodie Mais, einem seriösen britischen Autor. Mr. Mais hat die Partywelle der frühen 2000er und den aktuellen Pop-Boom gar nicht mehr erleben dürfen, sein Brighton war das Babel der Nachkriegsära, eine wunderbare Promenadenmischung aus Lebenslust und Lebensqualität. Aber Brighton ist immer noch Spitze, behaupten jüngere Erhebungen. 93 Prozent der Einwohner Brightons bezeichnen sich laut einer Umfrage der National Lottery als glücklich, keine andere Stadt im Königreich kann solche Quoten erzielen. Steven Ansell und Laura-Mary Carter gehören zu den Glücklichen, der Song mit dem Titel It’s Getting Boring By The Sea, den sie als das Duo Blood Red Shoes aufgenommen und auf ihre MySpace-Seite gestellt haben, solle uns nicht irritieren, sagen sie. »Brighton ist ein großartiger Ort für eine Band«, versichert Steven beim Interview. Wir sitzen in einem Café in Brighton Downtown, nicht weit von der Stelle, an der das gusseiserne Skelett aus dem Wasser ragt, das einmal der West Pier war. Eine bildmächtige Reminiszenz an Jugendtage – der Strand von Brighton hatte ihn als Teenager angezogen, damals, als er noch gar nicht hier lebte.

Das Paradies am Strand England swingt am Ärmelkanal: Brighton hat sich zu einem Zentrum der Popmusik entwickelt VON FRANK SAWATZKI

Das Duo BLOOD RED SHOES am West Pier

sich dem Reglement des Brit-Rock zu verweigern, den ewig gleichen Sound- und Adoleszenzmustern, denen die erfolgreichsten Bands aus London, Leeds und Manchester seit Jahren hinterherlaufen. Brighton-Pop ist im besten Fall Überspitzung, Verzerrung, fröhliche Verzweiflung. Man kann das aus den rot glühenden Disco-Grunge-Stücken der Blood Red Shoes heraushören, aus den vollkommen übersteuerten Indie-Hymnen des Go!Teams oder den hochdramatischen Kitschkunstwerken der Pipettes. Das Vergnügen klingt gefährlich in Brighton, als hinge die Kunst manchmal mit dem Herzen über den hübschen Klippen. Die Blood Red Shoes zehren in ihren Songs von den existenziellen Verwerfungen, die ihre Bandkarriere schmücken. Letztes Jahr haben sie reinen Tisch gemacht, ihre zerstörerischen kleinen Jobs geschmissen, die Wohnungen verloren – mit ihren Schlafsäcken zogen sie ins Aufnahmestudio. Das war die Stunde null, der Abschied vom Bandgedanken: Steven, der Schlagzeuger, und Laura-Mary, die Gitarristin, glauben an die geheimen Kräfte der Improvisation und arbeiten im Duo an einem katatonischen Gepolter. Die Blood Red Shoes könnten die Kinder von Nirvana sein, aber sie haben sich nun mal auf die Tanzfläche verirrt. Das passiert

jedem irgendwann einmal in Brighton. Entweder in den Tanzschuppen unter den Promenaden, wo die Touristen in Techno-Schleifen bis in den Morgen rotieren, oder in Szeneläden wie dem GlamourKitsch-Lokal Sussex Arts Club oder dem für sein kampflustiges Publikum bekannten Pav Tav. Die London Road etwas abseits des Zentrums sieht gleich eine Ecke abgerockter aus als die Partymeile. Hier wohnt Go!Team-Gitarrist Sam Dook in einer Musiker-WG mit Gemeinschaftsküche, improvisierten Ministudios, hintendran der Piratensender 4A. Die allererste Go!Team-Session fand in Sams Schlafzimmer statt, die Notlösung wurde zum Band-Statement: Homerecording als Absage an die professionelle Verflachung der Popmusik. »Tanzmusik ist zu präzise, zu ernst. Fuck up the sound«, sagt Bandleader Ian Parton. Go!Team-Songs werden mit alten Grundig-Mikrofonen aufgezeichnet und konsequent in den roten Bereich gefahren. Auf dem neuen Album Proof Of Youth kumulieren Bubblegum-Pop und Noise-Rock zu einem ohrenbetäubenden, fast schon absurden Beatspektakel, zusammengesetzt aus Schleifen und Samples, Cheerleader-Gesängen und hinreißend schepperndem Schlagzeug. Dazu könnten Teenies wie bei den Beatles kreischen, wäre das Ganze nicht von der

Foto (Ausschnitt): Frank Sawatzki

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Aber in Brighton kann man es auch weit bringen. Das Seebad hat eine lange Tradition als Vergnügungsmeile der Briten, von den Lords und Earls und Dukes, die Brighton zu ihrer Badewanne deklarierten, bis zum Parka-Pop-Aufbruch der Sixties. In den frühen Sechzigern spielten The Who (anfangs als The High Numbers) zur Unterhaltung in den Florida Rooms am Pier auf, das war noch vor den sportlichen Raufereien, die sich Mods und Rocker 1964 am Strand von Brighton lieferten. Gegen die Megasause allerdings, die der Brightoner DJ Fatboy Slim im Juli 2002 mit einer Viertelmillion Partytouristen auf dem Kieselstrand feierte, nimmt sich der »Brighton Rumble« von 1964 doch eher wie ein Provinzereignis aus. Das Ergebnis damals: 59 Festnahmen und eine Boulevardzeitungsschlacht um die besten Headlines. Fürs Rock-undPop-Folklore-Album festgehalten in Bild und Ton: Quadrophenia, die Geschichte der Mods als Jugendkultur-Saga mit Partyhintergrund. Aber erst Lokalheld Fatboy Slim machte das Gebiet zwischen West und Palace Pier zur Partymeile Südenglands. Brighton wurde zum Synonym für den Bums, den die Hauptstädter suchten, und zum Fluchtpunkt eines alternativen Lebensstils, den man in London teuer bezahlen musste. Heute sind 75 Prozent des Wohneigentums im Besitz von Londonern – die Kaste der Kreativen hat sich ihr London by the sea »schön« gemacht, mit Coffee- und GiftShops und Organic-Food-Läden. Die Rock-undPop-Schickeria nimmt am »Besser leben in Brighton«-Programm teil – Nick Cave, Jimmy Somerville und Paul McCartneys Ex Heather Mills. Der aktuelle Bandboom markiert die jüngste Etappe der Invasion der Hauptstädter, Bands und Labels verlagern ihr Domizil nach Brighton, der guten Rock-’n’-Roll-Bedingungen wegen. Davon erzählen die Geschichten von Kooks, Maccabees und FatCat Records – das Label, das vor sieben Jahren schon von London in den Süden übersiedelte und unermüdlich Untergrundarbeit leistet. Was ist an Brighton so anziehend? »Der Enthusiasmus für Musik«, sagt Steven Ansell. »Es gibt Aufnahmestudios, Proberäume und tolle Clubs, alles auf engem Raum. Du musst nicht durch die halbe Stadt reisen wie in London. Für die Engländer ist Brighton eine Hippiestadt, Bohemia by the sea.« Die Mods sind hier die Hippies, die Studenten die Könige und die Touristen Alltag. An den Sonnenmilch-Tagen schieben sie sich alle durch die Gassen und die prachtvollen Straßen hinter der Promenade mit ihren Regency-Bauten. Und die Kinder steuern zielstrebig auf die Lädchen zu, deren Fassaden kaum mehr lesbar für die örtlichen Zuckerstangen werben: Brighton Rocks. Das könnte ein Werbeslogan für die Musikstadt Brighton sein. »Wir lassen die ›Brighton Rocks‹ den Touristen, sie halten die Stadt am Laufen«, sagt Alex White, Gitarrist und Organist von Electric Soft Parade und den Brakes. Das halbe Jahr ist Alex mit seinen Bands auf Tournee, und wenn er zurückkommt, muss er tief durchatmen. »Brighton ist meine Stadt, mein New York. Ich liebe meine Stadt immer wieder aufs Neue. Und ich weiß nicht einmal, warum.« Go!Team: The Proof Of Youth (Memphis Industries/Coop Music); Blood Red Shoes: I’ll Be Your Eyes (V2 Records); Electric Soft Parade: No Need To Be Downhearted (Truck Records)

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DIE ZEIT

Nr. 38

LESERBRIEFE

13. September 2007

Schuldig sind nur die Mörder

Anton Braith war Biberacher

Interview mit Helmut Schmidt: »Ich bin in Schuld verstrickt«,

S. Koldehoff: »Macht der Boom die Galeristen reich?«,

DR. RAINER HUTTERER, BONN

Das Interview veranlasst mich als den damals für die polizeilichen Maßnahmen in Nordrhein-Westfalen verantwortlichen Innenminister zu einer kurzen Bemerkung. Den Verlust des Fernschreibens mit dem zutreffenden Hinweis auf einen möglichen Aufenthaltsort Schleyers haben nicht »kleine Dorfpolizisten« verursacht. Es ist nachweislich in der Einsatzleitung eingetroffen, die das Bundeskriminalamt im Gebäude des Polizeipräsidenten in Köln eingerichtet hatte. Es konnte nicht aufgeklärt werden, wie es dort verloren ging. Die von dem damaligen Ministerpräsidenten Strauß geäußerten Gedanken über die mögliche Behandlung der Gefangenen, die aus Stammheim freigepresst werden sollten, sind von Herrn Bölling in der Süddeutschen Zeitung vom 30. August dieses Jahres im Einzelnen dargestellt worden. Seine Schilderung stimmt mit meiner Erinnerung überein.* Es ist erstaunlich, wer sich in den Folgejahren gerühmt hat, »als Offizier mit der Erfahrung des 2. Weltkriegs« maßgeblich

an den Entscheidungen beteiligt gewesen zu sein. Mir ist unauslöschlich in Erinnerung, dass die teilweise beteiligten Vertreter der Opposition ausnahmslos und ständig betonten, dass sie zwar Vorschläge machten, dass aber die Verantwortung für alle Maßnahmen ausschließlich bei der Bundesregierung liege. Irgendeine Verantwortung wollte keiner der Herren übernehmen. Ich bewundere unverändert Bundeskanzler Schmidt für die Nervenstärke, Disziplin und Konsequenz, mit der er die Sitzungen der Großen und Kleinen Lage leitete, keine Emotionen, Abschweifungen oder Grübeleien zuließ und damit die sachlich notwendigen Entscheidungen sicherte. DR. BURKHARD HIRSCH, DÜSSELDORF

* Klaus Bölling, damals Regierungssprecher und Mitglied des Krisenstabes, schrieb: »Strauß verwies in jener Sitzung darauf, dass die RAF einen ›Kombattantenstatus‹ beanspruche, den einer ›kriegsführenden‹ Partei. Wenn man sich darauf einlasse, könne man doch nach jedem neuen RAFMord einen der Terroristen ›standesrechtlich‹ erschießen. Da ich ihm gegenüber saß, konnte ich, wie alle anderen, an seiner Mimik und an seinem Tonfall erkennen, dass es sich um eine krude Pointe handelte. Niemand hat das ernst genommen. Strauß selber nicht.« Die relativierende Einordnung und Gewichtung der Ereignisse von 1977 in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland durch Helmut Schmidt als Beteiligten hebt sich wohltuend von der medialen Aufgeregtheit ab, die auch Giovanni di Lorenzo an den Tag legt. Die Staatskrise, die es nicht gegeben hat, wird bis in unsere Tage von den Medien herbeiinterpretiert (siehe Diskussion um die Begnadigung des letzten RAF-Terroristen). Unser Staat hat sich als gefestigter Rechtsstaat bewiesen. ULRICH BOTT, HADEMARSCHEN

Selten habe ich ein Interview derart interessiert gelesen. Meine Generation hat

weder einen Krieg noch den Terrorismus der RAF miterleben müssen; aus Erzählungen, Erinnerungen und Legenden müssen wir versuchen, uns ein Bild der Vergangenheit zu machen. Jenes Interview, verbunden mit den Sachinformationen Ihrer Redakteure, hat mir sehr geholfen. Auch wenn Schmidt den 2. Weltkrieg nur am Rande anspricht: Er schafft es, die Grausamkeit eines Krieges in Worte zu fassen, indem er sie gerade nicht in Worte fasst: »Der Krieg war eine große Scheiße.«

Den Tiermaler Anton Braith als »Münchner Maler« zu titulieren tut einem Biberacher schon weh. Braith lebte wohl zusammen mit seinem Freund Mali in München, stammen tut er aber aus – na, woher wohl? –, richtig: aus Biberach,

CLEMENS OLESCHINSKI AACHEN

Die Frage ist abgedroschen

Stranguliert

Lutz Wingert: »Der Geist bleibt unfassbar«, eine Erwiderung auf den Philosophen Thomas Metzinger, ZEIT NR. 36

Elisabeth Niejahr: »Der wahre Altersunterschied«, ZEIT NR. 36

Es ist auffallend, dass nahezu alle Kritiker der Neurowissenschaft aus Philosophie, Theologie, Psychologie und Jurisprudenz an einer Denksperre zu stehen scheinen, – frei nach Christian Morgenstern: „Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf“. Wingert räumt zwar ein, dass es lohnenswert sein könne, über die Frage der Natur des Geistes weiter nachzudenken. Dabei dürfe man aber das Denken nicht gleich wieder als biophysikalische Ereigniskette auffassen. Ich meine, dass eine ganzheitliche Erfassung des menschlichen Lebens und Sterbens und ihre Verwurzelung in der Geschichte allen Lebens, der genetischen Substanz, der Prägung durch Erziehung und andere äußere Einflüsse zu mehr Selbstverständnis, zu Glauben und zu Unabhängigkeit führen werden.

Ich bin dieser Diskussion inzwischen überdrüssig. Die Frage »Ist der Geist bloß Biologie?« ist abgedroschen. Es tut sich mehr auf diesem Feld. Die Naturalisierung des Geistes ist seit dem 19. Jahrhundert ein Dauerthema, und statt von Herrn Wingert einmal mehr eingebläut zu bekommen, dass das Geistige keine biophysikalische Ereigniskette ist, erführe ich lieber etwas über das Besondere an zeitgenössischen Spielarten der Naturalisierung, zum Beispiel über Forschungen im Bereich der Neuroplastizität oder die neurobiologische Modellierung von Geisteskrankheiten in Tierexperimenten. Frische Perspektiven, auch auf philosophische Fragen, ergeben sich aus der Auseinandersetzung mit der oft grauen Wirklichkeit der Labors und nicht durch das Wiederkäuen von Reizthemen.

Was mich an meiner schon jetzt erzwungenermaßen gelebten »Alters«-Armut besonders erschüttert, sind weder das latente Hungergefühl oder die eisige Wohnung im Winter noch der Ausschluss von Kulturgenüssen und Mobilität, es ist der Verlust der Großzügigkeit. Stattdessen wird die Kreativität durch kleinliche Rechnerei stranguliert. Selbst politische Beteiligung kostet viel Geld – meine Fähigkeit, unsere Demokratie mitzugestalten, kann ich nur sehr eingeschränkt entfalten. Da schleicht sich allmählich dann der eine oder andere radikale Gedanke ein.

GERD KRAMER, SCHÖNHORST

DR. MED. NICOLAS LANGLITZ, BERKELEY/USA

CHRIS SIMEON BERLIN

wo er auch 1905 gestorben ist und beerdigt wurde. Sein und Malis Nachlass samt den originalen Ateliers ist im Biberacher Braith-MaliMuseum untergebracht. DR. WILFRIED FORSCHNER BIBERACH

Matthias Kalle: »Wie wird der Herbst?«,

MICHAEL GEUENICH (19 JAHRE, STUDENT), BRÜHL

Wenn der ehemalige Kanzler im Zusammenhang mit der Entführung Schleyers von einer eigenen Mitschuld spricht, ist dies mehr als weit hergeholt. Beleg hierfür ist die seinerzeitige Ablehnung einer von der Familie Schleyers beantragten einstweiligen Verfügung durch das Bundesverfassungsgericht. Schuld haben die, die gemordet haben. Mitschuld trifft aber den Wehrmachtsoffizier, der Rädchen in der Maschinerie des Vernichtungskriegs war. Deren individuelles Maß von außen zu erfassen oder zu beurteilen ist kaum möglich, zu wenig weiß man über die Handlungsspielräume, die Schmidt hatte oder auch nicht hatte. Trotzdem bleibt die Frage, ob einer, der nach eigenem Bekunden kein Nazi war, aber alliierte Piloten, deren Einsatz wir doch die Freiheit in Deutschland und Europa mitverdanken, »noch und noch« abgeschossen hat, nicht besser danebengezielt hätte. In diesem Kontext steht bei Schmidt die Nerven stählende Erfahrung im Vordergrund, die die ehemaligen Kriegsteilnehmer auszeichne und entscheidungsstark mache. Dieses doppelte Nichterkennen rechtfertigt vielleicht das zunächst reißerisch scheinende »in Schuld verstrickt« im Titel des Interviews, mit seiner Konnotation »ausweglos«.

MAGAZIN NR. 36

Einfach abschalten!

Foto (Ausschnitt): Marcus Gloger/JOKER

Hut ab vor Helmut und Loki Schmidt und dem Interviewer Giovanni di Lorenzo für dieses quälende, aber aufschlussreiche und spannende Gespräch. Hätten doch unsere Eltern damals so offen mit uns geredet! Verständlicherweise beurteilt der frühere Bundeskanzler den Deutschen Herbst aus seiner persönlichen Erfahrung heraus. Dabei kommen die Erlebnisse der einfachen Bürger, die mit der zunehmenden Repression des, wie Helmut Schmidt jetzt bedauert, zu sehr mit Altnazis durchsetzten Staatsapparates leben mussten, zu kurz. Die Jagd auf eine ganze Generation von jungen und antiautoritär gesinnten Deutschen hat damals die politische Klasse nachhaltig beschädigt. Insofern war der Deutsche Herbst ein dramatischer Einschnitt in der deutschen Nachkriegsgeschichte.

ZEIT NR. 36

Lieber Herr Kalle, der Herbst wird wunderbar, und Sie werden nicht in Depressionen verfallen, wenn Sie ein paar Tipps beherzigen: Erstens, entsorgen Sie aus Ihrer Umgebung alles, was mit Fernsehen zu tun hat. Halten Sie sich fern. Zweitens, nutzen Sie die gewonnene Zeit, und lesen Sie Peter Bieri. Oder um ins Theater oder ins Kino zu gehen, um zu schreiben, was

ZEITMAGAZIN LEBEN NR. 36

Spaß macht, um in Ruhe ein paar Weine des neuen Jahrgangs zu probieren … Oder einfach, um ein bisschen zu bummeln. Das wirkt garantiert antidepressiv. Ich habe seit Jahrzehnten nicht ferngesehen und war immer relativ gut drauf. Zu allen Jahreszeiten. Von Depression nie eine Spur. Herzliche Grüße von JÜRGEN NAGEL HEILIGENBERG

Vorbild Oxford

Laufburschen mit Hungerlohn

Ulrich Herbert« »Kontrollierte Verwahrlosung«, ZEIT NR. 36

Gunhild Lütge: »Lohndrücker unter Druck«

Professor Herbert kann ich aufgrund meiner Studienerfahrungen in Oxford nur zustimmen: Das dortige Bachelorstudium der Geisteswissenschaften (zum Beispiel der Fächer Philosophie, Politik- und Wirtschaftswissenschaften – PPE) besteht aus universitären Vorlesungen, konsolidierenden Seminaren sowie wöchentlichen Tutorials. Letztere bilden das Herzstück des Studiums und verlangen die (überprüfte!) Abarbeitung einer Leseliste mit bis zu 15 Büchern pro Fach und Woche, einen Essay sowie den Vortrag und die Disputation der Hauptthese dieser Essays in Form eines Streitgesprächs mit einem Kommilitonen und dem Tutorial-leitenden Professor. Dass die Essays synthetisieren müssen und keinesfalls nur reproduzieren dürfen, lernt man häufig bereits in der Oberstufe jeder englischen Schule. Nur so ist ein Lernfortschritt und die Wissensakkumulation möglich. Die wöchentlichen Tutorial-Streitgespräche führen vom ersten Tag in das akademische Leben ein. Das ist das Geheimnis der englischen (Elite-)Universität. Übertragbar ist diese Methode auch auf Deutschland. Man könnte mit der Reform der Hauptseminare beginnen: Zumindest die unabdingbare Lesepflicht ist mit keinen Mehrkosten verbunden. Die Studiengebühren von 1000 Euro pro Jahr wären sinnvoll in zusätzliches Lehrpersonal investiert. Übrigens: In Oxford musste ich mich schriftlich verpflichten, während meines Studiums keiner bezahlten außeruniversitären Tätigkeit nachzugehen. Das College gewährt unbürokratisch Kredite. Nur so ist das intensive BachelorStudium in drei Jahren zu schaffen.

Postbote war einmal ein Ausbildungsberuf. Am Ende der Ausbildung stand eine Amtsperson, die aus ihrem Beamtenstatus ein Leben lang ihr Selbstbewusstsein und ihre Würde bezog, auch wenn ihr Einkommen deutlich unter dem eines Facharbeiters lag. Mit Hilfe der Privatisierung der Postdienste hat man den Postboten zu einem Laufburschen mit Hungerlohn gemacht, dessen Lebensunterhalt entweder mit Hartz IV aufgestockt werden muss oder, der neueste Versuch, der über die Krücke des Entsendegesetzes mit einem

JOACHIM KOOPS, KIEL

ZEIT NR. 36

Mindestlohn ausgestattet werden soll. Das »man« kann man, stellvertretend für alle Liberalisierer, an einem politischen Gesicht festmachen, an dem des ehemaligen Postministers Bötsch. Das Beispiel des Postboten zeigt, dass das private Unternehmertum, das bei uns schier unbegrenztes Ansehen genießt, für viele Menschen auch Erniedrigung und Armut bringt. Das Heer der Zeitarbeiter ist auch nicht weit davon entfernt. HANS HOLLAND AUGSBURG

Und noch mehr Chinesisch Deutschlandkarte: »Wo lernen Schüler chinesisch?«, ZEITMAGAZIN LEBEN NR. 36

Jeden Donnerstag ist die Vorfreude groß: wieder eine Doppelseite Harald Martenstein und Deutschlandkarte! Eloquent, amüsant und informativ – wie man es eben von einer Zeitschrift wie der Ihren erwarten darf. Doch heute war ich enttäuscht darüber, dass Sie nicht über den Hamburger Speckgürtel hinaus weiter nach Norden geschaut haben. Denn auch in Kiel, an der KätheKollwitz-Schule, wird seit acht Jahren Chinesisch unterrichtet – als schulinterne Arbeitsgemeinschaft sowie als AG im Rahmen des sogenannten Enrichment-Angebotes für Hochbegabte im Bereich der Kieler Gymnasien. SUSANNE SCHÜTZ-FAHRENHOLZ, KÄTHE-KOLLWITZ-SCHULE, KIEL

In Hamburg gibt es an drei Schulen seit 1985 Chinesisch als Wahlpflichtunterricht und seit 1987 einen Schüleraustausch mit Partnerschulen in Shanghai. Seit 2000 ist Chinesisch hier auch Abiturfach. JÜRGEN FISCHER, HAMBURG

Am Albertus-Magnus-Gymnasium Regensburg lernen die Schüler ebenfalls Chinesisch. DR. WOLFGANG JAKOB, REGENSBURG

Beilagenhinweis Unsere heutige Ausgabe enthält Beilagen folgender Unternehmen, in der Gesamtausgabe: ING-DiBa AG, 60486 Frankfurt; in Teilauflagen: Möbel-Krieger, 12529 Schönefeld; Panda Versand GmbH, 79108 Freiburg; Plan International e. V., 22305 Hamburg; Zeitverlag Beteiligungs-GmbH & Co. KG, 80636 München

FEUILLETON

13. September 2007

Foto (Ausschnitt): Courtesy Sammlung Goetz, München

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»COLLAPSED HOUSE« in Detroit, 1999

Verfall in schönster Pracht Der Kanadier Stan Douglas gilt als der große Intellektuelle unter den Film- und Fotokünstlern. Zu Recht? Eine Ausstellung in Stuttgart

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tunden, Tage, Wochen, die Kunst will einfach kein Ende nehmen. Längst sind die letzten Besucher gegangen, es wird Nacht im Museum, doch in den Sälen von Stan Douglas ist immer noch Licht. Die Projektoren spulen unverdrossen vor sich hin, lassen die Filme flackern, tagein, tagaus, fast als sollten sie ihrer eigenen Flüchtigkeit entkommen. Stan Douglas liebt das Unaufhörliche und hat es sich ausbedungen, dass manche seiner Werke rund um die Uhr laufen. Er schickt seine Filme, die oft nur wenige Minuten lang sind, in die Endlosschleife, wenn auch in eine recht spezielle. Per Computer bringt er die Filmszenen in eine stetig wechselnde Reihenfolge, und so kommt es dem Betrachter vor, als blicke er in ein Kaleidoskop – das Immergleiche immer anders. Douglas, 1960 in Vancouver geboren, gilt als der große Intellektuelle unter den Video- und Fotokünstlern, manche nennen ihn den Meister des Undurchdringlichen. Denn je verwickelter, je widerborstiger seine Werke im Lauf der Jahre wurden, desto erstaunlicher waren die Erfolge. Schon mit den ersten Kurzfilmen machte er vor gut 20 Jahren von sich reden; seit seinem Auftritt auf der Documenta 1992 ist er auch international bekannt, und viele wichtige Museen zeigen seine Arbeiten. Jetzt ist in Stuttgart erstmals eine Überblicksschau der Filme und Fotografien zu sehen, ein Künstlerkosmos, in dem E.T.A. Hoffmann und Kafka ebenso zu Hause sind wie Beckett, Freud oder Schönberg. Für diesen steht eigens ein Konzertflügel parat, halb unter einer Filmleinwand verborgen, ein

Illustration: Martin Burgdorff für DIE ZEIT

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ass ganz Peking sich auf die Olympischen Spiele 2008 vorbereitet, wissen wir. Was aber macht der Pekinger am Wochenende? Er fährt aufs Land. Das ist gar nicht so einfach, wächst die Stadt doch täglich, und man weiß nie genau, wo sie gerade zu Ende ist. Also brechen wir bereits um sechs am Morgen auf. Nach einer dreiviertel Stunde Fahrt markieren Kreisverkehre groß wie Flugfelder den Beginn des hauptstädtischen Speckgürtels; von hier führen Stichstraßen zu Villendörfern, die Yosemite Park, Golf Hills oder Caribbean Lagoon heißen. An den Abzweigungen zeigen Reklametafeln die neue Heimat reicher Chinesen in den tollsten Farben, und eine Skihalle gibt es hier auch irgendwo. Dann beginnen die Äcker, zwischen denen die Hauptstädter in ihrer Freizeit Natur spielen. Alle paar Kilometer öffnet sich ein Tor zu einem fruit picking garden, wo wir Trauben, Äpfel, Kirschen pflücken könnten. In China funktioniert der Ablasshandel in Zeiten der Klimakatastrophe wie bei uns: Wochentags kaufen die Besserverdienenden unter der graugelben Smogglocke Biogemüse, und am Sonntag geht es hinaus zur italienischen Erlebnisfarm Agrilandia, naturgemäß mit dem eigenen Auto. Immer weiter nach Norden geht die Fahrt, schon die Kaiser pflegten der Stadt in diese Richtung zu entfliehen. In immer enger werdenden Kurven win-

schwarzes, stummes Ausstellungsstück, denkt der Besucher. Dann erklingt mit einem Mal, wie von Geisterhand, eines der aufbrausenden SchönbergStücke, seine Begleitmusik zu einer Lichtspielscene von 1930. Der Effekt ist verblüffend, obwohl man natürlich weiß, dass ein Computer dahintersteckt: Niemand scheint das Klavier zu spielen, die Tasten drücken sich wie von selbst – und das darf man durchaus als eine Art Selbstbeschreibung des Künstlers Stan Douglas verstehen. Seine Kunst soll sich vom Autor befreien. Douglas stiehlt sich aus der Rolle des großen Interpreten, des genialischen Schöpfers, und greift lieber nach dem, was es schon gibt: Nimmt sich literarische Vorlagen oder Spielfilme, zerlegt, verkürzt, ergänzt sie, bis ein Wust aus Anspielungen entsteht. Alle Logik treibt er seinen Werken aus, er verknäult die Erzählfäden ins Unentwirrbare. Auch wer Stunden über Stunden vor den Filmen

zubringt, findet darin keinen überwölbenden Sinn, nichts, was festen Halt böte. Und gerade das ist es, was viele an Douglas schätzen: Sie loben ihn, weil er den Film aus dem Zwang des Narrativen befreie, weil er das Prinzip des klaren Anfangs und Endes aufbreche und jeden Anspruch auf die eine Wahrheit zurückweise. Douglas will, dass wir uns vor seiner Kunst fühlen wie ein Chamäleon, das in alle Himmelsrichtungen gleichzeitig schaut. Manchmal zeigt er zwei Filme zum selben Thema auf der Vorder- und Rückseite der Leinwand, manchmal zieht er Trennlinien ein, sodass verschiedene Zeitzonen,

Auf der Mauer Ein Wochenendausflug mit der neuen chinesischen Mittelschicht

WAS MACHE ICH HIER?

Wissen: Andreas Sentker (verantwortlich), Dr. Harro Albrecht, Dr. Ulrich Bahnsen, Christoph Drösser (Computer), Dr. Sabine Etzold, Ulrich Schnabel, Dr. Hans Schuh-Tschan (Wissenschaft), Martin Spiewak, Urs Willmann

Gründungsverleger 1946–1995: Gerd Bucerius † Herausgeber: Dr. Marion Gräfin Dönhoff (1909–2002) Helmut Schmidt Dr. Josef Joffe Dr. Michael Naumann (beurlaubt)

Feuilleton: Jens Jessen (verantwortlich), Thomas Assheuer, Evelyn Finger, Peter Kümmel, Katja Nicodemus, Dr. Hanno Rauterberg, Claus Spahn Kulturreporter: Dr. Christof Siemes Literatur: Ulrich Greiner (verantwortlich), Konrad Heidkamp (Kinderbuch), Dr. Susanne Mayer (Sachbuch), Iris Radisch (Belletristik), Dr. Elisabeth von Thadden (Sachbuch), Dr. Volker Ullrich (Politisches Buch) Leserbriefe: Margrit Gerste (verantwortlich)

Chefredakteur: Giovanni di Lorenzo Stellvertretende Chefredakteure: Matthias Naß Bernd Ulrich Chefkorrespondent: Dr. Gunter Hofmann Geschäftsführender Redakteur: Moritz Müller-Wirth Chef vom Dienst: Iris Mainka (verantwortlich), Mark Spörrle Politik: Bernd Ulrich (verantwortlich), Dr. Jochen Bittner, Andrea Böhm, Frank Drieschner, Matthias Krupa, Ulrich Ladurner, Patrik Schwarz, Michael Thumann (Koordination Außenpolitik) Dossier: Hanns-Bruno Kammertöns (verantwortlich), Wolfgang Büscher (Autor), Roland Kirbach, Kerstin Kohlenberg Wirtschaft: Dr. Uwe J. Heuser (verantwortlich), Rüdiger Jungbluth (Koordination Unternehmen), Götz Hamann, Marie-Luise Hauch-Fleck, Dietmar H. Lamparter, Gunhild Lütge, Marcus Rohwetter, Dr. Kolja Rudzio, Arne Storn, Christian Tenbrock

ZEIT-Chancen: Thomas Kerstan (verantwortlich), Julian Hans, Arnfrid Schenk, Jeannette Otto, Jan-Martin Wiarda Zeitläufte: Benedikt Erenz (verantwortlich) Reisen: Dorothée Stöbener (verantwortlich), Michael Allmaier, Stefanie Flamm, Dr. Monika Putschögl ZEITmagazin Leben: Christoph Amend (Redaktionsleiter), Jürgen von Rutenberg (Stellv. Redaktionsleiter, Textchef), Jörg Burger, Heike Faller, Dr. Wolfgang Lechner (besondere Aufgaben), Christine Meffert, Ilka Piepgras, Tillmann Prüfer (Stil), Dr. Adam Soboczynski, Tanja Stelzer, Matthias Stolz, Henning Sußebach Artdirectorin: Katja Kollmann Gestaltung: Nina Bengtson, Jasmin Müller-Stoy Fotoredaktion: Michael Biedowicz (verantwortlich), Usho Enzinger Redaktion ZEITmagazin LEBEN: Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin, Tel.: 030/59 00 48-7, Fax: 030/59 00 00 39; E-Mail: [email protected] Reporter: Stephan Lebert (Koordination), Rainer Frenkel, Dr. Susanne Gaschke, Dr. Wolfgang Gehrmann, Christiane Grefe, Dr. Werner A. Perger, Jan Roß, Sabine Rückert, Ulrich Stock (Leben), Wolfgang Uchatius, Dr. Stefan Willeke Politischer Korrespondent: Prof. Dr. h. c. Robert Leicht

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das Vorher und das Nachher, aufeinanderstoßen. Manchmal lässt er eine Geschichte aus mehreren Perspektiven erzählen, etwa in seinem jüngsten Film, Klatsassin, in dem alle Westernhelden ihre eigene Version des Geschehens erzählen. Es ist eine Kunst, die emsig darauf aus ist, sich selbst zu entlarven, und die manchmal vor lauter Selbstentlarvung kaum noch zum Sprechen kommt. Doch das ist nur der eine Douglas. Der andere hält die Bilder an und zeigt hart und scharf, was sich eben noch im Diffusen verlor. Es sind Fotografien von verblüffender Brillanz und oft so süffig komponiert, dass man sie mit den herben Stückelwerken der Filme kaum zusammenbringt. Und doch bleibt Douglas hier wie dort einem Thema besonders zugeneigt: dem Absterben, dem Tod. Besonders finster ist seine Nacht in Kassel, in einer Grotte am Herkules-Denkmal, in der die Parkverwaltung ein paar Skulpturen abgestellt hat, als sollten sie auf eine bessere Zeit warten. Douglas zeigt die muskulösen Heldenkörper, wie sie ringen, kämpfen, sich entblößen, und wie sie dem tiefgrünen Schimmer, der sie überzieht, dem angemoosten Pathos, doch nicht entkommen. Auf vielen der Bilder erscheint Verfall in schönster Pracht: modernde Villen unter sommerblauem Wölkchenhimmel, abgeholzte Bergkuppen vor strahlender Seekulisse, und selbst das Grab eines gewissen E. Schuetzy, gestorben 1845 in den Weiten Kanadas, ist von Tannen so heiter überwuchert, dass der Tod als etwas hübsch Verwunschenes erscheint. Während Douglas in sei-

det sich die Straße durch das Shetangyu-Tal zwischen grün bepelzten Kegelbergen dahin, immer abenteuerlicher werden die Überholmanöver unseres Fahrers. Durchgezogene Linien, Ampeln, Verbotsschilder – alles nur Folklore; was zählt in China 2007, ist Beschleunigung, Furchtlosigkeit, Mut zur Lücke. Am Straßenrand lagern Imker in Armeezelten, umgeben von ihren Bienenkisten. Ledrig braun gebrannte Pferdemenschen bewachen ihre Herden fürs Ponyreiten der Gäste aus der Stadt; statt Peitschen haben sie bratpfannengroße Fliegenklatschen, mit denen sie beiläufig die fetten Pferdebremsen erledigen. Dann taucht erstmals diese unverwechselbare Silhouette auf – ein Wachturm. Die Große Mauer. In ihrem Schatten boomt der Wochenendtourismus. Entlang des Flusses drängeln sich neue Ferienanlagen, Lotus Thai Resort & Spa, Contemplation Village, dazu zahllose Gartenrestaurants mit Terrassen an und auf dem Wasser. In aufgestauten Teichen schwimmt in fetten Schwärmen unser Mittagessen. Am Rand stehen Eimer, darin lange Bambusstangen mit einfachen Angelschnüren. In der Natur zu Gast sein heißt, sich sein Hauptgericht selbst zu fangen. Wer nicht genug Geduld hat, nimmt den Käscher. Mit paillettenbesetzten Highheels stöckeln die Damen der neuen Mittelschicht an den Teichen entlang, perfekt frisierte Pudel an der Leine hinter sich

Wirtschaftspolitischer Korrespondent: Marc Brost (Berlin) Autoren: Dr. Theo Sommer (Editor-at-Large), Dr. Dieter Buhl, Georg Diez, Bartholomäus Grill, Dr. Thomas Groß, Nina Grunenberg, Jutta Hoffritz, Wilfried Herz, Klaus Harpprecht, Gerhard Jörder, Dr. Petra Kipphoff, Ulrike Meyer-Timpe, Tomas Niederberghaus, Christian Schmidt-Häuer, Jana Simon, Burkhard Straßmann, Dieter E. Zimmer Berater der Artdirection: Mirko Borsche Artdirection: Haika Hinze (verantwortlich), Klaus-D. Sieling (i. V.); Dietmar Dänecke (Beilagen) Gestaltung: Wolfgang Wiese (Koordination), Mirko Bosse, Mechthild Fortmann, Katrin Guddat, Delia Wilms Infografik: Phoebe Arns, Gisela Breuer, Anne Gerdes, Wolfgang Sischke Bildredaktion: Ellen Dietrich (verantwortlich), Florian Fritzsche, Jutta Schein, Gabriele Vorwerg Dokumentation: Uta Wagner (verantwortlich), Claus-H. Eggers, Dr. Kerstin Wilhelms, Mirjam Zimmer Korrektorat: Mechthild Warmbier (verantwortlich) Hauptstadtredaktion: Brigitte Fehrle (verantwortlich), Christoph Dieckmann, Matthias Geis, Tina Hildebrandt, Jörg Lau, Elisabeth Niejahr, Dr. Thomas E. Schmidt (Kulturkorrespondent), Dr. Fritz Vorholz Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin, Tel.: 030/59 00 48-0, Fax: 030/59 00 00 40 Frankfurter Redaktion: Robert von Heusinger, Eschersheimer Landstraße 50, 60322 Frankfurt am Main, Tel.: 069/24 24 49 62, Fax: 069/24 24 49 63, E-Mail: [email protected] Europa-Redaktion: Petra Pinzler, Residence Palace, Rue de la Loi 155, 1040 Brüssel, Tel.: 0032-2/230 30 82, Fax: 0032-2/230 64 98 Pariser Redaktion: Dr. Michael Mönninger, 6, rue Saint Lazare, 75009 Paris,Tel.: 0033-1/47 20 49 27, Fax: 0033-1/ 47 20 84 21, E-Mail: [email protected] New Yorker Redaktion: Thomas Fischermann, 55 South 3rd Street, Brooklyn 11211, New York, Tel.: 001917/655 98 82, Fax: 001-925/871 57 23, E-Mail: [email protected]

Moskauer Redaktion: Johannes Voswinkel, Srednjaja Perejaslawskaja 14, Kw. 19, 129110 Moskau, Tel.: 007495/680 03 85, Fax: 007-495/974 17 90 Washingtoner Redaktion: Martin Klingst, 940 National Press Building, Washington, D. C. 20045, E-Mail: [email protected] Österreich-Seiten: Joachim Riedl, Alserstraße 26/6a, 1090 Wien, Tel.: 0043-664/426 93 79, E-Mail: Riedl@ zeit.de Weitere Auslandskorrespondenten: Georg Blume, Peking, Tel.: 0086-10/65 32 02 51/2, E-Mail: blume @vip.163.com; Gisela Dachs, Jerusalem, Fax: 009722/563 19 05, E-Mail: [email protected]; Dr. John F. Jungclaussen, London, Tel.: 0044-2073/54 47 00, E-Mail: [email protected]; Reiner Luyken, Achiltibuie by Ullapool, Tel.: 0044-7802/50 04 97, E-Mail: luyken@ zeit.de ZEIT Online GmbH: Gero von Randow (Chefredakteur), Steffen Richter (Stellv. Chefredakteur); Ludwig Greven (Textchef, Deutschland); Katharina Schuler (Büro Berlin); Alain-Xavier Wurst (Internationales); Karsten PolkeMajewski, Alexandra Endres (Wirtschaft/Finanzen); Kathrin Zinkant (Wissenschaft/Gesundheit); Wenke Husmann, Parvin Sadigh (Kultur und Gesellschaft); Ulrich Stock (Musik); Michael Schlieben (Sport); Adrian Pohr (Multimedia); Karin Geil (Campus Online); Chris Köver, Carsten Lissmann (Zuender); Falk Lüke (UGC); Amélie Putzar (Leitung Grafik und Layout), Anne Fritsch, Meike Gerstenberg, Nele Heitmeyer, Katharina Langer; Ulrich Dehne (Audience Manager), Julia Glossner; Anette Schweizer (Korrektorat, Reisethemen) Geschäftsführer: Dr. Rainer Esser, Dr. Henrike Fröchling Verlag und Redaktion: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg Telefon: 040/32 80-0 Fax: 040/32 71 11 E-Mail: [email protected] ZEIT Online GmbH: www.zeit.de © Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Hamburg

VON HANNO RAUTERBERG

nen Filmen die Brüche geradezu zelebriert, hat die Welt auf seinen Fotos höchstens einen leichten Knacks. Doch gerade diese Leichtigkeit lässt den Betrachter aufmerken. Hier wird er nicht zum Objekt eines medien- und erkenntnistheoretischen Experiments, auch muss er nicht enträtseln, was aufwendig verklausuliert wurde. In seinen Fotos verzichtet Douglas darauf, seine Kunst mit Anleihen bei literarischen Größen zu nobilitieren. Sie leben einzig von der präzisen Beobachtung, vom satten Glanz der Farbe und der tiefen Staffelung seiner Szenerien. Hier verbietet sich Douglas nicht das Schwelgen, und gerade deshalb entwickeln die Fotos einen eigentümlichen Sog ins Unheimliche. Bei aller Fülle, aller Detailliebe sind es doch ent-

leerte Bilder. Sie zeigen eine Welt nach der Welt, die Menschheit ist weitergezogen, ihr großer Auftritt vorüber, nur ein paar Spuren sind noch da, und auch die werden bald schon erlöschen. Es sind Fotos aus dem Fernab, auf verführerische Weise melancholisch, weil sie ohne das übliche Pathos der Armut, des Schreckens, der Verwesung auskommen. Es reicht Douglas, seine Städte und Landschaften freizuräumen wie eine Bühne, auf der alles schon gelaufen ist. Nur der Betrachter ist noch da, darf noch da sein. Und er ist froh drum. »Past Imperfect – Werke 1986–2007«, bis zum 6. Januar 2008 im Württembergischen Kunstverein und in der Staatsgalerie Stuttgart. Ende Oktober erscheint bei Hatje Cantz ein Katalog

herschleifend. Der Hund ist das neue Statussymbol: Seine Haltung ist kostspielig, man führt seinen Reichtum spazieren. Nur ein Golden Retriever in unserer Nachbarschaft kommt mit seiner neuen Rolle nicht klar und weigert sich, den Holzsteg übers Wasser zu gehen. Er verkriecht sich am Ufer, wo ein Pekinese, heiser hustend, sein Revier verteidigt. Lauter ist nur das Dessert: Es wird das obligatorische Feuerwerk serviert. Eine der Kellnerinnen verkauft Knallerbsen und Kanonenschläge zum sofortigen Zünden. Hinauf auf die Mauer schließlich führt in Mutianyu ein Sessellift. Nur westliche Reporter sind so naturverbunden, über ein nicht restauriertes Mauerstück aufzusteigen, was verboten ist. Schwitzend schlängeln wir uns durch die chinesische Macchia. Hier und da wird sie von Aprikosenbäumen überragt, von denen Einheimische mit Knüppeln die halb vertrockneten Früchte herunterprügeln. Später sehen wir sie wieder, die Menschen und die Früchte, inmitten des Touristenwahnsinns am Besucherparkplatz. Hello, Sir, beer! Ein Spießrutenlauf durch schreiende Händler, mit denen die Besucher sogar noch um den Preis für eine Flasche Fanta feilschen. Runter von der Mauer kommt man übrigens mit einer Sommerrodelbahn made in Sauerland. Letztlich will der Pekinger am Wochenende auch nichts anderes als der Winterberger. CHRISTOF SIEMES

Das Letzte In unserer kleinen Medienkunde wollen wir uns heute dem Glutamat zuwenden. Glutamat hat bekanntlich keinen eigenen Geschmack, sondern verstärkt nur einen schon vorhandenen Geschmack, von Kohl beispielsweise. Das kann als Vorteil empfunden werden, wenn man Kohl schätzt, aber auch als Nachteil, wenn man ihn eher fürchtet. In die Praxis von Tageszeitungen übersetzt, heißt das Prinzip: Alles wird gedruckt. Glutamatgeleitete Medien hätten sich niemals einer Kohl-Äußerung verweigert, nur ihrer Blödheit halber. Sie hätten vielmehr durch Überschrift und Aufmachung die Blödheit ins Sensationelle gesteigert. Glutamatzeitungen sehen ihre Aufgabe nicht in Kritik, denn Kritik hat ja eher den Effekt, alles eben noch für spektakulär Gehaltene zu dämpfen oder seinen Neuigkeitswert gänzlich zu bestreiten. Kritik, kurzum, macht ein Minus, wo Glutamat ein Plus macht. Und nun schauen wir einmal in die Wirtschaft. Wie verhält es sich dort mit Plus und Minus? Gibt es die Mobilfunkgesellschaft E-minus? Hat Volkswagen neuerdings einen Golf minus im Angebot? Wo ist der Supermarkt, der Minus heißt, weil dort alles weniger kostet? Sehen Sie! Jetzt haben Sie sich einen Überblick über den Stand des kritischen Denkens in unserer Gesellschaft verschafft. Übrigens hatte schon der preußische König Friedrich Wilhelm I. den Beinamen »der Plusmacher«, weil er nämlich durch Geiz und Sparsamkeit aus jedem Haushaltstitel ein Plus herausquetschte. Man kann ihn mit Fug als ersten Unternehmensberater der deutschen Geschichte betrachten, insofern er jedes einzelne staatliche Institut wie ein Profitcenter behandelte, das einen Gewinn für sich auszuweisen hatte. Als der König starb, war aus dem armen Preußen von einst ein Preußen plus entstanden – was den Freunden des Landes gefiel, den Feinden aber nicht mehr so gut schmeckte. Damit beschließen wir für heute unsere Betrachtungen über Glutamat in Geschichte und Gegenwart. Nur noch eine kleine Warnung an die notorischen Plusmacher unter den Journalisten: Auch ihnen könnte es ergehen wie Preußen, dessen gewaltig gesteigerter Eigengeschmack eines Tages nach allgemeiner Meinung »nicht mehr in die Landschaft passte«. Das wäre auch der Fall, wenn Zeitungen dereinst nur noch nach Zeitung schmecken würden. Dann wäre mit dem Glutamatspektakel endgültig FINIS Audio a www.zeit.de/audio

Wörterbericht

Dschihad Neben unserem Patenkind Hermine sitzt seit Anfang September der kleine Dschihad. Ja, Sie haben richtig gelesen. Auch die bei der Einschulungsfeier versammelten Eltern wollten ihren Ohren nicht trauen. Dass ein Kind in Deutschland, ja ein deutsches Kind – wie man es trotz seines Furcht einflößenden, alle Telefone des BND schrillen lassenden und sämtliche nationalen Bürgerwehren mobilisierenden Namens nennen muss, weil es nämlich hier geboren wurde –, also! Da erhob sich selbst an der Kreuzberger Schule kulturkämpferisches Heiliger-Krieg-Geraune. Zum Glück konnte einer von Hermines Onkeln, der Islamwissenschaftler ist, die Situation deeskalieren durch den Hinweis, dass das böse arabische Wort bloß »Anstrengung auf dem Weg zu Gott« bedeutet. Dschihad ist ein Vorname wie Gottlieb, Gotthilf oder Fürchtegott. Der »Heilige Krieg« übrigens geht etymologisch auf die Zeit der Kreuzzüge zurück. EVELYN FINGER

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DIE ZEIT

Nr. 38

13. September 2007

LITERATUR

Die Zweifelnde Mutter Teresas Tagebücher zeigen eine spirituell ausgebrannte Christin, die sich vom Herrn alleingelassen fühlte Von Jan Ross Seite 57

Särge in Leinen und Leder Über Gesamtausgaben

Gedankenfechterei

Botho Strauß setzt mit den »Unbeholfenen« seinen Kampf gegen den Zeitgeist fort VON JENS JESSEN

TANZFIGUREN, FECHTÜBUNGEN: Aus einem alten Lehrbuch

Foto [M]: akg-images

S

tefan Zweig schrieb eine Schachnovelle, von Schnitzler stammt die Traumnovelle, Goethe nannte eine seiner Novellen schlicht Novelle, um ihren exemplarischen Anspruch zu betonen. Die Gattung neigt dazu, ihre Bedeutsamkeit schon im Titel zu tragen. Botho Strauß, in seiner unnachahmlichen Begabung zum klassischen Erbe, hat nun eine Bewußtseinsnovelle nachgeschoben. Man könnte meinen, dass damit des Guten zu viel getan sei, insofern ein jedes Stück Literatur nun einmal, so oder so, Bewusstsein gestaltet. Da hätte man sich allerdings getäuscht, denn auch vom Bewusstsein kann man mehr oder weniger herstellen. Bei Strauß geht es tatsächlich um das Ganze, um eine Art Homestory des Bewusstseins. Das Bewusstsein bei sich selbst zu Haus, und der Autor exklusiv dabei. Aber wo wohnt das Bewusstsein, und wer stellt es uns vor? Bei Botho Strauß wohnt das Bewusstsein in einem alten Fabrikgelände am Stadtrand, und eingeführt werden wir von einem sympathischen Behinderten im Rollstuhl, Albrecht sein Name, mit dessen Schwester wir seit Kurzem liiert sind. Wie bitte? Ja, in der Tat. Der umsichtige Strauß, damit wir ihm ins hoch abstrakte Gelände der geistigen Selbsterforschung folgen, hat eine Art Rahmenerzählung konstruiert: Der Erzähler, eine Art Scout und Stellvertreter der Leser, soll die Familie seiner geliebten Nadja kennenlernen und wird von besagtem Albrecht in das Zimmer geführt, in dem sich die Geschwister und ein früherer Liebhaber Nadjas, gewissermaßen sein Vorgänger, aufhalten – übrigens fast unterbrechungslos, und noch dazu pausenlos redend. Die Familie führt eine philosophische Großdebatte um die letzten Fragen unserer Zeit, die sich mit Frühstückspausen oder psychologischen Wahrscheinlichkeiten nicht aufhalten kann. Die Figuren haben keinen menschlich-individuellen Charakter, sie ändern sogar ihre Meinungen gern und oft, aber ihre einzelnen Wortwechsel beanspruchen exemplarischen Rang. Die Dialoge sind Muster von Argumentation,

wie Tanzfiguren oder besser: wie Fechtübungen, die idealtypische Beispiele von Paraden, Finten, Klingenschlägen, Ausfallschritten vorführen. Es braucht nicht lange, bis der bestürzte Erzähler und mit ihm der Leser bemerkt, dass er aus der Realität plausibler Verhältnisse herausgefallen und in einer sonderbar surrealen, wenn nicht sogar rein symbolischen Welt angekommen ist. Was wäre auch von einer Person zu halten, die folgendermaßen Konversation zu machen versucht: »Das Mir der Widerfahrnis ist nicht so sehr das äußere Schicksal, dem ich ausgeliefert bin, sondern vielmehr das hier: mein Ober-Haupt«, und dabei die rechte Hand mit gespreizten Fingern über den Kopf hält, »so dass sie halb Krake, halb Krone vorstellte«? Eine solche Person entspringt keiner Psychologie,

sondern einer allegorischen Konstruktion. Die allerdings ist verwickelt. So gibt es zum Beispiel unter den Geschwistern eine Elena und eine taube Ilona (ungarisch ebenfalls für Elena), die noch dazu Zwillinge sind – und vielleicht für Traditionen des griechischen Mythos stehen, wer weiß. Es gibt auch Anspielungen auf Wilhelm Meisters Wanderjahre, die den Gedanken nähren, es könne sich beim Haus der Geschwister um etwas Ähnliches wie den Klosterbezirk St. Josephs des Zweiten handeln, in dem »das Gebäude eigentlich die Bewohner gemacht hat« (Goethe). Aber gesetzt den Fall, es wäre so, wie müssten wir uns das vorstellen? Wäre das Gebäude hier der Kopf, und der Besucher fände darin das Gewimmel der Gedanken vor, die dieser Kopf produziert? Den Mittelteil des Buches bildet eine große kulturkritische Klage über unsere Gegenwart, die den Verdacht nährt, es handele sich um die Gedanken von Botho Strauß und der Autor habe in einem Anfall exhibitionistischer Gastlichkeit uns, seine Leser, zu einem Besuch in sein Hirnstübchen eingeladen. In der Tat kommen im Verlauf der Großdebatte alle Lieblingsmotive des Autors vor, der Hass auf die

Medien, die Verachtung für eine Zeit, die sich allen anderen Zeiten überlegen fühlt, aber sich über ihre eigenen Begrenztheiten nicht aufzuklären vermag; schließlich die Trauer über den Untergang des genuin Deutschen in der deutschen Literatur. Strauß diagnostiziert eine Krise des zeitgenössischen Bewusstseins, die sich darin zeigt, dass es von einer Krise nichts weiß. Die Welt hat sich schrecklich verändert, man müsste sie vollkommen neu denken, besser noch: in ein Symbol fassen, aber die Leute sind blind, sie folgen ideologischen Reflexen, den »Gesinnungsderivaten« abgelebter Epochen. Botho Strauß entfaltet hier abermals seine schöne, traurige Arroganz gegenüber den öffentlichen Selbstverständigungsdiskursen mit ihren bis zum Überdruss bekannten Positionen. Man müsse einmal, schlägt er vor, so wie Flaubert die abgeschmackten Gemeinplätze seiner Zeit in einem Buch gesammelt habe, die Gesinnungsderivate unserer Zeit sammeln. Aber was wäre dann das Neue? Worin wäre die »Signatur der Epoche«, das eine schlagende Symbol für unsere Malaisen zu finden? Eine gewisse Enttäuschung des Buches liegt darin, dass die Metaphern und Sichtweisen, die Strauß als Gegengift zu unseren zeitgenössischen Verblendungen vorschlägt, ihrerseits recht abgelebt und unfrisch wirken. Da ist die Netzmetapher, die dem neuronalen Aufbau des Hirns entsprechen soll, da sind die verflossenen Ideen der konservativen Revolution, ein leerer Mystizismus ohne Gott, ein altbackener Archaismus, der sich von den Wurzeln eines abgestorbenen Deutschtums nähren will. Es wäre aber ungerecht, diese Ideen, die recht eigentlich ihrerseits Gesinnungsderivate sind, dem Autor direkt zuzuschreiben. Vielmehr zeigen sich in dem Buch vorsichtige Distanzierungen von der eigenen Haltung. Es gibt ja in dem Kopfraum des Buches (wenn wir bei dieser Allegorie einmal bleiben wollen) eine Zwischeninstanz, von der die Gedanken erst produziert werden. Das sind die fatalen Geschwister, und sie sind ihrerseits nicht autonom, sondern von

einer höheren Instanz abhängig. Sie deuten ein ums andere Mal auf einen großen Haken an der Decke des Raums, an dem ein gewaltiger, doch unsichtbarer Kronleuchter zu hängen scheint. Die Frage dieser großen Rätselallegorie lautet also: Wer ist der Kronleuchter, der die Spukgestalten des Bewusstseins erleuchtet oder eben, weil abwesend, gerade nicht erleuchtet? Anders gefragt: Wenn in dem begehbaren Kopf eine Art Fechtschule des Geistes stattfindet – wer ist der Fechtmeister und wer sind seine unbeholfenen Schüler, die dort augenscheinlich ohne Aufsicht trainieren? Denn die Gedanken sind ja nicht die fechtenden Geschwister selbst, sondern sie entstehen erst beim Klirren ihrer gekreuzten Klingen. Botho Strauß wäre nicht der geheimnishütende

Dichter, als der er sich fühlt, sondern nur ein Zeitgeistpädagoge, wenn er diese Frage offen beantworten würde. Ein Vorschlag zur Güte: Der Kronleuchter des höheren Bewusstseins, das lenkende Zentralgestirn unserer Gedanken, ist vielleicht so etwas wie das Gesamtbewusstsein der Menschheit, und es schickt die Agenten der divergierenden Geistestraditionen herab in unsere armen Hirne. Diese wären dann die in ewiges Streitgespräch verstrickten Geschwister, die unsere Köpfe dröhnen machen. Und am Ende jedes eigenen neuen Gedankens ersticken? Ein solcher Pessimismus wäre gegen den tröstlichen, fast gutherzigen Ton des Buches. Seiner milden Verschrobenheit näher käme eine andere Lösung: Der Kronleuchter ist das Bewusstsein des Besuchers. Der Erzähler hätte gleichsam sich selbst vom Haken genommen und wäre als Betrachter seiner eigenen Spukgedanken zu sich, als Gast, ins eigene Hirn gekommen. Da staunt er nun, was er so alles denkt. Die Leser staunen auch. Botho Strauß: Die Unbeholfenen

Bewußtseinsnovelle; Hanser Verlag, München 2007; 122 S., 12,90 €

Kürzlich kam die Tochter und verlangte, angeleitet von der Deutschlehrerin, nach der Emilia Galotti. Ob wir die hätten? Keine Frage, da stand sie, die dunkelblaue dreibändige Lessing-Ausgabe der gesammelten Werke. Die Tochter war enttäuscht. Ein so schweres, umfängliches Ding in die Hand zu nehmen, hatte sie keine Lust, sie wollte sich lieber das Reclam-Bändchen besorgen. Gesamtausgaben sind zwiespältig. Einerseits der ganze Stolz ihrer Herausgeber, Verleger und schließlich Besitzer, sind sie andererseits nicht selten Särge in Leinen und Leder, um die man pietätvoll einen Bogen schlägt. Man ist dann herzlich froh, wenn man das vergilbte Rowohlt-Taschenbüchlein von Bölls Roman Und sagte kein einziges Wort entdeckt, das wenig wiegt und schnell gelesen ist, während man andernfalls in der riesigen »Kölner Ausgabe« des Böllschen Gesamtwerks herumsuchen müsste. Und nicht immer ist klar, wo mit der Suche zu beginnen wäre. Selten steht auf den Bänden, was drin ist, und mal befindet sich das Inhaltsverzeichnis im ersten, mal im letzten Band. Der Vorteil des Lesens besteht ja nicht zuletzt darin, dass es an keinen Ort gebunden ist. Licht braucht man, das in der Tat, aber Licht gibt es in der S-Bahn und im Sessel, am Strand und beim Zahnarzt, im Wald und auf der Heide. Aber leicht sollte er sein, der Gegenstand der Lektüre, so leicht, dass er nicht in den Magen oder in die Finger drückt, je nachdem, wie man zu lesen gewohnt ist. Gesamtausgaben hingegen sind meist schwere Brocken, die gut auf Stehpulten lagern oder auf den Tischen der Lesesäle. Es bedarf des forschenden Vorsatzes in Tateinheit mit starkem Bildungswillen, um sich ihnen zu nähern. Der flanierende Leser scheut den Anblick ihres soldatisch uniformen Erscheinungsbildes. Er fühlt sich im Voraus von ihnen erschlagen. Deutschland ist das Land der Gesamtausgaben. Es gibt kaum einen namhaften Dichter oder Denker, von dem wir nicht mindestens eine hätten, und das ist auch ein Grund zum Stolz. Denn unzweifelhaft sind historisch-kritische, kommentierte Ausgaben die Grundlage aller Wissenschaft und der Pflege des geistigen Erbes. Seltsam aber, dass auch lebende Autoren, deren letzte Zeile noch gar nicht geschrieben ist, zur Gesamtausgabe drängen. Von Siegfried Lenz gibt es eine, von Dieter Wellershoff, von Günter Grass, von Cees Nooteboom, und dieser Tage kam ein weiterer Band der vielbändigen EckhardHenscheid-Gesamtausgabe auf den Tisch: rund 900 Seiten Buchkritiken, Radiosendungen, Aufsätze, Reden, Glückwünsche, Vor- und Nachworte. Auch wer der Tatsache, dass Henscheid längst ein Klassiker ist, unerschrocken ins Auge blickt, wird sich doch fragen, ob nicht das eine oder andere Reclam-Heftchen besser gewesen wäre. Möbelhäuser dekorieren zuweilen ihre Schrankwände mit Ausgaben in Leinen und Leder, und wenn man eine herausnimmt, staunt man, wie leicht sie sind, nämlich hohl. ULRICH GREINER

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LITERATUR

13. September 2007

DIE ZEIT Nr. 38

Die Welt wird abgenickt Michael Lentz nimmt sich in seinem Roman »Pazifik Exil« die vor den Nazis geflohenen deutschen Emigranten vor

E

s gab einmal eine Zeit, in der die Kritik von »Stipendiatenliteratur« sprach. Das war eine Literatur, die hergestellt wurde, weil die im internationalen Vergleich einzigartige deutsche Förderung zahlreiche Stipendien zu vergeben hat, und um so ein Stipendium zu rechtfertigen, entstanden Texte, die ohne das Stipendium eher nicht entstanden wären. So ist jetzt Michael Lentz in der Villa Aurora gewesen, dem ehemaligen Wohnhaus von Lion Feuchtwanger in Kalifornien, selbstredend eines der begehrteren deutschen Stipendien. Dort stieß er auf das Thema der deutschen Emigration in der Zeit des Nationalsozialismus, und da geht es beileibe nicht nur um Lion Feuchtwanger: Da fallen illustre Namen wie Bertolt Brecht, Thomas und Heinrich Mann, Franz Werfel und derjenige der skandalumwitterten Alma Mahler-Werfel, aber auch von Komponisten wie Hanns Eisler und Arnold Schönberg. Das ist doch ein Stoff! Also schrieb Michael Lentz etwas, was er »Roman« nennt und was einen Titel trägt, der ein bisschen an einen Popsong erinnert oder gleich an den Namen einer Band: Pazifik Exil.

