Bücher gegen die Kälte

January 6, 2017 | Author: Götz Arnold | Category: N/A
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DIE

ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

Warum Schriftsteller die Familie neu entdecken und warum das Gastland Island uns bezaubert. Dazu: Die wichtigsten Neuerscheinungen

Bücher gegen die Kälte Klein, aber stark

Eine Regierung darf auch gegen die Mehrheit in der Bevölkerung stimmen. Aber Abweichler muss sie respektieren VON MATTHIAS GEIS

Auch wenn die USA und China übermächtig erscheinen – die Nationalstaaten in Europa haben noch Zukunft VON BERND ULRICH

S

ine neue Parole geht um im politischen Berlin: Der Nationalstaat sei, so heißt es, überholt, er könne sich in einer globalisierten Welt gegen große Mächte wie die USA oder China nicht mehr behaupten. In dieser Form ist die Aussage jedoch sinnlos, denn die USA sind auch ein Nationalstaat, sogar China ist es. Gemeint ist wohl etwas anderes. Es geht nicht um die Staatsform, es geht um die Staatsgröße. Sinnvollerweise müsste der Satz also lauten: In der Globalisierung sind Nationalstaaten europäischer Größenordnung nicht mehr überlebensfähig, nicht mal Deutschland oder Frankreich, ganz zu schweigen von all den kleineren Staaten. Diese Behauptung, die gern als absolute historische Gewissheit daherkommt, enthält dermaßen viele Implikationen, dass man sich hier nicht mit allen näher beschäftigen kann. So würde man natürlich gern wissen, wie es denn bislang die Luxemburger, Portugiesen oder Slowaken auf dieser Welt ausgehalten haben, in der sie sich gegenüber Ländern behaupten mussten, die aus ihrer Sicht relative Chinas oder Amerikas waren, also etwa Deutschland oder Frankreich. Zudem fragt sich, was nach der Theorie vom unausweichlichen Untergang des Nationalstaats mittlerer Größe künftig aus Ländern wie Südafrika, Argentinien oder Japan werden soll. Sind die dann auch alle überholt? Hat man ihnen das schon mitgeteilt? Nicht, dass sie ihren eigenen Untergang verpassen!

elten ist die Spannung zwischen Verfassungsideal und parlamentarischer Wirklichkeit farbiger illustriert worden: Da beruft sich ein Bundestagsabgeordneter bei seinem Nein zur eigenen Regierungslinie auf die im Grundgesetz garantierte Gewissensfreiheit, worauf ihn ein Fraktionskollege auffordert, mit »dieser Scheiße« endlich aufzuhören. Ist das der normale Umgang mit Andersdenkenden im Deutschen Bundestag? Wohl kaum. Doch allein schon wegen der Schlüsselstellung, die Kanzleramtsminister Ronald Pofalla im Machtsystem von Angela Merkel einnimmt, lassen sich die Ausfälle gegen seinen Parteifreund Wolfgang Bosbach nicht einfach ad acta legen. Selbst nach Pofallas Entschuldigung nicht. Denn der Vorfall ist symptomatisch. Er zeigt, welche Wut den Abgeordneten in den letzten Wochen entgegenschlug, die wegen ihrer Zweifel an der Euro-Rettungspolitik angekündigt hatten, sich gegen die eigene Regierung zu stellen. Der erst im Nachhinein bekannt gewordene Eklat liegt nun wie ein Schatten über dem schwarz-gelben Abstimmungserfolg. Doch bedeutsamer noch als für die Atmosphäre in der Koalition ist der Vorfall für das Verhältnis zwischen etablierter Politik und Bevölkerung. Denn er bestätigt auf drastische Weise den Verdacht, dass der politische Betrieb genau so funktioniert, wie Pofalla es demonstriert hat: rücksichtslos im Dienste der Macht und demütigend für alle, die sich deren Imperativ nicht fügen.

Selbst Profis der Machtsicherung verlieren jetzt die Fassung Dass die Gewissensfreiheit des Abgeordneten für die Führung der Fraktionen immer wieder zum Störfaktor wird, gilt lagerübergreifend. Wann immer existenzielle politische Entscheidungen sich in Existenzfragen der jeweiligen Koalition verwandeln, kommt der einzelne, sperrige Parlamentarier leicht unter die Räder der sogenannten Fraktionsdisziplin. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder vor genau zehn Jahren eine Mehrheit für den deutschen Afghanistan-Einsatz beibringen musste, ging es kein bisschen glimpflicher zu als jetzt bei der Euro-Rettung. Damals endete der wochenlange Druck auf die rot-grünen Abweichler damit, dass sie untereinander ausmachen durften, wer seiner Überzeugung gemäß mit Nein stimmen durfte und wer – im Interesse der Macht – mit Ja. Dass es wieder und wieder zu solchen Eskalationen kommt, liegt an einer schon fast fetischhaften Wertschätzung, die hierzulande der Nachweis politischer Stabilität genießt. Selbst bei Entscheidungen, die von der Opposition unterstützt werden, steht die Regierungskoalition schnell unter dem Zwang, ihre Handlungsfähigkeit durch eine »eigene Mehrheit« zu demonstrieren. Diese bundesdeutsche Besonderheit resultiert aus den traumatischen Erfahrun-

gen der ersten deutschen Demokratie, die nicht zuletzt am Mangel stabiler Regierungen zugrunde gegangen ist. Inzwischen könnte man damit vielleicht etwas lockerer umgehen. Doch es sind nicht nur Koalition und Opposition, sondern auch die Medien, die, wann immer sich eine Gelegenheit bietet, von der Regierung den ultimativen Stabilitätsnachweis einer »Kanzlermehrheit« einfordern. Dass dieser Erwartungsdruck am Ende bis zu den einzelnen »unsicheren Kantonisten« durchschlägt, weil an ihnen plötzlich Wohl und Wehe der Regierung zu hängen scheint, ist kaum überraschend. Umso mehr erfordert eine solche Situation von denjenigen Parlamentariern Mut und Rückgrat, die eine abweichende Position vertreten. Auch wenn man dem einen oder anderen, der bei solcher Gelegenheit zu medialer Prominenz gelangt, den Genuss seiner plötzlichen Bedeutsamkeit anmerkt, verdient der Fraktionsdissident allen Respekt. Am Umgang mit ihm erweist sich, wie ernst das Parlament seine Freiheit nimmt. Umso symbolträchtiger war deshalb die Entscheidung von Parlamentspräsident Norbert Lammert, der durch kreative Auslegung der Geschäftsordnung den Abweichlern in der Debatte um den Euro-Rettungsschirm Rederecht einräumte. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen, doch für die Koalitionsspitze war es ein Affront. Sucht man nach den Gründen für die Erbitterung, den der Dissens im Regierungslager provoziert, stößt man auf eine interessante Parallele zwischen der Afghanistan-Entscheidung vor zehn Jahren und der Abstimmung zur Euro-Rettung: In beiden Fällen votierte die überbordende Mehrheit des Parlamentes gegen die überbordende Skepsis der Bevölkerung. Und in der Gereiztheit, mit der, damals wie heute, die Regierungsfraktionen auf die Andersdenkenden in den eigenen Reihen reagierten, schimmert ein Unbehagen durch. Es ist das Unbehagen einer parlamentarischen Mehrheit im Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Minderheitsposition. Kein Wunder, dass in einer solchen Konstellation selbst Profis der Machtsicherung die Fassung verlieren. So wie es für den einzelnen Abgeordneten kein imperatives Mandat gibt, so gibt es auch für das Parlament als Ganzes keine Verpflichtung, die gesellschaftliche Stimmungslage abzubilden. Eine Koalition, die aus Überzeugung gegen die Mehrheit in der Bevölkerung steht, kann sich nicht einfach anpassen. Ihr bleibt nur die Zuversicht, die aus der eigenen Überzeugungskraft entspringt. Und der Respekt vor denen, die anderer Meinung sind. Denn durch nichts immunisiert eine Regierung die Öffentlichkeit mehr gegen die eigene Politik als durch die Schmähung der Andersdenkenden. Sie bilden eine Brücke in die Gesellschaft. Gäbe es die Abweichler nicht, die Koalition müsste sie erfinden. www.zeit.de/audio

E

Die USA leiden schon an ihrer Größe – und China bald auch an seiner Für die aktuelle Debatte über die künftige Gestalt Europas ist eine andere Implikation wichtiger. Die Anachronismusthese enthält nämlich eine Annahme über die ideale Größe einer staatlichen Einheit in der globalisierten Welt. Danach sollte ein Staat, der etwas auf sich hält und international ernst genommen werden will, eine Größe und einen nationalstaatlichen Integrationsgrad haben wie mindestens die USA. Aber ist das so? Können wir heute wirklich wissen, ob eine vollintegrierte Nation wie die USA mit ihren 315 Millionen Einwohnern zukunftstüchtiger ist als das etwas flusige Staatengebilde EU mit seinen 500 Millionen? In diesen Jahren erlebt die ganze Welt, wie die Amerikaner zwischen ihrem globalen Machtanspruch und ihren immensen inneren Problemen geradezu zerrissen werden. Auch das politische System zeigt immer öfter Zeichen von Dysfunktionalität, seit der Wohlstand nicht mehr quasi automatisch wächst. Und der Anteil der Schulden am Bruttosozialprodukt ist in den USA genauso groß wie in der EU, obwohl es dort, anders als hier, schon eine Wirtschaftsregierung gibt und einen Bundeshaushalt. Nicht zuletzt hat sich das Land seit einiger Zeit politisch gespalten in zwei verfeindete Lager, um nicht zu sagen, zwei USAen.

Erkennbar leiden die USA im Moment an ihrer Größe. Und an ihrem Nationalstaat, den weite Teile der Bevölkerung ablehnen und den zumindest die Republikaner aushungern wollen. Es kann immer noch sein, dass es sich bei all dem bloß um Übergangsphänomene handelt, möglich, dass die USA doch die perfekte Größe haben für die Aufgaben der Zukunft. Es kann aber auch sein, dass sie zu groß sind. Oder zu klein. Kleiner jedenfalls als China, der Staat der 1200 Millionen Menschen, mit seinen ungeheuren Wachstumsraten, der Staat, dem die USA so viel Geld schulden. Hat womöglich China, nur China, die passende Größe für das 21. Jahrhundert? Und müssen dann alle versuchen, chinaesk zu werden, Europa wird Nation, Brüssel wird Peking? Auch das wissen wir nicht genau. Die Chinesen zahlen für ihre Größe hohe Preise. Einen Preis stellen die dauernden Aufstände in den Provinzen dar. Ein anderer Preis ist die Unterdrückung der Tibeter, denen man keine Autonomie gewähren will, weil dann, so die Angst der Zentrale, alles auseinanderfliegen würde. Ein Preis lautet: Diktatur. Vieles, zumindest aus Sicht der Chinesen, spricht dafür, dass ein Land dieser Größe nicht demokratisch beherrscht werden kann. Aber die Diktatur braucht extremes Wachstum, um die Menschen für die Unfreiheit zu entschädigen. Wird China immer so weiterwachsen können? Diktatur bedeutet auch Korruption, die wiederum den Wohlstand frisst, der das Land zusammenhält. Hat China also die passende Größe? Wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich ist es auf mittlere Sicht viel zu groß. Wir werden es erleben. Und Europa? Die EU ist größer als die USA, kleiner als China und weniger nationalstaatlich als beide. Hier sind die mittleren und kleinen Nationalstaaten immer noch sehr wichtig, während die europäische Zentrale relativ schwach ist. Was sie auch dann noch bleibt, wenn demnächst ein paar mehr Kompetenzen nach Brüssel verlegt werden, um die schlimme Schuldenmacherei zu stoppen. Ob nun dieses Europa die richtige Größe und Gestalt hat – auch das wissen wir nicht präzise. Allerdings hat die EU gegenüber den USA und gegenüber China einen großen strategischen Vorteil – den der flexiblen Staatlichkeit. Wenn es nötig werden sollte, dann könnten wir hier leichter noch ein bisschen mehr Staat drauflegen, als die anderen von ihrer Größe und Nationalstaatlichkeit runterkommen, wenn sie zu groß und zu zentral geworden sind. Das spräche dafür, nur ganz vorsichtig, gewissermaßen experimentell die Integration voranzutreiben. Es geht nicht mehr, wie die Generation Delors, Fischer, Juncker glaubte, um die Finalität, also den Endzustand Europas, es geht um seine Variabilität. Insofern muss man sagen: Es lebe die Nation – zumindest noch eine Weile. www.zeit.de/audio

Gespräche mit Bettina Wulff, der Frau des Bundespräsidenten, dem Meisterregisseur Jean-Luc Godard und dem Altkanzler Helmut Schmidt ZEITmagazin, Feuilleton PROMINENT IGNORIERT

Fettarm sterben Dieser Tage wurde in Dänemark tonnenweise Butter gehamstert. Eine Gesundheitskommission hatte errechnet, dass sich die Lebenserwartung der Dänen um drei Jahre steigern ließe, wenn sie sich fettarm ernährten. Also hat man jetzt eine Fettsteuer eingeführt. Vermutlich würde sich die Lebenserwartung weiter steigern lassen, wenn man das Sterben besteuerte. Bislang war es ja umsonst. Es kostete bloß das Leben. GRN. kl. Fotos: Herlinde Koelbl für ZM; Getty Images; Vera Tammen für DZ (v.l.n.r.); StockFood (u.)

ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ABONNENTENSERVICE: Tel. 0180 - 52 52 909*, Fax 0180 - 52 52 908*, E-Mail: [email protected] **) 0,14 € /Min. aus dem deutschen Festnetz, max. 0,42 € /Min. aus dem deutschen Mobilfunknetz

PREISE IM AUSLAND: DKR 43,00/NOR 60,00/FIN 6,70/E 5,20/ Kanaren 5,40/F 5,20/NL 4,50/A 4,10/ CHF 7.30/I 5,20/GR 5,70/B 4,50/P 5,20/ L 4,50/HUF 1605,00

AUSGABE:

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6 6 . J A H RG A N G C 7451 C

4 1

Lob der Mutprobe

Köpfe dieser ZEIT

4 1 90745 104005

Titelfoto: Natalie Bothur für DIE ZEIT/www.nataliebothur.de

ZUR BUCHMESSE: 88 SEITEN LITERATUR

2 6. Oktober 2011

POLITIK

DIE ZEIT No 41

Worte der Woche

»

Ich ärgere mich selbst sehr über das, was vorgefallen ist, und es tut mir außerordentlich leid.«

Roland Pofalla, Kanzleramtsminister,

über die Entgleisung gegenüber seinem CDU-Parteikollegen Wolfgang Bosbach

»Mir ist ein deftiges Wort des Zorns immer lieber als eine scheinbar freundlich vorgetragene süßsaure Hinterhältigkeit.« Joschka Fischer, Ex-Außenminister,

zum selben Thema

»Was die Euro-Zone und den Euro bedroht, ist der Rettungsschirm selbst.« Richard Sulik, slowakischer Parlamentspräsident,

dessen Partei gegen den EFSF stimmen möchte

»Wir sind weit vorangekommen, aber wir haben es noch nicht ganz geschafft.« Angela Merkel, Bundeskanzlerin, über die

unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten in Ost und West

»Es bedarf vielleicht unseres Militärs in Mexiko.« Rick Perry, US-Gouverneur im Wahlkampf,

über den Drogenkrieg im Nachbarland

»Das Leben der normalen Hausfrau wird es nicht verändern.«

Ein kleiner Sieg Der Afghanistankrieg war kein Fehler, er war richtig. Wenn der Westen den Glauben daran verliert, verrät er das Land

VON JAN ROSS

Martin Pohl, Astrophysiker am Forschungszen-

trum Desy in Zeuthen, zum Forschungsergebnis der Physik-Nobelpreisträger

«

ZEITSPIEGEL

Hungerstreik Dem inhaftierten ägyptischen Blogger Maikel Nabil Sanad (ZEITmagazin Nr. 34/11), der seit dem 23. August im Hungerstreik ist, geht es immer schlechter. Seine Nieren arbeiteten nicht mehr richtig, sagt sein Bruder Mark. Am Dienstag sollte vor dem Obersten Militär-Berufungsgericht in Kairo über Sanads Fall verhandelt werden. Doch das Gericht hat die Entscheidung vertagt. Sanad war im April wegen militärkritischer Äußerungen zu drei Jahren Haft verurteilt worden. WAH

Ausgezeichnet Die ZEIT-Redakteure Mark Schieritz und Arne Storn sind mit dem Deutschen Journalistenpreis Wirtschaft Börse Finanzen ausgezeichnet worden. In ihrem Artikel Wenn sich Retten rechnet (ZEIT Nr. 27/11) beschrieben die Autoren, wie die Commerzbank der Staatskasse 11,5 Milliarden Euro zurückzahlte. Auch ZEIT-Redakteur Marcus Rohwetter wird geehrt. Für seinen Beitrag Liebe Halsabschneider erhält er den Helmut Schmidt-Journalistenpreis. In dem Text, einem Brief an die Mobilfunkbetreiber, kritisierte er zu hohe Roaming-Gebühren. ARV

Z

ehn Jahre Afghanistankrieg – das ist ein unangenehmes, peinliches Datum. Der Westen empfindet diesen Krieg als immer schwerer erträgliche Last; er hat ihn lange zu verdrängen versucht, und nachdem das nicht gelungen ist, will er ihn jetzt loswerden. Ende 2014 soll die Zuständigkeit für die Sicherheit des Landes an die Afghanen übergegangen sein. Das Gedenken an den Kriegsbeginn am 7. Oktober 2001 jedoch blockiert die geistigen Fluchtversuche. Es zwingt zur Erinnerung an die Gründe der Intervention, von denen viele nichts mehr wissen wollen. Es zwingt zur Auseinandersetzung mit der Ignoranz, die unser Verhältnis zu dem Land auf mehr als eine Weise prägt. Und es zwingt dazu, der Gefahr von Verantwortungslosigkeit und Verrat ins Auge zu sehen, vor der die Afghanistanpolitik jetzt steht. Der Krieg sieht (heute) wie ein Fehler aus, war (damals) aber keiner. Zunehmend bildet sich eine Geschichtsinterpretation heraus, die etwa so lautet: Die Amerikaner hätten nach dem 11. September 2001 zu Osama bin Laden lieber die Polizei schicken sollen. Als sie dann aus verletztem Stolz doch ins Feld zogen, wären die Deutschen und die anderen Nato-Partner besser zu Hause geblieben. Hat die US-Regierung damals nicht selbst signalisiert, dass sie auf Verbündete im Grunde keinen Wert legte? In Wirklichkeit hätten weder die Amerikaner den Krieg einfach vermeiden noch die Europäer sich heraushalten können. Die Taliban hatten dem Terror einen Staat zur Verfügung gestellt; den musste man ihnen wegnehmen, und das ging nur militärisch. Und sich zu beteiligen - das war keine Wichtigtuerei, sondern klares politisches Interesse. Kein vernünfti-

ger Mensch konnte wollen, dass die verwundete Supermacht sich in einsamer Wut auf der Weltbühne austobte. Der Afghanistankrieg ist vielleicht (durch die Art, wie er geführt wurde), falsch geworden. Aber von Anfang an falsch gewesen ist er nicht. Die unsichtbaren Afghanen. Nie seit dem Vietnamkrieg hat sich der Westen so tief und langfristig in ein fernes, unverstandenes Land eingemischt wie in Afghanistan – und sich letztlich nicht wirklich für dieses Land und seine Menschen interessiert. Das Desinteresse kann sich in militärisch-strategischer Kälte zeigen, wenn Afghanistan nur als Operationsgebiet im Antiterrorkampf wahrgenommen wird, als Kriegsschauplatz, dessen Bewohner bloß taktischen Respekt verdienen: weil zu viele zivile Opfer die einheimische Bevölkerung ins Lager der Feinde treiben. Es gibt aber noch eine andere Art Ignoranz, eine pazifistische Totalverdammung, die sich um die konkreten Menschen und ihr Schicksal kaum mehr schert. Ihre Losung hat Margot Käßmann geprägt mit dem berühmten »Nichts ist gut in Afghanistan«. Dieser mechanische Pessimismus ist blind für das wirkliche Afghanistan, das mehr als ein ewiger Problemfall ist. Es ist ein Land, in dem es mitnichten nur Krieger gibt, sondern (wie auf unseren Bildern) ebenso Krankenschwestern und sogar Soziologieprofessoren. Normalität und Fortschritt sind brüchig, bedroht, aber sie sind real, und viel davon verdankt sich der Intervention und ihren Folgen. Der frühere UN-Gesandte in Kabul, der deutsche Grünen-Abgeordnete Tom Koenigs, hat kürzlich festgestellt, dass die internationale Hilfe in Afghanistan nirgends sonst so effektiv und erfolgreich ist wie im Bildungswesen. Nicht Rückzug, sondern Aufstockung wäre hier nötig, gerade durch ein Land wie die Bundesrepublik, das sich mit seinem militärischen Einsatz un-

wohl fühlt. Doch das alles wird erschlagen vom Klischee einer Stein- und Gewaltwüste, die keine Mühe und kein Opfer lohnt. Krieg in Exotistan. Wollen wir sie verraten? Die übertrieben ehrgeizigen Ziele, mit denen die Intervention zeitweise für eine skeptische Öffentlichkeit begründet wurde, sind längst kassiert. Von der Befreiung der Frauen, von Demokratie und Menschenrechten ist nicht mehr viel die Rede. Heute droht das Gegenteil: dass die Ziele zu niedrig gesteckt werden oder dass es gar keine mehr gibt; dass die Afghanistan-Strategie zu einem bloßen Nebenprodukt der amerikanischen und europäischen Innenpolitik wird. In unheimlicher Klarheit war das zu sehen, als im vergangenen Monat stundenlange Feuergefechte im Botschaftsviertel von Kabul tobten. Ein gespenstisches Szenario – aber nach offizieller Lesart nur ein Verzweiflungsakt, der die Schwäche der Terroristen zeigte. Die Westmächte könnten ihren Rückzug nicht rechtfertigen, wenn die Sicherheitslage prekär wäre; also muss die Sicherheitslage gut sein. Diese Verantwortungslosigkeit ist die Gefahr der Rückzugspolitik. Afghanistan wurde schon einmal verraten: nach 1989, als das Land nach dem Ende der sowjetischen Besatzung aus dem internationalen Bewusstsein verschwand, im Stich gelassen wurde und schließlich den Taliban zum Opfer fiel. Der Rückzug ist nicht das Ende. Noch besteht die Chance, ein solches Desaster zu vermeiden. Der Krieg kann nicht gewonnen, sondern nur mit einem politischen Kompromiss beendet werden – aber die Machtbalance, aus der sich der Kompromiss ergibt, lässt sich beeinflussen, noch immer. Längst sind Gespräche im Gange, die auf eine Integration der Taliban in den Staat, auf ihre Teilhabe an der Macht zielen. Wie blutbefleckt diese Teilhaber sein dürfen,

wie viel von der afghanischen Verfassung sich retten lässt, wie sicher die anderen Mitspieler ihrer Rolle und ihres Lebens sein werden: das sind die Fragen, die jetzt, in der Spätphase des Krieges, ausgehandelt werden, mit Diplomatie und mit Gewalt. Dafür muss sich der Westen noch einmal anstrengen. Tausendmal ist die Ernüchterungsformel nachgeplappert worden, Afghanistan werde nun einmal keine Schweiz – aber es macht einen gigantischen Unterschied, ob Afghanistan ein voll entwickelter Chaosstaat wie Somalia wird oder ein halbwegs funktionierendes armes Land wie Tadschikistan. Wer allerdings den Eindruck zulässt, er habe sich innerlich schon verabschiedet, der verliert seinen Einfluss auf die Entwicklung. Die Regierung in Kabul wird einer ermatteten Schutzmacht zuliebe nicht die Korruption bekämpfen, und die Taliban werden vor einem defätistischen Westen keine Angst haben. Für Amerika und Europa muss daher, so schwer es fällt, die dreifache Devise gelten: nicht zu schnell abziehen, nicht bedingungslos, nicht ganz und gar. Die Krankheit der westlichen Afghanistanpolitik war bisher der Absolutismus, das Alles-oderNichts: Musterstaat oder hoffnungsloser Sumpf, Sieg um jeden Preis oder nichts wie weg. Das sind kindische, fahrlässige Alternativen – als wolle man, nachdem die Afghanen unsere Erwartungen nicht erfüllt haben, nun zur Strafe die Brocken hinschmeißen. Siegen kann der Westen in Afghanistan nicht mehr und konnte es womöglich nie. Aber der Unterschied zwischen dem Erträglichen und dem Katastrophalen ist gewaltig. Es kommt jetzt darauf an, mit ganzer Kraft für eine halbe Sache zu kämpfen. A www.zeit.de/audio

POLITIK

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

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»Ich möchte das Beste für mein Land. Im Moment aber befindet sich Afghanistan auf dem Weg in den Kapitalismus. Das finde ich gefährlich. Kapitalismus schafft Ungleichheit zwischen den Menschen. Unsere Regierung sollte an die Gesamtgesellschaft denken« Abdul Sawad, 30, Soziologe, Uni Kabul

»Ich mag meinen Beruf: Ich helfe Menschen. Aber ich mache mir Sorgen, dass der Krieg wieder ausbrechen könnte und wir flüchten müssen. Ich will einfach nur eine stabile Zukunft und mit klarem Kopf arbeiten können« Asima, 37, Krankenschwester

DAS THEMA

Vor zehn Jahren, am 7. Oktober 2001, begann der Afghanistankrieg. Doch statt eines neuen Staates am Hindukusch, scheint es, wuchsen nur die Zweifel des Westens an der Intervention. Dieser Pessimismus ist ein Fehler (siehe Seite 2). Denn es gibt sehr wohl ein neues Afghanistan – mit Menschen, die die Entwicklung ganz anders erlebt haben als wir. Vier von ihnen zeigen wir auf dieser Doppelseite

»Ich bin drogenabhängig. Ich werde mit Methadon behandelt. Das hilft mir zwar, aber ich habe immer noch keine Arbeit. Meine Frau studiert, muss sich aber auch um die Kinder kümmern. Unsere Tochter ist krank, und uns fehlt das Geld fürs Krankenhaus« Hussein, 43, arbeitslos, Kabul

»Wir haben unser ganzes Leben auf der Flucht verbracht, zuletzt vor den Taliban. Präsident Karsai hat versprochen, uns Land zu geben, aber das hat er nicht. Trotzdem ist das Leben besser als vorher. Kabul ist relativ sicher, und ich habe eine Arbeit« Leila, 29, lebt in einem Flüchtlingscamp

Fotos (S.2 u. S.3): © Sandra Calligaro, Action contre la Faim - Afghanistan

4 6. Oktober 2011

POLITIK

DIE ZEIT No 41

Wer regiert hier eigentlich? Deutschland, »die Märkte« und »die Politik«: Wie ein Abgeordneter und ein Fondsmanager die Krise erleben

Zwei Welten, zwei Geschwindigkeiten Wenn man Tempo hören könnte, wäre es sehr laut in diesem Handelsraum. Aber es ist leise. Fast niemand spricht, auch das Klingeln der Telefone ist heruntergedimmt. 50 Leute arbeiten hier an langen Tischreihen, jeder hat drei Monitore vor sich. Wechselkurse, Zinsschwankungen, politische Nachrichten, neueste Umfragen – was auf dem Globus geschieht, geschieht fast gleichzeitig auf diesen Bildschirmen. Andrew Bosomworth ist um Viertel nach sieben an seinen Platz gekommen, wie jeden Morgen. Auf dem rechten Monitor sieht er die Meldungen der Nachrichtenagentur Reuters: Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien – für jedes Euro-Krisenland gibt es ein eigenes kleines Fenster. Fast jede Minute läuft eine neue Meldung, besonders wichtige Meldungen erscheinen in Rot. Für Politiker sind Nachrichtenagenturen eine wichtige Informationsquelle. Der Fondsmanager Bosomworth aber braucht diese Agenturmeldungen kaum noch – er kennt viele davon schon, bevor sie gesendet werden. Bosomworth ist ständig online mit anderen Händlern, Analysten oder Notenbankern verbunden, überall auf der Welt. Dieser Onlinechat – eine Funktion, die jeder Bildschirm in jedem Handelsraum jedes Geldhauses bietet – vernetzt ihn mit anderen zu einem gigantischen Informationsbasar, einer weltumspannenden Gerüchteküche. Jede Information gelangt so innerhalb einer Sekunde von New York nach London, von Frankfurt nach München. Der Markt ist schneller als E-Mails, Telefonate, Agenturmeldungen oder Zeitungen. Am 29. September, am Morgen der Abstimmung über den Euro-Rettungsschirm im Parlament, kann Florian Toncar sich Zeit lassen. Im Bundestag herrscht geschäftiges Brummen, vor dem Plenarsaal haben die TV-Sender ihre Kameras aufgebaut. Während Bosomworth in seinem Handelsraum die ersten Millionen anlegt, plaudert Toncar mit Kollegen. Wie ist die Stimmung, wird die Abstimmung so ausgehen, wie alle hoffen? Informationen werden hier im persönlichen Gespräch ausgetauscht. Die Saaldiener – die Damen im Kostüm, die Herren in schwarzem Frack mit weißer Fliege – reichen Wassergläser und tragen Botschaften für einzelne Abgeordnete herein. »Mit Ihnen möchte ich nicht tauschen«, das ist der Satz, den der Abgeordnete Toncar in letzter Zeit am häufigsten gehört hat, wenn er mit Vertretern der Wirtschaft und des Finanzsektors gesprochen hat. Schlechte Schulden, gute Schulden Das »wichtigste einzelne Gesetzesvorhaben« mindestens dieser Wahlperiode, so hat Norbert Lammert, der Bundestagspräsident, das Gesetz über den EuroRettungsschirm genannt. Für Florian Toncar geht es an diesem Tag darum, die Demokratie wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die Euro-Krise sei zu einer »äußersten Beanspruchung von Rechtsstaat und Demokratie« geworden. Schuld daran sind für ihn aber nicht die Märkte, Schuld ist die Politik. Sie habe die Demokratie verkauft, indem sie zu viele Schulden und den Staat damit erpressbar gemacht habe. Aus Toncars Sicht gibt es keine »guten« und »schlechten« Schulden. Schulden können Privatleute machen, Staaten nicht. Wer den Staat so definiere, dass er nur mit Schulden Politik machen könne, der gefährde das Gemeinwesen, sagt er. »Keine Demokratie verträgt auf Dauer Erpressung.« Wenn Toncars Wähler an Renten denken, denken sie wahrscheinlich an die gesetzliche Rentenversicherung. Wenn sie an Fondsmanager denken, dann an absurd hohe Boni. Dass ihre Rente auch in Bosomworths Handelssaal erwirtschaftet wird, darauf kämen wohl die wenigsten. Es war Andrew Bosomworths Arbeitgeber, der den Rentenmarkt revolutionierte. Bis dahin hatte man Staatsanleihen gekauft, die jährlichen Zinsen kassiert und das Papier bis zum Ende der Laufzeit behalten, manchmal 30 Jahre lang. 1971 begann die amerikanische Kapitalanlagegesellschaft Pimco als erste Firma überhaupt, aktiv mit Staatsanleihen zu handeln. Die Idee war, nicht nur an den jährlichen Zinsen, sondern auch an den täglichen Veränderungen des Zinsniveaus zu verdienen. Auf einmal ging es nicht mehr ums Kaufen und Abwarten – sondern um Informationen und Geschwindigkeit. Heute verwaltet Pimco mehr als eine Billion Dollar. Die Firma

gehört zum Allianz-Konzern; die Pimco-Manager kümmern sich um einen großen Teil des Geldes, das jeder Lebensversicherte der Allianz monatlich anspart. Bosomworth ist kein Spekulant. Er muss nicht 50 Prozent Rendite innerhalb eines Jahres erzielen, aber im mittleren einstelligen Bereich sollte sie sein. Das ist es, was seine Kunden für ihre private Altersvorsorge erwarten. Wenn Politiker wie Florian Toncar fordern, dass die Deutschen privat fürs Alter sparen müssen, dann sind es auch Leute wie Andrew Bosomworth, die sich darum kümmern. In einer Welt ohne

größert er auch deren Finanzierungsprobleme – und damit die Krise. Im Bundestag spricht an diesem Morgen auch Peer Steinbrück. Der Ex-Finanzminister bekommt Applaus, als er den »ungezähmten Finanzkapitalismus« geißelt. Aber wer ist in dem Spiel der Schurke? Bosomworth stammt aus Neuseeland. 1989 ist er nach Europa gekommen, hat in Warschau kurze Zeit Politik studiert. Später ging er nach Hamburg, reparierte kaputte Geldautomaten auf der Reeperbahn. Es war sein erster Job überhaupt, seine Frau musste

Angst der eigenen Eltern zu spüren. Europa ist für ihn Sicherheit. Es bedeutet, dass er seine Familie besuchen kann, wann immer er will. Im Bundestag trägt Toncar stets Anzug und Krawatte, seine Uhr ist eine Maurice Lacroix, Wertarbeit, nicht ganz billig, aber für ein Statussymbol nicht teuer genug. Geld, sagt Toncar, sei ihm nicht besonders wichtig, wichtiger fände er es, Prozesse zu verstehen und zu beeinflussen. Er fühlt sich nicht getrieben von den Märkten, eher betrogen von der Politikergeneration vor ihm. Er ist der Erste und Ein-

Florian Toncar findet, Staaten sollten keine Schulden machen – nur so blieben sie souverän

Andrew Bosomworth kauft Staatsanleihen – und sichert so die Renten. Was kann er für die Krise?

Fotos: Dominik Butzmann für DIE ZEIT ([M] o.); Michael Herdlein für DIE ZEIT (u.)

S

ie kennen sich nicht, doch ihre Wege kreuzen sich 365 Tage im Jahr. Nahezu alles, was der eine beruflich macht, hat Auswirkungen auf den anderen. Florian Toncar, 32 Jahre, Bundestagsabgeordneter der FDP und Mitglied im wichtigen Haushaltsausschuss. Andrew Bosomworth, 46 Jahre, Fondsmanager in München und Herr über 122 Milliarden Euro, die er vor allem in Staatsanleihen angelegt hat. Toncars Einkommen ist völlig transparent: 7668 Euro im Monat, dazu 3984 Euro steuerfreie Kostenpauschale. Keine veröffentlichungspflichtigen Nebeneinkünfte. In Bosomworths Branche spricht man nicht über das Gehalt. Aber siebenstellig wird es sein, im Jahr. Die beiden Männer sind Akteure in einem der härtesten Kämpfe, die derzeit auf der Welt ausgetragen werden: »die Politik« gegen »die Märkte«. Es geht darum, ob Geld die Welt regiert oder ob es noch die gewählten Parlamente sind; ob Politik noch handlungsfähig ist oder nur eine Marionette der Wirtschaft. Das Bild wird bestimmt von Klischees, seit drei Jahren geht das schon so, seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Herbst 2008. Oft lösen sich die Klischees bei näherer Betrachtung auf, und doch läuft ziemlich viel schief zwischen diesen beiden Welten. Wie viel, das zeigt sich schon an einem einzigen Tag.

VON MARC BROST UND TINA HILDEBRANDT

Staatsschulden gäbe es auch keine Staatsanleihen – und ohne Staatsanleihen müsste Bosomworth das Geld seiner Kunden in viel riskantere Papiere stecken. Wer treibt wen? Als Wolfgang Schäuble im Dezember 2009 noch davon sprach, dass Deutschland nicht für die Probleme Griechenlands zahlen werde, begann Andrew Bosomworth bereits, griechische Staatsanleihen zu verkaufen. »Für mich war klar, dass Griechenland seine Probleme nicht aus eigener Kraft lösen kann«, sagt er. Wenn das Land demnächst den Schuldenschnitt bekommt, den viele Politiker jetzt fordern und den auch Toncar für unausweichlich hält, wird das alle Anleihebesitzer viel Geld kosten. Bosomworth hat deshalb keine Griechenpapiere mehr gekauft. Die Märkte würden »gegen den Euro wetten«, heißt es oft. Sie würden »ganze Staaten angreifen«. Andrew Bosomworth will im Augenblick einfach nur sicher sein, das Geld seiner Kunden auch wieder zurückzubekommen. Deswegen investiert er nicht in Griechenland und so wenig wie möglich in anderen Problemstaaten der Euro-Zone. Doch mit jedem Euro, den er außerhalb der Euro-Zone investiert, ver-

ihr Medizinstudium zu Ende bringen, er kümmerte sich um den gemeinsamen Sohn, die Geldautomaten und darum, die deutsche Sprache zu lernen. »Es gab Phasen, in denen wir überhaupt kein Geld hatten«, sagt er. Auch deswegen hat Geld für ihn heute eine gewisse Bedeutung. Florian Toncar hat es in seiner Zeit im Bundestag weit gebracht, der Haushaltsausschuss ist eines der wichtigsten Gremien, das Budgetrecht gilt als Königsrecht. Trotzdem würde in der Fußgängerzone keiner das Gesicht des 32-Jährigen erkennen, die meisten TV-Journalisten, die vor dem Bundestag auf Stellungnahmen lauern, gehen an ihm vorbei. Toncar wohnt mit seiner Verlobten im Prenzlauer Berg, da, wo Berlin mehrheitlich grün wählt und neuerdings die Piraten. Er hat Jura studiert, aber früh gemerkt, dass er sich mehr für wirtschaftliche Zusammenhänge interessiert, zur Zeit arbeitet er an seiner Promotion über das Kartellrecht. Als die Mauer noch stand, hatte Toncar Verwandte in Berlin, im Westen. Wenn er die Tante und den Onkel besuchen wollte, musste er durch die DDR, vorbei an den Grenzern. Niemand sagte ein Wort, nie fiel etwas vor. Das Bedrohlichste, erinnert sich Toncar, war die

zige aus der Familie, der in der FDP ist. Dass er 1998 bei den Liberalen eintrat, sei auch ein Reflex auf den rot-grünen Wahlsieg gewesen, sagt Toncar. Auch Andrew Bosomworth trägt keine teure Uhr, er liest die linke taz. Sein Bild von Deutschland ist geprägt durch das Einwohnermeldeamt, bei dem er die deutsche Staatsbürgerschaft beantragte, weil er hier nicht nur Steuern zahlen, sondern auch wählen wollte. Als man ihm sagte, das ginge nur, wenn er dafür seinen neuseeländischen Pass abgäbe, blieb Bosomworth lieber Ausländer. Wenn er abends nach Hause kommt und die Spätnachrichten im Fernsehen anschaltet, sieht er Politiker, die er nicht wählen darf und die davon sprechen, dass Europa scheitere, wenn der Euro scheitere. Und dass die Politik von den Märkten getrieben sei. Er würde diese Politiker dann gern fragen, wohin sie Europa entwickeln wollen und was sie mit all dem Geld anfangen würden, dass sie von ihm und den anderen Investoren so gern hätten. Niemand sagt es ihm. Und so fühlt sich auch der Fondsmanager Bosomworth in dieser Krise als Getriebener – getrieben von Politikern, die unentschlossen agieren, während er jeden Tag Geld anlegen muss.

Die Sache mit der Wahrheit Politiker müssen immer in drei Richtungen sprechen: Zu den eigenen Leute, zur Bevölkerung und seit Neustem auch zu »den Märkten«. Wer nicht für den Rettungsfonds EFSF stimmen will, dem wird entgegengehalten, das mache die Märkte »nervös«. Wer in einer Pressekonferenz ungeschickt, schlecht informiert oder, im Gegenteil, zu ehrlich ist, löst möglicherweise ein Börsenbeben aus. Im Bundestag redet an dem Morgen, an dem über den Euro-Schirm abgestimmt wird, auch Wolfgang Schäuble. Der Finanzminister beteuert, dass der EuroRettungsfonds nicht ausgeweitet werde. Die Nachfragen von Abgeordneten, die wissen wollen, ob der Fonds nicht womöglich durch einen Trick doch vergrößert werde, bügelt Schäuble als »unanständig« ab. Toncar klatscht heftig an dieser Stelle. Er ist sicher, dass die Ausweitung des EFSF, die sogenannte Hebelung, nicht kommt: »Das wäre aus meiner Sicht auch verfassungswidrig.« Während Schäuble spricht, telefoniert Bosomworth mit seinen Kollegen in London, es ist die tägliche Konferenzschaltung des European Portfolio Committee: Was könnte wichtig werden? Wer hat etwas Neues gehört? Sie reden auch über die Debatte im Bundestag. Bosomworth und seine Kollegen sind sicher, dass alles, was der Finanzminister in diesem Augenblick abstreitet, schon bald kommen wird. Sie haben mit Notenbankern, Spitzenbeamten, anderen Fondsmanagern und Händlern gesprochen. Nun bereiten sie sich auf das vor, was aus ihrer Sicht längst abgemacht ist. Was müssen sie tun, wenn der EFSF vergrößert wird? Wo werden sie investieren? Und wo nicht? Während der Finanzminister die Bürger beruhigen will, wissen die Märkte längst mehr. Im Bundestag spricht Schäuble noch immer, als Reuters die nächste Eilmeldung auf Bosomworths Monitor schickt: Das Wirtschaftsvertrauen in Europa ist weiter gesunken, auf den tiefsten Stand seit Dezember 2009. Objektiv zerfällt Europa Es ist 11.56 Uhr, als Florian Toncar im Bundestag sein blaues Stimmkärtchen in die Wahlurne wirft. Für ihn ist eine Abstimmung wie diese ein Moment der Rückeroberung, der Wiederertüchtigung von Politik. Nicht wirtschaftliche Daten bewegten die Märkte, sondern politische Signale. Kein Wirtschaftsexperte kann Griechenland retten, nur Parlamente. Andrew Bosomworth hat vor einigen Monaten eine Grafik erstellt, die er seitdem ständig aktualisiert. Sie zeigt die Wirtschaftskraft der einzelnen EuroLänder, ihre Haushaltszahlen, ihre Leistungsbilanzen. Bosomworths Grafik besteht aus zwei Kurven, die stetig auseinanderlaufen. Die eine Kurve steht für Länder wie Deutschland, Österreich oder die Niederlande, die immer stärker werden. Diese Kurve steigt an. Die andere Kurve steht für die Problemländer wie Griechenland, Portugal, Irland, Italien oder Spanien. Diese Kurve fällt. Bosomworths Grafik zeigt das grundlegende Problem der Euro-Zone – jenseits der aktuellen Schuldenkrise: Die Entscheidung, 17 unterschiedliche Länder in einer Währungsunion zusammenzubinden, hat dazu geführt, dass die einen immer stärker und die anderen immer schwächer wurden. Diese riesige Lücke, das weiß Bosomworth, das weiß Toncar, und das dämmert inzwischen auch vielen anderen Abgeordneten des Bundestags, wird man so schnell nicht schließen können, nicht in den nächsten Wochen und auch nicht in den nächsten Monaten. Es ist eine Aufgabe für ein Jahrzehnt. Die gläserne Wand Man würde spätestens in diesem Moment es doch gern einmal erleben, dass die beiden tatsächlich aufeinandertreffen, der Abgeordnete und der Mann der Märkte. Für Toncar sind die Märkte wie ein »Ameisenhaufen ohne einheitlichen Willen und ohne Steuerung«, alles verhält sich situationsangepasst. Für Bosomworth wirkt die Politik nicht viel anders. Ein »guter Banker«, ein ehrlicher Abgeordneter, die beiden entsprechen so gar nicht dem Klischee ihres jeweiligen Berufsstands. Aber natürlich sind auch sie ihrer eigenen Welt verbunden – deren Mechanismen und deren Werten. An den Märkten ist Geld die entscheidende Währung, es ist eine Welt, die auf Wachstum angelegt ist, auf ein Immer-Mehr. Wenn aus hundert Euro schnell Tausende werden und aus Millionen Euro schnell Milliarden, koppelt sich der Wert des Geldes von seinen realen Gegenwerten ab. Selbst wenn jemand Reichtum persönlich nicht so wichtig nimmt: Er ist der Maßstab für gute Arbeit, für den Erfolg. In der Politik ist Geld nur Mittel zum Zweck, man wird nicht reich als Parlamentarier. Die entscheidende Währung des Politikers ist die Wahl. Um gewählt zu werden, muss man angesehen sein, man muss viele verschiedene Leute erreichen und überzeugen. Offenheit wird vom Wähler oft bestraft. Das verführt zum Taktieren, zum absichtsvollen Verschweigen, zur Unehrlichkeit. Beide Welten blicken wie durch eine gläserne Wand aufeinander, sie berühren sich selten. Sie reagieren aufeinander, aber sie handeln nicht gemeinsam. Das ist – jenseits der Staatsschulden – der Grund dieser Krise. Und deswegen wird diese Krise auch so schnell nicht vorbei sein. Genau vier Tage hat es gedauert, bis Wolfgang Schäubles Worte im Bundestag hinfällig sind. Seit Montag dieser Woche diskutieren Europas Finanzminister offen über die Hebelung, die Ausweitung des Rettungsschirms. Die Eurokrise: Weitere Informationen unter www.zeit.de/eurokrise

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6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

Mail aus: DENVER

Lieber doch nicht regieren?

Von: [email protected] Betreff: Wertewandel

Mail aus: PARIS Von: [email protected] Betreff: dames pipi

Neben der Kirche La Madeleine führt eine Treppe zu den schönsten öffentlichen Toiletten von Paris hinab. Das Etablissement, 1905 für den Publikumsverkehr freigegeben, ist im Stil des Art déco gehalten und ansehnlicher als manches Bistro. Nun jedoch soll es geschlossen werden; die jährlichen Einnahmen reichen nicht mehr aus, um den Betrieb zu unterhalten. Touristen, deren Reiseführer die Einrichtung anpreisen, dürften also bald rätselnd von einem Fuß auf den anderen treten, wenn sie es bis zur Treppe geschafft haben. Nicht, dass der linksgrünen Bürgermeisterei die Bedürfnisse der Massen gleichgültig wären. Ganz im Gegenteil, sie hat mehr als 400 sanisettes in der ganzen Stadt errichten lassen, geräumige Metallhäuschen, die mit Sensoren und künstlicher Intelligenz ausgestattet sind. Der Besucher begibt sich gleichsam in einen Roboter hinein, der ihn sanft dirigiert und schließlich wieder hinausbugsiert, um sich anschließend selbst zu reinigen. Das klappt alles wie am Schnürchen und jagt angeblich nur Senioren ein wenig Angst ein. Und doch ist es manchmal schade, wenn das Neue so gar nichts Altes neben sich dulden will. Etwa die dames pipi mit Perlenketten und gestärkten Blusen, die am hergebrachten Ort das Regime führten und nun obsolet geworden sind. Ihnen missfiel die volkstümliche Bezeichnung übrigens. »Dienstleistungskräfte« wollten sie genannt werden. Dazu wird es nun nicht mehr kommen.

Mail aus: ACHILTIBUIE Von: [email protected] Betreff: Mülltrennung

Diese Woche haben wir zum ersten Mal Müll getrennt. Ein tolles Gefühl, endlich zu den 300 Millionen EU-Bürgern zu gehören, die das schon tun. Der erste Oktobersturm bemächtigte sich zwar etlicher der blauenTonnen, die das Bezirksamt vor jede Hauseinfahrt gestellt hatte, und verteilte sie in der grün-gelb-goldenen Herbstlandschaft, wo sie ziemlich seltsam aussahen. Aber das soll von ihrem Zweck nicht ablenken. Ich fand die erste Leerung so aufregend, dass ich mich stolz neben unseren mit wiederverwertbarem Abfall gefüllten Behälter stellte. Der Müllabfuhrfahrer war wohl ähnlich aufgeregt, er riss mit seinem Laster ein vor unserem Haus angebrachtes Schild aus der Verankerung. Bevor die ihm beigestellte Hilfskraft unsere Tonne in die Hebevorrichtung bugsierte, eilte ein mit Schreibunterlage und Formblättern ausgestatteter Kontrolleur herbei. Der wühlte sich ungehalten in die blaue Tiefe. Wir hatten alles verkehrt gemacht! Aber ich dachte doch, Papier, Plastik ... »nur Plastikflaschen« ... Aluminium ... »nur Dosen« … Der Recycling-Inspektor packte mir das falsche Plastik und das falsche Aluminium in die Arme. Plastiksäcke, Plastiktüten, die Klarsichtfolien, in denen die ZEIT kommt. Am Ende war der Tonnenboden nur noch ganz dünn mit Papier bedeckt. Die so gut wie leere Tonne überschlug sich fast in der Hebevorrichtung. Ich stand voll beladen und verdutzt daneben.

