Der Wolfsmann Aus der Geschichte einer infantilen Neurose (1918)

August 27, 2016 | Author: Gerburg Becke | Category: N/A
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Der Wolfsmann – Aus der Geschichte einer infantilen Neurose (1918) Carl Nedelmann Hamburg, 16. Nov. 2006

I Die Behandlung des „Wolfsmanns“ – wie schon die Behandlung des „Rattenmanns“ – war an den später publizierten Ratschlägen zur psychoanalytischen Technik orientiert, an der Grundregel des freien Einfalls, an der gleichschwebenden Aufmerksamkeit und an der Abstinenz. Insoweit befinden wir uns mit unserem heutigen Verständnis auf vergleichbarem Boden. Unter dem Aspekt von Begriffsbildungen ist die eine Behandlungsgeschichte die Fortsetzung der anderen (s. Nedelmann, 1996). Es sind drei Begriffe, die in diesen Geschichten besondere Rollen spielen: – Zum einen die „Allmacht der Gedanken“. Der Begriff stammt vom Rattenmann. Freud hat ihn übernommen. – Zum zweiten der „Ambivalenzkonflikt“. Er bestimmt den „Rattenmann“. Es ist die Geschichte von Liebe und Haß, gerichtet vom Sohn auf den Vater. – Zum dritten der „negative Ödipuskomplex“. Er bestimmt unter derselben Konstellation den „Wolfsmann“. Freud hat auf den Vater hin konstruiert. Das zeigte sich schon in seiner Betrachtung der Objektbeziehungen von Ödipus und Hamlet. Klinisch wurde es besonders deutlich in der Geschichte vom „Kleinen Hans“ (1909b). In der Entwicklung seiner Phobie hatte die Beziehung zur Mutter erheblichen Anteil,

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aber Freud hat die Konflikte in Konflikte mit dem Vater verwandelt, damit die Beziehung zur Mutter entlastet und die Möglichkeit zur positiv ödipalen Auseinandersetzung mit dem Vater geschaffen (s. Loch, Jappe, 1974). In den Geschichten vom „Rattenmann“ (1909d) und vom „Wolfsmann“ (1918b) finden wir dieselben Verhältnisse. Darin spielt die „Herrschaft eines unbewußten Schuldgefühls“, die dem Vater gilt, eine Hauptrolle. „Es ist“, schrieb er 20 Jahre später im „Unbehagen in der Kultur“, „wirklich nicht entscheidend, ob man den Vater getötet oder sich der Tat enthalten hat, man muß sich in beiden Fällen schuldig finden, denn das Schuldgefühl ist der Ausdruck des Ambivalenzkonfliktes, des ewigen Kampfes zwischen dem Eros und dem Destruktions- oder Todestrieb“ (1930a, S. 492).

II Die Behandlung des Wolfsmanns begann im im Februar 1910 und fand ihren Abschluß im Juni 1914. Die Krankengeschichte, schrieb Freud, „ist kurz nach Abschluß der Behandlung ... niedergeschrieben worden unter dem damals frischen Eindruck der Umdeutungen, welche C. G. Jung und Alf. Adler an den psychoanalytischen Ergebnissen vornehmen wollten. Sie knüpft also an den im ‘Jahrbuch der Psychoanalyse‘ ... veröffentlichten Aufsatz ‚Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung’ an und ergänzt die dort enthaltene, im wesentlichen persönliche Polemik durch objektive Würdigung des analytischen Materials“ (S. 291). Adler hatte sich 1911, Jung 1913 von der Psychoanalyse getrennt. Der Grund waren Modifikationen an der Libido-Theorie und an der Neurosen-Ätiologie. Die beiden Kollegen, schrieb Freud, hatten „aus der Symphonie des Weltgeschehens ein paar kulturelle Obertöne herausgehört und die urgewaltige Triebmelodie wieder einmal überhört“ (1914d, S. 108), und an anderer Stelle etwas spezieller zu 1

Seitenzahlen ohne weiteren Verweis beziehen sich auf Freud, 1918b, GW XII, S. 27-157.