Das Buch besteht aus einer losen Zusammenstellung von Szenen, in denen namhafte Protagonisten des Exils auftreten. Sie sind dadurch verbunden, dass sie in einem möglichst originellen Blickwinkel erscheinen. Die politische Dimension liefert dabei nur einen atmosphärischen Hintergrund, wichtig ist die menschliche Komponente: Sie sind doch alle viel kleiner, als sie in der Literaturgeschichte dargestellt werden. Lentz lässt sie oft in Dialogen auftreten, in einer Art von innerem Monolog charakterisiert eine Person die anderen oder im Extremfall sogar sich selbst. In Thomas Mann oder Brecht hineinzuschlüpfen ist jedoch nicht ohne Risiko. Lentz löst das Problem dadurch, dass er sie als Comicfiguren skizziert und damit aus heutiger Sicht dekonstruiert. Werfel ist »entsetzlich schwabbelig beieinand«, findet Alma. Heinrich Mann zeichnet auf der Überfahrt viele weibliche Brüste, die immer so aussehen wie diejenigen seiner dreißig Jahre jüngeren Frau Nelly. »Heinrich ginge es besser, wenn die Schlampe Nelly nicht wäre«, sagt sich derweil Thomas Mann. Und Brecht betrinkt sich auf der Überfahrt von Wladiwostok: »Das ist Dialektik, sagt er sich stolz.«

Foto (Ausschnitt): Karin Apollonia Müller

Heinrich Mann zeichnet auf der Überfahrt am liebsten Brüste

DIE VILLA AURORA in Kalifornien

Weil viel von der Familie Mann die Rede ist, fällt auf, dass sich Lentz’ Szenen immer mal wieder mit Heinrich Breloers Fernsehdokumentation Die Manns überschneiden: Der Fußmarsch über die Pyrenäen nach Port Bou, das Begräbnis Nellys in Kalifornien mit dem einsamen Heinrich Mann in der Wüste – das wirkt wie den erfundenen, auf einlinige, suggestive Wirkung zielenden Bildern Breloers nachgeschrieben. Die grundsätzliche Frage, was Literatur von einem Fernsehfilm unterscheidet, was sie darüber hinaus leisten könnte, scheint sich für Lentz nicht zu stellen, er verfolgt dieselbe Ästhetik. Wenn er mehr als die bloße Karikatur will, mehr als eine Schülerzeitung, wird es ziemlich dünn: etwa wenn Heinrich Mann seine moralische, aufklärerische Literaturauffassung reflektieren soll oder Brecht seine Analyse der Medien. Und wie Adorno als schäbige Hilfskraft Thomas Mann für den Doktor Faustus die Zwölftonmusik verklickert, greift, auch wenn Lentz dabei Arnold Schönberg sprechen lässt, ebenfalls recht kurz. Dieses Buch ist auf Wirkung kalkuliert, auf ein augenzwinkerndes Einverständnis. Es zielt auf die Reaktion: »Wie geistreich und amüsant!« Der Text funktioniert wie ein Small-Talk, kein Klischee fehlt: Brecht und die Frauen, Thomas Mann und Katia. »Thomas stand auf und ging weinen«, lässt Lentz Katia einmal sagen. Das ist lustig. Aber auf die Dauer fällt auf, wie sehr sich Lentz über seine Figuren erhebt, wie wenig er sie ernst nimmt, wie bewusst er auf die Effekte der Partykonversation setzt. Es ist der Stil des Magazinjournalismus: Prominente privat. So wie die Frage, ob Victoria Beckham magersüchtig ist, gleichzeitig zum großen Thema gemacht und ironisiert werden kann, verfährt Lentz mit seinen Promis. Letztlich ist aber alles ganz einfach. Sein Brecht über Frauen: »Dauerndes Kompliziertsein. Eine Katastrophe. Irgendwie fehlkonstruiert, körperlich und geistig. Ein Auslaufmodell der Natur. Andererseits zum Mitformulieren und Abtippen geeignet.« Das ginge natürlich alles halbwegs, wenn Lentz nicht doch mehr wollte. Er will wirklich Literatur machen. Das Buch zerfällt stilistisch in zwei Teile: Der zweite, den Großteil des Textes ausmachende Teil ist jener Versuch eines augenzwinkernden bildungsschatzzitierenden Salondiskurses – man will ernst genommen werden, aber doch unterhaltsam sein. Ein kurzer erster Teil jedoch, der Anfang des Buches, ist stilistisch ganz anders. Ein Prolog schwingt sich pathetisch auf zur Sprache und Bilderwelt antiker Mythen, Ovids Exil am Schwarzen Meer wird aufgerufen und existenziell überhöht, ins Zeitlose

Ein Kuss ist nicht immer ein Kuss »Gleich und anders« – die seriöse und vielseitige »Geschichte der Homosexualität«

K

ifi heißt in der Sprache der Haussa in Westafrika die lesbische Liebe. Kifi kann aber auch eine Männerbeziehung meinen, nämlich dann, wenn zwei Männer eine gleichberechtigte erotische Freundschaft führen (statt des ebenfalls sexuellen, aber streng hierarchischen masu harka-Verhältnisses). Sofern denn die Übersetzung erlaubt ist, könnte man also sagen: Echte schwule Liebe nennen die Haussa lesbisch. Es gibt mehr Geschlechter zwischen Mann und Frau, als unser Schulwissen in Schubladen zwängen kann. Auch, wenn sich viel geändert hat, seit an diesen Schubladen gezimmert wird: Seit der ungarische Autor Károly Kertbeny 1869 den Begriff der Homosexualität erfand, der eine Kategoriennot auslöste, welche, um auch den Normfall zu benennen, das Wort »heterosexuell« gebar. Womit es noch nicht getan war, nicht getan sein konnte, wie überall, wo Gesellschaft und Politik sich des Menschen und seiner Gefühle zu bemächtigen suchen. Im Letzten bleibt da eine Kluft. Auch heute, da sich die Identitäten vervielfältigt haben, kann keine Typologie die Wirklichkeit des Liebens einfangen. Der Band Gleich und anders, herausgegeben von

dem australischen Historiker Robert Aldrich, ist ein Atlas dieser Wirklichkeit. Er zeichnet in vierzehn klug und bunt bebilderten Kapiteln, die renommierte Forscher aus Europa und den USA beisteuerten, eine globale Geschichte der Homosexualität. Eine kulturhistorische Weltkarte, die den Überblick wagt: Trotz Schwerpunkts auf Europa (unvermeidlich, da am besten erforscht), geht es kapitelweise um Asien, Afrika, das alte Amerika und den pazifischen Raum – wo homosexuelle Verhaltens- und Lebensweisen oft weithin akzeptiert waren. Die Tsonga in Mosambik kannten neben (auch anderswo verbreiteten) drastischen sexuellen Initiationsriten auch Ehen zwischen Männern, Scheidung bei Untreue inbegriffen. Bei über dreißig afrikanischen Völkern existierte die Frauenheirat, wobei die den Brautpreis zahlende Frau als »Vater« jener Kinder galt, welche ein vor ihr gutgeheißener Mann mit der Mutter zeugte – ein Modell, das auch die Mohave-Indianer kannten und so weiter. Der üppig und unzimperlich illustrierte Band überwältigt mit zahllosen Beispielen der geduldeten, institutionalisierten und künstlerisch expressiven Gleichgeschlechtlichkeit, vom effeminierten Mahoo Polynesiens bis zur chinesischen Pornoliteratur, die schon im 17. Jahrhundert als Anthologie erschien. Häufig beendete die Kolonisierung solche Traditionen. Und auch ohne Zwang ging Heteronormativität oft mit Modernitätsstreben einher,

wie in Japan, wo mit dem Ende des Shogunats 1867 auch die alte, in der Samuraikaste übliche nanshoku-Sitte verdammt wurde – über die Hälfte der Shogune seit 1338 hatten Beziehungen mit jüngeren Männern unterhalten. Dabei ging es natürlich auch um Sex, doch wer was mit wem, das legten statuswahrende Regeln fest, und Liebe zu Frauen war keinesfalls ausgeschlossen. Ist nanshoku nun also eine schwule oder eine bisexuelle Sitte? Wohl keines davon. Schwul und lesbisch sind Worte für moderne, westliche Erfahrungs- und Lebensweisen, und ein großes Verdienst von Gleich und anders ist, falsche Gleichsetzungen und peinliche Identifikationen zu vermeiden. Im Gegenteil, die skrupulöse Sexualitätsforschung der letzten Jahre wird sehr genau und überaus verständlich aufbereitet – ein kleines Wunder bei einer Disziplin, der die Klarheit oft als Gräuel gilt. Was allerdings auch eine Spätfolge Kertbenys bzw. Michel Foucaults ist, der den Grundunterschied zwischen dem »Homosexuellen« und dessen jahrhundertealten Vorgänger, dem »Sodomiten« erkannte: Der Sodomit war ein Todsünder und Verbrecher, weil er gewisse Handlungen getan hatte, er galt aber nicht, wie der Homosexuelle, als ein in ganzer Person andersgeartetes Individuum. Sodomie war eine Untat – Homosexualität ein Identitätsmal. In Foucaults Nachfolge haben die Gender Studies solche Modelle geschlechtlicher Identität aufs Genauste analysiert und gezeigt, wie historisch und kulturell unterschiedlich sie ausfielen. Und, wie sehr politisches Kalkül die Ächtung der Normabweichler forcierte – etwa die Ermordung »sodomitischer« Indianer durch die Konquistadoren in Südamerika. Welche »teuflischen und abscheulichen Tätigkeiten« sie genau begangen hatten, ist übrigens unklar. Sodomie war ein recht nebulöses Verbrechen, ein Angst- und Geißelwort für vieles, das man brandmarken wollte. Es lässt sich ausmalen, wie kompliziert erst die Beschreibung historischer und fremder sexueller Kategorien wie kifi sein muss. Die Gender-Theorie flüchtete deshalb zuweilen in offene, dadurch von Bedeutungslosigkeit bedrohte Label wie queer. Gleich und anders nun löst die Begriffsfrage pragmatisch und wirksam. Man geht schlicht von der kleinsten Gemeinsamkeit aus, dem gleichgeschlechtlichen Sex – hütet sich aber vor identitärer Gleichsetzungen der Akteure. Man erörtert die kulturelle Einbettung, die den Kuss zweier Lippen zu einer ganz unterschiedlichen Erfahrung machen, je nachdem, ob er im späten Mittelalter oder bei

VON HELMUT BÖTTIGER

VON WILHELM TRAPP

den Haussa stattfand. Weitere Nöte einer Homosexualitätsgeschichte werden nicht verschwiegen. Denn es ist eine Geschichte, die sich aus vergifteten Quellen speist: Aus eifernden Pamphleten, aus schaudernd sprachlosen Reiseberichten, aus Gerichtsakten. Es ist eigentlich keine Geschichte, sondern ein Scherbenhaufen der Skandale, der hassenden Verfolgung, der gebrochenen Biografien, des Mordes (zumindest in Europa). Und weibliche Sexualität galt meist als so unwichtig, dass sie nicht mal zum Skandal taugte – das Buch räumt den Frauen einigermaßen erfolgreich Platz ein. Dass all diese Probleme erklärt werden, ist eine Stärke des Bandes.

erhoben bis in die Nazizeit – hier geht es offensichtlich um ganz große Kunst. Und im direkten Anschluss erleben wir Marta, die Frau Lion Feuchtwangers, wie sie 1933 auf einer Skitour in den Alpen von Hitlers Machtergreifung erfährt: Auch dies geschieht im steilen Pathosstil, in einer Stakkato-Rhetorik, die sich von den folgenden Kapiteln stark unterscheidet. Es dauert dabei ziemlich lange, bis deutlich wird, dass aus einem bedeutungsheischenden Assoziationsgeflecht von Natur und Geschichte Marta hervortritt. Das Kapitel wechselt zwischen kolloquialer Sprache, zum Teil mit bloßen Kalauern (»die Gnade des späten Neuschnees«), und scharfer, aggressiver Symbolik: Wie eine Schar von Krähen eine Walnuss aufzupicken versucht, wird mit Bildern von Fallschirmspringern parallelgeschaltet, Unheil droht – »im Kopf ist nichts als ein Mobile, darein die Wut gefahren ist«. Altertümelndes verspricht Wucht. Trotz des zum Teil hochfahrenden Metapherngestus hat das den Charakter der Mündlichkeit: Es setzt auf Rhetorik, auf die Augenblicks-Überwältigung, auf die Dynamik des Vortrags. Manchmal taucht dieser Sound auch noch später auf: »Über das, was Welt ist, muss blitzschnell ein Konsens erzielt werden können. Dieser Konsens besteht aus einem Nicken. Die Welt wird abgenickt. In diesem Moment gehört also etwas dazu, etwas anderes nicht. Ganze Länder gehören nicht mehr dazu, ganze Erdteile. Wenn es brennt, brennt es unterschiedlich wichtig.« Ist dies bedeutsam, oder ist dies bloßes Blendwerk?

»Ich gehe jetzt hinauf. Ich mach‘s jetzt. Ich pack‘s.« Warum am Anfang ausgerechnet Marta Feuchtwanger in dem aufgeladenen Sekundenstil erscheint, den Lentz offensichtlich dem vor geraumer Zeit innovativen Thomas Kling verdankt, wird nicht klar. Heinrich Mann oder Brecht kriegen dann ja sofort einen parlierenden, parodistischen Touch. Der Beginn des Buches legt eine Fallhöhe fest, durch die auch das nachfolgende Kabarett ästhetisch erhöht werden soll. Aber wenn es nur um Oberflächenreize geht, entsteht nichts. Dieser Roman entspricht der Erkenntnis, die er Marta Feuchtwanger in den Mund legt: »Ich gehe jetzt hinauf. Ich mach’s jetzt. Ich pack’s. Das sind so Sprüche.« Michael Lentz: Pazifik Exil

Roman; S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007; 459 S., 19,90 €

" KRITIK IN KÜRZE

Gott in Österreich Wohl niemand hätte einem Kardinal Sätze wie diese zugetraut: »Die Kirche ist einfach nicht umzubringen – nicht einmal von uns Klerikern«, und: »Ich kenne viele christliche Heuchler, manchmal mich selber inbegriffen.« So der Wiener Erzbischof Schönborn in Gesprächen mit einer nichtgläubigen Journalistin. Das Buch erscheint kurz vor dem Österreich-Besuch des Papstes, der Schönborns Theologieprofessor war. Schon im Titel Wer braucht Gott? wird befragt, was Schönborn die »komplexe Wirklichkeit« seiner Kirche ANZEIGE

Schwächen gibt es auch. Die Übersetzung ist

wortweise unsicher, wenn etwa »homosozial« mit »homosexuell« verwechselt wird, wenn Worte wie »Interfermoralverkehr« unerklärt bleiben. Und nicht alle Beiträge sind gleich gut. Gerade die vier zu den besterforschten Gebieten – zur Antike, zum frühen 20. Jahrhundert, zum Orientalismus, zur Gegenwart – lesen sich teils wie ziellose Beispielreihen. Der Autor über die Orientfantasmen glaubt selbst noch an exotistische Märchen, wie dem von »Istambul, eine Stadt, die wie wenig andere volle Erotik ist«. Ausgerechnet das Schlusskapitel zur »schwul-lesbische Gegenwart« bietet nur ein wirres, besinnungsaufsatzhaftes Sammelsurium. Was sagt der Band nun tatsächlich über die homosexuelle Gegenwart? Es bleibt der starke Eindruck, dass ein theoretisch tückisches Thema glänzend erklärt wird, indem man unaufgeregt von der wortwörtlichen Homosexualität ausgeht. Dieses in seiner klinischen Trieblastigkeit unglücklichen Wort (weshalb das englische gay, das im Originaltitels steht, so beliebt ist) spaltet der Kulturatlas dann aber derart auf, zeigt es in so vielen Spielarten, dass der Begriff von innen her ausgehöhlt wird. Wenn das ein Hinweis ist, dass seine problematische, identitätszwingende Macht schwindet, wäre es nicht die schlechteste Entwicklung. Robert Aldrich (Hrsg.): Gleich und anders

Eine globale Geschichte der Homosexualität; aus dem Englischen von Benjamin Schwarz; Murmann Verlag, Hamburg 2007; 384 S., Abb., 36,– €

nennt, deren geistliche Dimension von der menschlichen nicht zu trennen sei: »Ich glaube, daher kommt das Ärgernis.« Es ist aber auch eine Folge von »Fragen, auf die Gott keine Antwort gibt«, vor allem, warum und wie er die Übel und Schrecken dieser Welt zulassen kann. Vom privaten bis zum politischen Leben reicht die Thematik dieser ebenso tiefgründigen wie offenherzigen Diskussion. HANSJAKOB STEHLE Wer braucht Gott? Barbara Stöckl im Gespräch mit Kardinal Christoph Schönborn

Ecowin Verlag, Salzburg 2007; 188 S., 19,95 €

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LITERATUR

DIE ZEIT Nr. 38

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" AUS POLITISCHEN ZEITSCHRIFTEN

Chinas Aufstieg

Keine Liebe, kein Glaube Foto: Gamma/laif

Die Tagebücher der Mutter Teresa zeigen eine von tiefen Zweifeln erfasste Christin VON JAN ROSS

MUTTER TERESA (1910–1997) erhielt 1979 den Friedensnobelpreis

D

ie Publikation der Briefe und Aufzeichnungen von Mutter Teresa ist ein Wagnis, eine Wette mit hohem Einsatz und ungewissem Ausgang. Eine moralische Ikone des 20. Jahrhunderts, die größte christliche Gestalt unserer Zeit, wird in ihrer Gottferne und spirituellen Dürre gezeigt, in einer jahrzehntelang anhaltenden religiösen Krise, die bis an die Grenze des Unglaubens und des Nihilismus reich. »Wofür arbeite ich?«, heißt es in einer Notiz aus den späten 1950er Jahren. »Wenn es keinen Gott gibt – kann es auch keine Seele geben. – Wenn es keine Seele gibt, dann, Jesus – bist auch Du nicht wahr. – Der Himmel, welche Leere.« Die Veröffentlichung dieser Ketzereien ist keine feindselige Enthüllung, sondern kommt aus dem Herzen der Orthodoxie selbst; Herausgeber ist der »Postulator« im Heiligsprechungsprozess von Mutter Teresa, ihr Anwalt vor den vatikanischen Prüfungsinstanzen. Denn das ist die Wette: dass die Offenbarung ihrer Zweifel und Seelenfinsternisse ihr Ansehen nicht ruiniert, sie nicht als Heuchlerin bloßstellen wird, sondern im Gegenteil sie zu einer menschlicheren, glaubwürdigeren, radikaleren Heiligen macht, in den Augen der Kirche – und der kirchenfernen modernen Welt. Die Lektüre ist atemberaubend – nicht erst,

wenn man die Zeit um 1950 erreicht, in der die Glaubensnot beginnt. Mutter Teresa, 1910 im albanischen Skopje als Gonxha Agnes Bojaxhiu geboren, war 1928 in den Orden der LoretoSchwestern eingetreten und bald darauf als Missionarin nach Indien gegangen, wo sie in Kalkutta an einer Klosterschule unterrichtete. Am 10. September 1946 erlebte sie während einer

Zugfahrt eine mystische Begegnung mit Jesus, der sie aufforderte, »alles aufzugeben und Ihm in die Slums zu folgen – um Ihm in den Ärmsten der Armen zu dienen«. Das Dasein in ihrem Orden war noch zu bequem, zu europäisch, sie sollte wie eine Inderin unter den Elenden und Ausgestoßenen der indischen Gesellschaft leben, den Bettlern, Straßenkindern, Leprösen und Sterbenden. In den folgenden beiden Jahren betreibt sie mit nimmermüder Energie, man möchte sagen: mit heiliger Penetranz diese Sache. Sie liegt ihrem Beichtvater und ihrem Bischof mit immer neuen Gesuchen in den Ohren. Zwei Jahre sind, wenn man an die mit erhabener Langsamkeit mahlenden Mühlen der römischen Kirche denkt, keine lange Zeit, um aus einem Orden auszuscheiden und eine neue Gemeinschaft, mit einer ganz neuartigen pastoralen Aufgabe, zu gründen. Teresa aber kommt es wie eine Ewigkeit vor, wie die dauernde Verweigerung eines Wunsches des Herrn, den sie mit geradezu körperlicher Dringlichkeit spürt. Jesus »dürstet nach Seelen«, ist ihr mystisches Bild für dieses Verlangen, in dem sich das Bild des Gekreuzigten mit dem Schicksal der Massen verbindet, die Christus nicht kennen und verloren zu gehen drohen. Sie will nicht Sozialarbeit machen, auch nicht einfach bloß Gutes tun, nicht einmal nur Menschen zu Gott führen – sie will den Durst Jesu stillen. Diese beispiellos intensive, bald innige, bald ekstatische Jesus-Beziehung ist die Folie, vor der man die geistliche Erschöpfung ihrer zweiten Lebenshälfte sehen muss. Sobald Teresa ihr Ziel erreicht hat und die Missionaries of Charity ge-

gründet sind, mit denen sie die Mutter Teresa werden sollte, ist das Licht von oben auf einmal wie ausgeknipst, die Glut erloschen. Während der Messe empfindet sie nichts mehr, beim Gebet bewegt sie nur noch die Lippen, in der Beichte bringt sie nichts heraus. »In meinem Innern ist es eiskalt«, schreibt sie an ihren Bischof oder: »abgewiesen – leer – kein Glaube – keine Liebe – kein Eifer. – Die Seelen ziehen mich nicht mehr an – der Himmel bedeutet nichts mehr – für mich schaut er wie ein leerer Platz aus.« Einmal, im Herbst 1958, kehrt das alte Verschmelzungsgefühl mit Gott zurück – nur um nach wenigen Wochen wieder zu verschwinden, jetzt endgültig: »Unser Herr meinte, es sei besser für mich, im Tunnel zu sein – so ist Er also wieder gegangen – und hat mich allein gelassen.« So, in diesem Zustand, hat sie weitergemacht,

ihren Orden wachsen sehen, Weltruhm gewonnen, 1979 den Friedensnobelpreis erhalten, immer weiter, bis zu ihrem Tod 1997. Als sei die ganze stärkende, beglückende Gottesnähe nur bis zur Etablierung des »Werks«, wie sie es oft nennt, nötig gewesen und überflüssig geworden, als das Kind auf die Welt gebracht und lebensfähig war – ein erhabener, schrecklicher Fall von Benutzung durch das Überirdische. Vor ein paar Tagen hat der Papst über das »Schweigen Gottes« gegenüber seiner treuen Dienerin gesprochen, bei einer Begegnung mit jungen Leuten im italienischen Marienwallfahrtsort Loreto. Benedikt XVI. hat sich kurz und würdig vor diesem Schicksal verbeugt – und dann über das Gegenteil geredet, die Klarheit und Erkennbarkeit Gottes, seine sichtbaren Spu-

ren in der Schönheit der Schöpfung, der festlichen Liturgie, der geistlichen Musik von Bach, Händel und Mozart. Hier der Papst des »Logos«, der harmonischen Theologie und der Ästhetik der lateinischen Messe, dort die spirituell ausgebrannte, von Jesus wie weggeworfene Heilige der Slums von Kalkutta – das ist wie ein Bild für den ganzen Bogen des Katholischen, und auch davon handelt die Wette: dass es zusammenhält, dass es am Ende kein Widerspruch ist, sondern die Tagund die Nachtseite ein und desselben Glaubens. Mutter Teresa selbst fragt sich, ob sie zur Lügnerin wird und der Welt etwas vorspielt. Aber niemand, der diese Aufzeichnungen mit wachen Sinnen aufnimmt, wird den Eindruck der Falschheit oder Fassadenhaftigkeit haben: der Gott, dessen Nähe sie nicht mehr spürt, hört nie auf, für sie Realität zu sein, letztlich die einzige Realität. Die Sehnsucht nach dem abwesenden Herrn verschwindet nicht, und sie zweifelt nicht daran, dass Jesus, von dem sie sich verlassen sieht, ihre Missions- und Nächstenliebedienste tatsächlich trägt, dass er ihr wirklicher Auftraggeber ist. Es ist wie die Geschichte einer Ehe, die ihren Wert und ihre Größe und sogar ihre Wahrheit nicht verliert, wenn das Gefühl verschwunden ist, das sie einmal begründet hat. Und wie die Geschichte einer solchen Ehe kann man auch die von Mutter Teresa und ihrem Gott als Tragödie lesen oder als Triumph. Mutter Teresa: Komm, sei mein Licht

Herausgegeben und kommentiert von Brian Kolodiejchuk MC; aus dem Englischen von Katrin Krips-Schmidt; Pattloch Verlag, München 2007; 444. S., 19,95 €

Das große China zeigt der Welt manch Verstörendes: Holterdiepolter-Wachstum, Industriespionage, gegängelte Freiheit. Aber in ihrer Außenpolitik verdient die Volksrepublik Lob: Statt im Bewusstsein neuer Stärke aufzutrumpfen, bewegt sich der Koloss mit großem Einfühlungsvermögen für die Empfindlichkeiten der Nachbarn. Wie schafft das eine Führung, die doch im internationalen Geschäft wenig geübt ist? Der Frage gehen in der von der Universität London herausgegebenen China Quarterly (Juni 2007) zwei amerikanische Forscher nach, Bonnie S. Glaser vom Center for Strategic and International Studies in Washington und Evan S. Medeiros von der Rand Corporation. Unter dem Titel The Changing Ecology of Foreign Policy-Making in China untersuchen sie, wie der Slogan vom »friedlichen Aufstieg« Eingang in die offizielle Politik Chinas fand, binnen Kurzem aber wieder daraus verschwand. Es ist ein Lehrbeispiel für Chinas außenpolitisches Sensorium. In Asien sind Slogans ein beliebtes Mittel, um politische Programme zu transportieren. Den Anstoß zu dem Schlagwort vom »friedlichen Aufstieg« gab die Reise eines ehemaligen hohen Parteikaders in die USA Ende 2002. Zheng Bijan, eine Art chinesischer Egon Bahr, war betroffen von dem Unbehagen, mit dem viele Amerikaner den Machtzuwachs Chinas verfolgten. Nach seiner Rückkehr empfahl er dem heimischen Zentralkomitee, in außenpolitischen Grundsatzerklärungen die Friedlichkeit der chinesischen Entwicklung hervorzuheben. China werde – anders als »Aufsteiger« wie einst Deutschland oder Japan – weder die internationale Ordnung infrage stellen noch seine Nachbarn bedrohen. Ende 2003 wurde das Konzept von höchster Stelle abgesegnet: Präsident Hu Jintao bezog sich darauf vor Mitgliedern des Politbüros, es schmückte Auslandsreden des Premiers wie des Verteidigungsministers. Aber nur wenig später verschwand der »friedliche Aufstieg«, das Politbüro hatten den Begriff im April 2004 verworfen. Warum? Die beiden Autoren geben nicht vor, die ganze Wahrheit zu wissen, aber sie tasten sich an sie heran. Und darin liegt der Reiz ihrer Recherche. Offenbar waren es kritische Stimmen innerhalb und außerhalb des Apparats, die die Führung veranlassten, den Slogan fallen zu lassen. Die einen sahen darin einen Ausdruck von Schwäche, mit nachteiligen Auswirkungen auf die Unterstützung für die eigene Rüstungspolitik oder die Abschreckung taiwanesischer Unabhängigkeitsbestrebungen. Andere mutmaßten umgekehrt, das Wort »Aufstieg« könne wegen des damit assoziierten Machtzuwachses Chinas anderswo Besorgnis auslösen. Eine dritte Gruppe fand es schon deshalb unangebracht, weil angesichts der immensen Probleme des Landes von Aufstieg noch lange keine Rede sein könne. Eine vierte fürchtete, der Nationalismus im Lande werde unnötig angestachelt. Glaser und Medeiros ziehen aus dem Vorfall zwei Lehren. Die eine sei das Entstehen einer »außenpolitischen Klasse« Chinas, zu der auch Forschungsinstitute und universitäre Wissenschaftler zählen. Die andere: Der Abschied vom Begriff des »friedlichen Aufstiegs« war lediglich semantisch, die Substanz bleibt erhalten: China versichert, dass es trotz seines neuen Gewichts die Interessen seiner Nachbarn und die anderer Mächte nicht bedroht. Die Geschichte vom Aufstieg und Fall des »friedlichen Aufstiegs« unterstreicht die große Sorgfalt, mit der die Führung des Landes darauf achtet, dass ihre außenpolitischen Signale nicht missverstanden werden können. CHRISTOPH BERTRAM

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LITERATUR Kaleidoskop

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" GEDICHT

STILLLEBEN MIT BUCH ROLF VOLLMANN

SKEPTISCH inmitten rasenden Stillstands: »Osterspaziergang II«, 1971

Im Überfluss Ganz sonderbar ist eine Stelle im 33. Kapitel der berühmten Brautleute Manzonis (Alessandro Manzoni: Die Brautleute; deutsch von Burkhart Kroeber; dtv, München 2003; 928 Seiten, 15,– €). Nach anderthalb Jahren, die er als Seidenspinner im Bergamaskischen verbracht hat, wandert der junge Renzo zurück in seine Heimat, an den Comer See, damals hatten er und seine Braut von dort fliehen müssen, nun sucht er sie. Seit Monaten wütet die Pest in Oberitalien, und vom Engadin her sind durch seine Heimat Söldnerheere gezogen und haben zusätzlich die Gegend verwüstet. Er findet sein Dorf fast menschenleer, ein guter Bekannter sitzt wahnsinnig geworden vor seiner ruinierten Hütte, sein eignes kleines Haus ist voller Ratten. Seine Leidenschaft war ein schöner Wein- und Obstgarten gewesen, dorthin geht er jetzt. Weinstöcke, Maulbeerbäume, Obstbäume, alles ist ausgerissen, abgehackt, »Spuren des früheren Anbaus waren noch zu sehen: junge Reblinge in lückenhaften Reihen … da und dort Schösslinge oder Triebe von Maulbeer-, Feigen-, Pfirsich-, Kirsch- oder Pflaumenbäumen«, schreibt Manzoni, all das sei aber erstickt unter einer neuen und dichten Vegetation, die sich ohne Hilfe einer Menschenhand inzwischen entwickelt habe, »es war ein Dickicht von Brennnesseln, Farnen, Lolch, Quecke, Melde, wildem Hafer, grünem Amarant, Löwenzahn, Sauerampfer, Borstenhirse … es war ein Wirrwarr von Stengeln … ein Wust von Blättern, Blüten und Früchten in zahllosen Formen, Farben und Größen: Ähren, Rispen, Büschel, Dolden, weiße, rote, gelbe, blaue Körbchen …« – ewig lange anderthalb Seiten geht das so, alles andre Erzählen ist ausgesetzt und wie vergessen. Manzoni merkt das dann selber, er schreibt, Renzo habe den Garten gar nicht erst betreten, wahrscheinlich sei er nicht einmal so lange stehen geblieben, wie er, Manzoni, gebraucht habe, »um diese kleine Studie zu zeichnen«. Er entschuldigt sich also quasi, aber das ist alles, er gibt keine Gründe an. Dieser einst so schöne und jetzt ganz verunkrautete Garten, in seinem dennoch fast leuchtenden Glanz, ist kein Bild, keine Metapher für irgendetwas; er ist einfach dieser Garten, nichts weiter, und ist dies mehr und mehr gerade in dem Maße, in dem seine Beschreibung gar nicht mehr aufhört. Später, wenn es dann weitergegangen ist mit der Erzählung (Renzo findet seine Braut, und reichlich fließen nun jene wohltuenden Tränen, die eine Erzählung uns und den ihren entlockt, wenn ihre Schönheit endlich die Schmerzen löst, die sie vorher so kunstvoll gemacht hat), später geht einem dann auf, dass wohl gerade diese sonderbaren Stellen, die doch auch gar nicht sein müssten, die Bücher, in denen sie nun doch sind, so unwiderstehlich machen. Sie müssten nicht sein und dürfen doch nicht fehlen. Immer wieder hat Alessandro Manzoni so einen gewaltigen metaphysischen Schwung, und wenn wir uns einmal mitreißen ließen davon (mitschleifen ließen, sollte ich besser sagen, denn wer von uns hat schon noch jenen alten Schwung), dann könnten wir nun fast sagen, dass jener Garten doch so etwas wie ein Bild ist, gerade darum, weil er (oder dass er beschrieben ist, aber wie trennt man das) ebenso wenig da sein müsste, wie er fehlen dürfte – ein Bild jetzt für das ganze Buch, das ja gar nicht da sein müsste, aber jetzt, wo wir’s zum Glück haben, zeigt, wie sehr es uns fehlen würde. Fehlt es eigentlich auch denen, die es nicht kennen? Also das geht nun wirklich zu weit ins Metaphysische, das lassen wir auf sich beruhen.

WOLFGANG MATTHEUER (1927–2004)

Abb.: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien (Foto: B. Kober, Punctum) /VG Bild-Kunst, Bonn, 2007

Wie sich Manzoni einmal verirrt und was daran so schön ist

D

ie Wirklichkeit sieht aus wie gemalt, und die Gegend, aus der der Künstler stammte, wird seinen Bildern immer ähnlicher. Wer heute Mitteldeutschland bereist, die Leipziger Tieflandsbucht durchquerend ins Vogtländische, dem begegnen dauernd diese neoromantisch qualmenden Mattheuer-Schornsteine, diese kompakten Mattheuer-Wolken und scharf gezeichneten Mattheuer-Horizonte. Die Schnellstraßen scheinen allesamt dem berühmten Aufbruchspanorama Hinter den sieben Bergen nachempfunden. Diese Autokolonnen! Diese sanft gewellten Felder! Und während der Himmel grau oder türkis oder cobaltblau über den Betrachter hinwegzieht, fühlt er sich als Teil eines Zukunftsszenarios, das er schon lange kennt. Wolfgang Mattheuer, der philosophischste unter den zeitgenössischen deutschen Malern, hat uns unsere Epoche sehen gelehrt. Er erneuerte das Genre der Landschaftsmalerei – nicht indem er unsere schöne neue heruntergekommene Welt mit ihrem Gewand aus Beton, ihrem Herzen aus Müll getreulich kopierte, sondern indem er Landschaft metaphorisierte. So malte er einen Fortschritt, in dessen Verlauf das Menschengemachte das Naturwüchsige unaufhaltsam durchwuchert. »Natürlich bleibt nichts, nichts bleibt natürlich«, heißt es in einem Gedicht Volker Brauns, das man am besten begreift, wenn man Mattheuers Bilder betrachtet: wo qualmende Schlote blühende Bäume überragen, wo Leute an Ästen sägen, auf denen sie sitzen, wo ausgekohlte Tagebaue in Caspar-David-Friedrichscher Manier verdämmern, wo geflügelte Schrebergartenbewohner aus ihrem engen Wochenendidyll zur Sonne hinaufstreben, wo ein abgestürzter Ikarus am Straßenrand liegt und von Bustouristen wie eine Sehenswürdigkeit beglotzt wird. Als subversiver Landvermesser seiner sächsischthüringischen Heimat hat Mattheuer – geboren 1927 in Reichenbach, gestorben 2004 in Leipzig – unsere Wahrnehmung dieser Gegend beeinflusst. Nun präsentiert ihn eine Leipziger Ausstellung unter der Überschrift Abend, Hügel, Wälder, Liebe. Der andere Mattheuer als Naturmaler jenseits der großen Ideengemälde; doch auch auf der grünen Wiese erweist er sich als Gelehrter, ein pictor doctus, dessen Werk aufs Engste mit der kritischen DDR-Literatur der siebziger und achtziger Jahre verbunden ist. Vor allem die apokalyptische Landschaftslyrik, wo beschädigte äußere Natur als beschädigte innere Natur des Menschen erscheint, steht mit Mattheuers Werken in enger Verbindung. Man kann ja das düstere Tagebaubild Oh, Caspar David …

Der Maler und Dichter Leipzig zeigt Wolfgang Mattheuers Landschaftsbilder und liest seine Naturlyrik VON EVELYN FINGER

nicht betrachten, ohne sogleich an Brauns Niederlausitzer Tagebaupoem BurghammerV zu denken. Wenn wir die aufgerissene Erde unterm gewittrigen Abendhimmel sehen, hören wir automatisch die brüchigen Trauerverse auf das »mitteldeutsche Loch«, erleben wir Mattheuer als korrespondierendes Mitglied der Sächsischen Dichterschule. Er malte, was Lyriker wie Heinz Czechowski, Rainer Kirsch, Reiner Kunze, Bernd K. Tragelehn, auch Günter Kunert und Sarah Kirsch seit Ende der Sechziger beschrieben: eine von Ingenieuren durchgearbeitete, von der Partei beackerte, von Maschinen um und um gewendete Provinz, deren Vorrat an Utopie schnell aufgebraucht war. In den Worten Mattheuers: »Wo kommt er her, der Weg / mit Rändern / zerfressen und mit Abfall plombiert. / Mit Dornenhecken, die blühen zu ihrer Zeit, / mit abgestellten Träumen, / Hoffnungsschutt und verrostetem Wollen. / Wo führt er hin? / Wie wird er beschaffen sein / hinterm Horizont?« Der Maler schrieb nämlich auch Gedichte, die nun anlässlich der Ausstellung rezitiert werden. Sein Dichten war aber keineswegs Hybris eines in allen Sparten dilettierenden Gesamtkünstlers, sondern Ausdruck seiner bohrenden Beschäftigung mit den Gegenständen. Wenn wir Goethe einen Dichter und Denker nennen, war Mattheuer ein Maler und Denker, dem im Schöpfungsprozess die Lektüre ebenso wichtig schien wie das Naturstudium, die schriftliche Selbstvergewisserung ebenso wie die Gartenarbeit. Er brauche die Natur wie Brot, hat er einmal gesagt und schwärmte vom Rasenmähen und Blumengießen im Reichenbacher Garten. Bei solch grobem Tun erholte er sich von der Anstrengung des Malens, das er oft als quälend empfand, weil er nach Art des Genies immer wieder zu scheitern fürchtete. An dieser Furcht, die sich proportional zu seiner Begeisterung für noch unzerstörte,

harmonische Kulturlandschaft steigerte, lässt er den Leser seiner brillanten Essays teilhaben. Sie funktionieren nach Mattheuers bewährtem zeichnerischen Prinzip, aus der Anschauung heraus zur Reflexion zu gelangen. Einmal betrachtet er sich selbst, auf einem vogtländischen Hügel sitzend, im Anblick der dunkelgrün bewaldeten Flur schwelgend: »Und ich fühle mich elend werden.« Wie soll er diese Fülle abbilden? Dann lieber in dürren Worten beschreiben! »Meine dürren Worte verletzen mich weniger als dürre Striche und Farben.« Mattheuers Anspruch entspringt seinem hohen Formbewusstsein, das er von Kindheit an entwickelte. Als Sohn eines bildungsbeflissenen Buchbinders las er früh schon Hölderlin und Stifter, die ihm Hausheilige blieben bis zuletzt. Er verehrte Novalis, Musil, Gernhardt. Und während seiner langen Ehe mit der Malerin Ursula MattheuerNeustädt pflegte das Paar das Ritual, sich morgens gegenseitig vorzulesen. Man begann den Tag aber nicht etwa mit luftig leichter Erbauungslektüre, sondern mit Goethes Faust II und Ludwig Tiecks theoretischen Schriften. Klassik oder Romantik? Für Mattheuer war der große Weltanschauungsstreit der späten DDR, der sich an den beiden Kunstepochen entzündete, natürlich nicht mit dem einen treffenden Zauberwort zu beenden. Als jemand, der in Blochs Leipzig studiert und dort einen Lehrstuhl innegehabt hatte, war er zu sehr Dialektiker, um ein ästhetisches Dogma zu vertreten. Je schöner er die Welt empfinde, hat er 1973 gesagt, desto schwerer falle es ihm, sie darzustellen. Indem er seine Ausdrucksfähigkeit entwickelt habe, habe er auch seine Empfindungsfähigkeit vertieft, was ihm nun schier unmöglich mache, sich noch auszudrücken. Dass er trotz dieser Kapitulation weitere dreißig Jahre lang seine brisanten klassisch romantischen Jahrhundertlandschaften malte, kündet von Mut und künstlerischem Rang. Wer heute durch die sächsisch-thüringische Nachwendeprovinz fährt, die so viel grüner aussieht als damals, wird jedenfalls finden, dass Mattheuers Bilder unserer Welt als gescheiterter Entwurf aktuell bleiben. Warum? Weil seine Frage, was hinterm Horizont komme, noch immer nicht beantwortet ist. Wolfgang Mattheuer: Abend, Hügel, Wälder, Liebe. Der andere Mattheuer Mit Beiträgen von Josef Haslinger, Eduard Beaucamp u. a. sowie zahlreichen Reproduktionen. Katalog zur Ausstellung im Leipziger Museum der Bildenden Künste (bis 15. Oktober); Kerber Verlag, Bielefeld 2007; 203 S., 36,50 €

DIE ZEIT Nr. 38

[12. März 1971] … Ich habe drei kleine Bilder gemalt, der Frühling kommt bald, und schon bin ich ziemlich obenauf. Einen Vers habe ich mir auch wiedermal notiert. Der Winter geht zur Neige ich komme aus dem Tritt die Kontrolle der Öfen im Februar so peinlich genau noch ist lahm geworden. Die Sonne wärmt die Luft Und schmilzt meine Strenge. Wolfgang Mattheuer: Aus meiner Zeit

Tagebuchnotizen und andere Aufzeichnungen; Hohenheim Verlag, Stuttgart/Leipzig 2002; 246 S., 24,80 € Eine Lesung aus Mattheuers Landschaftsgedichten und -essays findet am 27. September im Leipziger Museum der bildenden Künste statt

" BÜCHERTISCH ULRICH GREINER Als der Kritiker Volker Hage einmal in die USA flog, um ein Interview mit John Updike zu führen, saß dieser zufällig in derselben Maschine und reichte dem eine Reihe vor ihm sitzenden Hage, der naturgemäß ein Buch von Updike las, einen Zettel mit den Worten: »Ich wollte Sie wissen lassen, dass ich mit dem Gegenstand Ihrer Lektüre herzlich einverstanden bin.« – In einem der Gespräche, die Hage mit ihm geführt hat, sagt Updike: »Das Leben war insgesamt freundlich zu mir. Ich lebe gern.« Es kommt nicht eben häufig vor, dass ein Schriftsteller so optimistisch-zutraulich auftritt und, fast möchte man sagen, trotzdem einen scharfsinnigen, durchdringenden Blick auf die Tragik des menschlichen Daseins wirft. Hages angenehme Biografie dieses bedeutenden Autors ist vor allem eine Werkbetrachtung, sie konzentriert sich auf die 20 Romane, wirft aber auch einen Blick auf die Gedichte und einige der 200 Erzählungen. Ein fleißiger Dichter, dieser Updike, ein Kritiker von Rang außerdem. Volker Hage: John Updike. Eine Biographie Rowohlt Verlag, Reinbek 2007; 157 S., 16,90 €

Während der Europäer Hage auf die USA blickt, blickt der Amerikaner Lützeler auf Europa. Lützeler ein Amerikaner? Ach was, er ist natürlich ein Deutscher, lehrt aber und lebt seit Menschengedenken in St. Louis. Man weiß, dass er einer der besten BrochKenner ist, und so überrascht es nicht, in dieser Sammlung einen Aufsatz über das Verhältnis von Broch und Ernst Jünger zu finden. Scharfsinnig die Interpretation von Kleists Novelle Die Verlobung in St. Domingo. Lützeler erzählt den historischen Hintergrund, vom Aufstand auf St. Domingo gegen Napoleon, Napoleons missglücktem Gegenschlag, der ihn 50 000 Soldaten kostete, die an Gelbfieber starben. Napoleon, ohne Hoffnung, Louisiana lange halten zu können, verkaufte es für 15 Millionen Dollar an die USA. Es hätte nicht viel gefehlt, und Lützeler wäre ein Franzose. Paul Michael Lützeler: Kontinentalisierung Das Europa der Schriftsteller; Aisthesis Verlag, Bielefeld 2007; 293 S., 24,80 €

REISEN

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DIE ZEIT

Neue Töne aus Glasgow Foto: Robert Harding/Schapowalow

Fast 30 Jahre lang hieß es, die raue Industriestadt sei besser als ihr Ruf. Jetzt ist es so weit. Ein Spaziergang mit dem Trompeter Mark O’Keefe VON REINER LUYKEN

Information ANREISE: Ryanair (www.ryanair.com) fliegt von Frankfurt/Hahn und Düsseldorf nach Glasgow, easyJet (www.easyjet.de) von Berlin-Schönefeld und Air Berlin (www.airberlin.com) von verschiedenen deutschen Flughäfen über London UNTERKUNFT: One Devonshire Gardens, das Glasgower Haus der Boutiquehotelkette Hotel du Vin (1 Devonshire Gardens, Glasgow, G12 OUX, Tel. 0044-141/339 20 01, www.onedevonshiregardens.com, www.hotelduvin.com) gilt als die Nummer eins unter den Hotels der Stadt. Die Herberge zieht sich über fünf großbürgerliche, stilvoll renovierte Häuser aus der Zeit der Königin Viktoria im Westen der Stadt. Die Ausstattung der Badezimmer ist so üppig, dass man in ihnen mehr Zeit zubringen möchte, als ein schottisch presbyterianisches Gewissen zulässt. Preise von 140 Pfund (ca. 206 Euro) für ein Standardzimmer bis 925 Pfund (ca. 1363 Euro) für die feinste Suite

Wie wäre es mit einem Nachmittagsschoppen

gleich um die Ecke im Waterloo? Eine düstere Kneipe, die einen von außen vermuten lässt, dass drinnen seit hundert Jahren nicht mehr gestrichen und seit zehn Jahren nicht mehr geputzt worden ist. Gehört das nicht auch zu einem musischen Spaziergang durch Glasgow? Für Hugh MacDiarmid, den beachtenswertesten schottischen Dichter des vergangenen Jahrhunderts, verkörperten solche Spelunken die Seele der Stadt: »Wie die meisten zielbewussten Zecher Glasgows gehe ich dem absorbierenden Geschäft des täglichen Trankopfers mit minimaler Beleuchtung und ohne Ablenkung durch Frauen und Musik nach. Wir verachten einschmeichlerische Verbindlichkeit, wir ziehen bitteren Sarkasmus vertraulicher Gesprächigkeit vor, wir sind reizbar, Liebenswürdigkeit ist uns fremd. Ungezähmte Wildnis liegt uns näher als Annehmlichkeiten der Zivilisation …« »Lieber nicht«, sagt O’Keefe. »Es tut mir leid, dass ich kneife, aber ich habe schlechte Erfahrungen gemacht. Ich will nicht als ›Scheißire‹ angemacht werden.« Das kann in solchen Spelunken leicht passieren, in ihnen wird bis heute eine abgewandelte Form des Nordirlandkonflikts ausgetragen. Ein Drittel der Bevölkerung Glasgows ist irischer Abstammung. Hartgesottene Protestanten sehen in ihnen bis heute charakterlose Vaterlandsverräter. Das Waterloo ist heute ein Schwulentreff, aber das erfahren wir erst später. Wir wenden unsere Schritte zum Hafenamt, einem grandios-kuriosen Bauwerk am Ufer der Clyde. Es ist nur auf einer Seite grandios. 1908 ging das Geld aus, die Ostseite ragt als fensterlose, graue Mauer in die Höhe. Oben auf dem Pediment ringen Tritonen, mythische Meereswesen, mit wild dreinblickenden Rössern. Von dort hat man einen großartigen Blick über Glasgow, über bröckelnde Fassaden und moderne Bürohäuser, über Baustellen und futuristische Architektur, über stilles Flusswasser und hektischen Verkehr. Ein Durcheinander, scheinbar planlos, vielleicht unplanbar. O’Keefe bläst eine Passage aus John Maxwell Geddes’ Das Problem mit Tritonen. Das Problem ist ihre Unleidlichkeit. Sie sind streitbar und mürrisch. Der Wesenskern erschließt sich erst bei genauem Hinhören – ganz wie bei dieser merkwürdigen Stadt.