Der einzig Wahre Europa, Kapitalismus, Globalisierung – lange Zeit war Peter Gauweiler der CSU zehn Jahre voraus. Nun will er sie führen VON THOMAS E. SCHMIDT

»Jetzt kann ich meine Position wieder zur Geltung bringen«, hofft Gauweiler

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er schwarze Peter stürmt in das Restaurant des Bundestags, entschuldigt sich ausgesprochen höflich für eine kleine Verspätung und erklärt ebenso höflich, warum er wieder mitspielen möchte. Er schickt voraus, weil ja die Ironie zu Peter Gauweiler gehört wie die gute Laune zum Oktoberfest: »Ich denke, neudeutsch, man muss sich einbringen.« Eingebracht hat er sich ja eigentlich immer, bloß tat er es oft als Außenseiter. Er ist nicht erst seit dem Rettungsschirm Euro-Rebell. Zum Ärger seines damaligen Parteichefs Theo Waigel hielt er schon 1992 die Maastricht-Verträge für eine »ausgemachte Schnapsidee«. Er gehörte zu den Gegnern des zweiten Irakkrieges 2003 und warnte vor einer Globalisierung unter amerikanischer Vorherrschaft. Scharf kritisiert er die Bundeswehreinsätze in Afghanistan, ebenso wie den angelsächsischen Finanzkapitalismus. All das war mal Gauweilersche Exzentrik, jetzt sind solche Haltungen mehrheitsfähig, zumindest in der CSU. Am Freitag auf dem CSU-Parteitag in Nürnberg möchte sich Gauweiler zum stellvertretenden Parteivorsitzenden wählen lassen. Es ist eine Kampfkandidatur, sie richtet sich gegen Peter Ramsauer, den Bundesverkehrsminister im Kabinett Merkel. Und Gauweiler hat gute Chancen. Was Gauweiler angeht, folgt diese Art der Wiederkehr einem gewissen Schema. Wenn sich die Partei allzu sehr zerstritten oder beim Regieren verschlissen hatte, kam er zurück, obwohl das nach seinen spektakulären Abgängen keiner mehr für möglich hielt. 1988 wurde der Law-and-Order-Innenstaatssekretär von Ministerpräsident Max Streibl ausge-

Foto (Ausschnitt): Axel Griesch/ASFM/Getty Images

Als ich vor genau 40 Jahren als Austauschschüler in Debbies Familie in den leicht verschlafenen Bundesstaat Colorado kam, war sie ein typisches konservatives Vorstadtmädchen: blond, dauergewelltes Haar, silberne Zahnspange, beliebter Cheerleader der Football-Mannschaft und Sopran im Schulchor. Mit ihrem Freund tauschte sie heimlich Küsse im Autokino aus, aber Sex vor der Ehe war undenkbar. Sonntags ging sie zur Messe, mittwochs zur Beichte. Politisch betete die 16-Jährige nach, was die Eltern dachten: Schwarze kommen möglichst nicht ins Haus, Schwule sind krank, in Vietnam kämpft Amerika für den Rest der Welt gegen den Kommunismus – und gewählt wird streng republikanisch: Goldwater, Nixon, Reagan ... Wie Debbie und ihre Familie, so dachte damals fast ganz Colorado. Der Rocky-Mountains-Staat war eine Festung der Konservativen. Ich habe Debbie jetzt wiedergesehen, am Rande eines Obama-Auftritts in Denver. Wie Colorado hat sich auch Debbie radikal gewandelt. Denver und die Universitätsstadt Boulder gelten heute als hip, Colorado als liberal. Es gibt vielerorts Marihuana auf Krankenschein, die Bevölkerung ist jünger, urbaner, gebildeter und lateinamerikanischer geworden. Obama und seine Demokraten bauen darauf, Colorado auch bei der Wahl 2012 in ihrem Lager halten zu können. Debbie lud mich für den nächsten Sommer zu einer Hochzeit ein. Ihr Sohn heiratet. Seinen Freund. Kirchlich. Sie sind schwul. Die Familienfeier wird allerdings in New York und Chicago stattfinden.

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bremst. 1994 kegelte Edmund Stoiber seinen Umweltminister aus dem Kabinett. Gauweiler nutzte es zur Generalabrechnung. 1998 legte er sämtliche Parteiämter nieder. Eine starke Stimme blieb er. In ihm, vielleicht nur noch in ihm, glimmt etwas vom Furor des Franz Josef Strauß fort. Strauß war sein Ziehvater, und womöglich hatte der nur einen legitimen politischen Sohn. Der stellt nun Fragen: »Was ist mit der Stammkundschaft? Fühlen die sich noch von uns vertreten, oder sind wir auch eine Werbeagenturpartei geworden? Ich denke, dass die CSU sich wieder daran erinnern muss, wofür sie gegründet wurde.« Gauweiler, das ist die Botschaft, ist heute das Original der CSU, und Berliner Kabinettsbeschlüsse mittragende Minister sind die Fälschung.

Riskiert die CSU den Bruch mit Merkel? »Schaun mer mal« Die Stimmung in der CSU geht in Richtung Abgrenzung, Selbstvergewisserung, auch politischer Bestandssicherung. Bei der kommenden Landtagswahl darf nichts mehr schiefgehen, sonst lautet das Fazit: Mit Merkels Hilfe hat sich unser Profil endgültig aufgelöst. Nun wird auch noch Christian Ude, Münchens populärer Oberbürgermeister, bei der Landtagswahl 2013 für die SPD antreten. Gauweiler nimmt Ude sehr ernst, immerhin hat er mal eine Münchner OB-Wahl gegen ihn verloren. Die Europa-Skepsis in der Bevölkerung spürt er, und er weiß, dass es der CSU immer guttat, sie zu bedienen. Das politisch zusammenpurzelnde Gebilde wird die Nationalstaaten unter Druck setzen.

Gauweiler blickt sich um im Restaurant des Bundestages. Die alle hier müssten sich doch fragen, wo sie bleiben, meint er, und wozu man sie künftig noch brauchen wird. Aber er lässt kunstvoll offen, ob die Schwächung des Nationalstaats erwünscht ist, weil darunter das Europa der Regionen blüht oder sich darin nur der Brüsseler Zentralismus zeigt. 2002 wurde Peter Gauweiler per Direktmandat in den Bundestag gewählt, wo er seitdem, ohne auf eine Abgeordnetengehalt angewiesen zu sein, eine Politik macht, die sich um Fraktionsdisziplin oder Parteiräson nicht schert. Mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Lissabon-Verträge erstritt er eine rechtliche Auslegung, die bis heute den Korridor der politischen Integrationsmöglichkeiten definiert: Noch mehr Europa geht nicht. Auch Kontrahenten zollten ihm dafür Respekt. »Jetzt kann ich in der Partei meine Position wieder zu Geltung bringen«, meint er. So gesehen, ist nicht schwer zu verstehen, wieso der Einzelkämpfer nun unters Joch der Parteidisziplin zurückkehren will. Hinzu kommt, dass die Partei selbst das Joch der Disziplin abwerfen möchte – in der Berliner Koalition. Woraus sich natürlich die entscheidende Frage ergibt, wie ernst es die CSU mit ihrer Unabhängigkeit meint. Wird sie für ihre Konsolidierung als regierende Volkspartei bis 2013 sogar die Berliner Koalition aufs Spiel setzen? Wird sie den Bruch mit Merkel riskieren? So endet das Gespräch mit Peter Gauweiler im Restaurant des Deutschen Bundestages, wie sollte es anders sein, mit einem Lächeln und einem bayerischen Klassiker: »Schaun mer mal.«

Im Land Berlin streiten die Grünen um Rot-Grün VON MARIAM LAU Eine Panikattacke hat die Grünen erfasst und lässt sie verzweifelte Dinge tun. Erschrocken über das Auftauchen der Piraten und den zu klein geratenen Wahlsieg, torpediert die Partei im Stadtstaat Berlin gerade ohne Not ein Bündnis mit der SPD, das der Einstieg in die Ablösung der Regierung Merkel 2013 hatte werden sollen. 3,5 Kilometer Stadtautobahn wurden kurz vor der Wahl zu einem solchen Grundsatzkonflikt hochgejazzt, dass nun die Koalition auf dem Spiel steht. Die SPD, der das Projekt als Beweis ihrer Wirtschafts- und Metropolenkompetenz dienen soll, zeigt sich hartleibig. Immerhin hatte der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit sein eigenes Schicksal schon lange vor der Wahl mit dem Bau der A 100 verknüpft, als er seinen Landesverband in eine Vertrauensabstimmung zwang. Jochen Esser, Finanzpolitiker der Grünen, sieht es wohl realistisch, wenn er sagt, die SPD-Spitze prügele derzeit auf die Grünen ein und meine damit die eigene starke Parteilinke, die den Autobahnbau auch nicht will. Sorgen sollten sich die Grünen dennoch, denn im Unterschied zu ihnen hat die SPD eine Alternative: Die Berliner CDU hat längst signalisiert, dass sie für eine Regierungsbeteiligung zu so ziemlich allem bereit ist. Das alles klingt nach gestern, nach der allerersten, in Feindseligkeit erstarrten rotgrünen Landesregierung unter Hessens Ministerpräsident Holger (»Dachlatten«-) Börner und Joschka Fischer, nach grinsendem Koch und verheulter Kellnerin. »Unter Augenhöhe versteht die SPD, dass einer sitzt und einer kniet«, rief eine Delegierte auf dem Grünen Landesparteitag am vergangenen Wochenende wütend in den Saal. In dieser Lage versuchen die Grünen, sich in Sachen A 100 mit Klauseln zu behelfen, die so raffiniert sind, dass sogar Parteifreunde sie einander immer wieder erklären müssen. Man kennt solche Spitzfindigkeit aus Stuttgart, wo die grün-rote Landesregierung sich immer neue Winkelzüge ausdenkt, um im Bahnhofsstreit um Stuttgart 21 die inneren Zerreißkräfte einigermaßen zu bändigen. Am Ende läuft es in Berlin darauf hinaus, dass die Grünen hoffen, der Bund werde bis 2013 einfach kein Geld für den kompletten Ausbau der Autobahn übrig haben. Falls diese Rechnung nicht aufgeht, solle die schwarz-gelbe Bundesregierung die Mittel doch bitte lieber für Lärmschutz und den Ausbau vorhandener Straßen ausgeben. CSU-Verkehrsminister Ramsauer hat schon in aller Deutlichkeit klargemacht, was er von diesen Manövern hält. Was also, wenn der Ausbau doch kommt? Man könnte glauben, dass Berlin geradezu auf eine energische, unternehmungslustige Regierung warten müsste. Eine alternde, multikulturelle Gesellschaft braucht neue Ideen für das Zusammenleben. Das wäre das Experiment, das hier auf dem Präsentierteller durchzuführen ist: Politik ohne Geld. Die Grünen haben im Wahlkampf darauf bestanden, dass Bildung nicht unbedingt besser wird, wenn man immer mehr Geld dafür ausgibt. Es geht auch darum, wie Eltern sich engagieren, wie die Schule den Unterricht organisiert, welche Rolle sie in ihrer Umgebung spielt. Über die Richtung in der Bildungspolitik, dem für Berlin wichtigsten Thema, sind Rote und Grüne aber einig: Alle müssen mit, so weit nach oben wie möglich. Schwieriger ist es da schon mit dem Klimaschutz: Die SPD ist auch dafür, allerdings soll er nicht zu Mieterhöhungen führen. Das wird auf Dauer nicht gehen. Die Grünen sind auf diese Konfrontation vorbereitet, was sich nicht nur für sie, sondern auch für die Stadt auszahlen könnte. Auch in der Verkehrspolitik würde die SPD von einem grünen Koalitionspartner stärker gefordert als von der Hauptstadt-CDU, die darunter auch hauptsächlich mehr vom Gleichen versteht. Dass langfristig schnelle U-Bahnen in der Innenstadt die Autobahnen ablösen müssen, macht Paris gerade wieder vor. An vielen Stellen in der Stadt herrscht zäher SPD-Filz. In den Stadtbetrieben, in vielen öffentlichen Verwaltungen und Bildungseinrichtungen haben SPD und Gewerkschaften den Kuchen unter sich verteilt, auf Kosten der Bürger. Dass mit den Piraten eine weitere linke Partei des »Umsonstismus« auftaucht, die öffentliche Leistungen für alle fordert und der die Haushaltspolitik egal ist, könnte ein rot-grünes Bündnis offensiv zum Thema machen. Die Grünen haben eigentlich keine Zeit für Identitätskonflikte um die A 100, für den Kampf von Ökolibertären vom Prenzlauer Berg gegen Ökopuristen aus Kreuzberg. Die SPD braucht sie, sie weiß es nur noch nicht. Wie hatte die Sozialpolitikerin Sybille Klotz ihren grünen Parteifreunden in der Debatte um die A 100 zugerufen? »Leute, habt ihr keine anderen Sorgen?«

6 6. Oktober 2011

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DIE ZEIT No 41

Deutsch zu sein nimmt mir keiner ab IM MINISTERIUM Ihre türkische Herkunft verleugnet Bilkay Öney nicht: Sie ist die Integrationsministerin von Baden-Württemberg. In ihrem Büro hängt, wie in türkischen Amtsstuben eben üblich, ein gerahmtes Foto des Staatspräsidenten. Nein, nicht von Atatürk, sondern von Christian Wulff. Weil sie seinen Mut bewundere, sagt sie.

A U S M A L AT Y A Bilkay Öney wurde am 23. Juni 1970 in der ostanatolischen Stadt Malatya geboren. Nach dem Abitur in Berlin studierte sie Betriebs wirtschaftslehre und Medienberatung an der TU Berlin. Danach arbeitete sie als Bankangestellte, später als Moderatorin beim türkischen Staatsfernsehen in Berlin. 1999 trat Öney den Berliner Grünen bei, für die sie auch im Abgeordnetenhaus saß. 2009 wechselte sie zur Berliner SPD. Diesen Mai warb sie der Landesverband Baden-Württemberg ab, um sie zur Ministerin zu machen.

DIE ZEIT: Frau Öney, Sie sind in der Türkei gebo-

ren und mit knapp drei Jahren nach Berlin gekommen, Sie sprechen Türkisch, Deutsch und Englisch. In welcher Sprache denken Sie? Bilkay Öney: In allen dreien. Für manche englischen Wörter gibt es keine gute Übersetzung ins Türkische oder Deutsche, spirit oder challenge zum Beispiel. Auf Deutsch denke ich vor allem, wenn es um Sachthemen geht, um Politik. ZEIT: Wann sprechen Sie Türkisch? Öney: Zum Beispiel, wenn ich fluche. ZEIT: Die Deutschen können nicht gut fluchen? Zu wenig Wut? Öney: Ich glaube, es liegt daran, dass bei Südländern Emotionen und Fantasie zusammenkommen. Zeit: Ihre Mutter hat gearbeitet, als Sie ein Kind waren. Das war in den Siebzigern nicht üblich. Öney: In Gastarbeiterfamilien schon. Da haben schon damals in der Regel beide gearbeitet, weil man ja in kurzer Zeit viel Geld verdienen wollte, um zu sparen und dann wieder zurückzukehren. Aber meine Mutter hätte auch in der Türkei gearbeitet. Sie war Lehrerin, wie mein Vater. Hier musste sie zuerst eine andere Stelle annehmen, später wurde sie wieder Lehrerin. ZEIT: Sie haben zwei Schwestern, Ihr Vater war der einzige Mann in der Familie. Hatte er es schwer? Öney: Ihm blieb nichts anderes übrig, als Feminist zu werden. Ich war zwölf, als meine jüngste Schwester geboren wurde. Ich habe meinem Vater angesehen, dass er traurig war, er hatte sich so sehr einen Sohn gewünscht. Aber irgendwann hat er gesagt: »Lieber drei nette Mädchen als einen Jungen, der mir Probleme macht.« ZEIT: Hat er sich Sorgen gemacht um seine Töchter? Öney: Mein Vater ist ein linker Nonkonformist. Er ist sehr aufgeschlossen. Meine Eltern waren und sind linke Sozialdemokraten, sie waren immer ziemlich fortschrittlich. Ich durfte alles. Und weil ich alles durfte, habe ich nichts gemacht. ZEIT: Das ist linke Dialektik. Durften Sie auch einen Freund haben? Öney: Als ich, ziemlich spät, meinen ersten Freund hatte, war mein Vater derjenige, mit dem ich darüber gesprochen habe – vielleicht, weil ich ein Vaterkind bin, vielleicht auch, weil mein Vater ein ziemlich cooler Typ ist. ZEIT: War Ihr erster Freund ein Deutscher? Öney: Nein, ein Türke. Aber es hätte auch ein Deutscher gewesen sein können.

ZEIT: Haben Sie sich hier je fremd gefühlt? Öney: Nur wenn ich in die Situation gebracht wur-

Öney: Als jemand mit einem türkischen kulturellen

Öney: Viele Mädchen haben nun einmal den Be-

Hintergrund, der in Deutschland groß geworden ist und der nie die Wahl hatte, selbst darüber zu de. Von mir aus hat sich die Frage nie gestellt. entscheiden. Ich wurde als Kind hierhergebracht. ZEIT: Was heißt das: In die Situation gebracht? Öney: Wenn ich in der Schule erzählen musste, wie Ich habe mich mit dieser Situation abgefunden und es in der Türkei so ist – obwohl ich das gar nicht mehr als das: Ich habe mich damit angefreundet. wissen konnte, weil ich da nicht aufgewachsen bin. Deswegen habe ich auch beschlossen, in die Politik Einmal wurde ich von einer Lehrerin gefragt, ob zu gehen. Deutschland ist ein spannendes Land, wir in der Türkei auch Geburtstage feiern, eine das sich innerhalb kurzer Zeit sehr verändert hat. Bis 1945 hatten wir eine sehr, sehr schwierige Zeit. wirklich dumme Frage. ZEIT: Sie waren als Teenager bei den Pfadfindern. Das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte hat sich in der Zeit von 1933 bis 1945 abgespielt. Wie kamen Sie auf die Idee? Öney: Meine Mutter hat mich angemeldet. Sie war Und nur 15 Jahre später kamen schon die ersten hochschwanger, und wir konnten nicht in den Ur- Gastarbeiter. laub fahren. Also hat meine Mutter überlegt, was ZEIT: Haben Sie das Gefühl, die Zeit des Nationalman machen kann, damit sich sozialismus ist auch Ihre Gedie Kinder in den sechs Wochen schichte? Sommerferien nicht langweilen. Öney: Ich bin auf einer deutschen Die Pfadfindergruppe bot Reisen Schule mit der deutschen Gein die Türkei an, nach İznik. Das schichte groß geworden. Sie ist war so toll, dass ich bis zu meiner auch meine Geschichte geworUni-Zeit bei den Pfadfindern geden, ja. blieben bin. ZEIT: Die siebziger Jahre war die ZEIT: Haben Sie da deutsche Zeit des Feminismus. Konnten Tugenden gelernt? Sie damit etwas anfangen? Öney: Schwer zu sagen, was sind Öney: Dafür war ich zu jung. Ich Als sich Sıla Şahin deutsche Tugenden? Schon dahabe die Siebziger nicht als femifür den Playboy mals waren die Pfadfinder sehr nistische Jahre erlebt, wohl aber ausgezogen hat, wurde als politische Jahre: Wir lebten im international, es gab kroatische Kinder, serbische, griechische gefragt: Darf sich eine geteilten Berlin, die Alliierten und türkische. Die Pfadfinder waren präsent. Ich erinnere mich Türkin ausziehen? gingen davon aus, dass alle Menan RAF-Sterne und an »Amis Mein Gott, lasst sie schen Rechte haben, auch wir raus«-Graffiti. sich doch ausziehen! Kinder. Es war eine Form von ZEIT: Würden Sie sagen, dass Emanzipation, die dort vermittelt Feminismus bei Migrantinnen wurde. anders funktioniert? ZEIT: Finden Sie eigentlich, dass »Menschen mit Öney: Nein. Ich fand es spannend und befremdlich Migrationshintergrund« ein guter Ausdruck ist? zugleich, als sich die Schauspielerin Sıla Șahin für Öney: Begriffe sind Krücken. Es ist ein extrem lan- den Playboy ausgezogen hat und die Medien gefragt ger, politisch korrekter Ausdruck. Ich glaube, mit haben: Darf sich eine Türkin ausziehen? Mein Gott, dem Begriff müssen wir so lange leben, bis wir ei- lasst sie sich doch ausziehen, wenn sie es freiwillig macht. Feminismus bedeutet auch Coolness und nen besseren gefunden haben. ZEIT: Mögen Sie es, wenn es heißt, Frau Öney ist nicht gleich aus allem ein Politikum zu machen. eine Frau mit Migrationshintergrund? ZEIT: Macht es keinen Unterschied, ob sich eine Öney: Ich kann mich ja gar nicht dagegen wehren. Türkin oder eine Deutsche im Playboy auszieht? Soll ich sagen: Moment mal, ich habe einen deut- Öney: Überhaupt nicht, Frau ist Frau. schen Pass? ZEIT: Früher gab es Heidi auf der Alm und den Geissenpeter, heute gibt es Heidi Klum und GerZEIT: Sie könnten sagen: Ich bin eine Deutsche. many’s Next Topmodel. Ist die Sendung unterhaltÖney: Nimmt mir doch keiner ab. sam, oder vermittelt sie ein falsches Vorbild? ZEIT: Wie sehen Sie sich denn selbst?

rufswunsch Model. Man sieht in dieser Sendung, dass es ein hartes Geschäft ist. Möglicherweise hilft das den Mädchen sogar, eine realistischere Einschätzung ihrer Fähigkeiten zu entwickeln und Abstand zu nehmen von diesem Berufswunsch. ZEIT: Es ist ein Geschäft, in dem Frauen extrem von ihrer Optik abhängen. Öney: Für Männer gelten im Modelgeschäft genauso harte Regeln. ZEIT: Aber die meisten Frauen werden nicht erfolgreiche Topmodels, sondern entscheiden sich für Friseurin oder Kosmetikerin. Öney: Das stimmt nicht. In den Schulen werden Mädchen oft bevorteilt, weil Mädchen brav und fleißig sind. Es gibt genug Studien, die belegen, dass sie besser benotet werden. Inzwischen studieren viele Frauen. Viele verabschieden sich aber dann nach einem langen Studium von der Wissenschafts- und Arbeitsbühne, weil sie heiraten und Kinder bekommen. ZEIT: Wenn es so ist, müsste man fragen, warum die Politik Frauen und Mädchen fördert. Öney: Ich befürworte Mädchenförderung. Denn es gilt immer noch: It’s a man’s world. Das ist übrigens gerade auch in der Politik so. Da stellen Männer in ihren Runden die Listen auf und entscheiden darüber, wer top ist und wer flop. Aber ich sehe auch, dass in der Integrationsdebatte die Männer nicht vergessen werden dürfen, deshalb habe ich mich immer schon im Bereich Jugendgewalt engagiert und für ausländische junge Männer. Es gibt nach wie vor zu viele Vorurteile über sie. ZEIT: Eines lautet: Muslimische Jungs werden von ihren Müttern gehätschelt. Öney: Manche werden auch verhauen. In der Regel haben sie aber mehr Freiheiten als Mädchen. Daher ist es hilfreich, wenn schon in der Kita Rollenmuster aufgebrochen werden, wenn zum Beispiel eine emanzipierte Erzieherin dem kleinen Mustafa beibringt, dass auch er den Frühstückstisch abwischen muss. ZEIT: Sie sind von den Grünen zur SPD gewechselt. In welcher Partei hat man es als Frau eigentlich leichter? Öney: Bei meiner ersten Fraktionsklausur mit der SPD wurde ich gefragt: Na, Bilkay, wie ist es denn so? Da fiel mir auf, dass ich jetzt im Zug endlich ohne schlechtes Gewissen Frauenzeitschriften lesen darf. Dieser moralisch-feministische Druck ist bei

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6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

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Die Integrationsministerin Bilkay Öney über türkische Erziehung, Heidi Klum und ihre Zeit bei den Pfadfindern phobie. Bei den Migranten schafft das eine Gegenreaktion, und die besteht manchmal auch im Abschotten. Um dieses Unrechtsempfinden zu reduzieren, sage ich den Migranten, dass es Rassismus leider auf der ganzen Welt gibt. Manchmal benutze ich Beispiele aus anderen Ländern: Stell dir vor, in dein Land kommen Fremde, die Kirchen bauen wollen und eine Wurstfabrik für Schweinefleisch aufmachen. Ich versuche, Empathie zu schaffen. ZEIT: Was bedeutet es, die Angst vor Überfremdung bei den Deutschen ernst zu nehmen? Öney: Ich lasse mein Ministerium abfragen, was sich die deutsche Bevölkerung vom Ministerium erwartet und wo sie die drängendsten Probleme sieht. Die Debatte ist eine Elitendebatte. Sie findet in Stiftungen und Parteien statt, aber selten an der Basis. In den Medien geht es nur um Kopftücher und Sarrazin. Wo drückt der Schuh im Alltag? Das will ich erfragen. ZEIT: Oft macht sich das Unbehagen am Kopftuch fest. Sie lehnen es ebenfalls ab. Öney: Ich komme aus einem kemalistisch geprägten Elternhaus. Deswegen war und bin ich auch der Auffassung, dass das Kopftuch im öffentlichen Dienst nichts verloren hat. Ich muss aber sagen, dass ich eine differenziertere Meinung habe, nachdem ich zwei Jahre die Körting-Schule durchlaufen habe. Ehrhart Körting, der Berliner Innensenator, ist ein großartiger Politiker. Mit ihm habe ich viel gestritten, über den Burkini, über das Kopftuch. Ich kann heute die Frage verstehen: Wollen wir den Musliminnen, die aus religiösen Gründen und mit Überzeugung ein Kopftuch tragen, den Weg in die Emanzipation, in die Arbeitswelt verschließen, oder wollen wir ihnen den Weg ebnen? ZEIT: Sind Burkinis, Ganzkörperschwimmanzüge für muslimische Frauen, also ein Zeichen von Integration? Öney: Burkinis sind für mich Quatsch. Aber ich finde es gut, wenn die Frauen unter sich sein können, wenn sie schwimmen gehen, unbeobachtet von den Männern, ohne dass sie als Sexobjekt dastehen oder dass sie sich vielleicht ihrer Cellulite schämen müssen. Das ist für mich auch eine Form von Feminismus. Frauenfitness hat es schon gegeben, bevor wir anfingen, uns über Kopftücher und Burkinis Gedanken zu machen. Das Gespräch führten TINA HILDEBRANDT und ÖZLEM TOPÇU

Fotos (S.6 u. S. 7): Bernd Hartung für DIE ZEIT

den Grünen größer. Bei der SPD darf ich Frau sein, Rock und roten Lippenstift tragen. ZEIT: Auf Ihrem Regal steht ein Foto von Herbert Wehner. Was bedeutet er für Sie? Öney: Wir sind beide von einer anderen Partei zur SPD gekommen. Hubertus Heil, der frühere Generalsekretär der SPD, hat mir nach meinem Wechsel eine Anekdote von Schumacher und Wehner mit auf den Weg gegeben: Schumacher sagt zu Wehner: »Herbert, du musst für den Bundestag kandidieren.« – »Ja, Kurt, ich würde das gerne machen, aber ich komme von der Kommunistischen Partei. Wenn ich wechsle, werden sie mir die Haut am lebendigen Leib abziehen.« – »Genau das werden sie tun, Herbert. Und du wirst es aushalten.« ZEIT: Hat es sich dann bei Ihnen tatsächlich so angefühlt? Öney: Nein. Dass ich von der innerparteilichen Konkurrenz nicht mit offenen Armen empfangen wurde, ist normal. Jeder muss sein Territorium verteidigen. Bei den meisten hatte ich aber nicht den Eindruck, dass ich schlecht behandelt wurde, ganz im Gegenteil. Ich wurde sehr herzlich aufgenommen. ZEIT: Territorien verteidigen – klingt martialisch. Öney: Es ist manchmal martialisch, es werden Gerüchte verbreitet. Dass man den Job nur hat, weil man gut aussieht oder ein Verhältnis mit jemand hat. Solche Gerüchte lassen sich nur verbreiten, weil es um eine Frau geht. Schlimm finde ich, wenn solche Gerüchte von Frauen in die Welt gesetzt werden. Denn Feminismus ist für mich auch Frauensolidarität. ZEIT: Würden Sie sagen, dass Sie Ihr Amt auch der Quote zu verdanken haben? Öney: Teilweise ja. Es war nun einmal so, dass eine Frau für dieses Amt gesucht wurde. Außerdem sollte es jemand mit Migrationshintergrund sein, um einen thematischen Bezug zu haben. ZEIT: Viele erfolgreiche Migranten sagen, Quoten sind Almosen. Können Sie das nachvollziehen? Öney: Ich würde das nicht tun. Die Quote ist notwendig, weil wir sonst nicht zu Chancengleichheit und Gleichberechtigung kommen. ZEIT: Von einer Integrationsministerin erwarten vor allem Migranten, dass sie sich für sie einsetzt. Stattdessen betonen Sie immer wieder, dass Migranten die Ängste von Deutschen verstehen sollen. Öney: Es gibt Antisemitismus, es gibt Homophobie, es gibt Fremdenfeindlichkeit, es gibt auch Islamo-

Bilkay Öney (SPD) im Ministerium für Integration in Stuttgart

8 6. Oktober 2011

POLITIK

DIE ZEIT No 41

Macht der Toten

Paweł Deresz verlor bei dem Flugzeugabsturz von Smolensk 2010 seine Frau, eine Politikerin. Nun will er selbst bei den Wahlen in Polen gewinnen VON ALICE BOTA

Warschau/Krakau/Plock s sind noch acht Monate bis zur Wahl, als Paweł Deresz bemerkt, dass er nicht nachgedacht hat über Arbeitslosigkeit, über Geldentwertung oder Haushaltsdefizite. Er ist viel gereist in seinem Leben, er hat seine Frau bei Empfängen begleitet, er hat Hände berühmter Menschen geschüttelt und für Fotos posiert. Aber die Tribüne im Parlament kennt er nur von Besuchen, als ewiger Begleiter seiner Ehefrau, einer bekannten Abgeordneten, und als Journalist, der von oben zusieht, wie sich die da unten im Plenum bekriegen. Deshalb weiß Paweł Deresz nicht, was er sagen soll, als ihn der Parteivorsitzende der postkommunistischen SLD im Frühling anruft, ein glatter Durchschnittstyp Ende 30, und in sein Büro im Parlament einlädt. Ob er, Deresz, nicht bei den Wahlen im Oktober für das Amt des Senators kandidieren wolle? Verwirrt geht Deresz nach Hause. Das Angebot schmeichelt ihm. Einmal nicht Zweiter sein, nicht Begleiter, nicht Zuschauer. Aber was sucht einer wie er in der Politik, Paweł Deresz, ein Mann von 74 Jahren aus einer wohlhabenden Siedlung in der Nähe von Warschau, der in einem Haus lebt, das für ihn allein viel zu groß geworden ist? Das Einzige, was ihn ständig bewegt, ist seine Trauer, und dieses Gefühl hat ein Datum: den 10. April 2010. Es war der Tag, an dem ihn die Nachricht erreichte, dass seine Ehefrau Jolanta, 55, nicht mehr lebt. 96 Menschen kamen um, als die polnische Präsidentenmaschine über dem Flughafen von Smolensk in Russland vom Himmel fiel. Das polnische Präsidentenpaar Kaczyński, Historiker, Politiker, alle tot. Still hofft Deresz, aber er sieht das Flugzeugwrack im Fernsehen und weiß: Niemand hat überlebt, auch seine Jola nicht, mit der er 30 Jahre verheiratet war. Manchmal, sagt Deresz, erscheine ihm im Traum das Gesicht seiner Frau, ein schönes Gesicht. Deresz hat nach dem Absturz ihren geschundenen Körper identifizieren müssen, ihr Gesicht blieb unversehrt. Was würde sie sich wohl für ihn wünschen? Die Luft riecht nach Frühling. Deresz, der Witwer, ist braun gebrannt, er trägt einen beigen Pullover, das graue Haar ist noch voll. Die Siedlung, in der sein Haus steht, wird von Sicherheitsfirmen bewacht, eine geschützte Welt, in der die Gefahr an Pförtnern in schäbigen Uniformen abprallt. Deresz’ Haus ist zweistöckig, es hat ihn eine Menge Geld gekostet. Jetzt ist es im Wohnzimmer so still, dass man das Ticken der Wanduhr hört. Sieht so ein künftiger Senator aus? Auf dem Tisch liegt die polnische Ausgabe des Magazins Newsweek, auf der einen Seite ein großes Foto von ihm, daneben ein Interview, in dem er über den Absturz der polnischen Präsidentenmaschine vor einem Jahr spricht. Polen hat erst einen nationalen Schock durchlebt, dann das Gefühl des Zusammenhalts, schließlich das Entsetzen, als viele Polen sich verraten fühlten und wütend wurden, weil die Russen bei der Aufklärung des Unglücks schlampten und Dokumente nicht freigaben. Deresz denkt über eine Frage nach: Ist das, was er jetzt tut, schon Politik? Die Interviews, die Treffen mit dem Präsidenten, die besonnenen Auftritte im polnischen und russischen Fernsehen? Er hat die Wahlkampagnen seiner Frau geleitet. Alle waren erfolgreich. Deresz’ bester Slogan vor sechs Jahren war so gut, dass ihn die regierende Bürgerplattform von Donald Tusk in diesem Wahlkampf fast wortgleich übernehmen wird. »Ich könnte einen Affen gewinnen lassen«, sagt Deresz und lacht. Eine neue Aufgabe, sie könnte die Stille in seinem Leben erträglicher machen. Aber Deresz zögert. »Ich habe Angst, dass einige Leute sagen werden: Der macht Politik auf dem Sarg seiner Frau.« Er möchte nicht, dass sie ihm dieses Etikett anheften: Ein Witwer aus einer dieser SmolenskFamilien benutzt den bekannten Namen seiner Frau, stellt seine Trauer aus und macht aus Trübsinn Politik. Aber machen die das nicht alle? »Es gibt die Familien, die sich von ihrem gesunden Menschenverstand leiten lassen und Versöhnung wollen.« Dazu zählt er sich: einer, der die konservative, aber liberale Regierung von Donald Tusk unterstützt, der daran glaubt, dass der Absturz ein tragischer Unfall war, an dem nicht mehr viel aufzuklären ist. Dann gibt es die neutralen Familien, sagt Deresz, die sich ins Private zurückziehen und im Stillen trauern. Und dann gibt es solche, die außer sich sind vor Wut. Es gibt jetzt viele Wege, sich in die Politik zu verirren, und die meisten von ihnen haben in Smo-

Foto (Ausschnitt): Bogdan Krezel/visavis.pl/laif für DIE ZEIT

E

»Zusammen können wir mehr«: Paweł Deresz, 74, vor seinem Wahlplakat

lensk begonnen. Da ist die Witwe Szmajdzińska, deren Ehemann Kanzlerkandidat der linken SLD war und die nun sein Erbe antreten will; da ist die Witwe Dolniak, die als Unabhängige kandidiert. Da ist der Witwer Świat, der sagt, der polnische Staat sei schwach; da ist die Witwe Beata Gosiewska, die sich an die Russen verraten fühlt; da ist die Witwe Kurtyka, die seit dem 10. April 2010 nur noch schwarz trägt und geschworen hat, nicht eher Ruhe zu geben, bis sie die ganze Wahrheit über den Flugzeugabsturz kennt. Zehn Angehörige von Smolensk-Opfern kandidieren für diese Wahlen am 9. Oktober, fast alle von ihnen für den politisch wenig einflussreichen, aber symbolisch wichtigen Senat, und fast alle treibt die Wut an. Wen die Wut antreibt, der fühlt sich von Jarosław Kaczyński angezogen. Der hat seinen Zwillingsbruder, den Präsidenten, bei dem Unglück verloren. Von den zehn Angehörigen hat er viele als Kandidaten angeworben. 20 Mal kommt das Wort Smolensk in seinem Parteiprogramm vor. Doch Polen ist gespalten. Ein Teil ist befallen von gereizter Müdigkeit, wenn sie das Wort Smolensk hören. Sie wollen sich nicht der Vergangenheit zuwenden, während die Gegenwart gerade implodiert: Wirtschaftskrise in Europa, hohe Arbeitslosigkeit bei den Jungen, steigende Lebenshaltungskosten. Ein anderer Teil glaubt nicht an eine Zukunft ohne Vergangenheit, niemals. Das Unglück ist für sie Beweis dafür, wie schwach der polnische Staat ist, geschichtsvergessen, ungläubig, moralisch verkommen.

»Das ist eine Person ohne moralisches Rückgrat«, schreiben sie im Netz In Paweł Deresz’ Trauer fehlt die Wut. Er hält Kontakte mit dem Präsidenten und Donald Tusk, er überlegt, für dessen Partei zu kandidieren. Aber Tusk will keine Smolensk-Angehörigen ins Rennen schicken. Schließlich ruft Deresz im späten Frühling den glatten Vorsitzenden der Postkommunisten an und sagt, er wolle Senator werden. Aber Deresz will unabhängig bleiben. Er glaubt, dass er dann bessere Chancen hat. Deresz will den Wahlkreis seiner Frau gewinnen, 200 000 Wähler, 100 Kilometer nordwestlich von Warschau, die größte Stadt Plock hat fast 130 000 Einwohner und viele Arbeitslose. Deresz glaubt, dass er, der Mann, der aus dem Nichts kommt, es hier schaffen kann. Er muss nur die Leute daran erinnern, wer seine Ehefrau war. Deresz lässt 170 000 Flugzettel mit einem Bild drucken, auf dem zu sehen ist, wie er und seine Frau beim Urnengang vor sechs Jahren ihre Wahlzettel einwarfen. Er will zu Ehren seiner Frau einen Gottesdienst in der Plocker Kathedrale, aber seine Berater halten ihn ab: Sie waren kein gläubiges Paar. Könnte verlogen wirken. Er, Deresz, will keine Politik der Vergangenheit machen – aber einen Wahlkampf mit der Erinnerung. Ende Juli wird der Miller-Bericht veröffentlicht. Mit dem Bericht des Innenministers Miller will die polnische Regierung beruhigen. Donald Tusk hat ihn in Auftrag gegeben, als die Zusammenarbeit mit den Russen scheiterte. Er will, dass diejenigen, die immerzu nach Aufklärung schreien, endlich Ruhe geben. Der Bericht sieht die Schuld für das Unglück auf beiden Seiten, auf polnischer und auf russischer. Deresz wird jetzt häufig in Sendungen eingeladen, um über Smolensk zu sprechen. Sie beginnen alle gleich: »Meine Damen und Herren, ich begrüße heute Paweł Deresz«, der Moderator stockt kurz, atmet durch, »Ehemann der verstorbenen Abgeordneten Jolanta Szymanek-Deresz.« In seinem Blog schreibt Deresz: Gern würde ich wie so viele von Ihnen dieser Smolensk-Tragödie entkommen. Aber die Einlassungen unserer Politiker verbieten mir das, vor allem jener, die mit der Tragödie »spielen«, damit politisches Kapital gewinnen wollen und sich alle möglichen Unterstellungen ausdenken, Vorwürfe und Theorien, die nichts mit den Fakten zu tun haben. Seine Gegner antworten ihm, anonym. Ich glaube, seine Frau würde sich im Grab umdrehen, weil die Dummheiten ihres Mannes so grenzenlos sind. Er verhält sich wie ein Arschkriecher der Regierung und nicht wie ein liebender Ehemann, der nach dem Verlust seiner Frau die Wahrheit über die Ursachen der Katastrophe herausfinden will. Das ist eine Person ohne moralisches Rückgrat. Nicht mal die offizielle Trauerzeit hat er eingehalten. Deresz sagt, er lese nicht, was sie im Internet über ihn schreiben.

Wenn man Deresz danach fragt, ob ihn die Unklarheiten des Absturzes empören, dann sagt er: Ja. Aber es bringt doch nichts. Vielleicht spürt Deresz, dass ein Land wie Polen mit seiner jahrhundertelangen Geschichte voll Schmerz immer in Gefahr ist, dem Pathos zu verfallen. Deresz, der Mann, der die Erinnerung für seinen Sieg braucht, will im Vergangenen lieber nicht herumrühren. Es sind noch drei Wochen bis zur Wahl, als Deresz feststellt, dass seine Kampagne doppelt so viel Geld verschlingt wie gedacht. Seine zehn Mädchen, die im Bus durch seinen Wahlkreis tingeln, die Wahlbroschüre, die wie eine Boulevardzeitung aussieht – 30 000 Exemplare; die Tausenden Streichholzschachteln mit seinem Gesicht, die Flugzettel, die Kugelschreiber, der Schönheitswettbewerb in der Disco und das Preisgeld, das gigantische Plakat an der Hauptstraße, 10 mal 20 Meter Deresz. Alles zu teuer, aber Deresz ist kein armer Mann. Für den Tod seiner Frau hat er eine Entschädigung von etwa 60 000 Euro erhalten, einen Teil davon gibt er jetzt aus. »Ich habe die Saat gesät, nun muss ich nur noch warten«, sagt Deresz. Er geht über den Marktplatz in Plock, gesäumt von Linden und Altbauten, als habe jemand eine lächerliche Kulisse gewählt für die Trinker, die auf den Bänken herumlungern. Einige drehen ihre Köpfe nach ihm um. Deresz sagt, dass sie in letzter Zeit immer mehr geworden seien. Plötzlich bleibt im Vorbeigehen ein Mann stehen. »Ich kenne sie doch! Sie sind doch der Mann von der ...« Deresz strahlt. »Sie kandidieren für den Sejm.« »Nein, mein Herr, ich kandidiere für den Senat.« Der Mann hält eine Plastiktüte in der Hand. Er riecht nach Schnaps. Es ist Mittag. »Sagen Sie, was läuft denn in diesem verdammten Land schief? Wieso kriege ich keine Arbeit?« »Mein Herr, ich will Senator werden. Wissen Sie, was das heißt?« »Ja, Sie können mir auch nicht helfen. Sie sind nur da, um die Gesetze ein bisschen zu verbessern.« »Ganz genau. Sie kennen sich ja bestens aus.« Deresz ist erleichtert. Die Schleusen öffnen sich trotzdem. Was macht diese Regierung, flucht der Mann, nichts, gar nichts, eine Katastrophe ist das, Armut, keine Arbeit, hohe Preise, sollen sie doch bloß aufhören, immer nur von diesem Smolensk zu reden, einen Scheiß interessiert mich das, wenn das Leben so hart ist. Es ist schlimm. Deresz hört ihm geduldig zu. Man muss die Leute sich nur leer reden lassen, sagt er. Als das Wort Smolensk fällt, zuckt Deresz nicht zusammen. In seinem Rücken liegt das alte Abgeordnetenbüro seiner Frau. Nach ihrem Tod hat er in Gedenken an sie eine Marmortafel an der Fassade anbringen lassen. Deresz hat sie selbst bezahlt, aber im Namen der Wähler aufstellen lassen.

Wie viel Macht haben die Toten über die Lebenden, wie fest ist ihr Griff? Wenn Paweł Deresz diese Wahl gewinnt, dann hat er vier Jahre Politik vor sich. Er wäre dann 78. Deresz sagt, er fühle sich nicht wie ein alter Mann. Vielleicht, sagt er, lernt er in den Jahren, die ihm noch bleiben, eine neue Frau kennen. Seine Tochter wünscht es ihm sehr. Fast genau ein Jahr nach der Tragödie hat sie ihm eine Enkelin geboren, Natasza. Das Leben, sagt Paweł Deresz, es geht weiter. A www.zeit.de/audio

Entscheidung in Polen Diese Wahlen am 9. Oktober könnten historisch werden: Zum ersten Mal seit 1989 hat in Polen ein Regierungschef die Aussicht, wiedergewählt zu werden. Unterschiedliche, stark voneinander abweichende Umfragen sehen nach wie vor die konservativ-liberale Bürgerplattform (PO) des Regierungschefs Donald Tusk als führend; allerdings ist der Vorsprung gegenüber Jarosław Kaczyński und seiner Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in den vergangenen Wochen stark geschrumpft. Da sowohl PO als auch PiS über eine ähnlich starke Stammwählerschaft verfügen, hängt ihr Erfolg davon ab, wer von ihnen die Wechselwähler für

RUSSLAND

sich gewinnen kann – und das könnte schwierig werden. Meinungsforscher befürchten, dass die Beteiligung bei diesen Parlamentswahlen zu den niedrigsten seit 1989 gehören könnte. Donald Tusk setzt im Wahlkampf darauf, angekündigte, aber verschleppte Reformen (Infrastruktur, Rentensystem) fortzusetzen. Unter Tusk hat Polen zwar hohes Wirtschaftswachstum, gleichzeitig aber auch starke Verschuldung erlebt. Anders als im Wahlkampf vor vier Jahren gibt sich Herausforderer Jarosław Kaczyński zwar moderner und kann Erfolg bei jungen Wählern verzeichnen; wichtig bleiben für ihn aber historische Themen

(Smolensk-Tragödie, Aufarbeitung der kommunistischen Verstrickungen). Viel hängt für Donald Tusk auch davon ab, ob sein kleinerer Koalitionspartner, die Bauernpartei (PSL), so gut abschneidet, dass eine Fortsetzung der Koalition möglich ist. Sollte die Mehrheit nicht reichen, wäre auch eine – obgleich sehr schwierige – Koalition mit zwei weiteren linken Parteien denkbar: der postkommunistischen SLD sowie der neu gegründeten Palikot-Bewegung (RP), benannt nach Janusz Palikot. Der war bis vor einem Jahr Regierungsmitglied, trat dann aus der PO aus und könnte laut Umfragen aus dem Sprung die Fünf-Prozent-

Hürde bei diesen Wahlen schaffen. Palikot fällt durch linke Inhalte und plumpe Provokationen auf – er tritt schon mal mit abgeschnittenen Schweinsköpfen auf. Kürzlich ließ er sich für ein Nachrichtenmagazin in der Pose vom gekreuzigten Jesus Christus fotografieren. Zeitgleich wählt Polen einen neuen Senat (siehe Text oben). Diese zweite Kammer hat wesentlich weniger Befugnisse als der Sejm; aber seitdem ein neues Wahlrecht gilt, werden die Senatoren in 100 Wahlkreisen nach dem Mehrheitsprinzip gewählt – wer die meisten Stimmen bekommt, zieht in den Senat ein. ABT

ESTLAND

SCHWEDEN

LETTLAND Ostsee

Berlin

LITAUEN

Flugzeugabsturzstelle Smolensk

POLEN

WEISS-

Plock

RUSSLAND

Warschau

UKRAINE ZEIT-Grafik

200 km

POLITIK

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

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Ist es richtig, Terroristen mit Drohnen zu töten?

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Foto (Ausschnitt): Massoud Hossaini/Pool/Reuters

m Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt«, besagt das Sprichwort. Natürlich nicht alles, weshalb Kriegsrecht und Genfer Konventionen scharfe Grenzen ziehen. Aber möglich ist viel, was unter das Selbstverteidigungsrecht fällt. Zum Beispiel erlaubt es grenzübergreifende Operationen in Pakistan, wenn zweierlei feststeht: dass (a) von dort aus Angriffe gegen Afghanistan oder die USA geplant/ausgeführt werden und (b) Pakistan diese Angriffe nicht verhindern will oder kann. Der Fall Anwar al-Awlaki macht die Sache komplizierter, weil er als amerikanischer Bürger unter dem Schutz der Verfassung stand, wo auch immer. Freilich ist diese Sache schon an höchster Stelle entschieden worden, und zwar 1942, im Fall »Ex parte Quirin«, wo das Oberste Gericht das Todesurteil gegen einen US-Bürger bestätigte, der mit sieben anderen deutschen Saboteuren gefasst worden war: »Die USStaatsbürgerschaft schützt einen feindlichen Kriegsteilnehmer nicht vor den Konsequenzen seines Tuns.« Jetzt wird die Sache noch komplizierter. Awlaki führte keinen (richtigen) Krieg und wurde auch nicht von einem Militärgericht abgeurteilt. Hier herrscht die Dunkelzone des Nichtkrieges mit militärischen Mitteln (Drohnen) oder des Krieges mit nichtmilitärischen Mitteln (Selbstmordbomben). Dieser Krieg ist nicht erklärt worden (wie alle Kriege seit 1945), und er wird auf der anderen Seite nicht von Staaten geführt (die haftbar sind). Die Gegner sprechen von »außergerichtlichem Mord« und fragen wie der republikanische Präsidentschaftskandidat Ron Paul: »Wo soll das hinführen, wenn der Präsident Leute umbringen lässt, die er für bad guys hält?« Eine gute Frage, die sich nicht allein anhand der reinen Moral oder der liberalen Verfassung beantworten lässt. Das StGB oder der US Penal Code setzen Gerichtsbarkeit voraus: einen Souverän als Ordnungsmacht, eine Polizei, die den Verdächtigen fängt, ein Gericht, das regelgerecht urteilt. Leider gibt es die in Pakistan oder im Jemen nicht; dort kann kein US-Marshall den Missetäter grei-

fen und ihn nach Carson City vors Gericht bringen. Nun sagt die reine Moral: Dann muss man ihn im Namen geheiligter Prinzipien ungeschoren lassen. Hand aufs Herz: Darf ein Präsident einen Mann laufen lassen, der Mord und Totschlag gegen seine Bürger plant oder ausgeführt hat? Dessen Kollege Samir Khan, auch ein USBürger, »stolz« darauf war, ein »Verräter gegen Amerika« zu sein? Als die Landshut 1977 nach Mogadischu entführt wurde, gab auch Helmut Schmidt den Schießbefehl. Das war kein Krieg, sondern was? Notwehr? Selbstverteidigung? Nichtkrieg mit militärischen Mitteln? Das klassische Völkerrecht wird mit diesem Phänomen nicht fertig, das Landesrecht schon gar nicht. Aber Politiker müssen handeln, sei’s vorbeugend oder im Nachhinein, um ihre Bürger zu schützen.

Ja

Die USA schalten ihre gefährlichsten Feinde mit Raketenangriffen aus ferngesteuerten Flugkörpern aus – zuletzt den extremistischen Prediger Anwar al-Awlaki im Jemen. Kann man das billigen?