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Jung: er „hat mit seiner ‚Modifikation’ der Psychoanalyse ein Gegenstück zum berühmten Lichtenbergschen Messer geliefert. Er hat das Heft verändert und eine neue Klinge eingesetzt; weil dieselbe Marke darauf eingeritzt ist, sollen wir nun dies Instrument für das frühere halten“ (a.a.O., S. 112). „Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ hatte Freud im Februar 1914 abgeschlossen. Sie erschien im Juli desselben Jahres, also wenige Wochen nach dem Ende der Behandlung des Wolfsmanns. Freud schrieb die Krankengeschichte bald danach und schloß das Manuskript im November 1914 ab. Wie in der Begriffsbildung der „Wolfsmann“ den „Rattenmann“ fortsetzt, so setzt im Streit um psychoanalytische Positionen der „Wolfsmann“ „Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ fort. Worum es hauptsächlich geht, läßt sich aus Besonderheiten der Publikationsgeschichte des „Wolfsmanns“ erraten. Entgegen seiner Gewohnheit, abgeschlossene Arbeiten bald zu publizieren, ließ Freud das Manuskript bis 1918 liegen. Er machte dafür „die Hemmungen des großen Krieges“ verantwortlich (S. 28, Fußn.). Ernest Jones und Peter Gay schlossen sich in ihren Freud-Biographien dieser Begründung an und vermuteten einen Mangel an Publikationsmöglichkeiten. Aber mir scheint, sie sind in eine Falle getappt. Freud hat eine irreführende Fährte gelegt. Er hat in den Jahren 1914 bis 1918 viel publiziert. Es wäre möglich gewesen, auch die Krankengeschichte vom „Wolfsmann“ zu publizieren. Sein Zögern wird einen anderen Grund gehabt haben. Freud fügte in einer Fußnote zum „Wolfsmann“ hinzu: die Frage nach der Ätiologie der Neurosen sei „die heikelste der ganzen analytischen Lehre ... kein Zweifel hat mich mehr in Anspruch genommen, keine andere Unsicherheit entschiedener von Publikationen zurückgehalten“. Es ging um seine Behauptung, daß der Wolfsmann „in unwahrscheinlich früher Kindheit“, mit eineinhalb Jahren, einen Koitus seiner Eltern „erlebt“ habe (S. 137, Fußn.) und von diesem Erlebnis eine traumatische Wirkung ausgegangen sei.

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Freud prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der „Urszene“ (S. 65). Er gab ihr eine entscheidende Bedeutung und dachte, daß mit ihr seine gesamte Darstellung der infantilen Neurose steht und fällt. Er hatte es am Ende der Krankengeschichte geschrieben: „Die Realität dieser Szene im Gegensatz zur Annahme ihrer phantastischen Natur ist natürlich die Voraussetzung der obigen Erörterungen“ (zit. nach Grubrich-Simitis, 1993, S. 208). Es muß genau dieser Satz gewesen sein, der Freud zu schaffen machte und ihn fragen ließ, was wäre, wenn er sich geirrt hätte oder zu weit gegangen wäre. Schließlich, als er die Krankengeschichte zum Druck vorbereitete, strich er den Satz aus und schrieb stattdessen: „Dabei ist es gleichgültig, ob man sie als Urszene oder als Urphantasie gelten lassen will“ (S. 156, Fußn.). Er war der Einsicht treu geblieben, die er Fließ am 21. September 1897 mitgeteilt hatte, „die sichere Einsicht“ nämlich, „daß es im Unbewußten ein Realitätszeichen nicht gibt, so daß man die Wahrheit und die mit Realität besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann“ (1985c, S. 284). Zur Erläuterung ist hier hinzuzufügen, daß Freud häufig „Wahrheit“ und „Realität“ synonym gesetzt hat. Die „sicher“ gewonnene „Einsicht“ läßt sich in folgenden Satz zusammenfassen: Der Phantasie kommt dieselbe Dignität zu wie der Realität. Vielleicht ist das der wichtigste Satz der Psychoanalyse. In einem durch eckige Klammern kenntlich gemachten Zusatz zum ursprünglichen Text schrieb Freud, „auf die Annahme, daß das Kind einen Koitus beobachtet, durch dessen Anblick es die Überzeugung gewonnen, daß die Kastration mehr sein könne als eine leere Drohung, können wir nicht verzichten; auch läßt uns die Bedeutung, welche späterhin den Stellungen von Mann und Weib für die Angstentwicklung und als Liebesbedingung zukommt, keine andere Wahl, als zu schließen, es müsse ein coitus a tergo, more ferarum, gewesen sein. Aber ein anderes Moment ist nicht so unersetzlich und mag fallen gelassen werden. Es war vielleicht nicht ein Koitus der Eltern, sondern ein Tierkoitus, den das Kind beobachtet und dann auf die Eltern geschoben, als ob es erschlossen

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hätte, die Eltern machten es auch nicht anders“ (S. 87). Freud ließ im Druck sperren, „daß der Kindheitseinfluß sich bereits in der Anfangssituation der Neurosenbildung fühlbar macht, indem er in entscheidender Weise mitbestimmt, ob und an welcher Stelle das Individuum in der Bewältigung der realen Probleme des Lebens versagt“ (S. 83). Damals hatte ein solcher Satz auch polemische Qualität gegen Adler und Jung. Heute läßt er sich gegen Verfahren der Trauma-Therapie richten, die unter dem Realitätsdruck des Traumas die mit Trieb beladene Phantasie in ihrer Wirkung unterschätzen.