RESTAURANTS: Heart Buchanan, 380 Byres Road, Glasgow, Tel. 0044-141/334 76 26, www.heartbuchanan.co.uk Òran Mór, Top of Byres Road, Glasgow, Tel. 0044-141/357 62 00, www.oran-mor.co.uk

BESICHTIGUNG: Die Hunterian Art Gallery (82 Hillhead Street, University of Glasgow, Tel. 0044-141/330 54 31, www.hunterian.gla.ac.uk) beherbergt eine Sammlung des Malers und Radierers James McNeill Whistler. Im Pollok Country Park ist die Burrell Collection (2060 Pollokshaws Road, Tel. 0044-141/287 25 50, www.glasgowmuseums.com) untergebracht, eine von dem Reeder Sir William Burrell in aller Welt zusammengetragene Kunst- und Schatzsammlung. Das neue Glasgow Exhibition Centre (Scottish Exhibition and Conference Centre, SECC, Tel. 0044-141/248 30 00, www.secc.co.uk) von Sir Norman Foster lohnt einen Besuch allein wegen der Architektur AUSKUNFT: VisitBritain, Tel. 01801/46 86 42, www.visitbritain.de, www.visitscotland.com Botanischer Garten

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gängerbrücke aus auf zwei unterirdische Bahnsteige, sie sind von Rhododendron, Farn und Flieder überwachsen. Aus der an beiden Enden in Tunneln verschwindenden Bahntrasse wuchert Ahorngestrüpp – die Überreste einer 1939 abgerissenen Bahnstation. O’Keefe würde hier gerne einmal seine Trompete spielen, vielleicht sogar ein Konzert geben. Er liebt Kavernen. Einerseits ist er traditioneller Orchestermusiker, andererseits schätzt er Verfremdung, Querspielerei und Experimente. Zu gerne würde er wissen, wie sein Trompetenspiel, gemischt mit digital erzeugten Tönen und Geräuschen, auf der zugewachsenen Zugstrecke klingt. Doch auch jemand anderes verfolgt hier seine Pläne, ein Unternehmer namens Stefan King, der in zehn Jahren über vierzig ehemalige Kinos, grandiose Bankfilialen, verfallende Zierbauten und architektonische Kuriosa der Stadt in extravagante Restaurants, Bars und Diskos verwandelt hat. Es sind hochraffinierte Trinkpaläste. In einem, er heißt Arta, glaubt man inmitten einer spanischen Opera buffa zu sitzen. King will die Bahnstation originalgetreu rekonstruieren und auf den Bahnsteigen einen Nachtklub einrichten. Eine alte Dame, die seit 27 Jahren in dieser Gegend wohnt, ist entsetzt von der Metamorphose Glasgows. »Ich will doch hoffen«, legt sie los, »dass Sie nicht auf Seiten der Alkohollobby stehen. Dieser Herr King hat bereits die ganze Innenstadt ruiniert, überall torkeln

BLICK VOM LIGHTHOUSE, dem Zentrum für Architektur und Design, auf die Skyline der Innenstadt

heute über vierzig Maler, die ihr Auskommen mit Kunst bestreiten. Vor zehn Jahren kannte man aus ganz Schottland genau zwei Künstler, einer von ihnen war berüchtigt für seinen Kitsch. The Modern Institute ist einer der Orte, an denen sie sich bei Vernissagen treffen. Die Galerie hat ihre Räume zwischen schmierigen Anwaltskanzleien und zwielichtigen Detekteien in einem heruntergekommenen Gebäude unweit des Hauptbahnhofs. Ein übel gelaunter Mann öffnet uns die Stahlgittertüren eines vorsintflutlichen Aufzugs. Nichts erinnert an Londoner Schick oder die Vornehmheit der Hamburger Kunstszene. Doch in den Schauräumen der Kunsthandlung kann man internationale Avantgarde bewundern. Der Galerist Toby Webster ist Kommissionsmitglied der Art Basel, der größten Kunstmesse der Welt, er verkauft die Werke einheimischer Künstler auf alle Kontinente.

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Im botanischen Garten blicken wir von einer Fuß-

Betrunkene herum, die ganze Zeit wird man angepöbelt. Nun macht er sich an unser Viertel. Bald kann man sich nachts auch hier nicht mehr auf die Straße wagen.« O’Keefe sagt nichts. Als die Dame von uns ablässt, meint er, alles Alte dem Verfall anheimzugeben könne doch nicht die Lösung sein. Wir gehen zur Universität hinauf, unter trendbewussten Teenagern gilt es als schick, hier zu studieren. O’Keefes Ziel ist die Universitätskirche. Dort packt er endlich seine Trompete aus. Er setzt sie an die Lippen, schreitet langsam durch das Hauptschiff, neugotisch, hochaufragend und ehrfurchtgebietend, und spielt ein irisches Liebeslied, My Lagan Love. Es ist der Todestag Luciano Pavarottis. O’Keefe hatte während des Frühstücks gesagt, dass kein Instrument die Emotionen so sehr aufwühlen könne wie die menschliche Stimme. Der Klang seiner Trompete ist der Gegenbeweis. Die Töne, die er ihr entlockt, sprechen Gefühlsebenen an, die jeder Beschreibung unzugänglich sind. Er stellte in der Kirche unlängst eine CD vor. Fast alle Stücke darauf stammen von zeitgenössischen schottischen Komponisten, einige gab O’Keefe selbst in Auftrag, die meisten sind durch Relikte aus der Vergangenheit Glasgows inspiriert. Über die lärmende Autobahn gelangen wir an den Rand der Innenstadt. Ginge man ohne einen Führer durch die Renfrew Street, würde man vor dem Haus mit der Nummer 341 vermutlich nur die vier graffitibeschmierten Müllcontainer bemerken, vielleicht auch die schwarz verhangenen Fenster, die zwei in den Keller führenden Eisentreppen und den aus der brüchigen Fassade sprießenden Farn. O’Keefe aber zeigt nach oben. Dort beugt sich ein monumentaler Beethoven-Kopf über die Hauswand. Der rote Sandstein ist schwarz angelaufen. Algenbewuchs zieht eine grüne Schliere über die mittlere Stirnpartie bis zur Nasenwurzel. Beethoven wachte hier einst über den Hintereingang eines Pianohauses. 1897 wurde es gegründet, es ging bankrott in der Zeit des Niedergangs von Schiffbau und Handel. Als der Komponist John Maxwell Geddes die überdimensionierte Sturmund Drangbüste entdeckte, regnete es. Das Wasser lief in Strömen über die algenbewachsene Stirn und tropfte wie Schnupfen von der heroischen Nasenspitze ab. Geddes schrieb für O’Keefe ein Trompetensolo: zwei Melodien auf einem Instrument – der erbarmungslose Regen hier, Beethoven dort. Ein paar Straßenzüge weiter steht auf einer Verkehrsinsel eine unfreiwillig unheroische Statue des Drachentöters Sankt Georg. Der von der Trense gerissene Zügel hängt lose herab, die Lanze ist abgebrochen, die Zeit hat aus dem englischen Schutzheiligen einen schottischen Don Quichotte gemacht. Die auf der unkrautüberwachsenen Kreuzung abgeladene Statue thronte früher als Symbol gewerkschaftlicher Macht auf dem Dach eines großen Co-op-Ladens. Aus der Perspektive von 2007 erscheint die gloriose Vergangenheit wie ein Treppenwitz. In dem Laden werden jetzt Mountainbikes verkauft. Das durch die Skulptur angeregte Musikstück trägt auf O’Keefes CD den ironischen Titel Der fahrende Ritter. So beseelt ein Kunstzweig den anderen. Auf der letzten Frieze Art Fair, der wichtigsten Messe für zeitgenössische Kunst in London, stammten neun der elf dort ausgestellten britischen Künstler, die nicht in London wohnen, aus Glasgow. In der Stadt leben

Church of Scotland

res

heute kann sich die Stadt nicht mit der prächtigen, wohlhabenden, nur fünfzig Kilometer entfernten Hauptstadt Schottlands vergleichen. Die Autobahn schlägt eine Schneise durch das Zentrum. Das Erste, was man von Glasgow sieht, sind Plattenbauten und Gasometer. In manchen Glasgower Stadtteilen wie Anderston und Parkhead liegt die Lebenserwartung mit 63 Jahren auf dem Niveau Indiens. Schon 13-jährige Kinder wissen in diesen Gegenden, wie man Drogen mit dem billigsten Fusel für den härtesten Effekt mischt. Doch es hat sich etwas geändert. Am unteren Ende der Byres Road stoßen wir auf die Gemeindekirche der Church of Scotland. Lange ging niemand mehr hin. Die Kirche wurde geschlossen, das Gemäuer verfiel. Seit 2004 blicken die Steinbüsten großer Reformatoren nun wieder streng in den Raum, Erasmus, Calvin, Luther, John Knox. Die Kirche ist allerdings keine Kirche mehr. Die Decke ist neu bemalt, ein psychedelisches Wabern von Feen und Nymphen. Eine Bar nimmt den größten Teil des Hauptschiffs ein. Die Sakristei wurde in eine Brasserie umgewandelt, der Keller in einen Nachtclub. Nicht, dass ein Nachtclub O’Keefes Lieblingsort wäre. Aber im Hauptschiff dominiert die Kultur. Zur Mittagsstunde gibt es für 10 Pfund Eintritt »ein Bühnenstück, ein Bier und eine Kleinigkeit zu essen«, jeden Montagabend werden »ein Konzert, ein Cocktail und ein Imbiss« geboten, jeden Mittwochabend »Dinner, Drama und ein dram«, das schottische Wort für ein Glas Whisky. Die Spannweite der Konzerte reicht von Bach über Schönberg bis zu Uraufführungen einheimischer Komponisten. Einer der Komponisten war uns gerade über den Weg gelaufen. Das Westend ist ein schottisches Schwabing, man kennt sich und trifft sich.

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Fotos [Ausschnitte]: Wattie Cheung für DIE ZEIT (li., m.); Gerald Hänel/Agentur Focus (re.)

M

ark O’Keefe steigt vom Foyer der City Hall, des frisch renovierten Konzertsaals des BBC Scottish Symphony Orchestra in Glasgow, die Treppe zum Restaurant hinauf. Auf dem Treppenabsatz bleibt er kurz stehen. Über ihm hängt das überlebensgroße Bild eines jungen Mannes mit einem Blasinstrument. Er ist dieser Mann, 38 Jahre alt und seit 1996 erster Trompeter des Ensembles. O’Keefe ist Ire, aber er spricht den Namen der Stadt genauso weich und samtig aus, wie deren Einwohner das tun. O’Keefe wird uns sein Glasgow zeigen auf einem Streifzug vom gediegenen Westen, in dem er wohnt, bis in den harscheren Osten, wo das Konzerthaus steht. Wir werden in Cafés, in denen er am liebsten Espresso trinkt, Pause machen. Wir werden Stätten passieren, die er meidet. Vor allem aber werden wir Orte besuchen, an denen das griesgrämige, mürrische Glasgow Neues hervorbringt, Orte, die O’Keefe und seine Kollegen besonders inspirieren. Der Musiker scheint viel zu zart und empfindsam für die raue Industriestadt, das verfallende Maschinenhaus des dahingegangenen Empire. Wenn ihm eine Geräuschkulisse unerträglich wird, legt er die rechte Hand wie einen akustischen Puffer über das Ohr, eine unwillkürliche Geste, um sich vor der lärmenden Umwelt zu schützen. Dort, wo er lebt, in einer kleinen ebenerdigen Wohnung am oberen Ende einer steilen Straße im West End, ist es ganz ruhig. Tritt man aus dem Haus, hört man nur das Rascheln des Laubes in einem mit hohen Bäumen bestandenen Stadtgarten. Und Vogelgezwitscher. Unten mündet die Straße in die Byres Road. Hier wird es lauter. Wir trinken Kaffee bei Heart Buchanan. Der Kaffee und die dazu gereichten Birnenund Apfeltörtchen werden auf Holztabletts serviert. Alles ist sehr pariserisch, der Geruch frischer Baguettes, das Interieur aus Eiche, sogar die Kissen im Karomuster wirken hier gar nicht schottisch. In einem Regal stehen Einmachgläser mit Hummus, O’Keefes Lieblingssorte ist ein Gemenge mit Roter Bete und Basilikum. Wir sitzen am offenen Fenster und sehen dem Treiben auf dem Bürgersteig zu. Eigentlich sollte es regnen, der Wind sollte vom Meer her durch die Straßen pfeifen, die Menschen sollten übel gelaunt und verdrießlich ihre Jackenkragen hochschlagen und sich mit dem Handrücken die von der Nase rinnenden Tropfen wegwischen. So stellt man sich Glasgow vor. Aber es ist mild, die Sonne glimmert milchig durch einen dünnen Wolkenschleier. Die Glasgower schlendern in kurzärmligen Hemden durch die Straßen, bleiben vor den Schaufenstern stehen. Die Ratsverwaltung versucht der Welt seit dreißig Jahren zu erklären, dass ihre Stadt anders ist, als man erwartet. Dass der Verfall gestoppt sei, triste stillgelegte Docks und ein untätiges, in Alkohol ertrinkendes Proletariat der Vergangenheit angehören. Glasgow smiles better hieß der Slogan der achtziger Jahre, den man als »Glasgow lächelt echter« und »Glasgow ist meilenweit besser« verstehen kann – jedes Mal mit dem unausgesprochenen Zusatz »als Edinburgh«. Die Werbekampagne krankte daran, dass sie nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Bis

Viel Grün und neue Architektur: MARK O’KEEFE vor dem Wintergarten im Glasgow Green, dem ältesten Park der Stadt. Auch der Kibble Palace im Botanischen Garten gehört zu seinen liebsten Orten. Am Fluss Clyde hat Norman Forster gebaut

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DIE ZEIT

Reisen

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Frisch vom Markt Schlechtes Wetter gibt es nicht? Das sieht man

»Art Cologne« und Mallorca – wie passt das

in Schleswig-Holstein anders. Zumindest in der Ausstellung »Schlechtes Wetter?« im Volkskunde Museum Schleswig. Da wird gezeigt, welchem Wetter Halligbewohner, Bauern und auch Urlauber ausgesetzt sind. Und da ist nicht immer alles eitel Sonnenschein. Erinnert wird zum Beispiel an Extremfälle wie die großen Sturmfluten in den Jahren 1872 und 1962; zu sehen sind auch Zeugnisse der Schneekatastrophe von 1978, als das Land unter den weißen Massen versank. Wie man sich vor jeglichem Wetter schützen kann, demonstrieren Strandkörbe, Friesennerze und Blitzableiter. Schleswig-holsteinische Künstler entdeckten im wolkenverhangenen Himmel und stürmischen Meer Motive für ihre Werke, auch sie sind in der Schau zu sehen.

zusammen? Ganz einfach, indem die internationale Messe für moderne und zeitgenössische Kunst eine Schwesterausstellung auf der Baleareninsel macht. Premiere für die Art Cologne Palma de Mallorca ist am 19. September. Sie soll ein spätsommerliches Spiegelbild der traditionellen Messe sein, die das nächste Mal im April 2008 stattfindet. Schon seit Jahren stellen viele spanische Galerien in Köln ihre Werke aus, deshalb entschieden sich die Veranstalter für die Insel, zudem wächst dort der Kunstmarkt beständig. 55 Galerien, davon 19 aus Deutschland und 15 aus Spanien präsentieren klassische und zeitgenössische Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Da die neue Messe noch nicht fertig ist, muss der Terminal A des Flughafens als Ausstellungsort herhalten.

»Schlechtes Wetter?«, bis 14. Oktober. Volkskunde Museum Schleswig, Suadicanistraße 46–54, Tel. 04621/967 60, www.schloss-gottorf.de. Geöffnet täglich von 10 bis 18 Uhr, am Wochenende bis 17 Uhr. Eintritt: 2 Euro

Art Cologne Palma de Mallorca, 19. bis 23. September, Flughafen Terminal A. Eintritt: 15 Euro. Informationen unter www.artcologne-palma.com

Hopp, Hopp, hopp heißt es auf 16 Bauernhö-

neue Sportart kennen, man schnuppert Meer. Einen Kurs entweder in Kite- oder in Windsurfen bietet das neu eröffnete Strandgut Resort, das erste Designhotel in St. Peter-Ording an der Nordsee an. Noch bis zum 31. Oktober können Neugierige testen, wie sie zum einen mit der schnörkellosen Einrichtung, zum anderen mit dem Brett auf den Wellen zurechtkommen. Knapp hundert Euro kostet das Paket pro Person, bei dem zwei Übernachtungen mit Frühstück dazugehören sowie der vierstündige Kurs inklusive Brett und Neoprenanzug.

fen Kärntens. Anfänger zum Beispiel können drei Tage lang das Aufsitzen und Sich-im-Sattel-Halten üben, Kinder haben die Möglichkeit zum Ponyreiten. Vier verschiedene Pakete gibt es zu festen Preisen, die Unterkunft kostet extra. Der Islandpferdehof Rapoldi in Leibsdorf unweit von Klagenfurt etwa hat mit vier Blumen den höchsten Bauernhof-Standard. Während einer Woche dürfen die Urlauber dort zwölfmal auf den Pferderücken – je nach individuellem Können gibt es beispielsweise je 50 Minuten Training an der Longe oder einen Ausritt durch hügelige Wiesen.

Happy-Wave-Package, Preis ab 97 Euro pro Person. Strandgut Resort, St. Peter-Ording. Auskunft: Tel. 04863/999 90, www.strandgut-resort.de

Eine Woche Reiten 199 Euro zuzüglich Unterbringung. Auskunft: Urlaub am Bauernhof in Kärnten, Tel. 0043-463/33 00 99, www.urlaubambauernhof.com

Beim Schnupper-Surfen lernt man nicht nur eine

Bauer Dierk Voss aus Oesterwurth wetzt schon das Messer, denn der Tag des »offiziellen Kohlanschnitts« ist nah. Auf seinem Hof bei Wesselburen findet am 18. September, Punkt 10.30 Uhr, im Kreise regionaler Honoratioren und des schleswig-holsteinischen Finanzministers die Eröffnungszeremonie für die Dithmarscher Kohltage statt. Sechs Tage dauert das Erntefest, das mit Bauernmärkten und platt-

deutschem Theater, mit Shantychor-Abenden und Blasmusik eine ganze Region in Feierlaune versetzt und ein Gemüse in den Mittelpunkt rückt, an dem sich immer noch die Geschmäcker scheiden. Absatzsorgen hat man deshalb nicht. Das raue Küstenland mit seinem wachstumsfördernden Nordseeklima und dem fruchtbaren, fetten Marschboden hat sich über die Jahre zu Europas größtem geschlossenem Anbaugebiet

gemausert. Rund 80 Millionen Köpfe Rotund Weißkohl, Wirsing-, Spitz- und Blumenkohl landen jährlich in den hiesigen Lagerhallen und später auf den Tellern der europäischen Nachbarschaft. Krauts? Durchaus kein Schimpfwort für die Dithmarscher Kohlbauern, eher eine Berufsbezeichnung. B.W. 18. bis 23. September in und um Brunsbüttel, Marne, Wesselburen, Heide, Büsum und Meldorf. Veranstaltungskalender unter Tel. 0481/212 25 55, www.kohltage-dithmarschen.de

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»Wann wird es uns zu heiß?« Foto: privat

Foto: corbis

MAGNET Kohl für Europa

HARALD HEINRICHS, 37, leitet am Institut für Umweltkommunikation der Universität Lüneburg ein Forschungsprojekt zu den Auswirkungen des Klimawandels auf den Tourismus Herr Heinrichs, Sie haben gerade begonnen, über »Klimatrends und nachhaltige Tourismusentwicklung in Küsten- und Mittelgebirgsregionen« zu forschen. Was ist das Ziel Ihres Projekts?

Wir wollen an der Nordseeküste und im Schwarzwald zunächst beispielhaft untersuchen, wie dort die Klima- und die Tourismustrends sind, um danach konkrete Angebote zu entwickeln und neue touristische Infrastrukturen vorzuschlagen. Beide Regionen sollen sich erfolgreich an den Klimawandel anpassen können. Wie stark beeinflusst der Klimawandel den Tourismus?

Wegen der Hitzewellen wird es vor allem im östlichen Mittelmeerraum, also in Griechenland und der Türkei, zu heiß. Deshalb werden die Touristen von Süden nach Norden abwandern. Deutschland könnte von der Erderwärmung profitieren, weil wir mehr Sommertage haben werden. Allerdings müssen wir auch vermehrt mit extremem Wetter wie Hitzewellen, Stürmen, Gewittern und Hochwasser rechnen. Und es kann sein, dass Skifahrer in 20, 30 Jahren die Mittelgebirge meiden, weil die Schneefallgrenze über 1500 Meter steigen wird. Für die Prognose sind detaillierte regionale Klimamodelle notwendig.

Wir arbeiten mit einem Klimamodell für zehn Quadratkilometer. Trotzdem sind das Projektionen nach bestem Wissen, keine genauen Vorhersagen für den 17. August 2020. Doch uns geht es darüber hinaus vor allem um die für den Tourismus entscheidenden Klimaparameter. Wir kooperieren mit Meteorologen der Universität Freiburg. Unser Freiburger Kollege ist Spezialist für Tourismusklimatologie und wird die Durchschnittstemperatur auf den Humanklimatologieindex beziehen. Und was bedeutet der Begriff Humanklimatologieindex?

Während die Klimaforschung sich nur um die physikalische Temperaturerhöhung kümmert, versucht die Tourismusklimatologie, die thermischen Werte auf die Physiologie des Menschen zu berechnen: Wann wird das Wetter zum Wohlfühlklima, wann wird es uns zu heiß? Daneben spielt auch die ästhetische Wirkung von Klima eine Rolle: Die Wolken am Himmel, die Stürme an der Nordseeküste haben für Touristen durchaus einen Reiz. Wie sollen die Angebote ausschauen?

Es geht dabei auch um das Image der Regionen: Wie soll es verändert und differenziert werden? Im Schwarzwald wird Wintertourismus vielleicht ergänzt um Wellness, Gesundheitsurlaub, Wandern. Und an der Nordseeküste könnten große Hotelanlagen und Resorts dazukommen sowie wetterunabhängige Kulturangebote. Werden clevere Marketingstrategen in einigen Jahren mit dem Slogan werben: »Unsere Nordsee – wir haben den höchsten Wohlfühlklimaindex!«?

Marketingstrategien sind notwendig, reichen aber nicht aus. Denn wenn man Touristen, die bislang in die Türkei und nach Griechenland fahren, allein mit Marketingstrategien an die Nordsee locken will, dann geht man baden. Die Urlauber sind ganz andere Hotelstandards gewohnt. Deshalb muss man in die

Infrastruktur investieren, also in Resorts, in Küstenschutz, und im Schwarzwald in sichere Wege zum Winterwandern. Sind Tourismusbranche und Tourismuspolitik in Ihr Projekt eingebunden?

Wir haben einen nationalen Beirat, in dem die großen Tourismusunternehmen und -verbände vertreten sind, aus der Politik das Umweltund das Wirtschaftsministerium. Inzwischen ist den Entscheidungsträgern klar: Wir müssen das Thema ernst nehmen und uns damit auseinandersetzen. Aber es gibt noch große Konfusion und Unsicherheit. Auf der diesjährigen Internationalen Tourismusbörse in Berlin zum Beispiel wurden Aussteller zum Klimawandel befragt. Über 30 Prozent sagten ganz ehrlich »Wir wissen nicht, welche Handlungsmöglichkeiten wir haben.« Auf die Frage, was man für den Klimaschutz unternehmen könne, nannten die meisten Mülltrennung. Nicht gerade ein klimarelevantes Thema. Geht die touristische Debatte noch um Klimaschutz oder nur noch um Klimaanpassung?

Der Klimaschutz steht bei den großen Klimagipfeln, bei den Förderprogrammen völlig zu Recht an vorderster Stelle. Aber selbst wenn wir mit Klimaschutzmaßnahmen alle Emissionen auf null stellen würden, so ist der Klimawandel in Gang gesetzt. Ohne den Klimaschutz zu diskreditieren, ist Klimaanpassung eine kluge Strategie nach vorne, im Hochwasserschutz in der Landwirtschaft und auch im Tourismus. Schneekanonen sind eine touristische Anpassungsstrategie. Auch im Schwarzwald.

Anpassungsstrategien sollen natürlich nachhaltig sein und nicht umweltproblematische Technologien fördern. Darüber werden wir im Projekt mit den Tourismuspraktikern diskutieren. Sind Sie mit Ihrem Projekt letztlich ein Reparaturbetrieb für die Tourismusbranche, ein öffentlich subventioniertes Consulting-Unternehmen?

Nein. Der Klimawandel ist ein Problem, das alle betrifft. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat ein großes Programm zur Klimawirkungsforschung in Deutschland aufgelegt. Gefördert werden Projekte, bei denen Wissenschaft und Praxis zusammenarbeiten. Das betrifft wettersensible Bereiche wie die Landwirtschaft und vor allem den Tourismus. Es ist wichtig, dass wir mit unserer Expertise nicht im Elfenbeinturm sitzen bleiben, sondern der Tourismusindustrie in Deutschland helfen, sich weitsichtig auf den Klimawandel und die Folgen einzustellen. Klima- und Tourismuswissenschaft, Informations- und Kommunikationswissenschaft arbeiten zusammen. Unser Projekt wird mit 750 000 Euro gefördert und läuft bis Ende 2009. Und dann ist alles eitel Sonnenschein?

Unser wissenschaftliches Konzept allein wird wohl nicht ausreichen, dass sich der gesamte Deutschlandtourismus langfristig den verändernden Klimabedingungen anpasst. Die Erfahrungen aus den Fallbeispielen sollen aber auch für andere Regionen nutzbar gemacht werden, sodass Touristiker lernen können, auf den Klimawandel zu reagieren. INTERVIEW: GÜNTER ERMLICH

Reisen

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Das Eis ruft

DIE ZEIT

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Information

Mit dem Boot kommt man ihnen ganz nah. DOCH VORSICHT: Es können jederzeit Stücke vom Eisberg abbrechen

ANREISE: In Ostgrönland gibt es nur zwei bewohnte Regionen: Ammassalik (Tasiilaq) und Ittoqqortoormiit (Scoresbysund). Hauptreiseziel ist Ammassalik mit seinen 1500 Einwohnern. Man erreicht es per Flugzeug über Reykjavík (Island) oder via Kopenhagen und Kangerlussuaq (Grönland). Von Island aus bietet Air Iceland Tages- oder Zweitagestouren nach Ammassalik (www.airiceland.is)

Kalt, einsam und berauschend – Paddeln entlang der ostgrönländischen Küste ist für Kajakfahrer das Größte VON THOMAS HÄUSLER

UNTERKUNFT: In Tasiilaq das Red House, das der Extremsportler Robert Peroni führt (www. east-greenland.com), oder das Hotel Angmagssalik (www.arcticwonder.com/hotelang.html)

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DIE TOUR: Die beschriebene Reise wird von dem amerikanischen Veranstalter Explorer’s Corner immer im Juli und August organisiert (www.explorerscorner.com, Tel. 001510/559 80 99). Sie kostet rund 3000 Euro inklusive Kajaks, Guide, Verpflegung, Übernachtung und Flug Island–Grönland. Weitere Informationen unter www. eastgreenland.com und www.greenland.com

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ach sechs Stunden Marsch sehen wir zum ersten Mal, weshalb wir kamen. Ein namenloser Pass gibt den Blick frei auf den Atlantik und den Sermilikfjord. Eisberge, mächtig wie Kathedralen, ragen aus der Flut. Morgen werden wir in die Kajaks steigen und zwischen ihnen hindurchpaddeln, zehn Tage an der ostgrönländischen Küste entlang in die Wildnis. Nur ein paar Hundert Touristen pro Jahr machen sich auf so eine Reise. Annehmlichkeiten gibt es keine; das arktische Meer verzeiht kaum ein Kentern, die Temperatur des Salzwassers liegt unter null Grad. Zerklüftete Klippen recken sich aus dem Ozean empor, nur selten klammert sich kärgliches Grün an den Fels. Hinter dem Küstengebirge beginnt der Eispanzer, der fast ganz Grönland bedeckt und an seiner dicksten Stelle 3400 Meter misst. Um dieses Reich zwischen Meer, Fels und Eis zu erkunden, ist das Kajak die natürliche Wahl. Schließlich wurde es von den Inuit erfunden, die hier seit 2000 Jahren siedeln und damit Robben und Narwalen nachstellten. Nur in diesem Jagdboot spürt man so hautnah die Kraft der Wellen, die Gischt, den kalten Hauch des Eises. Aus der Froschperspektive erkennt man die Wucht der Eisriesen und hält ganz von selbst den gebührenden Abstand. Das ist auch besser so. Jederzeit können Stücke von einem Eisberg abbrechen, dann rollt er tosend in ein neues Gleichgewicht und löst dabei Brecher aus. Für die Inuit war die Gefahr täglicher Begleiter auf der Jagd. In ihren überlieferten Geschichten findet man Sätze wie diesen: »Das Übliche geschah; die Kajaks fuhren hinaus und kehrten nicht zurück.« Darum muss man sich das Eis zum Freund machen, sagt der Kajakführer Baldvin »Baldi« Kristjansson am Abend vor unserer ersten Paddeletappe im Camp. Wir sollen lernen, mit welchem Eis wir es zu tun haben. Das Meereis ist flach und ungefährlich. Vorsicht gebieten die Eisberge, die von einem der grönländischen Gletscher ins Meer gekalbt wurden und oft gefährlich unter Spannung stehen. Der gebürtige Isländer lebt seit zehn Jahren in Grönland und hat die meiste Zeit davon in der Wildnis verbracht. Vor zwei Jahren lotste Baldi zwei Blinde im Kajak tausend Kilometer entlang der ostgrönländischen Küste. 49 Tage durch Klippen, Eis und Stürme. Den »Everest für Meereskajakfahrer« nennt der amerikanische Extremsportler Lonnie Dupre diese Strecke. Als einer der Männer beim Einsteigen ins eisige Wasser fiel, fischte ihn Baldi in Sekunden heraus – und brach sich dabei eine Rippe. In unserer Gruppe ist eine Teilnehmerin dabei, die nur ein Bein hat. Das andere verlor die ehemalige Expeditionsärztin bei einem Motorradunfall. Kein Grund, nicht mehr die Welt zu erkunden. Die übliche Route, die hier angeboten wird, führt durch geschützte Fjorde, Ostgrönland light. Doch mit uns zwölf hat Baldi anderes vor. Er will an der offenen Küste entlang, wie mit den Blinden. Da werden wir der Wucht des Nordatlantiks ausgesetzt sein. Ziehen Stürme auf, so könnten wir für Tage festsitzen, die ganze Tour wäre bedroht. Aber wenn alles gut geht, werden wir ungleich mehr Eisberge sehen können als in den Fjorden – und mehr Packeis, das Eisbären bringen kann. Darum führt Baldi ein Gewehr mit. Er schärft uns ein: »Wenn wir einen Eisbären sehen, fotografiert keiner, jeder hört auf meine Anweisungen – augenblicklich.« Die ersten zwei Tage dienen der Eingewöhnung. Wir überqueren den Sermilikfjord, feilen an der Paddeltechnik und bestaunen die ersten Eisberge. Wie die Wolken am Himmel bieten sie eine unendliche Formenvielfalt. Wir machen uns ein Spiel daraus, Vergleiche zu finden. Da vorne schwappt ein kühner Bau von Frank O. Gehry und da drüben ein kolossales Gehirn. Oft sind Bögen zu sehen oder Löcher. Auf einigen Riesen haben sich Schmelzwasserbäche in die Oberfläche gefressen, die als Wasserfall ins Meer stürzen.

Vor den Farben des Eises muss die Sprache kapitulieren. Blütenweiß, unergründlichblau, satt-türkis sind hilflose Annäherungen. Es scheint Hunderte von Eiszuständen zu geben, jeder mit eigenem Farbton. Manchmal gleitet das Kajak durch Champagner, unzählige Blasen knistern im Wasser. Das Gas poppt aus kleinen Stücken, die eben von einem Eisberg abgebrochen sind. Es ist Luft, die vor Tausenden von Jahren auf der Oberfläche eines Gletschers im sich bildenden Eis eingeschlossen wurde. Fischt man die Stücke aus dem Wasser und nimmt sie in die Hand, ist ein feines Blubbern zu spüren. Am dritten Tag sagt Baldi nach dem Frühstück: »Ab jetzt sind wir auf Expedition. Wir werden den Fjord verlassen und die exponierte Südroute einschlagen.« An diesem Morgen muss er besorgte Fragen zu Weg und Wetterlage beantworten, und wir packen die Boote besonders sorgfältig. Den ersten Kilometer paddeln wir noch hinter dem Schutz einer Insel. Dann öffnet sich die See. Die Dünung wird stärker, die Wellentäler verschlucken die Nachbarboote, nur noch die Paddler sind zu sehen. Das eisige Wasser schwappt übers Kajak und spritzt ins Gesicht. Der Atlantik wirft sich den Eisgiganten entgegen, Gischtfontänen schießen in die Höhe. Auch die Brecher an den Felsklippen zur Rechten sehen ungemütlich aus. Ein Eisblock ist in ihre Fänge geraten und wird unter Getöse zermalmt. Unablässig hallt das Donnergrollen von Eisbergen, die Ballast abwerfen. Plötzlich fällt ein Brocken, groß wie ein Walrossbulle, einige Dutzend Meter vor uns ins Wasser. Die Warnung sitzt: Abstand halten! Die Geschichten der Inuit sind bevölkert von Geis-

tern und Gruselwesen. Als Nebel aufzieht, ahnen wir, warum. In den dichten Schwaden erscheinen Eis und Fels als spukhafte Gestalten. Selten zeigt sich der orangefarbene Ball der Sonne hinter den Wolken. Das Wasser ist von einem intensiven Blaugrün, wie wir es bisher nicht gesehen haben. Die lebhafte See fordert die Muskeln, trotzdem schmerzen die Arme und der Hintern nicht mehr wie in den ersten Tagen. Synchron bewegen wir uns in den Zweierkajaks, versunken im Rhythmus des Augenblicks. Dann tauchen aus dem Wasser die dunklen Köpfe von Robben auf. Die Tiere scheinen das Spiel in den tanzenden Wellen zu genießen. Für solche Momente erdulden wir die Mühsal des arktischen Nomadenlebens. Wahre Hassobjekte sind die klobigen Überlebensanzüge, die im Fall eines Kenterns vor dem eisigen Wasser schützen sollen. Lästig ist auch das Morgenritual, das gut und gerne drei Stunden dauert: Zelte trocknen und abbauen, die Ausrüstung packen und wasserdicht im engen Kajak verstauen. Natürlich versenkt man jedes Mal etwas Wichtiges tief unten in einem der Säcke und merkt es erst, wenn alles geladen ist. Die an die zwei Zentner schwer beladenen Boote müssen wir wegen der Gezeiten jeden Abend über Klippen in Sicherheit hieven. Die Lagerplätze werden mit der Zeit immer karger. Doch auch auf Stein kann man Zelte aufbauen. Ein Vorteil der felsigen Lagerplätze ist, dass wir dort vor den Mücken sicher sind, die uns zu Beginn gequält haben. Die in Wolken auftretenden Plagegeister stechen zwar nicht, dringen aber schnurstracks zu den Augen, in die Nase und die Ohren vor. Da rettet nur ein Mückennetz über dem Kopf vor dem Wahnsinnigwerden. Das Salzwasser und das Paddeln sorgen dafür, dass man seinen Körper intensiver spürt als sonst: Nach dem Schlafen sind die Finger aufgedunsen und sehen aus wie Würste. Trotz der Strapazen ist man so aufgeputscht, dass man sich selbst nach einem Paddeltag noch anstrengen will und die Berge ums Camp erklimmt. Meistens entdecken wir Relikte der Inuit: Kreise aus Steinen, die einst die Felle der Sommerzelte befestigten, oder die Mauern der Winterhäuser. In diesen knapp 20 Quadratmeter großen Behausungen lebten vier, fünf Familien. Alleinige Licht- und Wärmequelle in der Polarnacht war eine Steinplatte, auf der Robbenfett verbrannt wurde. Das Holz driftete von Sibirien heran. Heute

haben die Menschen die halbnomadische Lebensweise aufgegeben und wohnen in wenigen Dörfern. Die Inuit lebten von den Robben, die sie im Winter mit Hundeschlitten, im Sommer vom Kajak aus jagten. Die Tiere lieferten ihnen fast alles: das Fleisch und die Felle und Häute für Kleidung, Zelte, Kajakhülle. Blieben die Robben aus, herrschte Hungersnot. In den letzten 2000 Jahren wurde die ostgrönländische Küste von Nordkanada aus mehrfach besiedelt, und wiederholt starb die Bevölkerung aus. 1933 berichtete der Ethnologe Knud Rasmussen, dass er noch Ostgrönländer getroffen habe, die verhungerte Menschen gegessen hatten. Viele Menschen hat das Land nie ernährt. Als die ersten Europäer 1884 hierher gelangten, zählten sie 413 Menschen. Zuvor hatte das viele Eis, das die Ostgrönlandströmung vom Norden herantransportiert, europäische Expeditionen unmöglich gemacht. Wegen der kalten Strömung ist die Vegetation hier spärlicher als an der Westseite. Auch heute leben kaum 3500 Menschen im Osten, die meisten in Tasiilaq, wo unsere Tour begann. Eine ihrer Herausforderungen ist der Klimawandel, der ihre Umwelt schon spürbar verändert hat. Die Fjorde frieren nicht mehr richtig zu, statt vom Eis aus nach Robben zu jagen, gehen sie jetzt fischen.

Bei jedem Essen müssen wir an die alten Inuit denken, die so oft hungerten. Morgens stopft Baldi jeden mit Porridge voll. Zum Mittagessen hauen wir uns Unmengen an Brot, Speck, Butter, Nutella und Keksen rein. Abends gibt’s Suppe und Eintopf. Pro Tag wohl an die 5000 Kalorien. Der Heißhunger kommt natürlich vom Paddeln und von der Kälte. Baldi erzählt von Reisegefährten, die abwechselnd vom Brot in der Linken und von einem Stück Butter in der Rechten abbissen. Schon einige Tage vor Ende der Tour greift die Sorge um sich, wie wir unsere Körper vom Fetttrip herunterbringen können. Noch bleibt uns etwas Zeit. Aber haben wir nicht schon alles gesehen? Auf die seltenen Narwale mit ihrem gewundenen Horn darf man nicht hoffen, das wäre ein zu großer Glücksfall. Trotzdem bietet jeder Tag neue Überraschungen. Die Robbe, die sich auf einer Eisscholle räkelt. Die Eisbärenspuren, die wir bei einem Lager entdecken. Die langsame Reise schärft die Sinne. Die Ohren halten immer mehr Geräusche auseinander: das Donnern von kollabierenden Eisbergen, das Grollen der Brecher, den hellen Klang des Schmelzwassers, das ins Meer tropft. Die Inuit können an den

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Basiscamp

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Tasiilaq

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ATLANTISCHER OZEAN 10 km Camps

Eisgeräuschen Wetterwechsel erkennen, erzählt Baldi. Erst in Isertoq sehen wir andere Menschen. Das 120-Seelen-Dorf ist bis zur tausend Kilometer entfernten Südspitze Grönlands die einzige Siedlung. Die Bewohner, die nicht auf der Jagd sind, sitzen vor ihren Häusern und trinken Bier. Im Laden kaufen wir Nachschub an Nutella und Keksen. Wir haben noch etwas Großes vor. 30 Kilometer südwestlich von Isertoq enden die erhältlichen Karten. Dahinter liegt Terra incognita. Da wollen wir hin. Dort, wo der Eispanzer Grönlands sich direkt ins Meer senkt, vermutet Baldi ein Wunderland mit noch mehr Eis im Meer. Er behält recht. Am übernächsten Tag können wir unsere Boote nur noch durch enge Passagen schlängeln. Vom Hügel einer Insel inspizieren wir das Gebiet: ein Gedränge von Eisbergen und -platten. Dahinter thront der Eispanzer. Was bei freiem Wasser ein paar Stunden dauern würde, veranschlagt Baldi auf zwei Tage Wegstrecke. Zu lange. Der letzte Traum bleibt unerfüllt, am Rand der Karte kehren wir um. Zwei per Satellitentelefon bestellte Boote holen uns in unserem Camp ab. Die rasende Rückfahrt mit den Motorschiffen nach Tasiilaq dauert fast fünf Stunden und erfüllt uns mit Stolz: All das sind wir gepaddelt.

ZEIT-Grafik

Foto [Ausschnitt]: Thomas Häusler für DIE ZEIT

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DIE ZEIT

Reisen

Nr. 38 13. September 2007

Lesezeichen

BLICKFANG Indiens Töchter

Durch Asien, Ostafrika und Südamerika ist der New Yorker Fotograf Fazal Sheikh gezogen, um die Heimatlosen und Ausgestoßenen ins Bild zu setzen, ihre Geschichten zu hören und weiterzuerzählen. Seine Reisen führen in die Hinterzimmer der Gesellschaft, folkloristische Hochglanzmotive sind seine Sache nicht. Auch für seinen jüngsten Band hat er Schwarz-Weiß-Aufnahmen ausgewählt, die Ruhe und Ernsthaftigkeit verströmen. In Indiens Städten und auf dem Lande befragte er Frauen und Mädchen aus der Unterschicht nach ihrem Leben. Sie förderten bittere

Wahrheiten zutage: Vom Wirtschaftsboom des Subkontinents profitieren sie nicht. Weil weiblicher Nachwuchs auch im aufstrebenden Indien unerwünscht bleibt, gehören Abtreibungen, Unterbringungen in Waisenhäusern und Morde an Ehefrauen zum Alltag. Angst und Resignation spiegeln sich in den Gesichtern, die Sheikh mit seiner Kamera verewigt. Ladli heißt sein engagierter Band. Das ist Hindi und bedeutet der Wirklichkeit zum Trotz »geliebte Tochter« (unser Bild zeigt eine Rosenverkäuferin). CS Fazal Sheikh: »Ladli«, Steidl Verlag, Göttingen 2007, 200 S., 25,– €

Die Hauptstadt Czernowitz und mit ihr der nörd-

Traumpfade von Schriftstellern schlängeln sich

liche Teil der Bukowina gehören heute zur Ukraine. Die Südhälfte zählt zum rumänischen Staatsgebiet. Aber nicht erst seit ihrer jüngsten Teilung ist die Bukowina ein Grenzland. Sie ist, wie Kurt Scharr belegt, »ein außerordentlich vielschichtiger Raum, der lange Zeit dem Sog der europäischen Mächte, deren Peripherien sich hier berührten, ausgesetzt war«. Eben die Vielschichtigkeit mache seit je »den Reiz dieser Kulturlandschaft« aus. Mehrere Landessprachen (Deutsch, Jiddisch, Rumänisch, Russisch, Ukrainisch) hätten mehr oder weniger beabsichtigt nicht nur den Geist geschärft und kluge Köpfe hervorgebracht (darunter Paul Celan, Rose Ausländer und Joseph Schumpeter), sondern auch dafür gesorgt, dass sich das »nicht mehr ganz Fremde zunehmend zum Teil des Eigenen entwickelte«. Präzise erkundet der Geograf die natürlichen Gegebenheiten und den geschichtlichen Wandel in der Bukowina und bietet sich als Reiseführer auf vier Exkursionen und zwei Stadtrundgängen an. H. K.

durch die ganze Welt. Von Calais nach Istanbul reiste Agatha Christies Detektiv Poirot im Orientexpress, in den Wiesen von Bullerbü fanden Lisa, Lasse und die anderen Kinder Glockenblumen und Sommerglück. Das Nachschlagewerk Sehnsuchtsorte zeigt, wo die Inspirationsquellen der Dichter liegen: vom Stichwort »Abtei« – dem Benediktinerkloster im Apennin, wo Umberto Eco Bruder Adelmus ermorden ließ – bis zum »Zweistromland«, wo die erste Schrift der Menschheit entstand. In kurzen Texten erzählt die Autorin Bettina Querfurth von Isabelle Eberhardts Erfahrungen in der Sahara, von T. C. Boyles Liebe zu Timbuktu oder Karen Blixens Plantage am Fuße der Ngong-Berge. Ihre originelle Auswahl basiert auf der Verarbeitung eigener Lesefrüchte und kann angesichts des weiten Feldes der Literatur nicht erschöpfend sein. Lehrreich und unterhaltsam ist dieser poetische Streifzug aber allemal – und manchmal etwas abgehoben. Denn auch des kleinen Prinzen Asteroid B 612 wird inspiziert. CS

Kurt Scharr: »Die Bukowina. Erkundungen einer Kulturlandschaft«. Böhlau Verlag, Wien 2007; 157 S., 19,90 €

Bettina Querfurth: »Sehnsuchtsorte. Wohin Schriftsteller uns entführen«. Dörlemann Verlag, Zürich 2007: 254 S., 17,90 €

Oman und Dubai sind beliebte Ziele im Nahen Os-

ten. Politische Stabilität, praktisch keine Kriminalität, luxuriöse Unterkünfte und je nach Geschmack mehr oder weniger Wüstenexotik mit Sonnengarantie locken Reisende zu den beiden Sultanaten an der Nordspitze der Arabischen Halbinsel. Kurt-Michael Westermann und Viktor Aschenbach zeigen in ihrem Bildband den frappierenden Kontrast zwischen dem blendenden Reichtum in den modernen Metropolen Dubai und Muscat und dem beschaulichen Leben in den alten Handelsstädten, den Lehmburgen im Gebirge, den pastellfarbenen Sandwüsten. Erstaunlich, wie viele Menschen Westermann im menschenleeren Hinterland vor die Kamera bekam. Bei dem extrem breiten Buchformat hätte man sich allerdings durchaus mehr Panoramaaufnahmen gewünscht, die die Einsamkeit der Rub al-Hali, des Leeren Viertels, und der schroffen Gebirgswüsten einfangen. Die anschaulichen Texte werden vor allem Leser interessieren, die eine Reise in die Region unternommen haben oder planen. MWE

Um Polens Kulturhauptstadt näherzukommen, raten die Autoren Magdalena Niedzielska und Jan Szurmant zu einem ganz speziellen Programm: »Tagsüber die Weichsel entlangspazieren, dabei den Blick auf den Wawel genießen, und den Abend bei jiddischer Küche und Musik im Klezmer-Hois ausklingen lassen.« Mit ihrem bestens sortierten Stadtführer präsentieren die beiden Krakau als Zentrum der Architektur und Malerei, der Literatur, des Theaters und der Musik. Sie schlagen dem Besucher dreizehn Touren durch die Stadt und sechs Ausflüge vor, die unter anderem zu den berühmten Tuchhallen, dem RenaissanceMeisterwerk auf dem Marktplatz, aber auch zur Gedenkstätte Auschwitz führen. Die Autoren warten zudem mit »den besten Adressen« für Kaffeehausliebhaber, Gourmets und Nachtschwärmer auf und geben Hinweise, wo man übernachten kann. Mit 128 Farbfotos, 15 Übersichtskarten und Plänen zeigt das Buch detailliert, was die Gäste der Stadt erwartet und wie sie es finden. H. K.

Kurt-Michael Westermann/Viktor Aschenbach: »Oman Dubai«. Bruckmann Verlag, München 2007; 111 S., 24,90 €

Magdalena Niedzielska/Jan Szurmant: »Krakau«. Michael Müller Verlag, Erlangen 2007; 224 S., 12,90 €

Nr. 38 13. September 2007

»Ich sammle Flüge«

In einem »Haushaltsheft« trägt er Zeiten, Sitzplatz, Passagierzahl ein Seit vor vier Jahren der Flughafen Düsseldorf-Weeze eröffnete, der viel mehr Weeze als Düsseldorf ist, liegt der Niederrhein mitten im Billigflieger-Netz. Nach der neuen Ryanair-Geografie liegen von hier aus Barcelona, Venedig und Stockholm näher als Frankfurt am Main oder Stuttgart. Mehrmals täglich schweben seitdem Flugzeuge im Sinkflug über Christians Zimmer in Kleve, wo ansonsten nur der Regionalzug aus Düsseldorf seine Endstation hat. Kein Wunder, dass einer hier abheben will. »Sumpfgermanien« nennt Christian seine Heimat: plattes Land und Bodennebel. Früher wäre einer wie er vielleicht in den Sommerferien mit Interrail-Ticket durch Europa gerollt, heute macht er mit Ryanair Tagestrips. »Natürlich sehe ich an einem Tag nicht alles«, sagt er. »Aber ich kann ja jederzeit wieder hinfliegen.« Anfangs war Christian noch jedes Ziel recht, Hauptsache, fliegen. Inzwischen wählt er manchmal auch erst die Stadt aus – und schaut dann, »wie man da interessant hinkommt«. Dieses Wochenende aber ist das Ziel zweitrangig: Das Flugzeug ist eine Boeing 737-200, Baujahr 1974, unterwegs im Auftrag der britischen Charterlinie Palmair zwischen Bournemouth und Alicante. Nur noch sieben Maschinen dieses Typs sind in Westeuropa in Betrieb, weltweit sind nur 20 ältere unterwegs. Und vom nächsten Jahr an, hat Christian in einem Internetportal gelesen, sollen sie keine britischen Flughäfen mehr ansteuern dürfen. Die meisten Passagiere wird das freuen, Christian nicht. Er nennt die Boeing 737-200 zärtlich »Donnerschweinchen«, weil sie so laut ist, und er hat sie schon durch halb Europa verfolgt. Dreimal hat er sie verpasst, mal wurde das Flugzeug durch ein anderes ersetzt, mal hatte der Zubringerflug Verspätung. Nun ist es endlich so weit. »Viel Spaß, Junior«, wünscht die Mutter am Bahnhof von Nijmegen, sie ist Krankenschwester, alleinerziehend, Christian ist der einzige Sohn. Ob sie sich Sorgen macht, wenn er unterwegs ist? »Ach, Sorgen mache ich mir eigentlich immer«, sagt sie fröhlich, »egal, ob er nun in der Luft ist oder nicht.« Nach einer Stunde Fahrt tauchen die Bürohäuser im Süden Amsterdams auf, aber der Zug fährt an der Stadt vorbei zum Flughafen Schiphol. Fünf-, sechsmal war Christian schon hier. Immer am Flughafen, nie in der Stadt. »Schiphol ist was Feines«, sagt er, »da sind wir oft zum Spotten.« Spotten, das heißt: Flugzeuge fotografieren. Zusammen mit seiner Mutter fährt er sonntags manchmal zum Flughafen, im Gepäck Picknickkorb und Decke. Ihr Lieblingsplatz ist eine Wiese neben der Landebahn, wo es nur einen Graben gibt, aber keinen Zaun. »Da liegst du im Gras und könntest meinen, die Flugzeuge landen direkt neben dir. Herrlich!« Am liebsten fotografiert er beim Start oder bei der Landung, »da muss Bewegung drin sein«. Wenn der Schüler von Flugzeugen schwärmt, dann klingt es, als rede er über Mädchen: »Sehr niedlich« können sie sein, mit »schönen runden Bullaugen« oder »super Kurven«. Auf dem Flughafen zieht es ihn zuerst zur Aussichtsplattform, der Nylon-Rollkoffer schnurrt sanft hinter ihm her. Shampoo in kleinen Dosen, zwei T-Shirts und Unterwäsche, das ist alles; der Profi

gibt kein Gepäck auf. Um den Hals hat er seine Kamera hängen, ab und zu nimmt er sie in die Hand und fotografiert ein Flugzeug am Himmel oder vor dem Terminal. »Ah, die Blue Islands«, sagt er dann. »Wo will die denn jetzt hin?« Oder: »Warum ist die denn immer noch hier? Die hätte doch schon längst weg sein müssen.« Bevor er irgendwohin fliegt, schaut er erst mal im Internet nach, was da am Flughafen so los ist. In Schiphol ist heute eine Menge los. Um 18.17 Uhr hebt die Maschine des Charterfliegers Thomsonfly ab, 47 Minuten verspätet. Kaum ist sie in der Luft, greift Christian nach der blauen Kladde mit dem aufgedruckten Titel »Haushaltsheft«, das er nur »mein Logbuch« nennt. In ordentlicher Schrift hat er dort mit immer demselben blauen Kugelschreiber die Flüge vermerkt: Flugzeiten, Verspätungen, Registriernummer, Sitzplatz, maximale, gebuchte und tatsächliche Passagierzahl. Das Heft legt er nicht aus der Hand, es ist sein Tagebuch der vergangenen vier Jahre. 25 Flüge sind bisher in diesem Jahr eingetragen: Neapel, Madrid, Dublin, Wien und Dubai. Tausend Euro hat er ausgegeben, bezahlt vom Taschengeld, von einem Ferienjob auf Mallorca und vom Rasenmähen beim Nachbarn. In den kommenden Monaten will Christian weniger fliegen, die Abiturprüfungen stehen bevor. »Kein Hobby darf wichtiger sein als die Schule«, sagt er ernst. Wenn alles klappt, will er danach eine Ausbildung zum Touristikkaufmann machen. Pilot werden? Nein, auf keinen Fall. »Ich weiß nicht, ob meine Leidenschaft am Fliegen dann nicht irgendwann abnehmen würde.« Diese Leidenschaft will er sich auch vom Klimawandel nicht vermiesen lassen. Kann man heute noch mit gutem Gewissen viel fliegen, vor allem wenn der einzige Grund das Fliegen selbst ist? Christian überlegt. Eine Sekunde, zwei, zehn. Dann sagt er: »Ich bin sehr umweltbewusst, aber wenn es ums Fliegen geht, ist meine Leidenschaft einfach größer.« Für die Tage, an denen er nicht in die Luft gehen kann, hat Christian sich den Flughafen nach Hause geholt: Im Wohnzimmer steht er als Modell auf einer schreibtischgroßen Holzplatte, Maßstab 1 : 500. An der Wand seines Zimmers hängt ein Schild der irischen Aer Lingus, das Fenster verdunkelt ein anderthalb Meter langer Aufkleber mit der Silhouette eines Hapag-LloydFlugzeugs, und über dem Bett ist ebenso groß das silberigblaue Logo der Billigfluggesellschaft VBird aufgemalt. Die sei zwar inzwischen pleite, sagt Christian mit Bedauern in der Stimme, aber das Logo mag er trotzdem noch. »Auch wenn ich auf acht VBird-Flügen insgesamt 35 Stunden Verspätung hatte.« Eine Stunde nach dem Abflug in Amsterdam landet das Flugzeug in Bournemouth, Südengland. Das Plakat am Ausgang, das Tagesausflüge anpreist, beachtet Christian nicht. Er wird nur 18 Stunden hier sein, und 18 Stunden Bournemouth, das werden für ihn sein: ein indisches Curry, ein Guinness, ein Spaziergang durch die Fußgängerzone, ein Sonnenbrand am Strand, acht Stunden Schlaf. »So viel gibt es hier ja auch nicht zu sehen.« Und so steht er am nächsten Tag wieder am Flughafen, im Gepäck eine Banane vom Frühstücksbuffet. Es ist der seit Monaten heißeste, sonnigste Tag in Südengland, aber Christian hat es am Strand nicht lange ausgehalten. Drei Stunden vor Abflug checkt er ein, um seinen favorisierten Fensterplatz zu ergattern: 16 F. Guter Blick auf die Landschaft und auf das, was da so hinter der Tragfläche vor sich geht. Vor ihm warten schon die ersten britischen Rentner mit aufgeknöpften Hemden über kugelrunden Bäuchen, die bereits so braun sind, als kämen sie gerade aus dem Urlaub. Dazwischen Christian, ein blonder, blasser Junge mit weiten Jeans und T-Shirt, der ernst durch seine eckige Brille blinzelt. Die von der englischen Sonne verbrannten Unterarme leuchten rot im Dämmerlicht.