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ie Paarung Predator/Hellfire scheint ein Dream-Team für den Weltfrieden zu sein. Sie hilft Terror zu ersticken und Kriege zu verhindern. Stellen wir uns nur einmal vor, die CIA hätte keine 15-Meter-Drohne mit Lenkrakete ins jemenitische Stammesgebiet schicken können, um Anwar al-Awlaki zu töten, den Mann, der sich als dschihadistischer Mastermind in direkter Thronfolge Osama bin Ladens sah. Früher wären komplette Truppenaufmärsche nötig gewesen, um Extremistengruppen zu stoppen, endloses Blutvergießen, heillose Kosten, unvorhersagbare politische Eruptionen. Warum also Klage führen gegen Barack Obama, den Mann, der mehr Al-Qaidais-

Nein

JOSEF JOFFE

JOCHEN BITTNER

Der Kampf gegen den Terror findet in einer Grauzone statt. Die reine Lehre des Rechts hilft da wenig

Die Tötung aus der Distanz darf höchstens Notbehelf sein. Als Strategie ist sie falsch und schädlich

Nach Gutdünken? Den Drohnen-Attacken geht eine längliche Prozedur voraus. Die Dienste stellen Dossiers zusammen, die Juristen überprüfen sie, die Kongressausschüsse werden informiert. Ein klassisches Gerichtsverfahren ist das gewiss nicht, aber auch diese wären gegen Fehlurteile nicht gefeit. Im Krieg ist vieles erlaubt, im Strafrecht nicht. Aber in Pakistan, Afghanistan und im Jemen herrscht eine schwer fassbare Art von Krieg, nicht das Binnenrecht mit seinen geheiligten Prinzipien. Es überwiegt das Prinzip der Selbstverteidigung. Möge nur der den ersten Stein werfen, der genau weiß, was in diesem Schattenreich richtig und rechtens ist.

ten mit Präzisionsangriffen ausgeschaltet hat als irgendwer vor ihm? Fünfmal so viele Drohnenangriffe wie sein Vorgänger George W. Bush hat der demokratische US-Präsident in den vergangenen drei Jahren angeordnet, über 2000 militante Islamisten sollen sie insgesamt seit dem Jahr 2001 das Leben gekostet haben. Die Flotte der umbemannten Bombenvehikel, sie ist seit den Anschlägen vom 11. September 2001 von 54 auf 230 angewachsen, im vergangenen Jahr bildete die Air Force zum ersten Mal mehr Kommandanten für ferngelenkte Flugkörper aus als Flugzeugpiloten. Bis 2020 wird das Militär laut US-Kongress 37 Milliarden Dollar bekommen, um den Drohnen-Park weiter auszubau-

en. Sie sollen noch präziser werden, Ingenieure tüfteln schon an der Variante, Zielpersonen künftig mit Laserstrahlen zu verbrennen. Genau damit aber, mit der Wende ins Strategische, schwenkt die Praxis ins Inakzeptable. Denn ganz offensichtlich will Barack Obama das, was heute als Ultima Ratio durchgehen kann, zum neuen militärischen Standard erheben. Damit aber wird die Schwelle von der außergerichtlichen Tötung im Dilemma-Fall zur planvollen, illegalen Liquidation aus dem Hinterhalt überschritten. Die einzig mögliche Rechtfertigung dafür nämlich, Terroristen zu töten, statt sie festzusetzen und vor Gericht zu stellen, kann sein, dass in den Weltgegenden, in denen sie sich aufhalten, Justizgewährung entweder gar nicht oder nur um den Preis eines Krieges möglich ist. In diesen Fällen darf, ja muss ein Staat seine Feinde auch präventiv bekämpfen. Bloß: Schon heute ist es höchst zweifelhaft, ob überall dort, wo die Hellfires einschlagen, die örtlichen Regierungen tatsächlich nicht in der Lage sind, al-Qaida am Boden, besser noch: an der Wurzel zu bekämpfen. Im Gegenteil, viel spricht dafür, dass ihnen die High-Tech-Luftschläge sehr willkommen sind, weil sie sie erstens der lästigen Pflicht des Staats- und Sicherheitsaufbaus entheben. Und zweitens ein Feindbild vom imperialistischen Amerika nähren, das sich innenpolitisch vorzüglich ausschlachten lässt. Der Chef der pakistanischen Armee ist zum leuchtenden Beispiel für diese Doppelzüngigkeit geworden. In der Öffentlichkeit prangerte Ashfaq Kayani US-Drohnenangriffe im Grenzland zu Afghanistan regelmäßig und lauthals als »ungerechtfertigt und intolerabel« an – um zur selben Zeit in Washington darum zu bitten, in ebenjenem Wasiristan für »kontinuierliche Predator-Abdeckung« zu sorgen. Die entsprechenden Kabelberichte vom Februar 2008 an den Chef des US Central Command in Florida lassen sich bei WikiLeaks nachlesen. Natürlich muss Amerika auch weiterhin Terrorismus bekämpfen, wo andere es nicht tun. Aber eben dieses Nichtstun zu pflegen und zu fördern, indem es schlechten Regierungen bequeme Ersatzhandlungen bietet, das wird auf Dauer mehr Terroristen züchten, als sich mit auch noch so vielen Drohnen unschädlich machen lassen.

10 6. Oktober 2011

POLITIK & LYRIK

DIE ZEIT No 41

Womit wir anfangs nicht gerechnet hatten, das ist die Fülle und Dichte der Ereignisse, wie wir sie seit Anfang dieses Jahres erleben. Die Gedichte wurden dabei häufig aktuell, einige am Tag nach politischen Entscheidungen oder nach Katastrophen verfasst. Diese Woche widmet sich Jan Wagner der griechischen Antike, womöglich auch der Gegenwart. Bislang sind 36 Gedichte erschienen.

meine branche hat einen schlechten ruf, es stimmt, doch komme man mir nicht mit ethik, mit wegelagerer, mit raffzahn oder mörder. hier, in attika, zwischen den adlern und den dachsen, bestimme ich mit augenmaß, wer sich zu strecken hat, wer wachsen und wer mit schnitten rechnen muß. ein bett nur gibt es: standard für all die armen, die zu kurz gekommen sind. oder zu lang. kein gast von hundert hat je gepaßt. ich teilte ihren schmerz. hier oben, zwischen moosen und mythen, den schluchten und den höhlen: ich erwarte mit der geduld von stalagmiten die reisenden, die kleine staubstandarte über der straße, den oliven. gerüchte aus der gegend von eleusis dringen zu mir – und die grillen schleifen den mittag schärfer. namen fallen, theseus. einer steigt durch die wälder, großspurig, gezückten schwerts, ein held. doch mein gewissen ist rein. einer kommt über den berg. einer wird bluten müssen.

Foto: Jürgen Bauer

Seit dem 10. März versuchen wir im Politikteil der ZEIT, Politik von einer anderen Seite und auf andere Art wahrzunehmen. Elf Lyrikerinnen und Lyriker verfassen eigens für die ZEIT Gedichte, sie zeigen uns ihre Sicht auf die Politik. Mal schreiben sie unabhängig von den Ereignissen, mal gehen sie direkt auf politische Erlebnisse ein.

POESIE NRO: 31

prokrustes

JAN WAGNER, 1971 in Hamburg geboren, lebt in Berlin. Er schreibt Gedichte und Essays, übersetzt englischsprachige Lyrik (Charles Simic, James Tate, Simon Armitage, Matthew Sweeney u. a.) und war Mitherausgeber der internationalen Literaturschachtel »Die Aussenseite des Elementes« sowie der Anthologie »Lyrik von Jetzt«. Im Berlin Verlag erschienen die Lyrikbände »Probebohrung im Himmel« (2001), »Guerickes Sperling« (2004), »Achtzehn Pasteten« (2007) und zuletzt »Australien« (2010).

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

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Foto: John Minchillo/AP

POLITIK

Gegen die Gier – für die Zukunft der Jungen: Unterstützer von Occupy Wall Street

Die Netten im Park Wer sind die Demonstranten, die Wall Street besetzen wollen? Ein Besuch im Camp der Kapitalismusgegner VON HEIKE BUCHTER New York uerst hört man die Trommeln, dumpf schlagen sie zwischen den dunklen Bürotürmen im Finanzdistrikt an der Südspitze Manhattans. Es ist 10 Uhr morgens, außer den bärtigen Trommlern mit ihren Alpakamützen sind noch nicht viele wach. Unter blauen Zeltplanen zeichnen sich die Körper der Schlafenden ab. Hunderte, vielleicht mehr, nächtigen zwischen den Blumenkübeln und den schweren Marmorsteinbänken im Zuccotti Park. Zwischen den Menschen liegen Plakate, auf die sie ihre Slogans geschrieben haben: »Milliardäre, eure Zeit ist um« und »Nehmt die Konzernokratie auseinander«. Ursprünglich wollten die Demonstranten von »Occupy Wall Street« ihre Zelte direkt an der Wall Street aufschlagen, gegenüber der Börse. Doch die New Yorker Polizei wusste davon und hatte weiträumig alle Straßen und Plätze mit Schutzgittern eingezäunt. So fanden die Demonstranten sich vor mehr als zwei Wochen in diesem fußballplatzgroßen Park wieder, mehrere Häuserblocks entfernt vom Herzen des Kapitalismus. Giles findet das nicht schlimm. »Hier laufen täglich eine Menge Leute vorbei«, sagt er. Giles ist seit Tag eins mit dabei, das sagt er unaufgefordert dazu. Er hat über Internetforen schon Monate vorher von der geplanten Aktion erfahren. »Ich wusste, da muss ich dabei sein«, sagt er. Giles arbeitet als freier Fotograf in Manhattan und kommt aus Großbritannien. Er erinnert sich an die Thatcher-Jahre: »Wenn die Arbeiterbewegung damals Facebook gehabt hätte ... Aber es gab ja kaum richtige TV-Berichte!« Er kommt jeden Tag ins Camp, obwohl er Zuhause Frau und Kinder hat. Er nennt das hier den »American Autumn«, den amerikanischen Herbst. Eine Bewegung, inspiriert durch den Arabischen Frühling. »Wir müssen den politischen Diskurs ändern«, sagt Giles. »Wir bleiben so lange, bis das passiert!« Occupy Wall Street könne noch Monate, sogar Jahre durchhalten, sagt er. »Die Bewegung ist viel größer, als das, was man hier sieht, nicht bloß ein paar Punks mit roten Haaren – es sind Millionen weltweit, die dahinterstehen.«

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Der Milliardär George Soros sagt, er könne den Protest verstehen In den ersten zwei Wochen protestierten sie weitgehend unbemerkt, doch am vergangenen Wochenende kam die Wende. Bei einem Marsch über die Brooklyn Bridge gerieten die Demonstranten mit den Cops aneinander. 700 Protestierer wurden verhaftet. Die Polizei sagt, die Demonstranten wollten die Brücke sperren. Die Demonstranten sagen, sie seien in eine Falle gedrängt worden. Beide haben Videos ins Internet gestellt, um ihre Versionen zu beweisen. Für Occupy Wall Street war es zumindest medial der Durchbruch. Die Schauspielerin Susan Sarandon kam vorbei. Es gab das Gerücht, dass die britische Band Radiohead für die Demonstranten spielen würde. Sogar der Spekulant George Soros sympathisiert mit ihnen. »Offen gesagt, kann ich ihre Gefühle verstehen«, sagte der 81-Jährige. Im Lager wimmelt es von Kameras und Journalisten. Ein grauhaariger Mann mit grüner JohnLennon-Brille bahnt sich seinen Weg vorbei zur »Generalversammlung«. Dort geben die Organisatoren aktuelle Pläne durch: Morgen wollen sie mit den Gewerkschaftern zusammen demonstrieren. Die Online-Wahlkampfhelfer von Präsident Obama von Moveon.org wollen mit einsteigen. Nicht alle sind damit einverstanden. Sie schütteln die Köpfe. Weitere Meldungen: Ein kräftiger Afroamerikaner im blauen Sweatshirt bittet darum, die Mitarbeiter der McDonald’s-Filiale genüber bei Toilettenbesuchen nicht überzustrapazieren. Ein junger Latino mit Irokesen-

schnitt erzählt die Geschichte seiner politischen Erweckung. Eine junge Frau im Batikkleid umarmt Umstehende summend. »Wir sind Anarchisten, Sozialisten, sogar ein paar Wähler der demokratischen Partei, Grüne und Libertäre«, sagt Julian, der aus dem Bundesstaat Oregon – »seit Tag drei« – dazugestoßen ist. Der 29-Jährige hat einen Abschluss in Sozialwissenschaften, aber in den letzten Jahren hat er sich als Erntehelfer und Hilfsarbeiter durchgeschlagen. »Unterbeschäftigter« nennt er sich. Was fordert er? Die Leute, ihre Not und ihre Unzufriedenheit wahrzunehmen! Stellt Occupy Wall Street den Kapitalismus infrage? Da grinst er. »Wenn Sie hier auf dem Platz nach Kapitalismus fragen, kriegen Sie tausend Antworten, und keine gleicht der anderen.«

Ihre Bibliothek hat marxistische Bücher – und »Harry Potter« In der Mitte des Platzes steht eine Tafel. Darauf stehen neben dem Hinweis, bitte nur abwischbare Folienstifte und keine Filzstifte zu verwenden, jeden Tag neue Grundsätze von Occupy Wall Street: »Wer Forderungen stellt, macht sein Glück abhängig von den Befehlen anderer«. Und: »Behalte immer einen Punkt am Horizont im Auge, nicht um dorthin zu kommen, sondern um die Orientierung zu behalten.« Konkretere Forderungen hat kaum jemand hier. Auf den ersten Blick mag der ZuccottiPlatz wie ein Zeltlager nach einem Sturm aussehen. Doch wer sich genauer umschaut, entdeckt ein System. Da ist das Zentrallager, wo sie gespendete Paprika, Brot und Äpfel in Plastikwannen sammeln. Daneben steht eine Wanne mit medicals, neben Vitaminen und Pflastern gibt es sogar Krücken. Eine Bibliothek verleiht Bücher über den Kapitalismus und die Arbeiterbewegung, ein Band Harry Potter steht dazwischen. Sogar ein Medienzentrum gibt es, bestehend aus verschiedenen Laptops, die an einen Generator angeschlossen sind. »Die Organisation ist cool«, sagt Amanda. Sie ist aus dem New Yorker Umland gekommen. Nach zwei Collegeabschlüssen schlägt sie sich als Bedienung durch, eine Krankenversicherung hat sie nicht. Sie zuckt die Schultern: »Und neben meinem Studentenkredit häufe ich noch mehr Schulden an.« Die 29-Jährige ist Umweltaktivistin, übermorgen fährt sie weiter in die New Yorker Hauptstadt Albany. Dort gibt es eine Anhörung gegen die neue Ölbohrmethode Fracking. »Big Oil, big Banks – das hängt doch alles zusammen.« Ihre Freundin Monica will länger bleiben. Sie hat ihr Studium abgebrochen und reist seitdem mit ihrem Hund durch das Land. Auf dem Zuccotti Platz hat sie vor vier Tagen eine Heimat gefunden. Das reichte, um sie zu verändern, glaubt sie. »Man hat das Gefühl, es gibt eine reale Welt hier drin und eine andere da draußen.« Auf einer Steinbank in der Nähe sitzen zwei Bauarbeiter und packen ihre Brote aus. Fühlen sie sich fehl am Platze hier? »Jeder, der um Jobs kämpft, ist auf unserer Seite«, sagt Rodney Otero. Der 43-Jährige arbeitet seit zwei Jahren am neuen Turm des World Trade Center und ist Mitglied einer Gewerkschaft. Als Familienvater ist er froh um die Arbeit. Nachdem die Immobilienblase vor vier Jahren geplatzt war, gab es kaum noch Jobs im Baugewerbe. »Wir sind schon oft marschiert, ganze Avenues rauf und runter«, sagt er. »Aber so ein Medienecho haben wir nie bekommen.« Glaubt er, dass seine Gewerkschaft von den Demonstranten von Occupy Wall Street etwas lernen kann? Er schüttelt den Kopf: »An den Verhältnissen wird sich nichts ändern, nur weil ein paar nette Leute in einem Park schlafen. Das werden die auch noch lernen.«

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DIE ZEIT No 41

s ist erstaunlich, wie sehr man sich an ein heimatloses Dasein gewöhnen kann. Nach sieben Monaten auf der Flucht habe ich das Gefühl, nirgends hinzugehören. Es scheint mir fast normal zu sein, meine persönlichen Dinge verloren zu haben und nur mit dem Nötigsten von Versteck zu Versteck zu ziehen. Es sind die menschlichen Verluste, die nicht zu ertragen sind. Viele Aktivisten, mit denen ich zusammengearbeitet habe, sind in den vergangenen Wochen verhaftet worden. Jeder kann jederzeit mitgenommen oder verschleppt werden: Aktivisten, Demonstranten, aber auch ganz normale Leute oder Angehörige von gesuchten Personen. Und das Schlimme ist, dass wir nicht wissen, ob wir die Verhafteten je lebend wiedersehen. Die Zahl der zu Tode Gefolterten oder jener, die gleich nach der Verhaftung getötet werden, wird immer größer. Die Sicherheitskräfte können es nur schwer ertragen, wenn ihnen jemand ohne Angst in die Augen schaut und sich ihren Befehlen verweigert, schlicht Nein sagt. Sie waren es gewohnt, das Volk mit Verhaftungen zum Schweigen zu bringen. Seit dem Beginn der Revolution funktioniert das nicht mehr. Deshalb versuchen die Regierungskräfte jetzt, die Furcht wiederherzustellen, mit anderen Methoden: Sie reagieren auf den Ungehorsam mit blanker Gewalt. Ich fühle mich schuldig, wenn ich aus der Menge derer, die diese Gewalt ertragen müssen, Einzelne herausgreife. Aber natürlich denke ich besonders intensiv an die Menschen, die ich persönlich kenne, die ich liebe und an die ich glaube. An Yahya Shurbaji zum Beispiel, einen der wunderbarsten Menschen, die ich je getroffen habe. Er weiß, dass es nicht genug ist, allein das Regime zu verändern, sondern dass auch wir, das Volk, uns ändern müssen. Ich habe nur selten Menschen getroffen, die so rückhaltlos ihr eigenes Verhalten hinterfragen und deren persönliches Leben genauso aufrecht und ehrlich ist wie ihr politisches Leben.

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Rosen für die Soldaten Viele meiner Freunde sind tot oder verschwunden. Aber die syrischen Proteste müssen trotzdem friedlich bleiben VON RAZAN ZEITOUNEH

Foto: AP

12 6. Oktober 2011

»Frieden« steht auf dem roten Herz, das ein Demonstrant in Homs in die Kamera hält

Ich sorge mich um Yahya, seit er vor mehr die uns Rosen überreichen, töten? Für ein als einem Monat verhaftet wurde, ich bange Regime sind das gefährliche Gedanken. Solum seine Unversehrtheit, aber auch darum, che Gedanken wollte das Regime töten, inwas sein wird, wenn er freikommt und eine dem es Ghiyath tötete. Ich verstehe, dass in dieser Situation mehr Welt vorfindet, die nicht mehr dieselbe ist. Wenn er erfährt, dass sein Freund Ghiyath und mehr Stimmen laut werden, die fordern, Matar, ungefähr zur selben Zeit verhaftet wie dass die Revolution sich bewaffnen müsse. er, den Arrest keine Woche überlebt hat. Dass Die zunehmende Gewalt des Regimes, die Ghiyaths geschundener Körper vier Tage nach zögerliche Haltung der internationalen Gemeinschaft, die Schwierigseiner Verhaftung seinen keiten der Opposition, sich Eltern übergeben wurde. R AZAN ZEITOUNEH zu einigen – all das frusIch selbst werde den triert die Menschen auf der Moment nie vergessen, in Straße: Sie bringen große dem ich von Ghiyaths Tod Opfer, aber sehen wenig erfahren habe. Ich hatte Fortschritt. Trotzdem bin kurz mein Versteck verlasich überzeugt, dass die Resen, als ich zurückkam, volution überwiegend friedwarteten Freunde auf mich, lich bleiben muss. Das Rewir wollten zusammen esgime wird stürzen – aber sen. Einer begrüßte mich wie wir es stürzen, wird mit den Worten: »Hast du lebte in der Hauptstadt großen Einfluss darauf havon dem Aktivisten gehört, Damaskus, bevor sie im März ben, wie das neue Syrien der zu Tode gefoltert wur- untertauchte aus Furcht vor aussehen wird, was für eine de? Er heißt Ghiyath Ma- Verhaftung. Die Anwältin für Zukunft wir haben. tar.« Er wusste nicht, dass Menschenrechte berichtet Diese Woche haben sich ich Ghiyath kenne. Nichts regelmäßig, was ihr als in Istanbul die syrischen in dieser Welt kann seinen Dissidentin in Syrien in diesen Oppositionsgruppen zu eiTod rechtfertigen. Monaten widerfährt nem Nationalen Rat zuVor der Revolution war sammengetan. Das war ein Ghiyath nicht an Politik interessiert. Aber dann wurde er einer der ak- sehr wichtiger Schritt, auf den die Menschen tivsten Demonstranten und der vehementeste lange gewartet haben. Es war deprimierend Verfechter des gewaltlosen Protests. Er ent- zuzusehen, wie sich die verschiedenen Akteure deckte durch die Revolution eine neue Seite monatelang nicht einigen konnten. Der Rat an sich: sein Talent, andere zu inspirieren. Er repräsentiert ein breites Spektrum der syrihatte die Idee, die Soldaten mit Rosen und schen Gesellschaft, das hat die positive ReaktiTrinkwasser zu begrüßen. Eine Botschaft der on im Land gezeigt. Die Menschen sind auf Liebe, der Toleranz und der Freiheit an die, die Straße gelaufen, haben gefeiert und gedie ihn und seine Freunde töten sollten. Man tanzt. Auch ich habe zum ersten Mal seit Mostelle sich das vor: Die Armee rückt schwer naten mit meinen Freunden gelacht. bewaffnet ein – und ein junger Mann übergibt ihnen Rosen. Ich bin mir sicher, das hat Aufgezeichnet von SUSANNE FISCHER die Soldaten nicht kaltgelassen. Vielleicht lagen sie nachts schlaflos da und fragten sich: Der Aufstand gegen Assad: Mehr unter Warum müssen wir diese jungen Menschen, www.zeit.de/syrien

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BÜCHER MAC

HEN POLITIK

Obamas Intrigantenstadel Ein Buch über Grabenkämpfe im Weißen Haus entfacht einen Streit: Wie weit darf ein Reporter gehen? VON MARTIN KLINGST Seit Confidence Men in den Regalen ausDas Buch Confidence Men war noch nicht einmal auf dem amerikanischen Markt, da liegt, tobt ein zweifacher politischer Streit in hagelte es bereits Dementis. Wichtige Mit- Amerika. Darüber, wie aufgeraut und zerarbeiter aus dem Obama-Stab bestritten in stritten die Arbeitsatmosphäre im Weißen den vergangenen Wochen energisch, jemals Haus wirklich ist. Und zum anderen über die gesagt zu haben, was Autor Ron Suskind Grenzen journalistischer Freiheit bei der Beaufgeschrieben hat. Die Atmosphäre im richterstattung über das Innenleben der mächtigen Westflügel des Weißen Hauses Machtzentrale. Äußerst bildreich und detailliert beschreibt aufs Äußerste gereizt? Der Präsident entscheidungsschwach? Niemals! Bloß jetzt Ron Suskind die Grabenkämpfe. Doch war er kein Streit, da dem Land und der Welt in der selber nie dabei, er kennt die Verhältnisse nur Finanzkrise und mit dem beginnenden vom Hörensagen. Aber seine fantasievolle Wahlkampf demonstriert werden soll, dass Nacherzählung liest sich, als habe er die HahObama und seine Regierung alles fest im nenkämpfe und Obamas Zögerlichkeit persönlich erlebt. Die Augen seiner InterviewGriff haben. Das Buch kommt für den Präsidenten zur partner werden zu seinen Augen. So verschwimmt die Grenze zwischen falschen Zeit. Etwa 200 Gespräfremder und eigener Wahrnehche hat Suskind für sein Buch gemung, zwischen nüchterner Nachführt. In großer Offenheit legt der zeichnung und Fiktion. ehemalige Journalist des Wall Gleichwohl: Suskind zeichnet Street Journal und Pulitzer-Preiserstmals ein umfassendes Bild der träger die vielen Machtkämpfe im Mächtigen im Weißen Haus, ein berühmt-berüchtigten West Wing Sittengemälde, das man in grodar. Jedenfalls bis zum vergangeßen Umrissen bereits zu kennen nen Januar, da endet seine Gemeinte. Eine von sich selbst überschichte. Fast alle engen Mitarbeizeugte Männergruppe glaubt, die ter Obamas hätten damals mitWeisheit mit Löffeln gefressen zu einander gehadert, behauptet der haben. Frauen wie die ÖkonoAutor. Besonders die Wirtschafts- Ron Suskind: mieprofessorin und Chefin des berater seien sich spinnefeind ge- Confidence Men Wirtschaftsrats, Christina Rowesen. Statt Kooperation und Wall Street, mer, werden ausgegrenzt und zu Wettbewerb um die besten Ideen Washington, and wichtigen Besprechungen einfach herrschten Missgunst und Miss- the Education nicht eingeladen. trauen. Laut Suskind ist das Weiße of a President. Und was macht Obama? Er Haus ein Intrigantenstadel mit ei- Harper Collins Publishers; versucht zwischen den Meinunnem überforderten Präsidenten. gen, den Temperamenten und Alles Lüge, tönt es aus dem 515 Seiten, $ 29,99 Geschlechtern auszugleichen und Weißen Haus. Alles wahr, feuert verliert laut Suskind dabei seine Suskind zurück und legte ausgeeigene Orientierung und seine wählten Journalisten zum Beweis Tonbandaufzeichnungen einiger seiner In- Botschaft. Suskind überzeichnet, er setzt Obamas terviews vor. Seither steht jedenfalls eines fest: Die ehe- unaufgeregten, abwägenden und pragmatimalige Kommunikationsdirektorin des Wei- schen Regierungsstil zu leichtfertig mit ßen Hauses, Anita Dunn, hat sich tatsächlich Schwäche gleich. Zwar zeigt der Autor an über die schlechte Behandlung der Frauen im manchen Stellen durchaus Verständnis und Obama-Stab bitter beschwert. Zu Suskind Sympathie für Obamas Stil, aber im Kern sagte sie: Man könnte den Westflügel des scheint sich Suskind ganz einfach nach einem Präsidentenhauses als »feindseligen Arbeits- Basta-Präsidenten zu sehnen, der nicht nur platz« bezeichnen. Für die Demokraten ist dem Land sagt, wo es langgeht, sondern das ein peinliches Zeugnis, kommt es für ei- ebenso seiner testosterongesteuerten und mit nen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen einem starken Ego behafteten Männertrup2012 doch auch entscheidend auf die Stim- pe. Doch die Zeiten und das politische System sind nicht danach. men der Frauen an.

Foto (Ausschnitt): Christopher Herwig/WPN/Agentur Focus

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6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

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Ellen Johnson-Sirleaf musste sich hocharbeiten. Sie studierte in Harvard und legte eine kometenhafte Karriere hin

Liberia

Liberia ist Afrikas älteste Republik: 1847 gründeten befreite amerikanische Sklaven den Staat an der Westküste des Kontinents. Fast eineinhalb Jahrhunderte unterdrückten sie als privilegierte Klasse die Eingeborenen, ehe ihr Regime 1980 durch einen Militärputsch beseitigt wurde. Geputscht hatten Unteroffiziere unter der Führung von Samuel Doe. Es war der Anfang einer Despotie, die das Land weiter zerstören sollte. Doe manipulierte Wahlen, plünderte das Land aus, ließ Angehörige der vorher herrschenden Elite hinrichten. ALGERIEN Liberia vor der Wahl: Zu Besuch bei Ellen Johnson-Sirleaf, der einzigen Präsidentin des Kontinents VON BARTHOLOMÄUS GRILL 1989 begann Charles Taylor mit seiner National AFRIKA Patriotic Front of Liberia MALI NIGER (NPFL) den Aufstand geMonrovia tet«, sagt sie. Im Exil in den USA verkündet sie senerz, Gold, Öl, Tropenholz und Kautschuk ge- gierung nach wie vor Männer sitgen Doe, der 1990 getöm die berühmteste Frau Afrikas zu ihr Lebensziel: »Ich will gute Regierungsführung segnet ist!« Sie ist stolz darauf, eine Reihe von ka- zen. Die Frauen tragen die HauptLiberia NIGERIA tet wurde. Jahre des Bürpitalkräftigen Anlegern ins Land gelockt zu haben, last des Wiederaufbaus; sie werden treffen, muss man vier Sicherheits- nach Liberia bringen, ehe ich sterbe.« Ist ein Land, das eine derartige Schreckens- zum Beispiel ArcelorMittal aus Indien, den größten trotzdem wieder für sie stimmen, gerkriegs folgten. 1997 barrieren überwinden. Soldatinnen gewann Taylor die von den bewachen mit einem Schützen- geschichte hinter sich hat, überhaupt regierbar? Stahlkonzern der Welt. »Die Neuinvestitionen be- Johnson-Sirleaf hat ihr SelbstwertgeUN überwachten Präsidentpanzer den Amtssitz, dahinter zwei »Natürlich ist es das, ich habe es doch bewiesen«, laufen sich auf insgesamt 16 Milliarden Dollar«, fühl gestärkt. Die Erwartungen sind ZEIT-Grafik schaftswahlen, versprach natioelektronische Schleusen, schließlich tippt ein sagt Johnson-Sirleaf. »Die Demokratie ist gefes- rechnet sie vor. Eine gewaltige Summe, die Wachs- hoch, überall in Liberia sieht man die 40 0 km nale Versöhnung – verletzte aber Muskelprotz den Geheimcode ein, der das Spe- tigt, die staatlichen Institutionen funktionieren tum und Arbeitsplätze bringen soll. Entscheidend Verwüstungen des Krieges, es fehlt an Strafortan systematisch die Menschenrechte zialschloss zu ihrem Dienstzimmer in der sechs- wieder, die Wirtschaft wächst, die Sicherheitslage wird sein, ob die Gewinne im Korruptionssumpf ßen und Brücken, Strom und Wasser, Schulen, und verfolgte politische Gegner. Der Krieg ten Etage öffnet. Da sitzt sie an einem wuchtigen hat sich verbessert.« Die Demokratie steht zwar versickern oder dem Gemeinwohl zugutekommen. Kliniken und menschenwürdigen Wohnhäusern. im Land forderte insgesamt 200 000 Tote, Johnson-Sirleaf arbeitet hart, sie ist kompetent, Schreibtisch aus Tropenholz und begrüßt den noch auf ziemlich wackligen Beinen, und in vie- Letzteres will Johnson-Sirleaf durch eine streng Millionen Menschen wurden heimatlos. Besucher mit einem umwerfenden Lächeln: El- len Ämtern und Behörden herrscht heilloses kontrollierte und transparente Rohstoffbewirt- eigensinnig und autoritär. Es gibt keine Alternative Chaos, aber gemessen an afrikanischen Verhält- schaftung sicherstellen: Liberia hat als erstes Land zu ihr, und wen immer man in den Straßen der Erst 2003 trat Taylor nach massivem inlen Johnson-Sirleaf, die Präsidentin Liberias. ternationalen Druck zurück. Seit 2007 Der Ruhm der Präsidentin reicht weit über nissen, kann sich Johnson-Sirleafs Zwischenbi- Afrikas eine entsprechende Selbstverpflichtung un- Hauptstadt Monrovia fragt, die Antwort ist stets versucht ein Sondertribunal in die Gleiche: »Wir wählen Ma Ellen! Wen sonst?« ihre kleine Republik hinaus. Sie ist die erste Frau, lanz sehen lassen. Sie erwirkte den Erlass von fast terzeichnet. Den Haag, seine Verstrickungen in Frauen, davon ist Johnson-Sirleaf überzeugt, »Wir können ohne Angst einschlafen, und unsere die in einem afrikanischen Land zum Staatsober- fünf Milliarden Dollar Auslandsschulden, richKriegsverbrechen im Nachbarland Sierra haupt gewählt wurde, und seit sie die 158-jährige tete eine nationale Versöhnungskommission ein, seien die besseren Politiker: »Sie sind ehrlicher, en- Kinder gehen wieder in die Schule«, sagt eine BeLeone aufzuklären. Männerherrschaft in Liberia gebrochen hat, wird um die Wunden der Vergangenheit zu heilen, gagierter, und sie haben mütterliches Gespür«, er- senverkäuferin. Sicherheit und neue Hoffnung – 2005 gewann Ellen Johnson-Sirleaf die sie auf dem ganzen Kontinent als Hoffnungsträ- und schob ein Gesetz zum kostenlosen Pflicht- klärt sie, selbst Mutter von vier Kindern. Seltsam das sind vermutlich die größten Errungenschaften Präsidentschaftswahlen in Liberia. gerin gefeiert. Ihre glühendsten Verehrer verglei- schulbesuch an. Mithilfe der Friedenstruppe der nur, dass an den wichtigen Schaltstellen ihrer Re- in einer tief verwundeten Gesellschaft. chen sie mit Nelson Mandela, aber auch nüch- Vereinten Nationen ließ sie über 100 000 Externe Beobachter räumen ein, dass Johnson-Sir- kämpfer entwaffnen und reintegrieren. leaf etwas Unmögliches gelungen ist: Sie hat ein zerstörtes Land wiederaufgerichtet und den Li- »Liberia war ein gescheiterter Staat. berianern Zuversicht und Selbstachtung ge- Jetzt sind wir ein erfolgreiches Land« schenkt. Eine Leistung, die ihr nicht viele zugetraut hatten, als sie im Januar 2006 einen der In einem Nebensatz räumt die Staatschefin ein, dass schwierigsten Jobs antrat, den Afrika zu vergeben ihre Erfolge ohne den massiven Beistand der Welthat. 14 Jahre Bürgerkrieg, 200 000 Tote, ein gemeinschaft nicht möglich gewesen wären. WestDrittel der 3,5 Millionen Einwohner entwurzelt, liche Staaten, allen voran die USA, unterstützen Zehntausende von ehemaligen Rebellen und ihre Regierung mit großzügiger finanzieller und Soldaten. Die Wirtschaft ruiniert, 90 Prozent technischer Hilfe, 8000 Blauhelme der Vereinten Arbeitslosigkeit. Keine funktionierende Verwal- Nationen sichern den fragilen Frieden. Liberia sei tung, kein Rechtswesen, eine zerstörte Infra- ein wichtiger Test für den Wiederaufbau eines afristruktur. Liberia könne nicht wiederaufgebaut, kanischen Nachkriegslandes, verkünden die Geber. sondern müsse neu erfunden werden, befand der Scheitert die Mission, wäre das ein Rückschlag für britische Historiker Stephen Ellis. den ganzen Kontinent. Ellen Johnson-Sirleaf übernahm ein StaatsBefragt nach den schwersten Versäumnissen wrack – als einsame Kämpferin, die nicht einmal in ihrer ersten Amtszeit, lässt sich Johnson-Sireine Mehrheit im Parlament hatte, umgeben von leaf mit der Antwort Zeit. Von Versäumnissen, korrupten, inkompetenten Politmachos. Heute sagt sie, wolle sie nicht reden, sondern von Unwird sie selbst von ihren Widersachern respek- zulänglichkeiten. »Meine größte Sorge sind die tiert, das Volk nennt sie liebevoll »Ma Ellen«, arbeitslosen jungen Männer, ehemalige Kinderund niemand zweifelt daran, dass die Mutter der soldaten und Rebellen, die für sich keine ZuNation am Dienstag kommender Woche wieder kunft sehen.« Die Exkrieger bilden ein gefährlizur Präsidentin gewählt wird. Ihre 15 Konkur- ches Gewaltpotenzial, viele bewundern nach wie renten um das höchste Staatsamt wirken schwach, vor den gestürzten Präsidenten und Warlord sind ewige Verlierer oder haben wie der einstige Charles Taylor, der vom Weltstrafgericht in Den Kriegsfürst Prince Johnson einen üblen Ruf. Haag wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen angeklagt wurde. Dem Tag, an dem das Urteil verkündet wird, sieht Johnson-Sirleaf mit Seit sie einer Vergewaltigung entging, großem Unbehagen entgegen: »Sollte Taylor weiß sie, was Angst bedeutet nach Liberia zurückkehren, könnte er viel SchaEin anderer Spitzname von Johnson-Sirleaf ist den anrichten.« Während ihrer Zeit im Exil in den USA hatte »Eiserne Lady«. Dabei wirkt sie, wenn man ihr gegenübersitzt, ganz anders: mollige Gesichtszü- Johnson-Sirleaf für Taylors Feldzug gegen den ge, weiche Stimme mit amerikanischem Akzent, Diktator Doe Spenden gesammelt, »das war die eine zierliche Gestalt, der nur das weite, knall- größte Verirrung meines Lebens«. Die Versöhbunte Batikgewand Fülle verleiht. Fast 73 Jahre nungskommission empfahl, die Präsidentin für ist sie jetzt alt, aber sie sieht viel jünger aus. John- 30 Jahre von allen Staatsämtern auszuschließen. son-Sirleaf stammt nicht aus der kreolischen In ihren Augen kam das einer MajestätsbeleidiFührungsschicht des Landes, die sich aus den gung gleich. Hart war das Urteil allemal, denn Nachfahren freigelassener amerikanischer Skla- der anfangs noch unbescholtene Befreiungsven zusammensetzt, die Liberia 1847 gründeten. kämpfer Taylor wurde seinerzeit von allen DeSie musste sich hocharbeiten, studierte in Har- mokraten hofiert. Fest steht, dass Johnson-Sirleaf nicht die unvard und legte danach eine kometenhafte Karriere hin: Bankdirektorin, Führungsposten bei der fehlbare, volksnahe Heilige ist, für die sie ihre Weltbank, Leiterin der UN-Entwicklungsorga- Fans halten. Aber gerade ihr starkes Ego und der nisation für Afrika. 1979 kehrt sie in ihre Hei- Glaube an ihre Vision von einem aufblühenden mat zurück, als stellvertretende Finanzministe- Liberia verleihen ihr eine unerschütterliche Gerin. Nach dem Staatsstreich im Jahr darauf leitet lassenheit. Nur einmal während unseres Gesie auf Wunsch des Putschisten Samuel Doe die sprächs reagiert sie unwirsch und weist das Urteil liberianische Entwicklungsbank – und schweigt, skeptischer Beobachter, die Liberia nach wie vor als er sechs ihrer früheren Kabinettskollegen hin- für einen gescheiterten Staat halten, zurück. »Ich richten lässt. Später prangert sie Korruption und widerspreche ganz entschieden«, ruft sie, es Habgier des Regimes an, wird ins Gefängnis ge- klingt wie eine Beschwörung: »Liberia war ein worfen, entkommt nur mit viel Glück einer Ver- gescheiterter Staat. Jetzt sind wir ein erfolgreiches gewaltigung. »Seither weiß ich, was Angst bedeu- Entwicklungsland, das mit Ressourcen wie Eilan

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t i s c h e r O ze a n

Ehrlich, hart und mütterlich

14 6. Oktober 2011

DIE ZEIT No 41

POLITIK

MEINUNG

ZEITGEIST

Das Obama-Paradox Eigentlich ist er 2012 der vorbestimmte Verlierer, aber ...

JOSEF JOFFE:

Foto: Mathias Bothor/photoselection

Stanford, Kalifornien Stell dir vor, der Sieg ist dein, und du hast keinen, der den Pokal abholt. So geht es den Republikanern ein Jahr vor den Wahlen. Eigentlich müssten sie im nächsten November haushoch gewinnen und Obama aus dem Weißen Haus vertreiben. Aber sie kriegen keinen Kandidaten zustande, der diese niedrig hängende Frucht pflücken könnte. Zuerst Obama. Zwei klassische Fragen der Meinungsforscher lauten: »Sind Sie zufrieden, wie die Dinge laufen?« und »Ist das Land auf dem richtigen Weg?« Obama kommt in dieser Phase seiner Amtszeit schlechter weg als jeder seiner Vorgänger, inklusive des glücklosen Jimmy Carter. Nur elf Prozent sind zufrieden, nur 20 Prozent sehen das Land auf dem richtigen Weg. Bei George W. waren es zu diesem Zeitpunkt 44 und 52 Prozent; er hat die Wiederwahl geschafft. Bei Carter waren es 19 und 16 Prozent; er ist gescheitert. Seine Probleme waren Ende der Siebziger praktisch identisch mit denen von Obama heute: eine üble Rezession, hohe Arbeitslosigkeit. Nur den Mühlstein der hohen Inflation hat Obama nicht am Hals, dafür aber zwei Kriege, die verloren gehen. Ist er also der vorbestimmte Verlierer? Er müsste es nach aller historischen Erfahrung sein, aber diese Prophezeiung bleibt im Konjunktiv. Denn seine persönlichen Werte sind nach wie vor hoch: Zwei Drittel halten ihn für »sympathisch«, 49 Prozent für »ehrlich und offen«. Und die Republikaner suchen noch immer verzweifelt nach einem Kandidaten, der das Weiße Haus für sie erobert. Vor ein paar Wochen hieß der Hoffnungsträger noch Rick Perry. Der Gouverneur von Texas schoss nach vorn, weil der Frontrunner Mitt Romney so aufregend war wie Griesbrei. Jetzt liegt Perry knapp zehn Punkte hinter Obama; er ist gewogen und für zu leicht befunden worden. Doch Romney begeistert nicht; er schafft gerade mal den Gleichstand mit Obama. Die Partei begeistert Romney schon gar nicht. Deshalb gewinnt plötzlich ein Pizzakönig namens Herman Cain, der einzige schwarze Kandidat, die Probevorwahl in Florida mit 37 Prozent. Der ganz neue Traumkandidat hieß eine Woche lang Chris Christie, Gouverneur von New Jersey. Der Mann ist ein Schwergewicht in jeder Beziehung (220 Pfund), aber er hat einen großen Makel: Er hat sich am Dienstag trotz einer Welle von Zuspruch,

HEUTE: 3.10.2011

Kurzatmig

Foto: AAD/interTOPICS

Es ist früh am Morgen, und David Cameron läuft durch Manchester. Es ist der zweite Tag des jährlichen Parteitreffens der Tories. Cameron atmet tief ein, vorwärts, immer weiter. Er läuft allein, ein einsamer Brite, und einige seiner Parteifreunde hätten das gern so: einsame Briten, frei von all dem Ballast, den die Europäische Union so mit sich bringt. 34 Kilometer ist Großbritannien vom Kontinent entfernt, lächerlich wenig im Grunde, aber manchmal eben doch ganz weit weg. Fast die Hälfte der Briten möchte raus aus der EU, aber Cameron will nicht zurücklaufen in die Zeit von John Major. Die Euro-Skeptiker sollen ihm nicht den Parteitag vermiesen, denn die Tories laufen ja nicht mehr allein, sie haben jetzt die Liberalen an ihrer Seite, und die mögen Europa. Die Kurzstrecke hat Cameron bereits hinter sich gebracht. Aber er peilt die Langstrecke an. AKE

Was ich immer über mich wissen wollte Endlich hat ein Facebook-Nutzer seine Daten zurückerobert

Josef Joffe ist Herausgeber der ZEIT

die von Henry Kissinger bis Nancy Reagan reichte, gegen die Kandidatur entschieden. Christie, ein erfahrener und beliebter Politiker, wäre das richtige Gegenmittel zu Rechtspopulisten wie Perry, Bachman und Palin gewesen; die beiden Frauen liegen doppelstellig hinter Obama, treiben aber die Partei vor sich her. Nun ist dieser Traum geplatzt. Heute ist nur eines sicher: dass kein Kandidat Feuer fängt und deshalb ein jeder seine Viertelstunde Ruhm einfahren kann. Fazit: Obama müsste haushoch verlieren, aber die Republikaner finden keinen Kandidaten, der den Unmut kanalisiert, der Antworten auf die Wirtschaftskrise anbietet und nicht bloß populistische Wundermedizin. Wahrscheinlich wird Mitt Romney das Rennen machen. In diesem Fall bliebe das ganz Große im November 2012 offen, obwohl alle historische Erfahrung »Obama, ade« flüstert.

Bremsen für Wolfsburg

VON FRANZISKA BULBAN

Das ist weder das Problem von Facebook noch das anderer Datensammler, wie zum Beispiel Google. Daten sind ihre Geschäftsgrundlage. Und solange sie nicht streng kontrolliert werden, gibt es für sie nur wenige Anreize, dem Nutzer seine eigenen Daten leicht zugänglich zu machen. Zudem weist Facebook darauf hin, dass ja alles einsehbar ist. Der Nutzer muss sich nur dafür interessieren. Doch das ist selten der Fall. Den Nutzern ist es wichtiger, auf Facebook zu sein, als ihre Daten zu schützen: Sie interessieren sich dafür, welchen Film die Freundin mochte oder wo sie am Wochenende war. Was damit preisgegeben wird, beunruhigt sie nicht. Damit sind die Appelle an Internetnutzer, doch vorsichtig mit ihren Angaben zu sein, etwa so nützlich wie der Vorschlag des Papstes an Jugendliche, keusch zu leben: In beiden Fällen hat Enthaltsamkeit wenig mit der Lebenswirklichkeit zu tun. So kann sich Facebook immer wieder auf die Eigenverantwortung der Nutzer berufen: Sie stellen ja selbst Unmengen an Daten zur Verfügung. Sie müssten das nicht tun. Die persönliche Verantwortung überfordert Nutzer. Sie können sich nicht vorstellen, was für ein genaues Bild man mit ihren Daten zeichnen kann. Erst recht, wenn es um Daten geht, von denen die Nutzer nicht ahnen, dass sie erhoben werden. So sagt Schrems, Facebook speichere Aufenthaltsorte seiner Nutzer: Als seinen letzten Standort habe Facebook zum Beispiel eine amerikanische Uni vermerkt, obwohl er Facebook diesen Ort nie mitgeteilt habe. Ver-

Warum weiß Mark Zuckerberg mehr über uns als wir über ihn? Weil in seinem Sozialen Netzwerk Facebook 800 Millionen Menschen angemeldet sind. Zehnmal mehr, als Deutschland Einwohner hat. 800 Millionen Nutzer, die sich von verschiedenen Computern einloggen, ihre Lieblingsfilme bewerten, über ihre Wochenendpläne und ihre Affären plaudern und nebenher im Netz surfen. Welche Informationen Facebook dabei von jedem Einzelnen sammelt, ist kaum jemandem klar. Einer hat es jetzt getestet: Maximilian Schrems wollte wissen, was Facebook über ihn weiß. Er hat E-Mails geschrieben, ein OnlineFormular ausgefüllt und die irische Datenschutzbehörde angeschrieben – in Irland hat Facebook einen europäischen Firmensitz. Schließlich bekam Schrems seine Daten. Eine CD, auf der sein digitales Alter Ego in 57 Kategorien sortiert wurde. Gedruckter Umfang: 1200 Seiten. Welche Datenmengen Facebook über seine 800 Millionen User besitzt, kann sich keiner vorstellen. Nur wenige Nutzer interessieren sich dafür. Aber Schrems ist kein gewöhnlicher Facebooker. Er ist ein 24-jähriger Jurastudent. Er hat an der Uni eine Arbeit über den Umgang amerikanischer Firmen mit europäischem Datenschutz geschrieben. Er ist also ein Experte: Er kennt europäische Datenschutzrichtlinien und zuständige Behörden, er hat die nötige Vorbildung, um herauszufinden, was mit seinen Daten passiert. Und er hat das Interesse, weil ihm Datenschutz etwas bedeutet. Wenn aber die Einsicht der eigenen Daten zur Expertensache wird, entsteht ein Problem.

BERLINER BÜHNE

mutlich habe Facebook ihn geortet, als er sich über einen amerikanischen Computer eingeloggt habe. Wo der Einzelne nicht weiterweiß, müsste die Politik Schutz bieten. Doch von der ist zurzeit noch wenig Hilfe zu erwarten: Jedes EU-Land hat seine eigenen Regeln. Gerade hat die EU-Justiz-Kommissarin Viviane Reding eine Reform der EU-Datenschutzrichtlinien angekündigt. Einheitlich, transparent und effizient soll das neue Recht sein. Der Zeitplan: In etwa 30 Wochen soll ein Vorschlag unterbreitet werden. Dann muss das Europäische Parlament beraten. Es könnte ein Jahr dauern. Oder auch länger. So lange wollte Maximilian Schrems nicht warten. Er hat Facebook jetzt bei der irischen Datenschutzbehörde angezeigt, in 22 Punkten, nachzulesen auf der Internetseite www. europe-v-facebook.org. Die zuständige Behörde wird Facebook untersuchen und dabei Schrems Beschwerden berücksichtigen, hat sie ihm mitgeteilt. Ob sie ihm dann am Ende recht gibt, ist fast egal. Dank seiner Aktion wissen jetzt viele Nutzer, wie sie ihre Daten bei Facebook einsehen können. Angeblich haben das so viele genutzt, dass Facebook innerhalb der gesetzlichen Fristen gar nicht mehr nachkommt, die Daten herauszusuchen. Das berichten zumindest Nutzer auf Schrems Internetseite. Vielleicht ist Datenschutz im Moment noch kompliziert. Eine Sache für Experten. Aber mit Usern, die zu Experten in eigener Sache werden, lässt sich vielleicht die Zeit bis zu besseren Gesetzen überbrücken.