III Der Wolfsmann enthüllte in projektiver Verkehrung bereits in der zweiten Sitzung, wie sehr das Bild von der Urszene seine Phantasie beherrschte. Freud schrieb am 13. Februar 1910 an Ferenczi, ohne es später in die Behandlungsgeschichte aufzunehmen: „Ein reicher junger Russe, den ich wegen Zwangsverlieben aufgenommen, gestand mir nach der ersten Sitzung folgende Übertragungen: Jüdischer Schwindler, er möchte mich von hinten gebrauchen und mir auf den Kopf scheißen“ (Freud Ferenczi Briefwechsel, 1993, S. 214). Im übrigen schilderte Freud den damals 23-jährigen Patienten in der späteren Zusammenfassung als eine „liebenswürdig entgegenkommende Persönlichkeit“ von „scharfer Intelligenz“ und „vornehmer Denkungsart“ (S. 138). Der Patient war 17 Jahre alt, als er „nach einer gonorrhoischen Infektion als krank zusammenbrach“ (S. 29) und die „definitive Krankheit“ entstand, von der Freud nur kurz mitteilt, daß sie „als Folgezustand nach einer spontan abgelaufenen Zwangsneurose aufzufassen ist ... der Kranke ihretwegen lange Zeit in deutschen Sanatorien zugebracht hat und von der zuständigsten Stelle als ein Fall von ‚manisch-depressivem Irresein’ klassifiziert worden ist“ (S. 30). Die Diagnose

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stammt von Ernst Kraepelin. Freud nennt ihn nicht, aber die „zuständigste Stelle“ ist nicht nur Ironie gegen den ihm feindlich gesonnenen Vertreter der akademischen Psychiatrie, sondern auch ein Hinweis, daß der Patient damit offiziell für unheilbar erklärt worden war. Der Wolfsmann, schildert Freud, war „gänzlich abhängig und existenzunfähig“, als er zu ihm kam (S. 29). „Die ersten Jahre der Behandlung erzielten kaum eine Änderung. ... Der Patient ... blieb ... hinter einer Einstellung von gefügiger Teilnahmslosigkeit unangreifbar verschanzt. Er hörte zu, verstand und ließ sich nichts nahe kommen. ... als ... die ersten Befreiungen auftraten, stellte er sofort die Arbeit ein, um weitere Veränderungen zu verhüten ... Seine Scheu vor einer selbständigen Existenz war so groß, daß sie alle Beschwerden des Krankseins aufwog“ (S. 32 f.). Neben den Übertragungsverhältnissen ließen Erinnerungen darauf schließen, daß der Patient in sehr frühen Jahren ein gefügiges Kind gewesen ist und zwar als Folge einer Unterwerfung, wie Winnicott sie unter dem Begriff der “compliance“ in der Mutter-Kind-Beziehung dargestellt hat. Das Kind, schrieb Winnicott, existiert nicht, sondern reagiert (1960, S. 148). An der gefügigen Teilnahmslosigkeit drohte die Behandlung zu scheitern. Unter diesem Eindruck faßte Freud am Anfang des letzten Behandlungsjahres den Entschluß, sich massiv als väterliches Objekt einzuführen. „Ich bestimmte“, schrieb er, „nicht ohne mich durch gute Anzeichen der Rechtzeitigkeit leiten zu lassen, daß die Behandlung zu einem gewissen Termin abgeschlossen werden müsse, gleichgültig, wie weit sie vorgeschritten sei. ... Unter dem unerbittlichen Druck der Terminsetzung gab sein Widerstand ... nach, und die Analyse lieferte nun in unverhältnismäßig kurzer Zeit all das Material, welches die Lösung seiner Hemmungen und die Aufhebung seiner Symptome ermöglichte“ (S. 33 f.). Das widersprach dem von ihm selbst aufgestellten Grundsatz, wie absichtslos zu verfahren, aber der Erfolg gab ihm recht. Im späten Rückblick auf die Analyse des Wolfsmanns schrieb er: „Als er mich im Hochsommer 1914 verließ, ahnungslos wie wir alle der so nah bevorstehenden Ereignisse, hielt ich ihn für gründlich und