»Die Landschaft von oben, die Wolken. Und es scheint immer die Sonne« Das Donnerschweinchen startet mit 25 Minuten Verspätung. Mit Krachen und Gebrüll, die seinem Namen alle Ehre machen, schwingt es sich in die Luft. Christian starrt hinaus, lauscht und seufzt tief: »Endlich, Jagd beendet.« Dann bewundert er die Gepäckfächer (»eckiger als bei neuen Maschinen«), den Sitzabstand (»ganz gut für einen Charterflieger«) und die Stewardessen (»wahnsinnig freundlich«). Anschließend blättert er im Bordmagazin, das den passenden Titel Whispers trägt. Es ruckelt etwas, die Stewardess stolpert, die Passagiere kreischen. Christian seufzt nur wohlig, er liebt sogar die Turbulenzen. »Da kommt wenigstens ein bisschen Abwechslung rein.« Als das Anschnallzeichen wieder erloschen ist, fotografiert er die Kabine von vorn und von hinten, die Fotos wird er später in eine Onlinedatenbank für Flugzeugbilder hochladen. Noch ein Foto vom Essen: Gemüse, Reis, Schokokuchen; dann lehnt er sich zurück und schaut hinaus auf die Wolken, die sich wie ein glatt gespanntes Seidentuch bis zum Horizont ausbreiten. »Die Landschaft von oben, die Wolken. Und es scheint

DIE ZEIT

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Christian Hausy hat ein seltenes Hobby. Seit es in seiner Nähe einen Billigflughafen gibt, ist der Gymnasiast ständig unterwegs. Drei Flüge und 337 Minuten in der Luft? Ein ganz normales Wochenende VON JULIANE VON MITTELSTAEDT

immer die Sonne«, schwärmt er. »Am Anfang war es aufregend, jetzt ist es einfach nur noch herrlich.« In Alicante scheint die Sonne nicht mehr, stattdessen regnet es. Bei der Landung fotografiert Christian noch schnell das Triebwerk, als dessen hinterer Teil zum Bremsen hochklappt, eine Besonderheit des Donnerschweinchens; danach darf er kurz ins Cockpit. Bis der Bus ihn nach vielen Stopps ins Stadtzentrum gebracht hat, ist es bereits dunkel. Macht nichts, er hat viele Städte nur nachts gesehen: Barcelona, Rijeka, Riga. In Riga war er ohnehin nur zum Schlafen, »weil in Helsinki die Hotels so teuer waren«. Um Geld zu sparen, flog er am Samstagabend von Helsinki nach Riga und am Sonntagmorgen wieder zurück. Der Flug mit der Fokker 50 nach Riga hat 20 Euro gekostet, die Übernachtung dort 10 Euro. Und zwei Flüge mehr hatte er auch noch in seinem Logbuch. Immerhin hat er von Riga mehr gesehen als vom türkischen Dalaman. Da wollte er mit einem Freund für einen Tag an den Strand, doch weil das Taxi zu teuer war, haben sie sich eben an die Landebahn gesetzt und Flugzeuge beobachtet. Am Abend sind sie dann wieder zurückgeflogen. Für andere vielleicht ein Reinfall. Christian sagt: »Das war ein superinteressanter Tag.«

Fotos [Ausschnitte]: Dominik Gigler für DIE ZEIT (2); Juliane Mittelstaedt für DIE ZEIT (6)

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as Wochenende beginnt für Christian Hausy an diesem Freitag eine Stunde früher. Der Physiklehrer hat ihn gehen lassen, jetzt fährt ihn seine Mutter in die niederländische Stadt Nijmegen, damit er den Zug nach Amsterdam bekommt und von dort den Flug, der nur der erste von dreien ist binnen 48 Stunden. Amsterdam– Bournemouth–Alicante–Weeze, das sind die Koordinaten dieses Wochenendes. 337 Minuten wird er am Ende in der Luft verbracht, 3441 Kilometer Entfernung zurückgelegt haben. Ohne Ziel, außer dem, mit 900 Stundenkilometern in zwölf Kilometer Höhe unterwegs zu sein. Christian Hausy, 18 Jahre alt, ein blonder Gymnasiast aus Kleve, etwas Gel in den Haaren, leichter Bartflaum, fliegt, um zu fliegen. »Andere sammeln Briefmarken, ich sammle Flüge«, sagt er. Seit er 15 ist, versucht Christian die niederrheinische Bodenständigkeit abzuschütteln. Mindestens einmal im Monat, manchmal auch öfter, 145-mal bisher. Insgesamt hat er anderthalb Wochen in der Luft verbracht und 4,5-mal die Erde umrundet. Er war in Mailand, Paris und London, in fast jeder europäischen Großstadt. Oder besser gesagt: auf deren Flughafen. Auf einigen hat er sogar übernachtet. Zum Beispiel im irischen Shannon, da hat er viermal übernachtet, zusammen mit Freunden, mit anderen Flugbegeisterten, einmal auch mit seiner Mutter. Tagsüber haben sie Limerick besucht, nachts im Terminal die mitgebrachten Decken ausgerollt. Ein normaler Ausflug für einen, der den Pariser Flughafen besser kennt als den Harz. Christian würde das auch öfter machen, aber: »Ryanair fliegt jetzt leider nicht mehr täglich nach Shannon.«

Reisen

Von Bournemouth geht es nach Alicante mit dem DONNERSCHWEINCHEN, wie Christian Hausy die Boeing 737-200 liebevoll nennt

Alicante, das war: Supermarkt, Pommes mit Fisch, Uferpromenade Am Sonntagmorgen um 6.45 Uhr steht er mit verstrubbelten Haaren wieder an derselben Bushaltestelle im Zentrum von Alicante, an der er zehn Stunden zuvor ausgestiegen ist. Der Bus hat Verspätung, und Christian sagt: »So, jetzt muss ich wenigstens noch mal ein Foto machen.« Alicante, das wird in seiner Erinnerung ansonsten lediglich sein: der Supermarkt El Corte Inglés, Pommes mit Fisch, ein Spaziergang an der Uferpromenade. »Stressig finde ich nicht das Fliegen«, sagt er, »stressig finde ich es, am Ziel möglichst viel zu sehen.« Dann kommt der Bus und bringt ihn zum Flughafen. Zurück nach Düsseldorf-Weeze fliegt Christian mit Ryanair. »Huch, die Maschine hatte ich doch schon mal«, sagt er, die meisten Registriernummern der Flugzeuge, mit denen er unterwegs war, kennt er auswendig. Christian schlägt in seinem Heft nach: EI-DAK, London–Glasgow, 2004. Kurz nach dem Start fallen ihm immer wieder die Augen zu. Nicht so schlimm, es ist ja schon sein 26. Flug mit Ryanair. Dann schläft er ein. Aber erst, nachdem der Flug ins Logbuch eingetragen ist.

DIE ZEIT

Reisen

Nr. 38 13. September 2007

Foto: Seehafen Kiel

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Vor dem neuen Kieler OSTSEEKAI liegt das Kreuzfahrtschiff »Opera«

Kiel auf Kreuzfahrtkurs Die Stadt an der Förde ist gerade Deutschlands Hafen Nummer eins geworden

A

m 15. September erwartet Schleswig-Holsteins Hauptstadt gut hunderttausend Besucher. So viele Menschen an einem Tag kommen sonst nur, wenn Kieler Woche ist, eines der größten Segelsportereignisse der Welt. Diesmal steht jedoch nur ein einziges Schiff im Mittelpunkt: Veronica Ferres tauft am Sonnabend die Color Magic. Mit großem Spektakel und Programm von zehn bis zehn Uhr präsentiert die norwegische Reederei Color Line den 224 Meter langen Pott mit den 1021 Kabinen. Die Color Magic ist die neue Fähre, die Kiel mit Oslo verbindet. Sie ist aber auch ein Kreuzfahrtschiff – das größte der Welt mit Autodeck, wirbt die Reederei. Knapp die Hälfte des Geschäfts macht die Gesellschaft mittlerweile mit Kurzkreuzfahrten. Auf der Color Fantasy, dem Schwesterschiff der Color Magic, buchten 134 000 deutsche Urlauber 2006 einen zweieinhalbtägigen Minitörn von Kiel nach Oslo und zurück. Die Kombination aus Kreuzfahrt- und Fährschiff steht sinnbildlich auch für die Entwicklung Kiels: Die Stadt an der Förde ist längst nicht mehr nur Handels- und Fährhafen, sondern in diesem Jahr Deutschlands Kreuzfahrthafen Nummer eins. 115 Kreuz-

VON HEIDE FUHLJAHN

fahrtschiffe legten 2007 am Kieler Ostseekai an. Rostock, mit dem sich Kiel seit Jahren einen Wettstreit liefert, ist geschlagen, hier machte nur 92-mal ein Kreuzfahrtschiff fest. Spitzenreiter Kiel besuchten rund 170 000 Passagiere, Rostock 120 000, Hamburg 100 000 und Bremerhaven 76 000. Den Großteil der Kreuzfahrer machen immer noch die Passagiere aus, die bei Color Line oder der ebenfalls im Fährverkehr arbeitenden Stena Line eine Minikreuzfahrt in den Norden buchen. Die Schiffe der beiden Reedereien fahren täglich und das ganze Jahr über. Die Kreuzfahrtsaison hingegen dauert nur von April bis Oktober. Doch die reinen Vergnügungsdampfer kommen immer häufiger nach Kiel: Die Europa macht hier fest, die Alexander von Humboldt von Phoenix Reisen und mittlerweile sogar italienische Cruiser wie die Classica von Costa Crociere oder die Opera der Reederei MSC, die die Ostsee als Markt für sich entdeckt haben. Nicht nur die Zahl der Kreuzfahrtpassagiere wächst jährlich um zehn Prozent, besonders gefragt sind in letzter Zeit Törns im Norden Europas: Allein 2006 stiegen sie im Verhältnis zum

Vorjahr noch einmal um über 25 Prozent. Kiel bietet beste Voraussetzungen für den Start: einen gezeitenunabhängigen Hafen, einen nagelneuen Terminal und eine gute Anbindung. 30 Millionen Euro kostete der im April eröffnete Ostseekai, der extra für die Kreuzfahrtschiffe gebaut wurde und an dem nun auch Cruiseliner mit über 300 Meter Länge ohne Probleme anlegen können. Sogar zwei gleichzeitig. Besonders wichtig für Kreuzfahrtpassagiere ist die Nähe ihres Starthafens zu der Region, in der ihr Schiff anschließend kreuzt. Außerdem sollte der Ausgangspunkt gut zu erreichen sein. In beiden Fällen kann Kiel punkten. Von der Förde kommt man am schnellsten nach Norwegen, die Anreise nach Kiel ist relativ unkompliziert. Es gibt gute Bahnverbindungen; von einigen Städten auf der Strecke über Frankfurt am Main sogar ohne umzusteigen mit dem ICE. Vom Flughafen Hamburg werden Passagiere mit dem Shuttle in zwei Stunden direkt zum Kai gebracht. Der rundum hellgrün schimmernde, verglaste neue Terminal Ostseekai liegt in der Nähe der Innenstadt: Zum Hauptbahnhof sind es nur 15 Mi-

nuten zu Fuß. In fünf Minuten erreicht man die Kunsthalle, die Fußgängerzone, das Aquarium und die Flaniermeile am Wasser. Das größte Manko für eine internationale Hafenkarriere Kiels – aber auch anderer deutscher Konkurrenten – liegt im fehlenden interkontinentalen Flughafen. Der stärkste Konkurrent für Nordeuropa-Kreuzfahrten ist, vor allem bei ausländischen Passagieren, deshalb Kopenhagen – auch wegen der Weltläufigkeit, an der es Kiel noch mangelt. Englischsprachiges Personal und englischsprachige Broschüren zum Beispiel sind keine Selbstverständlichkeit. Aber auch um im Wettbewerb mit den anderen deutschen Städten die Nummer eins zu bleiben, muss Kiel sich weiter anstrengen. Rostock zum Beispiel, das einen gleichwertigen neuen Terminal besitzt, profitiert davon, dass Amerikaner es wegen seiner Nähe zur Hauptstadt als »Port of Berlin« akzeptieren; Hamburg punktet als attraktive Metropole, auf der Minusseite aber bremsen die lange An- und Abfahrt durch die Elbe und der provisorische Terminal. Noch ist auch in Kiel das neue Hafengebäude innen nicht so richtig fertig eingerichtet. Die 300

blutroten Wartestühle stehen in einem kargen Raum. Außer einem Tisch, an dem man sich mit Kaffee versorgen kann, und einem Infostand über Kiel wird kaum Service geboten. Erst für das kommende Jahr sind eine Lounge und der Verkauf von Souvenirs und internationalen Zeitungen geplant. Die Ausgaben dafür dürften sich rechnen. Über 80 Prozent der Beschäftigten in der 233 000 Einwohner großen Universitätsstadt arbeiten im Dienstleistungssektor. Vom Aufschwung des Hafens profitieren daher viele – Taxifahrer genauso wie Einzelhändler. Jeder Passagier gibt nach Schätzungen zwischen 100 und 250 Euro aus. Die Stadt verdient Millionen an den Hafengebühren. Für 2008 sind bereits jetzt 126 Schiffbesuche am Ostseekai angemeldet. Die Saison eröffnen wird die italienische Opera. Wer aber erst einmal seine Seetauglichkeit für den hohen Norden und seine Lust an Kreuzfahrten testen will: Ein zweieinhalbtägiger Minitörn auf der Color Magic zum Beispiel kostet ab 215 Euro, inklusive Frühstück und Entertainment. Die Mahlzeiten in einem der acht Restaurants und das Planschen in der Badelandschaft kosten extra.

CHANCEN

DIESE WOCHE

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DIE ZEIT

Abi im Alleingang Weshalb Freiburger Abiturienten auf die Schule verzichten SEITE 70 Tipps und Termine SEITE 70

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Tüftler für die Wissenschaft Karl Biehler arbeitet seit 50 Jahren SEITE 71 an der Uni Marburg

Schule Hochschule Beruf

Wenn die Seele streikt Zu wenig Anerkennung im Job SEITE 72 macht krank Beruf der Woche SEITE 72

Letzte Runde im Stempelkarussell

Im Internet: Selbsthilfe Studenten gründen ein Seminar zur Berufsvorbereitung

Der Computer bedroht all die schönen Dinge, die einmal auf unserem Schreibtisch lagen. Eine Rote Liste

www.zeit.de/campus Wo studieren? Welche Hochschule in einem Fach führt, verrät das CHE-Hochschulranking www.zeit.de/hochschulranking

NAME: Spitzmaschine STATUS: Gefährdet ÜBERLEBENSCHANCEN: Wer schreibt heute schon noch mit Bleistift? Meistens verliert man ihn, bevor er stumpf geworden ist. Aber ihre große Anpassungsfähigkeit an die Umwelt könnte die Spitzmaschine dennoch retten: Es wurden – kein Witz! – bereits elektrische Modelle gesichtet, die über den USB-Anschluss eines Computers betrieben werden können

NAME: Löschpapierwiege STATUS: Geschützt ÜBERLEBENSCHANCEN: Ihr natürlicher Lebensraum ist weitgehend ausgetrocknet, es fließt zu wenig Tinte im Büro. Dank einer mächtigen politischen Lobby überleben die letzten Exemplare im Reservat der Diplomatie: Bei jeder Vertragsunterzeichnung haben sie ihren Moment im Scheinwerferlicht der Kameras

SEITENHIEB

Kein Berg ruft Wieder weniger Studienanfänger Allmählich ist es schon Routine: Jeden Herbst gibt das Statistische Bundesamt die Studienanfängerzahlen für das Vorjahr bekannt, und jeden Herbst gibt es schlechte Nachrichten: wieder weniger Studenten. 2006 haben sich nur knapp 344 000 junge Menschen eingeschrieben, das sind noch einmal 3,5 Prozent weniger als 2005. Wie passt das zusammen mit der Befürchtung, dass Deutschland vor einem neuen Studentenberg steht? 2,7 Millionen Menschen sollen in ein paar Jahren in Deutschland studieren, ein gutes Drittel mehr als heute. Mit diesem Szenario haben die Wissenschaftsminister ihren Finanzkollegen gerade erst mehrere Hundert Millionen Euro für neue Studienplätze abgerungen, die gleiche Summe gibt der Bund im Rahmen des Hochschulpaktes dazu. Die Opposition und die Studierendenverbände machen vor allem die Studiengebühren dafür verantwortlich, dass sich die Studienanfängerquote, also der Anteil aller Neustudenten am jeweiligen Geburtsjahrgang, mittlerweile fast im freien Fall befindet: Von 38,9 Prozent im Jahr 2003 ist sie auf 35,5 Prozent gesunken. Doch diese Schuldzuweisung greift zu kurz, denn in den gebührenfreien Ländern war der Rückgang fast ebenso stark. Sicher ist nur: Wenn es den Hochschulen wieder finanziell besser geht, können sie bessere Studienbedingungen anbieten, dann steigt die Qualität der Abschlüsse, Studieren wird wieder attraktiv. Um die nötigen Mittel zu bekommen, haben die Wissenschaftsminister weiter von Hunderttausenden zusätzlicher Studenten geredet, als sie selbst schon längst nicht mehr daran glaubten. Es hat geklappt, das Geld kommt, der große Studentenberg hingegen bleibt aus. Den Hochschulen wird das guttun, und mit den besseren Studienbedingungen kommen auch wieder mehr Studenten. Nur 2,7 Millionen werden es wohl nie. JAN-MARTIN WIARDA

NAME: Blaupapier STATUS: Fast ausgestorben ÜBERLEBENSCHANCEN: Drucker und Kopierer haben Blau- und Kohlepapier weitgehend ausgerottet. Selbst nostalgische Schreibmaschinenfreunde vervielfältigen ihre Werke heute im Copyshop. Tröstlich nur, dass das Durchschreibpapier im Computer weiterlebt: Sein englischer Name carbon copy steht als Kürzel »CC« im Kopf jeder E-Mail

ZUSAMMENGESTELLT VON JULIAN HANS

Reinhold Beckmann, 51 Moderator

NAME: Stempelkarussell STATUS: Stark gefährdet ÜBERLEBENSCHANCEN: Wie sein Tischnachbar, der Briefmarkenbefeuchter, ist auch das Stempelkarussell ein Opfer der Umstrukturierung der Post. Briefmarken sind selbstklebend, und die »Drucksache« ist abgeschafft. Für den Status »vertraulich« sorgen Kryptografie-Programme. Nur die Spezies »Eingang« ist noch häufiger anzutreffen. Aber wer will schon allein Karussell fahren?

Weltenbummeln Foto: Alexander Pröfrock für DIE ZEIT; www.proefrock.com

NAME: Diktiergerät STATUS: Vorwarnliste ÜBERLEBENSCHANCEN: Zugute kommt dem Diktiergerät, dass es bevorzugt von konservativen Berufsgruppen wie Ärzten und Juristen genutzt wird. Solange Spracherkennungssoftware bei »Paragraf 5 Absatz 2« einen Absatz einfügt, wird das so bleiben. Seit selbst Vorstände E-Mails tippen können, ist dennoch mit einer Bedrohung zu rechnen

Eines reizt mich immer mal wieder: unterwegs sein. Die letzten Geheimnisse der fünf Kontinente zu entdecken ist eine wunderbar altmodische Idee. Und dabei noch einmal in aller Ruhe Jack Kerouacs On The Road lesen. Am liebsten würde ich mit meiner ganzen Arche Noah – meiner Frau, meinen Kindern und unseren Tieren – mal da, mal dort vor Anker gehen. Und arbeiten? Das Einzige, was ich sonst noch ein bisschen kann, ist Musik machen. Bei irgendeiner Band würde ich schon unterkommen. Das Schöne an einem Traum ist wohl, dass er auch einer bleibt. Man muss immer mal an ihm schnuppern und es genießen, dass er noch da ist.

Foto: T & T

PLAN B

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DIE ZEIT

Chancen Schule

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Tipps und Termine Der Masterstudiengang »Innovationsmanagement« widmet sich dem Erkennen, Entwickeln und Verwerten neuer Ideen. Die Fakultät Betriebswirtschaft der Hochschule Esslingen bietet ihn zum Wintersemester erstmals an. Grundkenntnisse in Betriebswirtschaftslehre werden vorausgesetzt. www.innovationsmaster.de

Zwei neue Fernstudiengänge bietet das Zentrum für Fernstudien und Universitäre Weiterbildung der TU Kaiserslautern zum Wintersemester an: »Baulicher Brandschutz« und »Software Engineering«. Anmeldungen für die Masterstudiengänge sind ab sofort möglich. www.zfuw.de An der Pädagogischen Hochschule Freiburg können zum Wintersemester drei neue Bachelorstudiengänge belegt werden – »Erziehung und Bildung«, »Gesundheitspädagogik«, »Pädagogik der frühen Kindheit« – sowie der trinationale Masterstudiengang »Mehrsprachigkeit«. www.ph-freiburg.de »Software Engineering und Informationstechnik« haben die Fachhochschule Nürnberg und das Weiterbildungsunternehmen Verbund IQ ab dem kommenden Wintersemester im Programm. Der Masterstudiengang kostet insgesamt 10 500 Euro. www.verbund-iq.de/master-software-engineering Zum »Geprüften Handelsfachwirt Schwerpunkt Sporthandel« bildet das IST-Studieninstitut ab Oktober in einem 18-monatigen Fernstudium aus. Mit dem Angebot sollen Qualifikation und Professionalität im Bereich des Sporthandels verbessert werden. www.ist.de »Sprache und Text« heißt ein Bachelorstudien-

gang, der im Wintersemester an der Universität Passau startet. In sechs Semestern bereitet er auf den professionellen Umgang mit Texten aller Art vor: auf das Rezipieren, Analysieren, Interpretieren und Produzieren ebenso wie auf die professionelle Gestaltung von journalistischen Texten, Betriebsanleitungen oder Gesetzestexten. Eine Einschreibung ist noch bis 30. September möglich. http://tinyurl.com/yqah2m ANZEIGE

Einen »MBA Pharma Management« bietet erstmalig in Deutschland die International School of Management (ISM) Dortmund an. Bewerbungen für das berufsbegleitende viersemestrige Programm sind bis zum 30. September möglich. www.ism.de Freie Plätze gibt es noch für den berufsbeglei-

tenden Masterstudiengang Vertriebsmanagement an der FH Braunschweig/Wolfenbüttel für Absolventen mit ingenieur- oder naturwissenschaftlichem Hochschulabschluss. www.tww.de

Ohne Schule zum Abi

Foto [M]: Telemach Wiesinger für DIE ZEIT

Der »Archäologischen Restaurierung« ist ein neuer Studiengang gewidmet, der zum Wintersemester in Mainz startet. Er vereint Theorie und Praxis und ersetzt die Ausbildung zum Archäologischen Restaurator am Römisch-Germanischen Zentralmuseum. http://web.rgzm.de/155.0.html

Freiburger Schüler haben sich aus ihren Klassen abgemeldet, um sich selbst zu unterrichten VON ARNFRID SCHENK

AUTONOME ABITURIENTEN: Lernen, wie es ihnen am besten gefällt

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enn Schüler keine Lust mehr auf Schule haben, träumen sie in der Regel davon, dass diese abbrennen oder wenigstens bald vorbei sein möge. Lenya Bock und Alwin Franke, zwei ehemalige Waldorfschüler aus Freiburg, träumen einen anderen Traum – den von der eigenen Schule. In der jeder so lernt, wie er es für richtig hält. In der sie nicht nur Fachwissen pauken, sondern das Lernen lernen. In der die Lehrer keinen Frontalunterricht geben, sondern die Schüler beraten – und von ihnen ausgesucht wurden. Sie sind dabei, diesen Traum wahr zu machen. Mit acht anderen Zwölftklässlern, bis auf einen alle Waldorfschüler, haben sie sich von ihren Schulen abgemeldet, einen Raum gemietet und Privatlehrer angestellt, so wollen sie sich eigenständig auf das Abitur 2008 vorbereiten. Ein Dienstagmorgen, Anfang September, der Sommer ist auch in Freiburg schon vorbei. In einem Saal der Paulusgemeinde sitzen neun Schüler in einem Stuhlhalbkreis, alle zwischen 18 und 19 Jahre alt, Kapuzenpullis, Schals, es ist kühl, man muss die Heizung aufdrehen. Das Wetter erinnert daran, dass der Winter nicht mehr weit ist, gleichzeitig aber ein neues Frühjahr näher rückt und damit das Abitur. Die Zeit läuft. Jan Lefin sitzt den Schülern gegenüber. Er hat einige Jahre an einer Waldorfschule unterrichtet, jetzt ist er Lehrer an einem staatlichen Gymnasium. Die Schüler haben ihn für Geschichte engagiert. An diesem Morgen simuliert er mit ihnen eine mündliche Prüfung: »Definieren Sie die soziale Frage.« – »Miserable Arbeitsbedingungen der Arbeiter, schlechte Löhne«, sagt eine Schülerin. Die anderen im Stuhlkreis machen sich Notizen. »Welche Ansätze zur Lösung der sozialen Frage gibt es?«, fragt der Lehrer den Nächsten in der Runde. Einen marxistischen, einen kirchlichen.

»Wie haben die Arbeiter selbst versucht, sich zu helfen?« Das Colloquium geht über eine Stunde. »Ihr müsst konkreter formulieren«, sagt Lefin am Ende der Runde, sonst haken die Prüfer nach. »Und denkt an den Bezug zur Gegenwart – ›ist die soziale Frage heute gelöst?‹ – mit so was könnt ihr rechnen.« Die simulierten Prüfungen haben sie eingeführt, »damit wir sehen können, wo wir stehen«, sagt Alwin Franke. »Die Lehrer sind unsere fachliche Hilfe und unsere Qualitätskontrolle.« Aber sie stehen eben nicht vorne an der Tafel und dozieren.

Der erste Tag in der eigenen Schule: chaotisch, keiner hat etwas kapiert Weil sie in ihrer Schule ihre Lernvorstellungen nicht umsetzen konnten, reifte in den Schülern der Gedanke, sich von der Schule abzumelden und sich selbst zu unterrichten. Das war im März. Seitdem sind sie am austüfteln, wie sie das am besten hinbekommen. Das hat viel Zeit gekostet. Alwin hatte drei Tage Sommerferien. Lenya keinen. Sie mussten Eltern überzeugen. Sie mussten einen Stundenplan erarbeiten. Der sieht vor, dass sie in Blöcken von drei bis vier Stunden Themen durcharbeiten. Von morgens 9 Uhr bis abends 17 Uhr, sechs Tage die Woche. 25 Stunden die Woche soll ein Lehrer dabei sein. Diese Lehrer mussten sie finden. Sieben haben sie jetzt zusammen, von Waldorfschulen wie von staatlichen Gymnasien. Sie mussten sich ein Modell überlegen, wie sie diese Lehrer finanzieren. Mit Sozialabgaben kostet sie eine Stunde 36,60 Euro. Dazu kommt noch die Miete für ihr »Klassenzimmer«, 250 Euro im Monat. Die Schüler rechnen mit 50 000 Euro bis zum Abitur. Die Eltern sollen nur einen kleinen Teil übernehmen, für den Löwenanteil wollen die

Schüler selbst aufkommen. Sie haben einen Verein gegründet, um Sponsorengelder sammeln zu können. Eine Bank stellt einen Kredit über 35 000 Euro. Das Regierungspräsidium hat ihr Vorhaben abgenickt. Sie haben Dinge gelernt, mit denen sie sich in der Schule nie beschäftigt hätten. Der erste Schultag Ende August an ihrer eigenen Schule war chaotisch, erzählt Lenya Bock. Es ging um die Voraussetzungen für die industrielle Revolution in Europa. Gemeinsam haben sie ein Tafelbild entworfen, keiner hat etwas kapiert. Aber sie haben gelernt, dass es so nicht geht. Jetzt gibt es immer einen Schüler, der sich besonders intensiv mit dem Lernstoff auseinandersetzt und für den Tagesablauf verantwortlich ist. Dienstag, kurz vor 12 Uhr. Die Schüler sind bei Lehrplaneinheit 12.1, »Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft durch die Industrialisierung«. Sie haben sich eingelesen, jeder in dem Geschichtsbuch, mit dem er am besten zurechtkommt. Alwin erklärt den historischen Materialismus. »Ich geh dann mal an die Tafel«, sagt er und lacht. Er schreibt: Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte. Er redet von Widerspruch und Überbau. Er kann schlüssig erklären. Trotzdem kommt ein »blick ich jetzt nicht« von den Stühlen. Also noch einmal. »Jetzt hab ich verstanden, wie der historische Materialismus funktioniert, warum er so genannt wird, aber nicht.« Darüber werden sie später noch einmal reden. Haben sie manchmal Angst vor der eigenen Courage? Nein, sagt Lenya Bock, wir lernen intensiver als andere Abiturienten, das hatte ihnen auch der Geschichtslehrer nach der ersten Woche gesagt. Er sagt auch: »Das ist der steinigste Weg zum Abitur, den ihr euch ausgesucht habt.« Sogenannte externe Abiturienten müssen wesentlich mehr Prüfungen ablegen, weil ihnen die

Leistungsnachweise aus der zwölften und dreizehnten Klasse fehlen. Die Regelung über das externe Abitur ist ursprünglich für Berufstätige gedacht. Voraussetzung ist, dass die Prüflinge volljährig, an keiner Schule angemeldet und noch nicht zweimal durchs Abi gerasselt sind.

Ob das Experiment geglückt ist, wird sich im Frühjahr zeigen Dienstag, kurz vor der Mittagspause. Für den Nachmittag stehen Theater und Mathematik auf dem Stundenplan. Jetzt geht es noch einmal um Organisatorisches. Es gibt gute Nachrichten: Ein Freiburger Verlag stellt die Pflichtlektüren fürs Abi umsonst. Morgen kommt jemand von einem Wirtschaftsmagazin vorbei, sagt Alwin Franke, wer redet mit denen? Dann sagt er ein paar Worte zur Stiftungslage: »Wir haben einmal 1000 Euro bekommen, einmal 6000.« Das sei schon gut, »aber wir brauchen mehr Sponsoren«. Es gibt nicht nur Befürworter des Experiments, es gibt auch einige Kritiker. Karl-Heinz Wurster gehört zu ihnen. Er ist Vorsitzender des Philologen-Verbandes Baden-Württemberg. Er hält das Unterfangen zwar für mutig, ist aber überzeugt, dass »das nach einer Selbstfindungsphase auf nichts anderes als einen einjährigen Chrashkurs hinauslaufen wird«. Genau das sei es nicht, sagen Alwin Franke und Lenya Bock, sie lernten viele Dinge über das Prüfungswissen hinaus. Ob ihr Experiment glückt, wird sich im Frühjahr zeigen. Dann werden die autonomen Abiturenten ihre Prüfungen ablegen, am Faust-Gymnasium in Staufen bei Freiburg. Lenya will das Abitur nicht nur bestehen, sie will ein gutes Abi machen, um dann, genau wie Alwin, in Tübingen Philosophie zu studieren.

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Foto: Katrin Denkewitz für DIE ZEIT

s ist wie in einer Quizsendung: Man nennt Karl Biehler eine Raumnummer, und er weiß, was drin ist. »5259? Das müsste ein Wägeraum sein.« Auf die Gebäudepläne, die in seinem Büro an der Wand hängen, muss der Baureferent schon lange nicht mehr schauen. Karl Biehler ist 64 Jahre alt, ein halbes Jahrhundert hat er an der Philipps-Universität Marburg verbracht – bei dem einzigen Arbeitgeber, den er je hatte. Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung betrug Ende 2006 die durchschnittliche Zahl der Rentenbeitragsjahre bei Männern in den alten Bundesländern 40,1 Jahre, in den neuen Bundesländern 45 Jahre. Biehler liegt zehn Jahre über dem westdeutschen Schnitt. Sein 50. Dienstjubiläum macht ihn zu einem Urgestein der Universität. Dabei hat er selbst nie studiert. Am Fachbereich Chemie, für den Biehler zuständig ist, kennt er alle Labors, Dienstzimmer und Hörsäle seit Jahrzehnten. 1957 hat er als 14-Jähriger an der Marburger Uni als Feinmechanikerlehrling angefangen. Feinmechaniker fertigen Geräte für Forschungszwecke, die es nicht zu kaufen gibt. 55 Mark Lehrlingslohn bekam Biehler. Später arbeitete er als Geselle für 1,74 Mark in der Stunde. Biehler besuchte Abendschulen und legte 1965 die Meisterprüfung ab. Weitere Jahre als Werkstattleiter und technischer Leiter folgten. Seit 2000 arbeitet er als Baureferent, wurde vergangenes Jahr sogar im Gehalt hochgestuft, wegen »ingenieurmäßiger Tätigkeiten«, wie er stolz erzählt. Das Tüfteln war Biehler wohl in die Wiege gelegt. Schon als Kind spielte er mit StabilBaukästen, baute Fahrzeuge, Modellfahrräder, Seilzüge, Maschinen. An der Uni bastelte er dann für die Wissenschaftler. Dutzende von Apparaturen entstanden – Geräte, Maschinen in teils monatelanger Arbeit, oft gemeinsam mit Glasapparatebauern. Ohne sein Geschick hätten die Forscher so manchen Versuchsaufbau gar nicht hinbekommen. Da war zum Beispiel in den sechziger Jahren die Apparatur, mit der die Wissenschaftler mittels Druckluft ein Rinderherz zum Schlagen bringen und davon Röntgenbilder machen konnten. Oder ein anderes Gerät, mit dem es gelang, unter Vakuum eine Substanz im Metalltiegel einzuschließen. Biehler bleibt vor einem Apparat stehen, einem Metallkühler, der verhindert, dass sich Lösungsmittel beim Destillieren erhitzt. »Auch den habe ich entwickelt und gebaut.«

Basteln für die Wissenschaft Seit 50 Jahren arbeitet Karl Biehler an der Universität Marburg, ohne je selbst studiert zu haben VON DANIEL GROSSE

Chancen Hochschule

Zum Beweis seiner Erfolge legt der Baureferent einen Stapel Doktorarbeiten auf den Bürotisch: Danksagungen »an Herrn Biehler« sind dort in den Vorworten zu lesen. Nach 50 Jahren ist Biehler so etwas wie das Gedächtnis des Fachbereichs Chemie. Er hat sie alle kennengelernt, die Wissenschaftler und Studenten, die hier im vergangenen halben Jahrhundert ein- und ausgegangen sind – darunter war auch der Nobelpreisträger Otto Hahn. Nichtwissenschaftler wie Biehler seien damals, bevor das Zeitalter der Massen-Uni begann, viel stärker in den Hochschulbetrieb integriert gewesen. »Gemeinsame Unternehmungen mit Studenten und Wissenschaftlern, auch private, gehörten dazu.« Beim Fußballspiel kämpfte Biehler einst gemeinsam mit Studenten und Professoren um Tore und Punkte. Die Anrede »Herr Professor« war trotzdem eine Selbstverständlichkeit. »Auffallend war der damalige Umgangston zwischen Nichtwissenschaftlern und jungen Studenten«, sagt Biehler. »Das waren gestandene Männer, die der Kriegsgeneration angehörten. Ihnen brachten die Studenten Achtung und Respekt entgegen.« Ende der sechziger Jahre, zur Zeit der Studentenrevolten, haben sich die Studenten dann mit den Auszubildenden in der Universität solidarisiert, plötzlich waren die Professoren die Gegner, und Mitarbeiter wie Biehler standen irgendwie dazwischen. Der Baureferent macht einen Rundgang durch

KARL BIEHLER auf dem Dach der Universität Marburg. Er brachte es vom Feinmechanikerlehrling zum Baureferenten

die verwinkelten Gänge des Fachbereichs Chemie. Die Gerüche wechseln von stechend zu scharf bis süßlich. »Das rieche ich schon lange nicht mehr«, sagt er. Dann zeigt er eine beinlange, röhrenförmige Maschine: einen Plasmabrenner. Forscher können damit feststellen, wie sich eine Substanz bei 3000 Grad Celsius im Vakuum verhält. Von solchen Ergebnissen profitiere zum Beispiel die Raumfahrt, sagt Biehler. »Ein Vierteljahr habe ich damals für den Bau des Ofens gebraucht.« Die Arbeit beschäftige ihn noch zu Hause. Dann sage seine Frau: »Du hörst mir ja gar nicht zu.« Wenn er nächstes Jahr in den Ruhestand geht, möchte er sich eine Drehmaschine zulegen, ganz privat. Sein Telefon klingelt und holt ihn zurück in die Gegenwart. »Wichtig ist, wo Sie den Gaschromatografen abstellen«, sagt Biehler ruhig. »Dann brauchen Sie dort Helium und Wasserstoff.« Der Anrufer ist ein Professor, der sich von einer Tagung in Schottland meldet. Den Raum, um den es geht, kennt Karl Biehler – auch ohne Plan.

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GEFRAGT

Foto: © Presseservice NRW

Nr. 38 13. September 2007

ANDREAS PINKWART, 47, Wissenschaftsminister Nordrhein-Westfalen

Kollegs vor dem Aus Sie wollen bis 2009 die sieben Studienkollegs abschaffen, in denen sich ausländische Studenten in Nordrhein-Westfalen auf die Universität vorbereiten konnten. Warum?

Wir haben festgestellt, dass die Bedeutung der Studienkollegs stetig sinkt. Wir bereiten die Teilnehmer darin auf ein Hochschulstudium vor, aber nur die Hälfte der jährlich 800 Absolventen hat sich tatsächlich an einer nordrhein-westfälischen Hochschule eingeschrieben. Da stehen die investierten Mittel in keinem Verhältnis zum Ergebnis. Das hat sogar der Landesrechnungshof kritisiert. Sie sparen also 3,1 Millionen Euro pro Jahr ein …

… die aber weiterhin ausländischen Studierenden zugute kommen. Wir gründen ein Stipendienprogramm, das sich gezielt an begabte Bewerber aus Schwellen- und Entwicklungsländern richtet. Wir möchten sie bei einem Studium in NordrheinWestfalen unterstützen – zum einen eben mit dem Stipendium, das sich am Bafög-Satz orientiert, und zum anderen mit einer besseren Betreuung an den Hochschulen. Heißt das nicht, dass Deutschland für viele Studenten ohne das Studienkolleg schwerer erreichbar wird, während Sie nur einige Hochbegabte herausgreifen?

Nein. Vor zehn Jahren studierten 20 000 Ausländer an nordrhein-westfälischen Hochschulen, heute sind es mehr als 43 000 – ohne dass die Studienkollegs ihre Absolventenzahl erhöht hätten. In den Entwicklungsländern steigt die Zahl der Leute, die beste Voraussetzungen für ein Studium in Deutschland mitbringen. Wir müssen die Besten von ihnen auswählen und sie unterstützen. Das erscheint mir auch als Gebot der Fairness: Wer in das neue Programm aufgenommen wird und dafür extra nach Deutschland kommt, hat eine viel höhere Chance als bislang, sein Studium auch wirklich erfolgreich abzuschließen. INTERVIEW: KILIAN KIRCHGESSNER

DIE ZEIT

Chancen Beruf

BERUF DER WOCHE

IAA-Hostess Dass Männer außer Autos auch Frauen lieben, ist bekannt. Es soll Zeiten gegeben haben, da haben Hersteller diesen Umstand auf der Internationalen Automobil-Ausstellung schlimm ausgenutzt: Großbusige Damen stöckelten, tief dekolletiert, vor den Wagen auf und ab. In Trauben standen die Männer da und glotzten. In den Pausen weinten die Mädchen hinter den Kulissen. Diese Fleischbeschau gibt es heute höchstens noch bei Tuning-Messen. Die eigentliche Aufgabe einer Hostess ist eine andere: Sie soll Gastgeberin sein. Katharina Klingler trägt ein Kleid in Indischrot und eine schwarzen Schleife um den Hals. Sie begrüßt die Besucher mit einem Lächeln, reicht Kaffee, und wenn einer verloren herumsteht, spricht sie ihn an. Man soll sich willkommen fühlen am Stand von Porsche. Einige fühlen sich allerdings so willkommen, dass sie unbedingt ein Souvenir mitnehmen möchten. Dann fehlen am Ende des Tages Schalthebel, Armaturenknöpfe oder das Wappen auf dem Kühler. Um es ihren Fans so schwer wie möglich zu machen, sichern die Hersteller die gefährdeten Teile mit Hartkleber. Lächeln und Kaffee anbieten klingt einfach, aber wenn man es zwei Wochen lang 12 Stunden am Tag tun muss, ist es ein beinharter Job – im Wortsinne, denn vom vielen Stehen schmerzen die Füße. Dennoch ist er bei Studentinnen begehrt; erst im letzten Moment rief die Agentur bei Klingler an, weil ein anderes Mädchen nicht konnte. Sie hat dann die wichtigsten Daten zum 911 GT2 und zum 911 Turbo Cabrio gelernt, die Porsche auf der IAA vorstellt. Bei Fachfragen übergibt sie an einen Kollegen. Ein »Grundinteresse für Autos« habe sie durchaus, sagt Klingler. Dennoch fährt sie jeden Morgen mit der Bahn zur Messe. Da kann sie ein bisschen die Füße hochlegen. JULIAN HANS AUSBILDUNG: Abitur VERGÜTUNG: ab 10 Euro pro Stunde ARBEITSZEIT: 12 Stunden/Tag

Nr. 38 13. September 2007

D

as Gemeine an der Depression ist, dass sie so schleichend beginnt: Der Anrufbeantworter voll und keine Lust, zurückzurufen. Nicht einschlafen können und vor dem Wecker aufwachen – mit dem Gefühl, nicht aus dem Bett zu wollen. Sich nicht zum Sport aufraffen, keine Freude am Essen haben, nicht einmal Lust auf Sex. Jedes Symptom für sich nur eine »Befindlichkeitsstörung«, aber zusammen entwickeln sie einen Sog. Psychische Probleme sind in Deutschland inzwischen die vierthäufigste Diagnose bei Krankmeldungen. Schon jetzt machen sie den größten Anteil der Fehlzeiten aus. Wer depressiv wird, fällt in der Regel länger aus als jemand, der sich erkältet, einen Nerv eingeklemmt oder ein Bein gebrochen hat. Viele kehren gar nicht in den Beruf zurück: In der aktuellen Statistik der Rentenversicherer sind seelische Krankheiten die häufigste Ursache für Berufsunfähigkeit: Für 27 Prozent der männlichen und 38 Prozent der weiblichen Frührentner war dies der Grund, aufzuhören. Und Auslöser ist immer öfter die Arbeit selbst. Ob jemand unter beruflichem Stress zusammenbricht, hängt von der Arbeitsbelastung genauso ab wie von persönlichen Voraussetzungen und sozialen Faktoren. »Stress lässt sich nicht mit dem Fieberthermometer messen«, sagt Hans-Peter Unger, Leiter der psychiatrischen Abteilung am Asklepios-Klinikum HamburgHarburg. »Aber mit der Globalisierung sind die psychischen Anforderungen allgemein gestiegen.« Der Wandel in der Arbeitswelt wird für viele zur Belastung: Ständig erreichbar zu sein, ob per E-Mail und Mobiltelefon, lässt die Grenzen von Arbeit und Freizeit verschwimmen. Auf den weltweiten Märkten ist der Konkurrenzdruck groß – für die Unternehmen, aber auch für die Arbeitnehmer. Zwischen 1997 und 2004 ist der Krankenstand laut einer Statistik der Deutschen Angestellten Krankenkasse stetig gesunken, die Zahl der Krankschreibungen aufgrund psychischer Probleme aber um 70 Prozent gestiegen. Bei anderen Krankenkassen zeigt sich ein ähnliches Bild. Soweit die Zahlen eine Analyse zulassen, sind bestimmte Berufe besonders betroffen: Ärzte und Pflegepersonal, Lehrer, Banker, Journalisten, Angestellte der öffentlichen Verwaltung, aber auch Dienstleister aus der Post- und Telekommunikation. Johannes Siegrist, Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie an der Universität Düsseldorf, warnt vor falschen Rückschlüssen: »Es gibt nicht den Beruf, der krank macht.« Zwar sei in einigen Berufen Dauerstress häufiger, es spielten aber auch andere Faktoren eine Rolle. Im

Illustrationen: Norbert Bayer/www.pixelextravaganza.com

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Arbeit essen Seele auf Psychische Probleme sind die häufigste Ursache für Berufsunfähigkeit. Auslöser ist oft zu wenig Anerkennung von Vorgesetzten VON ALEXANDRA WERDES öffentlichen Dienst oder in der Post- und Telekommunikationsbranche etwa seien die Unsicherheiten durch Privatisierung und Rationalisierung besonders groß. Selbst wer nach dem Stellenabbau seinen Arbeitsplatz behält, unterliegt laut Siegrist in den Folgejahren einem höheren Risiko, an einer Depression zu erkranken. Siegrist spricht drastisch von denen, die Entlassungswellen »überlebt« haben. Wie die Überlebenden einer Katastrophe werden sie mit dem Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein, ihres Lebens nicht mehr froh.

Doch es ist nicht nur die schiere Existenzangst, die seelisch krank machen kann. »Denken Sie an den Banker, der seine ganze Energie in die Karriere steckt, und dann fusioniert die Bank, und jemand anderes bekommt den Posten«, sagt der Stressforscher. Schädlicher Stress entstehe vor allem dann, wenn hohe Verausgabung mit geringen Belohnungschancen verbunden sei. Der Soziologe hat dafür den Begriff »Gratifikationskrise« geprägt. Auslöser solcher Krisen ist oft schlechte Mitarbeiterführung. Denn manchmal könnte ein anerkennendes Wort Wunder tun, wenn es denn

ernst gemeint ist: In Umfragen waren Angestellte trotz guter Gehälter mit ihren Jobs unzufrieden, weil sie sich von den Chefs nicht gesehen fühlten. Umgekehrt kann Lob schlechten Lohn zumindest eine Zeitlang vergessen machen. Wissenschaftler halten die ideelle Wertschätzung deshalb für mindestens so wichtig wie finanzielle Anerkennung. Schmerzhaft sind Gratifikationskrisen vor allem dann, wenn sich Menschen stark mit ihrem Beruf identifizieren. »Gefährdet sind diejenigen, die einen sehr hohen Anspruch an sich und ihre Arbeit haben«, sagt Hans-Peter Unger. Wer Arzt werde, Lehrer oder Journalist, der wolle meist etwas bewirken. Viele litten dann darunter, wenn Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklafften. Manche würden aggressiv, andere zynisch, bis sie schließlich alle Freude am Arbeiten verlören. Hohe berufliche Motivation, die in totale Abneigung gegen die Arbeit umschlägt – dieses Phänomen wird mittlerweile mit einem eigenen Krankheitsbild bezeichnet, dem Burnout-Syndrom. Im fortgeschrittenen Stadium ist es von der Depression kaum zu unterscheiden. Zu Beginn ist Burnout aber zum Teil auch hausgemacht: weil Menschen zu viel von sich verlangen oder sich zu sehr in die Arbeit stürzen. Der Manager, der von der Brücke springen will, weil seine Familie ihn verlassen hat – für Hans-Peter Unger ist das keine Szene aus Hollywood, sondern ein Fall aus der Praxis. »Dass sie sich zu sehr auf die Arbeit konzentriert haben, merken viele erst, wenn das Privatleben schon zerstört ist«, sagt der Hamburger Chefarzt. Das Schlagwort von der »Work-Life-Balance« greift für Unger trotzdem zu kurz. Vier Komponenten seien wichtig für eine stabile Psyche: Leistung, private Beziehungen, körperliche Gesundheit und Lebenssinn. Das »magische Viereck«, wie Unger es nennt, lässt sich nicht trennen in Arbeit hier und Leben da, schon weil wir viel Zeit mit Arbeit verbringen und auch Positives aus ihr ziehen können. Für das seelische Gleichgewicht empfiehlt der Wissenschaftler, sich Auszeiten zu nehmen – zur Erholung, aber auch zur Reflexion über das eigene Tun. In Krisensituationen sei es manchmal hilfreich, einen Vertrag mit sich selbst zu schließen: »Ich mache das noch genau ein Jahr, dann schau ich, ob sich in mir oder im Unternehmen was verändert hat.« Und notfalls müsse man sich auch trennen können. Ohne neuen Job zu kündigen oder sich ganz der Kindererziehung zu widmen ist allerdings auch kein gutes Rezept, um der beruflichen Depression zu entkommen: Arbeitslose und Hausfrauen werden von Depressionsforschern ebenfalls zu den stark gefährdeten Gruppen gezählt.

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ZEITLÄUFTE

DIE ZEIT Nr. 38

DAS BIN ICH; NEIN: DIES IST. »Selbstbildnis am sechsten Hochzeitstag«, 1906

I

m Sommer des Jahres 1900 kommt der Dichter Rainer Maria Rilke nach Worpswede bei Bremen. Eine Künstlerkolonie hat sich hier seit 1889 angesiedelt, wie es jetzt so viele gibt in Europa, da die Maler die staubigen Säle der Akademien verlassen, um die Natur, um Licht und Kunst neu zu erfahren. Rilke trifft dort auf zwei junge Frauen, die Malerin Paula Becker und die Bildhauerin Clara Westhoff. In seinem Worpsweder Tagebuch hält er den Augenblick der Begegnung fest: »Ganz in Weiß kamen die Mädchen vom Berg aus der Heide …« Die blonde Malerin, ihre dunkle Freundin und der Dichter ahnen in diesem Moment noch nicht, dass sie fortan verbunden sein werden in einem Liebesverhältnis eigener Ordnung. In ihre wechselseitige erotische Anziehung mischt sich aber bald schon das Wissen, dass ihnen etwas anderes bestimmt ist als eine bürgerliche Existenz. Zwar erkennt die Malerin in Rilke, der sie in altmodisch empfindsamen Versen besingt, den Dichter nicht, und in Rilkes Worpswede-Buch kommt Paula Becker als Malerin nicht vor. Und doch muss sich in ihrem Atelier ein spontaner Gleichklang der Weltwahrnehmung eingestellt haben. »Die Uhr schlug eine viel zu große Stunde und ging ganz laut zwischen unseren Gesprächen umher. – Ihr Haar war von florentinischem Golde […]. Ein großer Schatten ging durch die Stube […]. Wir schauten nach den westlichen Fenstern hin. Aber es war niemand nah vorbeigegangen.« Sie werden beide gespürt haben, wie rasch ihr Worpsweder Sommer verging. Die Lebenswege des Dichters und der beiden Freundinnen kehrten in die traditionelle Ordnung zurück. Rilke heiratet Clara Westhoff; Paula Becker verlobt sich mit Otto Modersohn. »Ich weiß, ich werde nicht sehr lange leben«, schreibt sie in ihr Tagebuch. – Es war jemand vorbeigegangen. Paula Becker, am 8. Februar 1876 in Dresden als Kind eines viel gereisten Ingenieurs und einer adeligen Mutter geboren und in Bremen aufgewachsen, hat einen langen Weg zurückzulegen, bevor sie »das Muss in ihrer Natur« entdeckt, das sie zwingt, ihre Kräfte »auf das eine« zu konzentrieren, das Malen. Zu zeichnen beginnt sie, weil es für ein Mädchen ihres Standes zur Erziehung gehört. Sie durchschaut das Unprofessionelle ihres ersten Unterrichts nicht und fügt sich, wenn auch mit innerem Widerstreben, dem bildungsbügerlichen Curriculum.

Gegenständen steht, sondern in ihnen. »Dazu hatte ich ja die Innigkeit, daß ich auch im Häßlichen sei« – das Credo Rilkes trifft auf ihre Kinderbilder zu. Und das vielleicht hässlichste von ihnen, den wulstlippigen Säugling mit der Hand der Mutter, hat Rilke gekauft. Im Februar 1906 verlässt Paula Modersohn-Becker Worpswede und geht ein letztes Mal nach Paris, diesmal entschlossen, sich von ihrem Mann zu trennen. »Ich habe das Gefühl, ich bekäme ein neues Leben geschenkt«, schreibt sie an Rilke. »Und nun weiß ich gar nicht, wie ich mich unterschreiben soll. Ich bin nicht Modersohn und ich bin auch nicht mehr Paula Becker. Ich bin – – Ich – – – und hoffe, es immer mehr zu werden.« Sie hat dafür nur wenig mehr als ein Jahr Zeit, ein Jahr, in das sie sich mit einer unvorstellbaren Schaffenskraft stürzt. Es entstehen Bilder, die sich im formalen Experiment bis an die Grenzen der künstlerischen Moderne vorwagen. In ihrem Stilleben mit Äpfeln und grünem Glas ist ihr eine vollkommene Anverwandlung Cézannes gelungen, nur dass sie nicht die gleichsam vergeistigte Farbexistenz der Dinge sucht, sondern deren schwere irdische Wirklichkeit. Es entstehen ihre unendlich traurigen kleinen Mädchenakte, Eva mit dem Apfel im Schoß oder mit einem roten Röschen in der wie zum Schutz vor die noch flache Brust gedrückten Hand, während die andere einen Zipfel ihres weißen Hemds festhält, um doch nicht ganz entblößt zu sein, nichts wissend, alles ahnend und in den aufgerissenen Augen die ganze Angst des Geschlechts. Es entstehen die ungeheuren Mutter-und-Kind-Akte. Die kniende Mutter, das Kind an der Brust, auf einer hellen, runden Matte, Orangen um sie her verstreut, der maskenhafte Kopf der Frau im Dunkel, alles Licht auf dem Kind – sie verdrängt mit ihrer monumentalen körperlichen Präsenz die vertrauten Madonnenbilder. Aus den kubisch vereinfachten Formen spricht die Lebensgläubigkeit einer Malerin, die nur die Natur verehren will als »die Bringende, die das Leben hat und schenkt«, nicht den namenlosen Gott Rilkes.