Wie die Bahn ihre Menschlichkeit für Fahrgäste entdecken könnte Schon zum dritten Mal ist am Bahnhof Wolfsburg ein ICE vorbeigefahren, hat die Wartenden am Bahnsteig einfach stehen lassen. Was hat die Bahn nur gegen Wolfsburg? Hat es vielleicht damit zu tun, dass Bahnchef Rüdiger Grube früher im Vorstand von Daimler gearbeitet hat und aus altem Konkurrenzdenken den Wolfsburgern ab und an noch einen mitgeben will? Oder ist gar die Politik schuld? Schließlich ist Niedersachsen eines der letzten schwarz-gelb regierten Bundesländer – und wir wissen ja, in dieser Koalition klappt nichts. Helfen will nun der VfL Wolfsburg, er verspricht jedem Lokführer, der neunmal planmäßig in Wolfsburg hält, ein Freiticket für die Volkswagen-Arena. Das ist nett gemeint, doch Tickets für einen mittelmäßigen Fußballverein sind ähnlich prickelnd wie Karten für eine CDU-Regionalkonferenz. Wir empfehlen der Bahn daher Poesie, das weckt Empathie – auch für den Fahrgast. Konkret sollten sich Grube und seine Leute Hoffmann von Fallersleben zu Gemüte führen, der bei Wolfsburg geboren wurde: »Wie könnt ich dein vergessen, dein denk ich alle Zeit: ich bin mit dir verbunden mit dir in Freud und Leid.« Bei von Fallersleben findet sich übrigens auch Rat für Stuttgart 21: »Freunde, zürnt uns nicht, daß auch wir mitunter so schlecht sind. Bessert ihr unsern Verkehr, bessern wir selber uns auch.« DAGMAR ROSENFELD

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Das perfekte Familienglück ist nur eine Frage der Organisation, oder? Mark Spörrle schreibt in seiner neuen Kolumne über die Tücken des Alltags Täglicher Newsletter

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CSU-PARTEITAG

ELEKTROMOBILITÄT

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Der Basta-Politiker

Fünf Millionen Elektroautos

Über den Islam lernen

Peter Licht

Bis hierher und nicht weiter, kommentierte CSU-Chef Horst Seehofer die Abstimmung zum Euro-Rettungsschirm. Am Wochenende debattieren die Christsozialen über Europa. Diktiert Horst Seehofer Angela Merkel Bedingungen?

Studien lassen zweifeln, dass für Deutschland eine Million Elektroautos bis 2020 realistisch sind. Doch Kurt Sigl wiederspricht: Der Präsident des Bundesverbandes eMobilität rechnet im Interview sogar mit der fünffachen Menge

Eine mittelalterliche Religion, die sich nicht weiterentwickelt hat: So wird der Islam in europäischen Schulbüchern dargestellt, bemängelt eine Studie. Die Religion werde fälschlicherweise mit der gesellschaftlichen Tradition gleichgesetzt

Er ist eine der wichtigsten Stimmen des deutschen Pop und dabei erfrischend gesichtslos. Wie geht es einem sensiblen Individuum in der Informationsgesellschaft? Ein Interview mit Peter Licht über Verweigerung und Teilhabe am System

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POLITIK

MEINUNG

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

15

WIDERSPRUCH

Fragt nicht! Ein Volksreferendum zu Europa wäre fahrlässig VON CHRISTIAN RABE DAMALS: 19.04.1998

Langatmig

Foto: Keystone (o.); David Levenson/Getty Images (u.)

Drei Stunden, 41 Minuten, 36 Sekunden. Aber Joseph Martin Fischer ist noch lange nicht am Ziel. Dieser Lauf in Hamburg im Frühjahr 1998 ist sein erster Marathon, doch eigentlich stimmt das nicht. Die 42,195 Kilometer sind nur eine Teilstrecke, lächerlich wenig im Grunde, denn Fischer läuft und läuft, schon seit Jahrzehnten, die 50 prangt auf seiner Brust, 50 Jahre ist er alt, und wenn die Blätter, die noch nicht an den Bäumen hängen, fallen, wird er Außenminister sein und Vizekanzler. Der Schweiß auf seiner Stirn wird trocknen, Fischer wird um die Welt fliegen, der beliebteste Politiker der Republik sein und seine Anzüge wieder ein paar Nummern größer kaufen müssen. Im Oktober 2006 nimmt er das Tempo raus. Er berät jetzt Energiekonzerne beim Bau einer Gaspipeline von Russland nach Deutschland. Manche denken, er läuft rückwarts. AKE

Unsere beiden Revolutionen Gefundenes Fressen Warum Libyer und Ägypter einander brauchen

VON HISHAM MATAR

Es heißt, dass Oberst Muammar al-Gadhafi in gen des libyschen Regimes öffentlich anprangern den frühen achtziger Jahren einmal einen zu können. Obwohl ich schon lange in London schrecklichen Traum hatte: Er geht zum Fri- lebte, spürte ich noch immer nach jedem öffentliseur, um sich rasieren zu lassen. Gemächlich chen Auftritt oft tagelang den kalten Atem des lilässt er sich in einen Sessel sinken und schließt byschen Regimes im Nacken. Es war, als ob ständie Augen. Als sein Hals schon zur Hälfte fertig dig ein eisiger Wind durch meine Wohnung wehrasiert ist, spürt er plötzlich die scharfe Klinge te. Auf die gleiche Art und Weise, wie Ägypten des Messers in seinem Nacken. Sie dringt tiefer und Libyen sich verschworen hatten, um meinen und tiefer in seine Haut ein und zieht dann Vater verschwinden zu lassen und den Schriftstellangsam einmal quer um seinen Hals. Der ler Idris Ali zum Schweigen zu bringen, sollte auch Oberst erwacht schweißgebadet in seinem Bett. ich mich für meinen Widerstand bestraft fühlen. Seit diesem Traum ist er überzeugt, dass er eines Zwar verfolgte man mich nicht so offensiv wie Tages von einem Friseur ermordet werden wird. meinen Vater, dennoch war es zu gefährlich, meine So zumindest erklärte man es sich in den Familie in Ägypten zu besuchen. Zu groß war die Straßen Libyens, als der Oberst mal wieder ei- Angst vor dem übermächtigen Staat. nes seiner merkwürdigen Dekrete erlassen hatFünf Jahre später, nachdem Hosni Mubarak gete: Alle Friseurgeschäfte in Libyen seien zu stürzt worden war und Gadhafis Fall kurz bevorstand, schließen! Tagelang konnte man sich nirgend- bestieg ich das erste Mal wieder ein Flugzeug in wo mehr die Haare schneiden lassen. Richtung Kairo. Als die Maschine zur Landung anFast dreißig Jahre später, im Winter 2009, setzte, blickte ich aus dem Fenster auf die große, veröffentlicht der ägyptische Schriftsteller Idris glänzende Stadt, die unter mir lag. Mir wurde klar, Ali einen Roman mit dem Titel »Der Führer wie sich plötzlich mein Schicksal gewendet hatte. geht zum Friseur«. In dem Buch verarbeitet Ali Schon auf dem Flughafen begann sich der Schmerz, die vier Jahre, die er selbst in den siebziger Jah- den ich so viele Jahre mit mir herumgetragen hatte, ren in Libyen gearbeitet hat. Neben seinen per- zu verflüchtigen. Als der Grenzbeamte durch die sönlichen Beobachtungen enthält der Roman Seiten meines britischen Passes blätterte und mich auch Augenzeugenberichte von ganz normalen nach meiner Herkunft fragte, klang es zum ersten Libyern. Mit bissigem Humor Mal freundlich, interessiert, nicht dokumentiert das Buch dabei anklagend. Ich antwortete ihm, ich H I S H A M M ATA R nicht nur die unmenschlichen sei Libyer. Da lächelte er und sagte: Bedingungen, denen ägyptische »Das ist eine große Ehre. Nun müsst Arbeiter damals in Libyen ausihr euch aber mal ein bisschen angesetzt waren, sondern auch die strengen, damit wir diesen Tyrannen dunklen und absurden Seiten auch noch loswerden.« Wir lachten. des Alltags in der Diktatur. Nie zuvor hatte mich ein ägyptischer Ali hatte bereits für eines Polizist so freundlich behandelt. seiner früheren Werke den Preis Als ich nach Hause kam, wartefür den besten ägyptischen Roten dort meine ganze Familie und man gewonnen. Nun erwartete ist ein libyscher Autor. viele Freunde aus Kindheitstagen auf man sein neues Buch auf der Sein Vater Jaballa, ein mich. Ich schaute mir all die verInternationalen Buchmesse in bekannter Dissident, trauten Gegenstände im Haus an, die Kairo im Januar 2010 mit wurde 1990 verschleppt. Bücher meines Vaters, alte FamilienSpannung. Gleich zu Beginn Zuletzt erschien von fotografien, und fühlte, wie sich die der Messe erhielt Ali einen An- Matar »Geschichte eines eiserne Faust löste, die mein Herz so ruf: Man teilte ihm mit, dass die Verschwindens« lange umklammert hatte. Ägyptische ägyptischen SicherheitsbehörFreunde, die sich seit dem Verden seinen Verleger verhaftet schwinden meines Vaters mir gegenhatten. Vermutlich unter dem Druck der liby- über immer unbeholfen und irgendwie schuldbewusst schen Regierung. Alle Kopien von »Der Führer benommen hatten, waren mir auf einmal näher als geht zum Friseur« waren konfisziert worden, je zuvor. Mir wurde klar, dass genau darin einer der der Verkauf war verboten. Nur Monate darauf hinterhältigsten Tricks der diktatorischen Regime starb Ali an einem Herzinfarkt. bestanden hatte: Sie hatten es geschafft, uns alle so Wie Alis wurde auch mein eigenes Leben sehr voreinander zu demütigen, dass wir uns entdurch die geheime Zusammenarbeit der diktato- fremdeten. Nun aber schien auf einmal jeder Ägypter rischen Regime in Ägypten und Libyen geprägt. genauso besessen wie ich selbst von den Ereignissen Meine Eltern verließen Libyen im Jahr 1979 als in Libyen zu sein. Es war spürbar, dass diese zwei politisch Verfolgte und ließen sich in Kairo nieder. Revolutionen einander brauchten; dass der Erfolg der Elf Jahre später, als ich bereits in London studier- einen vom Verlauf der anderen abhing. Wann immer ich zuvor in einem Café mit te, wurde mein Vater, einer der bekanntesten Kritiker des libyschen Regimes, aus unserem Haus ägyptischen und libyschen Schriftstellern zusamin Kairo entführt. Es ging alles ganz schnell: Mit- mengesessen hatte, wünschte ich mir, dass Idris arbeiter der ägyptischen Sicherheitsbehörden Ali, den ich nie persönlich gekannt habe, hätte da besuchten uns eines Nachmittags zu Hause. Sie sein können. Nun, da sich Tripolis endlich in den forderten meinen Vater auf, sie bei einem kleinen Händen der Aufständischen befindet, wünsche ich Botengang zu begleiten. Danach sahen wir ihn nie mir stattdessen, dass mein Vater bei uns sitzen wieder. Viele Jahre später erfuhren wir, dass man könnte. Zusammen mit uns könnte er dann den ihn in ein Flugzeug geschafft und nach Libyen Anbruch einer neuen Zeit beobachten. Die Chanverschleppt hatte. Nun ist er einer der vielen »Ver- ce für eine bessere Zukunft liegt in unseren Händen. Wir müssen sie nur ergreifen. schwundenen« Libyens. Im Jahr 2006 kam mein erster Roman »Im Land der Männer« heraus. Die Veröffentli- © New Yorker, 2011 chung ermöglichte es mir, die Entführung meines Vaters und die Menschenrechtsverletzun- Aus dem Englischen von JULIA LEY

Lebensmittel als Abfall – wer schützt die Welt vor uns Verbrauchern? Es gibt einen neuen Film über die Wegwerfgesellschaft. Taste the Waste, heißt er, und er zeigt, warum reiche Mitteleuropäer, wie wir Deutschen es sind, ungefähr die Hälfte der Lebensmittel wegwerfen oder wegwerfen lassen, die für uns produziert werden. Ilse Aigner, die Verbraucherschutzministerin (CSU), scheint den Film auch gesehen zu haben. Nun weist sie darauf hin, dass die Menge dieser Lebensmittel jedes Jahr eine Lkw-Kolonne füllen könnte, »Stoßstange an Stoßstange, von Madrid bis Warschau«. Damit könnte sie es gut sein lassen. Natürlich ist die Verschwendung von Lebensmitteln ein Skandal. Aber dabei geht es nicht um Verbraucherschutz, sondern um das Gegenteil davon: um

den Schutz der Welt, insbesondere der Armen und der Hungrigen, vor uns Verbrauchern, die wir die Preise für Grundnahrungsmittel in die Höhe treiben. Natürlich könnte Ilse Aigner uns ins Gewissen reden. Dass das ihre Aufgabe sei, wird man aber kaum sagen können. Andererseits scheint es so zu sein, dass die Politik nun etwas tun oder Tätigkeit wenigstens simulieren muss. Darum lässt Ilse Aigner jetzt, nach genauer Vermessung der erwähnten Lkw-Kolonne, noch untersuchen, »wie hoch der Verlust tatsächlich ist«. Klüger wäre es vielleicht, sie wiese auf einen praktischen Nachteil der Verschwendung hin: Sie ist teuer. Das könnte uns Verbraucher womöglich nachdenklich stimmen. FRANK DRIESCHNER

Das Volk befragen – das klingt weltgewandt und liberal. Auch die Argumente, die Heinrich Wefing in seinem Leitartikel Fragt das Volk! (ZEIT Nr. 40/11) nennt, sind verständlich. Allerdings könnte die Realisierung dieser Idee zu kaum einem schlechteren Zeitpunkt geschehen. Die Politikverdrossenheit und, schlimmer noch, die Demokratiezweifel in der Gesellschaft wachsen zusehends. Die großen Parteien haben den Anschluss ans Volk verloren. Sie kennen dessen Sorgen und Fragen nicht mehr, so scheint es. Politiker haben verlernt, Politik so transparent zu machen, dass die Bürger sie verstehen. Kein Wunder, dass diese die Lust an der Politik verlieren und sich bei der Meinungsbildung an den reißerischen Überschriften von Boulevardzeitungen orientieren. Nur so ist zu erklären, warum Parteien Bundestagswahlen gewinnen, um kurz darauf bei den nächsten Landtagswahlen zu erleben, wie ihr Ergebnis massiv einbricht – bis die Opposition wieder an die Macht kommt und sich das Spiel in umgekehrter Form wiederholt. Einer Bevölkerung, die der Politik derart misstraut und deshalb so ungeduldig agiert, sollte zu diesem Zeitpunkt über keinen derart weitreichenden Volksentscheid bestimmen – auch wenn solche Mittel die notwendige Nähe zur Politik wiederherstellen könnten. Doch man sollte solch mächtige Instrumente lieber in ruhigeren Zeiten ausprobieren. Die Entscheidung über ein Europa, das die Wähler wohl noch nie so fragil wie derzeit erlebt haben, aus den Händen zu geben, das wäre fahrlässig. Es ist immer noch besser, Entscheidungen zu Europa den Menschen zu überlassen, die uns repräsentieren. Man sollte sie nicht der momentanen Missgunst einer Masse verschreiben, die bei Facebook bedenkenlos auf »Gefällt mir« klickt und kurze Zeit später wieder ihre Meinung ändert. Volksentscheide sind nötig – aber bitte nicht in einer solchen Situation. Damit würde man sehr viele Bürger überfordern. Und die europäische Idee aufs Spiel setzen. Christian Rabe, 35, ist Studienreferendar in Gevelsberg Jede Woche erscheint an dieser Stelle ein »Widerspruch« gegen einen Artikel aus dem politischen Ressort der ZEIT, verfasst von einem Redakteur, einem Politiker – oder einem ZEIT-Leser. Wer widersprechen will, schickt seine Replik (maximal 2000 Zeichen) an [email protected] Die Redaktion behält sich Auswahl und Kürzungen vor

TITEL

IN DER ZEIT gerechtfertigt war 3

Foto: Martin Guetter für DZ

4

5

künftig über den Wert des Renminbi entscheiden? VON TAN

Afghanistan Warum der Krieg VON JAN ROSS

Leben mit dem Krieg – vier Afghanen und ihr Alltag.

YALING UND YU YONGDING

chinesischer Kleinunternehmer VON SHE YUN

und ein Abgeordneter die Krise erleben VON MARC BROST UND

26 IG Metall Auf Erfolgskurs

TINA HILDEBRANDT

27

Parteirebellen Peter Gauweiler

poker 6

Migration Muslimin und

Feministin: Integrationsministerin Bilkay Öney im Gespräch

»Wir wählen Ma Ellen! Wen sonst?« Manche nennen sie die weibliche Ausgabe von Nelson Mandela, und ganz sicher ist sie derzeit die gefragteste Frau Afrikas: Ellen Johnson Sirleaf, die 73 Jahre alte Präsidentin von Liberia, die gerade mitten im Wahlkampf steckt. Drei Monate lang wartete ZEITKorrespondent Bartholomäus Grill (oben) auf einen Termin für das Interview. Selbst Afrika-Kenner Grill staunte über das Ausmaß der vier Sicherheitsbarrieren im Amtssitz der Präsidentin. Deren Bürotür öffnete sich erst, nachdem ein Muskelprotz einen Geheimcode eingegeben hatte POLITIK SEITE 13

VON MARIAM LAU

8

Polen Die Hinterbliebenen der

Opfer von Smolensk drängen in die Politik VON ALICE BOTA 9

Antiterrorkrieg Ist es richtig,

Terroristen mit Drohnen zu töten? Ein Pro und Contra VON JOSEF

VON BIRGIT SCHÖNAU

30 Griechenland Noch zu retten?

Ein Besuch

VON HEIKE BUCHTER

und Geschäft 38

Foto: Henning Bode/imagetrust

VON CATRIONA MCLAUGHLIN

für Griechenland?

Das Museum Charlotte Zander in Bönnigheim VON JÖRG SCHELLER 64 Ausstellung »Wunder« in den

Hamburger Deichtorhallen VON ULRICH SCHNABEL

65 Kunst Der Zwist zwischen Los

Angeles und New York

VON F. VORHOLZ

VON SVEN BEHRISCH

67 Musik-Sonderseiten Neues aus

Libyen und Ägypten müssen zusammenhalten VON HISHAM MATAR

Martin Walser über sein Verhältnis zu Gott und zum Christentum

VON PIERRE-CHRISTIAN FINK

Reiche Sie sollten nicht noch

mehr bezahlen

REISEN

VON LUTZ GOEBEL

40 Was bewegt ... Verbraucher-

81

schutzministerin Ilse Aigner? VON KARSTEN POLKE-MAJEWSKI

Essen Lebensmittel müssen teurer

das Strombad an der Donau neu

WISSEN

Widerspruch Volksabstimmung VON CHRISTIAN RABE

tobt ein interner Machtkampf

VON NICOLA VON HOLLANDER

Justiz Der Mordprozess von

Perugia endet als Spektakel VON BIRGIT SCHÖNAU

21 So ist der Krieg In Dresden wird

das neue Militärmuseum eröffnet VON STEFAN SCHIRMER

Zeitmaschine

VON FRANZ SCHUH

22 Harzburger Front Vor 80 Jahren

»Es kommt mir obszön vor«

bliesen Konservative und Nazis zum Angriff auf die Republik

Jean-Luc Godard, Meister der Nouvelle Vague, ist 80 Jahre alt, verströmt aber immer noch den Geist des jungen Wilden. Ein Gespräch mit dem Regisseur darüber, warum es keine kulturelle Kritik des Kapitalismus gibt, über Geld und über sein neues Werk »Film Socialisme« FEUILLETON SEITE 51

VON VOLKER ULLRICH

WIRTSCHAFT 23 China Gigant oder Crash-

Kandidat?

VON ANGELA KÖCKRITZ

sam verreisen

VON ANNE LEMHÖFER

85 Neuland Vor Fünen entstehen

Nobelpreis Das Universum

86 Magnet Sabine Weiss: »Photogra-

42

Wie das Immunsystem dazulernt VON HARRO ALBRECHT

43

Ernährung BSE – ein Skandal ebbt ab VON REINER LUYKEN

neue Inseln

45 Atommüll Michael Sailer im

CHANCEN 87

zum Pflichtfach

49 KINDERZEIT Gemeinsam stark? Warum

VON JULIA NOLTE

89 Politik Die Ministerin in NRW

sucht eine Linie

VON A. SCHADWINKEL

Elektronik Energie-Label für den Fernseher VON BRITTA VERLINDEN

Odenwaldschule Salman Ansari, der einzige Lehrer, der nicht schwieg VON MARTIN SPIEWAK

88 Bühne In Hamburg wird Theater

Interview über sichere Standorte das Wasser?

VON CHR. SCHUMANN

phie aus fünf Jahrzehnten«

44 Infografik Nützliches Unkraut

46 Erdgeschichte Woher kommt

GESCHICHTE

84 Ibiza Wenn Nachbarn gemein-

Bundesregierung will keinem wehtun VON CHRISTIANE GREFE dehnt sich aus – rätselhaft schnell VON ULRICH SCHNABEL

17 Justiz Am Bundesgerichtshof

von Griechenland

VON SILKE BURMESTER

41 Umwelt Die Waldstrategie der

DOSSIER

20 WOCHE NSCH AU Korruption Nachts am Strand

Oslo Auf den Spuren Edvard Munchs VON SANDRA DANICKE

83 Kritzendorf Die Wiener erleben

VON FRANK DRIESCHNER

über Europa? Bitte nicht jetzt

Verstehen Sie das, Herr Schmidt? Der Altkanzler über die allzu große Aufregung über Staatsschulden und den richtigen Weg, Griechenland zu retten

66 GLAU BE N&ZW EIFE LN Kunstreligion Ein Gespräch mit

über Lieferketten gelernt haben

VON FRANZISKA BULBAN

15 Arabellion Die Revolutionäre aus

Eine junge Frau berichtet, wie es war, in einer Hartz-IVFamilie groß zu werden. Und: ein Besuch bei Peter Hartz, dem ehemaligen Manager, der dem Projekt seinen Namen gab

Pop, Jazz und Klassik

Ökonom Was wir seit Fukushima VON JOSEF JOFFE

VON SABINE RÜCKERT

Foto: Patrick Messina/Getty Images

Unternehmerin Beate Uhse

Kunstmarkt Neue Rekord-

39 Sonnenstrom Eine Geschäftsidee

Facebook Datenschutz? Keine

WIRTSCHAFT SEITE 30

VON TOBIAS ROMBERG

Kolumne über Kreditkarten

werden

Fernsehen Das Leben der Sex-

VON U. VIEHÖVER

VON MARTIN KLINGST

VON BARTHOLOMÄUS GRILL

Kino John Chandors »Margin Call« VON SABINE HORST

61 ZEIT-Museumsführer

35 Kirchen Zwischen Nächstenliebe

14 Meinung

In dieser Woche reist Wirtschaftsminister Philipp Rösler nach Athen, um der griechischen Wirtschaft zu helfen. Allzu große Hoffnungen sind damit nicht verknüpft. Was braucht das Land wirklich?

60

Leben des Forschers Niko Paech

preise

13 Liberia Afrikas einzige Präsi-

VON PETRA PINZLER

an der Germantown für Shanghai scheiterte VON THOMAS E. SCHMIDT

VON IJOMA MANGOLD

Ron Suskind: «Confidence Men«

Chance!

58 Architektur Wie Johannes Dell

Verleger Marc Walder

VON RAZAN ZEITOUNEH

Bücher machen Politik

Zeitgeist

VON CHRISTOPH DALLACH

Öko-Fragebogen Das radikale

34 Ringier Ein Gespräch mit dem

Proteste junger Spanier in Brüssel

VON IJOMA MANGOLD

57 Pop Das London von Pink Floyd

VON MATTHIAS DAUM

Pharmahändler

6. OKTOBER 2011

Theater Elfriede Jelineks »Kein Licht« in Köln VON ANDREA HEINZ

32 GRÜNE SEITEN Kritik an

11 Wall Street Vor Ort bei den

dentin

Nina Pauer

31 Michalis Chrysochoidis

Öko-Bauten

41

56 Facebook-Debatte Antwort auf

VON PETRA PINZLER

Griechenlands Wirtschaftsminister im Interview

Kunst Der genialische Fälscher Wolfgang Beltracchi

Auch der Kunstmarkt steht vor Gericht VON TOBIAS TIMM

VON MARK SCHIERITZ

29 Italien Spaltung in der Regierung

VON RONALD DÜKER

VON HANNO RAUTERBERG

33 Mia Ein Elektroauto vom

VON JAN WAGNER

12 Syrien Meine toten Freunde. Ein

Noch zu retten?

VON

Zeitungsfusion Warum will Springer die WAZ-Gruppe kaufen? VON GÖTZ HAMANN

begonnen

10 Politische Lyrik »Prokrustes«

Tagebuch

55

28 Euro-Rettung Das Endspiel hat

JOFFE UND JOCHEN BITTNER

Demonstranten

Europa ärmer

KOLJA RUDZIO UND JULIAN TRAUTHIG

CSU Vor dem Comeback des

Berlin Rot-grüner Koalitions-

53 Stierkampf Das Verbot macht

25 Wohlstand Mein Aufstieg als

Europa Wie ein Aktienhändler

VON THOMAS E. SCHMIDT

Die Proteste haben eine neue Qualität VON THOMAS ASSHEUER

AUSGABE:

Foto: Alex Domanski/Reuters

2

51 Anti-Wallstreet-Demos

Illustration: Gregory Gilbert - Lodge

24 Währung Sollen Marktkräfte

POLITIK

nah

16

Literaturmagazin zur Messe: Bücher gegen die Kälte

VON J.-M. WIARDA

91 Hoch hinaus Ein Besuch beim

Baumhausbauer

VON KRISTIN HAUG

104 ZEIT DE R LESE R

VON MATTHIAS KRUPA

RUBRIKEN

50 Kinderkrimis Antonia Michaelis’

FEUILLETON 51 Kapitalismus Ein Gespräch mit

dem Regisseur Jean-Luc Godard

www.twitter.com/zeitonlinesport

Die so gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im »Premiumbereich« von ZEIT ONLINE

unter www.zeit.de/audio Anzeigen in dieser Ausgabe Link-Tipps (Seite 28), Spielpläne (Seite 47), Museen und Galerien (Seite 61), Bildungsangebote und Stellenmarkt (ab Seite 90)

Small Talk Was dabei zählt

Staaten sich zusammentun

»Kreuzberg 007 – Mission grünes Monster« VON KATRIN HÖRNLEIN

Löws Rückkehr: Vor zwölf Jahren trainierte Joachim Löw Fenerbahçe Istanbul. Am Freitag kommt er als Nationalcoach in die Türkei. Unsere Reporter twittern live vom EM-Qualifikationsspiel

2

Worte der Woche

47

Stimmt’s/Erforscht und erfunden

56 Impressum 65

Wörterbericht/Finis

103 LESER BR IE F E

Früher informiert!

Die aktuellen Themen der ZEIT schon am Mittwoch im ZEIT-Brief, dem kostenlosen Newsletter www.zeit.de/brief

»EINE STUNDE ZEIT«

Das Wochenmagazin von radioeins und der ZEIT, präsentiert von Katrin Bauerfeind und Anja Goerz: Am Freitag 18–19 Uhr auf radioeins vom rbb (in Berlin auf 95,8 MHz) und www.radioeins.de

GESCHICHTE

Korruption: Nachts am Strand von Griechenland S. 20

Angriff auf die Republik: Die Harzburger Front 1931 S. 22

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

17

Fotos: Michael Herdlein für DIE ZEIT (2); Winfried Rothermel/dapd/ddp (u.)

DOSSIER

WOCHENSCHAU

Thomas Fischer, Richter am Bundesgerichtshof, soll vom Posten des Vorsitzenden Richters ferngehalten werden

Der unbequeme Richter Am Bundesgerichtshof geht es zu wie im Vatikan: Nichts soll nach draußen dringen. Der Bundesrichter Thomas Fischer hält sich nicht daran und macht sich mit klaren Ansichten über den Zustand des Rechtsstaats Feinde. Jetzt hat ihn der BGH-Präsident Klaus Tolksdorf fallen lassen. Wie ein fähiger Jurist fertiggemacht wird VON SABINE RÜCKERT

E

s ist kein Zufall, dass Thomas Fischer sich in diesen Tagen so heftig für die Widersprüche der menschlichen Natur interessiert: Zum Beispiel befremde ihn eine Gesellschaft, die ihre Kinder hemmungslos mit sexuellen Reizen überflute und sich gleichzeitig vorgenommen habe, »Kinderseelen zu retten« und sexuelle Übergriffe gegen Minderjährige »mit Stumpf und Stiel auszurotten«. Schon in den meisten Modejournalen finde sich »ein unverhülltes Kokettieren mit der Überwindung kindlicher Träume durch erwachsene Sexualität«, sagt Fischer in das vor ihm aufgebaute Mikrofon. Das sei unehrlich, widersprüchlich »und natürlich auch widerlich«. Das ist der unverblümte Stil des Thomas Fischer, der auf einer Tagung zum Thema Kriminalitätsopfer, die im September 2011 an der Universität Bielefeld stattfindet, gerade einen Vortrag über die Ambivalenzen des Sexualstrafrechts hält. Sein Publikum besteht zum Großteil aus Opferanwälten. Da steht er, von einem Deckenstrahler beleuchtet, unbewegt am Rednerpult, wie meistens dunkel gekleidet. Ein Riese, schätzungsweise 190 Zentimeter groß und 120 Kilogramm schwer. Dieser massigen Erscheinung entströmt ein leiser Ton, der schnelle und anspruchsvolle Gedanken ins Publikum transportiert. Der 58 Jahre alte Fischer, Richter am Bundesgerichtshof, dem BGH, zählt zu den wichtigsten Strafjuristen im Lande, denn er verschafft sich weit über die Urteile seines Senats hinaus Gehör. In den Fachkreisen von Strafrechtlern ist er, seines Wissens und seiner Originalität wegen, eine Berühmtheit – was für einen Richter ungewöhnlich ist und beim BGH auch nicht jedem gefällt. Fischer ist als Mitglied eines Strafsenats hoher Repräsentant des Strafrechts, nimmt es aber nicht als gottgegeben hin. Er reflektiert und hinterfragt, bildet sich eine eigene Meinung und spricht sie aus, auch wenn das politisch unkorrekt daherkommt oder die Zuhörer ärgert. In Bielefeld sagt er Sätze wie diesen: »Opfer ist in einer freien Gesellschaft nicht mehr, wer erniedrigt wird, sondern wer in seine Erniedrigung nicht einwilligt.« Oder: »Alle verfolgen einträchtig den Kinderschänder – das stiftet einen Gemeinsinn, den es in unserer Gesellschaft schon lange nicht mehr gibt.«

tretender Vorsitzender. Seit der Pensionierung der früheren Vorsitzenden Ruth Rissing-van Saan im Februar 2011 führt Fischer den Senat kommissarisch. Jedem Strafsenat sind mehrere Oberlandesgerichtsbezirke zugewiesen: Der 2. Strafsenat ist zuständig für die Revisionen aus den Bezirken Frankfurt/Main, Jena, Koblenz und Köln. Auslöser der Kontroverse mit dem Präsidenten war Fischers Bewerbung auf den frei gewordenen Posten des Vorsitzenden Richters. Wer einem BGH-Senat vorsitzt, hat eines der höchsten Richterämter inne, das die deutsche Justiz zu vergeben hat. Haltung und persönliche Überzeugung eines Vorsitzenden durchdringen die Rechtsprechung des ihm anvertrauten Senats und beeinflussen damit auch die des Bundesgerichtshofs. Umso bestürzender muss es für Fischer – der intern längst als designierter Vorsitzender galt – gewesen sein, als ihm der Präsident im Dezember 2010 überraschend erklärte, er halte ihn für ungeeignet, dieses Amt adäquat auszufüllen. Irgendwann im Verlaufe des Sommers 2010 muss Klaus Tolksdorf sich dazu entschlossen haben, den eigenwilligen Fischer vom Amte des Vorsitzenden fernzuhalten, ohne dass Fischer sagen könnte, aus welchem Grund. Auch auf Anfrage der ZEIT will der Präsident zum Thema Fischer keine Stellung nehmen. »Professor Fischer scheint gelegentlich Tolksdorf lässt seither nichts unin Gefahr, die Grenzen versucht, Fischer den Weg zum Order Zurückhaltung aus den dentlichen Vorsitzenden zu versperAugen zu verlieren« ren. Was zunächst nach einem bloKLAUS TOLKSDORF, BGH-PRÄSIDENT ßen Konflikt um einen Posten aussah, wird immer mehr zu einem tiefen Zerwürfnis über das Verständnis mehr um eine bloße Personalie: Der Streit erschüt- der Richterrolle, die Aufgaben des Bundesgerichtstert Deutschlands oberstes Revisionsgericht. Der hofs und die Frage, wieweit ein Richter in der BGH befindet über Revisionen gegen Urteile, die rechtspolitischen Debatte mit seiner Ansicht hinGroße Strafkammern der Landgerichte als erste In- ter dem Berg halten muss. Fischers beim Verwaltungsgericht erhobene stanz und Oberlandesgerichte in Staatsschutzsachen gefällt haben. Damit ist der BGH das letzte Klage richtet sich gegen seine Dienstherrin, die Kontrollorgan der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Bundesrepublik Deutschland. In der Sache geht es Strafsachen. Er gilt als Wahrer der Rechtseinheit, gegen den eigenen Präsidenten. Der Reporter, der er hat eine Leitfunktion, seine Entscheidungen sich beim Bundesgerichtshof nach Fischer erkunsind für die Gerichte auch in der Zukunft bindend: digt, erfährt von zwei gegensätzlichen PerspektiDer Bundesgerichtshof spricht nicht nur Recht, er ven auf diesen Bundesrichter: Die einen sehen in Fischer schon seit Längerem einen Störenfried, stellt es auch her. Zum BGH gehören zwölf Zivil- und fünf der das hohe Ansehen des Revisionsgerichts aufs Strafsenate. Fischer ist seit dem Jahr 2000 Mitglied Spiel setzt – aus Verbohrtheit oder Geltungssucht des 2. Strafsenats, 2008 wurde er dessen stellver- oder beidem. Sie halten ihn für einen BesserwisEr appelliert an die Zuhörer: »Die meisten von Ihnen wissen doch noch aus der Jugend, wie leicht man nach fünf Weizenbier und einem Joint in ambivalente Situationen rutschen kann und dass man im Rückblick froh sein muss, damals nicht an den falschen Staatsanwalt geraten zu sein!« Er stellt bemerkenswerte Thesen auf: »Die Menschen sehen sich globalen und unbeherrschbaren Risiken ausgesetzt und versuchen den eigenen Ängsten dadurch zu entkommen, dass sie im beherrschbaren Kleinraum des Strafrechts Fehlverhalten immer härter geahndet sehen wollen – trotz sinkender Kriminalität.« Auch das: für Fischer nichts anderes als »irrationale Ambivalenz«. Dass gerade Widersprüchlichkeit sich zu Fischers Lieblingsthema entwickelt hat, könnte auch daran liegen, dass er selbst Gegenstand einiger Ambivalenzen geworden ist: Fischer wehrt sich nämlich seit Mai 2011 vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe in einer Klage gegen eine vernichtende dienstliche Beurteilung durch seinen Vorgesetzten, den Präsidenten des Bundesgerichtshofs, Klaus Tolksdorf. Die Auseinandersetzung der beiden Spitzenjuristen ist mittlerweile eskaliert. Längst geht es nicht

ser, der an der Legislative herumnörgelt, Kollegen Strafrechtslehrer ab. Er wirft ihnen vor, die Veröffentlich herabsetzt und dessen Ego niemanden gangenheit zu verklären, eigene Misserfolge unter gelten lässt – außer Fischer selbst. Und sie begrü- den Teppich zu kehren und einen Lebensstil zu ßen es, dass Fischer endlich in die Schranken ge- preisen, der vor allem in Bravheit und Anpassung bestand. Die meisten Texte liest Fischer als Zeugwiesen wird. Die anderen verehren den Richter für sein nisse der Furcht vor dem Exzess und spottet: Selbst Denkvermögen und seine Entschlossenheit, sich die Beschreibung von Exzentrikern, denen der Junicht durch Opportunismus von seinen Überzeu- rist berufsbedingt begegne, sei »erkennbar von der gungen abbringen zu lassen. Sie bewundern seine Sorge getragen, nicht etwa selbst für einen solchen Furchtlosigkeit, weil er zu drohenden Fehlgriffen gehalten zu werden«. Auch habe die Mehrzahl der des Gesetzgebers nicht schweigt. Sie halten ihn für Autoren ihren Lebtag eine rein theoretische »Wiseinen der intellektuellen Motoren des Bundesgerichtshofs, einen Glücksfall für die Strafjustiz. »Es wird einen Grund geben, warum Zur zweiten Gruppe gehört zum Professor Tolksdorf sich von mir Beispiel die scheidende Generalabgewandt hat. bundesanwältin Monika Harms. Aber den kenne ich nicht« Bevor sie Deutschlands höchste THOMAS FISCHER, BGH-RICHTER Strafverfolgerin wurde, war Harms lange Jahre Vorsitzende Richterin eines BGH-Strafsenats. Sie gilt als konservativ und streng. Auf Fischer angespro- senschaft vom Strafen« betrieben, also über Freichen, sagt sie knapp: »Niemand am Bundesge- heitsentzug räsoniert, ohne jemals ein Gefängnis richtshof kann ihm das Wasser reichen« – dann von innen oder einen Verbrecher aus der Nähe gesehen zu haben. muss sie weiter. Am härtesten geißelt Fischer die fehlgeschlageFischer hatte schon ein bewegtes Leben hinter sich, als er mit Mitte dreißig sein Zweites Juristi- ne Auseinandersetzung vieler Eminenzen der sches Staatsexamen ablegte: Als Teenager hatte er Rechtswissenschaft mit der NS-Justiz: Deren Missdas Gymnasium abgebrochen, um Musiker zu achtung von Gerechtigkeit und Menschlichkeit werden, war zwei Jahre später zurückgekehrt, hatte werde in kaum einem Beitrag der 21 Gelehrten annach dem Abitur zunächst Germanistik studiert gesprochen – für Fischer eine große Enttäuschung. und war als Schriftsteller an den eigenen Ansprü- Denn: »Die Generation ihrer Lehrer war zu einem chen gescheitert, hatte jahrelang als Lastwagenfah- nicht geringen Teil – sei es als Scharfmacher und rer und Paketzusteller malocht und sich schließlich Täter, sei es als Mitläufer, sei es als schweigende fürs Strafrecht entschieden, weil ihn der immer- Wegseher – mehr oder weniger in die Schuld der währende moralische Prozess fesselte, in dem Nor- NS-Herrschaft verstrickt.« Man müsse – wenn hier men entstehen, durchgesetzt werden und verfallen. schon von den Errungenschaften der AutobiograDas muss wissen, wer den polarisierenden Cha- fen die Rede sei – auch nach deren »Interesse, Mut, Rückgrat und Aufrichtigkeit« bei der Auseinanderrakter des Thomas Fischer begreifen will. Der zeigt sich auch in seinem Aufsatz Spuren setzung mit den eigenen Doktorvätern fragen. der Strafrechtswissenschaft, der 2011 in einer Fest- Darüber aber erfahre der Leser »fast nichts«. Ofschrift erschienen ist. Darin nimmt Fischer – der fenbar sei eine »kritische Rückschau auf die Verselbst als Honorarprofessor an der Universität antwortung des eigenen Fachs« kein Schwerpunkt Würzburg lehrt – in einer Art Buchbesprechung dieser Juristengeneration gewesen. Obwohl – oder weil – Fischers Buchbespreeinen Sammelband aufs Korn, in dem die Elite der deutschen Strafrechtsprofessoren in autobiografi- chung trifft, hat sie ihm eine Menge Unmut beschen Beiträgen auf die eigene Lebensleistung zu- schert. Mancher der gescholtenen Honoratioren rückblickt. Mit dem Scharfsinn des Revisionsrich- registrierte erbost, dass ein ehemaliger Paketbote es ters analysiert Fischer die Texte und rechnet mit einer ganzen Generation vermeintlich begnadeter Fortsetzung auf S. 18

DOSSIER

DIE ZEIT No 41

Fortsetzung von S. 17

wagte, sich mit ihnen anzulegen. Einer der attackierten Wissenschaftler, der im Ruhestand noch auf ein paar letzte Lorbeeren durch den BGHRezensenten gehofft haben mochte, fühlte sich von Fischers »persönlichen Fußtritten« so gekränkt, dass er ihm einen wütenden offenen Brief schrieb, in dem er Fischer unabsichtlich auch noch recht gab: »Wir Studenten der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten andere Sorgen, als uns um Details der Vita der Professoren zu kümmern.« Aber auch Richter, die Fischer schätzen, fragten sich, ob es wirklich nötig war, alten Herren die Maske vom Gesicht zu reißen. Andererseits handelte es sich bei den Kritisierten keineswegs um Schwache und Benachteiligte, sondern um führende Universitätsjuristen mit einer Vorbildfunktion für ganze Generationen junger Richter und Rechtsanwälte. Von ihrem Rückblick auf viele Jahrzehnte deutscher Rechtsgeschichte – unter anderem in einem Unrechtsstaat und einer jungen Demokratie – darf der Leser mehr erwarten als eine Sammlung harmloser Anekdoten im Abendsonnenschein. Fischers Aufsatz zeigt jedenfalls, wie sehr der Autor sich dem Anstand verpflichtet fühlt. Der Aufsatz könnte den Präsidenten Tolksdorf in seiner unversöhnlichen Haltung gegen Fischer bestärkt haben. Dabei hatte er ursprünglich ganz anders gedacht: Laut einer früheren dienstlichen Beurteilung war der BGH-Präsident dem Bundesrichter Fischer am 15. Februar 2008 noch überaus gewogen. Damals malte Tolksdorf das Idealbild des Vorsitzenden eines Strafsenats: Fischer strahle eine derartige »Souveränität und natürliche Autorität« aus, dass »seine Fähigkeit zur Leitung eines Senats außer Frage« stehe, heißt es da. Fischer sei ein Richter, der durch seine Eigenschaften aus dem sehr kleinen Kreis der für ein solches Amt überhaupt infrage kommenden Kollegen »herausragt«, weshalb er »besonders geeignet« sei. Zwei Jahre später, am 16. März 2010, gerät die nächste Beurteilung Fischers dem Präsidenten abermals zur Hymne. Wieder adelt er den Richter mit der Spitzennote »besonders geeignet« und begründet diese unter anderem so: »Mit seinen – auch das Ansehen des Bundesgerichtshofs fördernden – inhaltlich wie sprachlich stets brillanten Veröffentlichungen nimmt Prof. Dr. Fischer Einfluss auf die wissenschaftliche Diskussion grundlegender Fragen des Straf- und Strafprozessrechts wie kein anderes Mitglied der Strafsenate.« Nun muss man wissen, dass Fischer den Bundesgerichtshof nach außen womöglich in höherem Maße repräsentiert als der Präsident selbst. Seit den Neunzigern schreibt Fischer einmal im Jahr den am weitesten verbreiteten Kommentar zum Strafgesetzbuch fort, einen 2500 Seiten starken Wälzer namens Beck’sche Kurz-Kommentare, der zum Handwerkszeug eines jeden Strafrichters, Staatsanwalts, Verteidigers gehört. Darin stellt er die höchstrichterliche Rechtsprechung und die Auffassung der Rechtslehre zu den Fragen dar, die von den einzelnen Paragrafen aufgeworfen werden. Und er hält sich auch hier mit dem eigenen Standpunkt nicht zurück. Die meisten Benutzer dürften sich inzwischen auf einen Blick in Fischers umfassenden Kommentar beschränken und sich gar nicht erst die Mühe machen, die zitierten Fundstellen im Original einzusehen. Daher ist der Einfluss dieses Bundesrichters auf die Alltagspraxis in den Gerichten nicht hoch genug einzuschätzen. Hinzu kommt, dass Fischer auf Symposien zu grundlegenden Rechtsfragen zum Publikumsmagneten geworden ist, der den Diskurs mit Richtern, Wissenschaftlern und Verteidigern sucht und keinem Streit aus dem Weg geht. Die als dröge und blutleer geltende Rechtswissenschaft wird plötzlich lebendig, wenn Fischer sie präsentiert. Sosehr der BGH-Präsident noch bis vor Kurzem Fischers Stareigenschaften gepriesen hat, inzwischen tut sich Tolksdorf schwer mit dessen offensiver Wirkung. Seine jüngste dienstliche Beurteilung vom 25. Februar 2011 fiel plötzlich für den Kandidaten verheerend aus. Er könne an seiner früheren, äußerst positiven Einschätzung nicht uneingeschränkt festhalten, schreibt Tolksdorf jetzt. Denn Fischer scheine »gelegentlich in Gefahr, die Grenzen der Zurückhaltung aus den Augen zu verlieren, die sich ein Richter des Bundesgerichtshofs bei der Teilnahme an öffentlichen Diskussionen auferlegen sollte«. Außerdem erscheinen dem Präsidenten die Fischerschen Nebentätigkeiten – Autorenschaften, Vorträge, Lehraufträge – auf einmal als zu zeitraubend, um auch noch den Anforderungen an den Vorsitz gerecht zu werden. Im Übrigen hätten sich seit September 2009 gleich drei Richter aus dem 2. Strafsenat versetzen lassen. Ihren Senatswechsel hätten sie vor allem damit begründet, dass sie sich eine reibungslose Zusammenarbeit mit einem Vorsitzenden Fischer nicht vorstellen könnten. Dies schüre Zweifel an der persönlichen Eignung des Kandidaten. Die zwischen den Prozessbeteiligten ausgetauschten Schriftsätze lesen sich mittlerweile wie eine Dokumentation über das komplizierte Innenleben des BGH und den Umgang der Revisionsrichter miteinander. Revisionsrichter werden nicht eingestellt wie Arbeitnehmer, sie werden regelmäßig aus allen 16 Bundesländern vorgeschlagen und von einem 32-köpfigen Richterwahlausschuss bestimmt, der sich je zur Hälfte aus Mitgliedern des Bundestages und der Landesjustizministerien zusammensetzt. Die Richter stammen aus allen Teilen der Republik und bleiben bis zu ihrer Pensionierung am Bundesgerichtshof. Ein BGH-Senat besteht also aus einem durch fremden Willen zusammengezwungenen siebenköpfigen Gremium meist über 50-jähriger, hoch qualifizierter und manchmal hochempfindlicher Richter, Oberlandesrichter und Ministerialbeamter mit erheblich divergierender Weltsicht.