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dauernd geheilt“ (1937c, S. 61). Das Hochgefühl, das aus diesen Worten spricht, war wohl mehr auf Freud selbst bezogen. Mit dem Material dieser Behandlung konnte er seine Auffassung zur Libidotheorie und zur Ätiologie der Neurosen belegen und vertiefen. Der Wolfsmann kehrte in seine Heimat auf ein Gut in der Nähe von Odessa zurück, aber der Krieg raubte ihm „Heimat, Vermögen und alle Familienbeziehungen“ (S. 157, Fußn.). Er kam wieder nach Wien, wo er blieb, bis er im Alter von 92 Jahren 1979 starb. „Mehrmals ... wurde sein Wohlbefinden durch Krankheitszufälle unterbrochen, die nur als Ausläufer seiner Lebensneurose aufgefaßt werden konnten“ (1937c, S. 61). Dann wurden psychoanalytische Interventionen notwendig, auch finanzielle Unterstützung brauchte er hin und wieder. Aber mit diesen Hilfen konnte er sich in einem verhältnismäßig bescheidenen Leben halten. Das ist vielfältig dokumentiert, verwiesen sei auf Eisslers Beschreibungen seiner Begegnungen mit dem Wolfsmann (2001, S. 382406 und 495-499).

IV „Nur“ die „Geschichte einer infantilen Neurose“, kündigte Freud an, „wird der Gegenstand meiner Mitteilungen sein“ (S. 30). Die Geschichte begann mit der Urszene, die der Patient mit eineinhalb Jahren erlebte. Aus der Zeit mit zweieinhalb Jahren tauchte als Szene ein Erlebnis auf, „das er wirklich erinnern konnte und ohne mein Vermuten und Dazutun erinnerte“. Freud sah darin „eine wichtige Verbindung“ „zwischen der Urszene und dem späteren Liebeszwang“. In der Szene, die in der Erinnerung auftauchte, sah er sein Kindermädchen Gruscha mit Aufwaschen beschäftigt auf dem Boden knien, „die Nates vorgestreckt, den Rücken horizontal gehalten“ und „fand ... an ihr die

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Stellung wieder, welche die Mutter in der Koitusszene eingenommen hatte. Sie wurde ihm zur Mutter ... und er benahm sich männlich gegen sie wie der Vater, dessen Aktion er damals ja nur als Urinieren verstanden haben konnte. ... Er hat ins Zimmer uriniert und sie darauf“, wie sich aus weiteren Einfällen ergab, „eine gewiß scherzhafte Kastrationsdrohung ausgesprochen“.

Freud sprach der Gruschaszene „zwingenden Einfluß“ zu, wie später mehrere Episoden zeigen, in denen der Patient sich „augenblicklich und mit unwiderstehlicher Heftigkeit“ in Bauernmädchen verliebte, die knieten, „bechäftigt, Wäsche im Teich zu waschen“ oder „auf dem Boden liegend, mit Aufwaschen beschäftigt“ (S. 122-131). – „Die alte Traumatheorie“, kommentierte Freud, „kam auf einmal wieder zur Geltung“ (S. 128).

Als der Patient dreieinviertel Jahre alt war, hatte Nanja Gruschas Stelle eingenommen. In dieser Zeit hat ihn seine damals knapp fünfjährige Schwester, die als „voreilig schlimm“ (S. 37) geschildert wird, „zu sexuellen Tätigkeiten verführt“. In folge eines Umzugs war die genaue Datierung möglich. „Die Schwester hatte nach seinem Glied gegriffen, damit gespielt und dabei unbegreifliche Dinge über die Nanja wie zur Erklärung gesagt. Die Nanja tue dasselbe mit allen Leuten“ (S. 43). Nach der Verführung durch die Schwester versuchte er, Nanja zu verführen, und begann, vor ihr mit seinem Glied zu spielen. Doch „die Nanja enttäuschte ihn, sie machte ein ernstes Gesicht und erklärte, das sei nicht gut. Kinder, die das täten, bekämen an der Stelle eine ‚Wunde’“ (S. 48). Nach dieser Kastrationsdrohung gab der Patient die Onanie „sehr bald“ auf. „Das beginnende Sexualleben“ wurde „auf eine frühere Phase prägenitaler Organisation zurückgeworfen“ und nahm „sadistisch-analen Charakter an. ... Sein Hauptobjekt