Die ewigen Geldsorgen haben die Künstlerin zermürbt

Abb.: Kunstsammlungen Böttcherstrasse, Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen

Unterwegs in der alten Kutsche, sieht Rilke sie sehen Sie besucht das Lehrerinnenseminar in Bremen. Nach dem Examen ermöglicht ihr eine kleine Erbschaft, in Berlin ein Kunststudium aufzunehmen, und zwar, da Frauen an der Akademie nicht zugelassen sind, an der Zeichen- und Malschule des Vereins der Berliner Künstlerinnen. Hier hat sie 1896 das Glück, Jeanne Bauck zur Lehrerin zu bekommen. 1840 in Stockholm geboren, gehört die Malerin zu einer Generation emanzipierter Frauen, die in den männerdominierten kulturellen Institutionen ihre künstlerische und private Unabhängigkeit durchzusetzen suchen. Das 1887 posthum veröffentlichte Journal intime der russischen Malerin Marie Bashkirtseff, Zeugnis einer exzessiven Lebensintensität – sie stirbt, erst 24 Jahre alt, in Paris an der Schwindsucht –, wird für viele Künstlerinnen dieser Epoche zu einer Art Fanal. Ob Jeanne Bauck ihrer Schülerin etwas von der Aufbruchsstimmung dieser Zeit mitzugeben versucht hat, wissen wir nicht; Paula Becker jedenfalls hat aus ihrer Abwehrhaltung gegen die »Frauenemanzipation« keinen Hehl gemacht. Sie hat nur ein Ziel: das Malen. Was die Lehrerin ihr jedoch vermittelt, ist ein Begriff von künstlerischer Arbeit. In ihrer Klasse beginnt Paula Becker zu ahnen, dass jenes Muss in ihrem Wesen eine strenge Instanz ist. Sie will sich, ihrem Naturell gemäß oder aus Pietät, nicht auflehnen gegen die Bevormundung durch ihre Familie – aber die Kunst ist für sie existenziell. Sie will leben, sie muss malen. Sie bewundert Marie Bashkirtseff, die »ihr Leben so riesig wahrgenommen« hat. Worpswede, das Dorf im Moor, entdeckt Paula Becker im Sommer 1897: Es ist ihre Landschaft. Im Atelier von Fritz Mackensen lernt sie Clara Westhoff kennen, die wie sie selbst vom Naturalismus dieses Malers und von seiner pathetischen Auffassung bäuerlichen Lebens beeinflusst zu sein scheint. Beckers Strickende Frau verrät noch nichts von einem eigenen Stil. Doch schon wenig später malt sie das verstörende Brustbild einer Frau mit Mohnblume: eine schwarz gekleidete, seltsam alters- und geschlechtslose Frau vor einem weißlich grauen Grund, mit zurückgekämmten dünnen Haaren, schräg wie aus dem Bild wegrutschend. Die Züge, von einem flackernden Rot krankhaft übergossen, würden zerfließen, wären da nicht die hellen, tief liegenden Augen, der verängstigte Blick – und in anrührendem Kontrast dazu die schmale Glasvase mit den langstieligen roten Mohnblüten, die dieses reizlose Gesicht wie einen bedeutungsvollen Bildausschnitt einfassen. Das Gesicht der Frau, vielleicht einer Armenhäuslerin, ist für die junge Malerin zum Inbild geworden, durch das hindurch sie ihre eigene seelische Verfassung begreift, ihre Faszination durch Vergänglichkeit und Tod und ihr Bedürfnis nach Schönheit. In welchem Maß diese Malerin Sehende ist, hält Rilkes Tagebuch fest. Während einer Ausfahrt in einer alten Bauernkutsche sitzt er ihr gegenüber und sieht sie sehen. In ihren Augen erblickt er das Land, dem er den Rücken zukehrt. Paula Becker sieht alles in Farben. Sie sieht den bräunlichen Kopf einer hübschen Bäuerin »gegen eine rote Ziegelwand« oder »musizierende Mädchen bei bedecktem Himmel und in grauen und grünen Tönen, die Mädchen, weiß, grau und bedeckt rot«. Sie erfährt dieses Sehen als ein »physisches Wohlbehagen«. In einem Zustand zwischen Traum und Wachen arrangiert sie einmal ein paar Stoffbänder in ihrem Schoß zu einer Farbkomposition, als suche etwas in ihr nach der »malerischen Idee« ihrer späten Stilleben: Ihre Hände haben verstanden, »wie sehr das Malen unter Farben vor sich geht«. In dieser Hingabe an die Farbe erkennt Rilke das Ethos einer neuen Malerei. Aus seinen CézanneBriefen (1907) hat Clara Westhoff ein geheimes Zwie-

Leben. Malen In diesem Herbst feiert die Kunstwelt mit zahlreichen Ausstellungen die Malerin Paula Modersohn-Becker, die vor 100 Jahren gestorben ist. Ein biografischer Essay VON CHRISTA BÜRGER gespräch mit Paula herauslesen wollen – eine verspätete Liebeserklärung an die gemeinsame Freundin. Paula Becker hätte die Worte nicht gehabt, nur die unmittelbare Gewissheit, dass die wahre Wirklichkeit der Dinge aus der Farbe entsteht, ob sie einen hellen Birkenstamm an einem schwarzen Moorgraben malt oder ein dickes blondes Kind in einem dunkelrot gestreiften Kleid auf einem rot gewürfelten Kissen. Von 1898 an hat sie ein eigenes kleines Atelier in Worpswede, auf einem Bauernhof. Aber sie fühlt, dass nur dort, wo die großen künstlerischen Bewegungen der Moderne entstanden sind, sich entscheiden wird, ob das Muss in ihrer Natur mehr ist als eine ehrgeizige Selbstwahl. So bricht sie in der Silvesternacht 1899 auf nach Paris. Sie belegt Kurse für Aktmalerei auf einer Privatakademie. In den Bildern dieser Zeit sucht sie eine Verbindung von rücksichtsloser Genauigkeit in der Wiedergabe auch abstoßend hässlicher anatomischer Formen und individuellem Ausdruck. Sie verbringt viele Stunden im Louvre vor den alten Meistern, und sie entdeckt die Kunst Paul Cézannes. Clara Westhoff erinnerte sich später an den gemeinsamen Besuch in der Galerie Ambroise Vollards, des legendären Kunsthändlers, der Cézanne ebenso förderte wie Picasso. So elementar müsse dieses Erlebnis gewesen sein, dass die Freundin davon nicht habe sprechen können. Es habe »in Arbeit umgewandelt werden müssen«. Der folgende Sommer in Worpswede gibt dem Leben der beiden Freundinnen eine Wendung, die man mit gleichem Recht verheißungs- oder verhängnisvoll nennen kann. Zunächst aber wird dieser Sommer 1900 von den jungen Künstlern als ein großes, das Leben als Kunst und die Kunst als Leben feierndes Fest erlebt. Auch Heinrich Vogeler gehört dazu. Dessen bekanntes Gemälde Sommerabend auf dem Barkenhoff spiegelt die Stimmung jener Tage wider. Es zeigt die Freunde auf der Terrasse seines Hauses. Durch das Grün kunstvoll beschnittener Bäume schimmert das tief gezogene rote Dach über der weißen Eingangsfront. Hinter der rosenumrankten Balustrade sitzen die

musizierenden Brüder Vogeler in altdeutscher Tracht, die intensiv lauschende Paula mit dem rotblonden Haarknoten, die dunkle Clara, im Schatten hinter ihnen steht Modersohn. Paula Becker genügt ein Gang über den nahen Weyerberg, der Blick über das stille, von Entwässerungsgräben durchzogene Land, um zu begreifen, dass sie unter ihren Künstlerfreunden eine Fremde ist. Sie malt ihr Worpswede und entfernt sich dabei weit von der realistischen Landschaftsbeschreibung Modersohns. Sie konzentriert sich auf die nuancenreiche Farbigkeit von Moorböden oder Wiesen, weiten Himmeln, aber alles wie nach geometrischen Gesetzen zu Flächen zusammengezogen. Davor setzt sie, als Kontrast und gliederndes Element, ihre oft kahlen, über das Bild hinausstrebenden Birken. Es sind vollkommen ungewöhnliche Bilder, fremdartig in ihrer Kargheit, vor allem die Sandkuhlen. Wie Cézanne verarbeitet sie hier ein unscheinbares Landschaftsmotiv zu Variationsreihen und beschränkt sich auf das Zusammenspiel von nur wenigen stumpfen, erdigen Farben. Aber sie haben die »einfache Wahrhaftigkeit«, die Rilke an dem Franzosen so bewundert.

Die Kinder auf den Bildern sind hässlich – ihren Mann stoßen sie ab Angesichts der existenziellen Bedeutung, die das Malen für diese junge Frau hat, und der Besessenheit, mit der sie es betreibt, fällt es nicht leicht, zu verstehen, warum sie sich im Winter 1900 mit dem elf Jahre älteren Otto Modersohn verlobt, dessen Frau wenige Monate zuvor gestorben ist. Im Dezember 1899 hat sie einige ihrer Arbeiten in der Bremer Kunsthalle zeigen können. Mag sein, dass der unsägliche Verriss des Kunstkritikers und Malers Arthur Fitger sie entmutigt hat oder dass die Eltern sie mit ihrer Sorge um die materielle Zukunft der Tochter bedrängen. Sicher ist, dass sie sich der Familie fügt und zur Vorbereitung auf die Ehe in Berlin einen Kochkurs absolviert. In den Berliner Tagen ist sie viel mit Rilke zusammen. Seine Briefe lassen die Intensität einer Nähe

ahnen, die nur im Rhythmus des dichterischen Worts und in den Farben des Stillebens ihre Wirklichkeit hat, im Werkhaften, nicht in der erotischen Partnerschaft. Erst Jahre später erkannte Rilke, dass er »die Liebe nicht konnte« und dass seine »lieblose Liebe« Clara Westhoff zerstören musste (bald nach der Geburt der Tochter Ruth 1901 war ihre Ehe zerbrochen). Hingegen verstand Paula Becker schon früh, was es heißt, das »maßlose Armsein« der künstlerischen Arbeit auf sich zu nehmen. Was sie wohl aber nicht geahnt hat, ist, wie schwer es ihr fallen würde, das Bedürfnis nach Einsamkeit zu verteidigen – gegen den Mann, dessen Frau sie war. Für das Beziehungsdrama, in das sie verwickelt ist, hat sie keine Worte oder nur solche, die uns heute seltsam weltfremd anmuten. In ihren Briefen aus der ersten Zeit der Ehe spricht sie die Sprache der Liebe, doch in ihrem Tagebuch malt sie sich ihr mit weißen Nelken umpflanztes Grab aus. Sie macht sich klar, dass sie ganz »nach innen gewendet« lebt und sich nur nach einer Seele sehnt, nach Clara Westhoff. »Ich glaube, aus solchem Gefühl ging man früher ins Kloster.« 1903 reist sie ein zweites Mal, diesmal für zwei Monate, nach Paris. Dass der Weg seiner Frau sie von Worpswede entfernt, kann Modersohn an ihren Arbeiten ablesen. Die Landschaften »dieser kleinen Deern« sind »besser gemalt« als seine eigenen, das gibt er zu. Aber ihre Kinderbilder stoßen ihn ab. Und Paula Modersohns Kinder sind wirklich nicht schön. Ein Mädchen mit unförmiger Nase und dicken Lippen lehnt an einem Birkenstamm, und die Katze, die es an sich drückt, hat mehr Ausdruck als das stumpfe Gesicht des Menschenkindes. Ein anderes geht mit einer primitiven Flöte durch den Birkenwald, mit riesigen Händen, die Füße in klobigen Holzpantinen. Aber »die Farbe ist famos«: Weiße Birken, durch deren herbstliches Laub das Grau des Himmels schimmert, und das dunkelgrüne, schwarz gepunktete lange Kleid des Kindes wirkt, als wäre es das Gewand einer Prinzessin. Sich einzusehen in das Hässliche, bis es schön wird, das ist das Weltgefühl einer Malerin, die nicht vor ihren

Die großartigste Leistung dieser letzten Zeit aber sind die Selbstbildnisse und die Porträts von Freunden. Während ihres zweiten Paris-Aufenthalts hat Paula die spätantiken Totenbildnisse aus der ägyptischen Oase Fayum gesehen, die auf sie einen ähnlich starken Eindruck gemacht haben wie Cézannes Kunst. Was sie an diesen lebensgroßen Mumienbildern fasziniert haben muss, ist deren verstörender Naturalismus, der das Leben mit täuschender Ähnlichkeit festhält und zugleich entrückt. Noch einmal malt sie die »Dreebeen«, eine der alten Frauen aus dem Armenhaus: Die massige Gestalt sitzt in einer roten Jacke vor einem von Gelb ins Grünliche übergehenden Abendhimmel, umgeben von wildem Mohn, dessen Blüten so rot sind wie ihre schweren Lippen. In diesem Werk vereinigt Paula das Avancierte mit dem Volkstümlichen, wie man es allenfalls bei Gauguin oder van Gogh findet. Mit dem Bildnis der Lee Hoetger gelangt sie – wie zur selben Zeit Picasso mit dem Porträt Gertrude Steins – zu einer äußersten Beschränkung auf die Grundelemente der individuellen Physiognomie. In der seltsamen Unfertigkeit ihres Rilke-Porträts ahnen wir die Angst des Dichters, das Selbstopfer für das Werk nicht leisten zu können. Rilke hat sich erkannt in diesem Gesicht mit dem breiten roten Rand um die riesigen dunklen Augen, dessen geöffneter Mund an die Masken der antiken Tragödie denken lässt: »Und seine Maske, die nun bang verstirbt, / ist zart und offen wie die Innenseite / von einer Frucht, die an der Luft verdirbt.« Es ist nicht sicher, ob Paulas späte Porträts ihren geschichtlichen Ort schon gefunden haben. Sie hat die Gesichter der Freunde mit einer ungeheuren Radikalität der Vereinfachung konstruiert. Wir aber hören den Seelenlaut Rilkes und sehen die Resignation Clara Rilkes. Das Ereignis dieser Bildnisse besteht darin, dass sich, durch die Hingabe der Malerin an ihr künstlerisches Material, Konstruktion in Ausdruck verwandelt. Am Ende dieses Jahres ist Paula bereit, nach Worpswede zurückzukehren. Nur der Freundin deutet sie an, dass die ewigen Geldsorgen sie zermürbt haben. Das Bildnis Clara Rilkes ist vielleicht der vorweggenommene Ausdruck ihrer eigenen Niederlage: Claras Kopf ist nach links, zur arbeitenden Freundin hin gewendet. Sie hält mit zwei Fingern eine blassrote Rose vor dem Ausschnitt ihres weißen Kleides. Sie ist schön, aber ihre Mundwinkel sind schmerzlich nach unten verzogen, ihre Augen, auf das entstehende Porträt gerichtet, scheinen darin nach ihrem früheren stolzen Selbst zu suchen. »Dies malte ich mit dreißig Jahren an meinem sechsten Hochzeitstag«, steht am rechten unteren Bildrand auf Paulas Selbstbildnis als Akt. Sie ist darauf in einer fast herausfordernden Weise da, als wäre sie schwanger, als hielte sie unter dem schweren Bauch eine Blume, aber ihre zusammengelegten Finger sind leer, und der helle Hintergrund des Bildes verdunkelt sich nach oben hin. Rilke hat in seinem Requiem auf die Freundin diese seltsame Selbstentblößung beschrieben: »Und sahst dich selbst zuletzt wie eine Frucht, / nahmst dich heraus aus deinen Kleidern, / trugst dich vor den Spiegel, ließest dich hinein / bis auf dein Schauen; das blieb groß davor / und sagte nicht: das bin ich; nein: dies ist.« Rilke hat, nachträglich, erkannt, dass Paula eine Malerin des Lebens ist. Und so ist vielleicht der altmodische Tod der Wöchnerin, den sie gestorben ist, ihr »eigener Tod«, mit dem sie im Voraus sich schon versöhnen konnte, weil sie ja alles gesehen hatte. Am 20. November 1907 stirbt Paula Modersohn-Becker in Worpswede, zwei Wochen nach der Geburt einer Tochter. Die Autorin ist Literaturwissenschaftlerin und lebt in Bremen Worpswede steht in diesem Herbst ganz im Zeichen der Künstlerin (Informationen: Tel. 04792/93 58 20). In Bremen gibt es vom 13. 10. bis zum 24. 2. zwei große Ausstellungen: »Paula in Paris« in der Kunsthalle (Tel. 0421/329 08 88) und »Paula Modersohn-Becker und die ägyptischen Mumienporträts« im Paula Modersohn-Becker Museum in der Böttcherstraße (Tel. 0421/33 88 222). Hannovers Landesmuseum zeigt zur selben Zeit die Schau »Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn – Ein Künstlerehepaar um 1900« (Tel. 0511/980 76 86). Parallel dazu sind in der Städtischen Galerie Delmenhorst unter dem Titel »Paris leuchtet« 170 Werke deutscher und französischer Avantgardisten aus jener Zeit zu sehen (28. 10. bis 24. 2.; Tel. 04221/141 32)

DIE

Nr. 38 13. September 2007 62. Jahrgang

ZEIT

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Sind wir zu naiv? Im ZEITmagazin: Anne Will über das Strahlen ihrer Augen und die Gäste ihrer neuen Talkshow, die heißt wie sie – ein Porträt

Viele wollten es nicht wahrhaben: Islamistische Terroristen bedrohen Deutschland. Wer sind sie? Wer bildet sie aus? Wie können wir uns schützen? POLITIK SEITE 2–6

Atheisten Der einsame Kampf der Gottlosen VON JOACHIM RIEDL S. 16 Von der Bundesanwaltschaft präsentierte Fässer mit Wasserstoffperoxid, aus dem die mutmaßlichen Terroristen Sprengstoff herstellen wollten; Foto [M]: Ralph Orlowski/gettyimages

Alles, was Recht ist ... ... muss der Staatsmacht im Kampf gegen den Terrorismus erlaubt sein. Mehr nicht

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Fotos: Fotex (u.); Jim Rakete (o.r.)

reißig Jahre nach dem Deutschen Herbst, dem mörderischen Höhepunkt des RAF-Terrors, sollte die Bundesrepublik wieder Ziel eines fürchterlichen Anschlags werden. Geplant hatten ihn zum Islam konvertierte, in pakistanischen Trainingscamps ausgebildete junge Deutsche. Dass die Attentate verhindert werden konnten, ja, dass sie dank langmütiger Fahndung und einer dichten, wenn auch nicht pannenfreien Überwachung der Täter eigentlich gar nicht mehr stattfinden konnten – dies alles ändert nichts am Bewusstsein der Gefährdung. Innenminister Wolfgang Schäuble fühlte sich bestätigt: Die Onlinedurchsuchung privater Computer muss jetzt her. Wie vor dreißig Jahren flammt der Streit darüber auf, was der Staat zur Abwehr des Terrorismus (noch alles) tun darf und muss – und was nicht. Wo liegen die Schranken, jenseits derer die Staatsmacht das gefährdet, was sie eigentlich schützen soll: die bürgerlichen Freiheiten? Unter der Bedrohung durch die RAF prägte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt den Satz: »Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen will, muss innerlich auch bereit sein, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was vom Rechtsstaat erlaubt und geboten ist …« Im Jahr 1978 resümierte Schmidt dann: »Ich glaube, dass wir bis an die Grenzen des Rechtsstaates gegangen sind. Aber wir haben sie nicht übertreten.« Wo aber diese Grenze liegt, war damals, ist von jeher und bleibt wohl immer umstritten. Kann man wenigstens aus den zeitgeschichtlichen Erfahrungen lernen? Die Antwort ist höchst widersprüchlich: im Prinzip ja – im Einzelnen nein. Im Einzelnen gibt der zeitgeschichtliche Vergleich nämlich wenig her. Zu verschieden die Typen des Terrorismus damals und heute – zu verschieden die Ansatzpunkte staatlicher Abwehr und zu unterschiedlich demnach die potenziellen Gefährdungen individueller Grundrechte. Bei der RAF hatte man es mit Tätern zu tun, die sich als Avantgarde der Geschichte wähnten und den roten Morgen einer besseren Zukunft nicht nur herbeiführen, sondern auch erleben wollten. Diese Terroristen wollten hier leben, wirken, ja herrschen – Polizei und Justiz konnten sich auf sie einstellen und sie strafrechtlich verfolgen. Entsprechend bezogen sich alle damaligen Gesetzesverschärfungen auf den Katalog der Straftaten und die Regeln des Strafprozesses. Am schärfsten griff der Rechtsstaat damals ein in die Beziehungen zwischen den bereits gefassten Terroristen und deren Anwälten – schon deshalb, weil in der gesamten vorausgegangenen Rechtsgeschichte niemand ahnen musste, dass Rechtsanwälte mit den Verbrechern gemeinsame Sache machen, Kassiber verschieben und Waffen in Gefängnisse schmuggeln könnten. Mit anderen Worten: Der damalige Terrorismus war eine An-

gelegenheit, der man nicht zuletzt mit eskalierten Sanktionen auch noch nach der Tat beikommen konnte. Folglich waren auch die Verschärfungen der Gesetze in jeder Hinsicht so transparent und nachvollziehbar wie der Strafprozess, auf den sie sich bezogen. Heute ist dies ganz anders. Der islamistische

Terrorismus ausländischer Steuerung mit seiner Extremfigur des Selbstmordattentäters kennt nicht das summum malum des Thomas Hobbes, nämlich die Angst um das eigene Überleben als letzte Schranke des eigenen Handelns. Diesen Terroristen ist der eigene Tod nicht ein Übel, sondern ein Instrument, ungezählte Menschen mit in den Tod zu reißen, weder die eigene Zukunft noch die der angegriffenen Gesellschaft ist ihnen eine Überlegung wert. Und folglich handelt es sich nicht nur um einen weitaus gefährlicheren Terrorismus; vielmehr geht es um ein verbrecherisches Treiben, das nicht mit der Drohung nachträglicher Sanktionen, sondern nur durch rechtzeitige Prävention eingedämmt werden kann. Aber selbst unter diesen erschwerten Bedingungen geht es um den Schutz des Rechtsstaats, nicht um die Errichtung eines entgrenzten Präventionsstaats. Von der Sanktion zur Prävention: Damit verschiebt sich auch das Problem der Grenzen. Sanktionen erfolgen öffentlich, die Prävention aber vollzieht sich im Geheimen. Was immer der Staat sich auf diesem Gebiet an Befugnissen holt – der Bürger kann es nicht mehr durchschauen. Dass man seinen E-Mail-Verkehr, also seine bewusste Kommunikation mit Dritten, gegebenenfalls nach strengen (und kontrollierten) Regeln

Die Göttlichen Vor 30 Jahren starb die einzigartige Maria Callas. Was aber macht eine Diva aus? Und warum gibt es heute keine Diven mehr, sondern nur noch Stars? FEUILLETON S. 45–48

VON ROBERT LEICHT

überwacht, das kann er noch nachvollziehen – weil es im Wesen dasselbe ist wie die Überwachung der Post und des Telefons. Dass sein heimischer Computer heimlich mit allen Daten ausgespäht werden könnte, ist etwas ganz anderes, auch etwas anderes als eine konventionelle Durchsuchung seiner Wohnung, vor der ein Beamter an der Tür klingeln müsste – und bei der er Zeuge der Aktion bliebe. Wie sensibel die Grenze ist, die dabei überschritten würde, sieht man schon daran, dass für eine solche geheime Computerausspähung eine Verfassungsänderung erforderlich wäre. (Und dass man das Grundgesetz schon gar nicht ändern sollte, bevor das Bundesverfassungsgericht im kommenden Frühjahr über ein entsprechendes Gesetz aus Nordrhein-Westfalen entschieden hat, müsste eine pure Selbstverständlichkeit sein.) Wo hier die Grenze des Rechtsstaats verläuft, lässt sich allerdings nicht unter schieren Nützlichkeitsgesichtspunkten entscheiden. Präventiv zweckmäßig könnte es nämlich auch sein, die DNA-Sequenz jedes Bürgers von Geburt an vorsorglich zu speichern – ein Gottesgeschenk für jeden Fahnder, sollte man meinen; und doch unter rechtsstaatlichen Prinzipien völlig aberwitzig. Folglich muss man sich heute, wie vor drei Jahrzehnten, erst einmal über die Prinzipien verständigen: In welchem Staat wollen wir leben, mit welchen, insbesondere mit welchen geheimen Befugnissen? Sodann: Im Streit um die Grenzen des Rechtsstaats muss sich rechtfertigen, wer Grundrechte (wie die Unverletzlichkeit der Wohnung) einschränken will, nicht aber, wer sie verteidigt. Schließlich: Nicht alle irgendwie nützlichen, sondern nur die unbedingt unabweisbaren Einschränkungen können dabei überhaupt zur Diskussion stehen. Die geheime Computerausspähung komme, so heißt es jetzt besänftigend, nur fünf-, sechsmal im Jahr infrage. Wenn dies aufrichtig gemeint sein sollte, so würde es sich also nicht um ein schleppnetzartiges Präventionsinstrument handeln, sondern um eine klassische, sehr gezielte Fahndungsmaßnahme. Dafür aber reicht, wie man am jüngsten Fahndungserfolg sehen kann, das bisherige Instrumentarium aus. Wer wegen dieser wenigen Fälle das Grundgesetz ändern wollte, könnte genauso gut sagen: Wegen der fünf, sechs Hinrichtungen hätte man doch nicht die ganze Todesstrafe abschaffen müssen. Gewiss, bei all diesen Diskussionen um die Grenzen des Rechtsstaats kann man listig fragen, weshalb ausgerechnet beim nächsten kleinen Schritt das Ganze auf dem Spiel stehen soll. Aber die Freiheit stirbt eben schrittweise. Irgendwo auf dieser schiefen Bahn muss endlich haltgemacht werden. Audio a www.zeit.de/audio

Doppelter Ernstfall Zwischen globalisierter Wirtschaft und brodelnder Partei: Die SPD muss sich zu Schröders Reformen bekennen VON BRIGITTE FEHRLE

A

ls sich Gerhard Schröder im Frühsommer 2005 zu Neuwahlen entschloss, geschah dies – neben allen egoistischen Gründen – in dem verzweifelten Willen, die SPD vor dem Untergang zu bewahren. Die Partei war in den Meinungsumfragen auf dramatische 28 Prozent abgestürzt. Schuld war die Agenda 2010. Tiefer geht’s nimmer, dachten die Sozialdemokraten damals. Doch, es geht. Jüngste Umfragen sehen die SPD bei 26 Prozent. Und die Partei ist zerrissener denn je. Inzwischen hat sich der Bazillus der Selbstzerstörung mitten in das Lager der Agenda-Befürworter gefressen. Steinmeier, Steinbrück und Müntefering sind »stolz« auf die Agenda. Kurt Beck sagt, er finde sie »richtig«, fordert aber ein Ende der »Zumutungen«. Der Streit scheint absurd. So absurd, dass man nicht wissen kann, ob den Beteiligten klar ist, wie ernst er ist. Denn hinter den Bekenntnissen zur Agenda, die alle Beteiligten diszipliniert wiederholen, verbirgt sich ein tiefer Dissens – oder ein großes Missverständnis über die Rolle der Sozialdemokratie. Steinbrück, Steinmeier, Müntefering verteidigen die Agenda mit aller Kraft und mit gutem Gewissen. Kurt Beck verteidigt Schröders Erbe auch. Aber er wirkt, als würde er die Agenda am liebsten ungeschehen machen. Ganz anders die Sicht der drei starken Minister. Sie erklären die Gegenwart zur bloßen Folge der richtigen Politik aus besseren Zeiten. Ihre Zeit, ihre Politik. Aufschwung, Rückgang der Arbeitslosigkeit, steigende Steuereinnahmen – alles verspätete Früchte rot-grüner Politik. Und weil sich Erfolge, die als Nachhall einer früheren Regierung daherkommen, nicht von selbst erklären, müssen sie bis zur Besserwisserei behauptet werden. Darin liegt die Schwäche der Agenten der Agenda. Weil sie behaupten und nicht beweisen (können), dass die Agenda den Aufschwung bewirkt habe, öffnet sich dem Zweifel die Tür. Und schon werden aus den unpopulären Elementen der rot-grünen Reformpolitik Zumutungen. Mitten in diesem Zweifel bewegt sich Kurt Beck. Dem Parteichef ist beim Verteidigen der Agenda ausgesprochen unwohl. Nun fordert er das Ende der »Zumutungen«. Und indem er das tut, indem er die Rhetorik der Kritiker aufnimmt, stellt er sich auf ihre Seite. Wer

die Agenda in diesem Sinne interpretiert, wird sie am liebsten verschweigen wollen. Vorwärts – und vergessen! Doch die SPD kann die Agenda nicht zum Verschwinden bringen, wie es die dogmatische Parteilinke um Ottmar Schreiner will. Sie kann sie aber auch nicht ins Geschichtsregal legen. Oder doch? Kurt Beck scheint gewillt, das zu probieren. Er will die verlorenen Wähler, die unzufriedenen SPDAnhänger, die rebellierenden Parteimitglieder an der Agenda vorbei in eine neue, sozialdemokratische Zukunft führen. Doch warum sollten die Wähler diesem Selbstbetrug folgen? Sie tun es nicht, zum Glück. Die SPD wird erst dann wieder attraktiv

und mehrheitsfähig, wenn sie ihre jüngste Regierungsgeschichte weder entsorgt noch beschönigt. Sie wird nicht umhinkommen, sich den Wählern mit einer differenzierten Analyse der Agenda-Politik zu stellen. Mit Schröders Reformen ist in schwierigen Zeiten und unter dramatischen Schmerzen das Realitätsprinzip in die Sozialdemokratie eingekehrt. Darauf müsste sich die SPD heute selbstbewusst stützen. Denn die Zeiten sind nicht einfacher. Der laue Aufschwung kann schon morgen vorbei sein. Die nächste Finanzkrise trifft vielleicht Europa und die deutschen Kleinsparer. Und auch die innenpolitischen Bedingungen sind seit Schröders Abwahl schwieriger geworden. Es gibt eine starke, populistische Linkspartei, die es den Leuten leicht macht, in Nischen des Selbstmitleids zu flüchten. Und es gibt eine Christdemokratie, die dazugelernt hat. Sie wird der SPD nicht den Gefallen tun, in altes politisches Lagerdenken zurückzufallen. Die SPD müsste also heute ein Politikangebot für den doppelten Ernstfall vorlegen. Eines, das Antworten sucht auf die Probleme der globalisierten Welt. Und eines, das auf die Gefühlslage des Landes passt. Die Welt haben Steinbrück, Steinmeier, Müntefering im Blick. Beck schaut auf die Stimmung. Könnte das zusammengehen? Es könnte. Unter Aufbietung aller Vernunft und guten Willens. Doch was wir jetzt sehen, ist ein Machtkampf, ein zäher Streit um die Führung. Konsequent zu Ende gelebt, wird er die SPD in die Politikunfähigkeit treiben. Audio a www.zeit.de/audio

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Foto: Ingo Pertramer

ÖSTERREICH

ALFRED DORFER DONNERSTALK

Panda-Ultimatum KONSERVATIV, LIBERAL oder KNALLIG? ÖVP-Minister Günther Platter, Josef Pröll und Andrea Kdolsky halten Ausschau nach der Zukunft

Was ist das? Eine Perspektive! Endspurt für die Zukunftskommission der ÖVP. Bisher ernteten ihre Ideen heftige Kritik der Parteigranden. Ein Rückblick

I

n zwei Wochen ist es so weit. Am 1. Oktober wird Umweltminister Josef Pröll seinem Parteichef Wilhelm Molterer feierlich ein Schriftstück überreichen. Inhalt: die Zukunft der Volkspartei – zumindest wie sie sich die Perspektivengruppe der ÖVP vorstellt. Vierzehn sogenannte Impulsgruppen haben sich nun gut acht Monate lang den Kopf zerbrochen, um ihre Partei einem »Zukunfts-Check« zu unterziehen. Man wolle »kontroversielle Diskussionen zulassen«, auch auf parteiferne Stimmen hören und »wegkommen von den Reflexen, hin zur Reflexion«, verkündete Josef Pröll, der Vorsitzende der schwarzen Denkerrunde, Anfang des Jahres. Noch ist das Ergebnis ebenso geheim wie die Details rund um die Präsentation der Vorschläge. Viele der Impulsgruppen haben aber schon in den vergangenen Monaten einige ihrer Ideen vorgestellt. Die Partei war meist wenig amüsiert. Eine Auswahl an Reflexionen und Reflexen. 19. Februar: Sitzenbleiben Katharina Cortole-

zis-Schlager, nicht amtsführende Wiener Stadträtin und Vorsitzende der Impulsgruppe Bildung, spricht sich gegen Klassenwiederholungen in der Oberstufe der Gymnasien aus. Während die SPÖ sofort applaudiert, schweigt die Volkspartei. Erst als Bildungsministerin Claudia Schmied Monate später einen ähnlichen Vorschlag macht, regt sich Kritik: Bildungssprecher Fritz Neugebauer findet, Sitzenbleiben sei »nicht das Malheur«, der oberösterreichische Landeshauptmann Josef Pühringer meint, es sei »für die Kinder oft der bessere Weg, wenn sie die Klasse wiederholen«. Parteichef Wilhelm Molterer beendet die Diskussion: Sitzenbleiben abzuschaffen wäre »völlig falsch«. Kleinster gemeinsamer Nenner ist die schwammige Formulierung im Regierungsprogramm der Koalition: »Das Wiederholen von Schulstufen soll so weit wie möglich reduziert werden.« 25. Februar: Homosexuellen-Gleichstellung

Gesundheitsministerin Andrea Kdolsky fordert einen Notariatsakt für gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Perspektivengruppenleiter Pröll und VP-Generalsekretär Hannes Missethon geben ihr Rückendeckung: Homosexuelle sollen zwar weder heiraten noch Kinder adoptieren dürfen, eine notariell geschlossene Lebenspartnerschaft halten sie aber für möglich. Zuerst widerspricht ÖAAB-Generalsekretär Werner Amon: Er wittert eine »völlige Aushöhlung von Ehe und Familie«, und der Vorschlag sei daher »denkunmöglich«. Etwas milder die Reaktion von Innenminister Günther Platter: »Das klassische Familienbild steht bei der ÖVP im Vordergrund.« 5. März: Elterngeld Josef Pröll möchte eine

Foto [M]: Robert Jäger/APA/dpa

»Mindestsicherung« für Eltern einführen, die sich für einige Jahre ganz und gar den Kindern widmen, anstatt zu arbeiten. So will er »die Wertschätzung für die Familienarbeit auch ökonomisch ausdrücken«. Wirtschaftskammerboss Christoph Leitl reagiert prompt: »Mir fallen auf Anhieb vier bis fünf Punkte ein, die wichtiger sind als ein Müttergehalt.« Auch Familienministerin Kdolsky findet den Vorschlag »nicht adäquat«. Das letzte Wort hat diesmal Klubobmann Wolfgang Schüssel. Er erklärt, die Perspektive sei gar keine, weil längst umgesetzt: »Wir haben das Kindergeld. Das ist genau das.« 16. April: Kindergeld Die niederösterreichische Landesrätin Johanna Mikl-Leitner, Vorsitzende der für Familien zuständigen Impulsgruppe, tritt für eine Abschaffung der Zuverdienstgrenze bei Kindergeldbezug ein: Jeder soll in den Genuss der Leistung kommen – unabhängig von seinem Einkommen. Zunächst findet sie jede Menge Verbündeter: Parteikollegen aus Wien, der Steiermark, Tirol, Oberösterreich und dem Burgenland applaudieren. Das erste Machtwort spricht Generalsekretär Missethon: »Wir müssen bei unseren Prinzipien bleiben.« Endgültig

beenden darf die Diskussion wieder einmal Parteichef Molterer: Die Zuverdienstgrenze bleibt. 17. April: Kindergärten Katharina CortolezisSchlager meint, eine Selektion von Schulkindern im Alter von zehn Jahren sei »unnatürlich« und widerspreche allen Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie und Hirnforschung. Besser wäre eine Selektion erst mit zwölf. Dieser Vorschlag wird von der ÖVP weitgehend ignoriert – lediglich zwei Landeshauptleute folgen gedanklich: Niederösterreichs Erwin Pröll möchte eine sechs Jahre dauernde Volksschule, Oberösterreichs Josef Pühringer eine fünfjährige. Gleichzeitig stellt die Wienerin eine Forderung, über die bis in den September diskutiert wird: Kindergärten sollen generell kostenlos sein, und ein Jahr Kindergarten soll verpflichtend sein. Ihre Parteikollegen stutzen den Vorschlag zunächst auf eine Schmalspurvariante zurück: Nur in den Städten soll lediglich ein Jahr gratis sein – und bloß Kinder mit Deutschproblemen sollen dazu verpflichtet werden. Wissenschaftsminister Johannes Hahn meint, auch dieser Vorschlag sei »nicht umzusetzen«, während Wissenschaftssprecherin Gertrude Brinek wenig später zwei Gratiskindergartenjahre fordert. Davon angespornt, greifen steirische und oberösterreichische ÖVP-Vertreter den ursprünglichen Vorschlag wieder auf: Sie wollen einen kostenlosen Kindergarten. 27. Juli: Wirtschaft Die Impulsgruppe rund um Wirtschaftsbund-Generalsekretär Karlheinz Kopf und den ehemaligen Wirtschaftsminister Johannes Ditz stellt ihre Perspektiven vor. Sie möchte den Mittelstand entlasten, die Staatsquote senken sowie Post und Energiekonzerne weiter privatisieren. Dagegen hat kein Parteikollege öffentlich etwas einzuwenden. 31. Juli: Bildung Zwischenergebnisse von Cortolezis-Schlagers Impulsgruppe: Künftig sollen sich die Universitäten ihre Studenten selbst aussuchen können – auch mittels Aufnahmetest. Sogleich reagiert Wissenschaftssprecherin Brinek: Sie erkennt dafür »keine Notwendigkeit«. Auch der zuständige Minister Hahn sieht darin nur »eine von vielen möglichen Perspektiven«, die er jedenfalls nicht verfolge. Ähnlich ergeht es der zentralen Idee der Impulsgruppe zur Pflichtschule: der »Bildungspflicht bis 18«. Wer keinen Lehrplatz findet oder nach dem Lehrabschluss keinen Arbeitsplatz, der muss zurück auf die Schulbank, bis er volljährig ist. Die Vorschläge würden »immer seltsamer«, verlautet es aus der Steiermark. Cortolezis-Schlager kalmiert tags darauf: Der Schulteil sei »noch nicht fertig«. Am 1. Oktober gäbe es dazu nähere Informationen: »Vielleicht kommen ja noch bessere Ideen heraus.« 23. August: Ausländer Die Gruppe »Sicherheit und Integration« unter der Leitung des Grazer Bürgermeisters Siegfried Nagl legt erste Vorschläge vor. Zentrale Perspektive: Ausländer, die mit österreichischen Staatsbürgern verheiratet sind, sollen automatisch Arbeitsgenehmigungen erhalten. Sofort äußert die zuständige Staatssekretärin Christine Marek ihre Skepsis: »Das muss man sich sehr genau anschauen, da es sehr, sehr heikel ist.« Auch Innenminister Platter bremst: Eine derartige Regelung würde »Scheinehen« fördern. Ideengeber Nagl ärgert sich über die vorschnelle Kritik an seinen Vorschlägen: »Man muss nicht in jedes Mikrofon hineinbeißen, das einem hingehalten wird.« Immerhin blieb aber ein anderer Vorschlag seiner Impulsgruppe in der ÖVP bislang unwidersprochen: Der Begriff »Migrant« soll abgeschafft und – je nach Wohnort – durch »Neu-Grazer«, »Neu-Wiener« oder »Neu-Linzer« ersetzt werden. 27. August: Neutralität Der steirische ÖVP-

Klubobmann Christoph Drexler, Leiter der

Europa-Impulsgruppe, fordert unter anderem die Abschaffung der Neutralität, die heute nur mehr »Erinnerungspost an eine einst gar nicht so selige Zeit« sei. Chef-Nachdenker Josef Pröll stellt sofort klar: »Das ist keine Perspektive.« Außenministerin Ursula Plassnik schließt sich an. Drexlers Vorschlag folgend, müsste auch der Nationalfeiertag, der an die Verabschiedung des Neutralitätsgesetzes am 26. Oktober erinnert, gleichfalls abgeschafft werden – für Pröll eine »Skurrilität«. Schon am nächsten Tag erklärt Parteichef Wilhelm Molterer die Debatte für beendet: »Dieser Vorschlag wird von der ÖVP nicht weiterverfolgt.« Das letzte Wort gehört allerdings Bundespräsident Heinz Fischer: »Ich kann mich nur wundern.« 28. August: Pflegegeld Markus Wallner, Leiter der

für soziale Themen zuständigen Impulsgruppe, wünscht sich eine Erhöhung des Pflegegeldes. Dafür will er einen Teil der für 2010 geplanten Steuerreform aufschieben: »Die Pflegefinanzierung ist wichtiger als eine Steuersenkung.« Geflissentlich legt der Vorarlberger Vize-Landeshauptmann in allen Interviews Wert auf die Feststellung, es handle sich hierbei um seine »Privatmeinung«. Ob diese Idee in den Endbericht am 1. Oktober einfließen werde, könne der Gruppenleiter noch nicht sagen.

VON WOLFGANG LUEF 29. August: Arbeit Die vorerst letzte Impulsgruppe meldet sich zu Wort. Die Arbeitsrechtsexpertin und Nationalratsabgeordnete Beatrix Karl verkündet, ihre Gruppe habe »noch keine endgültigen Thesen«. Man wolle erst am 1. Oktober Handfestes präsentieren. Angesichts der Schicksale der meisten anderen Impulsgruppen-Thesen wohl eine vernünftige Entscheidung. 10. September: Bilanz eines Steirers Der steirische ÖVP-Chef Hermann Schützenhöfer ärgert sich in profil über die Art, wie mit Vorschlägen aus den Perspektivengruppen umgegangen wird. Molterer und Plassnik hätten auf den Neutralitäts-Vorstoß der Europa-Gruppe »überaus hysterisch« reagiert, »als ob sie von einer Hornisse gestochen worden wären«, und hätten Drexler »gleichsam mit allen Mistgabeln niedergemacht«. Diesmal mahnt Schützenhöfer ein, was am Beginn des postulierten Nachdenkprozesses stand: »Der Bundesparteivorstand der ÖVP darf keinesfalls als Scharfrichtertruppe auftreten, die mit dem ideologischen Schwert darüber wacht, dass nur ja niemand ausschert. Dort sitzen eben auch Querdenker und Menschen, die der Volkspartei nicht angehören. Wenn die nicht Vorschläge machen dürfen, dann war die ganze Gruppe sowieso umsonst.«

Der Papst brachte es auf den Punkt: Es mangelt uns an Kindern. Zwar ist Benedikt in diesem Punkt nicht unbedingt ein leuchtendes Vorbild, doch sind Sorgen bezüglich der demografischen Entwicklung durchaus berechtigt. Hinterhältige Angriffe unserer deutschen Nachbarn, die nur die Zeitung Österreich offen auszusprechen wagte (»Deutscher Kannibale tötet und isst Österreicher!«) tun ihr Übriges. Dass Kannibalismus in Deutschland offenbar gängiges Brauchtum ist, weiß die Welt spätestens seit dem spektakulären Fall in Rotenburg, der als »Hessen-Essen« bekannt wurde. Der teutonische Versuch, nun sozusagen auswärts essen zu gehen, um wirtschaftlich überlegene Staaten zu dezimieren, kann nur als Angriff auf unsere ohnehin im Rückgang begriffene Population verstanden werden. Doch mitten in die trübe Septemberstimmung strahlte ein Hoffnungsschimmer: die Geburt eines Pandabärenbabys, das auf natürlichem Wege das Licht des Zoos in Schönbrunn erblickte. Ein Panda verbringt angeblich 55 Prozent seines Tages mit Fressen. Logisch, dass die Fortpflanzung hier etwas zu kurz kommen muss. Die rein vegetarische Kost scheint auch nicht sonderlich libidofördernd zu sein. Der Österreicher, eher als Allesfresser bekannt, weist aber sonst in puncto Arbeitseifer, Sexmüdigkeit und Fresssucht einige interessante Analogien zu dem herzigen Asienbären auf. Wir sind zwar noch weit entfernt davon, in einen Zoo gesperrt zu werden, um dort unter Aufsicht kleine Österreicherinnen und Österreicher in die Welt zu setzen. Es ist allerdings beruhigend, dass es bereits ein Worst-CaseSzenario gibt, das, wenn alle Appelle nichts nutzen, unser Aussterben verhindern wird.

" WORTE DER WOCHE »Sie rennen und kämpfen auch nicht. Wir haben sportlich bei der ›Euro‹ nichts verloren.« Anton Polster, ehemaliger Mittelstürmer, erklärt »Sport Bild« die Spielstärke der österreichischen Fußballnationalmannschaft

»Ein klassischer Ohrenzuklapper.« Der Radiosender Ö1 über die komplizierte Diskussion um das Bundesverfassungsrechtsbereinigungsgesetz, mit dem unter anderem die Bestellung der Volksanwälte geregelt werden soll

»Die Sache kratzt ihn nicht genug.« Ein Sprecher des deutschen Ex-Außenministers Joschka Fischer in »Österreich« über die Rede des Tiroler Landeshauptmanns Herwig Van Staa, der Fischer als »Schwein« bezeichnet haben soll

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Foto: Ernst Schmiederer

DRINNEN

HELMUT DAHMER, Soziologe aus Frankfurt, lebt in Wien

Ein Deutscher in Wien: Der emeritierte Sozialwissenschafter Helmut Dahmer, 70, führt ein arbeitsreiches Publizistendasein.

Bücher lesen. Ich wurde 1974 Universitätsprofessor in Darmstadt. Seit fünf Jahren bin ich emeritiert. Ein Pensionsschock blieb mir bis jetzt erspart. Ich kann endlich mit Genuss das tun, was ich immer wollte: ungestört lesen und schreiben. Zu meinem Leben gehört auch, dass ich alle zwei Wochen nach Deutschland fliege, um meine Mutter zu besuchen. Sie ist 107 Jahre alt, absolut luzide und lebt in ihrer eigenen Wohnung, von mir aus der Ferne betreut. Was das Lesen betrifft, ist die Sache einfach: In meinen Kopf gibt es eine Liste mit vielen noch ungelesenen Texten, so ist für Nachschub gesorgt. Für meine Schreibprojekte habe ich hier in der Wohnung drei Tische und zwei Computer bereitstehen. Zwischen denen pendle ich, von einem Projekt zum anderen. Vordringlich muss ich nun Die unnatürliche Wissenschaft, mein Buch über Freud und die Soziologie, fertig bekommen. Daneben arbeite ich an 700 Seiten meiner gesammelten Aufsätze, die in drei Teilen publiziert werden sollen. Bücher schreiben. Vor kurzem, bei der Lektüre des Spiegels, habe ich realisiert, dass ich inzwischen Zeitzeuge bin: »1967 – wie alles anfing«. Ich habe 50 Jahre lang Tagebuch geführt und möchte zunächst meine Frankfurter Aufzeichnungen aus den Jahren 1967/68 veröffentlichen. Und schließlich möchte ich in nächster Zeit die auf einer Neuübersetzung basierende Ausgabe der Schriften von Leo Trotzki zu Ende bringen. Bisher sind sieben dicke Bände mit Kommentaren erschienen. Drei weitere bereite ich vor. Der universitäre Lehrbetrieb allein wäre für mich tödlich gewesen. An den unbewältigten Folgen der sozialen Öffnung der Hochschulen hat sich ja eine ganze Gelehrtengeneration zerschlissen. Ich konnte mich in dieser Misere mit publizistischen Parallelaktionen wie der Trotzki-Ausgabe oder der Monatszeitschrift Psyche über Wasser halten. Bücherzimmer. Nach Wien kam ich 1988,

der Liebe wegen, und begann, zwischen Frankfurt und Wien hin- und herzupendeln. Seit meiner Emeritierung lebe ich ganz in Wien. Hier konnte ich endlich all meine Bücher aus drei Wohnungen zusammenführen, wohl an die 10 000 Bände. Früher waren Privatbibliotheken viel umfangreicher. Einer meiner Lehrer, Max Horkheimer, besaß 20 000 Bücher. Hier vorn, im größten Raum, habe ich die Philosophie und die Soziologie untergebracht. Im Zimmer dahinter stehen die Nachschlagewerke, dazu der ganze Trotzki, Marx, Engels und Geschichte. Belles Lettres sind hier drüben, deutsche Romantik, Surrealismus sowie jede Menge russische und sowjetische Literatur. AUFGEZEICHNET VON ERNST SCHMIEDERER

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Die Gottlosen

Foto (Ausschnitt): Herbert Pfarrhofer/APA/dpa

Trotzki, Freud und 10 000 Bücher

Früher empörten Freidenker die Kirche, heute fristen sie nur mehr ein Schattendasein VON JOACHIM RIEDL

SPASS AUF KOSTEN DES PAPSTES sei ein göttliches Geschenk, sagt der Kardinal

Wien/Linz atürlich schrecken ihn weder Wind noch Regen, wo er doch seit Jahrzehnten Teufel und Weihwasser trotzt. Gut gelaunt unter seinem großen, roten Regenschirm, mustert der kleine, rundliche Mann das durchnässte Trüppchen, das vergangene Woche am trüben Wiener Karlsplatz zur Antipapst-Demonstration aufmarschiert ist. Seine Umhängetasche ist wie immer prall gefüllt mit Flugzetteln und Aufklärungsschriften. Darin wirbt er für seine antiklerikalen Stadtführungen und prangert das historische Sündenregister der Katholiken an. Wie jeder Freidenker will auch er der Welt die Augen öffnen für die offensichtliche Unvernunft des Glaubens. »Denken statt Beten« steht auf dem Transparent, neben dem er Aufstellung nimmt. »Ich war schon in der Barbara Karlich Show«, erzählt der pensionierte Postbeamte Rudolf Schwarz voll Stolz. Auch in einem Reportagebuch des Schriftstellers Gerhard Roth fand er Erwähnung, als kundiger Führer durch die kirchliche Schreckenswelt im Stephansdom. Der Auftritt im Nachmittagsfernsehen, wo er irgendwo zwischen Satanisten und Anhängern esoterischer Heilsbotschaften als weiteres kurioses Exemplar aus dem Menschenzoo präsentiert wurde, zählte aber zweifellos zu den Höhepunkten seines Freidenkerlebens. Man darf nicht wählerisch sein, wenn man wichtige Einsichten zu verkünden hat. Noch heute sitzt ihm der Schalk in den Augen, berichtet er von diesem Erlebnis. »Ja, glauben Sie denn an gar nichts, Rudolf?«, sei er ungläubig gefragt worden. »Oh ja, hab ich gesagt, wenn mir was runterfällt, klaub ich es auf!« Gelungene Pointe, oder?, sagt sein Mienenspiel. Bloß: Auch diese atheistische Provokation ging ins Leere. Von allen asymmetrischen Konflikten, die diese Erde heimsuchen, dürften in kaum einem anderen die Kräfteverhältnisse ungleicher gewichtet sein als in der Auseinandersetzung der Gottlosen mit den Glaubensträgern in Österreich. Jeder katholische Dissident, ob salbungsvoller Fundamentalist oder ketzerische Priesterin, findet in den Medien Echo. Doch jene, die vor allem die Geschäftsgrundlage der Religion in Abrede stellen – kein höheres Wesen, kein Schöpfergott, nur Evolution –, fristen ein belächeltes Schattendasein. Nicht einmal ihre Leserbriefe werden abgedruckt. »Es ist eben noch immer ein Regelverstoß«, meint Martin Luksian, ein Publizist und Dokumentarfilmer, der gegenwärtig dem Freidenkerbund in Österreich vorsteht. Nicht weil der Traditionsverein obskures Gedankengut vertreten würde. Im Gegenteil: Zwischen Kreationisten und

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Verfechtern der Evolutionslehre werden weltweit heftige Debatten geführt, und das kämpferische Buch des Oxforder Biologen Richard Dawkins Der Gotteswahn (das dieser Tage auf Deutsch erscheint) ist ein weltweiter Bestseller mit Millionenauflage. Im angloamerikanischen Raum findet die digitale Atheisten-Szene der brights mit ihrer »blasphemischen Herausforderung« breiten Zuspruch. Doch in der zunehmend säkularisierten österreichischen Gesellschaft werden sogar organisierte Religionsgegner als Sektierer empfunden, eine Art Antikirche, der Glaubensskeptiker ähnlich gleichgültig gegenüberstehen wie dem übrigen Kirchenwesen auch. Der Kirchenkampf der Ersten Republik, als der Freidenkerbund noch als Vorfeldorganistion der Sozialdemokraten diente und bis zu 60 000 Mitglieder zählte, ist längst entschieden – zugunsten der Erlebnisgesellschaft, die auf Äquidistanz zu Gott und Gottlosigkeit gegangen ist. Damals war die Freidenkerbewegung noch ein Stachel im Fleisch der katholischen Institutionen und wurde auch prompt nach Errichtung der klerikalen Diktatur verboten. Heute erklärt der Wiener Kardinal Christoph Schönborn nachsichtig: »Man muss die Möglichkeit eines bewussten Atheismus akzeptieren.« Die Freiheit der Gottesleugnung sei ebenfalls ein göttliches Geschenk.

Atheisten, die für Gottes Lohn im Verborgenen wirken Während der Papst am ersten Tag seines Österreichbesuches Nachmittagsruhe hält, sind es nicht einmal 150 Gotteskinder, die diese himmlische Gabe annehmen wollen. Ein Spaßpapst ist mit dabei, einige Jusos, Leute aus der linken Diaspora, auch das Freidenker-Transparent saugt den Regen auf. David und seine Freunde, die sich »Pastafarianer« nennen und in ihrer Ulkreligion ein »fliegendes Spaghetti-Monster« verehren, hüpfen, als Piraten verkleidet, herum und verteilen auf dem Weg zum Stephansdom Präservative an verdutzte Touristen aus Fernost. Ein harmloser, lustiger Demozirkus zieht durch die Innenstadt, aus dem Lautsprecherwagen wummern freche Lieder: eine Love Parade en miniature, bei der die Polizeieskorte deutlich überwiegt. »Die wissen nicht einmal, wie man anständig demonstriert«, meint ein Offizier des Einsatzkommandos verächtlich. »Es wird noch tausend Jahre dauern, bis die katholische Kirche wieder verschwunden ist«, prophezeit Freidenkerchef Luksian bei der Abschlusskundgebung. Wie ihre Konkurrenz haben offensichtlich auch Atheisten in langen Zeiträumen zu denken gelernt.

Es ist der Abend vor dem Großereignis Papstbesuch, und die halbe Republik steht Kopf. Wie an jedem ersten Donnerstag des Monats trifft sich im Linzer Gasthof Zur Linde die oberösterreichische Freidenkersektion zu ihrem Vereinsabend. In einer Ecke der Gaststube, so ist das in kleinbürgerlichen Wirtshäusern üblich, steht ein Kruzifix. Die Kellnerin empfängt die treue Kundschaft herzlich: »Grüß Gott! Was wollt’s?« Auch der Atheisten-Stammtisch entkommt Ihm nicht. Die regionale Freidenker-Versammlung ist ziemlich überschaubar. Ein Physiker, der an der Linzer Uni Internetstudiengänge mitentwickelt hatte, sitzt am Tisch, ein Gabelstapelfahrer, der aus einem Kaff im Nationalpark Kalkalpen angereist ist, der Vereinskassier, ein Pensionist aus Steyr, ein Bummelstudent, der in allen Kirchenaustrittsfragen Rat weiß, und ein ehemaliger Jungscharführer, der über die Beschäftigung mit der Befreiungstheologie zur Gottlosigkeit fand. Sie erzählen einander antiklerikale Anekdoten oder tüfteln über dem kniffeligen Problem, wie künftig ihre Internetseiten besser lesbar werden könnten. »Wir sind erst im Aufbau begriffen«, entschuldigt sich Karl Linek, ein 43-jähriger Chemiker, der an einer HTL unterrichtet, den desperaten Eindruck. Das Geld ist knapp, die vorhandenen Ressourcen sind bescheiden. »Wir machen das ja alles für Gottes Lohn«, sagt Linek plötzlich. Dann lacht er. Erst vor vier Monaten hat er sich mit seinen Linzer Gesinnungsfreunden von dem Wiener Stammverein abgespalten, und nun streiten beide Gruppierungen über Namensrechte. Demnächst soll ein Linzer Bezirksgericht entscheiden. In der Zwischenzeit wollen die oberösterreichischen Freidenker aber bislang ungeahnte Aktivitäten entfalten. Sie planen, Informationsbroschüren zu drucken, auch eine Aktion, bei der vor Schulen Anleitungen zur Abmeldung vom Religionsunterricht verteilt werden sollen, steht auf der Liste, sogar für ein Volksbegehren zur Trennung von Kirche und Staat soll geworben werden. Zuerst müssten sie allerdings ihre Organisation auf Vordermann bringen. Den Wienern wirft der Renegat vor allem vor, dass sie jahrzehntelang in beschaulicher Selbstgenügsamkeit verbracht hätten, eine selbst ernannte Bildungsorganisation, die sich im Umkreis der Volkshochschulen am liebsten mit sich allein beschäftigt habe und mit dem klerikalen Unrecht, das ihr in der Vergangenheit angetan worden sei. »Keine Aktivitäten, alles ist immer im Sand verlaufen«, empört sich Linek. Irgendwann platzte dem Arbeitersohn

aus Altaussee, dem die kommunistischen Eltern die Glaubensferne in die Wiege gelegt hatten (»Wir waren die Marsmenschen im Dorf«), der Kragen, und er kehrte dem Altherrenverein den Rücken, in dem stets sozialdemokratische Beschwichtiger jede Konfrontation mit dem früheren Erzfeind verhindert hätten. Jetzt will Linek mit neuem Elan die »wissenschaftliche Zerstörung von Illusionen« vorantreiben, die gewaltigen staatlichen Transferleistungen an die Kirchen – eine Milliarde Euro jährlich hat er errechnet – attackieren und gemeinsam mit möglichst vielen neuen Mitstreitern zu einem Propagandafeldzug aufbrechen. »Jeder, der aus der Kirche austritt, besitzt ein revolutionäres Potenzial«, meint der Antiprophet aus dem Salzkammergut. Theoretisch müsste bei rund 40 000 Menschen, die jährlich den Schoß der katholischen Kirche verlassen, rasch eine Massenbewegung entstehen.