Klaus Tolksdorf, BGH-Präsident, versucht Fischers Aufstieg mit aller Macht zu verhindern

Da bleibt es nicht aus, dass manche Mitglieder eines Senates mit der Zeit eine herzliche Abneigung gegeneinander fassen. Trotzdem muss sich der sogenannte Spruchkörper jede Woche zu einstimmigen Entscheidungen durchringen, die von je fünf der sieben Senatsmitglieder in wechselnder Besetzung im Beratungszimmer ausgefochten werden: So ist es, wenn der Senat über eine Revision durch Beschluss befindet, was in über 90 Prozent der Fälle geschieht. Manchmal zieht sich der Streit über Tage hin. Einem dünnhäutigeren Richter kann seine Kollegenschaft da rasch wie eine Versuchsanordnung vorkommen, bei der die eigene Leidensfähigkeit bis an die Grenzen getestet wird. Das macht durchaus nachvollziehbar, warum ein Präsident sich um das friedliche Zusammenleben eines Senates sorgt, vor allem wenn ihm jemand wie Fischer vorsitzen will, der nicht als Diplomat gilt. Andererseits kennt der Präsident Fischers Art seit Jahren und hat noch eine Beurteilungs-Laudatio auf ihn verfasst, als zwei der drei nun ins Feld geführten Richter den 2. Strafsenat bereits verlassen hatten – der eine offensichtlich nachdem er den Wettlauf um den Stellvertreterposten gegen Fischer verloren hatte, der andere ohne Angabe von Gründen. Bleibt die dritte Richterin, die sich im Frühjahr 2010 an den Präsidenten gewandt und um ihre Versetzung gebeten haben soll und die sich jetzt als Schachfigur im Endspiel zweier zum Äußersten entschlossener Widersacher vorfindet. Ihren

»Fischers Auftritt vor dem Rechtsausschuss war taktisch ungeschickt. Das war umso bitterer, als er absolut im Recht war« EBERHARD KEMPF, RECHTSANWALT

2500 Seiten umfasst Fischers jährlicher Kommentar des Strafgesetzbuchs

Christoph Krehl, Bundesrichter, fürchtet die Zerschlagung des 2. Strafsenats

Das neue Gebäude des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe

Ruth Rissing-van Saan, ehemalige Vorsitzende des 2. Senats, favorisiert Fischer als Nachfolger

siert nämlich die Verständigung zwischen Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern: Das Gericht darf jetzt eine verbindliche Zusage über die Obergrenze der zu erwartenden Strafe abgeben – unter der Bedingung, dass der Angeklagte ein Geständnis ablegt. Bis August 2009 konnten die Gerichte lediglich ein Verfahren gegen Geldauflage einstellen, wenn die Schwere der vermuteten Schuld dem nicht entgegenstand. Vor allem Wirtschaftsstraftäter kamen so durch Zahlung eines Betrages manchmal sogar um eine öffentliche Hauptverhandlung herum. Durch das neue Gesetz ist es den Prozessbeteiligten jetzt auch bei Verbrechen, selbst bei schwersten Delikten wie Vergewaltigung und Mord, erlaubt, sich über den Umfang des Geständnisses und die Höhe der Strafe zu einigen. Die Befürworter einer solchen Abkürzung verweisen stets auf die »knappe Ressource Recht«: Die Justiz könne sich die vielen Verfahren nicht mehr leisten, sie sei völlig überlastet. Rechtswidrig gedealt werde ohnehin überall, das Dealen spare allen Beteiligten Zeit und Aufwand. Der Angeklagte könne sich nicht beschweren, denn er ziehe einen Vorteil aus seinem Geständnis, und auch das Opfer werde geschont, denn es müsse gar nicht erst aussagen. Alle könnten zufrieden sein. Sicher ist es ökonomischer und auch bequemer, das Geständnis eines Angeklagten für glaubhaft zu halten und danach ein Urteil zu verfassen, statt wochenlang Zeugen und Sachverständige zu hören und den Tatvorwurf erschöpfend aufzuklären. Auf der Strecke bleibt die Frage, ob das Urteil zuletzt auch richtig ist. Deswegen sprechen die Gegner des Deals von einem Geschäft mit der Gerechtigkeit: Im Vorteil sei der Verbrecher – je schwerer die Straftat, desto höher der Profit, den er durch ein Geständnis herausschlagen könne. Das Nachsehen hätten die Unbescholtenen: die Opfer von Straftaten, die in die Absprache gar nicht erst einbezogen werden. Und diejenigen Angeklagten, die unschuldig sind. Vor allem bei einer Konstellation Aussage gegen Aussage ist der Deal geradezu darauf angelegt, Fehlurteile zu produzieren. Wurden dem Angeklagten im Mittelalter die Folterwerkzeuge gezeigt, um ihn zum Geständnis zu bewegen, so werden ihm heute die »eigenen Interessen« vor Augen geführt. Geht er nicht darauf ein und bestreitet die Tat, läuft er Gefahr, den Groll des Gerichts auf sich zu ziehen, dem er zumutet, seine Pflicht zu tun. Nur ein sehr tapferer Angeklagter wird da dem Lockruf der Dealer und der Aussicht auf eine milde Strafe widerstehen – selbst dann, wenn er die Tat nicht begangen hat. Im umgekehrten Fall können Verbrecher glimpflich davonkommen, weil ihre Rechtsanwälte Druck auf die Richter ausüben. Wenn diese sich weigern, zu dealen und auf die Forderung nach einer niedrigen Strafe einzugehen, müssen sie mit einer frustrierenden Hauptverhandlung voller vermeidbarer Beweisanträge, sinnloser Widersprüche und Befangenheitsanträge von der Verteidigerbank rechnen. Der Richter Fischer hat zum Thema Deal einen beunruhigenden Fall dokumentiert, mit dem sich der 2. Strafsenat in der Revision befasste: Zwei Täter hatten einen Mann überfallen, ausgeraubt und so brutal geknebelt, dass er erstickte. Die beiden waren zunächst wegen Mordes angeklagt, schließlich aber bloß wegen Raubes mit Todesfolge verurteilt worden. Obwohl die Täter die Todesnot ihres Opfers erkannt hatten, hatten sie es sterben lassen, um ungestört fliehen zu können. Dem

Wechsel soll sie mit der Befürchtung begründet haben, den Belastungen der Zusammenarbeit mit einem Vorsitzenden Fischer »psychisch nicht gewachsen« zu sein. Was die Richterin im Einzelnen ausgeführt und womit sie ihre angeblichen Ahnungen unterfüttert hat, teilt der Präsident dem Verwaltungsgericht Karlsruhe nicht mit. Tolksdorf hat sich auch nicht die Mühe gemacht, dieses – immerhin einen Bundesrichter belastende – Gespräch zu protokollieren und die Beschuldigungen gegen Fischer somit irgendwie greifbar zu machen. Die Richterin lässt eine entsprechende Anfrage der ZEIT unbeantwortet. Dafür äußern sich andere, zum Beispiel Ruth Rissing-van Saan, die von 2002 bis zu ihrer Pensionierung im Februar 2011 selbst Vorsitzende des 2. Strafsenats war. Rissing-van Saan hat die von BGH-Richtern erwartete Zurückhaltung ihr Leben lang beherzigt und noch nie mit einem Journalisten über interne Vorgänge des Bundesgerichtshofs gesprochen. Jetzt will sie loswerden, wie »empörend« sie das Vorgehen des Präsidenten findet. »Mir geht es nicht darum, den BGH zu beschädigen«, schickt sie voraus – im Gegenteil, sie rede, um »die hohe Reputation dieses Gerichts zu erhalten«. Denn der Bundesgerichtshof beschädige durch den ungerechten Umgang mit Fischer nicht nur diesen Richter, sondern sich selbst. Jene sensible Richterin, an der Fischers Bewerbung nun scheitern soll, hat – nach der Schilderung von Frau Rissing-van Saan – den Senat in aller Stille verlassen. Unzufriedenheit mit dem Führungsstil des Stellvertreters habe sie weder gegenüber der Vorsitzenden noch im Kreis der Kollegen erkennen lassen. »Ich war völlig perplex, als sie ging«, sagt Rissing-van Saan. Krach zwischen der Frau und Thomas Fischer habe es ein einziges Mal »Fischer darf ja ein Gegner des gegeben – der Grund war ein MissDeals im Strafverfahren sein. verständnis wegen eines Termins Aber er muss sich benehmen« zum Jahreswechsel 2008/09, das SIEGFRIED KAUDER, bald ausgeräumt worden sei. Keinem CDU-BUNDESTAGSABGEORDNETER Senatsmitglied sei aufgefallen, dass die Frau unter Fischer gelitten habe. Fischer, sagt Rissing-van Saan, sei unbestritten ein raumgreifender Mensch, aber Gerichtsprotokoll war zu entnehmen, dass es zwiauch feinfühlig und versöhnlich, eine echte Füh- schen den Prozessbeteiligten zu einem »Gespräch rungspersönlichkeit und alles andere als nachtra- über die vorzeitige Beendigung des Verfahrens« gegend: »Dass der Präsident ihm nun soziale Inkom- kommen war. Das Urteil: zwölf Jahre Freiheitspetenz vorwirft, zeigt, dass der nebulöse Vorwurf strafe für jeden Angeklagten. So sind wahrscheinder mangelnden Teamfähigkeit immer noch die lich zwei Mörder um das Lebenslang herumgesicherste Methode ist, fachlich überragende, aber kommen. Fälle wie diese stärken das Vertrauen des Volkes unangepasste Leute kleinzukriegen.« Im Übrigen habe der Präsident sie selbst mit keinem Wort über in die Justiz ebenso wenig wie die Tatsache, dass die jäh verschlechterte Lage ihres Favoriten Fischer Kriminelle, die schwere Wirtschaftsstraftaten beinformiert und ihr auch »kein Recht auf Gehör gangen und die Allgemeinheit erheblich geschägewährt«, sondern sie als Senatsvorsitzende mit der digt haben, ihre Strafe mit den Richtern jetzt legal Herabstufung des designierten Nachfolgers über- aushandeln können. Am 25. März 2009 trat Fischer als einer von rumpelt. Auf einen Brief vom 14. Dezember 2010, in dem sie sein Prozedere beanstandete, neun Sachverständigen vor dem Rechtsausschuss habe Tolksdorf nicht einmal geantwortet. »So viel des Bundestages auf, der über die Legalisierung des zur sozialen Kompetenz des Präsidenten«, sagt Deals beriet. Augenzeugen schildern Fischers Auftritt wie den eines Mannes, der versucht, mit Rissing-van Saan. Es gibt allerdings einen Konflikt, der hinter schierer Körperkraft eine Lokomotive aufzuhalten. allem stecken und den Präsidenten dazu bewogen Der Rechtsanwalt Eberhard Kempf aus Frankfurt haben könnte, nach Argumenten gegen Fischer am Main, ein erfahrener Verteidiger und damals Ausschau zu halten: einen Konflikt um den selbst als Sachverständiger geladen, hat die StelRechtsstaat. Im November 2010 erschien in der lungnahme des Bundesrichters als »taktisch ungeZeitschrift für Rechtspolitik ein Aufsatz mit dem schickt« in Erinnerung. Fischer habe nicht wahrTitel Ein Jahr Absprache-Regelung. Darin setzte haben wollen, dass in solchen Ausschüssen die sich Fischer kritisch mit dem zwölf Monate zuvor Bereitschaft, Argumenten zuzuhören, gering sei. Gesetz gewordenen Phänomen des sogenannten »Er hat sich echauffiert, und die Hörer haben sich Deals im Strafverfahren auseinander und griff da- geärgert«, sagt Kempf. Das sei umso bitterer gebei indirekt auch eine Revisionsentscheidung sei- wesen, als er »absolut im Recht war«. Der Abgeordnete Jerzy Montag, der für die ner Richterkollegen aus dem 1. Strafsenat an. Dieses unübliche Verhalten, Kollegen auch öffent- Grünen im Rechtsausschuss sitzt, schildert Filich scharf zu kritisieren, wird den Betroffenen schers Einsatz als »wortgewaltig und ohne Rücksicht auf Verluste«. Fischer sei ein Idealist, er glaumissfallen haben. Fischer ist seit je ein Erzfeind des Dealens bei be daran, dass vor Gericht die »echte Wahrheit« Strafsachen. Und die sogenannte Absprache-Re- ans Licht gebracht werden müsse. Dem Bundestagsabgeordneten Siegfried Kaugelung hält er für das Schlimmste, was der Gesetzgeber der Strafprozessordnung in den 130 Jahren der von der CDU, der dem Rechtsausschuss vorihres Bestehens angetan hat. Dieses Gesetz legali- sitzt und sich für die Absprache-Regelung starkge-

Fotos (v.o.n.u.): Winfried Rothermel/AP; Michael Herdlein für DIE ZEIT (2); Tim Wegner/laif; BGH; kl. Fotos: Tim Wegner/laif(o.); kronfoto.de (u.)

18 6. Oktober 2011

Verteidiger die einwöchige Revisionsfrist abkürzt und für rasche Rechtskraft sorgt – auch wenn das nicht Gegenstand der Absprache ist. »Eine Woche kann sehr lang sein für ein Gericht«, sagt Wizemann, »da kann einem Angeklagten viel einfallen im Knast, und das fürchten die Richter.« Er selbst habe zum Wohle seiner Mandantin nicht anders handeln können, zumal sie nur die Hälfte der Strafe würde absitzen müssen. Allerdings hat Wizemann damit gerechnet, dass der 1. Strafsenat das Urteil aufhebt. Dass dies nicht geschehen ist, »verwundert mich«, sagt er. Fischers unverhohlene Kritik »Fischer ist ein Idealist. Er glaubt daran, an der Entscheidung der BGHdass vor Gericht die echte Wahrheit Kollegen dürfte die innere Abans Licht gebracht werden muss« kehr des Gerichtspräsidenten JERZY MONTAG, BUNDESTAGSforciert haben. Dass Konflikte ABGEORDNETER DER GRÜNEN aus dem würdigen Kreis der Revisionsrichter nach außen dringen, schätzt man nicht beim BGH. geordneten Kauder so entrüsten. Da warnt er Dabei ist Tolksdorf, der Präsident, selbst ein eindringlich vor den Folgen des Deals: »Das Gegner des Deals. Noch im Januar 2009 hat er Strafrechtssystem als Kern staatlicher Machtaus- auf einer Pressekonferenz zu diesem Thema erübung« gerate in Gefahr, denn die Verfahrens- klärt, er halte die Entwicklung hin zum Dealen beteiligten könnten sich beim Dealen doch ein- für »sehr gefährlich«, er sehe eine verheerende fach darauf einigen, das Recht außer Acht zu Erosion ihres Ansehens auf die Justiz zukomlassen. Die Absprache sei ja ihrer Natur nach men. Zwei Jahre später warnt Tolksdorf den darauf angelegt, eine Kontrolle durch die Revi- Bundesrichter Fischer, »dass es – ungeachtet dessionsgerichte auszuschließen. Fischers Prophe- sen, dass ich Ihre Auffassung in der Sache teile – zeiung: Auch der ehrenwerteste Richter könne gut wäre, wenn Sie sich solche Äußerungen, zufragwürdigen Abmachungen mit der Gegenseite mal als Vorsitzender eines Strafsenats, versagten«. Was im Präsidenten derzeit vorgeht, kann auf die Dauer nicht widerstehen. Niemand nehme sich vor, »heute das Recht mit Füßen zu man nur vermuten. Sieht er Streit mit einem treten«. Trotzdem werde die Absprache-Rege- Vorsitzenden vom Schlage Fischers heraufziehen, lung langsam, aber unaufhaltsam ins Unrecht wenn es darum geht, wie groß die Zugeständführen: »Rechtsbeugung findet immer in kleiner nisse an den Mainstream bei der Rechtsauslegung Münze statt«, sagt Fischer laut Ausschussproto- ausfallen dürfen? Tolksdorf saß, bevor er Präsident wurde, koll. Durch Übermüdung, Überforderung, Überdruss. Deshalb sei die Kontrolle der Ge- selbst sieben Jahre lang einem Strafsenat vor. Er richte so wichtig. Denn jeder – auch der Richter war als guter und besonnener Vorsitzender all– suche letztlich den Weg des geringsten Wider- seits geachtet. Seit er das Präsidentenamt bekleistands. »Das Wasser fließt immer den Berg hi- det, soll er sich, wie man auch von Richtern hört, nab«, sagt Fischer. »Der Mensch ist schwach, verändert haben – machtbewusster und autoritädeshalb haben wir doch das Rechtssystem, also rer geworden sein und bisweilen einsame Entein System rechtlicher Kontrolle, weil der scheidungen treffen. Erst im Januar 2011 hat der Präsident eine Mensch schwach ist.« Fischer verlor damals den Kampf. Der Deal Niederlage einstecken müssen: Eine Bundesrichwurde Gesetz. Mancher – wie der Christdemo- terin aus einem der zwölf Zivilsenate hatte vor krat Siegfried Kauder – nimmt es Fischer seither dem Verwaltungsgericht gegen ihre Zwangsverübel, dass er öffentlich Zweifel an der richter- setzung in einen anderen Senat Beschwerde einlichen Unbeugsamkeit äußerte. Bleibt die Frage, gelegt und gewonnen. Sie hatte eine Beziehung ob das Selbstbild der Richter als Fels in der Bran- mit einem Rechtsanwalt, der gelegentlich in den dung, der sich kraft eigener Gesinnung allen Vorinstanzen bestimmter Fälle mitgewirkt hatte, Anfechtungen widersetzt, dem Menschen, der die später als Revisionen bei jenem BGH-Senat das Amt innehat, nicht zu viel abverlangt. Und landeten, dem die Richterin angehört. Das war ob man sich um die Stabilität eines Rechtsstaats, den Kollegen bekannt, weshalb die Richterin – dessen Garant nicht mehr die Strafprozessord- um den Eindruck der Befangenheit zu vermeinung, sondern bloß die persönliche Integrität den – nie an den Sachen mitwirkte, wenn ihr eines Vorsitzenden ist, nicht doch Sorgen ma- Partner am Verfahren beteiligt gewesen war. Auch der Präsident und das Präsidium hatten chen muss. Um das Richterbild geht es auch in Fischers von der privaten Liaison der Richterin mehr als Artikel in der Zeitschrift für Rechtspolitik vom zwei Jahre lang gewusst und keine dienstlichen November 2010, der den Ärger des BGH-Präsi- Konsequenzen gezogen. Nach einem kritischen denten und mancher Richterkollegen erregt ha- Zeitungsartikel änderte sich plötzlich der Geben wird. Darin kritisiert Fischer einen Deal vor schäftsverteilungsplan, und die Richterin sollte dem Landgericht Hechingen, bei dem die Kon- gegen ihren Willen in einen anderen Senat wechtrollfunktion des Bundesgerichtshofs ganz be- seln. Gegen diese Versetzung rief die Richterin wusst dadurch ausgeschaltet worden war, dass das Verwaltungsgericht an und erhielt in zweiter der Verteidiger am 18. November 2009 um Instanz recht. Dass sie sich die »willkürliche Zu17.17 Uhr Revision gegen das Urteil eingelegt, weisung« nicht gefallen lassen muss, hat die diese aber um 18.11 Uhr wieder zurückgenom- Richterin vom Verwaltungsgerichtshof in Mannmen hatte. Durch dieses Manöver war das Urteil heim schriftlich bekommen. Die Richter äußerten in ihrem Beschluss »erhebliche Zweifel« dasofort rechtskräftig geworden. Allerdings hat der Gesetzgeber, als er den ran, dass die Versetzung der Klägerin »auf sachliDeal legalisierte, dabei den sogenannten Rechts- chen Gründen« beruhte. Dem 2. Strafsenat könnte wegen Fischer mittelverzicht ausdrücklich verboten: Das Gericht darf keinem Verfahrensbeteiligten die Zu- ebenfalls eine Änderung des Geschäftsverteisicherung abnehmen, er werde das Urteil nicht lungsplans drohen – die so massiv ausfallen soll, mit der Revision anfechten. Vor allem der Ange- dass alle Strafsenate des Bundesgerichtshofs in klagte soll eine Woche Zeit haben, sich darüber Mitleidenschaft gezogen werden könnten. Mitte klar zu werden, ob es bei dem ausgedealten Urteil August dieses Jahres beraumte der Präsident Tolksdorf nämlich eine Präsidiumssitzung an, in bleiben soll. Die Angeklagte, Mitglied einer Bande von der eine Geschäftsplanänderung beraten werden Geldautomatenknackern, war mit der Rücknah- sollte, die von der ehemaligen Vorsitzenden Risme ihrer Revision nunmehr zu einer zweijährigen sing-van Saan als »Zerschlagung meines Senates« Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt. Sie bezeichnet wird. Der vakante Vorsitz des 2. Strafwechselte den Verteidiger und legte gegen das senats sollte dem Vorsitzenden eines anderen Urteil noch einmal Revision ein – mit der Be- Strafsenats als weiteres Amt übertragen werden gründung, die Blitzrücknahme der ersten Revi- und vom umkämpften Spruchkörper nur ein sion sei »ohne ihr Wissen« und »ohne ihre Zu- Fragment übrig bleiben – solange Fischers Klage stimmung« geschehen. Der 1. Strafsenat des nicht erledigt ist. Die Mehrzahl der Richter und BGH bat die Hechinger Richter dazu um deren große Teile ihres Zuständigkeitsgebiets sollten Stellungnahme. Diese schrieben, der Verteidiger auf die anderen vier Strafsenate aufgeteilt werselbst habe damals nach dem Deal vorgeschla- den. Das hat es im BGH in den 61 Jahren seines gen, er könne ja »Revision einlegen und diese Bestehens nicht gegeben. Anlass dafür soll die Sorge des Präsidenten wieder zurücknehmen«. Die Richter bestritten aber, dass dieses Verhalten Gegenstand der Ab- sein, der 2. Strafsenat – für den wegen Fischers sprache gewesen sei. Der 1. Strafsenat verwarf Klage kein Vorsitzender ernannt werden darf – könnte ohne Ordentlichen Vorsitzenden nicht die Revision der verurteilten Frau. Durch die 54-Minuten-Revision wurde das mehr richtig besetzt und seine Entscheidungen Urteil nun zementiert – für den Bundesrichter Fischer nicht nur deshalb ein Skandal, weil Richter inzwischen auf die »Erfindung »Niemand am Bundesgerichtshof von Bauernschläue geprägter kann Fischer das Wasser reichen« Tricks stolz sind, welche den WilMONIKA HARMS, BIS ENDE SEPTEMBER len des Gesetzgebers ins Leere GENERALBUNDESANWÄLTIN laufen lassen sollen«, sondern auch weil der 1. Strafsenat, der als Teil des BGH für die unteren Gerichte Maßstäbe setzt, eine »solche Umgehung könnten damit anfechtbar sein. Mancher Bundes Gesetzes« höchstrichterlich für zulässig er- desrichter registriert aber einen Nebeneffekt dieses Gewaltakts: Fischer, der ja seit Februar fakklärt habe. Der Vorsitzende des 1. Strafsenats, Armin tisch Vorsitzender des 2. Strafsenats ist und mit Nack, der 2009 ebenfalls im Rechtsausschuss auf- jedem Tag weitere Tatsachen schafft, könne seine getreten ist und sich für die Absprache eingesetzt unübersehbare Befähigung für dieses Amt dann hat, möchte zum Thema Hechingen gegenüber nicht länger beweisen. Gegen den Angriff auf den 2. Strafsenat hader ZEIT nichts sagen. Das tut dafür der Verteidiger der verurteilten Frau, Rechtsanwalt Achim ben sich am 10. August 2011 alle seine sieben Wizemann: Eine zweijährige Freiheitsstrafe sei Richter zur Wehr gesetzt. In einem Brief an das für seine damalige Mandantin, die sehr wohl in Präsidium des BGH warnen sie vor »gravierenalles eingeweiht gewesen sei, »super« gewesen. den, rechtlich bedenklichen und organisatorisch Und natürlich erwarte ein Gericht nach so viel kaum kalkulierbaren Eingriffen« in ihren Senat. Entgegenkommen unausgesprochen, dass der Dabei berufen sie sich auf einen Fall, der sich

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macht hat, steht der zornige Bundesrichter noch vor Augen: »Der Auftritt war wuchtig«, sagt er. Aber Fischer – selbst früher Vorsitzender einer Strafkammer – sei über die deutsche Richterschaft in einer Weise hergefallen, dass es ihm, Kauder, wie »Nestbeschmutzung« vorgekommen sei. »Er darf ja ein Gegner der Absprache sein«, sagt Kauder, »aber er muss sich benehmen.« Im Protokoll der 134. Sitzung des Rechtsausschusses sind jene Wortbeiträge des Bundesrichters Thomas Fischer dokumentiert, die den Ab-

Bundesrichter Ralf Eschelbach (hier am Tegernsee) ist fassungslos über die Angriffe auf Fischer

Die Arbeitszimmer der Richter am Bundesgerichtshof

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1995 am BGH ereignete: Damals war der Vorsitz des 1. Strafsenats wegen einer Konkurrentenklage neun Monate lang verwaist, und das Präsidium hielt eine Änderung des Geschäftsverteilungsplans nicht für nötig. Keine einzige Entscheidung des Senats wurde als verfassungswidrig angefochten mit dem Argument, die Runde sei nicht korrekt besetzt gewesen. Jetzt, so die sieben Richter in ihrem Schreiben, berge der Plan einer Durchmischung der Strafsenate das Risiko, dass zuletzt nicht nur einer, sondern alle fünf Strafsenate des BGH gesetzwidrig besetzt und damit alle ihre Entscheidungen verfassungswidrig seien. Aus einem Ort der rechtsstaatlichen Gewalt würde dann eine Versammlung der Ohnmächtigen. Wer Richter aus dem 2. Strafsenat anspricht, trifft auf Menschen, die den Attacken des Präsidenten auf Thomas Fischer fassungslos gegenüberstehen. Fischer sei einer der »großen Juristen Deutschlands«, sagt Ralf Eschelbach, der in den neunziger Jahren lange als wissenschaftlicher Mitarbeiter im BGH arbeitete und 2010 als Bundesrichter zurückkehrte. Man müsse kein Michael Kohlhaas sein, um den fragwürdigen Umgang des Präsidenten mit ihm »überprüft und geklärt« sehen zu wollen, wenn nötig von einem Gericht. Und Bundesrichter Christoph Krehl, der dem Senat seit 2009 angehört, erzählt, dass er 2010 lange krank gewesen sei und Fischer ihn regelmäßig angerufen, Anteil genommen und bei den Kollegen um Verständnis für ihn geworben habe. Das habe er, sagt Krehl, dem Präsidenten im Herbst 2010 persönlich erzählt, ohne zu ahnen, was sich in diesem gegen Fischer zusammenbraute. Der Präsident habe darauf gar nicht reagiert. Nunmehr, sagt Krehl, werde im Zuge des Rechtsstreits der ganze 2. Strafsenat von Fischers Gegnern in ein übles Licht gerückt und dieser vortreffliche Richter »regelrecht demontiert«. Der große Streit im BGH liegt nun beim kleinen Verwaltungsgericht Karlsruhe. Wie die Sache ausgehen wird, ist offen. Sollte Fischer verlieren, muss er dem neuen Vorsitzenden Platz machen – allerdings dürfte der Strom kritischer Veröffentlichungen aus Fischers Feder deshalb nicht versiegen. Sein Scheitern wird also keine Katastrophe für den Rechtsstaat sein. Nur müsste sich der Bundesgerichtshof dann die Frage gefallen lassen, ob er ein Gericht sein will, das die Besten aussortiert.

Fotos: Michael Herdlein für DIE ZEIT (2); kl. Fotos: Thomas Trutschel/photothek.net (o.); Johannes Arlt/laif (u.)

DOSSIER

WOCHENSCHAU

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Zur Kohlegewinnung durch Wind Und du ackerst, und du säst, und du nietest, und du nähst, und du hämmerst, und du spinnst, sag, o Volk, was du gewinnst! – Aus dem Jahr 1863 stammen diese Verse, die den werktätigen Menschen zu einer Bonitätsprüfung in eigener Sache ermuntern.

Damals hatte man noch die Muße sie zu singen, heute werden sie von einer heruntergeladenen Arbeiterlied-App angezeigt und ausgedruckt, dann aber doch nicht gelesen, weil in der Minute des Druckvorgangs längst andere Vorgänge unsere

Aufmerksamkeit erhascht haben, und so stapeln sich die Blätter im Auswurf, »für später«. Man kommt eben zu nichts mehr, zu Geld schon gar nicht. Deshalb ist dies nun eine frohe Botschaft: Niedersachsen will Geld für seine Bürger erzeugen,

aus Windkraft. 4000 Top-Propeller sollen die Gegend zwischen Watt und Heide zum Rotieren bringen, und damit die Niedersachsen darob nicht komplett durchdrehen, sollen sie die Eigentümer der Propeller werden, dann freuen sie sich bei jeder

Umdrehung über die gewonnene Kohle statt zu schmettern: Mann der Arbeit, aufgewacht! Und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will! – Hätte man bei der Atomkraft eigentlich auch so machen können.

Nachts am Strand von Griechenland

E

r ist ein Bilderbuchgrieche: kraftvoller Typ, immer offen für ein Lächeln, immer mit der Ruhe – Geduld, Geduld. George Neokosmidis kann harte Nerven brauchen, denn in seinem Polizeibüro auf Naxos geht es zu wie im Kafeneion, dem typischen griechischen Kaffeehaus, in dem sich Männer zu Mokka und Zigarette treffen, um die neuesten Nachrichten auszutauschen. Da plaudern Polizisten in graublauen Uniformen mit Zivilen, die aussehen, als kämen sie gerade vom Strand, eine Mischung aus Weibertratsch und männlicher Wichtigtuerei. Auch Neokosmidis wirft immer wieder Worte in den Raum, zwischen Telefonaten und Tatprotokollen, die ein dickes Buch in langen Listen füllen. Naxos ist die zweitgrößte Kykladeninsel, eine halbe Tagesreise mit dem Fährschiff von Athen. So sind Neokosmidis und seine Kollegen nicht nur für ihre Insel zuständig, sondern auch Amtshelfer der Hauptstadtbehörden. Es ist immer viel zu tun, aber darüber wollten wir eigentlich gar nicht berichten. Uns interessierte vielmehr der Tourismus, eine der Haupteinnahmequellen Griechenlands zur Zeit der Finanzkrise und des EU-Rettungsschirms. Naxos ist die Insel des Dionysos, des Gottes des Weines und der Freude. Mit ihren scharfkantigen Bergen, ländlichen Tälern, Olivenhainen und langen Stränden gilt sie als Familieninsel. In diesem Sommer aber fehlen die Griechen. Athener Sparauflagen zeigen Wirkung. An den Stränden sitzen sonnenhungrige Nordeuropäer, welche die Inselpolizei immer häufiger um Hilfe bitten müssen. Ein Niederländer erzählt Neokosmidis aufgeregt, wie sein Koffer beim Zwischenstopp auf der Nachbarinsel mit einem Unbekannten in der Menge verschwand. Die Fähre hatte bereits abge-

legt. Er habe nur noch hinterherschauen können. Neokosmidis zeigt ein beruhigendes Lächeln. Er werde ein Protokoll schreiben, mit dem Stempel der griechischen Polizei. Für die Versicherung. Routine. Später sollen auch wir uns damit zufriedengeben. Es ist so eine Nacht, die man nicht verschlafen will. Mondhell und lau, irgendwann deutet sich der kommende Morgen an. Die Wellen krachen auf den Strand. Man hört nichts anderes. Und plötzlich ist da ein Schatten, eine Flasche, deren Flüssigkeit uns ins Gesicht geschleudert wird und höllisch brennt. In den Augen, auf der Haut, man weiß nicht, wohin mit sich und dem Schmerz. Währenddessen flüchtet der Schatten über den Strand. Wie er das Portemonnaie aus der Hosentasche gezogen hat, bleibt ein Rätsel. Als wir uns irgendwie zum zehn Meter entfernt parkenden Auto quälen, um das Gesicht mit Trinkwasser zu waschen, wird das ganze Ausmaß des Überfalls sichtbar: ein Autofenster eingeschlagen, Geld, Kamera und Papiere – alles weg. In einer Backstube bekommen wir Erste Hilfe. Die herbeigerufenen Inselpolizisten bringen uns zum Krankenhaus, danach auf die Wache zum Protokoll. George Neokosmidis übernimmt den Fall, weil er Englisch versteht und irgendwie auch spricht. Tatkräftig wirkt er, zwischen all den Kollegen, die gestikulieren, diskutieren, Zettel hin und her schieben, was aber auch Neokosmidis beherrscht, wie sich bald herausstellt. Galios Konstadinos gehört offensichtlich zu den niedrigeren Dienstgraden, aber er ist bereit, noch einmal an den Tatort am Plaka Beach zu fahren. Immerhin. Gegen Mittag listet Neokosmidis schließlich zum x-ten Mal die vermissten Gegenstände auf. Zivilpolizisten kommen hinzu, lassen sich den Fall

schildern, was Konstadinos schließlich aufs Papier bringen soll, diktiert von Neokosmidis, der sich immer wieder Zigaretten anzündet, zwischendurch telefoniert, anderes zu erledigen scheint, wiederkommt. Am Nachmittag dürfen wir gehen. Das Protokoll werde morgen fertig sein. Neokosmidis hat schon einen sicheren Verdacht: Die Albaner waren es. Wir fahren noch einmal zurück zum Tatort, allein, um im Gestrüpp nach Taschen oder anderen Spuren zu suchen, vielleicht auch Gedächtnisstützen nach dem ersten Schock. Und da kommen tatsächlich Bilder des vergangenen Tages: Zwei Männer, die uns am Nachmittag auffielen, weil sie stundenlang neben ihrer Harpune am Strand herumstanden und Leute beobachteten. Die Leibesfülle des einen war beachtlich.

Haben sie also wieder zugeschlagen, der Dicke und der Dünne Das andere Bild gegen 23 Uhr: Wir sitzen immer noch am selben Strandabschnitt, während ein weißer Wagen langsam heranfährt und hinter der nächsten Hecke parkt. Vielleicht ein Liebespaar. Aber schon eine Viertelstunde später verlässt das Auto den Ort. Das kaputte Rücklicht ist ebenso auffällig wie das Kennzeichen. Man kann es sich sozusagen im Vorbeifahren merken. Es sind Bilder, die wenig aussagten, wäre da nicht Notty, der Österreicher aus Linz, der seinen Sommer seit Jahren als Kellner in einer Taverne am Plaka-Strand verbringt. Ein Lebenskünstler, der an heißen Tagen mit nacktem Oberkörper serviert und die Touristen dreisprachig unterhalten kann. Als wir ihm die Geschichte vom Überfall erzählen, sagt er: »Haben sie also wieder zugeschlagen, der Dicke und der Dünne.«

VON NICOLA VON HOLLANDER

Das gehe hier schon lange so, meint Notty und blickt über den Strand. Die Polizei mache nichts, vielleicht aus gutem Grund. Und dann spricht er von der Korruption. Beweisen könne man es nicht, aber es sei ein offenes Geheimnis. Später kommt Martin dazu, der seit 14 Jahren in Hellas lebt. Ein alt gewordener Hippie aus der Strandcamper-Generation. Zelte und Bambushütten von Strandschläfern und Sternenguckern seien hier immer wieder abgefackelt worden, erzählt er. Wer sich nicht irgendwo einmiete, sein Geld also bei Griechen ausgebe, solle es mit der Angst zu tun bekommen. Viele wüssten Bescheid, alle schwiegen. Auf den Inseln halte man zusammen, auch gegenüber denen im fernen Athen. Erschrocken über den Säureanschlag, vermittelt uns die Autovermieterin eine Übernachtung in den Bergen. Der Schock sitzt. So etwas habe es auf Naxos noch nie gegeben. Am Abend meldet sie sich überraschend mit der Botschaft, dass der Führerschein bei ihr abgegeben worden sei. Wir freuen uns und fragen erst später, woher der Finder wusste, bei wem er die Fundsache abgeben konnte. Später schiebt sie mir eine staubige Tüte über den Tresen, darin nicht nur der Führerschein, sondern auch andere Karten, die man heute mit sich herumträgt. Die Fundstelle kann sie nicht genau beschreiben. Verwandte hätten die Sachen am Morgen aus dem Dreck gezogen. Für die sandige Plastiktüte scheint sich George Neokosmidis nur zu interessieren, um die Fundsachen von der Liste zu streichen und dann endlich das Protokoll samt Stempel und Siegel fertig zu machen. Für die Versicherung. »Lady, we have a lot to do.« Wir hatten gehofft, er werde die Karten für Fingerabdrücke nutzen, werde nach dem Fundort fragen. Aber sein Blick verrät Desinteresse, und wir

fragen uns, ob man sich mit ein paar Euro auch ein bisschen mehr Einsatz erkaufen kann. In den Tavernen scherzen die Griechen: »Der Staat ist arm, aber das Volk ist reich.« Neokosmidis macht nicht den Eindruck, als wolle er den Hinweis auf das Autokennzeichen verfolgen. Wir sind mittlerweile lästig geworden mit unserer Suche. Aber nach einem Telefonat mit unseren Freunden in Athen erklärt er sich bereit, die Sache zu prüfen. Griechische Netzwerke funktionieren, und das in jeder Hinsicht. Die Freunde in Athen haben uns ein kostenloses Zimmer für die Zeit der »Ermittlungen« organisiert. Und sie haken noch einmal bei Neokosmidis nach, drohen mit ihren Beziehungen und dem Polizeipräsidenten Griechenlands, der gerade die Nachbarinsel Paros besucht. Man werde ihm die Geschichte stecken. Seither wirkt das Lächeln des Polizisten etwas gequält. Das weiße Auto, sagt er, gehöre einem Fischer aus dem Nachbardorf von Plaka Beach. Unmöglich, dass der mit dem Fall zu tun habe. Das sagt auch Notty, der diesen Fischer kennt. Aber Notty weiß auch, dass dieser Fischer einen ebenso korpulenten Bruder hat, von dem man nicht so genau wisse, womit er sein Geld verdiene. Aber davon will Neokosmidis nichts wissen. Kein Schatten auf die Insel, kein Grieche unter Verdacht. In der kommenden Nacht will er seine Zivilen an den Plaka-Strand schicken. Und am nächsten Morgen hat der Polizist Neokosmidis wieder sein Bilderbuchlächeln. Sie wüssten nun, wer die Täter seien: Albaner. Wir ahnten es bereits. Wie sie das über Nacht herausgefunden hätten, wollen wir wissen. Aber die Antwort bleibt uns Neokosmidis schuldig, bis heute. Da hilft auch keine Ansage aus Athen.

Es ist so eine Nacht, die man nicht verschlafen will, mondhell und lau

Mit Ansehen I der Person Der italienische Mordprozess gegen die schöne Amerikanerin Amanda Knox endet in einem Medienspektakel VON BIRGIT SCHÖNAU

Am Montag freigesprochen: Amanda Knox

hr Gesicht ist ein schillerndes Heiligenbild, schwankend zwischen Perugino-Madonna und American Beach Girl, ein schmales Oval mit hellen Augen, eingerahmt von weichen, blonden Haaren. Dieses Gesicht hat die Angeklagte Amanda Knox in der ganzen Welt bekannt gemacht; an ihm scheiden sich die Geister. Kann so eine Mörderin aussehen? Oder spricht aus diesen Zügen die zu Unrecht verfolgte Unschuld? Wenn Hollywood einen Mordprozess gegen Studenten in der romantischen Kulisse einer uralten italienischen Stadt hätte verfilmen wollen – Amanda Knox wäre die perfekte Besetzung für die Hauptrolle gewesen. Sie war die perfekte Besetzung bis zum Schluss, als am späten Montagabend die Berufungsrichter in Perugia die 24-Jährige und den mitangeklagten, drei Jahre älteren Raffaele Sollecito vom Vorwurf des Mordes an der Engländerin Meredith Kercher freisprachen. Amanda Knox faszinierte die Medien und stahl allen anderen Beteiligten die Show – ihrem Ex-Freund Sollecito und den Angehörigen des Opfers sowieso. Aus dem Prozess um den Tod der damals 21-jährigen Studentin Kercher in der Nacht zum 2. November 2007 war die Schlacht um das Schicksal von Amanda Knox geworden. »Das ist hier kein Platz für verfeindete Fangruppen«, hatte der Vorsitzende Richter am Montagmorgen gesagt, als er das ausufernde Spektakel

noch einmal irgendwie unter Kontrolle zu bringen versuchte. Die Fans saßen nicht nur in Perugia im Saal, sondern auch in England und in Amerika vor den Fernsehapparaten – Direktübertragung. Mehr als 400 Journalisten im Gerichtssaal ließen sich keinen Seufzer, kein Schluchzen, keine Bewegung der Angeklagten entgehen. Namhafte politische Journalisten waren zugegen, obwohl es in Perugia zunächst nicht um Politik gegangen war. Die idyllische Hauptstadt der ländlich-abgelegenen, traditionell linken Region Umbrien beherbergt eine Universität, an der 30 000 junge Leute aus aller Welt Italienisch studieren, auch Amanda Knox und Meredith Kercher taten das – Sollecito studierte Informatik. Perugia ist beschaulich, provinziell und international zugleich; schön ist seine labyrinthische Altstadt voller Ausblicke in eine heitere, sonnendurchglühte Landschaft. Die internationalen Medien nahmen davon früher nur Notiz, als ein Sohn von Muammar al-Gadhafi beim örtlichen Fußballverein anheuerte. Der Mord riss den Ort aus seinem Dornröschenschlaf. In ihrem Apartment, das Meredith Kercher mit Amanda Knox teilte, war sie vergewaltigt und mit einem Messerstich in die Kehle getötet worden. Überall war Blut, verwertbare Spuren gab es nicht. »Alles, was wir mit Sicherheit sagen können, ist: Meredith Kercher ist tot«, sagte

der Richter zur Prozesseröffnung. Die spärlichen Indizien verdichteten sich nicht zu Beweisen. Dennoch erhielten Knox und Sollecito 2009 in erster Instanz wegen Mordes Freiheitsstrafen von 26 und 25 Jahren – Knox selbst sollte im Rausch den tödlichen Stich ausgeführt haben. Ein dritter Angeklagter, Rudy Guede aus der Elfenbeinküste, kein Student, war schon im Schnellverfahren zu 16 Jahren verurteilt worden. In seinem Urteil ist ausdrücklich von Komplizen die Rede. Aber nach dem Freispruch für Sollecito und Knox gibt es keine Verdächtigen mehr. Zwei Elemente des trüben Indizienprozesses hatten die internationalen Medien in die umbrische Provinz gelockt: die Attraktivität der Angeklagten und die Tatsache, dass sie Amerikanerin ist. »Die Vereinigten Staaten beurteilen andere, aber sie selbst wollen nicht beurteilt werden«, kommentierte die römische Tageszeitung La Repubblica am Dienstag dieser Woche. Deshalb hätten die amerikanischen Medien »die wahre Angeklagte« in der italienischen Justiz gesehen. Fest steht: Die Ermittlungen sind teilweise schlampig geführt worden, von offenkundig überforderten Behörden, die mit den hierzulande üblichen Widrigkeiten zu kämpfen hatten, kein Geld, kein Personal. Die Poliziotti sind einer amerikanischen Öffentlichkeit als Versager in Operettenuniform vorgeführt worden.

Fest steht auch: Amanda Knox und Raffaele Sollecito hatten einen fairen Prozess, in dem sie sich mehrmals in Widersprüche verstrickten. Das Blatt wendete sich zu ihren Gunsten, als Sollecito die Anwältin Giulia Bongiorno für die Verteidigung gewann. Sie hatte den früheren Ministerpräsidenten Giulio Andreotti erfolgreich gegen eine Mafia-Anklage verteidigt, bevor sie als Abgeordnete unter Silvio Berlusconi ins Parlament einzog. Am Ende ließen die Richter den Grundsatz in dubio pro reo gelten. Im Zweifel für den Angeklagten, das römische Recht folgte diesem Prinzip. Im Italien der Renaissance wurde es zum Gegenstand vieler juristischer Abhandlungen. Diese zweitausendjährige Rechtstradition hat eine Sprecherin des amerikanischen Außenministeriums Stunden nach dem Freispruch so bewertet: »Die USA erkennen die sorgsame Prüfung des Falles durch die italienische Justiz an.« Bei früherer Gelegenheit hatte Hillary Clinton gesagt, die Vereinigten Staaten würden Knox wie jeden ihrer Bürger vor einem ausländischen Gericht unterstützen. Das wird jetzt nicht mehr nötig sein. Am Dienstag kehrte Amanda Knox in ihre Heimatstadt Seattle zurück. Ihr Freispruch hinterlässt Fragen: Wer hat Meredith Kercher ermordet? Und wann wird sich die Welt für die Probleme Italiens so sehr interessieren wie für Sex and Crime?

Fotos [M]: Arco Images/Flashmedia Bild (o.); Alessandro Bianchi/Reuters

Säure ins Gesicht, Raubüberfall und das Lächeln der Polizei – was deutsche Urlauber auf Naxos erlebten

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Harzburger Front: Nazis und Konservative blasen 1931 zum Angriff auf die Republik S. 22

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GESCHICHTE

So ist der Krieg

Zeitmaschine Ein Ausflug in die Vergangenheit – diese Woche mit FRANZ SCHUH

In Dresden eröffnet das Militärmuseum der Bundeswehr – nicht nur architektonisch ein großer Wurf VON STEFAN SCHIRMER Schroff ragt Libeskinds Keil aus der alten Fassade. Zu den 10 000 Ausstellungsstücken gehören die Kanone »Faule Magd« (1430) und militär inspirierte Mode von Vivienne Westwood

Fotos [M.]: Norbert Millauer/ddp images/dapd (gr.); IMZ/Bildarchiv/Andrea Bienert (2)

I

m Februar 1967 erklärte Helmut Winter aus dem bayerischen Pasing der Bundeswehr den Krieg. Geplagt vom Lärm der Tiefflieger, besorgte er sich ein Katapult und beschoss die deutsche Luftwaffe. Mit Kartoffelklößen. Über den »Pasinger Knödelkrieg« berichtete selbst die New York Times. Wie zum Beweis, dass Humor als Waffe taugt, hängt dieser Artikel nun im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden. Nach sechsjährigem Umbau wird es am 14. Oktober neu eröffnet: ein aufregendes Areal, das mit 10 000 Quadratmeter Ausstellungsfläche sogar das Deutsche Historische Museum in Berlin noch übertrifft. Und das die Times Anfang des Jahres zu jenen Orten der Welt zählte, die man 2011 unbedingt sehen sollte. Denn dieses Haus und seine Schau sprengen, weithin sichtbar, traditionelle Rahmen: In den neoklassizistischen Bau aus dem Jahr 1877, einst Arsenal der Königlich Sächsischen Armee, ließ der amerikanische Architekt Daniel Libeskind einen gewaltigen Keil aus Glas, Stahl und Beton treiben. Dieser verschont zwar die alte Fassade, doch verdeutlicht er den Bruch mit der Geschichte des Hauses, das seit 1897 Militärmuseum ist. Nacheinander feierte man hier Sachsens Heer, Hitlers Wehrmacht und die sozialistische Waffenbrüderschaft. Zu DDR-Zeiten erkannte ein FAZ-Kritiker darin »das schönste Armee-Museum, das wir zur Zeit in Deutschland haben«. Es kam noch schöner: Nach der Wiedervereinigung zog die Bundeswehr ein. Statt Rastatt bestimmte sie 1994 Dresden zum Standort ihres »Leitmuseums«. Wer sich fragt, ob Ort und Architekt strategisch klug gewählt sind, sieht sich spätestens in fast 30 Meter Höhe aller Zweifel enthoben. Ganz oben im Libeskind-Keil wird die architektonische Symbolkunst auf die Spitze getrieben: Man schaut auf Dresdens neue Altstadt mit Schloss und Frauenkirche – doch die Keilspitze pitze lenkt den Blick auf das Stadion am Ostragehege. ge. Dort warfen Flieger der Alliierten am 13. Februar uar 1945 Leuchtmunition ab, um den Bomberflotten otten ihr Ziel zu weisen. Die Schneise der er Zerstörung – mit mindestens 25 000 Todesopfern – hatte die Form m eines Keils im Winkel von 40 Grad. d. Libeskind zeichnete exakt kt diese Form nach.

Mit dem Blick aufs zertrümmerte und wieder aufgebaute Dresden, das die Museumsmacher »unser wertvollstes Original« nennen, beginnt der Gang durchs Haus. Dabei stolpert man gleich über demolierte Gehwegplatten aus dem polnischen Städtchen Wieluń, das in der Nacht auf den 1. September 1939 zum ersten Ziel der NS-Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg wurde. Damit, heißt das, begann das Elend. Von Anfang an wird klar, was die Grundidee des Museums sein soll, das der Militaria-Fraktion nur begrenzt Freude bereiten dürfte: Perspektivwechsel. So kommen Handys in der Sammlung vor – als Fernauslöser für Sprengfallen in Afghanistan, aber auch als Dienstgeräte der friedlichen Revolutionen in Tunesien oder Ägypten 2011. Ganz darben müssen die Waffenfreunde indes nicht. Zuhauf sind Panzer, Raketen, Haubitzen, Gewehre ausgestellt; auch Mäntel und Degen, Orden, Fahnen und Schlachtengemälde – und das erste funktionsfähige Tauchboot, der »Eiserne Seehund« von 1851. Das konventionelle Arsenal der Militärhistorie also. Doch schon die Sichtweise ist neu: Eine »Kulturgeschichte der Gewalt« wolle man zeigen, sagt Chefkurator Gorch Pieken, »es geht um das Aggressionspotenzial in uns allen«. Äußerlich hat Pieken etwas von einem Zivildienstleistenden. Der 49-Jährige trägt einen Zopf und neigt nicht zu zackigem Auftreten. Er ist Kunsthistoriker wie sein Direktor, Oberst Matthias Rogg, 48. Zwei Intellektuelle, zart von Statur, leiten ein Projekt, das für einige in der Bundeswehr starker Tobak sein muss. Denn die amtliche Ausstellung der Truppe stellt streckenweise den Wert des Militärs an sich infrage. Experten mutmaßten denn auch schon, der Bund leiste sich hier für rund 60 Millionen Euro Umbaukosten ein »Antikriegsmuseum«. Genau genommen sind es zwei Sammlungen unter einem Dach, sortiert durch die Architektur: Keil verläuft ein spektakulärer Im vierstöckigen Ke Themenparcours, und der Altbau Them lädt über zwei Etagen zu einem chronologischen Rundgang vom chr Spätmittelalter bis heute. Der Sp Vitrinenpfad führt zu wichtigen V Ereignissen, aber auch zu SpeE zialaspekten wie Ökonomie, zi Technik oder Taktik bestimmter T Kriegsepochen. K

Die Darstellung, hinter der die Kompetenz des Potsdamer Militärgeschichtlichen Forschungsamts steht, versagt sich jede Verklärung. Selbst beim traditionell goldumflorten Thema Siebzig/Einundsiebzig widmet man sich mehr den vielen Opfern und dem Leid auf den Schlachtfeldern als Preußens Gloria. »Welche Siege, welche Verluste!«, liest der Besucher in der Feldpost Theodor Fontanes. »Noch zwei solcher Siege und – wir sind ruiniert!« »Wir bieten keine reinen Heldengeschichten, nicht mal zum 20. Juli«, sagt Kurator Pieken. An dem Bundeswehrmuseum der neunziger Jahre hatte vor allem die verschwiemelte bis verlogene Darstellung der NS-Zeit irritiert. Die neue Schau hält sich an die düsteren Fakten. An einer von rund 100 »Medienstationen« werden die Verbrechensorte des Zweiten Weltkriegs dokumentiert. So zeigt man, dass der Korridor, den die Wehrmacht erkämpfte, zugleich der Freiraum für den Völkermord kermord war. Ergänzt wird der Dokumentationsteil entationsteil durch den Themenparcours im LibeskindKeil. Hier wird der Versuch gewagt, wagt, Militärgeschichte anders zu erzählen n – und entwaffnend ehrlich. Man habee das Museum »in eine neue Umlaufbahn bahn geschossen«, sagt Direktor Rogg.. Das ist tatsächlich gelungen. Etwa mit einer Tierparade, vorneweg ein Zirkuselefant, wie er um 1914 an die deutsche Front abkommandiert wururde. Dahinter ein Schaf, im Falklanddkrieg über Minenfelder getrieben en – es hat nur noch drei Beine. Ein n grausiger Wehrmachtsfilm zeigt den n Todeskampf einer Katze, an der chemische Kampfmittel getestet wurden. den. Es geht zudem um »Politik und Gewalt«, Mode oder um »Krieg und Gedächtnis«, so am Beispiel von Reiseführern wie Schlachtfelder zwischen Alpen und Main, die halfen, diese touristisch zu erschließen. Und immer wieder setzt es Perspektivwechsel, dass einem fast schwindlig wird. Da ragt, 14 Meter hoch, die V2-Rakete. Später ein bewundertes Vorbild der zivilen Raumfahrt, in den letzten Jahren des Krieges aber nichts als ein Werkzeug des Terrors. Seine Spitze weist auf die Puppenstube eines Londoner Mädchens. Es hat darin die Fenster verdunkelt – als könnte es sich damit gegen die »Vergeltungsraketen« schützen.