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war die geliebte Nanja, die er zu peinigen verstand, bis sie in Tränen ausbrach“. Als der Vater nach längerer Abwesenheit zurückkam, „bekamen seine Wutanfälle und Tobszenen eine neue Verwendung. Gegen die Nanja hatten sie aktivsadistischen Zwecken gedient; gegen den Vater verfolgten sie masochistische Absichten“ (S. 50-53). Der Patient war nun fast vier Jahre alt. Es entwickelte sich eine „schwere neurotische Störung“, die „als Angsthysterie (Tierphobie) begann, sich dann in eine Zwangsneurose mit religiösem Inhalt umsetzte“ (S. 29 f.). Die Schwester liebte es, ihn mit einem Bilderbuch zu quälen, „in dem ein Wolf dargestellt war, aufrecht stehend und ausschreitend. Wenn er dieses Bild zu Gesicht bekam, fing er an wie rasend zu schreien, er fürchtete sich, der Wolf werde kommen und ihn auffressen“ (S. 39). Außerdem hatte er vom Großvater mütterlicherseits die Geschichte von einem Schneider gehört. Der „sitzt in seinem Zimmer bei der Arbeit, da öffnet sich das Fenster und ein Wolf springt herein. Der Schneider ... packt ihn beim Schwanz und reißt ihm diesen aus, so daß der Wolf erschreckt davonrennt“ (S. 56).

V In der Nacht vor seinem vierten Geburtstag träumte der Patient den Traum von den Wölfen. Darin heißt es: „Plötzlich geht das Fenster von selbst auf, und ich sehe mit großem Schrecken, daß auf dem großen Nußbaum vor dem Fenster ein paar weiße Wölfe sitzen. ... Unter großer Angst, offenbar von den Wölfen aufgefressen zu werden, schrie ich auf und erwachte. Meine Kinderfrau eilte zu meinem Bett, um nachzusehen, was mit mir geschehen war. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich überzeugt war, es sei nur ein Traum gewesen“ (S. 54). „Der Patient hatte den Traum sehr frühzeitig mitgeteilt“, schrieb Freud, „und sehr bald meine Überzeugung angenommen, daß hinter ihm die Verursachung seiner infantilen Neurose verborgen sei. Wir kamen im Lauf der Behandlung oft auf den

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Traum zurück“. Der Patient „hatte immer hervorgehoben, daß zwei Momente des Traumes den größten Eindruck auf ihn gemacht hätten, erstens die völlige Ruhe und Unbeweglichkeit der Wölfe und zweitens die gespannte Aufmerksamkeit, mit der sie alle auf ihn schauten“. Freud hingegen fand „das nachhaltige Wirklichkeitsgefühl, in das der Traum auslief, ... beachtenswert“; denn „es versichert uns, daß etwas ... den Anspruch auf Wirklichkeit in der Erinnerung erhebt“ (S. 59). In einer sorgfältigen Analyse kam Freud zu dem Schluß, „was in jener Nacht aus dem Chaos der unbewußten Eindrucksspuren aktiviert wurde, war das Bild“ der Urszene (S. 63). „Es scheint“, daß der Patient „sich während des Traumvorganges mit der kastrierten Mutter identifizierte“ (S. 74). Der Traum zeigt: „Sehnsucht nach sexueller Befriedigung durch den Vater – Einsicht in die daran geknüpfte Bedingung der Kastration – Angst vor dem Vater“ (S. 69). „Es ist ganz unzweifelhaft“, resümierte Freud noch einmal, „daß ihm ... der Vater zu jener Schreckensperson wurde, von der die Kastration droht“ (S.119). VI Damit wurde die Geschichte vom Wolfsmann zur Geschichte vom „negativen Ödipuskomplex“, der Freuds Konstrukt vom „Ödipuskomplex“ vervollständigte. Der Begriff taucht allerdings erst in „Das Ich und das Es“ auf, wo es zur Erläuterung heißt: „Der Knabe hat nicht nur eine ambivalente Einstellung zum Vater und eine zärtliche Objektwahl für die Mutter, sondern er benimmt sich auch gleichzeitig wie ein Mädchen, er zeigt die zärtliche feminine Einstellung zum Vater und die ihr entsprechende eifersüchtig-feindselige gegen die Mutter“ (1923b, S. 261 f.). In der Geschichte vom Wolfsmann findet die Entwicklung der passiv femininen Position des Knaben eine breite klinische Darstellung. Dort wird beschrieben, wie der aus der Mutteridentifizierung hervorgegangene analerotische Triebanspruch sich als drängender Wunsch an den Vater richtet, aber zugleich als eine Gefahr

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erscheint, die aus der Kastrationsdrohung stammt. Man muß dabei im Auge behalten, daß der Triebanspruch „nicht an sich eine Gefahr“ darstellt, „sondern nur darum, weil er eine richtige äußere Gefahr, die Kastration, mit sich bringt“ (1926d, S. 156 f.).