Warum glauben acht Prozent der Katholiken, dass es Ufos gibt? Religionssoziologen ernüchtern hingegen solche atheistischen Wunschträume. Kirchenabtrünnige würden sich nicht automatisch zu materialistischen Welterklärern wandeln, sondern vielmehr in einem Selbstbedienungsladen für Orientierungshilfen, die irgendwo zwischen Himmel und Erde beheimatet sind, shoppen gehen. In einem Land, in dem (laut einer Umfrage der Presse) selbst 47 Prozent der Katholiken nicht glauben, »dass es Gott gibt«, aber immerhin acht Prozent die Existenz von Ufos für »glaubhaft« halten, muss die Bandbreite pseudoreligiöser Privatbekenntnisse verwirrend vielfältig sein. Da gebe es die »Naschkatzen, die sich aus Neugierde alles anschauen«, meinte der theologische Beobachter Adolf Holl einmal, und dann »die bedrängten Seelen, die sich in einer akuten Lebenskrise befinden. Sie alle picken sich punktuell heraus, was sie zu benötigen meinen.« Ob nun religiöse Vorstellungen »Viren« sind, wie Richard Dawkins, der neue Papst des Atheismus, predigt, oder »gesunde Lebenslügen, unvermeidliche, lebenslange Illusionen«, wie der Erkenntnisphilosoph Fritz Mauthner in seiner vierbändigen Geschichte des Atheismus behauptete, manche Atheisten machen sich lieber einen einfachen Reim darauf. Der Wiener Freidenker Rudolf Schwarz notiert sich seine Verse gern in einen blauen Taschenkalender der Erste Bank. Am 12. August hat er beispielsweise zum damals noch bevorstehenden Papstbesuch gedichtet: »Der Vatikan ist doch ein Schwindel / Die Päpste sind das größte G’sindel.«

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DIE ZEIT

Nr. 38 13. September 2007

MOMENT

WOCHENSCHAU »Ich traute es ihnen nicht zu« Der siebenfache Mord im China-Restaurant von Sittensen glich einer Hinrichtung. In dieser Woche begann der Prozess VON JAN PFAFF

24-STUNDEN-SUPERMARKT

STRASSENMUSIK

ANITA RODDICK

Konsum ohne Grenzen

In London dürfen nur die Besten spielen

Die Gründerin des Body Shop ist tot

Eine der ersten Internetbanken trug den Namen Bank24. Die Zahl im Namen stand für die 24 Stunden des Tages und versprach Verfügbarkeit jederzeit. Der Bankname baute auf die Sehnsucht des Menschen, nie mehr vor verschlossenen Türen zu stehen. Längst heißt die Internetbank anders, weil Geldinstitute im Netz immer geöffnet sind. In der Realität ist die Furcht vor dem Ladenschluss geblieben, auch wenn er immer weiter in den Abend wanderte. Man hat sich daran gewöhnt, dass im Internet die Läden nie geschlossen sind. Endlich hat ein Supermarkt in Berlin tatsächlich 24 Stunden geöffnet – die Realität passt sich dem Virtuellen an. Wer den 24-Stunden-Supermarkt besucht und ob des geringen nächtlichen Andrangs darauf schließt, das Unterfangen sei ökonomischer Unfug, der irrt. Die Idee eines 24-StundenSupermarktes besteht nicht vor allem darin, nachts, wenn andere Märkte geschlossen sind, mehr einzunehmen, sondern dem Einkäufer, der gewöhnlich um 18 Uhr in den Laden kommt, zu versprechen: Ich bin rund um die Uhr für dich da. Und damit: Du wirst nie wieder Stress haben. Dieses Versprechen werden 24-Stunden-Supermärkte allerdings nicht einhalten können. Der Stress wird schon bald ein anderer sein. Denn die Auskunft im Büro, man müsse nach Hause, um noch einen schnellen Einkauf zu erledigen, ist dann unglaubwürdig geworden. MATTHIAS STOLZ

Täglich beschallen Dutzende von Straßenmusikern Hannovers Innenstadt mit Gitarren, Panflöten und Saxofonen. Weil die Qualität des Vortrags mitunter zweifelhaft anmutet, fordert der CDUStadtrat Dieter Küßner nun den Eignungstest für Straßenmusiker durch eine fachkundige Jury. In London ist dieser Vorschlag schon Realität. Neben den überall gängigen Verboten für Verstärker und Holzblasinstrumente gelten in anderen Großstädten allerdings noch andere Regeln:

Sie hatte sich viel vorgenommen für ihren Lebensabend: Die Welthandelsorganisation wollte sie zerschlagen, die Rüstungsindustrie zum Teufel jagen. Die britische Geschäftsfrau Anita Roddick war eine Aktivistin mit Millionen in der Tasche. Ihrer Kosmetikkette The Body Shop, die sie 1976 gegründet hatte, verdankte sie ihren Reichtum. Die Tochter italienischer Einwanderer warb bei ihren Kunden mit dem Gefühl, nicht nur sich selbst, sondern auch der Umwelt beim Kauf ihrer Produkte Gutes zu tun. Ihrem Grundsatz »Firmen, die nicht moralisch, sondern nur aus Profitgier handeln, schaden ihrem Geschäft« ist die Ökopionierin immer treu geblieben. Ihre Idee, Produkte mit natürlichen Inhaltsstoffen und ohne Tierversuche herzustellen, wurde vielfach kopiert. Die Kosmetikkette Body Shop unterhält mehr als 2000 Läden in 54 Ländern. Auf die Frage der Queen, die sich bei der Verleihung des Ehrentitels Dame of the British Empire besorgt nach ihren Energiereserven erkundigte, erwiderte Roddick: »Ich brenne lieber aus als dass ich zu Tode roste.« Im vergangenen Jahr hatte sie ihre Firmenanteile dann an den französischen Großkonzern L’Oréal verkauft. Sie habe vor, verteidigte Roddick ihre Entscheidung, mit dem Geld Kampagnen gegen Gewalt, Kinderarbeit und Menschenrechtsverletzungen zu unterstützen. Am Montag starb die 64-Jährige an den Folgen einer Hirnblutung.

München: Hier sollte man nicht zu gut spielen, denn große Zuschauermengen führen zum Abbruch des Auftritts. Wien: Straßenmusiker müssen 25 Meter Respektsabstand zu Kirchen halten. Von Beerdigungen haben sie sich ebenso fernzuhalten. London: Um in der U-Bahn spielen zu

dürfen, müssen Musiker ein jährliches Auswahlverfahren durchlaufen. Nur 259 Bewerber erhalten die Erlaubnis. New York: Musizieren unter freiem Him-

mel ist in den USA ein Grundrecht. Die besten Plätze in der New Yorker U-Bahn sind allerdings den knapp 200 Teilnehmern des Music-Under-New-YorkProgramms reserviert. Singapur: Das öffentliche Musizieren

ist erst seit 1994 wieder erlaubt, allerdings nicht für Ausländer. Kuwait: In Kuwait gilt Straßen-

musik als Bettelei und wird mit Gefängnis bestraft.

DIE FRAU in der Mitte ist Star und Anti-Star zugleich: Kate McCann, 39, die Mutter der seit Mai vermissten Madeleine. Hunderte von Einwohnern und Touristen säumten in der vergangenen Woche die Straße im portugiesischen Portimao, an der sich die Büros der Kriminalpolizei befinden. McCann sieht noch aus, wie wir sie aus ihrer weltweiten Medienkampagne kennen: tapfer und entschlossen, alles zu tun, um ihre Tochter zu finden. Mancher wunderte sich über das rechte Verhältnis von öffentlicher Darstellung und privater Trauer. Jetzt ändert sich Kate McCanns Rolle in den Augen der Öffentlichkeit, ohne dass sie noch Kontrolle darüber hätte: Sie und ihr Mann Gerry werden offiziell verdächtigt, in den Tod Madeleines verstrickt zu sein und die Leiche verborgen zu haben. Nun verließen sie Portugal. Und wir, die Zuschauer, suchen in Kate McCanns Gesicht nach dem anderen Film, der womöglich in ihrem Kopf abläuft. SG

FOTO: MIGUEL A. MORENATTI/AP

KARIN CEBALLOS BETANCUR

Restaurant schloss und wie viele Personen sich dort dann noch aufhielten. Vor Gericht geben sich die Angeklagten schweigsam. Als sie in Handschellen einzeln hereingeführt werden, schauen sie teilnahmslos aneinander vorbei. Die Anwälte überhäufen das Gericht zu Beginn mit Anträgen. Die Übersetzer beherrschten den nordvietnamesischen Dialekt eines Angeklagten nicht und seien nicht neutral, weil sie bereits während der Ermittlungen gedolmetscht hätten. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. In der Pause erzählt Karl Ermschl, er habe die Brüder D. in Bremen als ruhige, hart arbeitende Menschen kennengelernt,

DAS RESTAURANT Lin Yue im Februar. Nur das Kind der Wirtsleute überlebte

die gerne kochten und in der Gastronomie arbeiteten. Während einer als Verdächtiger bereits im Februar verhaftet worden war, sei der andere im April noch zu seiner Grillparty gekommen. »Er war vielleicht etwas nachdenklicher als sonst, aber ansonsten unverändert.« Auch die zwei anderen Brüder sollen seit Jahren eher unauffällig in Bremerhaven und Bremen gelebt und sich vor allem in Kreisen vietnamesischer Einwanderer bewegt haben. Wegen Diebstahls und kleinerer Drogendelikte war einer der Polizei bereits bekannt. Die beiden haben Teilgeständnisse abgelegt. Einer sei als Fahrer beteiligt gewesen, der andere sei mit in das Haus gegangen und habe die Opfer gefesselt, von den Schüssen will er aber nichts mitbekommen haben. Die vier Angeklagten sollen sich regelmäßig in einer Spielhalle in Bremen getroffen haben, einem beliebten vietnamesischen Treffpunkt. Irgendwann beim Zocken muss der Plan entstanden sein, ein China-Restaurant außerhalb der Stadt zu überfallen. Die Besitzer des Lin Yue galten unter den asiatischen Einwanderern als reich, sie liebten große Autos und teure Kleidung. Offenbar hofften die Täter, eine große Menge Bargeld zu erbeuten. Circa 8000 Euro, zwei Notebooks und 13 Handys wurden den Mordopfern geraubt. Die Anträge der Verteidiger, die Übersetzer auszutauschen, lehnt das Gericht ab. Kurz nach Verlesung der Anklageschrift gerät die Verhandlung am Dienstag aber erneut ins Stocken. Die Strafkammer sei nicht zuständig, argumentiert ein Verteidiger. Der Prozess könnte wegen der zahlreichen Anträge und der undurchsichtigen Beweislage bis weit ins nächste Jahr andauern. Und die Menschen in Sittensen werden wohl noch lange auf Antworten warten müssen.

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POLITIK

IN DER ZEIT

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3 4

5

6 7

Terror Außenminister Frank-

Walter Steinmeier über Irak und deutsche Verantwortung in Afghanistan Pakistan Was tun gegen die Kaderschmiede des Terrors? Deutschland Warum junge Männer zum Islam konvertieren Rechtspolitik Neue Vorschläge zur Terrorbekämpfung Petraeus-Bericht Washington streitet über den Truppenabzug aus dem Irak Afghanistan Die Lage der Frauen im Land hat sich verbessert a

Grüne Jürgen Trittin, der

Krieg und die grüne Macht 8

Was ist mit den Parteien los? Linke Die Linke quält sich selbst SPD Agenda 2010. Die SPD

traut sich nicht, stolz zu sein Schwarz-Gelb FDP und CDU testen einander auf Koalitionstauglichkeit 10 CSU Der Kampf um den Parteivorsitz und um die Tradition

11 Stasi-Unterlagen Die Birthler-

Finanzkrise Wie schlimm wird

Behörde ruiniert sich selbst 12 NPD Wie man Nazis zähmt 13 Polen Die Kaczyńskis sind nicht an allem Schuld 14 Prozess Der Mörder des Jungen Mitja wird nie wieder frei kommen

es?

Institute werden gebraucht

WISSEN

flotten bedrohen den Thunfischbestand

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WIRTSCHAFT

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Wärmedämmung Streit zwischen Mietern und Vermietern ist programmiert Gebäude Neue Vorschriften sind geplant Klimaschutz Gelingen globale Verpflichtungen? Verkehr Der Wissenschaftler H. Knoflacher attackiert das Auto Emissionen Der Weg zu sparsameren Autos Mindestlohn Kampf um den Briefmarkt Lokalfernsehen Erfolg mit Großstadt-Sendern USA Greenspan, der Ex-Notenbankier veröffentlicht Memoiren Volkswagen Porsche-Chef Wiedeking stichelt Marketing Hilferuf eines Wissenschaflers Polen Die Wirtschaft brummt Korruption Hexenjagd in Polen?

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15 LÄNDERSPIEGEL Nordrhein-Westfalen Der Schulstreit der 70er flammt wieder auf Baden-Württemberg Ein Linker darf Lehrer werden

ÖSTERREICH

24 25 26 27 28

15 Volkspartei Im Dickicht der

Perspektiven

VON WOLFGANG LUEF

Donnerstalk

WOLFGANG LUEF

über Kinderarmut 16 Atheisten Im Schatten religiöser Beliebigkeit VON JOACHIM RIEDL

29 30 32

DOSSIER 17 Mittelmeer Industrielle Fang-

23 Rundfunk Ein unbefriedigendes

Urteil aus Karlsruhe

33

Anlagebetrüger Die Justiz ist

schwach, die Strafen sind gering

38 Banken Die öffentlichen

39 Epilepsie Die psychischen Folgen

können häufig schlimmer sein als die Krankheit selbst 41 Technik Die Forschungsstation Neumayer III wird im November in die Antarktis verschifft 42 Mathematik Günter Ziegler organisiert das Mathematikjahr 2008 44

a

Afrika In Malawi kämpfen Sozialarbeiter gegen Aids

FEUILLETON 45 Die Göttlichen Maria Callas,

Inbegriff der Diva 46 Was wurde aus den sterblichen

Überresten der Callas? VON HELMUT KRAUSSER

47 Cecilia Bartoli hat Maria

Malibran wiederentdeckt 48 Pavarotti ist tot. Ein Nachruf a

Pavarotti wird ewig leben. Ein Begräbnisbesuch 50 Nachruf Zum Tod des Jazzmusikers Joe Zawinul

51 Kino Filmfestspiele von Venedig Die »Berlinka« Ein Plädoyer für

mehr Verständnis im Streit zwischen Deutschen und Polen 52 Pop Brighton, Zentrum des englischen Musikbusiness 54 Kunst Stan Douglas in der Stuttgarter Kunstgalerie

LITERATUR 55 Novelle Botho Strauß

Die Unbeholfenen« 56 Roman Michael Lentz »Pazifik Exil« Homosexualität Robert Aldrich (Hrsg.) »Gleich und anders« 57 Mutter Teresa »Komm, sei mein Licht« 60 Kaleidoskop

REISEN 61 Großbritannien Mit dem Trom-

peter Mark 0’Keefe durch Glasgow 62 Magnet 63 Grönland Für Meereskajakfahrer

ist die Ostküste das Größte 65 Vielflieger Ein Gymnasiast sammelt Flüge

66 Kreuzfahrt Kiel, Deutschlands

Hafen Nummer eins

CHANCEN 69 Büro Der Computer verdrängt

liebgewonnene Dinge vom Schreibtisch 72 Beruf Zu wenig Lob macht Arbeitnehmer krank

ZEITLÄUFTE 86 Kunst In diesem Herbst feiert

die Kunstwelt mit vielen Ausstellungen die Malerin Paula Modersohn-Becker, die vor 100 Jahren gestorben ist 53 Leserbriefe 54 Impressum

ZEITMAGAZIN LEBEN Friedhof der Flugzeuge Besuch

auf einem letzten Landeplatz in der kalifornischen Wüste a Männer Martenstein über Männer in der Sexindustrie a Ich habe einen Traum Georges Moustaki, Meister des Chansons Die so a gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im Premiumbereich von ZEIT.de unter www.zeit.de/audio

Fotos [M] v.l.n.r.: Gero Breloer/dpa - Report; Schneider-Press/NZ; Joerg Sarbach/AP Photo

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in schmaler, blasser Mann steht vor dem Schwurgerichtssaal des Landgerichts Stade. Der 40-jährige Karl Ermschl schiebt seine Schildmütze hin und her, er beobachtet den Prozess, weil er mit zwei der angeklagten Vietnamesen, den Brüdern D., befreundet gewesen sei, wie er sagt. Einer von ihnen habe zwei Straßen weiter gewohnt, man habe zusammen Kaffee getrunken, sei ein paarmal Billard spielen und in der Disco tanzen gewesen. Aus der Zeitung hat er erfahren, dass die Brüder im niedersächsischen Sittensen sieben Menschen umgebracht haben sollen. »Ich kann es mir nicht erklären, ich hätte ihnen das niemals zugetraut«, sagt er. Nun sitzen die Brüder mit drei anderen Männern auf der Anklagebank. Auch die Menschen in der 5500 Einwohner zählenden Gemeinde Sittensen erhoffen sich von dem Prozess Antworten, die das Unfassbare erklären. »Es kommt jetzt alles erneut hoch«, sagt Bürgermeister Stefan Tiemann. Am Dienstag begann nach mehreren Verzögerungen das Verfahren zu einem der blutigsten Verbrechen der letzten Jahre. Sieben Menschen wurden im China-Restaurant Lin Yue am 4. Februar ermordet: das Wirtsehepaar sowie fünf ihrer Angestellten. Nur die zweijährige Tochter der Besitzer ließen die Täter am Leben, offenbar sahen sie in dem Kind keine Gefahr. Die Morde erinnerten in ihrer Ausführung und Kaltblütigkeit an Hinrichtungen. Weil die Opfer alle aus Asien stammten, spekulierten die Medien unmittelbar nach der Tat, ob es sich um einen Racheakt der chinesischen Mafia oder eine Fehde vietnamesischer Zigarettenschmuggler handelte. »Ganz ausschließen können wir einen Hintergrund der Organisierten Kriminalität nicht«, sagt Burkhard Vonnahme, Sprecher der zuständigen Staatsanwaltschaft Stade. »Die Spuren deuten aber alle in eine andere Richtung.« Nach Einschätzung der Staatsanwälte war ein Raubüberfall geplant, der eskalierte. Gemeinschaftlicher siebenfacher Mord, um eine andere Straftat zu verdecken, lautet die Anklage. Folgendes hat sich demnach abgespielt: Die Täter kamen, nachdem die letzten Gäste das Restaurant gegen elf Uhr verlassen hatten. Einer wartete im Wagen, während drei Männer das Gebäude betraten, sie hatten eine Pistole mit Schalldämpfer dabei. Mit Kabelbindern fesselten sie fünf ihrer Opfer die Hände auf dem Rücken – der Frau des Restaurantbesitzers, zwei Kellnerinnen und zwei Hilfsköchen. Dann begannen sie, Restaurant und angrenzende Wohnungen nach Geld und Wertsachen zu durchsuchen. Doch etwas muss schiefgegangen sein. Offenbar bemerkten sie, dass der Koch sich in der Küche versteckt hatte und versuchte zu fliehen. Die Polizei fand ihn und den Restaurantbesitzer später, von mehreren Kugeln getötet, im Treppenhaus. Um Zeugen zu beseitigen, wurden die gefesselten Opfer anschließend mit Kopfschüssen regelrecht hingerichtet. Auf der Anklagebank des Schwurgerichtssaals sitzen fünf Vietnamesen, zwischen 30 und 42 Jahre alt, zwei Brüderpaare und ein ehemaliger Mitarbeiter des Lin Yue, der Informationen für den Überfall geliefert haben soll. Er kannte die Räume, wusste, wann das

Nr.38 13. September 2007

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IN DIESEM HEFT

Titelfotos: Jim Rakete Fotos Inhalt: Marc Trautmann, Jim Rakete, Julia Knop, Katzundgoldt

Das fängt ja gut an! Liebe Leserin, lieber Leser, als ich die Bilder sah vom Flugzeugfriedhof in der Mojave-Wüste, die wir in dieser Ausgabe zeigen, dachte ich: Wie schön sie sind, und wie friedlich sie in der Sonne liegen, die Jumbos, die uns um die Welt geflogen haben. Dann fiel mir beim Betrachten der Fotos irgendwann all das schlechte Essen ein, das uns in Flugzeugen serviert wird, Fast Food, Pizza, Pampe mit Sauce. Ich wollte mich nun darüber beklagen, dass man zwar in Zeitungen oft über Fluglinien liest, die herrliche Menüs servieren – nur leider immer selbst den falschen Flug erwischt. Da ist man für Warnungen des Personals dankbar. Als ich kürzlich einen Cappuccino bestellen wollte, der auf der Karte der Fluglinie angeboten wurde, beugte sich die Stewardess vor und flüsterte: „Den kann ich Ihnen hier nicht empfehlen.“ Ich entschied mich für Tee und ein Croissant, woraufhin sie sagte: „Croissants haben wir nicht. Wollen Sie Chips?“ Das alles wollte ich beschreiben und noch viel mehr – bis ich in der vergangenen Woche in der Berliner Staatsoper war, zur Uraufführung der Oper Phaedra von Hans Werner Henze. Ein Beitrag aus unserer Reihe „Atelierbesuch“ hatte mich neugierig gemacht. Kollege Georg Diez hatte im ZEITmagazin vom 16. August den Künstler Olafur Eliasson besucht, einen Magier des Lichts, der in der Londoner Tate Modern zwei Millionen Besucher begeistert hatte. Diez hatte erwähnt, dass Eliasson zum ersten Mal das Bühnenbild einer Oper gestaltet habe – für Henzes Phaedra. Und was für großartige Effekte hat er entworfen! Mit einem riesigen Bühnenspiegel wirft Eliasson die Blicke des Publikums auf sich selbst zurück und zeigt: Es geht nicht nur um die Künstler, es geht auch um ihr Publikum. Olafur Eliasson sagt, sein Bühnenexperiment finde „im Betrachter“ statt. Er bezieht dabei alle mit ein, das Orchester sitzt im Parkett, der Dirigent kann sich beim Dirigieren sehen. Ich kann jedem Berlin-Besucher nur empfehlen, an diesem Experiment teilzunehmen. Der Cappuccino in der Pause nach dem ersten Akt war übrigens ziemlich gut. HERZLICH, IHR CHRISTOPH AMEND REDAKTIONSLEITER

PS: Sie erreichen mich unter [email protected] oder: ZEITmagazin LEBEN, Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin

38 DER FRIEDHOF DER FLUGZEUGE Ein Besuch auf einem letzten Landeplatz in der kalifornischen Wüste, dem Mojave Airport

ANNE WILL

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kurz vor dem Start ihrer neuen Talkshow. Ein Porträt von Christoph Amend

GLOBALE FAMILIEN Im zweiten Teil unserer Serie: Eine Familie in Hildesheim und in Izmir, die durch Abschiebung zerrissen wurde

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KATZ & GOLDT

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Die Verstehst-du-was-ich-meine-Frau und ihr leicht sarkastischer Lover. Ein Dialog

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HARALD MARTENSTEIN

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DEUTSCHLANDKARTE

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DAS PERFEKTE PRODUKT

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KALLE SIEHT FERN, WORTE DER WOCHE

… über die armen Männer in der Sexindustrie Wo amtieren Bürgermeisterinnen? Warum Männer Hüte brauchen

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ERINNERN SIE SICH?

Alfred Grosser fährt mit Walter Scheel über rote Ampeln

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ICH HABE EINEN TRAUM

Georges Moustaki, Meister des französischen Chansons

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ATELIERBESUCH

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KUNSTMARKT

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IM GRÜNEN BEREICH

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AUTOTEST

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WOLFRAM SIEBECK

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LASSEN SIE UNS SPIELEN

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IMPRESSUM

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AUF EINE ZIGARETTE MIT HELMUT SCHMIDT

Bei Jeff Koons in New York Wieso erzeugen Galerien Schwellenangst? Susanne Wiborg schöpft Hoffnung für den Herbst Platzprobleme im Opel GT Zu Besuch in Tirol Scrabble, Schach und Co. Staatsbankette und andere offizielle Essen

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HARALD

MARTENSTEIN

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ch traf eine Klassenkameradin. Klassenkameradin, nennt man das heute überhaupt noch so? Jedenfalls, an old gal from high school und ich gingen die Leute aus unserer ehemaligen Klasse durch. „Einer von uns“, sagte sie, „ein Einziger, ist richtig reich geworden.“ Es handele sich um Heinz, der allerdings schon vor dem Abitur abgegangen war. Heinz ist keine Leuchte gewesen, aber er bemühte sich. Außerdem war Heinz schon mit 14 ein homme à femmes, allerdings ein relativ glückloser. Einmal hat er sich vor einer Klassenkameradin entblößt. Auch da bemühte er sich. Die Freundin sagte: „Heinz ist Pornoproduzent geworden, einer von den ganz großen. Sag bloß, du hast noch nicht davon gehört.“ Soweit ich weiß, sind die meisten Chefsessel in der Sexindustrie von Frauen besetzt, ständig sieht man in Talkshows Pornoproduzentinnen oder Erotikladenkettenbesitzerinnen. Dies scheint der einzige Wirtschaftszweig in Deutschland zu sein, wo Frauen in den Vorständen überrepräsentiert sind. Ich sagte: „Dass unser alter Heinz einen typischen Frauenberuf ergriffen hat, wundert mich nicht.“ Zur Sexindustrie habe ich, wie zu den meisten Themen, eine Laisser-faire-Haltung. Der Hauptvorwurf lautet ja, dass die Menschen auf das Sexuelle reduziert werden und dass körperliche Dinge eine viel zu große Rolle spielen. Den Vorwurf begreife ich nicht. Soweit ich weiß, ist das bei der Sexualität doch generell der Fall. Wer nicht will, dass das Körperliche eine große Rolle spielt, sollte von der Sexualität generell die Finger lassen. Das mit dem Reduzieren auf einen einzigen Aspekt wird, nach meiner Erfahrung, leider in den meisten Industriezweigen gemacht, als Autor zum Beispiel werde ich von den

Redakteuren und Lesern ständig auf meine Texte reduziert, obwohl ich als Persönlichkeit weiß Gott facettenreicher bin als dieses Zeug, das ich schreibe. Was an der Sexindustrie aber nie kritisiert wird, ist die Tatsache, dass männliche Darsteller deutlich schlechter bezahlt werden als die Darstellerinnen, das Menschenrecht „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gilt dort nicht. Ich weiß, dass es in anderen Branchen umgekehrt läuft, beim Boxen oder beim Fußball verdienen Frauen im Durchschnitt weniger. Die Sexindustrie ist das Simbabwe der Wirtschaft. Normalerweise werden schwarze Menschen von weißen Menschen diskriminiert. In Simbabwe aber hat der Diktator die weißen Farmer enteignet, weil sie weiß sind. Das Diskriminieren ist andersherum aber auch nicht richtig, oder? Bekanntermaßen sagen ehemalige Sexfilmdarsteller immer: „Ich war jung, ich brauchte das Geld.“ Das begreife ich ebenfalls nicht. Junge Menschen kommen doch durchweg mit weniger Geld aus als ältere. Wir Älteren hätten viel bessere Gründe, in der Sexindustrie zu arbeiten, wir brauchen das Geld tatsächlich, vor allem wenn die Kinder studieren oder arbeitslos sind. Mir ist aufgefallen, dass ältere Menschen praktisch nur in der Zeitschrift Playboy Geld verdienen können, indem sie sich entkleidet zeigen, der bekannteste Fall ist Uschi Glas. Auch da ist es aber wieder so, dass nur die Frauen das Geld bekommen. Um für ihre Talente angemessen entlohnt zu werden, mussten Heiner Lauterbach, Sascha Hehn und Konstantin Wecker jedenfalls nach vielversprechenden Anfängen die Sexindustrie verlassen und anderswo ihr Glück suchen. Insofern bin ich froh, dass ich, nach kurzem Zögern, zum Ausleben meines Exhibitionismus die ZEIT gewählt habe. Zu hören unter www.zeit.de/audio

Illustration: Skizzomat

ÜBER DIE ARMEN MÄNNER IN DER SEXINDUSTRIE

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Redaktion: Matthias Stolz Infografik: Ralph Stegmaier/caepsele (Vielen Dank an Jörg Binder) Quelle: eigene Recherche

Mehr als 270 Oberbürgermeistern stehen 35 Oberbürgermeisterinnen gegenüber, nur jedes neunte Amt wird also von einer Frau besetzt. Zum Vergleich: Im Bundestag liegt die Frauenquote bei rund einem Drittel, im Kabinett Merkel ist sie noch höher

Die Grünen und die Linkspartei, die sich in ihrem Programm für Frauen besonders starkmachen, stellen keine Oberbürgermeisterin – aber sieben Oberbürgermeister. Die Union hat eine leicht bessere Frauenquote als die SPD – und sogar mehr Oberbürgermeisterinnen, die einen Doppelnamen tragen

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WELCHE STÄDTE HABEN EINE OBERBÜRGERMEISTERIN?

Oberbürgermeister Oberbürgermeisterin SPD (114 OB, davon 11,4 % Frauen) CDU/CSU (128 OB, 13,3 % Frauen) FDP (7 OB, 28,6 % Frauen) Die Grünen (4 OB, keine Frauen) Linkspartei (3 OB, keine Frauen) parteilos oder freie Wählergemeinschaften (52 OB, 5,8 % Frauen)

In Bayern gibt es besonders wenige Oberbürgermeisterinnen (8,5 Prozent), in Nordrhein-Westfalen (17,8 Prozent) und Sachsen (15 Prozent) überdurchschnittlich viele. In BadenWürttemberg und in Sachsen gibt es mehr Ämter, hier wählen schon Städte ab 20 000 Einwohner einen OB

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WARUM M NNER

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BRAUCHEN stattlicher und eleganter, lässt die Kopfform stimmiger erscheinen und lenkt die Aufmerksamkeit des Gegenübers direkt ins Gesicht. Hat man einmal einen Tag, an dem das Antlitz unvorteilhaft aussieht, zieht man ihn einfach herunter und wirkt nicht hässlich, sondern geheimnisvoll. Das alles wussten schon unsere Vorväter – deshalb trugen sie jeden Tag Hut. Wie nur ist er uns abhandengekommen? Die sechziger Jahre sind daran schuld. Der Hut stand für alles Gestrige, von dem man sich absetzen wollte. Außerdem war es die Zeit der wallenden Mähnen – die wollte die Protestgeneration sich ungern plätten lassen. Alles das ist verständlich. Aber auch vorbei. Längst wachsen Stirnglatzen auf den Köpfen der Mähnenträger von damals. Warum werden die lichten Stellen nicht gnädig mit einem bowler hat bedeckt? Gerd Müller-Thomkins vom Deutschen Modeinstitut macht immerhin Hoffnung. Der Hut komme wieder, aber „von unten“. Nicht von den Laufstegen herunter würden die Trends gepredigt, sondern von der Sub- und Popkultur. Es müssten also erst einmal genügend Stars Hüte tragen, bis das Accessoire auch wieder zu den Konsumenten finde. Das geschieht schon vereinzelt. Zum Beispiel wird Pete Doherty nie ohne Hut gesehen und der Schauspieler Ben Becker auch nicht. Denen steht ihr Hut großartig. Fragt sich nur, ob sie die besten Werbeträger sind. Wer will schon, nur weil er mit Hut unterwegs ist, dauernd von Drogendealern angesprochen werden? Und das bei Regen! TILLMANN PRÜFER

Im Uhrzeigersinn von oben links: MICHALSKY Bowler, kariert, 1380 Euro FIONA BENNET Bowler, schwarz, 300 Euro JOHN RICHMOND Bowler, weiß, 864 Euro MICHALSKY Bowler, schwarzes Leder, 1950 Euro NEIL BARRET Bowler, schwarz, mit Reißverschluss, 130 Euro FIONA BENNET Manegold, braun-beige, 360 Euro

Foto: Johann Cohrs

Zu Anfang des Sommers warnten die Zeitungen, es könnte der heißeste seit Jahrhunderten werden. Nun schließlich wissen wir: Es war nur der nasseste Sommer seit Langem. Es ist zu befürchten, dass uns auch kein heißer Herbst bevorsteht. Schön wäre es jetzt, der Mann könnte den Kragen hochstellen und den Hut in die Stirn ziehen. Aber er hat keinen Hut. Jedes Jahr aufs Neue versuchen Designer, die männliche Kopfbedeckung zur Wiederkehr zu bewegen. Tomas Maier, der Kreativchef von Bottega Veneta, setzte seinen Dressmen Melonen auf. Kris van Assche sieht den Herrn sogar mit Zylinder durch den Herbst marschieren – wohl vergebens. Hüte sieht man nicht auf den Prachtmeilen der Metropolen, sondern allenfalls in den Warteschlangen der Flughäfen: Strohhüte, Anglerhüte. Wer außerhalb des Urlaubs einen Hut trägt, wird noch immer mit Gunther von Hagens verwechselt. Dabei ist der Hut nichts für Selbstdarsteller, sondern das vernünftigste Kleidungsstück der Welt, besonders wenn es kalt wird. Ein Großteil der Wärme, die der Mensch verliert, entweicht über den Kopf. Wie viel wohliger wäre uns im Herbst, würden wir Hüte tragen! Stattdessen lassen wir uns von Regenschirmen durch die Straßen zerren und stülpen uns Wollmützen über, wie sie uns schon unsere Mütter auf den Kopf gezwungen haben, bevor wir in die Schule mussten. Niemand sieht mit einer Mütze auf dem Kopf besser aus, mit einem Hut aber schon. Er ist für den Mann das, was für die Frau der Stöckelschuh ist, er macht größer, 8 ZEITmagazin Leben 38/07

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KALLE SIEHT FERN „TATORT“

DIE BEDEUTUNG DER BUDE Vor Kurzem sah ich im Fernsehen einen Krimi, von Anfang bis Ende, und ich habe überhaupt nichts verstanden und schon beim Abspann alles vergessen: Name, Handlung, Schauspieler, Sender. Das lag nicht an den Machern, bestimmt nicht, es lag an mir. Es lag daran, dass ich die ganze Zeit auf eine Currywurstbude gewartet habe, die aber niemals kam. Muss ein ausländischer Krimi gewesen sein. In deutschen Krimis kommt spätestens nach der Hälfte eine Currywurstbude vor – kommt keine, sinkt die Einschaltquote. Das kann ich nicht beweisen, dafür gibt es keine Zahlen, ich nehme trotzdem mal die Ermittlungen auf: Ende Juli sah ich die Wiederholung eines Tatorts aus Konstanz. In der Folge Das Lächeln der Madonna steht der Assistent der Kommissarin als Penner verkleidet vor einer Currywurstbude und observiert. Fragt man sich doch sofort: Ist das noch Konstanz? Oder schon Köln? In jedem Kölner Tatort trinken die Kommissare Schenk und Ballauf ihr Feierabendkölsch an der gleichen Wurstbude, die eigens für die Dreharbeiten am Rheinufer zwischen der Deutzer und der Severinsbrücke in Köln-Deutz aufgestellt wird (eigentlich steht die Bude am Schokoladenmuseum auf dem linken Rheinufer). Der Treff an der Bude ist wichtig, denn dort fassen die Kommissare noch einmal das Geschehene zusammen – falls man nach 45 Minuten vergessen haben sollte, wer eigentlich noch mal genau wen wann wo umgebracht hat – und warum eigentlich? Früher gab es dafür ein „Was bisher geschah“, das erledigt jetzt der Stopp an der Currywurstbude. Aber er erfüllt noch einen anderen Zweck: Er macht die Kommissare sympathischer, menschlicher. Wer Currywurst futtert, der ist kein genialer Profiler, sondern einer, der das Verbrechen nach alter Väter Sitte bekämpft. Wer Currywurst isst, dem vertraut das Volk – Gerhard Schröder verfolgte am Anfang seiner Kanzlerschaft eine ähnliche Strategie. MATTHIAS KALLE

MEIN FERNSEHTIPP Illustrationen: Frank Nikol

VON CLAUS SPAHN, Redakteur ZEIT-Feuilleton

Die vielen Gesichter der Maria Callas. Das erhobene Kinn der Überehrgeizigen und die funkelnden Augen des Bühnenraubtiers, das maskenhafte Lächeln der Society-Dame und die ausgezehrten Wangen der an der Liebe Zerbrochenen. Das alles wollen wir immer wieder sehen. Und natürlich ihre Stimme hören. Am 16. September ist ihr 30. Todestag. Arte widmet ihr einen Schwerpunkt mit ihrem Konzert von 1958. (30. Todestag Maria Callas, 16. 9., 8.55 und 19 Uhr, Arte)

WORTE DER WOCHE …die leider NICHT gesagt wurden „Lieben Gruß an Joschka: Rock ’n’ Roll kann ich auch.“ SPD-Chef Kurt Beck über seinen Wutausbruch gegen seine Feinde in der eigenen Partei

„Früher oder später weinen alle Frauen an meiner Seite.“ Popmusiker Dieter Bohlen über die Tränen seiner Freundin Carina vor Gericht

„Ich habe doch schon selbst genug Probleme.“ Verbraucherschutzminister Horst Seehofer zum erneuten Gammelfleischskandal

„Mir ist er immer noch ein Rätsel.“ Die Exfrau des Genforschers Craig Venter, der sein eigenes Genom entschlüsselt hat

„Ich gönne ihr alles – nur keine besseren Quoten.“ Talkmasterin Sabine Christiansen über Anne Will, ihre Nachfolgerin in der ARD

„I’m here to lead not to read.“ US-Präsident George W. Bush zitiert den „Simpsons“-Film anlässlich Paul Bremers Aussage, er habe Bush bereits 2003 auf die Auflösung der irakischen Armee hingewiesen

„Ich mache euch den Putin.“ Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy über den von ihm geschaffenen drittgrößten Energiekonzern der Welt, Suez-GDF

„Aber Schröder kriegt er nicht.“ Russlands Präsident Wladimir Putin zum selben Thema

„Och, na ja, kommt ganz drauf an.“ Gerhard Schröder zum selben Thema Haben Sie auch einen Vorschlag für die Worte der Woche? Schreiben Sie uns per E-Mail an [email protected] oder an ZEITmagazin LEBEN, Worte, Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin

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ERINNERN

Der Politikwissenschaftler und Publizist über ein Foto aus dem Jahr 1975 mit dem damaligen Bundespräsidenten Walter Scheel. Grosser, der 1933 mit seiner Familie nach Frankreich emigriert war, hatte gerade den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten

Aufgezeichnet von Annabel Wahba

ALFRED GROSSER

Als mir 1975 in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, war ich mit meinen 50 Jahren der bis dahin jüngste Preisträger. Meine Rede hatte sicher nicht allen Anwesenden gefallen, ich sprach sehr hart gegen die Berufsverbote, im Namen der Grundrechte der Bundesrepublik. Als ich mich danach wieder auf meinen Platz neben Bundespräsident Walter Scheel setzte, flüsterte der mir nur schmunzelnd ins Ohr: „Ich hatte noch Schlimmeres erwartet.“ Scheel kenne ich gut und schätze ihn sehr, wir begegneten uns früher immer wieder auf Veranstaltungen. Er wurde von vielen unterschätzt, weil er eigentlich immer lächelte. Das ist nicht gut in der deutschen Politik. An dem Tag der Preisverleihung wurde ich mit dem Wagen des Bundespräsidenten abgeholt. Ich saß neben Scheel, wir fuhren über rote Ampeln, so etwas gibt einem ein besonderes Gefühl der Macht! Die Paulskirche hat für mich eine große Bedeutung, auch deshalb, weil ich selbst in Frankfurt geboren bin. Wenn ich von der „Deutschen Leitkultur“ spreche, dann geht sie für mich vom Hambacher Fest über die Paulskirche, wo das erste demokratisch gewählte Parlament Deutschlands saß, bis hin zur Weimarer Republik und zum Grundgesetz. Der Friedenspreis war für mich die wichtigste Ehrung meiner Arbeit. Er ist mir sogar wichtiger als die Ehrenlegion, in der ich Großoffizier bin, einer der bedeutendsten Orden Frankreichs. Als ich noch Kommandeur war, was eine Stufe tiefer ist, gab es 2002 in Paris ein Abendessen für den damaligen Kanzlerkandidaten und bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber. Er war davor ausgezeichnet worden. Er kam auf mich zu und sagte stolz: „Sehen Sie, ich bin jetzt auch Kommandeur.“

Foto: ullstein bild - AP

SIE SICH?

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„Ich kann eine innere Lampe einschalten. Dann leuchten meine Augen anders. Ich habe das im Fernsehen gelernt. Das geht mittlerweile auch ohne Kamera, im Alltag. Ich setze das Leuchten manchmal ein, um etwas zu erreichen“ Am Sonntag übernimmt Anne Will die wichtigste Talkshow des Landes. Alle kennen sie – aber wer ist sie? Ein Porträt VON CHRISTOPH AMEND FOTO JIM RAKETE

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iner, der Anne Will lange kennt, sagt, er werde nie vergessen, wie sie sich ihm gegenüber einmal selbst erklärt habe: „Mein Problem ist, dass ich genau weiß, was ich nicht will. Aber ich weiß nicht, was ich will.“ Jochen Sprentzel war Sportchef des Senders Freies Berlin, ihrer ersten beruflichen Station. Er hat sie für das Fernsehen entdeckt, auch so eine Sache, die sie erst nicht wollte. „Ich habe erst lernen müssen, vor der Kamera souverän zu wirken. Ich habe das nicht in mir gehabt.“ Sie hat es erst lernen müssen – auf dieses Motiv stößt man immer wieder, wenn man sich mit der Fernsehjournalistin Anne Will beschäftigt. Indem sie die Nachfolge von Sabine Christiansen als Moderatorin von Deutschlands wichtigster Politik-Talkshow übernahm, hat Anne Will die Republik aufgefordert: Fragt mich, wer ich bin! Sie wusste das, dafür ist sie Profi genug. Wer also ist Anne Will? Der Moment, in dem sie ganz bei sich ist, kommt um 20.30 Uhr. Es ist Ende Juni, der Donnerstag ihrer letzten Woche bei den Tagesthemen, nur noch zwei Stunden bis zur Sendung. Gerade eben war sie genervt von dem Getümmel vor ihrem Büro in Hamburg-Lokstedt, im Gebäude des NDR, wo die Tagesthemen produziert werden. Das laute Flurgeschwätz einiger Kollegen hat sie gestört. „Ich mache mal die Tür zu!“, hat sie ihrer Sekretärin zugerufen. Rums. Stille. Draußen wird es gerade dunkel, drinnen leuchtet nur noch ihr Computermonitor. Sie nimmt sich ihre Moderationstexte vor. Sie schreibt einen Satz, spricht ihn laut aus, irgendetwas stimmt nicht, klack-klack-klack machen die Tasten, löschen, umformulieren, wieder laut aussprechen, weitertippen. Es klingt jetzt, als rede sie im Schlaf. Ein Satz, klack-klack, der nächste Satz. Jetzt geht es nur noch um die richtige Formulierung, die passende Frage. Auf ihren Gesichtszügen liegt dabei eine besondere Art der Entspannung, kein Stress, keine Show. Zwei Monate später in Berlin, nur noch drei Wochen bis zur Premiere ihrer neuen Talkshow, in ihrem neuen Büro. Wieder ist Anne Will genervt. Dieses Andauernd-über-sich-reden-Müssen. Sie steckt mitten im PR-Rummel zu ihrer Sendung, Interviews, Fototermine, Gespräch bei Beckmann. Manchmal gehe ihr das zu nahe, sagt sie, wenn jeden Tag ein anderer Mensch frage, wie sie als Kind gewesen sei. Das empfinde sie als demütigend. Man hat das Gefühl, dass sie auch jetzt am liebsten einfach die Tür zumachen würde, damit sie allein sein kann, mit sich und der Tastatur. Lasst mich doch einfach nur die Sendung machen! Reicht euch das nicht? Warum fallen einem gerade diese Momente ein, wenn man Bilanz zieht nach einigen Gesprächen mit Anne Will? Sie zählen zu den seltenen Momenten mit ihr, bei denen man nicht das Gefühl hat, dass sich hier ein Mensch absolut unter Kontrolle hat; Regie führt bei einer Szene, an der man auch teilnimmt. Meistens nämlich, wenn man sich mit Anne Will unterhält, sieht sie einen sehr direkt mit ihren großen Augen an. Ihre Augen wirken dann wie Scheinwerfer, sie leuchten und strahlen so stark, dass man manchmal wie geblendet ist. Dieses Leuchten sagt: Glauben Sie mir, vertrauen Sie mir, mögen Sie mich! Dann schickt Anne Will ein mädchenhaftes, beinahe naiv wirkendes Kichern hinterher, oft streicht sie gleichzeitig mit ihren Händen die Haare aus dem

Nacken. Es ist eine ziemlich unschlagbare Mischung. Und niemand weiß das besser als Anne Will selbst. „Ich kann eine innere Lampe anschalten“, sagt sie, „dann leuchten meine Augen anders. Ich habe das im Fernsehen gelernt. Das geht mittlerweile auch ohne Kamera, im Alltag. Ich setze das Leuchten manchmal ein, um etwas zu erreichen, gerade erst wieder, als ich mich in Berlin auf dem Bezirksamt neu anmelden musste. Dort herrschte schlechte Laune, aber ich bin da rein und habe mir gedacht: Wollen wir doch mal sehen.“ Es hat funktioniert. Anne Will kann von einigen solcher Momente erzählen: Vor ein paar Jahren habe sie mal einen gewaltigen Kratzer an einen Mietwagen gefahren, aber nach ein bisschen Charmieren sei dem Mitarbeiter der Autovermietung der Kratzer gar nicht mehr aufgefallen. Am Sonntag übernimmt Anne Will die Moderation der wichtigsten politischen Talkshow in der ARD, als Nachfolgerin von Sabine Christiansen. Sie produziert die Sendung, die von Politikern als „Ersatzparlament“ bezeichnet (und als solches auch kritisiert) wurde, mit ihrer eigenen Firma und 25 Angestellten für einen geschätzten Jahresetat von etwa acht Millionen Euro. Sie wird direkt nach dem Tatort ausgestrahlt, das garantiert ihr ein Millionenpublikum. Es ist ein Traumjob für jeden Fernsehjournalisten. Seitdem bekannt wurde, dass Will die Nachfolgerin von Christiansen wird, haben wir uns zunächst in ihrem Tagesthemen-Büro in Hamburg getroffen, dann in Berlin-Mitte, in ihrem neuen Büro in der Mauerstraße. Beide Räume waren ziemlich leer. Anne Will musste selbst darüber lachen. In Hamburg meinte sie, „das persönlichste hier ist wohl meine Handtasche“. In Berlin sagte sie: „Die Blumen sind bislang das einzig Persönliche hier, und die hat mir eine Kollegin mitgebracht, damit mal etwas Farbe reinkommt!“ Nicht dass Anne Will bei der ersten Begegnung unfreundlich oder distanziert wäre, nein, sie wirkt gleich von Anfang an geradezu herzlich. Sie lacht viel. Sie nickt. Sie hört zu. Sie lässt ihre Augen leuchten. Man versteht, warum Gerhard Schröder und Angela Merkel sich von ihr so gerne für die Tagesthemen haben interviewen lassen, trotz mancher schnippischen Frage, trotz der Distanz einer Live-Schaltung. Anne Will kann einem Aufmerksamkeit schenken. Es ist nur so, dass man bei einem Gespräch über sie von ihr zunächst vor allem Harmloses zu hören bekommt, am liebsten Karnevalsanekdoten. Will ist Rheinländerin, aufgewachsen in Hürth bei Köln, der Karneval ist dort zu Hause. Sie erzählt so oft davon, in welcher Verkleidung sie wie und wann aufgetreten ist, dass man irgendwann stutzig wird. Vielleicht gehört das zu ihren Erfahrungen mit den Medien: Gib ihnen etwas scheinbar Persönliches, etwas Konkretes – „Ich war verkleidet als Kuh“ –, dann sind sie glücklich und haben doch nichts über dich erfahren. Nach diesem Prinzip hat sie der Öffentlichkeit in den Vergangenheit durchaus einiges über sich erzählt. Sie kann nicht kochen. Sie fährt gerne Auto. Sie joggt gerne. Sie mag den FC Bayern München nicht. Sie wollte mal Schreinerin werden, mal Lehrerin, mal Fahrradmechanikerin. Sie kann „zickig sein und launisch und auch still“. Manchmal grübelt sie. Und am liebsten entspannt sie zu Hause auf dem Sofa. Das kann fast jeder über sich sagen.