Ein paar Meter weiter geht es weniger subtil zur Sache, hängen 23 Raketen und Bomben steil von der Decke, die Geschosse scheinen auf den Besucher zu hageln. Und wer eine bestimmte Klappe öffnet, atmet den Geruch von Tod. Es stinkt nach Verbranntem, Fäkalien, Verwesung. Eine Essenz der norwegischen Geruchskünstlerin Sissel Tolaas. Man fragt sich, was ein deutscher Fallschirmjäger, der jüngst vom Hindukusch zurückgekehrt ist, von der Schau halten wird. Wie der Tod riecht, weiß man heute auch in der Bundeswehr. Den Einsatz, der nun »umgangssprachlich Krieg« heißen darf, haben die Dresdner Kuratoren geradezu in Echtzeit musealisieren müssen. So erfährt der Besucher auch vom Kampf, den Angehörige verletzter Soldaten ausfechten um die Kostenübernahme für den behindertengerechten Ausbau einer Wohnung. Papierkrieg mit dem Ministerium. Nebenan steht st hinter Glas ein Wagen vom Typ »Wolf«. In dem 2004 nahe Kundus angesprengten Jeep wurden drei Soldaten verwundet. Ihn zu zeigen war in der Militärführung zunächst umstritten: Werfe das arg verbeulte Stück nicht unangenehme verbe Fragen auf? Doch ist die Realität in Frag Afghanistan längst brutaler. Ein FahrAfg zeug, in dem Soldaten starben, steht zeu im Depot und bleibt vorerst dort. »Nicht weil wir Angst hätten, so ein »N Jeep könnte als Chiffre für das ScheiJee tern eines Einsatzes gelten«, sagt Matter thias Rogg, »sondern weil es nur den thi Voyeurismus bedienen würde, ihn Vo auszustellen.« au Das erscheint glaubhaft in einem Museum mit m so wenig Camouflage in eigener Sache. E Einer Schau der Bundeswehr, die nicht nur das Prinzip Innere Führung feiert, sondern auch »Die zwölf größten Bundeswehrkrisen und -skandale« aufbereitet. Oder Günter Wallraffs Tagebuch aus der Bundeswehr zeigt – samt der Krankenakte, in der 1964 ein Nervenarzt der Truppe dem Kriegsdienstverweigerer Wallraff eine »abnorme Persönlichkeit« unterstellte. Es ist gut für eine Bundeswehr, die sich neu erfinden muss, dass sie offen mit der eigenen Vergangenheit umgeht. So erweist sich das Haus als Glücksfall. Und es bleibt provokant. Für 2013 ist eine Sonderschau angekündigt: Militär und Sexualität.

Ich wollte keinen von den Preußen sehen. Ich wollte – als Österreicher – vor allem mit keinem von ihnen gesehen werden. Es hätte meinen Ruf ruiniert. Von Beruf war ich Ernährungsberater, fast schon Lebensberater, also von meinem Rufe abhängig. Es war mir wichtig, Friedrichsruh erst in der Nacht zu erreichen. Auch wenn ich wusste, dass die Spione semper et ubique auf der Lauer lagen, hoffte ich, ungesehen davonzukommen. Ich war auch nicht neugierig – auf Bismarck schon gar nicht. Aber ich empfand ein wenig Sympathie für ihn: Er war es gewesen, der nach Königgrätz seinen König und den Generalstab davon abhalten hatte, in Wien einzumarschieren. Dass die Deutschen es eines Tages nachholen würden, war einem Ernährungsberater bereits klar, aber Bismarck wenigstens ließ uns noch genug an Weltzeit übrig, dass wir souverän weiterwursteln konnten. Man brachte mich spätnachts in eine Kammer, ich schlief unruhig. Und am Morgen war es so weit, ich saß mit Bismarck am Frühstückstisch. Aber was für ein Frühstück! Des Kanzlers Augen waren blutunterlaufen. Er sagte, halb zu mir, halb ins Universum: »Mein Öl ist verbraucht, ich kann nicht mehr.« Zum Frühstück ließ der Kanzler auffahren: Roastbeef und Beefsteak mit Kartoffeln, kalten Wildbraten, Krammetsvögel und danach Pudding. Runtergespült wurde das frühe Mahl mit Rotwein, Champagner und Bier. Ich konnte bald nicht mehr. Ich hätte gern mit Bismarck über Schleiermacher gesprochen, auch um jede Politik zu vermeiden und um das Geistliche zu betonen. So ist es in Wien üblich, wo das Geistliche mehr zählt als das Politische. Ich konnte bald gar nicht mehr sprechen, ich lallte: »Otto, Sie saufen ja mehr als damals der Beethoven in Wien.« Bismarck wog nach meiner fachlichen Einschätzung etwa 124 Kilo. So schwer fühlte sich allein mein Bauch an. »Patriae inserviendo consumor«, sagte ich lallend dem Kanzler auf den Kopf zu: Im Dienste des Vaterlandes verzehre ich mich, was man von Bismarck nicht sagen konnte, denn der verzehrte gerade eine riesige Stelze, die ich aus meinem Vaterlande, aus dem »Schweizerhaus« im Prater, mitgebracht hatte. Er sah mich hilfesuchend an: »Meine körperliche Fähigkeit, alle die Galle zu verdauen, die mir das Leben hinter den Kulissen ins Blut treibt, ist nahezu erschöpft.« »Weniger essen«, riet ich ihm mit letzter Kraft. Dann fiel ich mit der Gewissheit vom Stuhl, dass er seinen Arzt noch finden würde.

ZEITLÄUFTE

ood old Schaffenskrise. Sie war einst, im 19. Jahrhundert, das Privileg des Malers, Dichters, Komponisten, des genialen Gelehrten. Da schleuderte er alles von sich und ging nach Italien. Da zerriss er seine letzte Partitur und warf sich in die Arme der Sünde (Weiber), da verließ er Haus und Herd und irrte einsam durch die Wälder. Kein Künstlerleben ohne Krise, ohne den ganz großen Zusammenbruch. Das Ende! Aus dem das Genie inspiriert und geläutert, von der Muse, vom Ingenium geführt, neu geboren wiedererstand (renascentia). Mit seiner unglaublichen Bruchsteiner Symphonie, den unfassbaren Mösdorfer Sonetten, den sagenhaften letzten Selbstporträts, die alles in den Schatten stellen, was die Kunstgeschichte sah, mit der furiosen Formel des Tributiativgesetzes, die unser Weltbild stürzte. Good old Schaffenskrise, goldenes 19. Jahrhundert! Und heute? Seit Joseph Beuys ist jeder Mensch ein Künstler, ob auf Hartz IV, ob auf Hedgefonds-Speed. Schaffenskrise heißt jetzt Burn-out und gibt es auch in einer Version für Frauen. Die Gewerkschaft ist besorgt. B.E.

G

GESCHICHTE

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

22

... und Alfred Hugenberg (3. v. r.) mit Kaisersohn Eitel Friedrich (2. v. r.) am 11. Oktober 1931 in Bad Harzburg

Getrennt grüßen, vereint marschieren: Hitler, vor ihm SA-Chef Ernst Röhm, rechts davon Hermann Göring ...

Das Signal zum Angriff igentlich wäre es ein ruhiges Wochenende gewesen im beschaulichen niedersächsischen Kurort Bad Harzburg. Doch am 10. und 11. Oktober 1931 wird die herbstliche Stille jäh unterbrochen, denn in dem Städtchen am Harz trifft sich die »nationale Opposition« zu einer Heerschau. Sonderzüge, Busse und Autos bringen Tausende von Menschen herbei. Für zwei Tage beherrschen die uniformierten Kolonnen des Stahlhelms – das ist der Bund der Frontsoldaten – und der SA das Straßenbild. Es wird ein internationales Ereignis: Über fünfzig in- und ausländische Reporter sind angereist. Eifrige Helfer haben dafür gesorgt, dass die Gäste überall von schwarz-weißroten Fahnen, den alten Farben des Kaiserreichs, und Hakenkreuzflaggen begrüßt werden. Bad Harzburg hat man bewusst als Ort gewählt. Denn im Freistaat Braunschweig, zu dem es gehört, regiert seit Oktober 1930 eine Koalition aus der Bürgerlichen Einheitsliste (angeführt von der DNVP, der Deutschnationalen Volkspartei) und der NSDAP. Initiator des Treffens aber ist der 66-jährige Pressezar Alfred Hugenberg, seit 1928 Vorsitzender der DNVP. Zu seinem Imperium gehört nicht nur der Berliner Scherl-Verlag, sondern eine Vielzahl weiterer Unternehmen, von der Nachrichtenagentur TelegraphenUnion bis zur Universum Film AG, der Ufa. Über seine Materndienste beliefert er die Provinzpresse mit fertigen Zeitungsseiten und übt so Einfluss auch auf solche Blätter aus, die nicht Teil seines Konzerns sind. Mit ihrer Kundgebung in Harzburg will die »nationale Opposition« ihre Stärke und Geschlossenheit demonstrieren. Und sie will, wie das Zentralorgan der DNVP Unsere Partei unverhüllt verkündet, »das Signal zum Angriff« geben »gegen ein morsch gewordenes System«, gegen die verhasste Demokratie von Weimar. Die gesamte Prominenz der antirepublikanischen Rechten hat sich eingefunden: Hugenberg und Hitler mit den Reichstagsfraktionen von DNVP und NSDAP; Franz Seldte und Theodor Duesterberg, die beiden Bundesführer des Stahlhelms, mitsamt ihrem Stab; der SA-Stabschef Ernst Röhm und der Reichsführer-SS Heinrich Himmler; die Vereinigten Vaterländischen Verbände mit Rüdiger Graf von der Goltz und der Alldeutsche Verband mit Justizrat Heinrich Claß an der Spitze; Repräsentanten des Hochadels, unter ihnen der zweite Sohn Kaiser Wilhelms II., Prinz Eitel Friedrich (Prinz August Wilhelm, der vierte Kaisersohn, NSDAP-Mitglied und bald auch SA-Standartenführer, ist diesmal allerdings nicht mit von der Partie); hochrangige Militärs wie der ehemalige Chef der Heeresleitung, Hans von Seeckt, inzwischen Reichstagsabgeordneter der Deutschen Volkspartei. Anwesend sind auch Eberhard Graf von Kalckreuth und der gesamte Vorstand des Reichslandbundes, der mächtigen agrarischen Lobbyorganisation, sowie Exponenten von Industrie und Banken, darunter der Stahlkönig Fritz Thyssen, ein früher Förderer Hitlers, sowie der ehemalige Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, der mit seinem Auftritt in Bad Harzburg seinen politischen Frontwechsel zu den Nationalsozialisten erstmals auch öffentlich zu erkennen gibt. Die Großindustrie ist allerdings nur schwach vertreten; sie verhält sich noch abwartend. Bad Harzburg war nicht der erste Versuch Hugenbergs, die rechte Opposition zu sammeln. Bereits im Juli 1929 hatte er gegen den sogenannten Young-Plan mobilgemacht. Das nach Owen Young, dem Direktor der Federal Reserve Bank in New York, benannte Abkommen regelte die Reparationszahlungen neu, zu

E

denen sich Deutschland im Versailler Vertrag verpflichtet hatte. Der Kampf dagegen einte die Rechte. So gab es einen von Hugenberg initiierten »Reichsausschuss für das deutsche Volksbegehren gegen den Young-Plan«, in dem bereits die meisten der Persönlichkeiten und Gruppierungen vertreten waren, die sich in Bad Harzburg treffen sollten. Darunter war natürlich auch Hitler, der Vorsitzende der damals noch unbedeutenden NSDAP, die es bei den Reichstagswahlen von 1928 gerade einmal auf 2,6 Prozent gebracht hatte. Zwar endete die Kampagne mit einem Fehlschlag – der Volksentscheid vom Dezember 1929 verfehlte die notwendige Mehrheit bei Weitem –, doch für Hitler hatte sich der Einsatz gelohnt. Er war in rechtskonservativen Kreisen salonfähig geworden, und er hatte dank der Hugenberg-Presse seinen Namen in jedem Winkel der Republik bekannt gemacht. In den zwei Jahren zwischen dem Volksbegehren gegen den Young-Plan und dem Aufmarsch in Bad Harzburg hatte sich die ökonomische Lage Deutschlands dramatisch verschlechtert. Von der Ende 1929 hereinbrechenden Weltwirtschaftskrise wurde das Reich besonders stark getroffen. Die Zahl der Arbeitslosen stieg sprunghaft an und überschritt 1931 die 5-Millionen-Marke, 1932, auf dem Höhepunkt der Krise, waren es über 6 Millionen. Die seit 1928 regierende Große Koalition unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller brach Ende März 1930 auseinander – eine willkommene Gelegenheit für Reichspräsident Paul von Hindenburg und seine Berater, einen seit Längerem gehegten Plan zu verwirklichen, nämlich die SPD aus der politischen Verantwortung zu drängen und ein autoritäres, über den Parteien stehendes Präsidialsystem zu etablieren. Ebendies war der Auftrag, den der neue Reichskanzler, der Fraktionsvorsitzende des Zentrums, Heinrich Brüning, erhielt: Er sollte unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen im Reichstag regieren, gestützt auf das Vertrauen Hindenburgs und den Artikel 48 der Reichsverfassung, der dem Präsidenten weitreichende Notstandsbefugnisse einräumte. Brüning schlug einen rigiden Sparkurs ein – die Staatsausgaben wurden gedrosselt, Beamtengehälter und -pensionen gekürzt, die Leistungen für Arbeitslose gesenkt. Damit verschärfte er aber nur die Wirtschaftskrise und gab den ohnehin verbreiteten Ressentiments gegen das Weimarer »System« zusätzlich Nahrung.

»Hitler hat mir sehr gefallen«, teilt Hindenburg einem Vertrauten mit Hauptnutznießer war Hitler. Die Krise trieb ihm scharenweise neue Anhänger zu. Bei den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 konnten die Nationalsozialisten sensationelle 18,3 Prozent der Stimmen erzielen und die Zahl ihrer Mandate von 12 auf 107 steigern. Die DNVP kam dagegen nur noch auf 7 Prozent, gegenüber 1928 hatte sich ihr Anteil halbiert. Viele ihrer Wähler waren offenkundig zu den Nazis übergelaufen. Hugenberg versuchte den Schwund aufzuhalten, indem er sich nun von seinen Zeitungen zum »Führer« stilisieren und seine Partei als »Hugenberg-Bewegung« deklarieren ließ. Doch der Versuch, den Konkurrenten zu kopieren, wirkte wenig überzeugend. Schon rein äußerlich entsprach der 1865 geborene, untersetzte und kurzsichtige DNVP-Vorsitzende in Weste und Sonntagsstaat eher dem Typ des wilhelminischen Geheimrats als dem eines charismatischen Volkstribunen, als der sich der 24 Jahre jüngere Hitler präsentierte. So hatten sich die Gewichte innerhalb des rechten politischen Spektrums deutlich zugunsten der

NSDAP verschoben, und die Landtagswahlen des Jahres 1931 signalisierten, dass sie sich weiter kräftig im Aufwind befand. Gegenüber den konservativen Bündnispartnern von 1929 betonte Hitler nun seine Unabhängigkeit. Er machte ihnen klar, dass er keineswegs nur den »Trommler« geben wollte. Bei einem Treffen im bayerischen Bad Kreuth Ende August 1931 musste Hugenberg all seine Überzeugungskraft aufbieten, um Hitler überhaupt zur Teilnahme an dem Harzburger Aufmarsch zu bewegen. Als Termin wurde der 11. Oktober ins Auge gefasst, zwei Tage vor Wiedereinberufung des Reichstags, der sich im Februar 1931 für ein halbes Jahr vertagt hatte. An den Vorbereitungen beteiligte sich Hitler nicht. Er überließ sie dem Vorsitzenden der NSDAP-Reichstagsfraktion, Wilhelm Frick, der zusammen mit dem DNVP-Fraktionsvorsitzenden Otto Schmidt-Hannover und einem führenden Stahlhelm-Funktionär das Veranstaltungsprogramm ausarbeitete. Am 2. Oktober wurden die offiziellen Einladungen verschickt. Das Tagebuch von Joseph Goebbels, dem Berliner Gauleiter und Propagandachef der Partei, verrät, mit wie viel Skepsis und Misstrauen man in Hitlers Umgebung der Kundgebung entgegensah. »Hugenberg sucht uns die Führung zu nehmen«, notierte Goebbels am 9. Oktober. »In Harzburg sollen wir öffentlich festgenagelt werden und Hugenberg zum ›Führer‹ der ›nationalen Opposition‹ ernannt. Ich habe Hitler gewarnt. Er wird aufpassen.« Zuvor aber geschah noch etwas Außerordentliches: Am Nachmittag des 10. Oktober wurde Hitler in Berlin zum ersten Mal von Reichspräsident Hindenburg empfangen. Die Audienz stand im Zusammenhang mit einer Umbildung des BrüningKabinetts. Hindenburg wünschte sich eine noch stärkere Wende nach rechts und wollte sondieren, inwieweit die NSDAP in die Regierungsverantwortung eingebunden werden konnte. Das Gespräch endete ohne konkretes Ergebnis. Doch der Eindruck, den Hitler hinterließ, war keineswegs so ungünstig, wie in der Literatur immer wieder zu lesen ist. »Hitler hat mir sehr gefallen«, teilte Hindenburg einem Vertrauten mit. Noch am Abend fuhr Hitler im Auto nach Bad Harzburg. Er traf hier erst zwei Stunden nach Mitternacht ein – zu spät, um noch an der Vorbesprechung teilzunehmen, auf der die Marschroute für den nächsten Tag festgelegt wurde. »Hitler ist wütend, da man uns an die Wand quetschen will«, beschreibt Goebbels die gereizte Stimmung seines Chefs bei der Ankunft. Der Empfang bei Hindenburg hat Hitlers Selbstbewusstsein enorm gestärkt. Er kommt nach Bad Harzburg, nicht um Gemeinsamkeit zu demonstrieren, sondern um seinen Führungsanspruch zu reklamieren. Während der gesamten Zusammenkunft legt er ein primadonnenhaftes Verhalten an den Tag. Ein ums andere Mal brüskiert er seine konservativen Bündnispartner. So erscheint er zwar am Sonntagvormittag zu einer Sitzung der NSDAP-Fraktion, nicht aber zu der danach anberaumten gemeinsamen Sitzung der DNVPund NSDAP-Fraktionen. Dem Feldgottesdienst bleibt er ebenfalls fern, und die anschließende Parade der SA nimmt er stehend im Auto ab, um sich dann demonstrativ zu entfernen, als die Formationen des Stahlhelms anrücken – für die Führung des Bundes der Frontsoldaten »eine schwere Kränkung«, wie Seldte sich später beklagt. Auch beim gemeinsamen Mittagessen wartet man vergeblich auf den Führer der NSDAP. Für den Nachmittag ist die Abschlusskundgebung im Kurhaussaal angesetzt. Da geht plötzlich

das Gerücht um, dass Hitler nicht sprechen, ja womöglich sogar vorzeitig abreisen wolle. Im Zimmer des Kurdirektors muss Hugenberg eine geschlagene Stunde auf Hitler einreden, bis dieser sich schließlich eines anderen besinnt und beide Parteiführer sich auf das Podium begeben können, von »nicht enden wollenden, brausenden und jubelnden Grüßen« empfangen, wie Unsere Partei berichtet. Hugenberg eröffnet seine Rede mit der Behauptung, die in Bad Harzburg versammelte Rechte repräsentiere »die Mehrheit des deutschen Volkes«. Der Regierung Brüning wirft er »eine Katastrophenpolitik« vor, die »auf geradem Weg ins Chaos« führen müsse, und er beschwört die Gefahr des Bolschewismus. Es gebe nur zwei Wege: »Der eine ist der russische, der andere ist der deutsche.« Hitler, der nach Hugenberg das Wort ergreift, schert wiederum aus der gemeinsamen Front aus, indem er so tut, als befinde er sich ausschließlich unter seinen Gefolgsleuten. Er redet alle Anwesenden mit »Parteigenossen und Parteigenossinnen!« an und schließt mit dem Ausruf: »Es lebe unsere herrliche nationalsozialistische Bewegung!« Das größte Aufsehen jedoch erregt Hjalmar Schacht, der in einer vorher nicht angekündigten Ansprache die Wirtschaftspolitik der Regierung Brüning scharf angreift und der Reichsbank vorwirft, das wahre Ausmaß der deutschen Auslandsverschuldung zu verschleiern und die Bilanzen bewusst zu manipulieren. Diese unverantwortliche Polemik ist geeignet, das ohnehin angeschlagene Vertrauen in die deutsche Kreditwürdigkeit gänzlich zu untergraben. Noch in seinen 1970 veröffentlichten Memoiren nennt Brüning Schachts Rede »ungeheuerlich«.

Noch 1934 bekennt sich Hugenberg zu den gemeinsamen Zielen In ihrer Schlussresolution fordern die Harzburger Frondeure den Rücktritt Brünings und der preußischen Regierung unter dem SPD-Ministerpräsidenten Otto Braun sowie Neuwahlen. An Hindenburg appellieren sie, »dem stürmischen Drängen von Millionen vaterländischer Männer und Frauen, Frontsoldaten und Jugend« nachzugeben und »in letzter Stunde durch Berufung einer wirklichen Nationalregierung den rettenden Kurswechsel« herbeizuführen. Endlich sei es gelungen, »eine einheitliche Front herzustellen«, berichtet der Beauftragte des Ex-Kaisers Wilhelm II., Wilhelm von Dommes, am 13. Oktober nach Haus Doorn in den Niederlanden, wo der Hohenzoller Asyl gefunden hat. Doch einig ist sich die Harzburger Front nur im Negativen, in der bedingungslosen Ablehnung des Weimarer »Systems«. Auf ein Programm für eine gemeinsame Regierung hat man sich nicht verständigen können. Hinter den Kulissen geht der Kampf um die Führung weiter. Jeder verdächtigt den anderen, eigennützige Ziele zu verfolgen, und für Hitler und die NSDAP trifft das auch tatsächlich zu. Falls Brüning über das von der »nationalen Opposition« eingebrachte Misstrauensvotum stürze, hält Goebbels einen Tag nach Harzburg in seinem Tagebuch fest, »dann sind wir dran. Dann aber möglichst schnell die Reaktion ausbooten. Wir wollen allein die Herren von Deutschland sein.« Doch Brüning übersteht am 16. Oktober die Abstimmung im Parlament, nicht zuletzt deshalb, weil die SPD konsequent an ihrem Kurs der Tolerierung des Kabinetts festhält. Der Reichstag vertagt sich bis Ende Februar 1932; noch einmal hat sich Brüning eine Atempause verschafft. Wie brüchig die Harzburger Front ist, zeigt sich bereits am 18. Oktober, als Hitler in Braunschweig an

die 100 000 Angehörige von SA, SS und HitlerJugend aufmarschieren lässt. Damit will er nicht nur seine Eigenständigkeit zur Schau stellen, sondern zugleich deutlich machen, dass allein die NSDAP Massen mobilisieren kann. Für Goebbels ist diese Demonstration der Stärke denn auch »unsere Antwort auf Harzburg und an Brüning«. Trotz Hitlers Extratouren hält Hugenberg unverdrossen an der Perspektive einer gemeinsamen Machtübernahme fest. Ende Januar 1932 teilt er Hitler mit, dass es »vielleicht in Kürze möglich« sein werde, »das in Harzburg aufgestellte Ziel des Ersatzes der bisherigen Regierung durch eine wirkliche Rechtsregierung zu verwirklichen«. Davon allerdings kann keine Rede sein. Während des ganzen Jahres 1932 halten die Konflikte im Lager der »nationalen Opposition« an. Nicht einmal auf einen gemeinsamen Kandidaten für die Reichspräsidentenwahlen im Frühjahr kann man sich einigen. Gegen Hindenburg geht man beim ersten Wahlgang im März mit zwei Bewerbern ins Rennen. Die NSDAP stellt Hitler auf – die Regierung des Freistaats Braunschweig hat den Österreicher noch kurz zuvor zum Regierungsrat ernannt und ihm damit die für die Kandidatur notwendige deutsche Staatsbürgerschaft verschafft. Für den Stahlhelm und die DNVP tritt Duesterberg an, der zweite Vorsitzende des Bundes der Frontsoldaten. Vor dem zweiten Wahlgang im April zieht Duesterberg zwar seine Kandidatur zurück, doch mag sich Hugenberg nicht öffentlich für Hitler aussprechen. Dessen Kandidatur gegen den populären Hindenburg hält er – zu Recht – für aussichtslos. Als Brüning Ende Mai 1932 dann doch noch stürzt, kommt allerdings nicht die Harzburger Front an die Macht, sondern ein »Kabinett der Barone«. Kanzler wird der rechte Zentrumsmann Franz von Papen. Hitlers Versuch, nach den Reichstagswahlen vom 31. Juli, aus denen die NSDAP mit 37,4 Prozent als weitaus stärkste Partei hervorgeht, im Alleingang an die Macht zu kommen, scheitert am 13. August am Einspruch Hindenburgs. So sehen sich die zerstrittenen Partner von Bad Harzburg wieder aufeinander verwiesen: Hitler braucht die Konservativen, um Hindenburgs Widerstand zu überwinden. Hugenberg braucht Hitler, weil nur dessen Bewegung den nötigen Massenrückhalt besitzt. Im Januar 1933 sind Hugenberg und Hitler am Ziel. In der »Regierung der nationalen Konzentration«, die Hindenburg am 30. Januar vereidigt, wird der Reichskanzler Hitler von konservativen Fachministern »eingerahmt«; Hugenberg bekommt ein Doppelressort, das Wirtschafts- und Landwirtschaftsministerium, Seldte das Arbeitsministerium. Die Posten seien so verteilt worden, bemerkt Theodor Wolff, der Chefredakteur des liberalen Berliner Tageblatts, »wie es die Herren der ›Harzburger Front‹ erstrebt« hätten. Doch die Hoffnung, Hitler in seinen Machtambitionen zügeln und ihn nach den eigenen Vorstellungen lenken zu können, entpuppt sich rasch als grandiose Illusion. Der neue Mann in der Reichskanzlei braucht nur wenige Monate, um seine konservativen Bündnispartner an die Wand zu spielen. Hugenberg muss bereits Ende Juni 1933 zurücktreten; sein Konzern wird Schritt für Schritt von den Nationalsozialisten übernommen. Das hindert ihn nicht daran, Hitler in einem Brief zum ersten Jahrestag der Machtergreifung 1934 noch einmal zu versichern, dass er »an all den Gedanken und Zielen« festhalte, »die uns damals zusammengeführt haben«. Jetzt steht sie, die Harzburger Front – geschlossen hinter Hitler.

Fotos (Ausschnitte): SZ Photo/picture-alliance/dpa (l.); akg-images

Im Herbst 1931 demonstrierten Konservative und Nationalsozialisten mit einem großen Treffen in Bad Harzburg ihre Entschlossenheit, die Weimarer Demokratie zu vernichten VON VOLKER ULLRICH

WIRTSCHAFT

Die Euro-Krise: Mehr Geld für Rettungsschirme, neuer Ärger in der italienischen Regierung und: Ist den Griechen noch zu helfen? S. 28–31

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

23 Fotos: (Ausschnitt) Martin Sasse/laif (m.); Karolina Webb/Alamy (2)

CHINA A LS HOFFNUNG

Wer hätte das vor ein paar Jahren für möglich gehalten: China, die Wirtschaftsgroßmacht, ist die Hoffnung der Welt. Die USA und Europa bekommen ihre Schulden und Wirtschaftskrisen nicht in den Griff, sogar für Deutschland sagten Ökonomen der Investment-Bank Goldman Sachs gerade eine neue Rezession voraus – aber in China brummt die Wirtschaft. Die kaufkräftige chinesische Mittelschicht und der investitionswillige Staat werden der Welt über die Runden helfen, so lautet eine Hoffnung. Vielleicht werden die Chinesen sogar den Euro retten, lautet eine andere Vorstellung. Offizielle aus China kündigen seit Monaten immer mal wieder Unterstützung für Griechenland, Portugal, Spanien, Irland und Italien an. Wirklich viel Geld ist bisher allerdings nie geflossen. In den USA wird unterdessen nicht gehofft, sondern auf den Tisch gehauen: Eine Reihe einflussreicher US-Politiker forderte in dieser Woche Strafzölle auf chinesische Produkte, solange die Chinesen ihre Währung künstlich billig halten und damit ihre eigenen Exporteure subventionieren. Die Chinesen sollten ihrer Verantwortung gerecht werden. Sie sollten aufhören, durch die Währungsmanipulation immer neue Ungleichgewichte zu schaffen. Interessanterweise wird die Frage der Währungspolitik auch in China lebhaft diskutiert (siehe Seite 24). Und die Antwort hängt vor allem an der einen großen Frage: Wie stark ist Chinas Wirtschaft wirklich? Ist sie tatsächlich so weit, dass China die Weltkonjunktur retten und Mitverantwortung für das Weltwährungssystem übernehmen kann? Oder sind die Chinesen in Wahrheit bloß der nächste Crash-Kandidat?

In den Siebzigern ein Bauerndorf, heute Industriestadt: Szenen aus dem südchinesischen Dongguan

War’s das, China? Ausgerechnet die Reichen und der chinesische Staat gefährden den sagenhaften wirtschaftlichen Erfolg

A

ch«, sagt der Immobilienmakler, »das ist ein völlig veralteter Stadtteil.« – »Wie alt ist er denn?« – »Wurde vor zehn Jahren gebaut.« Dongguan ist eine atemlose Stadt. Wer hierherkommt, der tut es nicht aus Interesse an Kultur, nicht des Klimas oder der Liebe wegen, sondern um Geld zu verdienen. Noch in den siebziger Jahren war Dongguan ein Bauernkaff, bis der Süden Chinas zur Werkstatt der Welt wurde und Dongguan zu ihrer meistgenutzten Werkbank. Zu Millionen strömten Menschen aus allen Landesteilen hierher, um sich in den Fabriken zu verdingen. Wer in China einen Schuh kaufte oder ein Möbelstück, der hielt mit großer Wahrscheinlichkeit ein Stück aus Dongguan in der Hand. Und die Stadt wandelt sich schon wieder. Dongguan, das sind die schmutzigen Abwässerkanäle, die Fabriken, vor denen abends die Arbeiter mit nacktem Oberkörper Billard spielen. Das sind aber auch Parks und Hightech-Unternehmen, die die Stadtverwaltung angelockt hat. Mittlerweile leben hier zwei Millionen Einheimische und dreimal so viele Zugereiste. Einige von ihnen scheiterten, stürzten sich von den Dächern ihrer Häuser, weil sie die Arbeitsbedingungen nicht aushielten, andere schaff-

ten es vom Wanderarbeiter zum Fabrikbesitzer. Viele der Zugereisten sind jung und zum ersten Mal weg von zu Hause. Hier zeigt sich das Leben in vielen Facetten – ein idealer Ort, um der Frage nachzugehen, wie es um die chinesische Wirtschaft bestellt ist. Auf den ersten Blick: fantastisch. Die USA und Europa versuchen verzweifelt, ihre Schuldenkrisen zu bewältigen, China aber sitzt auf Währungsreserven von 3,2 Billionen US-Dollar. Im vergangenen Jahrzehnt wuchs die chinesische Wirtschaft durchschnittlich um 10,5 Prozent, derzeit sind es 9,5. Ein Großteil des Wachstums geht auf den Investitionseifer des Staates zurück, 47,89 Prozent, so genau wird so etwas hier in die Statistiken eingetragen. Nur rund 34 Prozent steuert der private Konsum bei. Fabrikbesitzer Bao Genfa, 39, leidet auf hohem Niveau, auf einer breiten, mit Goldrand verzierten Couch, in der Ecke ein Golfcaddie, doch er leidet. Bao hat die hochgezogenen Brauen eines staunenden und die Unterlippe eines schmollenden Menschen, aber er ist vor allem nervös. Unablässig wippt er mit dem Fuß, irgendwie, ahnt er, ist eine Ära vorbei, die ihn, Bao Genfa, auf diese Chefcouch gehoben hat. Einst war Bao selbst ein Wanderarbeiter, der für umgerechnet 60 Cent am Tag Schuhe zusammenklebte, bis er sich sagte: Was die da oben können, kann ich auch, und vom mühsam Ersparten eine eigene Firma für Schuhmaterial eröffnete. Dort lässt er

VON ANGELA KÖCKRITZ

Stoffe und Plastik zusammenfügen, später entstehen daraus Schuhe. Studiert hat Bao nicht, doch er bildete sich weiter, lernte Buchhaltung. »Wenn andere acht Stunden arbeiten, dann arbeite du 16«, sagte er sich. Und hat es nicht funktioniert? Hatte seine Firma in guten Zeiten nicht 400 Angestellte? Die guten Zeiten aber sind lange vorbei. Bao hatte sich daran gewöhnt, dass sich die Wirtschaft zuweilen so launenhaft verhielt wie eine zickige Geliebte, doch letztlich ging es immer wieder bergauf. Jetzt aber hat sich etwas verändert. »Das Schuhgeschäft ist einfach nicht mehr das, was es einmal war.« Bao erinnert sich noch gut an die Asienkrise von 1997, als Japans Banken unter faulen Krediten zusammenbrachen, sich die Krise auf viele Nachbarländer ausweitete und die Japaner keine Markenschuhe mehr kaufen wollten. Damals hatte er viel Geld verloren, später aber zog das Geschäft wieder an. Doch nach der Finanzkrise von 2008 lief das Geschäft nie mehr wirklich gut. Nach dem Neujahrsfest von 2009 kehrten viele Wanderarbeiter nicht mehr zurück nach Dongguan. Sie wussten, dass die Auftragsbücher ihrer früheren Firmen leer waren. Stattdessen versuchten sie, Arbeit in der Nähe ihrer Heimat zu finden. Und weil viele Lokalregierungen das gewaltige Stimulusprogramm der Zentralregierung genutzt hatten, gab es diese auch. Als sich im Sommer die Auftragsbücher der Fabriken in

Dongguan wieder füllten, waren keine Arbeiter mehr da. Bao musste seinen Leuten mehr Gehalt bieten. Auch weil die Regierung beschlossen hatte, die ausbleibende Nachfrage aus dem Ausland durch inneren Konsum zu ersetzen. In vielen Provinzen stieg der Mindestlohn, denn Arbeiter können nur mehr konsumieren, wenn sie mehr verdienen. »2007 bekam ein Arbeiter 800 bis 1000 Renminbi, umgerechnet bis zu 110 Euro, inzwischen sind es 2300 bis 3000 Renminbi, dazu kommen Essen und Unterkunft.« Und das, seufzt Bao, sei längst nicht alles. Die Inflation! Alles werde teurer! Der Strom, das Material! Dongguans Erfolgsrezept, das war billige Produktion. Inzwischen aber ist Dongguan nicht mehr so günstig. Dazu komme, klagt Bao, dass die Lokalregierung materialintensive Industrien wie die seine loswerden wolle. Viele Kollegen hätten Dongguan bereits verlassen, seien nach Myanmar oder Kambodscha, in den armen Westen Chinas umgesiedelt. Die Banken gäben den kleinen Firmen keine Kredite mehr, es blieben nur die privaten Verleiher, und die verlangten Wucherzinsen von bis zu 36 Prozent. Und zu all dem, seufzt Bao, der Renminbi! Unaufhörlich steige er! Die meisten Handelspartner Chinas halten den Renminbi für künstlich unterbewertet, für Unternehmer wie Bao kann er nicht schwach genug sein. Fortsetzung auf S. 24

24 6. Oktober 2011

DIE ZEIT No 41

WIRTSCHAFT

Heilongjiang

ZEIT-Grafik/Quellen: S.24: China Census 2010; S.25: bfai, Weltbank, CNNIC, MIIT (oben), bfai

Jilin Xinjiang

Liaoning Innere Mongolei

Peking Tianjin

Hebei Ningxia

Qinghai

Shanxi

Shandong

Gansu Henan

Shaanxi Tibet Sichuan

Hubei

Chongqing

Jiangsu Anhui

Shanghai

Zhejiang Hunan

Jiangxi

Guizhou Yunnan

Fujian

Guangxi

Guangdong Dongguan Hongkong Hainan

Pro-Kopf-Einkommen in den chinesischen Provinzen in Dollar 0

2000

4000

6000

8000

10 000

Die South China Mall steht weitgehend leer. Nur wenige Kunden verirren sich in die Investitionsruine

Leben in Dongguang: Stromleitungen am Stadtrand, Arbeiter beim gemeinschaftlichen Werksturnen

Fortsetzung von S. 23

Ein schwacher Renminbi verschafft ihm einen Vorteil auf dem Weltmarkt, Baos Produkte sind dann günstiger als die der Nachbarländer. Die Exportunternehmer drängen daher die chinesische Führung, den Renminbi nicht aufzuwerten. »Unsere Regierung«, sagt Bao, »darf den Amerikanern nicht nachgeben.«

»Die Arbeiter wollen gutes Geld, gutes Essen und eine schöne Unterkunft« Am meisten jedoch quält Bao, dass die Menschen in den USA, in Deutschland, Frankreich und England nicht mehr so viele Schuhe kaufen wollen wie früher. »Allein in diesem Jahr sind die Aufträge um 30 bis 40 Prozent eingebrochen.« Könnte man die Schuhe stattdessen nicht an Chinesen verkaufen? Den Einbruch bei den Exporten durch Binnennachfrage ersetzen, so wie es die Regierung schon zu Beginn der Finanzkrise plante? »Ja, es gibt inzwischen mehr Chinesen, die hochwertige Qualitätsturnschuhe kaufen. Aber so viele, dass sie den Export ersetzen könnten, sind es nicht. Die meisten können sich das nicht leisten.« Könnte er dann statt Schuhmaterial nicht einfach einen ganzen Schuh fertigen? Eine Marke schaffen? Bao schüttelt den Kopf. »Ach, dazu brauchte man viel Know-how, das wir nicht haben«, sagt er. »Und noch mehr Geld.« Schuhmaterial fertigt Bao inzwischen nur noch für wenige Stammkunden, er lässt seine Arbeiter jetzt vor allem Taschen produzieren. Fototaschen, Kühltaschen, das Material ist ähnlich, doch im Gegensatz zu den Schuhen kann Bao gleich ein ganzes Produkt anbieten. Taschen lassen sich wesentlich einfacher fertigen als Schuhe.

Bao stapft durch seine Fabrik, vorbei an Arbeitern, die Kunststoffe auf Textilien kleben, an ratternden Nähmaschinen Taschen zusammennähen. Bao sagt, er beschäftige nur noch 150 Arbeiter, tatsächlich sieht man in der Fabrik höchstens 80. An einem Schwarzen Brett hängt der kopierte Artikel einer Wanderarbeiterinnen-Zeitschrift: »Wie ich ein höheres Gehalt verhandele«. »Die Arbeiter sind so anspruchsvoll geworden«, seufzt Bao. »Sie wollen ein gutes Gehalt, gutes Essen, eine schöne Unterkunft, und der Chef soll sie auch nicht beschimpfen. Früher war der Chef der Chef. Inzwischen sind die Arbeiter die Bosse.« Dann steigt er in seinen Porsche Cayenne, und es ist unklar, ob er das nun ironisch meint oder ernst. Immobilien, sagt Bao und steuert den Cayenne durch die Straßen Dongguans, das sei die Zukunft. »Damit kann man noch Geld machen. Pro Quadratmeter 10 000 Renminbi Gewinn im Jahr, das sind bei 200 Quadratmetern zwei Millionen, ohne Arbeit, ohne Schweiß.« Die Fabrik wolle er behalten, mit ein paar Stammkunden mache er noch Geschäfte. 60 Prozent aber seines umgerechnet mehrere Millionen Euro schweren Vermögens werde er ab jetzt in den Immobilienmarkt stecken. Doch was, wenn alle Fabrikbesitzer so dächten wie er? Wenn sich der Immobilienboom eines Tages als Blase entpuppte und platzte? Bao verneint entschieden: »Das ist unmöglich. Die Regierung wird es verhindern.« Nicht alle sind davon aber so überzeugt. Vor allem ausländische Experten verweisen seit Längerem auf ein unheilvolles Dreigestirn von Immobilienblase, steigender Inflation und faulen Krediten. Nouriel Roubini, der Professor an der New York University, der die Finanzkrise in den USA vorausgesagt hatte, befürchtet ein hard landing in China von 2013 an.

Die immer höhere Inflation führe geradewegs in die Rezession. Auch Patrick Chovanec, Ökonom an der Qinghua-Universität in Peking, sagt: »Chinas Wirtschaft wächst auf Basis von Steroiden.« In der Finanzkrise legte die chinesische Regierung ein Stimulusprogramm von 586 Milliarden US-Dollar auf. Auch China musste seine Wirtschaft stützen. Zwar waren die chinesischen Banken nicht so sehr in faule USKredite verstrickt wie die amerikanischen oder europäischen, doch litt die exportabhängige chinesische Wirtschaft unter dem Einbruch der Nachfrage in den USA und Europa.

»Ganz so schlimm wird’s schon nicht werden« Um dies auszugleichen, vergab die Regierung massenhaft Kredite: an Firmen in Not, an Staatsunternehmen, vor allem aber an lokale Verwaltungen, die in Infrastruktur investierten. Die Investitionsrate stieg von 42 auf mehr als 47 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. »›Reicht alles ein, was ihr schon immer mal bauen wolltet‹ war das Signal«, sagt Chovanec. China wurde für sein Krisenmanagement sehr gelobt, denn während der Westen strauchelte, blieb es von den Verwerfungen weitgehend verschont. Die Kreditvergabe aber endete nicht einfach mit der Krise. Sie ging weiter. Die Banken pumpten Geld in die Wirtschaft. Zwischen 2008 und 2010 verdoppelte sich die Geldmenge in China. 2011 stieg sie nochmals um 16 Prozent. Inzwischen versucht die Regierung, die Geldvergabe wieder zu drosseln, doch die Inflation hat China schon erfasst, insbesondere den Immobilienmarkt. Denn ein gewaltiger Teil der Kredite landete in der Baubranche. An manchen

Orten stiegen die Immobilienpreise ins Unermessliche. Viele Wirtschaftszweige profitierten davon, und weil die Inflation so hoch ist, sehen Unternehmer wie Bao Genfa keine andere Möglichkeit, als in Immobilien zu investieren: »Alles andere lohnt sich nicht.« Warum aber soll das Zeichen einer Blase sein? Ist es nicht vielmehr ein Boom? Eine positive Sache also? Theoretisch könnte das der Fall sein. Denn noch immer ziehen viele Menschen in die Städte, es besteht also Bedarf an Wohnungen. Man muss sich ansehen, wer welche Wohnungen erwirbt. Der Wohlstand in der chinesischen Gesellschaft ist sehr ungleich verteilt. Nur 30 Prozent der Städter haben überhaupt das Geld für eine Immobilie. Die Wohlhabenden aber kaufen oft viele Wohnungen, sie spekulieren darauf, dass die Preise steigen. Inzwischen wurde die Spekulation zum Teil gesetzlich beschränkt, sie besteht aber noch immer. Was, wenn nun eines Tages die Preise einbrechen, so wie 2008 in den USA? Dann wären die Wohnungsbesitzer gezwungen, weit unter ihrem Kaufpreis zu verkaufen oder zu vermieten. Und weil die Baubranche so wichtig für die ganze Wirtschaft ist, würden auch andere Branchen leiden. Man kann sich das an einem konkreten Beispiel ansehen: den Königlichen Gärten, einem der exklusivsten Wohnprojekte Dongguans. Der Eingang ist nicht gerade vielversprechend. Unten versucht ein plätschernder Schwanenbrunnen Romantik zu verbreiten, während oben auf der Überführung eine Stadtautobahn vorbeirauscht. Immobilienmakler Zhang Yongjun lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen, er weiß um den Effekt, der sich einstellen wird, sobald man den Eingang durchschritten hat. Ein Wasserreservoir, umgeben von sanften Hügeln,

Palmen wiegen sich im Wind, im Hafen dümpeln Jachten. Eine Villa schmiegt sich an die nächste, die Szene wirkt perfekt, fast ein bisschen zu perfekt, denn auf den Balkonen und in den Gärten stört kaum ein Wäscheständer, kaum ein Sonnenschirm das Bild. Eine Katalogidylle. Im Paradies wohnt fast keiner – und das, obwohl beinahe 60 Prozent der Villen und Wohnungen bereits verkauft sind. Zhang, 28, ist ein nachdenklicher junger Mann und ein ehrlicher Vertreter seiner Zunft, er versucht die Leere weder weg- noch schönzureden. »90 Prozent der Käufer haben nur gekauft, um zu investieren. Sie leben in Guangzhou oder Shenzhen, dort, wo die Immobilienpreise viel zu hoch sind. Und mal ehrlich, um hier zu leben, braucht man pro Familie zwei Autos. Vom Verkehr her ist das nicht sehr praktisch.« So sei es in vielen chinesischen Städten, sagt Zhang. In Dongguan, sagt Zhang, sei der Markt sogar noch relativ gesund. Eine Industriestadt, viele Fabriken und schlechte Luft, keine gute Wohngegend. Viele Investoren steckten ihr Geld lieber in eine Fabrik. Zhang glaubt, dass die Blase in einigen Städten platzen werde, andere hingegen würden verschont bleiben. »Ganz so schlimm wird’s nicht werden«, sagt Zhang. »Das wird die Regierung verhindern.« Der Glaube an die Regierung ist groß. Warum auch nicht? Schließlich hat sie die Macht, strenge Gesetze zu verabschieden, vor allem aber verfügt sie über viel Geld für den Fall, dass sie den Banken beispringen müsste. Liu Minkang, Chinas oberster Bankregulierer, versichert, Chinas Banken würden sogar einen Einbruch der Immobilienpreise um 30 bis 50 Prozent aushalten. Doch selbst wenn es der Regierung gelänge, die Blase abzuwenden, die Inflation einzudämmen und ein hard landing zu ver-

Sollte China den Kurs seiner Währung freigeben? Nein! Jede Entscheidung über die chinesische Währung sollte vorrangig China nützen, erst dann dem Rest der Welt VON TAN YALING

Ja! China sollte damit aufhören, immer mehr Devisen zu kaufen. Leicht wird die Umstellung aber nicht VON YU YONGDING

Fotos (o., v.l.): Anzenberger; StudioX; Mauritius; kl. unten: J. Favre/Bloomberg News/Getty (l.); Aqing/ChinFotoPress/laif (r.)

D

ie Erholung der Weltwirtschaft stagniert. Um einer Rezession mit zwei Talsohlen zu entgehen, greifen mehr und mehr Länder zu Maßnahmen wie dem Drucken von Geld, um den Wert ihrer Währungen zu senken. China ist wohl das einzige Land, das seine Währung, den Renminbi, stärkt. Wie lange noch? Seit mehr als zwei Jahrzehnten exportiert China ununterbrochen mehr Waren und Dienstleistungen, als es einführt: 2010 lag der Leistungsbilanzüberschuss bei 300 Milliarden US-Dollar. Es importiert mehr Kapital, als es ausführt: Der Kapitalbilanzüberschuss lag zuletzt bei 220 Milliarden. Im laufenden Jahr sieht es nicht anders aus. Durch diesen enormen »Zwillings-Überschuss« ist der Renminbi im Verhältnis zu anderen Währungen einem starken Aufwertungsdruck ausgesetzt. Die Zentralbank Chinas (PBOC), die das Ausmaß der Aufwertung kontrolliert und zu begrenzen versucht, interveniert ständig auf dem Devisenmarkt. Sie kauft also mehr Devisen. Mit der schlechter werdenden finanzpolitischen Situation ist die Versuchung für die Vereinigten Staaten von Amerika groß, ihre Schuldenlasten durch eine herbeigeführte Inflation in den Griff zu bekommen. Das würde unweigerlich zu Kapitalverlusten bei den über die Jahre in China angehäuften Währungsreserven führen. Es ist offensichtlich, dass China schon lange hätte aufhören müssen, seine Devisenrücklagen aufzustocken. Man kann den Leistungsbilanzüberschuss direkt reduzieren, also Steuernachlässe abschaffen und eine Aufwertung des Renminbi zulassen. China hat beide Ansätze gleichzeitig versucht. Die andere Möglichkeit ist, die Sparquote im Inland herabzusetzen. Unglücklicherweise allerdings ist das Erreichen des Gleichgewichts zwischen Sparen und Investieren aus unterschiedlichen Gründen ein sehr langwieriger Prozess. Mit einigen Unterbrechungen hat China seit 2005 dafür gesorgt, dass der Wert des Renminbi allmählich steigt. Dieser allmähliche Anstieg je-

doch ruft internationale Spekulanten auf den Plan. Die Konsequenz ist ein riesiger Kapitalfluss nach China, der dazu führt, dass sich die Währungsreserven weiter erhöhen. Um die Anhäufung weiterer Devisenrücklagen zu stoppen, ist es am effektivsten, die PBOC daran zu hindern, in den Währungsmarkt einzugreifen, den Renminbi also freizugeben. Aber die Freigabe des Renminbi hat ihren Preis. Zunächst würde der Kurs nach Beendigung der Intervention deutlich steigen. Chinas Wirtschaftswachstum und Beschäftigung würden davon beeinträchtigt, weil eine Aufwertung des Renminbi dem Export schadete. Zweitens bestünde die Gefahr, dass der einmal freigegebene Wechselkurs über das Ziel YU hinausschösse und damit erst recht SchaYONGDING den für das Wachstum Chinas anrichteist Direktor te. Drittens entstünden durch die Aufwertung des Renminbi Aufwertungsverdes Institute luste, weil das Land erhebliche Dollarof World dominierte Vermögenswerte hält, die Economics and dann im Vergleich zum Renminbi weniPolitics in Peking ger Wert wären. China hat also nur die Wahl, entweder zunehmend große Kapitalverluste bei seinen Devisenreserven hinzunehmen oder aber sofortige Einbußen durch große Leistungsbilanzsenkung und enorme Aufwertungsverluste. Keine der Möglichkeiten ist angenehm. Aber das ist die bittere Pille, die China nun wegen seines Zögerns und Zauderns schlucken muss. Und je länger die Verzögerung, desto höher die Kosten, die China zu tragen hat. Die Erfahrung der Geschichte zeigt, dass langsame Aufwertung gepaart mit einem undichten Kapitalkontrollsystem sehr kostspielig ist. Hätte China schon vor Jahren mit Entschlossenheit gehandelt, wäre es jetzt nicht in solch eine Falle getappt.