VII Im Verhältnis zu den herrschenden Anschauungen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war die Krankengeschichte vom Wolfsmann eine verwegene Leistung. „Es ist eine Aufgabe gewesen“, schrieb Freud, „die noch niemals zuvor in Angriff genommen wurde, in die Beschreibung so frühe Phasen und so tiefe Schichten des Seelenlebens einzuführen, und es ist besser, man löst sie schlecht, als man ergreift vor ihr die Flucht“ (S. 138). Doch er fügte einschränkend hinzu: „Man muß sich sagen, daß man aus einem einzigen Fall nicht alles erfahren, an ihm nicht alles entscheiden kann, und sich darum begnügen, ihn für das zu verwerten, was er am deutlichsten zeigt“ (S. 139 f.). Am deutlichsten zeigte sich Freud der „Zustand nach dem Taume“. Er faßte zusammen: „Die Sexualstrebungen sind zerspalten worden, im Unbewußten ist die Stufe der genitalen Organisation erreicht und eine sehr intensive Homosexualität konstituiert, darüber besteht ... die frühere sadistische und überwiegend masochistische Sexualströmung“. In bezug auf das Ich fügte er hinzu: „das Ich hat seine Stellung zur Sexualität im ganzen geändert, es befindet sich in Sexualablehnung und weist die herrschenden masochistischen Ziele mit Angst ab, wie es auf die tieferen homosexuellen mit der Bildung einer Phobie reagiert hat.“ Und noch einmal auf den Traum zurückkommend: „Der Erfolg des Traumes war also nicht so sehr der Sieg einer männlichen Strömung, sondern die Reaktion gegen eine feminine und eine passive“ (146 f.). Schließlich bemerkte Freud zum Behandlungsziel: „Natürlich kann die psychoanalytische Kur bei solchen Störungen nicht einen momentanen

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Umschwung und eine Gleichstellung mit einer normalen Entwicklung herbeiführen, sondern nur die Hindernisse beseitigen und die Wege gangbar machen, damit die Einflüsse des Lebens die Entwicklung nach den besseren Richtungen durchsetzen können“ (S. 154). Literatur Eissler, K. R. (2001): Freud and the seduction theory. Int. Univ. Press, Madison Connecticut Freud, S. (1909b): Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben. GW VII, S. 241-377 – (1909d): Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. GW VII, S. 379463 – (1914d): Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. GW X, S. 43-113 – (1918b [1914]): Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. GW XII, S. 26157 – (1920g): Jenseits des Lustprinzips. GW XIII, S. 1-69 – (1923b): Das Ich und das Es. GW XIII, S. 235-289 – (1926d): Hemmung, Symptom und Angst. GW XIV, S. 111-205 – (1930a [1929]): Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, S. 419-506 – (1937c): Die endliche und die unendliche Analyse. GW XVI, S. 57-99 _ (1985c): Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904. S. Fischer, Frankfurt a. M. –, Ferenczi, S. (1993): Briefwechsel Band I/1 1908-1911. Böhlau, Wien, Köln, Weimar Grubrich-Simitis, I. (1993): Zurück zu Freuds Texten. Stumme Dokumente sprechen machen. Fischer, Frankfurt a.M.

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Loch, W., Jappe, G. (1974): Die Konstruktion der Wirklichkeit und die Phantasien. Anmerkungen zu Freuds Krankengeschichte des „Kleinen Hans“. Psyche 28, S. 1-31 Nedelmann, C. (1996): Einleitung zu: Sigmund Freud: Zwei Krankengeschichten „Rattenmann“, „Wolfsmann“. Fischer Taschenbuch. Frankfurt a.M., S. 7-52 Winnicott, D.W. (1960): Ego distortion in terms of true and false self. In: Ders.: The maturational processes and the facilitating environment. Hogarth, London, 1965, S. 140-152

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