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Wie viele ehrgeizige Menschen sagt auch Anne Will über sich, dass sie gar nicht ehrgeizig sei. Sie wolle nur ihre Sache gut machen. „Ich habe nie einen Karriereplan gehabt.“ Andererseits hat sie sich in der Zeit vor den entscheidenden Probeaufnahmen, damals für den Job bei den Tagesthemen, Ratschläge von Günther Jauch geholt, dem beliebtesten Moderator des Landes. Sie bekam den Job. Weil sie selbst zu den Gründen ihres beruflichen Erfolgs schweigt, muss man sich bei Wegbegleitern erkundigen. Da ist zum Beispiel der Hamburger Medienanwalt Mark Nowak, der sie seit ihrer Zeit bei den Tagesthemen berät. Nowak erinnert sich an ihre erste Begegnung. „Sie hat noch nicht geahnt, was auf sie zukommt“, aber sie habe gleich wissen wollen, welche Fallstricke im Sender auf sie warteten. Als Tagesthemen-Moderatorin, sagt Nowak, „ist man von heute auf morgen sehr gefragt, also muss man sich darüber klar werden, wie stelle ich mich dar, was mache ich und, vor allem, was nicht“? Anne Will wollte es von Anfang an genau wissen. Nowak war dafür kein schlechter Gesprächspartner, er berät auch Ulrich Wickert. Den Kontakt zu Nowak hat Anne Will über seine Mutter geknüpft, die Sekretärin ist bei den Tagesthemen. Will und Nowak verstanden sich auf Anhieb. Beide haben im Frühjahr die Firma Will Media gegründet, die nun ihre Sonntags-Talkshow produziert. Der Fernsehmoderator Andreas Schneider kennt Anne Will seit gemeinsamen Tagen beim Sender Freies Berlin. Acht Jahre lang hatten sie eine Sendung, sie hieß Mal ehrlich. Wenn Schneider über den Weg nachdenkt, den seine Kollegin seit damals gegangen ist, fällt ihm als Erstes ein: „Natürlich war Anne hoch ehrgeizig.“ Und sie habe früh begriffen, was man öffentlich sage und was nicht. „Die Öffentlichkeit weiß ja nicht viel über sie. Das macht sie schon sehr gut.“

„Wir amüsieren uns immer“, sagen ihr Schulfreundinnen, „wenn du sagst, dass du nicht ehrgeizig warst“ Ihre Ambitionen sind auch anderen aufgefallen, früher, schon zu Schulzeiten. Als Anne Will 40 wurde, kamen zwei Schulfreundinnen zu Besuch nach Berlin, aus denen es irgendwann im Laufe des Treffens herausgebrochen sei: „Wir amüsieren uns übrigens immer prächtig, wenn du in Interviews sagst, dass du nicht ehrgeizig warst!“ Anne Will schüttelt den Kopf, während sie diese Geschichte erzählt. „Sie haben mich in der Schule offenbar als ehrgeizig wahrgenommen. Ich habe sie gefragt, wie sie darauf kamen.“ Die Schülerin Anne Will war gut in allen Fächern, Leistungskurse Mathe und Englisch, in beiden Fächern 13 Punkte im Abitur. Vor den mündlichen Prüfungen, daran erinnerten ihre Freundinnen sie, habe sie immer wieder gerechnet, ob sie anstelle des Notendurchschnitts von 1,5 doch noch 1,4 erreichen könne. Warum 1,4? „Es gab keinen besonderen Grund“, sagt sie heute, „es ging nur um das Spiel, ich wollte sehen, ob ich es

schaffe.“ Ist das nicht die Definition von Ehrgeiz? Was ist daran eigentlich so schlimm? Anne Will lacht, leuchtet, wirft die Haare nach hinten. „Ich glaube, das ist nur eine Projektion meiner Schulfreundinnen.“ Im Abitur ist es bei 1,5 geblieben. Anne Will wurde am 18. März 1966 in Köln geboren, 1985 begann sie Geschichte, Politologie und Anglistik zu studieren, zunächst in Köln, später in Berlin. Während des Studiums schrieb sie für Lokalzeitungen, danach volontierte sie beim Sender Freies Berlin, der heute RBB heißt. An ihren ersten Fernsehauftritt Ende 1992 erinnert sie sich mit Entsetzen. „Ich war noch so jung, gerade mal 26. Ich war thematisch und handwerklich überfordert. Das hat mir Angst gemacht.“ Als die Sendung vorbei war, rief eine Freundin sie an und fragte: „Hattest du Zahnschmerzen?“ Es war eine Talkshow mit mehreren Gästen, live. Sie hatte keinen guten Eindruck von sich, „ich habe mich unwohl gefühlt, es war alles zu viel auf einmal. Eine Talkshow ist kompliziert, ständig fragst du dich, wie viel Zeit habe ich noch, wann kommt der nächste Beitrag, man muss auf irre viel achten. Ich war kolossal überfordert.“ Von Talkshow zu Talkshow. Wird sie sich jetzt wieder unwohl fühlen? „Nach außen mag ich in solchen Phasen für manche entspannt gewirkt haben, aber innerlich fühle ich mich wie ein gejagtes Tier.“ Jetzt ist kein Leuchten in den Augen zu sehen, die Arme sind verschränkt. „Immer wenn ich etwas Neues gemacht habe, auch am Anfang bei den Tagesthemen, habe ich plötzlich so eine Vorsicht und Zurückhaltung in mir gehabt, die mich defensiv erscheinen lässt. Ich bin dann unbeweglich, fast steif.“ Und es könne auch diesmal wieder passieren. Dann geht ein Ruck durch ihren Körper, die Arme lösen sich aus der Verschränkung. „Wollen Sie vielleicht noch einen Kaffee?“ Es leuchtet wieder. Wie bereitet sie sich auf diese Situation vor? „Ich habe mittlerweile selbst geschaffene Bezüge, die mich davor bewahren“, sagt sie. Bezüge aus ihrem Leben? Nein, „Pannen, Fehler, die ich vor der Kamera gemacht habe“. Fehler, die ihr nie wieder passieren sollen, „denn Fehler zu wiederholen finde ich doof“. Da war zum Beispiel, es ist ein paar Jahre her, eine Live-Sendung, ein Eishockeyspiel. In einer Pause sollte Anne Will im Studio den Direktor eines Berliner Tennisturniers interviewen, Eberhard Wensky. Anne, hieß es aus der Regie, Wensky ist noch nicht eingetroffen, bereite dich mal lieber mit ein paar Meldungen vor, falls er es nicht rechtzeitig ins Studio schafft. Ach was, dachte Anne Will, wieso sollte der Wensky nicht kommen? Herr Wensky kam nicht. Und plötzlich hieß es: Anne, du bist gleich auf Sendung, fülle mal die nächsten fünf Minuten. Das Rotlicht ging an. Und Anne Will verkrampfte sich. Sie war nicht vorbereitet, las Meldungen vom Blatt ab, die sie nicht redigiert hatte, stotterte, jedes zweite Wort ein „Äh“. Wenn sie heute daran denkt: „Ein Albtraum“. Was hat sie daraus gelernt? „Du musst darüber reden, es zur Sprache bringen, das Problem benennen und es damit von dir selbst weggeben.“ Sie hat die Souveränität nicht in sich gehabt, sie hat sie lernen müssen. In Stressphasen träumt Anne Will den immergleichen Traum, auch jetzt, nach der ersten Probesendung der Talkshow (Thema war die Familienpolitik der CSU, in der zweiten Probesendung ging es um den Linksruck in Deutschland). In dem Traum geht sie wieder zur Schule. „Ich sitze im Deutsch-Leistungs38/07 ZEITmagazin Leben 15

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kurs, den ich gar nicht hatte, und frage, wann ist denn eigentlich die Klausur? Ich bekomme keine Antwort. Ich suche einen Stundenplan, finde ihn nicht. Also schlendere ich völlig unorganisiert durch die Schule und denke noch, was soll’s, ich habe ja längst mein Abitur. Ich mache das ja nur zum Spaß ein zweites Mal. Und trotzdem stresst es mich, dass ich unvorbereitet bin.“ Das alles denkt Anne Will noch während des Traums, dann erst wacht sie auf und sagt sich: „Bitte, Süße! Du hast dein Abitur doch längst!“ Die Karriere der Anne Will ist nach einem interessanten Muster verlaufen. Sie selbst war mit neuen Aufgaben zunächst innerlich unglücklich, fand sich nicht gut, zweifelte. Der Blick von außen war ganz anders. Dieter Gruschwitz etwa, heute Sportchef des ZDF, war Co-Moderator ihrer ersten Sendung 1992. „Mir war danach klar, die kann nicht nur Sport“, erinnert er sich, „Anne war von Anfang an klasse.“ Zunächst moderierte Will Sportsendungen, dann Mal ehrlich mit Andreas Schneider, später eine Talkshow

Zur Frage, wo sie sich politisch einordne, sagt sie: „Darauf zu antworten wäre für mich gefährlich“ über Medien, im WDR. Schon früh bot man ihr die Sportschau an, als erste Frau sollte sie Deutschlands bekannteste Sportsendung präsentieren. Doch es dauerte Jahre, bis sie 1999 schließlich einwilligte. Und ihr Leben außerhalb des Berufs? Sie ist in einem katholischen Elternhaus aufgewachsen, der Vater erst Schreiner, später Architekt, die Mutter half dem Vater im Büro und zog die beiden Kinder groß, Anne und ihren Bruder Martin. Er ist zwei Jahre älter und ihr anfangs immer einen Schritt voraus. Er bringt ins Elternhaus den verhassten Spiegel mit, es kommt darüber zum Streit mit den Eltern, auch Anne streitet sich mit ihnen. Ihre Mutter beschimpft sie als „linksradikal“. Sie will so sein wie Martin. „Ich habe alles meinem Bruder nachmachen wollen“, hat sie Alice Schwarzer einmal in einem Gespräch für die Zeitschrift Emma erzählt. „Alles, was Mädchen damals noch nicht machen durften: Messdiener sein, im Fußballverein sein … dem ging das total auf den Geist.“ Ihr Bruder Martin, das Vorbild ihrer Jugend, fährt heute Taxi. Doch Anne Will will nicht über ihn reden, sie verschränkt die Arme. Hamburg, Ende Juni, in der Redaktion der Tagesthemen. Heute moderiert Anne Will ihre viertletzte Ausgabe von „TT“, wie man hier sagt. In der Vormittagskonferenz ist die Stimmung mittelprächtig, die Quote der Sendung vom Vorabend war schlecht, wie so oft mittwochs. „Den Mittwoch kann ich als Sendetermin nicht empfehlen“, sagt sie und grinst. Alle grinsen. Mittwochabends wird von Oktober an ihr Kollege Frank Plasberg ebenfalls eine politische Talkshow in der ARD moderieren. Der Sender hat sich in eine merkwürdige Situation begeben: zwei neue politische Talkshows, die sich um dieselben Themen und

Gäste bemühen werden. Mit Maybrit Illner vom ZDF versteht Anne Will sich gut, mit dieser Konkurrenz ist auch Sabine Christiansen zurechtgekommen. Frank Plasberg ist im Ersten hingegen neu. Er ist Anne Wills Gegner im eigenen Haus. In ihrem Tagesthemen-Büro geht Anne Will an diesem Tag Mappen durch, die ihre Sekretärin vorbereitet hat. Darin liegen Briefe, Anfragen, auch Zeitungsartikel, in denen sie erwähnt wird. Auf einem steht in Großbuchstaben „Wir heiraten“. Ihre Vorgängerin Sabine Christiansen kündigt ihre Hochzeit an. Sie blättert weiter. Sie hat sich entschieden, einen anderen Weg zu gehen. Über ihr Privatleben will sie schweigen, auch wenn sie weiß, dass sie mit einer Sendung, die ganz auf sie zugeschnitten ist, noch mehr Interesse an ihrer Person wecken wird. Nur selten lässt sie Einblicke zu. Park Avenue berichtete im vergangenen Jahr darüber, dass Anne Will einmal mit ihrer Freundin Miriam Meckel auf einem Presseball getanzt hatte. Will bestätigt das, mehr aber auch nicht. „Ich werde mein Privatleben weiterhin privat halten“. Dem Tagesspiegel erzählte sie 1996, dass ihr damaliger Freund, ein Sportreporter beim SFB, schon Scherze mache, wenn sie auf der Straße erkannt werde. Er nenne dies den „Anne-Effekt“. Irgendwann im Laufe der Jahre danach muss sie sich entschlossen haben, nichts mehr über ihr Privatleben öffentlich zu machen. Sie erwähnt nur, dass sie das meiste über die Liebe gelernt habe, als sie einmal verlassen wurde. Da habe sie verstanden, wie sorgsam man damit umgehen müsse. Durch den Verlust sei ein Bewusstsein entstanden für die eigene Verletzlichkeit, eine tiefe Wunde. Wie aus Anne Will „Anne Will“ wurde? Durch lernen. Sie hat rasch begriffen, dass es sich lohnt, öffentlich untertourig aufzutreten. Sie geht nicht oft auf Galas. Als sie bei einer Preisverleihung auf der Bühne ihren Eltern dafür dankte, dass sie so „ein warmherziger Mensch“ geworden sei, machte sie Harald Schmidt noch am selben Abend mit einer Parodie zum Gespött des Saals. „Das ist mir nachgegangen“, sagt sie heute, „weil es so unprofessionell war. Ich wollte etwas ganz anderes sagen, aber dann stapfe ich auf die Bühne und sage diesen Klassiker.“ Wieder ein Fehler, den sie auf keinen Fall wiederholen möchte. An jenem Tag bei den Tagesthemen Ende Juni kommt es dann doch fast wieder zu einem solchen Moment, wenn auch in viel kleinerem Rahmen. Ein Kollege feiert an dem Tag seinen Abschied (er wechselt zu ihrer neuen Redaktion nach Berlin). Er hat die Redaktion auf ein Glas Sekt eingeladen. Alle warten nach dem Abspann nur noch auf die Moderatorin, die aus dem Studio nebenan in die Redaktionsräume zurückgeht. Als sie die Tür öffnet und die Redaktion sieht, die Gläser und den Sekt, will sie gerade ansetzen zu einem „Das ist aber …!“. Bis sie begreift, dass sie gar nicht gemeint ist, nach der Schrecksekunde sich sammelt, den Rest des Satzes herunterschluckt und sich verlegen unter die Gratulanten mischt. Ihren Ehrgeiz hat sie dagegen in der Öffentlichkeit immer im Griff gehabt. Sie hat nie „Ich will hier rein!“ gerufen, aber sie hat bei guten Gelegenheiten zugegriffen. Sie hat klug ein Netzwerk aufgebaut, hat Freunde bei beiden mächtigen ARD-Sendern, dem WDR und dem NDR. Und sie hat sich politisch nie festgelegt. Zur Frage, wo sie sich politisch einordne, sagt sie: „Darauf zu antworten ist für mich gefährlich.“

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Das ist geschickt, aber auch profillos. Kann das zum Problem werden? Cathrin Kahlweit, die Redaktionsleiterin von Anne Will, sie kam von der Süddeutschen Zeitung, beobachtet an der Generation ihrer neuen Chefin, den um die 40-Jährigen, „eine gewisse Alterslosigkeit, einen manchmal fast ungeheuerlichen Pragmatismus. Ich vermisse die Bereitschaft, auch mal alles infrage zu stellen.“ Kahlweit ist sieben Jahre älter als Will. Sie halte „zwar auch nichts von langen Debatten über Marx und Moral, aber eine Grundhaltung gehört dazu, um Konflikte zu schüren!“. Wo ist diese Grundhaltung bei Anne Will zu sehen? Was sagt es aus über das Land, wenn eine nach außen hin ideologiefreie Journalistin die wichtigste politische Sendung des Landes übernimmt? Anne Will wusste schon als Schülerin, dass sie Journalistin werden wollte. Sie ist über den Journalismus zur Politik gekommen, nicht über die Politik zum Journalismus. Laut einer Forsa-Umfrage aus diesem Sommer vertrauen Anne Will 57 Prozent der Bevölkerung. Sie liegt damit auf Platz 13 einer langen Liste, nur knapp hinter dem Papst. Es scheint, als wünsche sich das Publikum in Zeiten einer ideologiefreien Großen Koalition, die perfektes Politik-Handwerk betreibt, eine ebenso ideologiefreie Moderatorin, die eben auch perfektes Handwerk betreibt, die an ihren Formulierungen bis ins Letzte feilt, nicht mehr, nicht weniger. Darin ähneln sich die Erfolgsmodelle Angela Merkel und Anne Will. Sie sind Lernmaschinen. Sie geben sich beide unendlich pragmatisch. Und halten ihr Privatleben privat. Damit kommen sie unglaublich gut an.

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Wie damals vor dem Start der Tagesthemen hat sich Anne Will auch diesmal mit den Fallstricken beschäftigt, die vor ihr liegen. Nur keine Fehler machen. Wenn mittwochs Frank Plasberg sendet und donnerstags Maybrit Illner, dann muss sie sehen, welches Thema sie sonntags setzen kann. Bleiben da noch interessante Gäste übrig? Gut möglich, dass sie oft freitags alles umwerfen muss. Natürlich wird auch ihr Erfolg in Einschaltquoten gemessen. Acht Millionen Zuschauer kommen vom Tatort, danach beginnt der Zuschauerschwund. Es folgen drei Programmhinweise, noch mehr Schwund, dann beginnt Anne Will. Es ist also ein Kampf gegen das Verschwinden, und Mark Nowak, ihr Geschäftspartner, skizziert das Ziel ganz konkret: „Die jungen Zuschauer kennen das Gesicht von Anne Will. Wenn von ihnen 500 000 mehr hängen bleiben als zuvor, wäre das ein großer Erfolg.“ Am Sonntag von 21.45 Uhr an in der ARD wird Fernseh-Deutschland sehen, ob Anne Will die nächste Hürde ihrer Karriere nimmt. Hat sie eigentlich noch Wünsche, abgesehen davon, dass ihr Anne Will, die Sendung, gelingt? Es ist ein letztes Mal Zeit für ihr Leuchten. Sie strahlt, wirft die Haare zurück. Regie: Anne Will. „Ich würde gerne Trompete spielen können.“ Das Mädchenlachen. „Und ich wäre gerne größer, nicht nur 1,69 Meter. So 1,74 Meter, 1,75 Meter, das wär’s.“ Sie wirkt jetzt sehr zufrieden mit sich. Dann klopft es an der Tür, es ist die Sekretärin. Sie schaut auf die Uhr, der nächste PR-Termin wartet schon.

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Für die Geburt ihres jüngsten Sohnes Ghazi hatte Gazale Salame lange gebetet. Nun muss sie sich ganz allein um ihn kümmern

VERSTOSSEN AUS VATERS LAND Ghazis Mutter wurde vor zweieinhalb Jahren aus Deutschland abgeschoben. Sie war schwanger, ihr Sohn kam in der Türkei zur Welt. Seinen Vater und seine beiden großen Schwestern hat Ghazi nie gesehen. Die zweite von vier Reportagen über „Globale Familien“ VON WOLFGANG UCHATIUS FOTOS JULIA KNOP

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HILDESHEIM In einem deutschen Wohnzimmer: Ahmed Siala mit seinen beiden Töchtern. Die neunjährige Nura und die zehnjährige Amina haben ihre Mutter seit Februar 2005 nicht mehr gesehen

A

ls Gazale Salame im ersten Licht des Wintertages begreift, was die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch zehn Polizisten, von ihr verlangt, fängt sie an, sich selbst zu schlagen. Sie hämmert gegen ihren Kopf. Sie beißt in ihre Hände. Sie reißt an ihren Haaren. Dann stürzen die Wörter aus ihr heraus. Sie sagt, schiebt mich nicht ab, ich habe drei Kinder, zwei gehen hier zur Schule, das dritte ist noch ein Baby, ihr könnt mich doch nicht von meinen Kindern trennen. Sie sagt, ich bin keine Türkin, ich kenne die Türkei nicht, ich spreche kein Türkisch, ich lebe seit 17 Jahren in Deutschland, das ist meine Heimat. Sie sagt, ich bekomme wieder ein Kind, ich bin schwanger, im dritten Monat, schiebt mich nicht ab, bitte. Das waren ihre Sätze damals, sie erinnert sich noch heute. Einer der Beamten sagt: „Bitte packen Sie jetzt Ihre Koffer, wir haben keine Zeit.“ Ihr Mann kommt nach Hause, Ahmed Siala, er hat die zwei älteren Töchter zur Schule gebracht. Er sieht die Beamten, er weiß, was die Bundesrepublik Deutschland seiner Frau vorwirft: dass sie 17 Jahre lang zu Unrecht in Deutschland gelebt habe. Dass sie, die als achtjähriges Mädchen aus dem libanesischen Bürgerkrieg ins Land kam, die Behörden getäuscht habe. Dass sie in Wahrheit türkische Staatsbürgerin sei. Siala greift zum Telefon und wählt die Nummer seines Anwalts. Der ist im Ur-

laub. Er ruft die Landrätin an. Nicht zu sprechen. Die Ausländerbehörde. Endlich, ein Sachbearbeiter hebt ab. Siala beginnt zu reden, versucht zu verhandeln, zu erklären. Er bekommt nur eine Antwort: „Nein.“ Ein Baby schreit. Schams ist aufgewacht, die jüngste Tochter, 14 Monate alt. Sie brüllt, sie hat Hunger. Gazale Salame läuft zu ihr, hebt sie aus dem Bett. Das Schreien des Kindes mischt sich mit dem Weinen der Mutter. Die Koffer sind noch immer leer. Die Sache gerät ins Stocken. Einer der Polizisten läuft nach draußen, telefoniert, kommt zurück. Er sagt, das Baby könne mitkommen in die Türkei, aber sie müssten sich beeilen. Er sagt: „Wir haben keine Zeit mehr für eure Spielchen.“ Gazale Salame nimmt ihre kleine Tochter auf den Arm. Sie steigt in den Polizeibus. Ein Beamter schlägt die Tür zu, ein zweiter stellt ihr Gepäck in den Kofferraum, ein dritter startet den Motor. Ahmed Siala steht vor dem Haus. Er schaut dem Wagen hinterher. Es ist der 10. Februar 2005. Es ist halb neun Uhr morgens. In ein paar Stunden wird er seinen Töchtern erklären müssen, dass ihre Mutter nicht mehr da ist. Dass sie abgeschoben wurde, so wie jedes Jahr etwa 15 000 Menschen aus Deutschland abgeschoben werden. Manche von ihnen haben schwere Straftaten begangen, manche kamen mit Schlepperbanden über die Grenze. Gazale Salames Fall ist anders. Es ist der Fall einer Frau, die von ihrem Mann und ihren Kindern getrennt wurde, weil sich ein paar Paragrafen in einem deutschen Gesetzbuch mit dem Leben einer jungen Familie verhakten. Weil diese Paragrafen es nicht vor-

Gazale Salame mit ihrem Sohn Ghazi und der vierjährigen Tochter Schams, in der Nähe ihrer Wohnung. Sie sind in Gümüspala untergekommen, einem Teil der Stadt Izmir, der wie ein Dorf wirkt. Fast alle ihre Nachbarn stammen aus dem Osten Anatoliens. Für sie ist Gazale Salame eine Fremde

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Gazale Salame ruft ihren Mann an, sie schreit in den Hörer: „Ahmed, ich will meine Kinder sehen!“ sehen, dass es Menschen gibt, deren Heimat nicht dort ist, wo sie geboren wurden. Und auch nicht dort, woher ihre Vorväter irgendwann kamen. Sondern dort, wo sie jetzt leben. Aber dort dürfen sie nicht bleiben. Gazale Salame erinnert sich: Wir sind dann auf dem Polizeirevier angekommen. Eine Polizistin sagte, ich solle mich ausziehen, dann hat sie mich durchsucht. Zwischen meinen Haaren, hinter meinen Ohren, überall. Dann wurde Schams durchsucht, meine Tochter, auch ganz nackt, sogar in die Windeln hat die Polizistin geschaut. Ich habe gezittert. Die Polizistin sagte: „Sollen wir einen Arzt rufen?“ Ich sagte: „Ich brauche keinen Arzt, es geht mir besser, wenn ihr mich nicht abschiebt.“ Ich konnte vor Angst nicht laufen. Die Polizistin hat mich an einer Seite festgehalten und zum Auto geführt, das uns zum Flughafen bringen sollte. Sie sagte: „Wir müssen uns beeilen, das Flugzeug in die Türkei geht gleich.“ IZMIR. Sie öffnet die Tür, in der Sonne liegt ein Herz.

Rot ist es, aus Plüsch ist es, hübsch wäre es, wäre da nicht dieser Zettel, mit Nadeln an den Stoff geheftet. Sie liest die Kugelschreiberschrift: Seni çok özledim. Sie weiß, was das heißt. Es ist der Sommer 2007, sie lebt seit zweieinhalb Jahren hier, in diesem Land, sie hat, um nicht unterzugehen, Türkisch gelernt. Es heißt: „Ich vermisse Dich.“ Sie weiß auch, wer das geschrieben hat. Es ist der Mann, der nachts an ihre Scheibe klopft und ihren Namen flüstert. Oder der, der sie anruft und sagt, sie gefalle ihm. Oder der, der ihr Briefe schreibt mit anzüglichen Dingen. Sie nimmt das Herz und wirft es in die eiserne Tonne vor dem Haus. Sie steht jetzt allein in der Sonne. Sie schaut auf die Häuser um sie herum, auf die Wäscheleinen, die offenen Fenster, in denen Gardinen flattern. Dahinter, im Dunkeln, stehen sie, die Nachbarn, sie stehen im Schatten und schauen ihr nach. Immer schauen sie ihr nach, ihr, der jungen Frau mit den großen Augen, die eines Tages aus Deutschland kam und jetzt hier lebt, mit zwei kleinen Kindern, aber ohne Mann. Wo ist ihr Mann? Wieso lässt er sie allein? Hat sie ihn betrogen? So tuscheln sie, die Frauen, die morgens beim Einkaufen beisammenstehen, die abends vor den Häusern sitzen. Sie hört es, wenn sie vorübergeht mit ihren Kindern. Sie will sie nicht mehr sehen, diese Frauen, die alle gleich aussehen, in ihren langen, dunklen Kleidern, unter ihren Kopftüchern.

HILDESHEIM

Ein paar Kilometer weiter südlich, unten am Meer, im Zentrum von Izmir, da laufen die Frauen in roten und gelben Tops am Wasser entlang und zeigen ihre Schultern. Oben am Hang, wo Gazale Salame lebt, ist auch Izmir, Gümüspala heißt das Viertel, in dem ihr ein Bekannter ihrer Eltern, der einst selbst abgeschoben wurde, eine Wohnung verschaffte. Aber Gümüspala ist keine Stadt. Es ist ein Dorf, das zufällig in der Stadt liegt. Fast alle, die hier wohnen, sind aus dem Osten Anatoliens hergezogen. Am Rande von Izmir fanden sie einfache Arbeit und bauten billige Häuser, in denen im Sommer die Hitze hängt und im Winter die Kälte. In diesen Häusern leben die Frauen mit ihren Männern und ihren Kindern, und wenn eine junge Frau allein mit ihren Kindern lebt, dann hat sie etwas falsch gemacht. Gazale Salame ruft ihren Mann an. Sie sagt: Ahmed, ich kann nicht mehr, hol mich hier raus. Es ist dann wie immer in letzter Zeit. Er sagt: Du musst warten, Ende September entscheidet das Gericht, wenn wir gewinnen, darfst du zurück. Sie sagt: Ich kann nicht mehr warten, das Warten hat mich krank gemacht. Sie denkt an die Tabletten, die in der Küche liegen, im Schrank, gleich über den Nudeln. Beruhigungspillen, Antidepressiva. Der Arzt hat sie ihr verschrieben, sie schluckt sie jeden Tag, sie helfen nicht viel, manchmal weint sie die halbe Nacht. Sie schreit in den Hörer, sie ruft: Ahmed, ich will meine Kinder sehen!, er versucht sie zu beruhigen. Dann legt sie auf. Sie geht die Straße entlang. Sie hat Brot gekauft und Windeln für den zweijährigen Ghazi. Er sitzt vor ihr im Kinderwagen. Als sie abgeschoben wurde, war er noch in ihrem Bauch, sein Vater hat ihn nie gesehen. Die Tochter Schams ist jetzt dreieinhalb, sie läuft voraus, sie hat den Sonnenschirm entdeckt. Der Schirm steht vor einem kleinen Laden, unter dem Schirm steht eine blaue Kühltruhe, bemalt mit einem lachenden Pandabären. Gazale Salame greift in die Truhe, und unter dem Juchzen der Kinder holt sie zwei Eistüten heraus. Sie geht in den Laden, der junge Verkäufer hinterm Tresen nimmt das Geld. Er schaut sie an. Von oben nach unten, und wieder nach oben. „Ich habe gehört, du hast keinen Mann.“ Manchmal hat sie das Gefühl, verrückt zu werden. Als wir in das Flugzeug steigen sollten, hat sich uns der Pilot in den Weg gestellt und etwas auf Türkisch

Was mit ihrer Mutter geschehen ist, hat Nura von ihrem Vater erst allmählich erfahren. Erst sprach er von einer kurzen, dann von einer langen Reise. Nach mehreren Wochen sagte er ihnen die Wahrheit. Jeden Montag geht er mit seinen Töchtern zur Therapie

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gesagt. An seiner Reaktion habe ich gesehen, dass er mich nicht ins Flugzeug lassen wollte. Er hat dann mit der Polizistin Englisch gesprochen. Ich verstehe ein bisschen Englisch. Er sagte, dass ich und meine Tochter nicht in das Flugzeug dürften, weil es mir nicht gut ginge. Die Polizisten haben mit ihm gesprochen und die Sache geklärt. Sie haben mich in das Flugzeug hineingezogen und sich neben mich gesetzt. Dann sind wir gestartet.

Gazale Salames Erinnerung an Deutschland: „Ich war glücklich damals“

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BEIRUT, in den achtziger Jahren. Meistens ist es Nacht, wenn die Granaten fliegen. Sie zerreißen die Häuser, die Gärten, die Autos, und manchmal auch die Menschen, die gerade in die Keller rennen. Wer überlebt, steigt am Morgen wieder heraus, und versucht, sein Leben fortzuführen, zwischen Straßen, auf denen Maschinengewehre stehen, unter Dächern, von denen Scharfschützen feuern. Es sind die Jahre, in denen Beirut sein Gesicht verliert und sich in eine Trümmerstadt verwandelt, die Jahre des Bürgerkriegs, in dem Christen gegen Muslime, Schiiten gegen Sunniten, Palästinenser gegen Israelis kämpfen, in denen der Libanon zerfällt in Milizen und Gegenmilizen, in Söldner und Gotteskrieger. Dazwischen leben drei Millionen Menschen. Sie verdienen Geld, irgendwie, sie essen, trinken, sie bekommen Kinder, zum Beispiel dieses: Gazale Salame, geboren 1980 in Beirut, als Tochter des Gemüsehändlers Sharif Salame, eines Mannes, der nie zur Schule gegangen ist, als Tochter eines Staatenlosen. Sharif Salame ist Angehöriger eines arabischen Volksstammes, der Mhallami, die über Jahrhunderte im Südosten Anatoliens lebten. Als Mustafa Kemal Atatürk, der Gründer der heutigen Türkei, in den zwanziger Jahren die Aufstände der Kurden niederschlägt und arabische und kurdische Namen durch türkische ersetzt, wandern Zehntausende Mhallami in den Libanon aus. Von den Libanesen als „staatenlos“ klassifiziert, bleiben sie meist unter sich. Cousins heiraten Cousinen, Söhne von Freunden heiraten Töchter von Bekannten. Beirut ist reich, und die Reichen brauchen Lastenträger und Gemüsehändler. So leben die Mhallami ein aus-

kömmliches Leben am unteren Ende der Gesellschaft. Bis die Bomben fallen. 90 000 Menschen tötet der Bürgerkrieg, 800 000 Menschen vertreibt er aus dem Land, unter ihnen etwa 40 000 Mhallami. Viele von ihnen fliehen nach Europa, einige Tausend nach Deutschland, so wie Sharif Salame mit seiner Frau und seinen fünf Töchtern. Sie stellen einen Antrag auf politisches Asyl. Der Antrag wird abgelehnt, aus humanitären Gründen dürfen sie jedoch im Land bleiben. Die Mhallami, klassifiziert als „Staatenlose aus dem Libanon“, bekommen Sozialhilfe und bleiben fortan meist unter sich. Cousins heiraten Cousinen, und Söhne von Freunden heiraten Töchter von Bekannten. So leben sie ein auskömmliches Leben am unteren Ende der Gesellschaft, in dem Land, aus dem Gazale Salame 17 Jahre später, im Alter von knapp 25 Jahren, schwanger und mit ihrer 14 Monate alten Tochter im Arm wieder abgeschoben wird. Nach dem Start wurde mir übel, ich musste mich übergeben. Die Polizistin hat mich bis zur Toilette begleitet, und ich durfte die Tür nicht abschließen. Der Polizist hatte währenddessen meine Tochter auf dem Arm. Als ich mich wieder hinsetzte, gab er sie mir wieder, ich sollte sie die drei Stunden, bis wir in Istanbul ankamen, auf dem Arm halten. HILDESHEIM. Bei einer Hochzeit von Bekannten sieht sie ihn zum ersten Mal: Ahmed Siala. Mitte der Neunziger ist das, Gazale Salame ist 16 Jahre alt und seit acht Jahren in Deutschland. Die Nachbarn haben die Flüchtlingsfamilie freundlich aufgenommen, die kleine Gazale wächst mit Pippi Langstrumpf und deutschen Freundinnen auf, die irgendwann, als sie älter werden, die ersten Jungen mit nach Hause bringen. Mit den Jungen ist es bei Gazale nicht so einfach. Das heißt, eigentlich ist es sehr einfach, denn das regeln die Eltern für sie, und die haben schon einen passenden gefunden: Ahmed Siala, 17 Jahre alt, als Kind mit seiner Familie aus dem Libanon geflohen, genau wie sie. Groß, kräftig, selbstsicher steht er vor ihr, inmitten fröhlicher Hochzeitsgäste. Der Gedanke, ihn zu heiraten, ge-

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IZMIR Unten am Meer, an Izmirs Strandpromenade, fühlt sich Gazale Salame wohler als in ihrem Wohnviertel. Eine Heimat ist es nicht

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fällt ihr. Sie hat Schwierigkeiten in der Schule, sie muss sich um ihre Mutter kümmern, die tagelang weint, weil ihr der Krieg auf der Seele lastet. Wie schön ist da der Gedanke, eine Braut zu sein, eine eigene Familie zu haben. Die erste Tochter kommt zur Welt, Amina, bald danach die zweite, Nura. Später, viel später wird Gazale Salame in einem kleinen Haus in Izmir sitzen und sagen: „Ich war glücklich damals.“ Das Glück verlischt am Ende des Jahrtausends. Die Zeitungen in Deutschland drucken längst keine Bilder von erschossenen Kindern in Beirut mehr, dafür viele neue Wörter: „Asylbetrüger“, „Sozialschmarotzer“, „Wirtschaftsflüchtlinge“. Wörter, die nach Ansicht mancher Politiker gut auf die Staatenlosen aus dem Libanon passen: Sie bekommen viele Kinder, deshalb meistens auch viel Sozialhilfe, einige sind in den Drogenhandel eingestiegen, andere leben von Waffengeschäften. Höchste Zeit, sie loszuwerden. Aber in welchen Staat schickt man einen Staatenlosen? Der Libanon will sie nicht zurück. Dafür entdecken die Ausländerbehörden ein interessantes Detail: Viele Mhallami sind nicht direkt von Beirut nach Deutschland gekommen, sondern zunächst in den Südosten der Türkei geflohen, in die Heimat ihrer Vorväter. Auch Sharif Salame, der frühere Gemüsehändler, dem noch immer ein halbes Dutzend Granatsplitter im Körper stecken und der jetzt die Tage in Deutschland mit langen Spaziergängen verbringt. Um den Weg nach Europa zu erleichtern, hat er seiner Familie in Anatolien türkische Pässe besorgt, auf den Namen, den die Türken seinem Vater einst verpassten: Önder. Wer aber einen türkischen Pass besitzt, ist kein Staatenloser. Er ist Türke. Und seine Tochter ist Türkin, auch wenn sie kein Wort Türkisch spricht. So jedenfalls sieht es die Ausländerbehörde des Landkreises Hildesheim. Gazale Salames Aufenthaltserlaubnis wird nicht mehr verlängert. Am 12. Oktober 2000 erhält sie einen Brief von der Ausländerbehörde. Es ist die Ausweisung in die Türkei.

HILDESHEIM Nura und Amina spielen gern mit Puppen. Eine davon nennen sie Schams, nach ihrer kleinen Schwester in der Türkei, die sie nur als Baby kennen

Nach der Ankunft haben mich die beiden Polizisten den türkischen Beamten übergeben. Da war noch ein junger Mann, der auch abgeschoben worden war. Er sprach Deutsch und Türkisch. Er wollte mir helfen, den Beamten zu erklären, dass ich kein Türkisch kann. Sie wollten ihm nicht zuhören. Sie sperrten mich in ein Zimmer im Flughafen, wo es richtig kalt war, es gab nichts zu essen, und wir durften nicht auf die Toilette. HILDESHEIM. Jakob war bei seiner Oma. Lisa ist mit

der Mama ins Schwimmbad gefahren. „Und du,

Die Traurigkeit komme in Wellen über die Kinder, sagt der Grundschullehrer. „Es ist eine Tragödie“ 38/07 ZEITmagazin Leben 27

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Sie weiß nicht, welche Sprache ihre Kinder lernen sollen Amina, was hast du am Wochenende gemacht?“ Rudolf Maxen ist ein freundlicher Herr mit angegrauten Haaren und hoher Stirn. Er ist Leiter einer kleinen Grundschule in einem Dorf östlich von Hildesheim. Früher sind die Bauern hier mit Zuckerrüben reich geworden, heute leben sie von EUSubventionen. Manchmal fahren sie mit Anhängern voller erdiger Rüben an den Fenstern des Schulhauses vorbei. „Amina?“ Amina sagt nichts. Sie hat lange, dunkle Haare und die großen braunen Augen ihrer Mutter. Sie ist zehn Jahre alt und gerade in die vierte Klasse gekommen, sie musste das Schuljahr wiederholen. Sie schaut Herrn Maxen an, dann schaut sie auf den Boden. Es entsteht eine unangenehme Pause, dann schaut Herr Maxen Julia an, und Julia fängt an zu erzählen. Später wird Rudolf Maxen sagen, dass die Traurigkeit und die Sprachlosigkeit in Wellen über Amina kämen, seit jenem Wintertag vor zweieinhalb Jahren, als die Polizei ihre Mutter abholte. Bei ihrer Schwester Nura, die jetzt neun Jahre alt ist, sei es genauso. Er kennt sie beide. Er kennt alle Schüler an seiner Schule, es sind so wenig Ausländerkinder unter ihnen, dass er noch gar nicht auf die Idee kam, die Ausländerquote zu berechnen. Maxen sitzt hinter seinem Schreibtisch. Er weiß, dass er hier als Beamter des Landes Niedersachsen sitzt und dass das Land Niedersachsen der Meinung ist, dass die Abschiebung von Gazale Salame schon

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Spaziergang einer halben Familie: Von den Einheimischen wird Gazale Salame genau beobachtet: Warum hat sie keinen Mann?

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ihre Richtigkeit habe. Trotzdem sagt er diesen Satz: „Es ist eine Tragödie.“ Damals, im Februar 2005, hat Ahmed Siala seinen Töchtern nicht gleich gesagt, was mit ihrer Mutter geschehen ist. Erst sprach er von einer kurzen, dann von einer langen Reise, nach Wochen sagte er die Wahrheit. Er ist mit Amina und Nura zu seinen Eltern gezogen, jeden Montag geht er mit den Kindern zur Therapie. Die Therapeutin sitzt im selben Haus wie die Sachbearbeiter der Ausländerbehörde. Ahmed Siala spricht nicht viel über seine Kinder. Er sagt, er wolle nicht werben mit ihrem Leid. Dann fängt er doch an zu erzählen, zum Beispiel, dass sie oft mit einer Babypuppe spielen. Die Puppe nennen sie Schams, wie ihre kleine Schwester in der Türkei, die sie nur als Baby kennen. Siala holt einen Umschlag aus der Schublade. Darin liegen Bilder, auf denen ein Filzstiftflugzeug über Bäume und Häuser fliegt. Amina und Nura haben sie gemalt. In dem Flugzeug sitzt ihre Mutter.

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Spaziergang einer halben Familie: Ahmed Siala und seine Töchter unterwegs in der Hildesheimer Innenstadt

IZMIR. Sie badet Ghazi, und Schams wirft ein Bilderbuch aus dem Fenster. Sie wäscht Wäsche, und Ghazi hängt sich an ihr Bein. Sie kocht Suppe, und Schams schubst Ghazi an die Wand. Sie sagt dann: „Schams, kardeşini rahat bırak“, das ist Türkisch und heißt: Schams, lass deinen Bruder in Ruhe! Oder: „Ghazi, unzur, kurratuka hunak!“, das ist Arabisch und bedeutet: Schau mal, Ghazi, da drüben liegt dein Ball! Oder sie sagt: „Kommt, wir gehen jetzt einkaufen.“ Auf Deutsch. Deutschland ist das Land, in das sie zurück möchte, die Türkei das Land, in dem sie lebt. Arabisch die Sprache ihrer Eltern. Sie weiß nicht, welche die richtige Sprache für ihre Kinder ist. Die Kinder wissen es auch nicht. Ghazi ist gerade zwei geworden. In diesem Alter können die meisten Kinder schon kleine Sätze formen. Ghazi spricht nur ein paar Wörter. Wenn Schams auf die Straße läuft, fordern die Nachbarskinder sie manchmal zum Mitspielen auf. Sie reden auf Türkisch auf sie ein, aber für Schams ist das Spiel schnell zu Ende, weil sie nicht genug versteht. Sie läuft zurück, und meistens ist Gazale Salame dann beim

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Warum muss ich dafür büßen, was mein Vater getan hat, ich war damals ein Kind? Die Antwort: Nach Ansicht der Gerichte müssen sich Kinder bei ausländerrechtlichen Fragen die Handlungen ihrer Eltern vorwerfen lassen. Hätte Ihr Vater eine Bank überfallen, könnte man Sie nicht belangen. Wieso werde ich ausgewiesen, aber mein Vater darf mit meiner Mutter in Deutschland leben? Die Antwort: Weil dies dem Ermessen der Ausländerbehörde unterliegt. Ihr Vater und Ihre Mutter leben in der Nähe von Göttingen. Die dortigen Sachbearbeiter sind der Meinung, dass Ihren kranken Eltern eine Abschiebung nicht zuzumuten ist. Die Ausländerbehörde in Hildesheim ist in Ihrem Fall anderer Meinung. Warum darf der Staat eine Familie auseinanderreißen? Das Grundgesetz stellt die Familie unter besonderen Schutz. Das gilt jedoch nicht für Menschen, die keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis besitzen. Das waren die Antworten, die Gazale Salame damals bekam. Sie hat sie nie verstanden. Wir waren sechs Stunden in diesem Zimmer im Flughafen. Schams fing an zu schreien. Ich habe gerufen: Meine Tochter hat Hunger, holt mir was, Brot, Wasser, egal. Der Mann, der auch abgeschoben worden war, war im Zimmer neben mir. Als er hörte, wie ich gegen die Tür hämmerte, hat er einen Polizisten gerufen. Ich habe auf Deutsch gesagt: Meine Tochter hat Hunger. Der Mann übersetzte, aber der Polizist sagte, sie hätten nichts zu essen und dass wir erst entlassen würden, wenn unsere Papiere fertig wären. Dann schob er mich wieder in das Zimmer und sperrte ab.

Saubermachen. Eigentlich gibt es nicht viel sauber zu machen, sie haben nur zwei Zimmer und kaum Möbel, nur ein Sofa und einen Schrank und ein paar Matratzen, auf denen sie schlafen. Trotzdem macht sie dauernd sauber. Besser, die Gedanken kreisen um Brotkrümel als um die Zukunft der Kinder, besser, sie denkt an den Staub auf dem Teppich als an all diese Dinge, die sie nicht versteht. Noch immer nicht. Den Brief mit der Ausweisung in die Türkei bekam Gazale Salame im Oktober 2000. Bis zur Abschiebung vergingen vier Jahre und vier Monate. Jahre, in denen sie hoffte; und auf Gerichtsurteile wartete; und enttäuscht wurde, als die Gerichte zwar Recht sprachen, aber sie das Recht als Unrecht empfand. Jahre, in denen sie mit Ahmed zusammensaß und Fragen stellte. Ihr Anwalt hat sie beantwortet. Es war 1988, als mein Vater uns als Staatenlose ausgab, obwohl wir türkische Pässe hatten. Wieso kann ich noch zwölf Jahre danach dafür bestraft werden? Die Antwort des Anwalts: Das deutsche Ausländerrecht kennt keine Verjährung. Hätte Ihr Vater ein Fahrrad gestohlen, bliebe die Tat nach so langer Zeit folgenlos.

HILDESHEIM. Der Bulle riecht das Blut. Es klebt an der Wand, es tropft von den Tischen. Er stemmt die Beine in den Boden, aber der Boden ist gefliest, die Fliesen sind nass. Der Bulle rutscht, er senkt den Kopf, und jetzt ist Ahmed Siala über ihm, mit einem Stück Metall in der Hand. Es ist ein Bolzenschussgerät. Der Bolzen fährt dem Bullen in die Stirn, seine Beine knicken weg, Siala greift zum Messer und schneidet ihm die Kehle durch, ein einziger tiefer Schnitt. Er kann das, er macht es jeden Tag. Es ist ein kleiner Schlachtbetrieb auf einem alten Bauernhof. Siala ist der Geschäftsführer. Vor knapp einem Jahr hat er hier angefangen. Noch verdient er nicht viel, 1600 Euro im Monat. Davon ernährt er sich und seine Kinder in Deutschland und seine Frau und die zwei kleinen Kinder in der Türkei. Sie schlachten Bullen und Lämmer. Die meisten Kunden sind Muslime, Türken, Araber, Libanesen. Ein paar Deutsche sind auch dabei, es werden langsam mehr. Siala ist billig. Weil er selbst schlachtet, kann er das Kilo Rinderfilet zum halben Supermarktpreis verkaufen. Er sagt: „Man könnte hier richtig investieren, aber ich weiß ja nicht, wie es mit mir weitergeht.“ Ihn wollen sie auch abschieben. Im Oktober 2001 bekam auch Ahmed Siala einen Brief von der Ausländerbehörde, ein Jahr nach seiner Frau. Auch seine Aufenthaltserlaubnis wurde nicht verlängert. Auch er wurde ausgewiesen. Auch diesmal ging es um den Vorwurf, er sei Türke. Zwar waren Sialas Eltern direkt von Beirut nach Deutsch-

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In Deutschland hat Ahmed Siala Arbeit. Wovon sollte die Familie in der Türkei leben? land geflohen. Zwar hatten sie nicht den Umweg über die Türkei genommen und keine türkischen Pässe vorgelegt. Aber in Melderegistern in Südostanatolien waren die deutschen Behörden fündig geworden. Sie entdeckten die türkisierten Namen vieler Mhallami-Familien. Auch den der Sialas. Auch Ahmed Siala sollte auf einmal Önder heißen und das Land verlassen. Allerdings hat er vor Gericht recht bekommen. Am 21. Juni 2006 erklärte das Verwaltungsgericht die Ausweisung für nichtig. Zwei Monate lang dachte Siala, er hätte gewonnen, hoffte er, er würde wieder eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Dann hätte er ein Recht auf Familienzusammenführung. Seine Frau und die Kinder dürften zurück. Nach zwei Monaten wies der niedersächsische CDU-Innenminister Uwe Schünemann den Landkreis Hildesheim an, gegen das Urteil Berufung einzulegen. Schünemann, der kurz nach seinem Amtsantritt im März 2003 mehrere Verordnungen erlassen hatte, um Abschiebungen zu erleichtern, ist weiterhin der Meinung, Siala sei Türke und habe den deutschen Staat getäuscht. Er sagt, Siala könne mit seinen Kindern ja zu seiner Frau in die Türkei ziehen. Natürlich könne er das, sagt Siala. Aber wovon sollten sie dort leben? Er spricht kein Wort Türkisch, wie solle er in der Türkei, seiner vermeintlichen Heimat, einen Job finden, wie die Familie ernähren? Staatliche Unterstützung für Erwerbslose gibt es in der Türkei nicht. Am 27. September, findet die Berufungsverhandlung statt. Dann wird das Oberverwaltungsgericht darüber entscheiden, ob demnächst auch Ahmed Siala und seine Töchter abgeschoben werden. Oder ob er 22 Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis bekommt.

HILDESHEIM Eine deutsche Idylle: Nura und Amina auf ihrem Schulweg. Am 27. September entscheidet sich, ob auch sie das Land verlassen müssen

Endlich durften wir raus aus dem Zimmer. Schams ist ein paar Schritte weggelaufen. Der Polizist hat sie an der Kapuze gepackt und zu mir gezogen. Dann brachte er uns zum Ausgang des Flughafens. Ein Auto fuhr uns zur Polizeiwache. Meine Eltern haben einen Bekannten, der vor längerer Zeit in die Türkei abgeschoben worden war. Den hatten sie angerufen. Er kam zur Polizeiwache und sagte mir, dass er Leute in Izmir kennt, die eine Wohnung für mich haben. Am nächsten Tag bin ich mit meiner Tochter nach Izmir geflogen. IZMIR. Am Morgen legt sie sich das Tuch über die

Haare, so wie jeden Morgen. So wie auch in Deutschland während der letzten Jahre. Damals spürte sie den Stoff gerne auf dem Kopf. Sie wurde nicht mehr schwanger, viel zu lange. Sie betete zu Gott um ein weiteres Kind, sie versprach ihm, sie würde ein Kopftuch tragen, wenn er sie erhörte. Dann kam Schams auf die Welt, und 38/07 ZEITmagazin Leben 31

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Am Telefon streiten sie nur noch. Ihr Mann sagt: „Halte durch.“ Sie antwortet: „Ich kann nicht mehr“ sie legte das Tuch an, obwohl ihr Mann dagegen war. Wir leben in Deutschland, sagte Ahmed Siala, du musst kein Kopftuch tragen. Sie trug es trotzdem. Gerade, weil sie nicht musste. Jetzt widerstrebt es ihr. Das Tuch verbindet sie mit dieser Stadt, diesem Viertel, mit Gümüspala, wo alle Frauen ihre Haare verbergen. Sie sagt: „Wenn ich wieder in Deutschland bin, nehme ich es ab.“ Sie steht vor einem Schulgebäude und wartet. Vor dem Haus steht ein Marmorblock und darauf ein goldener Kopf, ohne Namen, weil jeder hier den Namen kennt: Mustafa Kemal Atatürk, der Gründer der Türkei, der Mann, der einst die Flucht der Mhallami in den Libanon auslöste. Gazale Salame steht ein paar Meter vor seinem Gesicht, in einer langen Schlange. Sie wartet darauf, ihre Stimme abzugeben. Es ist der 22. Juli, der Tag der Parlamentswahlen in der Türkei. Gazale Salame bekommt einen Stimmzettel und einen Stempel. Auf dem Zettel sind kleine Bilder, eine Glühbirne, ein Pferd, ein Halbmond – die Symbole der politischen Parteien der Türkei. Sie hat ein paar Leute gefragt, die mit ihr warteten: Wohin muss ich den Stempel machen? Sie weiß nicht, wer hier zur Wahl steht, ihr bedeutet es nichts, das türkische Parlament zu wählen. Sie ist gekommen, weil in der Türkei Wahlpflicht herrscht. Nimm die Glühbirne, sagten die Leute, also drückt sie den Stempel neben die Glühbirne. Es ist das Symbol der islamisch-konservativen Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan. Unten in Izmir wird er die Wahl verlieren, hier oben in Gümüspala wird er, wie im Rest des Landes, einen Sieg einfahren. HILDESHEIM. Ein lachender Afrikaner, eine Asiatin, eine Europäerin, ein Araber: vier fröhliche Gesichter auf einem Plakat in einem deutschen Büroflur. Auf dem Plakat steht: „You are welcome!“, und weiter: „Wir suchen Deutschlands freundlichste Ausländerbehörde: Nominieren Sie Ihren Favoriten.“ Draußen vor dem Verwaltungshaus des Landkreises Hildesheim steht Ahmed Siala. Er steht da mit ein paar Leuten vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat, einem Netzwerk von Flüchtlingsinitiativen. Sie haben Flugblätter mitgebracht, einen Pavillon aufgebaut und ein Transparent gespannt, darauf steht: „Für die Rückkehr Gazales, Bleiberecht für Flüchtlinge & Kinder“. Sie haben zur Mahnwache aufgerufen, aber außer zwei Journalisten von lokalen Blättern ist fast niemand gekommen, es regnet in Strömen. Wenn Siala den Kopf hebt, kann er von außen das Büro des Landrats sehen. Gleich wird er herauskommen, er hat es angekündigt.

Er hält sich daran: Reiner Wegner von der SPD, ein kleiner, schwerer Mann mit breitem Gesicht und grauem Vollbart. Als Gazale Salame abgeschoben wurde, war er Richter für Wirtschaftsstrafsachen. Seit November ist er Landrat, seitdem ist er zuständig für den Fall. Er tritt aus der Drehtür, hinaus in den Regen. Ein Mitarbeiter hält einen Schirm über ihn. Wegner geht zu der kleinen Gruppe unter dem Plastikdach. Er fängt so an: „Ich will Ihnen zur Klarstellung Folgendes sagen.“ Er spricht leise. Er vermeidet Wörter wie Mutter und Kinder und Familie. Stattdessen spricht er von Gesetzen und Gerichtsurteilen. Am Schluss sagt er. „Wir müssen die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts abwarten.“ Danach spricht der Geschäftsführer des Flüchtlingsrats. Er ist schlank und schmal, er spricht schnell, mit scharfer Stimme, von Kindern, denen die Mutter genommen wurde und von Selbstmordgefahr. Am Schluss sagt er: „Ich reagiere so emotional, weil mich die Sache berührt.“ Die Journalisten stellen ein paar Fragen, machen Fotos. Dann hebt Siala die Hand. „Darf ich auch etwas fragen?“ Er schaut den Landrat an, der nickt ihm zu. Er sagt: „Was haben wir eigentlich verbrochen?“ Einen Moment lang ist es still. Dann fängt der Landrat wieder zu sprechen an. Er redet jetzt nicht mehr von Gesetzen. Er sagt, der Landkreis habe gegen das Urteil zugunsten Sialas nur deshalb Berufung eingelegt, weil Innenminister Schünemann ihm das aufgetragen habe. Er sagt, die Mahnwache finde am falschen Ort statt. Der richtige Ort sei das Innenministerium. Er wirkt jetzt so, als sei ihm die Sache sehr unangenehm. IZMIR. Die Kinder schlafen, als sie zum Telefon greift. Es ist spät am Abend, Gazale Salame hat ihren Mann seit Tagen nicht mehr angerufen. Sie telefonieren nicht mehr oft, sie streiten ja nur. Er sagt: Halt durch, sie sagt: Ich kann nicht mehr; es ist jedes Mal dasselbe. Sie nimmt den Hörer. Sie tippt die 0049 für Deutschland, aber es ist nicht Ahmed Siala, den sie anruft. Es ist eine andere Nummer, eine Bekannte aus Hildesheim hat sie ihr besorgt, sie wählt sie zum ersten Mal. Sie hört das Freizeichen, ein Klicken, und einen Moment lang denkt sie, der Mann, der es in der Hand gehabt hätte, sie nach Deutschland zurückzulassen, sei jetzt am Telefon. Aber dann ist da nur eine Stimme vom Band. Die Stimme sagt: „Hier ist das Wahlkreisbüro von Uwe Schünemann.“ Gazale Salame wartet auf den Signalton, dann nennt sie ihren Namen. Sie sagt: Herr Schünemann, lassen Sie mich zu meinen Kindern zurück, warum bestrafen Sie so kleine Kinder. Herr Schünemann, ich will zu meiner Familie. Es ist nicht besonders überlegt, was sie sagt, die Sätze kommen einfach aus ihr heraus, so wie damals, an jenem Wintermorgen, als die Polizisten sie abholten. Am Schluss sagt sie: Herr Schünemann, hier ist meine Nummer, rufen Sie mich an, bitte. Sie spricht vierzehn Ziffern in den Hörer, dann legt sie auf. Das war vor zwei Monaten. Uwe Schünemann hat nicht angerufen.

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ICH HABE EINEN TRAUM

GEORGES MOUSTAKI ICH WÜRDE JEDEM RATEN, WENIGER ZU ARBEITEN. HÖCHSTENS ZWEI STUNDEN AM TAG

Georges Moustaki, 73, ist der Meister der leisen Töne im französischen Chanson. Geboren in Alexandria als Sohn jüdischgriechischer Eltern, ging er Anfang der fünfziger Jahre nach Paris, wo er bis heute lebt. Er freundete sich mit Edith Piaf an, für die er unter anderem „Milord“ schrieb. Die Großen des Chansons, wie Yves Montand und Juliette Gréco, sangen seine Lieder. Moustaki, bis heute ein begeisterter Motorradfahrer, gibt am 5. Oktober ein Konzert in München

AUFGEZEICHNET VON RALPH GEISENHANSLÜKE FOTO ALBRECHT KUNKEL Zu hören unter www.zeit.de/audio

Oft wenn ich träume, weiß ich nicht, ob es ein Traum ist oder die Realität. Ich mag die Grenze zwischen beidem nicht. Manchmal erwachte ich mitten in der Nacht, schrieb nieder, was ich geträumt hatte, oder nahm es auf und ging dann wieder schlafen. Wenn ich morgens aufstand, hatte ich schon vergessen, was ich geträumt hatte, so konnte ich mir die Aufnahme anhören wie etwas vollkommen Neues. Diese Lieder waren hinterher tatsächlich vorhanden. Sie verschwanden nicht mit den Träumen. Sie überschritten die Grenze. Das passierte mir vielleicht drei, vier Mal. Bei Les Mille Routes zum Beispiel. Dieses Lied entstand in den siebziger Jahren aus einem Traum. Das Bild der 1000 Straßen bedeutete, dass die Leute aus allen Himmelsrichtungen zusammenkamen, aber nicht im Gleichschritt marschierten, sondern jeder in seinem eigenen Rhythmus. Damals gab es eine ganz andere Philosophie, jeder kam und ging auf seine Art, in seinem Rhythmus. Es war ein Traum von Gemeinsamkeit und Brüderlichkeit. Dieser Traum lag damals in der Luft. Als ich in den fünfziger Jahren aus Ägypten nach Paris kam, veränderte sich mein Leben radikal. Ich war ein wohlbehütetes Kind, hatte gerade Abitur gemacht. Ich war noch unerfahren, naiv, aber ich hielt mich schon für einen Mann. Mein Vater akzeptierte, dass ich mit 17 Jahren mein Elternhaus verließ und mein eigenes Leben leben wollte. Allein. Ohne Vorgaben. Ich wollte meine eigene Richtung finden. Bis heute folge ich am liebsten einfach dem Lauf der Dinge, so wie sie vor mir erscheinen. Ich habe kein Programm, ich hatte schon damals keins. Ich weiß nicht, wie man entscheidet. Um nicht zu sagen: Ich hasse es, zu entscheiden. Meist lasse ich die Dinge einfach geschehen. Manchmal entscheide ich natürlich auch etwas. Im Restaurant muss ich auswählen. Aber im Leben, glaube ich, gibt es keine zwei Dinge, zwischen denen man sich entscheiden muss. Versuch, das eine Wahre zu finden. Jean-Paul Sartre hat gesagt: Die Entscheidung

ist ein Irrtum. Jede Wahl ist ein Irrtum. Er kam mir mit diesem Satz sehr nahe. Mein Bedürfnis nach Gleichheit war schon immer da. Ich habe ein brüderliches Verhältnis zu meinen Freunden, zu den Leuten aus der Nachbarschaft. Aber in den Siebzigern war es noch etwas ganz anderes. Wenn ich nach London reiste oder nach Kalifornien, in die Niederlande oder nach Indien, fühlte ich mich überall sofort angenommen. Männer und Frauen, die ich gar nicht kannte, umarmten mich. Es herrschte ein Hunger nach Zuneigung. Ich weiß nicht, ob dieses Bedürfnis heute noch so existiert. Ich kann es jedenfalls nicht fühlen. Ich glaube, die Welt ist zwanghafter geworden. Ängstlicher. Und dann ist da noch das Fernsehen. Früher gingen die Leute raus, um miteinander zu reden. Heute hören sie nur noch zu, aber sie sprechen nicht mehr. Sie werden selbst nicht mehr aktiv. Mit den Computern ist es das Gleiche. Früher kam ein Freund vorbei und spielte mir seine neuen Stücke auf dem Klavier vor, heute hat er schon alles allein in seinem Studio aufgenommen und drückt mir eine CD in die Hand. Selbst Leute, die denselben Beruf haben wie ich, sind oft nicht in der Lage, die Dinge einfach dann zu tun, wenn sie kommen. Ich möchte Vergnügen und echte Leidenschaft empfinden bei dem, was ich tue. Ich muss es niemandem recht machen. Ich brauche keinen Ruhm und kein Geld. Ich glaube, es gibt ein natürliches Recht auf Faulheit. Dabei liebe ich meine Arbeit. Selbst wenn ich 120 Jahre alt würde, könnte ich mit Freuden weiterarbeiten. Aber viele Leute arbeiten – zu ihrem eigenen Unglück – nur, um Geld zu verdienen. Ich würde jedem raten, weniger zu arbeiten. Wer weniger arbeitet, arbeitet besser. Wenn man mehr als zwei Stunden am Tag arbeitet, tut man es nicht mehr mit dem Vergnügen, dabei wirklich etwas von sich selbst zu geben. Es geht nicht darum, in der Hängematte zu liegen, sondern darum, zu leben und sich bewusst zu sein, was das Leben bedeutet. Es geht darum, dass man seine Zeit nicht verkauft, sondern nutzt.