Ja

Übersetzt von AMBER LEE und ANGELA HOLZ

S

eit der Währungsreform in den neunziger Jahren hat sich der Wert des Renminbi um 29 Prozent erhöht, durch einseitige Aufwertung. Diese Aufwertung – die die Wettbewerbsfähigkeit der chinesischen Exporteure beeinträchtigt – hat nicht nur Chinas Entwicklung und Reformmöglichkeiten behindert, sondern sie gefährdet auch eine ausgewogene Entwicklung der Weltwirtschaft. Warum ist das so? Die Höhe der Aufwertung des Renminbi ist weit über das hinausgegangen, was man an den Finanzmärkten für »gesunde Schwankungen« hält. Dass der Renminbi einseitig aufgewertet wurde, verstößt nicht nur gegen diese Marktnormen, sondern hat zu Risiken geführt. Wir haben alle die Erfahrung gemacht, dass Währungsaufwertung zu Finanzkrisen führt. Dennoch sind die Erwartungen an eine RenminbiAufwertung noch immer groß. Die Kritik an der chinesischen Währungspolitik, die jetzt aus Amerika und von internationalen multilateralen Organisationen kommt, orientiert sich nicht daran, wo China heute steht und was es braucht. Zweitens steht die Renminbi-Aufwertung gegen die internationale Praxis der Intervention. Es gibt viele Länder, die, sobald sie sich TA N mit einer US-Dollar-Abwertung und einer YALING Aufwertung der eigenen Währung konfronwar Chef-Analystin tiert sehen, sofort Währungsreserven oder Zentralbankinstrumente nutzen, um einzubei der Bank of greifen. Diese Maßnahmen sollen den Druck China und ist nun von überhitzten Wirtschaftssystemen nehPräsidentin des men oder hohe Inflationsgefahren mindern. China hat seine Politik in dieser Frage nie China Foreign ganz klar offengelegt und es vorgezogen, mit Investment den Schwierigkeiten – die von den Ländern Research Institute ausgelöst wurden, die heute seine Kritiker sind – alleine fertig zu werden. Jetzt sollte die internationale Gemeinschaft China mehr Verständnis entgegenbringen. Die Basis jeder Währungspolitik ist es, zunächst gewinnbringend für das eigene Land zu wirken und nicht die Bedürfnisse an-

Nein

derer Länder zu erfüllen. Der Wechselkurs sollte sich in erster Linie auf das eigene Land positiv auswirken. Die einseitige und drastische Aufwertung des Renminbi nutzt aber ohnehin niemandem. Einerseits ist China noch immer in der Aufbauphase seiner Entwicklung als Marktwirtschaft. Daher sollte die Geldpolitik darauf ausgerichtet sein, die Produktion auszuweiten und Wettbewerbsvorteile zu schützen. Die bisherige Aufwertung hat die Wettbewerbsfähigkeit der chinesischen Wirtschaft, deren größter Vorteil ihre Größe ist, stattdessen ernsthaft gefährdet. Das wiederum gefährdet auch die Weltwirtschaft, den Handel und das Investitionsumfeld. Andererseits ist Chinas Finanzmarkt hinsichtlich seiner Struktur, seiner Effizienz und seiner Prozesse noch nicht ausreichend internationalisiert. Die internationale Gemeinschaft allerdings setzt die Messlatte für hoch entwickelte Wirtschafts- und Währungssysteme an und fordert von China, seine Währung aufzuwerten. Dadurch würde der Renminbi von einer gesunden Entwicklung abweichen, und seine einseitige Aufwertung ginge gegen das, was man als Geldpolitiker anhand der Währungs- und Preisindikatoren empfehlen würde. In einer solchen Situation wiederum wächst die Gefahr von Spekulationen gegen unsere Währung. Die Unterschiede zwischen Zins- und Währungsentwicklung würde flüchtiges Spekulationskapital nach China locken. Das könnte China bei der Entwicklung einer gesunden und geregelten Marktwirtschaft behindern. Und es würde Chinas Entwicklung langfristig schädigen und so auch die Weltwirtschaft destabilisieren. Der Renminbi wird ständig mit dem US-Dollar verglichen, aber der Dollar ist eine der Welt-Reservewährungen, und sein Wechselkursregime ist in seiner Effizienz mit unserem überhaupt nicht zu vergleichen. Die amerikanische Währung ist unersetzbar. China aber ist ein Entwicklungsland. Der Renminbi ist immer noch eine nationale, keine frei handelbare Währung. Das Land ist nicht so weit, Verantwortung zu übernehmen, die seine Fähigkeiten übersteigt. Übersetzt von AMBER LEE und ANGELA HOLZ

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

25

WIRTSCHAFT China in Zahlen* 1,34 Mrd.

Einwohner

Internetnutzer

457 Mio.

Mobilfunknutzer

930 Mio.

Bruttoinlandsprodukt (je Einwohner)

Fotos (v.l.n.r.): Eugene Hoshiko/AP/ddp; Pietro Scozzari/Prisma (2)

4,1 %

Analphabetenrate

4260 US-$

Deutsche Ausfuhren nach China

53,6 Mrd. Euro

Deutsche Einfuhren aus China

76,5 Mrd. Euro

*2010

Wirtschaftswachstum BIP-Veränderung zum Vorjahr, in Prozent

10,0

10,1

2003

04

11,3

12,7

05

Arbeiter in einer Spielzeugfabrik, das Youth and Children Center in Dongguan

06

14,2

07

9,6

9,2

08

09

10,3

10

9,6

9,5

11

12

Prognose

Ein Brunnen in Stadtteil Nancheng im Zentrum der Metropole

Fortsetzung von S. 24

meiden, so lauert doch noch eine weitere Gefahr am Horizont: die der faulen Kredite. »Unsere Version der US-Subprime-Krise ist die Darlehensvergabe an die lokalen Regierungen. Dies wird Ausfälle erzeugen«, sagt Cheng Siwei, der bis 2003 als Vizevorsitzender des Stehenden Komitees des Nationalen Volkskongresses tätig war. Die lokalen Regierungen sind die Träger einer gewaltigen Masse von Bauprojekten im Land. Wie gefährlich ist die Lage? Das ist schwer einzuschätzen, vor allem, weil China so groß und divers ist. Es gibt im Land einige berühmt absurde Bauprojekte, die Stadt Ordos in der Inneren Mongolei zum Beispiel, gebaut für 1,5 Millionen Einwohner, doch wohnt fast keiner darin. Berüchtigt ist ebenso die South China Mall, auch Great Mall of China genannt, die 2005 in Dongguan von einem privaten Investor gebaut wurde. Theoretisch könnte man sich hier ganz großartig amüsieren. Natürlich, es wäre ein dubaiesker Spaß, einer, bei dem man alle ästhetischen Bedenken über Bord werfen müsste, bevor man etwa in eine venezianische Gondel steigt, die den Besucher durch die Weiten einer gewaltigen Shoppingmall trägt. Vorbei an Klein-Amsterdam und Klein-Moskau, unter der San-Francisco-Brücke hindurch und entlang ägyptischer Statuen. Zu Wasserrutschbahnen und künstlichen Südseegrotten, einer Geisterbahn. Das Arrangement ist allerdings auch ohne sie gespenstisch genug. Der Besucher ist in der South China Mall nämlich so gut wie allein. Leere Ladenflächen kilometerweit, die Rolltreppen sind längst gesperrt. Straßenkehrer fegen unsichtbaren Staub vom Beton. Der Betreiber des Karussells hockt mutterseelenallein auf einem der Sitze,

eine einsame Verkäuferin harrt in ihrem Kinderkleidergeschäft aus, in brüllender Hitze, die Klimaanlage hat sie abgestellt, »lohnt sich nicht, kommen doch eh keine Kunden vorbei«. Am Eingang der Mall prangt stolz ein Schild der Regierung: Dies ist eine Vier-Sterne-Touristenattraktion. Ein Millionengrab? Besuch bei der Regierung von Dongguan. Ausländische Journalisten, die bei chinesischen Regierungsstellen ein Interview erbitten, sind an einiges gewöhnt: monatelange Wartezeiten, am Ende meist eine Absage, minutiös vorzubereitende Fragezettel. Ganz anders in Dongguan. Da sitzt plötzlich ein knappes Dutzend Beamter aus sechs unterschiedlichen Abteilungen: Außenhandelsbeziehungen, Wirtschaft, Finanzen, Hausbau, Abteilung für Reform und Planung, Abteilung für Preise. Ein jeder bereit, der Presse stolz von seinen Leistungen zu berichten.

»Früher war es nicht so wichtig, ob man sinnvoll investierte« Die Krise, erzählen die Beamten, habe man hier zur Umstrukturierung genutzt. Weg von materialintensiven, schmutzigen Industrien, hin zu Hightech, Informationstechnologie und Kreativindustrie. 40 Prozent des lokalen Bruttosozialproduktes erwirtschafte nun die Dienstleistungsbranche. Dongguan liefere nicht nur zu, es erfinde, schaffe Marken und Produkte. Man wolle grüner werden, nachhaltiger, sozialer, vor allem aber: langsamer wachsen. Dongguan ist zusammen mit Suzhou Modellstadt, im vergangenen Jahr lobte die Zentralregierung beide Städte für den vorbildhaften Umbau der herstellenden und weiterverarbeitenden Industrie.

»Ich konnte es besser« She Jun, 26, filmt Hochzeitsfeiern in Changsha in der Provinz Hunan. Der Jungunternehmer will weiter investieren



ch produziere Hochzeitsfilme. Schon 2006 habe ich beobachtet, wie jemand mit einer kleinen Videokamera von Panasonic eine Hochzeit aufzeichnete. Damals ging ich noch zur Schule, es war während der letzten Winterferien. So eine Kamera hatte ich auch, und ich sagte mir: »Wenn der das kann, dann kann ich das auch.« Von meinem Vater lieh ich mir 200 Yuan und versprach, sie ihm nach einer Woche zurückzuzahlen. Ich ließ Visitenkarten und Flugblätter drucken und schickte sie an jeden Blumenladen in Changsha. Noch am selben Tag erhielt ich meinen ersten Auftrag. Am nächsten Morgen um 6 Uhr begann ich mit der Arbeit: Für Braut, Bräutigam, Familie und Freunde gab es nur zwei Autos, sehr alte Audi, die kaum genügend Platz boten. Also lief ich den größten Teil des Tages hinter dem Auto des Brautpaars her und filmte es an den unterschiedlichen Plätzen. Es war zwar Winter, aber ich war bald nassgeschwitzt. Ich filmte die Hochzeitszeremonie und die Gäste beim Essen. Aber ich musste weiterfilmen bis zum Ende. Hätte ich aufgehört, wäre mir vorgeworfen worden, ich sei faul. Am Ende erhielt ich 180 Yuan. In diesen vierwöchigen Winterferien verdiente ich 4000 Yuan. Das war ein Erfolg, aber ich dachte mir, dass Hochzeitsfilme mehr zeigen müssten als bloß eine Menge Leute beim Essen. Ich war überzeugt, dass ich es besser konnte. Im Sommer 2006 machte ich mein Abitur. Zu diesem Zeitpunkt stand fest, dass ich das Drehen von Hochzeitsfilmen zu meinem Beruf machen wollte. Schließlich heiraten alle einmal; da würde es mir an Aufträgen wohl niemals mangeln. Ein Jahr später kaufte ich mir drei gebrauchte Videokameras und zog nach Hefei, in die Hauptstadt der Provinz Anhui. Dort gründete ich mit einem Freund, der Hochzeitsfotos machte, ein Studio. Die Stadt war groß, aber die Leute zahlten weniger. Nur ungefähr 50 Yuan bekam ich für eine Hochzeit, weniger als früher.

Dann änderte ich meine Strategie. 2008 konnte ich meinen Geschäftspartner davon überzeugen, eine professionelle Videokamera für 200 000 Yuan anzuschaffen. Dann boten wir Hochzeitsfilm- und-fotoservice zusammen für 2280 Yuan an; das war mehr als das Zehnfache des Durchschnittspreises in der Stadt. Meinen Kunden erklärte ich, warum sie so viel Geld investieren sollten: weil ihre Hochzeit ein einmaliges Ereignis sei, an das sie sich ihr ganzes Leben lang erinnern würden. Allerdings wählten nur wenige Kunden dieses Angebot. Meinen Partner verließ schon bald darauf der Mut, wir trennten uns, und er beschränkte sich schnell wieder auf seine Niedrigpreisstrategie. Ich ging zurück nach Changsha und eröffnete mein eigenes Studio. Anfangs war es sehr schwer, da die meisten Leute in der Branche immer noch um den niedrigsten Preis konkurrierten. Mehr als 400 Yuan gab niemand für ein Hochzeitsvideo aus. Zunächst passte ich mich an, doch bald begann ich, meine Preise anzuheben. Mittlerweile verlange ich zwischen 6800 und 16 800 Yuan. Das ist die höchste Summe überhaupt in Changsha, aber es funktioniert. Die Leute werden reicher und möchten sich etwas gönnen. Sie beginnen auf Filmqualität zu achten. Die Zahl meiner Kunden steigt. 90 Prozent der Paare, die zu mir kommen, haben anfangs noch keine rechte Vorstellung von dem, was sie wollen. Dann zeige ich ihnen den Unterschied zwischen meinem und den Angeboten anderer Hochzeitsstudios. Mit meinen Ideen kann ich sie fast immer überraschen. Meine Oma hat damals sogar ihren Ehering verkauft, um mir von dem Erlös meine erste professionelle Videokamera kaufen zu können. Heute verdiene ich rund 700 000 Yuan im Jahr – und kann von meinem Unternehmen mittlerweile sehr gut leben. Aufgezeichnet und übersetzt von AMBER LEE und ANGELA HOLZ

Die Frage nach faulen Krediten, nach Regierungskrediten überhaupt, quittieren die Beamten fast beleidigt. So was habe man gar nicht nötig. Die Stadt verdiene genug durch Steuern. Nach der Krise seien Regierungskredite lediglich an einige Krankenhäuser und Staatsbetriebe geflossen. Man wolle nicht für das ganze Land sprechen, sagt der distinguierte Herr von der Reformabteilung, doch in der Provinz Guangdong habe man schon lange erkannt, dass ein investmentgetriebenes Wachstum der falsche Weg sei. Bei ihnen läge der Anteil der Investitionen am Bruttosozialprodukt bei gerade mal 25 Prozent. Und nur 1,3 Prozent der Kredite hiesiger Banken seien faul. Man muss nicht alle Zahlen der Lokalregierung für bare Münze nehmen. Tatsache ist: China ist groß, und der wirtschaftliche Erfolg ist im Land extrem ungleich verteilt. In einigen Städten ist der Immobilienmarkt völlig überhitzt, in Nanning etwa, 90 Prozent der Hausbesitzer kaufen hier, um zu spekulieren. In anderen ist das nicht der Fall. Einige Städte leben gut von ihren Steuern, andere nehmen kaum welche ein. Die Frage ist vertrackt: Ist der alte Weg noch der richtige? Oder ist man längst über ihn hinausgewachsen? 30 Jahre lang folgte China einem Pfad, der große Erfolge versprach: Es setzte auf Exporte, einen Handelsüberschuss, um das gewonnene Kapital im Inneren zu investieren. Das funktionierte fantastisch, denn China war ein armes Land, es brauchte Straßen, Flughäfen, Krankenhäuser. »Früher«, sagt Ökonom Chovanec, »war es nicht so wichtig, ob man sinnvoll investierte. Denn der Gewinn, den man dadurch erzielen konnte, dass man einen Bauern in eine Fabrik stellte, war so hoch, dass er alles andere überstrahlte. Inzwischen aber ist

China kein armes Land mehr. Deshalb werden sinnvolle Investitionen umso wichtiger.« Theoretisch könnte die Regierung die Investitionsrate senken und trotzdem ein hohes Wirtschaftswachstum erzielen, indem sie die einbrechenden Exporte durch eine stärkere Binnennachfrage ersetzen würde. Genau das forderten chinesische Politiker zu Beginn der Finanzkrise auch. Die Regierung erhöhte die Löhne der Arbeiter und die Unterstützung für arme Familien, sie verteilte Gutscheine, mit denen die Menschen einkaufen, essen und ins Kino gehen oder reisen sollten. Hat es funktioniert?

»Ich bin immer vorsichtig mit meinem Geld« Wanderarbeiter Zhang Anchi, 47, schiebt sich mit seiner Familie durch die Weiten eines Supermarktes. Er ist ein stiller Mann, der Gedichte mag und seine rechte Hand stets unauffällig versteckt hält, so wie alle Wanderarbeiter, die sich einmal verletzt haben. Einst rammte er sich ein großes Messer in die Hand, seither kann er zwei Finger nicht mehr richtig bewegen. In einer Stadt aber, in der vor allem mit den Händen gefertigt wird, gibt es nichts Schlimmeres. Man muss so eine Verletzung verbergen, beim Vorstellungsgespräch, beim Mittagessen mit den Kollegen. Zhang ist die Gewohnheit längst in Fleisch und Blut übergegangen, auch in der Freizeit versteckt er seine Hand. Zhangs zweijähriger Sohn steht im Einkaufswagen wie der Kapitän eines Schiffs. An ihm vorbei ziehen Goldfische und Geburtstagstorten, Lammschenkel und Liebestöter, die ganze wunderbare Welt des Konsums. Seine Mutter aber wird so gut wie nichts davon mitnehmen, nur ein paar Äpfel und Birnen. Das

Milchpulver, dessentwegen sie gekommen ist, lässt sie im Regal stehen. Es kostet heute 164 Yuan, und nicht wie letzte Woche 157. Das sind 7 Yuan Unterschied, umgerechnet etwas mehr als 70 Cent. Warum aber kauft die Familie so wenig, wo Zhang sich doch über einen großen Gehaltssprung freuen kann? 2008, sagt er, habe er noch 3000 Renminbi im Monat verdient, umgerechnet etwa 330 Euro, »seit 2009 verdiene ich mehr als 5000 Renminbi«. Auch wenn die Inflation einen Teil davon nimmt, bleiben ihm 3000 Renminbi für den Konsum. Seine monatlichen Fixkosten liegen bei 2000 Renminbi. »Ich bin immer vorsichtig mit meinem Geld«, sagt Zhang. Gut, ein Handy und einen Computer habe er sich geleistet, sonst aber lebt er enthaltsam. Keine neuen Möbel, obwohl er doch in einer Möbelfabrik arbeitet, er raucht nicht, trinkt nicht, spielt nicht, und das Karaokesingen hat er inzwischen auch aufgegeben. Das meiste Geld spart er für seinen Sohn. Als Wanderarbeiter kann Zhang ihn nicht auf eine öffentliche Schule in der Stadt schicken, das verhindert das Meldesystem, das die auf dem Land Geborenen benachteiligt. Und Privatunterricht ist teuer. Auch ist das Sozialsystem in China noch immer mangelhaft. Arme Menschen müssen sparen, um sich für die Zeit abzusichern, wenn sie krank oder alt werden. Noch immer gehen weniger als 50 Prozent des Bruttosozialprodukts an die Haushalte. Das heißt, dass in China noch immer viele Menschen leben, die kein Geld zum Ausgeben haben. »In der Theorie ist allen klar, dass die Chinesen mehr konsumieren sollen«, sagt Ökonom Chovanec. »Doch das ist gar nicht so einfach.«

I

Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/china

26 6. Oktober 2011

WIRTSCHAFT

DIE ZEIT No 41

Endlich wieder mehr Genossen

R

Rauf und runter Mitgliederentwicklung bei der IG Metall in Millionen 3,39

2,72 2,62

2,76 2,43

2,22

2,26 2,24

1, 86

19 50 19 61 19 70 19 80 19 90 * 19 92 20 00 20 04 20 09 20 10

1, 29

ZEIT-Grafik/Quelle: IG Metall * Stand: 31.Dezember 1990 inkl. Gesamtberlin; ab 1992 alte und neue Bundesländer

IG-Metall-Mitarbeiter Manuel Schmidt (links) und Repower-Betriebsratschef Rainer Könemann

evolutionen beginnen bei der IG Metall heutzutage mit Würstchen. 70 Stück hat Manuel Schmidt in einem Koffer, als er durch die Eingangstür des Windradherstellers Repower in Bremerhaven tritt. In seinem Auto stehen noch zwei Kisten mit Brötchen. Sie sind zu groß, zu auffällig. Er trägt sich am Empfang in eine Liste ein, »Manuel Schmidt, IG Metall, Ankunft 10.47«, und eilt dann die Treppe zum Betriebsratsbüro hinauf. Schmidt und der Betriebsratsvorsitzende Rainer Könemann haben an diesem Donnerstagmorgen eine kleine Überraschung für die Werksleitung vorbereitet. Nichts Großes. Kein Streik. Keine Trillerpfeifen. Nur ein warmes Mittagessen für die Angestellten. Für einen Streik um höhere Tarifgehälter ist die Belegschaft von Repower in Bremerhaven noch nicht gut genug organisiert. Zudem haben die etwa 150 Mitarbeiter andere Sorgen. Seit Kurzem gibt es kein warmes Mittagessen mehr. Früher hatte es ein Kollege freiwillig organisiert. Ein paar aufgewärmte Gerichte gab es zur Auswahl. Doch seit er eine neue Stelle hat, fehlt ihm die Zeit dazu. Die Geschäftsleitung war bisher nicht bereit, für Ersatz zu sorgen. Deshalb kämpft nun die IG Metall für eine Kantine. Und erscheint es auch banal, so ist auch das einer der Gründe, warum der IG Metall neuerdings gelingt, was viele Experten ihr schon nicht mehr zugetraut hatten: Sie wächst wieder. Im August zählte die Gewerkschaft 4000 Organisierte mehr als ein Jahr zuvor, bis Ende dieses Jahres sollen es 15 000 sein. Rund 2,4 Millionen Mitglieder wird die IG Metall dann haben. »Das ist das erste echte Mitgliederplus seit über 22 Jahren«, sagt IG-MetallChef Berthold Huber. Die Gewerkschaft werde in diesem Jahr voraussichtlich die bisher höchsten Beitragseinnahmen in ihrer Geschichte erzielen. »Wir haben endlich eine Trendwende erreicht«, freut sich Huber über die guten Nachrichten. Seit Jahren leiden praktisch alle Mitgliederorganisationen unter Auszehrung – die Parteien, die Kirchen, die großen Gewerkschaften. Es schien wie ein Naturgesetz. Die Menschen, hieß es oft entschuldigend, wollten sich nicht mehr an eine Organisation binden. Jetzt zeigt sich: Das ist womöglich nur die halbe Wahrheit. Um kurz vor zwölf baut Manuel Schmidt zusammen mit einigen Mitarbeitern von Repower auf dem Parkplatz einen Tisch auf. Daneben stellen sie ein Plakat: »Liebe (durchgestrichen) Arbeit geht durch den Magen«. Als die ersten Arbeiter aus der Frühschicht kommen, begrüßt Schmidt die meisten mit Handschlag, redet kurz mit ihnen und reicht ihnen ein Brötchen mit Wurst.

30 Prozent reden und 70 Prozent zuhören, so lautet die Vorgabe Manuel Schmidt gehört zu einem Team sogenannter Organizer, das die IG Metall neu aufgebaut hat. Die Aufgabe dieser Organizer ist es, Betriebe zu erobern, in denen die Gewerkschaft bisher kaum vertreten ist. Manchmal meldet sich ein Betriebsrat bei der IG Metall, manchmal sucht die Gewerkschaft gezielt Unternehmen, in denen sie Potenzial sieht. Wie in der Wachstumsbranche der erneuerbaren Energien, für die sie zehn Organizer abgestellt hat. Der Begriff Organizing stammt aus den USA, wo Gewerkschaften und lokale Aktivistengruppen schon seit vielen Jahren nach ähnlichen Prinzipien für soziale Verbesserungen kämpfen. Bei der IG Metall wie bei ver.di und anderen deutschen Gewerkschaften beschäftigt man sich seit Langem mit diesen Ideen – die zum Teil nicht weit von dem entfernt sind, was gute traditionelle Gewerkschaftsarbeit ausmacht. Zuerst wird gründlich recherchiert: Wie funktioniert das Geschäft in dem anvisierten Unternehmen, wie sieht die Unternehmensstruktur aus, was lässt sich über die Finanzen herausfinden? Erst danach suchen Organizer wie Manuel Schmidt den Kontakt zur Belegschaft. Sie versuchen, mindestens die Hälfte der Arbeitnehmer zu kontaktieren, möglichst in persönlichen Gesprächen. Oft abends nach der Arbeit, um unauffällig zu bleiben. Dabei geht es nicht unmittelbar um Mitgliederwerbung, sondern darum, zu erfahren, was die Mitarbeiter dieses Betriebes bewegt. Die Vorgabe für die Gespräche lautet: 70 Prozent zuhören, 30 Prozent reden. So fanden die Organizer in Bremerhaven das Kampfziel Kantine. In einem anderen Betrieb der Windkraft-Branche hatten die Mitarbeiter Angst um ihre Gesundheit, weil

sie mit gefährlichen Epoxitharzen umgehen mussten. Und in einem Callcenter stellte sich heraus, dass das größte Ärgernis die schmutzigen Kopfhörer waren, die man beim Schichtwechsel aufgesetzt bekam. »Es geht manchmal um große und manchmal um eher kleine Themen«, sagt IG-Metall-Vizechef Detlef Wetzel. »Doch den Grund, warum Menschen sich bei der IG Metall organisieren, werden wir immer nur bei den Menschen selber finden.« Deshalb sei das Zuhören so wichtig. Aus den kleinen Anliegen entwickeln sich nach Wetzels Erfahrung häufig dann auch größere Ziele. Hätten die Menschen erst einmal gemerkt, dass sie etwas ändern könnten, würden sie bald auch andere Dinge anpacken. Die IG Metall unterstützt sie dabei, nimmt ihnen aber bewusst nicht alles ab. »Eine Grundregel des Organizing lautet: Tue nichts, was das Mitglied selbst tun könnte«, erklärt Wetzel. »Es geht um Emanzipation, nicht um Reklame.«

Kommende Woche kann die Führung auf Wiederwahl hoffen Organizing reicht allerdings nicht aus, damit die Gewerkschaft neuerdings wieder Erfolg hat. Es ist nur einer von vielen Bausteinen in der Strategie der Metaller, es braucht weitere Projekte, um Mitglieder zu gewinnen. So gibt es neuerdings auch IGMetall-Büros an Universitäten. »Die größte Ausbildungsstätte in Deutschland ist heute die Hochschule, nicht mehr die betriebliche Ausbildung«, sagt Wetzel. Deshalb wolle die IG Metall dort präsent sein. In drei Pilotprojekten habe man seit 2007 verschiedene Konzepte ausprobiert. Nun würden im Dezember, spätestens im Januar, an insgesamt 14 deutschen Hochschulstandorten IG-Metall-Büros eröffnet, unter anderem in München, Hamburg, Aachen und Rostock. »Wir wollen Studenten auf ihrem Weg in den Beruf von Anfang an unterstützen«, erklärt Detlef Wetzel. »Zum Beispiel, wenn sie rund um ein Praktikum oder als Werksstudent in der Industrie Fragen haben.« Ein anderes Projekt läuft schon seit Jahren mit großem Erfolg: eine Kampagne für »Besser-Vereinbarungen« zugunsten von Leiharbeitern. Die IG Metall fordert nicht nur vom Gesetzgeber strengere Regelungen für die Zeitarbeit – in 1200 Betrieben hat sie selbst Verbesserungen für Leiharbeiter erkämpft, oft sogar »Equal Pay«, die gleiche Bezahlung wie bei den Festangestellten. Inzwischen gehören der IG Metall nach eigenen Angaben 35 000 Leiharbeiter an. »Wir sind praktisch die Leiharbeiter-Gewerkschaft in Deutschland«, sagt Wetzel. Berthold Huber und Detlef Wetzel zielen auf einen Mentalitätswandel innerhalb der Gewerkschaft. Sie haben die Organisation darauf getrimmt, die Entwicklung bei den Mitgliedern zur Priorität zu erheben. Die Mitgliederfrage sei die wichtigste, die politischste Frage für eine Gewerkschaft. Vor vier Jahren stießen sie damit bei vielen innerhalb der IG Metall noch auf Kritik: Sie wollten eine unpolitische Gewerkschaft, wurde ihnen vorgeworfen, eine Art Pannendienst für Arbeitnehmerfragen. Doch inzwischen herrsche Konsens, sagen sie: »Das schönste Flugblatt, das tollste Buch nützt nichts«, formuliert es Wetzel, »wenn wir im Betrieb nicht stark sind.« Um in den Betrieben mehr bewegen zu können, wurde deshalb in den vergangenen Jahren die IG-Metall-Zentrale verkleinert – aus 550 Stellen wurden 430. Das dadurch gesparte Geld, etwa 20 Millionen Euro pro Jahr, soll vollständig den 163 örtlichen Verwaltungsstellen zugutekommen. Nächste Woche geht es auf einem Gewerkschaftskongress um die großen Leitlinien für die Arbeit der IG Metall in den kommenden vier Jahren – und um Wahlen für die Spitze. Der Vorstand soll künftig statt sieben nur noch fünf geschäftsführende Mitglieder zählen. Huber und Wetzel dürften dabei mit großer Mehrheit wiedergewählt werden. Es gibt Spekulationen, dass der 61-jährige Huber die volle Amtszeit von vier Jahren nicht ausschöpfen werde. Als sein natürlicher Nachfolger gilt in diesem Fall Vizechef Detlef Wetzel, der bereits seit 2007 geschäftsführendes Vorstandsmitglied ist. Er ist zwar nur drei Jahre jünger als Berthold Huber, hat aber eine ausgezeichnete Bilanz vorzuweisen: Schon früher, als er noch eine kleine Verwaltungsstelle in NordrheinWestfalen leitete, war Wetzel der Einzige von 46 Bevollmächtigten im Bezirk, bei dem die Zahl der Mitglieder wuchs. Heute dürften auch manche außerhalb der IG Metall neidisch auf seinen Erfolg gucken.

Foto: Nikolai Wolff/Fotoetage für DIE ZEIT

Warmes Essen für Arbeiter, Beratung für Studenten: Mit unorthodoxen Methoden wirbt die IG Metall um neue Anhänger – und hat Erfolg VON KOLJA RUDZIO UND JULIAN TRAUTHIG

WIRTSCHAFT

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enn Manager in die Zukunft blicken wollen, müssen sie manchmal tief in die Vergangenheit eintauchen. So wie Bodo Hombach, einer der beiden Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe. Er sollte vor einiger Zeit eine Kiste mit persönlichen Aufzeichnungen von Erich Brost durchsehen, der das Essener Verlagshaus gemeinsam mit einem Partner kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet hatte. Hombach folgte dabei einer Bitte der Witwe Anneliese Brost. Erich Brost starb bereits 1995, im September vor einem Jahr dann auch seine Frau. Eine Ära war zu Ende, wenn man so will: das 20. Jahrhundert in der WAZ-Gruppe. Seither bewegen sich Dinge, die vorher unverrückbar schienen, und nun könnte tatsächlich die Brost-Hälfte am zweitgrößten deutschen Pressehaus den Besitzer wechseln. Die Enkel wollen aussteigen. Bis zum vergangenen Freitag sah es so aus, als würde ein altes Vorkaufsrecht greifen. Unter den Eigentümern der anderen Verlagshälfte, den Nachkommen des Mitgründers Jakob Funke, gibt es eine Familie, die zukaufen will: Petra und Günther Grotkamp. Sie haben den Brost-Erben ein Angebot unterbreitet und den Testamentsvollstrecker gebeten, die Sache zu prüfen. 470 Millionen Euro wollen sie zahlen, um Mehrheitsgesellschafter zu werden. Doch dann entstand vor dem Wochenende helle Aufregung. Mathias Döpfner, der Vorstandschef des Axel Springer Verlags (Bild, Welt), hatte einen Brief geschickt, konkrete Summen genannt und angefragt, ob er den Essener Verlag nicht ganz oder zumindest in Teilen kaufen könne. Er bot auch mehr Geld: 1,4 Milliarden Euro für alles zusammen. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Die Funke-Seite lehnte vehement ab, und auch WAZGeschäftsführer Christian Nienhaus war nicht amüsiert. »Ich habe schon überlegt, ob ich jetzt einen Brief an Friede Springer schreiben soll, ob wir das Hamburger Abendblatt, die Hörzu und die B.Z. kaufen können, weil sie bei Springer damit wenig anfangen können – und so ein Angebot jetzt offenbar Stil des Hauses ist.« Nienhaus weiter: »Ungefragt auf die Vermögenswerte anderer Firmen zu bieten ist eigentlich die Manier von Finanzhaien.« Erstaunlich ruhig blieb es in der übrigen Medienszene. Dass hier der größte Zeitungsverlag den zweitgrößten übernehmen wollte, regte irgendwie keinen auf. Dabei hätte die Übernahme, käme es dazu, historische Dimensionen. Springer Verlag und WAZGruppe (Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Neue Ruhr/ Neue Rhein Zeitung, Westfalenpost) bildeten über Jahrzehnte hinweg natürliche Antipoden: hier die stramm Konservativen aus Berlin, dort die nach britischem

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Vorbild nüchternen Berichterstatter aus dem Ruhrgebiet, hier die Welt-Deuter, dort die bodenständigen Regionaljournalisten. Die Springer-Presse pflegte ihre Nähe zur CDU, die anderen fühlten sich in der sozialdemokratischen Hochburg an der Ruhr zu Hause. Aber, das war im 20. Jahrhundert. Heute sind die ideologischen Gegensätze abgeschliffen, und vor allem das Kartellrecht würde gegen eine Übernahme stehen. Döpfner erwähnt es selbst. Dabei hätte Springer den Zeitungsmachern aus Essen unternehmerisch einiges zu bieten. Wie kein zweiter deutscher Verlag hat das Unternehmen den pressenahen Onlinemarkt erschlossen. Zu Springer gehört unter anderem Immonet, ein großes Onlineportal für Wohnungsanzeigen, die Jobbörse Stepstone, ein Preisvergleichsportal (Idealo) und eine

Günther Grotkamp war von 1975 bis 2000 WAZ-Chef

Petra Grotkamp, Tochter des Gründers Jakob Funke

junge Firma namens Kaufda, die Prospekte großer Einzelhändler übers Handy oder im Internet verbreitet. Die Wachstumsraten sind bemerkenswert. Das sind Geschäfte fürs 21. Jahrhundert. Würde man diese Internetdienste für den größten Ballungsraum der Republik, das Ruhrgebiet, nutzbar machen und eigens regionalisieren sowie eng an das Zeitungsgeschäft der WAZ-Gruppe anbinden, könnte darin großes Wachstumspotenzial stecken. Aber so weit, dass alle Eigentümer Gefallen an dieser Idee finden, wird es wohl nicht kommen. Döpfner schrieb zwar, es sei nicht sein »Interesse, irgendein Störfeuer für die laufende Transaktion zu entfachen«. Aber wie Spiegel Online richtig schrieb: »Es ist klar, dass er den zügigen Verkauf der BrostAnteile an Petra Grotkamp nun empfindlich behindert.« Der Testamentsvollstrecker muss, allein um sorgfältig zu sein, dieses Angebot prüfen. Eines ist sicher. Geschäftlich würden sich WAZGruppe und Springer gut ergänzen. Der Verlag aus dem Ruhrgebiet besitzt eine dominante Stellung im österreichischen Zeitungsmarkt, und in Deutschland gehören ihm auch noch die Braunschweiger Zeitung und die Thüringer Allgemeine, dazu gibt das Haus viele Zeitschriften (Gong, Echo der Frau) und

Anzeigenblätter heraus. Nicht zu vergessen: die Anteile an mehr als einem Dutzend Radiostationen. Aber da ist noch eine, inzwischen fast vergessene Begebenheit, die dem Business-Brief von Mathias Döpfner eine sehr emotionale Note verleiht. Vor fast zehn Jahren war es nämlich genau umgekehrt. Da reiste der inzwischen verstorbene Adoptivsohn von Erich Brost, Erich Schumann, nach Berlin, weil er sich im großen Stil am Springer-Konzern beteiligen wollte. Er fuhr in den 19. Stock der Berliner Verlagszentrale und besuchte dort die Erbin Friede Springer, die damals noch nicht über eine komfortable Aktienmehrheit verfügte. Friede Springer erinnert sich gegenüber ihrer Biografin Inge Kloepfer an den Besuch. Schumann habe zunächst ausschweifend über das Golfspielen, seinen Hund und einen Besuch in Israel gesprochen, bis er sich zu seinem eigentlichen Anliegen bekannte: Wunderbar wäre es, wenn sich der Springer Verlag und die WAZ-Gruppe zusammentäten, soll er gesagt haben. Friede Springers Antwort lautete: »Herr Schumann, ich möchte das aber nicht. Wir passen nicht so recht zusammen. Die Häuser haben unterschiedliche Philosophien.« Als Schumann insistierte, sagte sie ihm zum Abschied: »Ich möchte und muss das hier im Verlag alleine machen.« Dann, so steht es in der Biografie, habe Friede Springer den ungebetenen Gast nach unten bis zum Parkplatz begleitet und gewartet, bis er abgefahren war. Der Besuch stärkte ihren Willen, weitere Aktien an ihrem eigenen Verlag zu erwerben. Die Gelegenheit dazu bekam sie, als ein damaliger Springer-Großaktionär, der Filmhändler Leo Kirch, zahlungsunfähig wurde, sein Aktienpaket der Deutschen Bank zufiel und die Bank einen Teil davon an Friede Springer verkaufte. Damals half, dass eine der Eigentümerinnen der WAZ-Gruppe meinte, gegen den Willen von Friede Springer sollten die beiden Unternehmen nicht zusammengehen. Friede Springer ließ der Frau ausrichten, sie danke ihr »und hoffe, sie bleibt dabei«. Und so geschah es. Die einfühlsame Frau war Petra Grotkamp, der das Angebot des Springer Verlags heute so ungelegen kommt. www.zeit.de/audio

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Nach »Manier von Finanzhaien« Warum Springer für die WAZ bietet

VON GÖTZ HAMANN

Fotos [M.]: Theo Heimann/ ddp images/dapd (r.); BABIRAD PICTURE (2)

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ls die Finanzminister der EuroZone am Montag dieser Woche in Luxemburg zusammenkamen, um über ein neues Hilfspaket für Griechenland zu beraten, traf sich zeitgleich das Direktorium des belgisch-französischen Finanzkonzerns Dexia in Brüssel zu einer eilig einberufenen Krisensitzung. Dexia hält jede Menge südeuropäische Staatsanleihen – und deshalb haben die Investoren dem Kreditriesen den Geldhahn zugedreht. Nun muss der Staat einspringen. Die Minister verfolgten das Leiden des Konzerns mit höchster Aufmerksamkeit. Nach Monaten des Zauderns bahnt sich ein Kurswechsel im Umgang mit der europäischen Schuldenkrise an. Noch ist nichts entschieden, doch die Konturen eines neuen Plans zeichnen sich bereits ab – und die Turbulenzen bei Dexia lassen erahnen, wie riskant und politisch heikel er ist. In den Hauptstädten des Währungsraums glaubt inzwischen kaum mehr jemand daran, dass Griechenland seine Schuldenlast allein tragen kann. Um die Griechen zu entlasten, könnten die finanzstarken Staaten Europas der Regierung in Athen einen Teil der Schulden abnehmen, doch das gilt als politisch nicht durchsetzbar. Daher sollen nun die privaten Gläubiger des Landes, also Banken, Versicherungen, herangezogen werden – und zwar über jene 21 Prozent Forderungsverzicht hinaus, die auf dem letzten EU-Gipfel im Juli vereinbart wurden. Eine der Varianten, die derzeit in der EU diskutiert werden: Griechenland erhält im November noch eine Tranche der zugesagten Kredite, danach kommt es zu einem Schuldenschnitt, bei dem die Besitzer von griechischen Staatsanleihen die Hälfte ihrer Forderungen abschreiben müssten. Dadurch würde die Schuldenlast Griechenlands sinken. Das Problem: Der Zahlungsausfall würde neue Löcher in die Bilanzen der Banken reißen, die der Staat stopfen müsste – nicht nur bei Dexia. Nach Berechnungen der EU-Kommission brauchten allein die griechischen Banken rund 20 Milliarden Euro, wenn sie die im Juli vereinbarten 21 Prozent abschreiben müssten. Je tiefer der Schnitt, desto höher die Summe. Dabei fehlt Griechenland schon jetzt das Geld, um seinen Finanzsektor selbst zu sanieren. Dazu kommt, dass viele Investoren als Folge eines schärferen Schuldenschnitts ihr Kapital wohl auch aus anderen Krisenstaaten abziehen dürften, weil sie fürchten, auch dort auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten zu müssen. Die Folge wären noch mehr Länder mit Zah-

EURO IN DER KRISE

lungsproblemen und noch mehr Lasten für die Banken. Deshalb arbeiten die Fachleute in den Finanzministerien daran, einen Abwehrwall zu errichten. Er soll die Banken rekapitalisieren und den Rest des Währungsraums vor Turbulenzen bewahren. Im Zentrum der Verteidigungsstrategie steht der neue Rettungsfonds EFSF, für den Europas Steuerzahler geradestehen. Er kann indes nur über 440 Milliarden Euro verfügen, was nicht ausreichen würde, um das ebenfalls gefährdete Italien abzuschirmen. Von den 6500 Milliarden Euro an ausstehenden Staatsschulden im Euro-Währungsraum gilt nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) »fast die Hälfte« an den Finanzmärkten als toxisch. Mehr Geld muss also her, doch die Bundesregierung, die schon die jetzt vereinbarten 440 Milliarden Euro nur mit Mühe durch das Parlament bringen konnte, hat eine Aufstockung ausgeschlossen. In der EU konzentrieren sich die Überlegungen nun darauf, das Volumen durch Finanztricks zu vergrößern. So könnte der Fonds beispielsweise nur für 20 Prozent statt für die vollen 100 Prozent der Anleihen eines Krisenstaats garantieren. Die Anleihen würden also gedanklich zerstückelt. Im Fall eines Zahlungsausfalls übernähme der EFSF die ersten 20 Prozent des Verlusts, erst dann würden die privaten Anleihekäufer zur Kasse gebeten. Mit einem Einsatz von 440 Milliarden Euro könnten also effektiv 2000 Milliarden an Anleihevolumen bewegt werden. Ergebnis der Aktion wäre eine Art Teilkaskoversicherung, die die Investoren dazu bringen soll, ihr Geld wieder in Europa anzulegen. Allerdings würde zugleich das Risiko steigen, dass die Steuerzahler ihr Geld nicht wiedersehen – denn statt kompletter Anleihen würde der EFSF nur die verlustgefährdeten Tranchen der Papiere halten. Möglicherweise müsste der Bundestag einem derart aufgepeppten Fonds noch einmal zustimmen – mit ungewissem Ausgang. Frankreich, so eine Studie der Schweizer Großbank Credit Suisse, könnte wegen der steigenden Risiken sogar seine Topbonitätsnote verlieren. Immer mehr Investoren zweifeln deshalb daran, dass es kurzfristig zu einem solchen Umbau kommt.

Der letzte Verteidigungswall Noch einmal soll Europa vor einer Staatspleite Griechenlands geschützt werden. Die Kosten steigen VON MARK SCHIERITZ

Illustration: Jochen Schievink für DIE ZEIT/www.jochenworld.de

WIRTSCHAFT Dafür droht schon bald neues Ungemach. Spätestens 2013 soll der permanente Rettungsfonds ESM den EFSF ablösen, und dann gelten erheblich strengere Regeln. Kommt es zu einer Staatspleite, müssen die Hilfskredite des ESM vorrangig bedient werden. Das soll sicherstellen, dass die Steuerzahler zuerst ihr Geld zurückbekommen. Der Nachteil: Die privaten Anleger müssen verzichten, und das schreckt viele von längerfristigen Engagements in Europa ab – zumal Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) die Vorschriften noch einmal verschärfen will. So bliebe, wie schon so häufig in dieser Krise, die Europäische Zentralbank (EZB) als letzte Instanz. Die Notenbank verfügt über praktisch unbegrenzte Ressourcen, auf die sie jederzeit zugreifen kann, weil sie das Geld selbst schafft. Doch die Notenbanker sehen sich für derart weit reichende Maßnahmen nicht legitimiert und fürchten um ihr Ansehen in Deutschland. Schon für die vergleichsweise moderaten Anleihekäufe der vergangenen Monate wurden die Währungshüter in der deutschen Öffentlichkeit heftig kritisiert. Und es gibt ein weiteres Problem. Wenn die griechischen Banken frisches Geld benötigen, leihen sie sich dieses bei der EZB, denn nur die Frankfurter Notenbank darf neue Banknoten in Umlauf bringen. Sie verlangt bei ihren Geldleihegeschäften aber Sicherheiten als Pfand. Die griechischen Banken haben bislang vor allem griechische Staatsanleihen eingereicht, weil sie viele dieser Papiere besitzen. Die Regeln der Notenbank verbieten es ihr aber, die Anleihen von Pleitestaaten als Sicherheit zu akzeptieren. Wenn sich die Zentralbank streng daran hält, wäre Griechenland im Fall einer Umschuldung von einen Tag auf den anderen von der Geldversorgung abgeschnitten und müsste den Währungsraum verlassen – was die EU bislang um jeden Preis verhindern will, weil sie fürchtet, dass das die Euro-Zone sprengen würde. Deshalb müssten die übrigen Mitgliedsstaaten vorübergehend für die griechischen Anleihen bürgen, damit sie weiter als Pfand bei der Notenbank eingereicht werden können. Die Kosten dafür beziffern Insider auf zusätzlich rund 35 Milliarden Euro.

EURO IN DER KRISE

WIRTSCHAFT

Foto (Ausschnitt): Riccardo De Luca/AP/ddp images

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s ist vermutlich die letzte wichtige Personalentscheidung, die die sieche Regierung Berlusconi zu treffen hat: Für den italienischen Notenbankchef Mario Draghi muss ein Nachfolger gefunden sein, denn Draghi tritt am 1. November sein neues Amt als Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt an. Das Prozedere ist klar. Die Notenbank hat ein Vorschlagsrecht, der Premier ernennt den Gouverneur für eine Amtszeit von sechs Jahren, der Staatspräsident unterzeichnet. Ginge es nach der Banca d’Italia, wäre der Chefposten längst besetzt mit Draghis Stellvertreter Fabrizio Saccomanni. Gegen den Römer, einen Intellektuellen, der klassische Musik liebt und Gedichte schreibt, spräche höchstens sein Alter, immerhin zählt Saccomanni fast 70 Jahre. Berlusconi, der fünf Jahre älter ist, stört das nicht, er unterstützt die Kandidatur des erfahrenen Notenbankers, der bereits 1967 sein Büro an der römischen Via Nazionale hatte und auch beim Internationalen Währungsfonds gearbeitet hat. Die traditionelle Unabhängigkeit der Notenbank zu wahren dürfte in Berlusconis Kalkül die geringste Rolle spielen. Ihm geht es eher darum, sich über Saccomanni den kurzen Draht zu Draghi und damit zur EZB zu sichern. Berlusconi will sich mit der Besetzung des Chefpostens in der Notenbank keinen Fauxpas erlauben. Er ist politisch zu schwach, um einen eigenen Kandidaten durchzusetzen – wenn er einen hätte. Seit Wochen hangelt sich Berlusconi im Parlament von einer Vertrauensfrage zur nächsten, ob es um das Spargesetz geht oder um die Ablehnung des Haftantrags für seinen unter Mafia-Verdacht stehenden Landwirtschaftsminister. Täglich wird es enger für Berlusconi, weder er noch seine Verbündeten können ernsthaft damit rechnen, sich bis zum Ende der Legislaturperiode 2013 halten zu können. Die Banca d’Italia gegen sich aufzubringen, kann sich Berlusconi nicht leisten. Mario Draghi war einer der hartnäckigsten Kritiker seiner Politik, eine Zeit lang musste Berlusconi ihn sogar als möglichen Herausforderer fürchten. Saccomanni ist am Ende seiner Karriere, von ihm ist so etwas nicht zu erwarten. Und doch hat Berlusconi seine Rechnung ohne seinen schärfsten Konkurrenten in der Regierung gemacht – den ehrgeizigen Finanzminister Giulio Tremonti: Dieser schickte überraschend seinen Ministerialdirektor Vittorio Grilli, 54, ins Rennen um den Chefposten bei der Notenbank. Er sei der richtige Mann, um sich »den Euro-Bürokraten entgegenzustemmen«, ganz anders als der »deutsche Agent« Mario Draghi. Von der Banca d’Italia wurde Grillis Kandidatur mit eisigem Schweigen begrüßt, Reformminister Umberto Bossi von der Lega Nord hingegen jubelte.