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FOTOS MARC TRAUTMANN

Jetset a. D. Sie flogen uns in die Ferne, in den Urlaub, zu Begegnungen in aller Welt. Und irgendwann fliegen sie zu ihrem letzten Landeplatz. Ein Besuch in der kalifornischen Wüste, auf dem Flugzeugfriedhof Mojave Airport

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IKARUS AM BODEN

Am Ende des Traums vom Fliegen: Der Schriftsteller und ehemalige Pilot JOCHEN MISSFELDT über den letzten Landeplatz

Meine Träume vom Fliegen teile ich in zwei Kategorien, die ich mir gegensätzlicher nicht vorstellen kann. In der ersten fliege ich wie ein sibirischer Schamane. Ich selber bin das Flugzeug, und ich fliege in der Hocke durch die Luft. Meine Arme schlage ich wie der Vogel seine Flügel. Ohne jeden Kräfteverbrauch komme ich voran, vorwärts und rückwärts, hoch und runter. Nie bin ich aus der Puste, nie muss ich pausieren, immer geschieht alles mit Richtung und Sinn, immer fühle ich mich als Bezwinger und Meister. Nach dem Aufwachen spüre ich den Traum noch so deutlich, dass ich glaube, er sei die pure Wirklichkeit gewesen und jetzt, nach dem Aufwachen, könne ich fliegen wie im Traum. Die zweite Traumsorte verbietet mir das Fliegen, besser gesagt: Sie legt mir schwerwiegende Hindernisse in den Weg. Nie komme ich weg vom Boden. Mehr als Flugvorbereitung ist nicht drin. Die ist zudem voller Handicaps und Ungewissheit, Angst und Albdruck. Lange suche ich meine Fliegerhandschuhe, manchmal finde ich nur den einen, nie finde ich beide. Ich suche alles, ich finde nichts. Ich werde den Weg zum Flugzeug nicht schaffen, geschweige denn die Startzeit. Ich werde es nicht einmal schaffen, hinauszulaufen, um das Flugzeug in Augenschein zu nehmen. Ja, von fern werde ich es sehen, da liegt die Mühle als Wrack am Boden, riesengroß die Borduhr und die Tankuhr. Auf beiden ist schon alles zu spät, die Borduhr längst über die Startzeit hinaus, die Tankuhr steht auf null, also kein Sprit in der Mühle. Ich wache auf und weiß sehr schnell, warum ich so geträumt habe: Ich bin mit meiner Arbeit noch nicht über den Anfang hinaus, sie ist nur Bruchstück, sie will Bruchstück bleiben und als Wrack enden. Ich werde sie nie zu Ende bringen. Warum ist das so? Träume thematisieren und reproduzieren, was im Speicher ist, zum Beispiel die Angst vor dem Scheitern. Erwachen von den Träumen heißt landen in der Welt, die außerhalb der Träume liegt. Wirklich? Alles, auch das, was wir für die wirkliche Welt halten, sei nur eine gewaltige Aufführung in unserem Bewusstsein, sei ein über allem waltender XXL-Traum, aus dem keiner erwache. So sprechen einige kluge Menschen. Ich glaube ihnen nicht, fest und unter allen Umständen nicht, denn das, was ich als Wirklichkeit greife, unterscheidet sich zu grundlegend und zu abweisend von meiner Traumwelt. Der Mojave Airport ist ganz sicher kein Traum, ganz sicher auch kein Traum von einem Flugplatz. Er ist aber so etwas wie der Wirklichkeit gewordene Traum vom Scheitern und Gelingen. Immer wieder mache ich diese Erfahrung: Die Wirklichkeit übertrumpft Fantasien und Träume. Mojave Airport, irgendwo im Süden Kaliforniens, in der staubigen, trockenen Wüste. Der heiße Wind treibt Tumbleweed über harten Wüstenboden, quer über die Straße und an den Joshuabäumen vorbei. Aus der Luft sieht man sehr deutlich drei Startbahnen, sie bilden ein ungleichseitiges, spitzwinkliges Dreieck. Die Bahn mit den Start- und Landerichtungen 120° und 300° heißt „one two / three zero“ (12/30), sie ist die längste mit fast dreitausend Metern. Sie erinnert mich an die Bahn meines alten Flugplatzes Leck in Nordfriesland; auch sie war ausgerichtet auf 12/30. Dort starteten und landeten wir mit unserem

Aufklärungsdüsenjäger, dem Starfighter, später mit der Phantom. Es war einmal. Die Starfighter sind inzwischen verschrottet, die Phantoms wurden der türkischen Luftwaffe übergeben. Da fliegen sie immer noch. Heute stehen Geräte eines Flugabwehr-Raketen-Bataillons auf unserer alten Bahn, der Belag bröckelt, in den Rissen wachsen Gras und Kamille. Für jeden Flieger ein trauriger Anblick, ähnlich traurig sieht er die Flugzeuge und Flugzeugreste an, die auf dem Mojave Airport gelandet sind und einem ungewissen Schicksal entgegenwarten. Einstmals der Stolz einer Flotte, heute die Verstoßenen. Aus der Traum. Ohne Fahrwerk und Radarnase steht dort, hochgebockt auf hölzernen Eisenbahnschwellen, eine Boeing 727. Das abgefallene Heck eines unbekannten Flugzeugs liegt da einsam, verlassen und gründlich zerstört; aus dem Ding ist nichts mehr herauszuholen. Eine Lockheed Tristar, noch auf dem Originalfahrwerk, auf Rädern und mit luftgefüllten Reifen, wie geplündert oder wie kurz nach einem Terroranschlag, wirft Schatten auf den Wüstenboden. Hier ist Platz ohne Ende. Vorbereitete Betonflächen, wie sie typisch für Flugplätze sind, werden nicht benötigt. Der Wüstenboden ist hart und eben, günstiger Grund für den Abstellplatz. Das Wüstenklima ist heiß und trocken, ideal für diesen Ort. Hier rostet und rottet nichts, hier fällt nichts auseinander, es sei denn, man löst Schrauben, schneidet mit dem Trennschleifer oder mit dem Schweißbrenner. Für all das zahlt der Kunde. Je nach Größe sind für ein Flugzeug zwischen 250 und 500 Dollar Parkgebühren im Monat fällig. Im Jahr 1982 meldete die Braniff International Airways Bankrott an und stationierte ihre 62 Flugzeuge hier auf dem Mojave Airport. Nach dem Terroranschlag in New York waren Fluggesellschaften gezwungen, ihre neuen, noch nicht im Luftverkehr fliegenden Flugzeuge vorerst stillzulegen, sie wurden hier zwischengelagert. Dieser Jumbo da, wird er wieder vom Mojave Airport starten? Schrift und Firmenlogo, Luken und Schächte sind überklebt, Ritzen und Fugen mit Silikon staubdicht verschlossen. Das Flugzeug könnte demnächst wieder in die Luft gehen. Dann würde man das Silikon wieder entfernen, dann würde man die Klebestreifen abziehen, dann würde man den Namen der Fluggesellschaft lesen, dann wüsste man: Diese Firma fliegt im Aufwind. Für die Wirtschaft könnte man folgern: Viel freier Parkplatz heißt gute Nachricht, Parkplatz besetzt heißt schlechte Nachricht. Parkplatz besetzt kann allerdings auch eine gute Nachricht sein, wenn Fluggesellschaften ihre alten Muster mit einem vorerst letzten Flug nach Mojave aus dem Verkehr ziehen: Sie haben neue Flugzeuge gekauft, um ihre Flotte zu modernisieren. Ob der neue Dreamliner, die Boeing 787, die zu über fünfzig Prozent aus kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff (CFK) besteht, eine jahrelange Parkzeit in der Mojave-Wüste überstehen würde? Bekanntlich zerfällt ein Wassereimer oder eine Tüte aus Kunststoff durch den Einfluss der UV-Sonnenstrahlung langsam und sicher zu null und nichts. Der entsorgungsfreie Weg ist der schönste Weg der Entsorgung. Für Eimer und Tüte mag das gut sein. Aber den alten Ikarus so und nicht anders auf eine Reise ohne Wiederkehr zu schicken ist für den Flieger ein unerträglicher Gedanke.

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ATELIERBESUCH

JEFF KOONS Er ist der Guru der Pop-Art, pedantisch wacht er über seine 80 Assistenten. Seine neuen Helden sind Popeye und Hulk

VON TOBIAS TIMM FOTO ALBRECHT FUCHS

er Mann, den manche für einen Scharlatan halten und andere für den rechtmäßigen Nachfolger von Andy Warhol, malt nicht selbst. Dafür hat er 85 Angestellte. Knapp 40 arbeiten an den Gemälden, 30 andere modellieren die Skulpturen, die dann von zehn weiteren Spezialisten bemalt werden, fünf kümmern sich um die Büroarbeit. „Fast alle sind Künstler“, sagt Koons, „aber ihre eigene Kunst sollen sie außerhalb meines Ateliers machen.“ Er sagt das sehr sanft. Jeff Koons spricht so sedierend wie der Guru einer Meditationssekte. Ein Sektenführer, der durch seine inszenierte Ehe mit der Pornodarstellerin Ilona „Cicciolina“ Staller bekannt wurde, der die Pop-Art mit goldenen Michael-Jackson-Skulpturen auf die Spitze getrieben hat. Dem aber, in seinem kurzärmeligen Hemd und den grauen Turnschuhen, auch etwas Kleinbürgerliches anhaftet. Wenn man für Jeff Koons arbeiten will, muss man eine traditionelle akademische Ausbildung haben: „Die Assistenten müssen gut zeichnen können, figurativ und nicht abstrakt malen“, sagt der Chefkünstler. „Und dann muss ich ihnen beibringen, mit meinem Blick zu sehen.“ Seine Malhelfer scheint all das „Müssen“ nicht zu stören, die meisten bleiben länger, manche sind schon seit 17 Jahren dabei. Damals hatte Koons sein Atelier noch in Soho, vor etwa zehn Jahren hat er einen 1500 Quadratmeter großen 38/07 ZEITmagazin Leben 47

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Koons liebt Nachbildungen von aufblasbarem Spielzeug, hier ein ganz junges Werk: Monkey Train (Dots), 2007

JEFF KOONS hat trotz seiner 52 Jahre noch etwas von einem Jungen, der Reklame für Milchschnitten macht. Seitdem er als Jugendlicher Led Zeppelin gehört hat, glaubt er an die Kraft der Kunst. Mit seiner Frau und drei Söhnen lebt Koons in New York und auf der Farm seines Großvaters in Pennsylvania

Foto: Courtesy Gagosian Gallery / Jeff Koons 2007 „Monkey Train“

Stützpunkt im nordwestlichen Chelsea bezogen, am Rande des neuen Galerienviertels von New York, umgeben von Autowerkstätten und Lagerhallen in rotem Backstein. Koons hat seine Backsteinfassade weiß streichen lassen. Auch im Inneren ist alles weiß wie in einem Labor. Der Rundgang beginnt im geräumigen Büro, wo die Büroassistentinnen ohne Unterlass telefonieren und im Hintergrund ein überdimensionaler Drucker rattert. Hier arbeitet Koons an seinen Ideen, an den Vorlagen für seine Skulpturen und Gemälde. Zwei Mitarbeiter sitzen vor großen Bildschirmen und schieben die Versatzstücke für Collagen hin und her, Koons gibt Anweisungen für die Farbkorrektur. Dann wird die Vorlage ausgedruckt und kommt in die Malstube. In dieser Hunderte Quadratmeter großen weißen Halle hängen Gemälde in unterschiedlichen Stadien. Der Raum ist von einem lauten Geräusch erfüllt, ein schnelles, sattes „Pop, pop, pop“. Vier Assistenten hämmern mit runden Pinseln auf eine Leinwand ein. Sie arbeiten an der Grundierung eines Gemäldes. Die letzten dreieinhalb Jahre habe er mit Popeye und Hulk zugebracht, erzählt Koons. Entstanden sind 24 Gemälde, scheinbar chaotisch überlagern sich hier Mythenfiguren aus der Popkultur mit grell bunten Alltagsgegenständen und expressiv Gezeichnetem. Das sieht dann so aus: Im Vordergrund Popeye, dahinter Blumen und ein Gewirr von weißen Linien, zu denen sich von oben ein roter Gummihummer drängt. Vorne in der Malhalle sitzen ein Dutzend Mitarbeiter an verschmierten Tischen und mischen Farben an. Eine Frau bemüht sich gerade um ein bestimmtes Dunkelblau. Sie beugt sich tief über die Bildvorlage, vergleicht sie mit ihrem Farbmatsch, nimmt eine andere Blautube, spachtelt einen leicht helleren Farbton unter, vergleicht wieder. Rund tausend verschiedene Farbtöne wird es am Ende für das eine Bild aus der Popeye-Serie geben. Die Farben werden dann in Tuben gefüllt und mit Nummern beschriftet, die den einzelnen Farbfeldern auf dem Gemälde zugeordnet sind. Für jedes Gemälde gibt es eine eigene Landkarte mit vielen Ziffern, nach der sich

die Assistenten zu richten haben. „Alles basiert auf der Bildvorlage. Daran wird nichts geändert!“, sagt Koons. Er kontrolliert den Produktionsprozess von acht Uhr früh bis fünf Uhr nachmittags. Er will sicherstellen, dass seine Kunst so genau wie möglich ist: „Ich verspüre da eine fast schon moralische Verantwortung.“ Koons, den man für einen Schalk gehalten hat, ist also ein Pedant, der das große Malen nach Zahlen betreibt. Und das Modellieren nach Zahlen. Der Künstler führt den Besucher in die nächste Halle, seine Skulpturenabteilung. Dort schleifen die Helfer gerade an einem Delfin aus Aluminium herum, andere kümmern sich um einen Hummer und einen Hund – all diese Tiere sind aufblasbarem Gummispielzeug nachempfunden, mit dem Kinder im Freibad spielen. Koons hat sie vergrößern lassen und mit Accessoires ausgestattet: einer lang gezogenen Unterhose etwa oder ein paar Baumstämmen. Kurz überprüft er die Oberfläche einer Skulptur und führt dann in die nächste Halle. Die ist mit einer raffinierten Luftfilteranlage ausgestattet, damit die Skulpturen staubfrei lackiert werden können. Mitten im Raum hängt einsam eine aufblasbare Schildkröte in einem Maschendrahtzaun. „Wir versuchen, alles so genau wie möglich nachzumachen, auch die Plastiknähte und die Farbfehler auf dem Original. Es muss nur exakt die Gefühle transportieren, die ich kommunizieren will. Wie eine Rockband soll diese Skulptur für eine emotionale Erfahrung sorgen.“ Koons schaut auf das Gummispielzeug im Maschendraht: „Meistens geht es dabei um Sexualität.“ Warum gerade Schwimmspielzeug? „Sie symbolisieren Rettung und Erlösung. Sie können dich auf deinem Lebensweg beschützen.“ Koons kann ernst schauen und dabei lächeln. Das Letzte, was man von diesem gepflegten Mann wohl erwarten darf, ist ein unkontrolliertes Lachen. Auch wir Menschen seien Aufblasfiguren, sagt er jetzt und atmet tief ein. Andererseits seien wir das genaue Gegenteil. „In unserem Inneren herrscht Dichte, und außen ist viel Luft.“ Ist der Mann Dada? Oder doch gaga? Nein, sagt Koons, in seinen Arbeiten gehe es um das Wesentliche: „Nicht dass sie besonders analytisch wären, aber ich konzentriere mich auf meine Ideen und meine Interessen. Und wenn man das macht, dann wird man ziemlich metaphysisch und objektiv.“ Ermattet bittet er einen Assistenten um Wasser, die Performance ist vorbei. Noch eine Frage: Was hält er, der seine Kunst von Helfern machen lässt, von dem Konzept der Aura? „Ich“, sagt Koons und knipst noch einmal sein jungenhaft Lächeln an, „glaube an Charisma.“

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KUNST

MARKT WIESO ERZEUGT DER KUNSTMARKT SCHWELLENANGST?

Kunst für Einsteiger: Diesen echten ANDY WARHOL (1987 mit Keith Haring) hat das Auktionshaus Phillips de Pury auf 4 000 bis 6 000 Dollar geschätzt. Versteigert wird das Polaroid am 29. September in New York

Hampel Kunstauktionen München

verkündete. Die beiden Websites sind inzwischen verlinkt, außerdem kündigte Phillips an, „für die nächsten Jahre“ den freien Eintritt in Saatchis geplantes Museum für zeitgenössische Kunst zu finanzieren. Seitdem rätseln Marktbeobachter, was sich die beiden Partner von ihrer Zusammenarbeit versprechen. „Durch die interaktive Verlinkung unserer Websites schaffen wir eine Riesenplattform für zeitgenössische Kunst“, erklärt Michaela Neumeister, Senior Partner bei Phillips de Pury. Im Internet trauen sich mehr Leute in die Galerie, allein die Saatchi-Seite zählt angeblich mehr als 40 Millionen Klicks pro Tag. Simon de Pury wird noch deutlicher. „Wir wollen neue Käuferschichten erschließen.“ Schwellenangst ist gut fürs Geschäft. Keine auch. ULRICH CLEWING

38 000 € Dieser Caspar, einer der Drei Heiligen Könige aus dem Morgenland, ist aus Holz geschnitzt, aber lebensgroß. Am 21. September wird die Figur im Münchner Auktionshaus Hampel versteigert, die Taxe, der von den Experten geschätzte Preis, liegt bei 35 000 bis 38 000 Euro. Entstanden ist der Holz-Caspar um 1520 in Frankreich, die Zacken der Krone haben die Form von Lilien.

Fotos: Phillips de Pury & Company

„Come on in“, sagte der Mann zu dem jungen Paar, das zufällig vorbeikam, „there’ s lovely art on the left“. So nett wie vom Portier vor der Christie’s-Zentrale in London wird man selten begrüßt. Meistens wird man nämlich gar nicht begrüßt, wenn man Kunst beim Kunsthändler betrachten will. Und schon entsteht Schwellenangst. Es kostet ein wenig Überwindung, in einer Galerie eine Ausstellung zu besichtigen – weil sich der Eindruck aufdrängt, man sei irgendwie fehl am Platz. Weil in den weißen Räumen eine feierliche Stille herrscht und man selbst vielleicht kein Kunsthistoriker ist. Weil der Galerist und dessen Angestellte den Eindruck vermitteln, dass man sie bei der konzentrierten Arbeit stört. Und weil man nicht genug Geld hat, um sich die Kunst leisten zu können. Bei Auktionshäusern funktionieren diese Mechanismen noch ausgeprägter. Da man dort großen Wert auf Repräsentation legt, ist oft bereits der Eingang so Respekt heischend gestaltet, dass niemand auf den Gedanken käme, sich nur mal unverbindlich umzuschauen. Aus Sicht der Galerien und Auktionshäuser ergibt das durchaus Sinn. Zum einen spielt sogenannte Laufkundschaft für ihr Geschäft praktisch keine Rolle. Zum anderen profitieren sie davon, sich mit der Aura des Besonderen zu umgeben. Für viele ist die Vorstellung, durch den Erwerb eines Kunstwerks zu einem exklusiven Kreis zu gehören, ein zusätzlicher Kaufanreiz. Der Wunsch, sich gesellschaftlich von anderen abzuheben, ist schließlich so alt wie die Gesellschaft selbst. Doch in letzter Zeit mehren sich die Hinweise, dass dieser Mechanismus der Exklusion nicht immer als hilfreich empfunden wird. Auch Kleinvieh macht Mist, merken die Händler. Und neue Generationen von Sammlern wollen angesprochen werden. Ein Vorreiter ist dabei das Auktionshaus Phillips de Pury. Seit einiger Zeit bietet es unter dem Motto Saturday@ phillips Kunstwerke um die 1 000 Dollar an. Im Juli erregte Phillips-Chef Simon de Pury Aufsehen, als er die Kooperation mit der Galerie von Charles Saatchi 50 ZEITmagazin Leben 38/07

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IM

GRÜNEN BEREICH

Illustration: Rahel Arnold

SUSANNE WIBORG SCHÖPFT WIEDER HOFFNUNG FÜR DEN HERBST Schusseligkeit kann so lohnend sein. Neulich saß unter dem Kirschbaum ein winziger rotvioletter Schmetterling, den ich noch nie gesehen hatte. Behutsam schlich ich näher, um den zarten Falter nur nicht zu erschrecken, und er blieb auch reglos sitzen. Er hatte allerdings keine Wahl, denn er war kein Schmetterling. Die spitzen, filigran wirkenden Flügel gehörten einem Herbstalpenveilchen, der ersten Blüte von Cyclamen hederifolium. Die Knolle hatte ich zwar selbst gepflanzt, aber völlig vergessen. Glücklicherweise: Mit Überraschungseffekt war es sogar noch bezaubernder. Eigentlich hatte ich den Garten nach diesem Sommer schon abgeschrieben. Dass sich diesmal die Rosenzeit auf wenige Tage beschränkt hatte, nach denen Sturm und Dauerregen die ganze Pracht in etwas verwandelten, das an verweste Spüllappen erinnerte – na gut, Kismet. Kommt vor. Nur: Es ging so weiter, wochenlang. Die Nacktschnecken erreichten Rekordmaße, und die Erinnerung an das große Fressen der Megamollusken wird der norddeutschen Gärtnerschaft noch lange ein kollektives Aufstöhnen abnötigen. Ein klarer Fall von „Vergiss es und kauf Blumenzwiebeln“, wäre da nicht das Alpenveilchen gekommen. Ein winziges florales Prinzip Hoffnung. Ihm folgten, ähnlich unerwartet, die Herbstanemonen mit einer prachtvollen Blüte. Allen voran die königliche Honorine Jobert. Der deutsche Pflanzensammler Philipp Franz von Siebold, der auch Hortensien und Magnolien einführte, sah sie auf einer Japanreise, hielt sie für eine Einheimische und stellte sie 1835 unter dem Namen Anemone japonica in Europa vor, obwohl sie ursprünglich aus China stammt. Ihre älteste Hybridsorte ist die weiße Honorine Jobert, 1858 in einer französischen Gärtnerei gezogen und nach der Tochter des Inhabers getauft. Sie soll zum Wuchern neigen, aber meine dachte leider ebenso wenig daran wie ihre rosa blühende Verwandtschaft. Jetzt endlich weiß ich, wie sich Herbstanemonen den Sommer wünschen: am Rande der Sintflut. Honorine brachte es zu einem gut meterhohen üppigen Busch. Als sie die ersten Blüten öffnete, leuchtend in Weiß und Gold, war das einer der Momente, die alles verändern. Neben ihrer makellosen Noblesse kann ich nun wieder sehen, was ich in meinem Sommerfrust aus den Augen verloren hatte: dass etwa die Hagebutten sich rot färben, dass die Gehölze üppig dastehen wie selten. Kurz: dass noch nicht alles verloren ist und es ein schöner Herbst werden könnte. 38/07 ZEITmagazin Leben 53

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AUTOTEST

Platz für die Zahnbürste

TECHNISCHE DATEN MOTORBAUART: 4-Zylinder-Turbomotor LEISTUNG: 194 kW (264 PS) BESCHLEUNIGUNG (0–100 km/h): 5,7 s HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT: 229 km/h CO²-EMISSION: 218 g/km DURCHSCHNITTSVERBRAUCH: 9,2 Liter BASISPREIS: 32 180 Euro

Das erste Mal begegnete er mir an der Bushaltestelle. Schlank, schnittig und metallicblau stand er auf der anderen Straßenseite. Während wir Mädels aus der elften Klasse auf den Bus warteten, kam Udo angeschlurft, groß, schulterlange Locken – der Schwarm der Schule. Mit 18 kam bei uns auf dem Lande praktisch jeder mit dem Auto zum Unterricht. Udo würdigte uns nie eines Blickes. Vielleicht war er einfach zu schüchtern und längst nicht so cool wie sein Auto. Aber es genügte, dass er wortlos in seinen GT stieg und davonfuhr. Wir blickten ihm nach und dachten an die damalige Opel-Werbung: „Nur Fliegen ist schöner.“ Der Opel GT war schon damals ein historisches Modell, und eigentlich hatte er bestenfalls eine interessante Karosserie. Er wirkte wie ein Teenager mit Schlaghosen, der ein Rocker sein wollte, aber noch zu Hause mit dem Federballschläger Luftgitarre spielte. Unter der Haube tuckerten die gleichen 90 PS wie in Papis Ascona. Vielleicht wurde der GT gerade deshalb ein Popstar: weil er, wie auch die anderen europäischen Matchbox-Versionen großer böser USSportwagen, so schön normal wirkte. Er passte nicht nur in die Garage, sondern auch in einen kleinstädtischen Kosmos der Siebziger und Achtziger. Nur fünf Jahre lang, von 1968 bis 1973, wurde er gebaut. Anfangs belächelte man ihn als Corvette des kleinen Mannes. Doch dann wurde er nicht nur auf deutschen Straßen ein Renner, gut die Hälfte der über 100 000 Exemplare wurde in die USA, ins Mutterland der Corvette, exportiert. Bei GTI denkt heute jeder an den Golf und bei GT an Opel. Und über den hört man noch immer die alten Geschichten: welch kräftige Arme der Hebel erforderte, mit dem man die Glubschaugenschein-

werfer hochklappte. Wie das Gepäck zwischen den Sitzen nach hinten bugsiert werden musste. (Der GT hatte zwar einen Kofferraum, aber keinen Deckel.) Er war alles andere als ein Gran Turismo, also ein schneller, komfortabler Reisewagen für lange Strecken. Das gilt auch für den neuen GT. Er wird in Wilmington im US-Bundesstaat Delaware gebaut. Motor und Fahrwerk stammen aus dem Konzernbaukasten und sind weitgehend identisch mit anderen Modellen von General Motors. Eine gewisse Leidensbereitschaft ist auch heute noch Voraussetzung. Vergebens suche ich nach dem Knopf zum Öffnen des Verdecks. Ich muss es von Hand einklappen und dann den Kofferraumdeckel mit brachialer Gewalt zuknallen. Der verbleibende Platz reicht gerade noch für eine Zahnbürste. (Der neue GT hat zwar einen Deckel, aber praktisch keinen Kofferraum.) Schweigen wir von der profanen, knatschengen Innenausstattung, die jede amouröse Anwandlung unterbindet. Von der etwas knochigen Schaltung oder dem für kleinere Menschen wie mich praktisch unerreichbaren Hebel zum Verstellen der Sitze. Reden wir vom Spaß. Reden wir vom Sex. Den hat er. Ein Opel GT erregt im Alltag mehr Aufsehen als ein Porsche oder ein Mercedes SLK. Denn die stehen praktisch an jeder Ecke. Auch die Insassen von Saabund Volvo-Cabrios taxieren ihn heimlich in ihren Rückspiegeln. Bei jedem zweiten Einparken werde ich in Gespräche verwickelt. Ein Auto, dem auch in die Jahre gekommene Udos sehnsüchtig hinterherschauen. Mit dem GT kann man eigentlich nichts weiter tun, als herumzufahren. Ein Motorrad auf vier Rädern. Denn endlich hält auch das Triebwerk, was die Karosserie verspricht. Aber Fliegen ist immer noch schöner.

Foto: Julia Christe

MARGIT STOFFELS (ZEIT-Autotest-Koordinatorin) im OPEL GT

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Zillertaler Krapfen bestehen aus einem einfachen Nudelteig (Zutaten: Weizen- und Roggenmehl, Wasser und Salz), werden mit gekochten Kartoffeln, Tiroler Graukäs, Schnittlauch und Zwiebeln gefüllt und in Schmalz knusprig ausgebacken

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WOLFRAM SIEBECK

IN DEN BERGEN

Foto: Marius Wolfram

Porträtfoto: Mathias Bothor

STÖRENFRIEDE AUF DER ALM  UND EIN WIRTSHAUS, DAS MIT ALLEM VERSÖHNT

Was wissen wir Österreichtouristen über die hohen Regionen der Alpen? Dass die Tiroler lustig sind, singen wir seit Kindertagen. Dass sie aber auch Genießer sind, ist relativ neu. Früher hieß es immer, dass oberhalb der Baumgrenze keine bemerkenswerte Gastronomie existiere. Aber auch das hat sich im Laufe der Zeit als Halbwahrheit herausgestellt. Almen sind sogar so etwas wie ein verlorenes Paradies, weil dort oben, wohin man meistens nur über eine mautpflichtige Kurvenfahrt gelangt, der Stadtmensch endlich die natürliche Lebensweise findet, von der er träumt, seit er vernetzt, verkabelt und durchleuchtet wird wie ein vergrippter Schwan. Hoffnungsvoll richtet er sich in 1600 Meter Höhe in einer der komplett ausgestatteten Holzhütten ein. Umringt von einem Schutzgürtel aus Kuhfladen, sitzt er vor dieser Hütte im Abendsonnenschein und blickt versonnen auf nahe Nadelhölzer und ferne Gipfel, wobei er unweigerlich die Überlegung anstellt, ob er in dieser göttlichen Stille nicht besser lebt als in seinem Stadtschloss. Die Milch, mit der er seinen Tee vermischt, stammt von glücklichen Kühen, das Brot schmeckt herzhaft nach Anis, und die riesige Portion frisch gefangener Krebse, die ihm ein Almwirt gestern Abend auf den Tisch stellte, hatte zwar einen unangenehm muffigen Geschmack, aber wo sonst müht man sich so freundlich um den Gast? Tief atmet er die köstliche Höhenluft ein und findet sie würzig. Dass er für ein Stück Seife und die Tageszeitung über die mautpflichtige Straße hinunter ins Tal fahren muss, stört ihn erst nach drei Tagen. Als am vierten Tag die Idylle auf der Alm durch die Ankunft einer Großfamilie jäh gestört wird, welche als erste Handlung ein qualmendes Lagerfeuer vor ihrer Hütte entfacht, um Kartoffeln in der Folie zu backen, sehnt sich der Naturfreund wieder so nach

der Anonymität der Großstadt, dass er sein Auto belädt und das Paradies verlässt. Auf dem Weg dorthin landet er bald in Stumm im Zillertal vor dem Landgasthof Linde. Es ist ein Wirtshaus wie aus dem Reiseprospekt: uralt, ländlich, proper, einladend. Unterm Dach sitzt der Falke, im Keller lagern Fässer – wie sich ein Genießer halt ein Tiroler Wirtshaus vorstellt. Tatsächlich fehlen weder die hübschen Damen im Dirndl noch der schmucke Juniorchef. Der Vater steckt seine Nase in alles, was der Linde nützt, der Bruder treibt seine Kälber auf die Alm, damit an aromatischem Fleisch kein Mangel herrsche, Christina Ebster verwahrt den Kellerschlüssel, und ein Schwarm von dunkelhaarigen Schönheiten kümmert sich um die Gäste. Der Reisende bestellt ein Zimmer für die Nacht und die erste Flasche Wein in die Gaststube. Gibt es Schöneres, als in einem authentischen Tiroler Gasthaus in der holzgetäfelten Gaststube auf Holzbänken zu sitzen und einen Sauvignon blanc aus der Steiermark zu trinken? Ja, das gibt es. Es ist ein Abendessen in der Linde, von Hannes Ebster zubereitet. Ein außergewöhnliches Essen, obwohl hier keine Kochkunst angestrebt wird und Speisekarten in anderen Häusern auch nicht weniger versprechen. Es sind die Liebe zu den regionalen Produkten und die Originalität, mit der sie hier zubereitet werden. Nicht allein die Feinheit der Zillertaler Krapfen und die des Tiroler Lamms mit der Bärlauchkruste. Die Ofenleber macht das Rennen, die aus gehacktem (nicht durchgedrehtem!) Fleisch besteht, welches sich aus allen Teilen des Kalbs zusammensetzt. Also Klops? Nein, sondern etwas Außergewöhnliches, die authentische Ofenleber à la Zillertal. In Stumm verschlägt sie einem die Sprache. LANDGASTHOF LINDE, Dorf 2, A-6272 Stumm, Tel. 0043-5283/22 77, www.landgasthof-linde.at

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So weit wie möglich geradeaus, dann links, den nächsten beiden Linksbiegungen folgen, wieder links, an der Abzweigung geradeaus, dem Rechtsknick folgen, vor dem Ziel rechts, an den nächsten beiden Kreuzungen geradeaus, dann links, dem Linksknick folgen, rechts abbiegen, den beiden Linksbiegungen folgen und nach rechts ins Ziel

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WAAGERECHT: A Quadratzahl D Quadratzahl G Eine Primzahl H I waa-

gerecht minus den Rückwert P O M N von G waagerecht I L senkR S Q recht minus B senkrecht miT U nus E senkrecht J Ein Vielfaches von L waagerecht L Quersumme von U waagerecht M Quadratzahl O Vielfaches des Rückwerts von I waagerecht Q C senkrecht plus A senkrecht S Primzahl T Quadratzahl U Quadratzahl SENKRECHT: A Der Rückwert ist Vielfaches vom Rückwert von I waagerecht B Der Rückwert ist ungerade C Palindrom D Quadrat einer ungeraden Zahl E Primzahl F Der Rückwert ist eine Quadratzahl K Vielfaches der Quersumme von R senkrecht L M waagerecht plus Rückwert von B senkrecht N P senkrecht plus O waagerecht P Palindrom Q Primzahl R Palindrom ZWEISTEIN

SUDOKU Füllen Sie die leeren Felder des Quadrates so aus, dass in jeder Zeile, in jeder Spalte und in jedem mit stärkeren Linien gekennzeichneten 3 x 3-Kasten alle Zahlen von 1 bis 9 stehen. Noch mehr solcher Rätsel finden Sie im Internet unter www.zeit.de/sudoku

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UM DIE ECKE GEDACHT NR. 1876 1 7

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WAAGERECHT: 6 BERUEHRUNG 9 F. Raimund: Das Schicksal setzt den HOBEL an und hobelt alle gleich“ 13 „BEGOSSEN“ = mit Getränk gefeiert 16 MELANESIEN aus E-l-i-S-e-e-m-a-n-n 19 GITTER 20 OPTIMISTEN 21 SHOW 23 STAATSMANN 26 LESE in Nepa-lese 27 POTENTATEN 28 ITEM in Ze-item-pfinden 29 ENTLEGEN 33 NESTELN 36 ZUBILLIGEN 38 Eos’ Morgen-ROETE 40 STRUDEL 41 „Rot wie RUBIN …“ in „La Paloma ade“ 42 HIEVEN 43 GEREGELT 44 ENERGIEN SENKRECHT: 1 REGISSEURE 2 OESE 3 KUMPANE 4 EGLI = Barsch, in N-egli-gee 5 KLIENT 6 BEGRENZT 7 ROTHENBURG 8 HERSTELLEN 9 HAMSTERN 10 BESAN 11 EST für Estland 12 SENTENZEN 14 STOP 15 NOTE 17 „L’état, c’est moi“ (Louis XIV.) und der ETAT 18 aus NIMES der Jeansstoff Denim (von serge de Nîmes) 22 WOLLE 24 TANNIN 25 NIETE 30 TIDE 31 GIRL 32 NEBEL (Th. Storm, „Die Stadt“) 34 TEIG 35 LEVEL 37 GUT 39 OHR

WAAGERECHT: 7 Ausgesprochene Unzufriedenheiten – oder Ursache von Fragen an Arzt oder Apotheker 12 Geht auch vorbei, führt Strom herbei 14 Eine Technik im Vermehrfach: Wie kommt der arbeitende Mensch zu einer Prise Erholung? 17 „Es kommt, wie es kommen muss“ ist die … aller Faulpelze (Wilhelm Raabe) 20 Weit und öde: Kurzmeldung von Sichtung bunten Vogels? 21 Nicht das

SENKRECHT: 1 Hauptbeschäftigung des Verlegers, Alltagstätigkeit des Kassierers 2 Notfalls wird’s ein mancher Neider, findet keinen Grund zum Neid er, leider 3 Für ihn ist Befehlshaber Befehlsgehabthaber 4 Kaiserreichlicher Kassenfüller 5 Der Riesenohrenigel der Flora 6 Was uns drauf bringen könnte: Unmut en gros 7 Vorsitzender für viele Bewegte 8 Leicht gelöst: durch Ziehen 9 Kommt,

Buckelige – die Langgestreckte im Mindoro-Mindanao-Miteinander 23 Die wusste stets, was Los war, glaubte man als 44 waagerecht 24 Die fließende Verbindungslinie von dort nach Kassel 25 Kleinste Sprünge schon wären Fehltritte, trainiert er sich drum besser ab 26 Wahre … fängt an, wo der Gebrauch der Worte aufhört (Albert Schweitzer über die stillschweigenden Gesetze) 27 Das Drumherum für den Blütezeitabschnitt nach Abschnitt 28 Gilt als Glücksbringer auf der botenstofflichen Ebene 30 Nicht-bloß-Grünschnäbel auf fernsten Eilanden 31 Überragender Verwandter von Vetter Klee und Cousine Lupine 33 Legt manch einen Weg zurück, z. B. zwischen Genua und Antigua, dem Service zuliebe 37 Bei manchem Segler Schubkraftregler 38 Sprichwörtlich: Geloben ist …, Wort halten beschwerlich 39 Macht gehörnig Eindruck, als Prachtschrauber gewissermaßen 40 Ironie heißt fast immer, aus einer Not eine … machen (Thomas Mann) 42 In Englandeslisten traditioneller Vornamen andererseits kein unbekannter 43 Man darf drauf hoffen, hat man rechten Ton getroffen 44 War – so ist anzunehmen – klüger, wenn er von 29 senkrecht kam

anders als die 13 senkrecht, vollständig zu ihrem Recht im Rätsel? 10 Kopfloser Geistesblitz, versüßt die North Sea 11 Enthalten in den genauen Bahnstreckenplänen auf Berlin-Hamburg-Route 13 Ziemlich unpassender Standort fürs Lokal „Zur guten Aussicht“ 15 Lautmalerei in Regengrau 16 Kellereinennung wäre dabei erst die halbe Quellenangabe 18 Sagt man dem Fledermaus-Strauß nach 19 Abfällige Diagnose zu Kultur auf dem absteigendem Ast 22 Da gibt’s schon noch deutlich mehr Kettenanhänger/innen als Leute, die sich damit zieren 29 Was Prinz Charles zur Sache sagt 32 Zwei Artikel in britischer Verwendung – ein Name hellenischer Herkunft 34 Ziert sichelig eine jede Ägäiskarte 35 Wo die wächst, ist Kragenplatzangst nicht ganz fehl am Platze 36 Fehlt es an Wind, so greife zum …! (Sprichwort von der Waterkant) 39 Als girl’s name durchaus Possible 41 Zehenspitzengeher als Kopfsteher in der Fragestellung In diesen Tagen erscheint: Eckstein, „Um die Ecke gedacht“, Band 14, 66 Kreuzworträtsel aus der ZEIT, Heyne-Taschenbuch, 152 Seiten, 7,95 Euro Und demnächst: Eckstein, „Um die Ecke gedacht“, Band 15, 66 Kreuzworträtsel aus der ZEIT, Scherz-Verlag, 152 Seiten, 15 Euro

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LASSEN SIE UNS

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LEBENSGESCHICHTE

SCHACH 8 7 6 5 4 3 2 1 a

LÖSUNG AUS NR. 37: Scheinbar droht dem schwarzen König keine Gefahr. Jedoch hätte Weiß mit dem Läuferopfer 1.Le5+! seinem Turm den Weg nach b3 ebnen können. Ob Schwarz den Läufer mit Dame, Turm oder Springer schlägt (falls 1…Ka7, so 2.Txf7+), immer gewinnt 2.Tb3+ mit folgendem Matt auf b7 augenblicklich oder beim sinnlosen Dazwischensetzen mit 2…Lb4 3.Txb4+ Tb5 4.Txb5+ Dxb5 5.Dxb5+ Haus und Hof

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Ich fahre seit gut zwei Jahren bei Tag und bei Nacht mit Licht am Fahrrad. Mein Mechaniker erklärte mir, das Dynamogelenk sei gebrochen, ich müsse mich entscheiden: entweder immer an oder aus! Wie im Schach: Königsangriff oder -verteidigung. Tertium non datur. Möge mir nun keiner mit einem neuen Dynamo oder Partien mit einem Sturm am Damenflügel kommen, bei dem die Könige völlig in den Hintergrund treten. (Das tun sie zwar ohnehin in den meisten Fällen, aber das ist ein anderes Kapitel.) Anfangs machten mich noch etliche auf das Licht am helllichten Tag aufmerksam, inzwischen scheinen sich alle daran gewöhnt zu haben. Ich frage mich, wie es sein wird, wenn ich in einer fernen Zukunft wieder ohne Licht tagsüber fahre. Vermutlich wird man mich besorgt fragen: »Stimmt etwas nicht bei Ihnen? Sie fahren ohne Licht!« Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. An immer das Gleiche gewöhnt man sich gern, das ist verlässlich, das gibt Sicherheit. Bei den Spaziergängen Kants zur immergleichen Zeit konnte man die Uhr nach ihm stellen, fast so bei den regelmäßigen Ausflügen von René Magritte ins Brüsseler Café Greenwich, wo er Schach spielte. Als er einmal dem Schachmeister Devos als Dank für viele gemeinsame Partien anbot, sein Porträt zu malen, lehnte dieser gleichmütig ab: Vermutlich könne er nicht besser malen als Schach spielen. Diesen Verdacht hätte man auch beim Armenier Levon Aronjan, der seit heute mit Kramnik, Anand & Co. in Mexiko um den WM-Titel kämpft, hegen können, als er beim Schnellschachturnier in Monaco zuletzt den „Normalzug“ in solch einer Stellung c2–c4 gemacht hatte, worauf sein aserbajdschanischer Gegner Teimur Radjabov als Schwarzer flugs eine Figur und die Partie gewann. Wie kam’s? HELMUT PFLEGER

Ihre spätere Lebensaufgabe wurde ihr quasi in die Wiege gelegt. Sieben Säuglinge hatten vor ihr darin geschlafen, von denen fünf das Kindesalter nicht überlebt hatten – eine traurige Bürde, die auf der Familie lastete. Dazu kamen Existenzsorgen, bis der Vater, ein Zimmermann, beschloss, von Ost nach West auszuwandern. Da war sie acht Jahre alt und konnte noch nicht wissen, dass dies ihr Thema werden sollte: die Suche nach Heimat und einem Ort, an dem man bleiben und „mit der Einkaufstasche in der Hand von Laden zu Laden gehen kann“. Denn solche alltäglichen Dinge wurden ihr und den Menschen, denen sie sich zugehörig fühlte, immer wieder verwehrt. Ein geschichtliches Erbe, dessen innere und äußere Auswirkungen sie einmal so beschrieb: „Wir können nicht vor uns selbst davonlaufen. Sie finden uns, wohin immer wir rennen.“ Also versuchte sie gar nicht erst zu flüchten, sondern wurde zur Kämpferin in eigener Sache. Mut und Willenskraft galten bald als ihre Stärken; eine gewisse Starrköpfigkeit als Manko, das sie selbst so verteidigte: „Ich gehe unbeirrt meinen Weg und akzeptiere die Tatsachen.“ Sie ergänzte: „Ja, man muss Kompromisse schließen. Aber die richtigen Kompromisse. Man darf den Glauben an seine Grundsätze nicht verlieren, selbst wenn man sich manchmal aus verschiedenen Gründen nicht ganz an sie hält.“ Gesagt, getan. Oder, um es genau zu nehmen, oft mehr getan als nur gesagt, frei nach ihrem Credo: „Ich will mein Bestes tun und alles, was in meiner Kraft steht.“ Einiges davon ist unvergessen. Zum Beispiel versuchte sie eine blutige Fehde zu verhindern, indem sie sich im Schutz der Nacht und zudem verkleidet ins gegnerische Lager begab, um geheim zu verhandeln. Solche Chuzpe beeindruckte Freund und Feind, wenn auch die Aktion – mit einem passenden Bild gesprochen – im Sand verlief. Mehr Erfolg hatte sie danach mit großen sozialen Pionierprojekten. Wer so beseelt ist von seiner Mission, nimmt es vermutlich in Kauf, dass das Privatleben oft zu kurz kommt. Mit 19 Jahren hatte sie bereits geheiratet und brachte schnell zwei Kinder zur Welt. Um die Kleinen versorgen zu können, schlug sie sich notfalls auch als Wäscherin durch, wenn es grad keinen besseren Job gab wie Lehrerin oder Bibliothekarin. 28 Jahre hielt die Ehe immerhin den beruflich bedingten Trennungsphasen stand, dann war endgültig Schluss. Sechs Jahre später – und damit lange vor ihr – starb ihr Mann. Die erwachsene Tochter zog es in ein Leben in Gemeinschaft; der Sohn machte Karriere im Musikbusiness. Und sie? Widmete sich fortan vollends ihrer Aufgabe, ihrer Vision. In einem Alter, in dem andere Frauen den Enkeln Märchen vorlesen und zum Kaffeekränzchen gehen, gelang ihr der Sprung nach ganz oben. Anfangs war das nicht ihre Absicht, doch als die Wahl auf sie fiel, nahm sie gewissenhaft an. Beobachter berichteten zwar, sie wirke krank und müde; doch der Eindruck verflog, sobald sie ein Rednerpult betrat. Das Reden war ihr vielleicht größtes Talent, schon als 16-Jährige hatte sie es, auf einer Seifenkiste stehend, geübt. Nie sprach sie in vorformulierten Floskeln, sondern aus dem Stegreif und aus innerer Überzeugung. Gern zitierte sie ihre älteste Schwester: „Die Hauptsache ist, dass man sich nie aufregt; bleibe immer ruhig und kühl!“ Und sie verriet: „Diesen Ratschlag erhielt ich, als ich von zu Hause fortlief. Ich wende ihn nun an, um zu Hause bleiben zu können.“ Wer war’s? FRAUKE DÖHRING LÖSUNG AUS NR. 37: Johann Amos Comenius (Jan Komenský) wurde 1592 in Nivnice, Tschechien, geboren. Der Lehrer, Schulreformer und Philosoph war Priester der Böhmischen Brüderunität und wurde 1648 zu deren Bischof gewählt. Comenius gilt als Vater der modernen Pädagogik, sein Hauptwerk sah er jedoch in einer allgemeinen Wissenslehre, der „Pansophie“. 1670 starb er in Amsterdam. Der zitierte Philosoph ist Gottfried Wilhelm Leibniz

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SCRABBLE Impressum REDAKTIONSLEITER Christoph Amend STELLVERTR. REDAKTIONSLEITER Jürgen von Rutenberg (Textchef) ARTDIREKTORIN Katja Kollmann REDAKTION Jörg Burger, Heike Faller, Dr. Wolfgang Lechner (besondere Aufgaben), Christine Meffert, Ilka Piepgras, Tillmann Prüfer (Stil), Dr. Adam Soboczynski, Tanja Stelzer, Matthias Stolz, Henning Sußebach FOTOREDAKTION Michael Biedowicz (verantwortlich), Usho Enzinger GESTALTUNG Nina Bengtson, Jasmin Müller-Stoy MITARBEIT Moritz Müller-Wirth und Dr. Christof Siemes (Sport), Carolin Ströbele (Online), Tobias Timm, Annabel Wahba AUTOREN Anita Blasberg, Marian Blasberg, Carolin Emcke, Matthias Kalle, Harald Martenstein, Wolfram Siebeck, Jana Simon PRODUKTIONSASSISTENZ Margit Stoffels KORREKTORAT Mechthild Warmbier (verantwortlich) DOKUMENTATION Uta Wagner (verantwortlich) HERSTELLUNG Wolfgang Wagener (verantwortlich), Oliver Nagel, Frank Siemienski DRUCK Broschek Tiefdruck GmbH REPRO Twentyfour Seven Digital Pre Press Services GmbH ANZEIGEN DIE ZEIT, Matthias Weidling EMPFEHLUNGSANZEIGEN GWP media-marketing, Axel Kuhlmann ANZEIGENPREISE ZEITmagazin LEBEN, Preisliste vom 1. 5. 2007 Anschrift Verlag Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg; Tel.: 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11; E-Mail: [email protected] ANSCHRIFT REDAKTION ZEITmagazin LEBEN, Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin; Tel.: 030/59 00 48-7, Fax: 030/59 00 00 39; www.zeitmagazin.de, E-Mail: [email protected]

Foto: Rick Guest

In rund sechs Wochen ist es wieder so weit: Das Scrabble-Turnier der ZEIT, das traditionsreichste und teilnehmerstärkste im deutschen Sprachraum, geht in die neunte Auflage. Ein Gutteil der Mitspieler verfügt bereits über – zumeist mehrjährige – Turniererfah-

rung, allen voran natürlich die ehemaligen Titelträgerinnen und -träger. Insider sind gespannt, ob sich Blanca Gröbli-Canonica, die Siegerin der letzten beiden Veranstaltungen, erneut wird durchsetzen können. Chancen auf die (inoffizielle) Krone jedoch haben alle Spieler, auch die Wochengewinner aus dem Scrabble-Sommer. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass es ein Erstteilnehmer durchaus auf den Olymp schaffen kann. Ein wahrhaft meisterlicher Zug ist auch in der heutigen Aufgabe gefragt, schließlich lockt ein dreistelliges Honorar. SEBASTIAN HERZOG

IN DER NÄCHSTEN

AUSGABE

COMEBACK DER COUTURE

LÖSUNG AUS NR. 37: Gleich zwei Möglichkeiten führten zum Ziel. Jeweils 82 Punkte gab es für VADOSEN (13A – 13I) und SODALEN (13G – 13M). Jedes dieser Worte brachte 18 Punkte zzgl. 14 Punkten für EXTRAS und 50 Bonuspunkten. – Es gelten nur Wörter, die im Duden, „Die deutsche Rechtschreibung“, 24. Auflage, verzeichnet sind, sowie deren Beugungsformen. Scrabble-Regeln unter www.scrabble.de

Wie es Frankreichs Traditionshäuser geschafft haben, weltweit wieder führend zu sein, warum ein Amerikaner den Anzug neu erfindet und die schönsten Entwürfe für den Herbst: Ein Heft über die Mode

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AUF EINE ZIGARETTE MIT

HELMUT SCHMIDT

Lieber Herr Schmidt, wie viel Zeit müssen Menschen wie Sie bei Staatsbanketten und anderen offiziellen Essen verbringen?

Natürlich, wenn man selbst Gastgeber ist. Wenn Sie aber der Gast sind, dann können Sie gar nichts bestimmen, dann sind Sie ausgeliefert.

Kein Mensch muss das müssen, außer Politikern und hohen Beamten.

Wie mächtig sind denn Protokollchefs?

Sind die deswegen zu bedauern?

Nicht unbedingt. Ich will mal vorwegsagen: In meinen Augen ist Essen überhaupt nicht so wichtig. Ich bin mit Labskaus zufrieden. Oder mit Erbsensuppe. Aber auf Speck gekocht.

Ja. Offizielle Essen – das ist ein zu allgemein gefasster Begriff. Geht es um den Präsidenten eines Oberlandesgerichts oder einen Bürgermeister, der den 60. Geburtstag feiert, dann gibt es ein großes

„DAS ESSEN IST MIR EGAL. ABER NICHT, WER ZUM ESSEN EINGELADEN WIRD“ Essen mit vielen Leuten. Etwas ganz anderes ist es, wenn zum Beispiel ein armer Außenminister jede Woche an einem offiziellen Essen wegen des Besuchs eines ausländischen Amtskollegen teilnehmen muss. Das muss furchtbar sein!

Das kommt drauf an. Wenn die sich mit sechs Leuten an einen Tisch setzen, dann ist das offizielle Essen praktisch ein privates, dann macht es auch Sinn. Weil man inhaltlich reden kann.

Ja. Wenn es mehr sind, kommt es darauf an, wer Ihre Tischnachbarn sind. Und wenn man nur auf dem linken Ohr hören kann, so wie ich, ist es besonders wichtig, wer der linke Tischnachbar ist. Sonst kann das zur Tortur werden, Zeitverschwendung. Konnten Sie selbst aussuchen, neben wem Sie sitzen wollten?

Sie sind notwendig. Es gibt aber Protokollchefs, die sind größenwahnsinnig. Die muss man ablösen. Worin zeigt sich der Größenwahn?

Die wollen nicht nur die Tischordnung bestimmen, sondern auch das Essen und welcher Wein getrunken werden soll. Der Wein ist mir egal, das Essen ist mir auch egal. Aber mir ist nicht egal, wer zum Essen eingeladen wird. Haben Sie Wert darauf gelegt, dass bei diesen Banketten Ihre Frau dabei war?

Wenn ein Gast mit seiner Ehefrau anreist, dann ist es selbstverständlich, dass die Ehefrau des Gastgebers auch am Tisch sitzt. Sonst habe ich meine Frau zu diesen Essen nicht eingeladen. Daraus schließe ich, dass sich Ihre Frau auch nicht gerade darum gerissen hat.

Stimmt. Sie hatte ihre eigene Agenda. Sie war genauso wenig an feierlichen Essen interessiert wie ich. Und genauso wenig war sie interessiert an unvermeidlichen Begegnungen mit ausländischen Potentaten. Gab es denn ein Bankett, von dem Sie sagen würden: Das hatte historische Bedeutung?

Es gab einmal ein Essen in London, dem war ein Vortrag vorangegangen, den ich gehalten hatte; wir waren etwa zwölf Leute. Und dann habe ich Tacheles geredet, das hat Wellen geschlagen, sollte es auch. Das hat dazu geführt, dass später der berühmte oder berüchtigte Nato-Doppelbeschluss zustande kam. Und was war Ihr schlimmstes Essen?

Ein Essen in Harvard. Ich saß als einziger Ausländer an einem Abendbrottisch mit sechs oder sieben Männern, darunter zwei Nobelpreisträger. Die haben sich nur darüber unterhalten, wie sie am besten ihr Geld anlegen. Es war schrecklich, ich werde das nicht vergessen.

Foto: Uwe Aufderheide / Agentur Focus

DAS GESPRÄCH FÜHRTE GIOVANNI DI LORENZO

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