Ministerpräsident Silvio Berlusconi und Finanzminister Giulio Tremonti (links)

»Politiker, es reicht!« Neuer Zank im italienischen Kabinett: Silvio Berlusconi und sein Finanzminister streiten über die Führung der Notenbank VON BIRGIT SCHÖNAU

Er sei für Grilli. »Der Mann stammt wenigstens aus Mailand.« Wie um zu sagen: Notenbank oder Regierung, Hauptsache, aus Norditalien. Nach seinem Wahlsieg 2008 hatte Bossi getönt: »Und jetzt will die Lega eine Bank.« Gemeint war die Kontrolle über die mächtigen Sparkassenstiftungen im reichen Norditalien. Lega-Gefolgsmänner sollen auch beim Sturz des Unicredit-Chefs Alessandro Profumo vor einem Jahr nachgeholfen haben. Damals sagte Profumo: »Es gibt in Italien Kräfte, die ihre Manager abrichten wollen, als seien es Jagdhunde.« Inzwischen zieht es ihn in die Politik. Mit Bossi kann Tremonti gut, mit Berlusconi ist er sich spinnefeind. Berlusconi würde sich liebend gern eines Finanzministers entledigen, der ihn zwingt, die Steuern zu erhöhen. Er argwöhnt, Tremonti arbeite hinter seinem Rücken schon an der nächsten Regierung. An einem Übergangskabinett aus Technikern oder, noch schlimmer, einer neuen Koalition. Beides natürlich ohne Berlusconi. Dabei wurde Tremonti lange Zeit auch im Mitte-rechts-Lager als dessen Kronprinz gehandelt. Der 64-jährige Jurist hatte sich als Finanzminister ein gewisses Ansehen erworben, im Inland wie im Ausland galt Tremonti als eines der wenigen vorzeigbaren Mitglieder des Kabinetts Berlusconi. In diesem Sommer wäre er allerdings fast über eine peinliche Affäre gestolpert. Ein Mitarbeiter Tremontis geriet unter Bestechungsverdacht, am Rande der Ermittlungen kam heraus, dass der Mann in seiner Wohnung einen Untermieter hatte: den Minister. Dass Tremonti im Amt blieb, verdankt er Draghi und Jean-Claude Trichet, dem noch amtierenden Präsidenten der EZB. Der Druck aus Frankfurt hinderte Berlusconi daran, den ungeliebten Finanzminister fallen zu lassen. Unübersehbar wurden die Spannungen zwischen Premier und Minister bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des italienischen Sparpakets. Berlusconi fiel Tremonti mehrmals ins Wort (»Die EZB nicht vergessen!«), der Finanzminister ignorierte ihn eisig. Fortan arbeiteten Premier und Minister stoisch aneinander vorbei. Das Ergebnis: Chaos. Noch in der vergangenen Woche behauptete Tremonti beharrlich, die immense Staatsverschuldung von 1,9 Billionen Euro könnte sich in Luft auflösen, wenn der Staat nur seine Liegenschaften und die Anteile an mehr als 13 000 Unternehmen verkaufe. Tremonti hatte zu seinem Vortrag über die »große Reform zur Überwindung der Schuldenkrise« 150 Interessenten eingeladen, Bankiers und Fondsmanager, Bürgermeister und Staatsdiener. Berlusconi war nicht dabei. Der Ausverkauf von Staatseigentum mitten in der Schuldenkrise ist eine Milchmädchenrechnung. Seit fast 20 Jahren wird diese Rechnung in Krisenzeiten

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immer wieder aufgestellt – passiert ist bislang nichts. Ob Strände, Kasernen oder Monumente, nie fanden sich Investoren. Nur der Luxusunternehmer Diego Della Valle machte 25 Millionen Euro für die Renovierung des Kolosseums in Rom locker – freiwillig. Am Samstag schaltete Della Valle ganzseitige »basta«Anzeigen in den großen Zeitungen. »Politiker, es reicht«, heißt es darin. »Euer Handeln aus purem Eigeninteresse bringt uns an den Abgrund und beschädigt Italiens Ansehen in der Welt.« Auch Tremonti durfte sich angesprochen fühlen, wie bereits von dem Ultimatum, das der Unternehmerverband Confindustria der Regierung gestellt hatte. Allzu lange hatten die Industriellen übersehen, dass der bis zur Schroffheit steife Tremonti nie durch Ideenreichtum oder Weitsicht glänzte, sondern eher wie der Kassenwart eines Kleingärtnervereins versuchte, die Ausgaben beim nächsten Klubfest in engen Grenzen zu halten. Tremonti fehlt es an jener Weltläufigkeit, die die angesehensten italienischen Ökonomen auszeich-

net, seien es Draghi, Carlo Azeglio Ciampi, der kürzlich verstorbene Tommaso Padoa-Schioppa, die frühere EZB-Forschungsdirektorin Lucrezia Reichlin oder das Noch-EZB-Direktoriumsmitglied Lorenzo Bini Smaghi. Letzterer galt als Vertrauter des Finanzministers, doch beim Kampf um die Banca d’Italia mochte Tremonti nicht auf ihn setzen: zu unabhängig. Und Unabhängigkeit ist der nach Vasallenposten gierenden Politik ein Dorn im Auge. Berlusconi will Saccomanni, um seine Ruhe zu haben. Tremonti will Grilli, um zu kontrollieren, was nicht zu kontrollieren ist: die Notenbank, die Bankenaufsicht und Berlusconi.

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Fotos (v.l.): Dieter Roeseler/laif; B. Freisen/absolut pictures; STAR-MEDIA (kl.)

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WIRTSCHAFT

Noch zu retten?

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ie Rettung Griechenlands beginnt im Keller der Sarantoporou-Straße 14. Dort liegt in einem fensterlosen, stickigen Raum eine alte Autokarosserie, daneben steht ein Tisch mit Werkzeug, davor ragt ein Roboterarm vom zerkratzten Marmorfußboden in den Raum, versehen mit merkwürdigen Armaturen. »Das«, sagt Costas Voliotis und zeigt auf das Ende des Arms, »das ist das Modernste, was es auf der Welt gibt. Ein Roboter mit Augen.« Voliotis hat ungekämmtes Haar, trägt eine alte Jeans und ein verwaschenes schwarzes T-Shirt. Doch er ist nicht nur ein verrückter Technik-Freak mit eigenem Hobbykeller. Das wird wenig später, oben in seinem Büro, im dritten Stock der Inos GmbH, offenbar. Der Ingenieur blickt kurz auf den Bildschirm seines Computers, klickt die Internetkonferenz mit den Kollegen in Deutschland und den USA weg und startet einen Film: Da sind die Roboterarme wieder, diesmal in einer Detroiter Fabrik, installiert neben einem Fließband. Auf dem werden neue Autokarossen transportiert, die Arme bewegen sich an dem Blech entlang, die Roboteraugen sehen dabei jeden Spalt und geben das an einen Computer weiter. Eine ganz neue Prüftechnik haben die Griechen damit entwickelt, und sie spart dem Autohersteller viel Zeit und damit Geld. Für den Ingenieur beweist sie: »Wir können etwas«, sagt er, schweigt eine Weile und setzt abschwächend hinzu: »Verkauft wird das aber über Deutschland. Uns würde das wahrscheinlich niemand zutrauen.« Voliotis kennt die täglichen griechischen Horrormeldungen: Erst Anfang der Woche musste die Regierung die Größe der Löcher im Haushalt wieder einmal nach oben korrigieren. Erneut hat die EU die Entscheidung über neue Kredite aufgeschoben. Zahlt sie nicht, ist das Land bald pleite. Unaufhaltsam scheint der Staatsbankrott näher zu rücken. Immer lauter werden die Spekulationen über einen Ausstieg des Landes aus dem Euro. So desolat ist die Lage inzwischen, dass sogar ein kompletter Neuanfang nicht mehr utopisch scheint. Erinnerungen an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg

Dimitris Vergados kann darüber nur melanchowerden wach – und an eine alte Idee. Ist den Griechen vielleicht nur noch durch einen Marshallplan lisch lächeln. Was Rösler tue, sei ja nicht falsch, sagt zu helfen? Die Wirtschaft des Landes würde damit der Finanzexperte vom SEV, dem griechischen Undurch ein vom Ausland kontrolliertes und finan- ternehmerverband, und er sagt es in tadellosem ziertes Programm wieder aufgebaut werden. Wir Oxfordenglisch. Aber dann setzt er mit einer Frage retten Griechenland, indem wir statt der Haushalts- nach: »Würden Sie danach Ihr Geld in Griechenlöcher viele kleine Inos GmbHs finanzieren. Und land investieren?« Er lehnt sich in seinem schweren Lederstuhl zurück und bricht schließlich das bereddamit den Aufschwung. Warum eigentlich nicht? Zumindest Wirtschaftsminister Philipp Rösler te Schweigen. Natürlich brauche die griechische findet die Idee so plausibel, dass er an diesem Don- Industrie Investitionen aus dem Ausland. Aber dass nerstag zu seiner ganz persönlichen Marshall-Ret- bei Rösler keine großen Unternehmen mitreisten, tungsreise nach Athen aufbrechen wird, mit 50 zeige doch die wahre Lage. Solange nicht klar sei, Unternehmern und jeder Menge Journalisten. ob die Euro-Zone auseinanderfalle, solange täglich Schon vor Wochen hatte der Minister immer mal über die Pleite seines Landes spekuliert werde und die Märkte nicht glaubten, dass wieder mit dem großen M-Wort dessen Schuldenproblem wirklich gespielt. Allerdings nutzte das der gelöst sei, werde auch die Krise griechischen Wirtschaft wenig, im nicht aufhören. Griechenland helGegenteil. Denn zwischendrin fen? Für Vergados heißt das: Europa dachte der Minister ebenso gern muss erst einmal die gemeinsame und ebenso öffentlich über den Zukunft der Währungszone überSinn einer Insolvenz von Eurozeugend erklären. Mitgliedsländern nach. Prompt Gleichgültig, mit wem man in kriselten die Börsen, und prompt diesen Tagen in Athen redet, dieses wurden die Kreditkonditionen für Wirtschaftsminister Argument hört man immer wieder. griechische Unternehmer noch Rösler will sich in Athen Bei so viel Unsicherheit investiere schlechter. Wer investiert schon in persönlich informieren niemand, also schrumpfe die Wirteinem insolventen Land? Nichts schaft weiter, also nehme der Staat hätten die generellen Überlegungen des Ministers über die Zahlungsunfähigkeit noch weniger ein, also stiegen die Schulden noch von Euro-Ländern mit dem speziellen Fall Grie- weiter an. Was wiederum die Wahrscheinlichkeit chenland zu tun, heißt es seither stereotyp im Mi- eines Bankrotts erhöhe. Kurz: Die Lage sei einfach trostlos. Ein junger Grieche, einer der vielen, die nisterium. Ach, nein? Jetzt jedenfalls will der Minister zur Abwechs- sich im Café stundenlang an einer Tasse Mokka lung kurz mal mit guten Nachrichten aus Athen festhalten und dabei über den Umzug ins Ausland helfen. Auf seiner 24-stündigen Stippvisite wird er nachdenken, sagt: »Der Letzte macht das Licht den mitreisenden Mittelständlern aus der Solar- aus!« »Und dann?« Martin Knapp wird wütend, branche, dem Maschinenbau und der Nahrungsmittelindustrie raten, ihr Geld dort zu investieren. wenn er solche Schwarzmalerei hört. »Alle warten Er wird den Coralia Hightech-Park besuchen, der nur noch auf die Katastrophe. Dabei wird GrieRegierung technische Hilfe für die Modernisierung chenland doch nicht im Meer versinken, es wird des Staatsapparates versprechen und Unterstützung immer Teil Europas bleiben«, sagt der Chef der beim Aufbau einer Förderbank wie der deutschen deutsch-griechischen Handelskammer und zeigt KfW zusichern. Und dann wird er wieder abreisen. wie zum Beweis auf die Akropolis. Hier vom Dach des Hilton kann man sie auch nachts gut sehen, sie Marshall im Eilverfahren, sozusagen.

strahlt hell erleuchtet vor dem dunklen Himmel. Den ganzen Tag lang hat Knapp in der Tagungshalle dieses Hotels versucht, die düstere Stimmung zu vertreiben. Es sei zwar nicht egal, was mit Griechenland passiere, ob es zur Insolvenz oder zum Schuldenschnitt komme. Aber es gebe immer »einen Tag danach«. Und auch an dem würden weiter Geschäfte gemacht werden. Deswegen solle man ruhig schon jetzt über die nötigen Investitionen nachdenken, hat er Unternehmern gesagt und es auch so gemeint. Denn man müsse klar unterscheiden zwischen dem, was sich im Moment an den Finanzmärkten und bei den Staatsfinanzen abspiele, und der realen Wirtschaft. Knapp hat Geschichte studiert, er denkt in langen Zeitspannen und er lebt schon seit Jahren in der Region. Schon vor langer Zeit hat er sich in das Land und in eine Griechin verliebt. Blauäugig ist er trotzdem nicht. Er weiß natürlich, dass die Griechen weit über ihre Verhältnisse gelebt haben und deswegen nun massiv sparen müssen: Auch in diesem Jahr wird das Loch im Haushalt mit 8,5 Prozent des Sozialproduktes weit höher liegen, als den Kreditgebern im Rest Europas versprochen wurde. Die Regierung wird also weiter die Steuern erhöhen und die Ausgaben kürzen müssen. Und doch wird das allein eben nicht reichen. Nur wenn in der Wirtschaft zusätzliches Einkommen, neue Unternehmen und Jobs entstünden und schließlich auch Steuern flössen, hätte das Land dauerhaft eine Chance, aus der Misere heraus zu kommen. Genau da sieht Knapp aber gar nicht so schwarz. »Es ist im Grunde alles da, um aus Griechenland ein wirtschaftlich erfolgreiches Land zu machen«, sagt er und zählt dann auf: Es gäbe viele gut ausgebildete Menschen. Das Land gehöre kulturell zu Europa und ökonomisch zum Binnenmarkt, habe traditionell gute Kontakte in den Balkan. Und es existierten eine Reihe von Branchen, in denen sich das Investieren langfristig durchaus lohne. Eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey kommt in diesen Tagen zu einem ähnlich positiven Urteil. Überraschend klar bescheinigen die Berater, dass in den kommenden zehn Jah-

ren 520 000 neue Jobs entstehen, die Schlüsselbranchen jährlich um drei Prozent wachsen könnten. Bisher hätte Griechenland zu viel konsumiert und zu wenig investiert. 97 Prozent des Inlandsproduktes sei durch den Konsum entstanden, in Kontinentaleuropa läge diese Rate gerade mal bei 71 Prozent. Künftig gehe es also darum, mehr zu produzieren. Dabei nennt die Studie explizit die Landwirtschaft: Ähnlich wie Italien könnte auch Griechenland mehr anbauen und seine Produkte viel besser und teurer vermarkten. Auch im Tourismus könnten neue Jobs entstehen, wenn Angebote für Luxus- und Gesundheitsreisende ausgebaut würden. Die Energiebranche könnte modernisiert werden ebenso wie die Bauindustrie. Die Regierung hört solchen Vorschlägen inzwischen mit Interesse zu, schon aus Verzweiflung. »Es ist klar, dass wir nicht nur durch Sparen aus der Krise kommen. Wir müssen wachsen, und dabei spielt mein Aufgabenfeld eine wichtige Rolle: Ich bin unter anderem für Energiefragen und für die Abfallentsorgung zuständig«, sagt Minister Giorgos Papakonstantinou und verspricht, dass künftig viele Projekte schneller und leichter genehmigt werden sollen. Er tourt selbst quer durch Europa, um für das neue Griechenland zu werben. Unter dem Namen Helios will er künftig in großem Stil griechische Solarenergie in andere EU-Länder exportieren. Langfristig hofft er dabei auf bis zu 20 Milliarden ausländische Investitionen (siehe auch Seite 39). Auch in der Abfallentsorgung und der Kältedämmung sieht er große Chancen. Nun gilt für Unternehmensberatungen genauso wie für Minister: Visionen lassen sich leicht formulieren. Viel interessanter ist die Reaktion auf die Frage: Warum hat das bisher niemand versucht? »Wegen der Bürokratie«, lautet unisono die ebenso simple wie direkte Antwort. »Griechenland ist eine der am stärksten regulierten Ökonomien Europas. Die Wirtschaft leide unter zu vielen Regeln: bei der Landnutzung, bei einzelnen stark regulierten Märkten und beim hochkomplexen Steuer- und Genehmigungssystem, wie in der McKinsey-Studie nachzulesen ist. Der Umweltminister bietet ein

In dieser Woche reist Wirtschaftsminister Philipp Rösler nach Athen, um der griechischen Wirtschaft zu helfen. Doch was braucht das Land wirklich? Eine Spurensuche VON PETRA PINZLER Beispiel: »Bisher brauchten Sie eine Umweltfol- muss der ermittelnde Kommissar Kostas Charitos genabschätzung, um ein Hotel mitten in der Stadt die Morde an Bankern und Spekulanten aufkläzu bauen. Künftig müssen Sie nur noch ein paar ren. Die wurden geköpft. Sein Land beschreibt Markaris allerdings nicht Kriterien erfüllen, die Sie im Internet finden können. Das sind einfache Dinge, die wir schnell tun als Opfer von bösen Bankern, Eurokraten oder gar können.« Und dann komme die Wirtschaft auch der Deutschen. Er verurteilt vielmehr die eigene wieder in Schwung. Das sagt der Minister zwar Elite und ganz besonders die beiden großen Parnicht ausdrücklich, doch die Hoffnung schwingt teien. Die hätten Griechenland in eine tiefe Krise des politischen Systems gestürzt. Daraus gebe es unausgesprochen mit. Doch ist Griechenlands Rettung wirklich so kein schnelles Entkommen, etwa durch flottes einfach? Ein paar ausländische Investitionen in die Sparen oder ein paar Reformgesetze. »Seit Grierichtigen Projekte, die längst warten, nun aber chenland der EU beigetreten ist, haben alle Pardurch den Abbau von unnützen Regeln endlich teien sich unausgesprochen auf folgenden gemeinstarten können? Als die Amerikaner kurz nach samen Kurs geeinigt: Wir bekommen Geld von der EU, und wir können es verteidem Zweiten Weltkrieg ihren len«, sagt Markaris. Die Politiker Marshallplan umsetzten und 14 hätten den Staat unter sich und Milliarden Dollar (heute wären ihrer Klientel aufgeteilt. Und die das etwa 100 Milliarden) in die anderen hätten in der Hoffnung europäische Wirtschaft pumpten, geschwiegen, dass sie auch mal lag Europa zwar am Boden, verdrankämen: »Griechenland ist ein fügte aber über die Grundlagen zutiefst ungerechtes Land, weil es für den Aufschwung. Es gab also ein zutiefst korruptes ist.« zugleich eine Stunde null und viel Markaris ist ein wütender AuSpielraum. Viele Länder hatten Der griechische Ministerkeine Bürokratie mehr, es gab we- präsident Papandreou ist tor. Er schimpft in leichtem Wiener Schmäh, redet sich in Rage der Regeln, Pfründen noch Besitz- schwer unter Druck und in die Verzweiflung: »Bis sich stände. Und es galt, den Hunger in Griechenland etwas grundlezu bekämpfen und nicht die Verschwendung – der mentale Zustand der Völker gend ändert, wird es wahrscheinlich Jahre dauwar also ein völlig anderer. Damals konnte alles ern – schon wegen der Mentalität der Leute.« nur besser werden. In Griechenland aber wird für Hoffnungslos sei die Lage, hoffnungslos. Hört viele Bürger künftig vieles teurer und erst einmal man Markaris zu, entsteht vor dem geistigen schlechter. Ein heutiger Marshallplan müsste also Auge ein Land, das auf der Suche nach den besnicht nur frisches Geld in die Privatwirtschaft ten politischen Rezepten nicht den sonst üblipumpen. Er müsste vor allem dafür sorgen, dass chen Streit zwischen rechten und linken Parteiein hochgradig ineffizienter Staat umgebaut wird. en ausficht. Sein Griechenland ist ein Land, in dem ein riesiger Staatsapparat das Volk ausgeUnd zwar in Windeseile. Petros Markaris hält das für die wahre Herku- beutet und damit immer mehr gelähmt hat, unlesaufgabe. Der Krimi-Bestsellerautor hat einst in ter dessen aktiver Mitwisserschaft. Bis zum KolWien Ökonomie studiert. Seine Fälle spielen gern laps und sogar danach noch. Selbst in den verschon mal im politökonomischen Sumpf Athens gangenen zwei Jahren, als die Regierung endlich und erzählen mehr über die wirtschaftspolitische mit dem Reformieren anfing, hätte sie die PriviRealität des Landes als jede Studie der EU-Kom- legien der Staatsangestellten bewahrt und lieber mission. In seinem jüngsten Buch Faule Kredite die Steuern angehoben. »Der Mittelstand muss

immer neue Steuern zahlen, zugleich hat man den maroden öffentlichen Sektor weitgehend unangetastet gelassen. Und das soll Politik sein?«, fragt Markaris. Dass die Leute davon langsam die Nase voll hätten und protestierten, sei doch kein Wunder. Athen liegt in diesen Tagen tatsächlich immer wieder lahm. Es fährt kein Bus, keine U-Bahn und nur gelegentlich ein Taxi. Streik folgt auf Streik, so wie in den vergangenen Monaten eine Steuer auf die nächste folgte. Im Moment protestieren vor allem die Staatsangestellten, denn die Regierung hat in den vergangenen Tagen damit begonnen, bei der eigenen Klientel zu kürzen: 768 009 Beamte hat sie im vergangenen Jahr gezählt, eine stattliche Zahl für ein so kleines Land. 30 000 sollen nun gehen, erst in eine Art Kurzarbeit und wenn sie keinen Job finden, in die Arbeitslosigkeit. »Wir operieren am offenen Herzen«, sagt einer der gescholtenen Politiker und setzt hinzu: »Mag sein, dass wir zu lange gewartet haben. Aber Strukturreformen brauchen nun einmal Zeit.« Nur, die hat das Land nicht mehr. Denn die EU und die anderen Kreditgeber wollen nicht alle paar Monate wieder hören, dass die Sparziele verpasst worden sind. Sie wollen Ergebnisse, und zwar bald, schon um vor ihren Bürgern neue Hilfskredite rechtfertigen zu können. Ob man seinem Land von außen helfen könne? Der Krimi-Autor Markaris antwortet auf die vorsichtige Frage mit einer radikalen Klarheit. »Mit dem ersten Marshallplan hat Griechenland nach dem Krieg seine ganze Produktion und sein Kleingewerbe neu aufgebaut. Das ginge heute auch, aber nur, wenn Sie es so machen wie damals die Amerikaner. Die hätten gesagt: »Wir entscheiden.« Das müssten die Europäer jetzt auch tun und sagen: Wir haben das Geld, wir entscheiden, was damit gemacht wird. Siehe auch Seite 39

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Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/finanzkrise

»Die echte Wirtschaft wird erdrückt« Der griechische Wirtschaftsminister Michalis Chrysochoidis über Investitionen und Reformen cher als heute. Außerdem steht unsere Regierung mit der Reformpolitik ganz allein. Die konservatiMichalis Chrysochoidis: Unsere Situation ist ei- ve Opposition behauptet, sie würde die Bedingunnerseits ziemlich hoffnungslos. Denn wir be- gen, zu denen wir Kredite bekommen, neu verschneiden das Einkommen der Menschen immer handeln können. Und die Linken wollen raus aus der EU. Sie sagen, die EU reprädrastischer. Wir haben bereits sentiere den Kapitalismus. Wir mehrmals die Renten gekürzt und sind allein. die Steuern erhöht. Griechen erleben die Gegenwart also als sehr ZEIT: Trotzdem hätten Sie den schmerzhaft. Auf der anderen SeiStaatsapparat und damit die Auste hoffen wir aber, so das Überlegaben stärker reduzieren können – ben des Landes sichern zu können. statt vor allem Steuern zu erhöhen. ZEIT: Bürger streiken massenhaft Chrysochoidis: Was heißt denn gegen Ihre Sparpolitik. Wie lange »Reduzierung des Staatsapparates«? können Sie das noch durchhalten? Das heißt in Wirklichkeit, dass wir unseren Leute sagen: Wir brauChrysochoidis: Als wir zum ersten Griechenlands chen euch nicht mehr. VerschwinMal die Steuern erhöhten, hat fast Wirtschaftsminister det! Wir haben jetzt eine Regel gekeiner demonstriert. Wir haben Michalis Chrysochoidis funden, die viele öffentliche Angeinzwischen unser Haushaltsdefizit stellte in die Kurzarbeit schicken gesenkt, und wir werden es noch weiter senken. Trotzdem liegt es immer noch eher wird. Wir werden die Ausgaben weiter senken. bei neun Prozent statt bei den erwarteten sieben. Unser Hauptproblem ist ein anderes: die UnsiDie Leute fragen sich also zu Recht: Wann sehen cherheit. wir das Licht am Ende des Tunnels? Wir können ZEIT: Welche Unsicherheit? ihnen das nicht sagen. Chrysochoidis: Im Moment vergeht kein Tag, an ZEIT: Warum haben Sie nicht gleich nach der dem nicht irgendwo auf der Welt eine Zeitung schreibt, dass Griechenland bald pleite sein wird. Wahl den Rotstift noch entschlossener angesetzt? Chrysochoidis: Hätten wir gleich zu Anfang noch Jedes Mal gibt es dann hier ein kleines Erdbeben. härter gekürzt, wäre die Nachfrage noch schwä- Jedes Mal ist der soziale und politische Frieden in DIE ZEIT: Herr Minister, wie geht es Griechen-

land?

Gefahr. Die europäischen Regierungen haben im Juli in Brüssel gemeinsam ein Programm für Griechenland entschieden: Sie haben neue Kredite beschlossen und den Umgang mit den Schulden. Weil das aber immer noch nicht umgesetzt ist, müssen hier Banken schließen, und das wirkt sich wiederum auf die Unternehmen aus. Es gibt Exportunternehmen, die zurzeit wahre Wunder vollbringen und trotzdem sterben müssen, weil sie keine Kredit bekommen. Wir erleben, wie die echte Wirtschaft langsam erdrückt wird. ZEIT: Warum melden Sie nicht die Pleite an, wenn schon jeder drüber redet? Chrysochoidis: Die Pleite eines Euro-Mitglieds wäre ein Katastrophe, denn sie würde zu einem Dominoeffekt führen. Schon deshalb könnten wir gar nicht allein einen Default entscheiden. ZEIT: Was erhoffen Sie sich vom Besuch des deutschen Wirtschaftsministers? Chrysochoidis: Erstens würden wir gern über Investitionen reden. Zweitens hoffen wir auf technische Hilfe bei der Reform unseren Staatsapparates. Und drittens brauchen wir Liquiditätshilfe: Wir hoffen, dass deutsche Unternehmen leichter Kredite bekommen, wenn sie in Griechenland investieren. Wissen Sie, wir unternehmen einen wirklich ernsten Versuch, dieses Land zu ändern. Das Gespräch führte PETRA PINZLER

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Wertschöpfung: Meer, Oliven, ein Photovoltaik-Park in Athen und ein Arbeiter in einer Schiffsfabrik

Fotos (v.l.): Xinhua/eyevine, G. Koilakos/Invision/laif; R. Unkel/vario images (kl. o), L. Gouliamaki/AFP/Getty Images (kl. u.)

EURO IN DER KRISE

GRÜNER LEBEN

DIE ZEIT No 41

Fotos: F1online; privat (l.)

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DER ÖKO-FRAGEBOGEN

Schluss mit Butter! Der Ökoforscher Niko Paech über seinen radikalen Lebensstil DIE ZEIT: Sind Sie ökologisch ein Vorbild? Niko Paech: Ich bin in meinem Leben nur ein ein-

ziges Mal geflogen. Ich habe kein Auto, aber eine Bahncard. Seit mehr als 30 Jahren esse ich kein Fleisch, keinen Fisch und keine Eier und vorwiegend regionale und saisonale Produkte. Ein Handy habe ich nie besessen. Auch anderer elektrifizierter Wohlstandsschrott wie Digitalkameras, Mikrowellen, Föhne, Fernseher, Akkuschrauber und so weiter kommt mir nicht in die Wohnung. Konsumgüter, mit denen ich mich dennoch umgebe, werden möglichst gebraucht angeschafft und so lange genutzt und repariert, bis sie auseinanderfallen. ZEIT: Was wollen Sie 2012 anders machen? Paech: Weniger Vorträge halten, um Bahnreisen zu reduzieren. Weizenbier gegen regionales Bier, das es jetzt in meiner Stadt gibt, austauschen. Das wird nicht leicht. Widerstand gegen Flugverkehr, Kohlekraftwerke, Autobahnen, Agrarfabriken und weitere Flächenversieglung unterstützen. Weniger Kaffee trinken. Den Computer weniger nutzen. ZEIT: Leben andere trotz all dieser strengen Regeln noch gerne mit Ihnen zusammen? Paech: Ob ich akzeptiert werde, dürfte weniger mit meinem Mobilitäts- und Konsumstil zu tun haben als mit Geselligkeit, Humor und Verlässlichkeit. Viele meiner Freunde leben vollkommen anders. Auf die Idee, ihnen meinen Lebensstil aufzudrängen, käme ich nicht. Sie müssen lediglich ertragen, dass ich bestimmte Dinge nicht mitmache – und dürfen sogar Witze darüber machen. ZEIT: Was machten Sie vor einem Jahr noch anders? Und warum haben Sie es geändert? Paech: Ich habe Butter gegessen, jetzt gibt es nur noch Biomargarine. Ein Kilo Butter herzustellen verursacht etwa 23 Kilo CO₂. ZEIT: Welches Umweltverhalten lehnen Sie in Ihrem Bekanntenkreis ab? Paech: Fliegen, Auto fahren, Sachen in Einwegverpackungen kaufen, häufig Konsumgüter anschaffen. Ändern kann ich das nur, indem ich einen Gegenentwurf vorlebe und mich dabei amüsiere. ZEIT: Was macht Sie besonders zufrieden – und steht das in Konflikt mit nachhaltigem Leben? Paech: Das Internet. Bücher und Jazz-CDs, die ich aber meistens gebraucht kaufe. ZEIT: Wie viele Flugmeilen und Autokilometer legen Sie pro Jahr zurück? Paech: Ich habe zwei alte, aber prima in Schuss gehaltene Mountainbikes. Ein von Flugtickets und

Niko Paech, 50, lehrt Produktion und Umwelt an der Universität Oldenburg

Autos gänzlich befreites Leben bedeutet für mich Souveränität. ZEIT: Welches wäre die wichtigste umweltpolitische Maßnahme? Paech: Wir haben noch eine Chance, wenn jedem Menschen pro Jahr ein bestimmtes Kontingent an CO₂-Emissionen zusteht, etwa zwei Tonnen. Wer das ablehnt, will entweder keinen Klimaschutz oder keine globale Gerechtigkeit. ZEIT: Glauben Sie, wir schaffen die Wende, bevor uns das Klima richtig zu schaffen macht? Paech: Ja, wenn wir sofort unsere Ansprüche reduzieren, statt technologischen Verheißungen hinterherzurennen. Reduktion muss keinen Verzicht bedeuten, zumal Maßlosigkeit irgendwann langweilig wird. Die Fragen stellte ANNE KUNZE

Auf dem Weg zur Öko-City: Blick auf Zürich bei Nacht

Gugerli und die Architekten Zürich will Modellstadt für ökologisches Bauen werden. Bleibt die Ästhethik dabei auf der Strecke?

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ie nennen ihn »Birkenstock-Heiri«. Die Architekten in Zürich sind auf Heinrich Gugerli nicht gut zu sprechen. Denn an ihm, dem Leiter der Fachstelle für nachhaltiges Bauen, kommt niemand vorbei, der in der Stadt mit öffentlichen Geldern plant. Gugerli entscheidet, ob ein Entwurf den hohen Ansprüchen an die Energieeffizienz genügt. Ist das nicht der Fall, muss nachgebessert werden. Und Gugerli lässt häufig nachbessern. »Die Zusammenarbeit mit den Architekten ist manchmal schwierig«, sagt er. »Wir müssen extrem kämpfen für unsere Sache.« Gugerlis Sache ist die 2000-Watt-Gesellschaft. Bis ins Jahr 2050 wollen die Schweizer Städte Zürich, Basel und Genf ihren Energieverbrauch von 6000 Watt auf 2000 Watt Dauerleistung pro Kopf reduzieren. Das entspricht 17 500 Kilowattstunden pro Jahr und Person. So viel, wie der Durchschnittsschweizer heute jährlich allein bei der Fortbewegung verbraucht. Trotzdem soll die Lebensqualität der Stadtbewohner nicht leiden – so lautet zumindest das Versprechen der Stadtväter. Die Wähler, die dort Stimmbürger heißen, brachten sie damit auf ihre Seite. Grün sein ist cool in der Schweiz. Es war ein denkwürdiger Sonntag, jener 30. November 2008, als die Stadt Zürich ihre Energiezukunft besiegelte. Gegen die Dachverbände der Schweizer Wirtschaft, die sich sonst kaum in kommunale Abstimmungskämpfe einschalten, beschlossen die Zürcher den Atomausstieg auf Raten – lange vor Fukushima und dem Ausstiegsentscheid der Landesregierung. Gleichzeitig stimmten die Zürcher für die 2000-Watt-Gesellschaft. »Der Zürcher Lebensstandard fällt auf das Niveau der Republik Kongo oder das von Jemen zurück«, wetterte der Gewerbeverband im Abstimmungskampf. Aber der Konsens war zu breit, Befürworter fanden sich bis weit ins bürgerliche Lager. Seither ist Zürich auf dem Weg zur ÖkoCity. Ein neues Stadtspital für 290 Millionen Franken und ein Altersheim-Neubau für 62 Millionen Franken fügen sich ein in die 2000-Watt-Gesellschaft. Auch die Baugenossenschaften, denen ein Viertel des städtischen Wohnbestands gehört, setzen sich ein für dieses Ziel. Die Energiezukunft lässt sich anfassen – und real bewohnen.

VON MATTHIAS DAUM

Doch es gab auch heftigen Widerstand – von- »Anschwärzung« und »unnötiger Verunsicheseiten der Architekten. Sie spürten als Erste, was rung der Bevölkerung« war die Rede. Im eidgees heißt, für eine nachhaltige Gesellschaft zu nössischen Parlament wurden drei Vorstöße gebauen. Kompakte Gebäudeformen wurden bei gen die ETH Zürich lanciert, die ihren Professor Wettbewerben bevorzugt. Das Verhältnis von unterstützte. »Verfassungswidrig« sei das VorgeFassadenfläche zu Volumen soll nun möglichst hen dieser »älteren Herren, die Energieschleuklein sein, weil das den Energieverbrauch mini- dern aus den Siebzigern zurückwollen«, hieß es. In erster Linie ging es bei diesem Streit um miert. Feingliedrige Grundrisse, große Spannweiten, zahlreiche Untergeschosse sind kaum Geld – um 200 Millionen Franken, die der Bunmehr realisierbar. Als immer mehr Neu- und desrat für Gebäudesanierungen versprach. Diese Umbauten in dreißig Zentimeter dicke Wärme- Subventionen dürften nach Leibundguts Vordämmungen gepackt wurden, machte bald das stellung nicht mehr allein den Herstellern von Wort von der »Isolationshaft« für Gebäude die Dämmmaterialien zugute kommen, sondern Runde. Der Unmut der Architekten war durch- auch Firmen, die grüne Technologien herstellaus begründet: Denn auch Investoren mögen ten. Auch um technische Fragen wurde gestritKompaktheit. Wer mehr Wohnungen, mehr ten. »Es stimmt nicht, dass erneuerbare Energien Büros auf dieselbe Fläche baut, erzielt eine höhe- im Überfluss vorhanden sind«, sagt Heinrich re Rendite. Doch wenn Ökologie und Ökono- Gugerli. Um die Energie zum Nutzer zu bekommie zusammengehen, bleibt die Schönheit meist men, brauche man Ressourcen: Windräder, auf der Strecke. Zumal in Städten wie Zürich Staumauern, Solarkraftwerke, Stromleitungen. »Es gibt nichts zum Nulltarif.« oder Genf, wo Wohnraum Mangelware ist. »Wir haben VorstellunDann kam er: Hansjürg gen zerstört«, sagt HansLeibundgut, Professor für jürg Leibundgut stolz. Der Gebäudetechnik an der 62-Jährige empfängt vor ETH Zürich. Ein Ketzer, seinem Haus im Zürcher der es wagte die 2000-WattUniversitätsquartier. Es ist Gesellschaft infrage zu stelein bewohntes Labor, entlen. Im vergangenen Deworfen von seinem Sohn, zember probte Leibundeinem Architekten. Es gibt gut zusammen mit einigen weder massive FassadenETH-Architekturdozenten dämmungen noch dicklipden Aufstand. Leibundgut pige Fensteröffnungen. Mit will Emission und Energieschnellem Schritt führt Leiverbrauch entkoppeln. Das bundgut durchs Haus und Ziel sollte eine »1-Tonnenerklärt: Die schwarze FassaCO₂-Gesellschaft« sein, Tonnen Kohlendioxid de aus Misapor, einer Besagt er. Eine Tonne Kohlenverursacht jeder Schweizer tonmischung, versetzt mit dioxid pro Jahr und Kopf im Durchschnitt pro Jahr aufgeschäumtem Recyclingdürfe ein Mensch verbrauZEIT-Grafik/Quelle: Bundesamt für Umwelt (Schweiz) glas, »erntet« im Winter die chen – heute pusten die Sonnenwärme. Auf dem Schweizer 5,8 Tonnen in Hausdach stehen Hybriddie Atmosphäre, die Deutschen deren elf. Leibundgut sagt, die Welt habe kollektoren, die gleichzeitig Strom und Wärme ein Klima- und kein Stromproblem. Seine liefern. Gespeichert wird die Wärme im Boden Forderung: Macht endlich Schluss mit dem – in 380 Meter Tiefe. Durch Erdsonden fließt im Sommer 30 Grad Celsius warmes Wasser nach Dämmwahn! Die Architekten frohlockten, dass der Inge- unten und erwärmt das Erdreich auf 20 Grad. nieur ihnen ihre Gestaltungsfreiheit zurückgeben Im Winter entnehmen die Sonden diese Wärme würde. Die Nachhaltigkeitslobby zürnte: Von und führen sie ins Haus. Im Keller deutet Lei-

5,8

bundgut auf drei Wärmepumpen: »das Herzstück des Hauses«. Mit einer Kilowattstunde Strom erzeugen diese Pumpen aus dem gespeicherten Wasser 8,3-mal mehr Wärme – und Leibundguts neuestes Modell, das er zurzeit im Labor testet, soll sogar 14-mal mehr Wärme schaffen. Ein bisher unerreicht hoher Wirkungsgrad. Hinzu kommen Digitalstrom, der nicht gebrauchte Elektrogeräte vom Netz trennt, ein Wasserhahn mit integriertem Durchlauferhitzer, eine Lüftung, die nur dann arbeitet, wenn der CO₂-Gehalt in der Luft steigt, ein Fensterglas, das viel Licht, aber wenig Wärme durchlässt und schließlich ein Computerserver, der dieses Haustechnik-Orchester dirigiert. Hansjürg Leibundgut selbst ist ein Besessener. Er fasziniert und eckt an, Kritik prallt an ihm ab. Seine Weltsicht ist die eines Ingenieurs: »Es gibt ein Problem, die Technik kann es lösen.« Und das Null-Emissions-Haus ist für ihn nur ein Anfang. Der ETH-Professor will den Strommarkt »sprengen«, der 2014 auch in der Schweiz geöffnet werden soll. Dann kann jeder seinen eigenen Strom ins Netz einspeisen. Und er, Leibundgut, wird das auch tun: »Das ist mein Recht.« Sein Haus wird dann ein Kraftwerk sein, das den überschüssigen Strom in einer »Kolibri-Batterie« mit der gewaltigen Kapazität von 98,8 Kilowattstunden speichert; gängige Batterien speichern heute 16 Kilowattstunden. Sie ist das Pumpspeicherkraftwerk für den kleinen Mann, und ihr Strom ist siebenmal billiger als der konventionelle. Und Leibundgut sollen es andere gleichtun. Er träumt von einem »Volkspark der Stromerzeugungsanlagen«, die das Land überziehen. Und den Streit mit den Verfechtern des 2000-Watt-Ziels? Den löste man mit einem gut schweizerischen Kompromiss. »Wir hielten ein Konzil und begruben das Kriegsbeil«, sagt Leibundgut. Das mächtige Energie-Label Minergie schuf eine neue Kategorie für Null-EmissionsHäuser. Heinrich Gugerli lässt abklären, ob sich Erdsonden nicht unter Zürichs Straßen in die Tiefe bohren lassen. Und Novatlantis, der ETHSpin-Off, der die 2000-Watt-Gesellschaft erfand, übernahm kurzerhand das 1-Tonnen-CO₂-Ziel. Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/gruenegeschaefte

GRÜNER LEBEN

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Mia gegen alle

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eit Anfang September besitzt Edwin Kohl Leichtbau made in France begeistert: »Das Fahrzeug zwei Schreibtische. Sein jüngster Arbeits- ist konstruiert wie ein Flugzeug, das verwendete platz ist ein brandneues Büro in einer Blech und der Kunststoff sind recycelbar.« Automobilfabrik in Cerizay, einem Dorf Was treibt den Pharmaprimus in dieses Abenteuer? in Westfrankreich. Ein hohes Fenster er- Er möchte Ökonomie und Ökologie zusammenbrinlaubt ihm den Blick ins neu hergerichtete Werk. gen. Dies gelang ihm bereits vor zehn Jahren, als er ein Seinen ersten Sitz hat der erfolgreiche Pillenpionier »chemiearmes Niedrigenergiehaus« als Lager- und Verund Patron von gut 1400 Mitarbeitern im saarlän- waltungsgebäude in seinem Heimatort Perl errichtete. dischen Merzig beibehalten. Dort liegt seit 1980 die Ähnlich naturnah agiert er in der Zentrale zu Merzig. Zentrale seiner Firmengruppe. Jetzt ist es die Mannschaft von mia electric, auf die Kohl hat einen großen Sprung gewagt: Er baut Kohl zählt. Besonderes Geschick traut er den technijetzt auch Elektroautos. Das nötige Vermögen für schen Vätern der Vehikel zu: Patrick Largeau, Ex-Peudas neue Engagement hat der 61-jährige Saarländer geot-Ingenieur, sowie Murat Günak. Der Deutschmit dem Import von Medikamenten verdient. Nun türke war bereits Chefdesigner von VW und hatte pendelt er ständig zwischen Merzig und Cerizay. zuvor mit seiner Arbeit bei Mercedes und Peugeot in Kohl treibt die Idee der »grünen Mobilität« um, er der Stylingszene für Eindruck gesorgt. will den PS-Riesen Paroli bieten. Das Auto ist für den Stadtverkehr im Radius von Zeitlebens schon strebt der studierte Betriebswirt rund 90 Kilometern gedacht. Am Anfang der eine Pionierrolle an. Mit der Einfuhr von Medikamen- deutsch-französischen E-Auto-Initiative stehen drei ten aus dem EU-Raum hat er das schon einmal ge- würfelförmige batteriebetriebene Modelle, sogeschafft. Kohl, geschmückt mit einem Professorentitel nannte Mikrobusse: mia pur, mia L und mia K als der Universität des Saarlandes in BWL, ist Deutsch- Kleinsttransporter. Alle Varianten sind mit großen lands größter Pharmaimporteur. Das hindert ihn nicht Schiebetüren und weiß geränderten Reifen ausgedaran, mit seiner »grünen Mobilität« neue Wege zu stattet, sie sollen ein Design ohne Technik-Schnickbeschreiten. Kurzerhand erklärte er die Elektromobi- schnack verkörpern: kompakt, zweckdienlich, wenlität zum Kerngeschäft unter dem 1992 gegründeten dig. Oder, wie Günak seine Entwürfe kommentiert: Firmendach Kohl Medical AG. Die deutsch-französi- »Schlichtheit im Äußeren, verbunden mit einer orsche Auto-Alternative heißt mia electric GmbH. Sie dentlichen Nutzbarkeit innen.« Die variablen Leichtgewichte, die ist im Saarland angesiedelt, also dort, mit einem Gewicht von 750 Kilowo das meiste Kapital herstammt. gramm an aufwärts etwa eine halbe Gefertigt werden die E-Vehikel daTonne leichter sind als ein herkömmgegen in Westfrankreich. licher Kompaktwagen der Golf-KlasSeinen Partner, die Firma Heuse, bieten ein bis vier Personen Platz. liez, entdeckte der Mittelständler Der spartanisch ausgestattete mia pur vor gut zwei Jahren. Damals wollte ist schon zum Basispreis von 19 500 er Carsharing in seiner Firma einEuro erhältlich. Teuerstes Citymobil führen und zehn umweltfreundliund 3,19 Meter lang ist der mia L che Elektroautos kaufen. Doch er Edwin Kohl stieg (24 500 Euro), je nach Ausstattung fand hierzulande kein passendes vor rund zwei Jahren ins und Batterieleistung kann es auch Produkt. Erst das Konzeptauto Autogeschäft ein teurer werden. Friendly der Firma Heuliez im ferHerzstück aller Autos ist der leise, in der Mitte nen Cerizay gefiel dem Saarländer spontan. »Die Fabrik hat über 20 Jahre Erfahrung im Bau von Elek- platzierte Elektromotor. Seine Energie stammt aus troautos«, lobt Kohl. Obwohl Heuliez während der einer Lithium-Eisenphosphat-Batterie, aufladbar an Verhandlungen pleiteging, blieb Kohl von dem jeder üblichen 230-Volt-Steckdose. Für die Lebens-

Das Elektromobil Mia bei der Fertigung in Cerizay, Westfrankreich

zeit der Stromspender garantiert mia die ersten drei Jahre oder für 50 000 Kilometer. Eine Batterie macht etwa 25 Prozent des Nettopreises aus, also 4000 Euro und mehr. Um das grüne Image noch besser vermarkten zu können, haben sich die Autobauer etwas Besonderes ausgedacht: Es ist möglich, zu jedem Fahrzeug Anteilscheine an einem Windpark im Nordsaarland entsprechend der jährlichen Fahrleistung zu erwerben. Unterdessen tut sich allerdings ein ernst zu nehmendes Problem auf: In der Region Poitou-Charentes um Cerizay werden die Fachkräfte knapp. Bis Ende 2011 soll das mia-Werk auf 330 Mitarbeiter erweitert sein. Vor allem Techniker und Ingenieure sind gefragt. Die Startphase läuft bereits seit Wochen. Noch mutet die Arbeit eher handwerklich an. Es muss noch viel nachgebessert werden, damit die Qualität stimmt. Zurzeit schafft eine Arbeitskraft nur zwei bis drei Prototypen am Tag. Doch mit mehr Automatisation soll schon bald alles schneller gehen, hofft Werksdirektor Laurent Buffeteau. Im Endausbau könnten täglich 40 bis 45 Fahrzeuge im Zweischichtbetrieb die Fabrik verlassen, plant er. Im Jahr 2012 sollen 10 000 mias gebaut und verkauft werden. Das wären dann ungefähr genauso viele, wie der große Daimler-Konzern von seinem im Frühjahr kommenden Elektro-Smart vertreiben will. Unternehmer Kohl will freilich nicht nur den Bau eines Elektroautos finanzieren. Der Investor sprüht vor Ideen für seine »grüne Technologie«. Mias sollen nicht nur in Fuhrparks von Firmen, Filialisten, Kommunen oder Taxibetreibern fahren, sondern auch im Rahmen von Carsharing eingesetzt werden. So wird unter anderem Paris mit umweltschonenden mia-Taxis beglückt. Technisch möchte der Saarländer über den Batterieantrieb hinausgehen. Die Firma tüftelt an einem Elektrogenerator, getrieben von einer Brennstoffzelle. Von 2014 an könnte das nächste Projekt ein Hybridauto mit Wasserstoffmotor sein. Näheres will Kohl hierzu noch nicht verraten. Ebenso schweigen er und Strategieberater Günak zum Gedanken, sich mit Konkurrenten zu liieren. Eine Kooperation mit der Großen »wäre denkbar«, deutet Kohl an. Aber vorerst ist der Selfmademan vollauf damit beschäftigt, das mia-Mobil zum Laufen zu bringen.

Fotos (Ausschnitte): Benoit Decout/REA/laif (r.); Sven Paustian/Focus

Ein Pharmagroßhändler aus dem Saarland will die Autokonzerne ärgern – und entwickelt eigene Elektrofahrzeuge VON ULRICH VIEHÖVER

WIRTSCHAFT

DIE ZEIT No 41

Foto (Ausschnitt): Demarme/Ex-Press/ullstein

34 6. Oktober 2011

»So viele Leser wie nie zuvor« Boulevardblätter können unabhängig über Verlagsgeschäfte berichten: Ringier-Chef Marc Walder glaubt daran Marc Walder führt Ringier, den größten Schweizer Verlag DIE ZEIT: Herr Walder, reden wir über Zwerge und Riesen. Ihr Verlag vertreibt seine Zeitungen digital über Apple – und muss dafür 30 Prozent vom Umsatz abgeben. Wie geht es Ihnen damit? Marc Walder: In der Schweiz zahlen wir mehr, weil in Euro abgerechnet wird und der Wechselkurs festgelegt ist. Darauf kommt dann noch die Mehrwertsteuer. Wir geben also etwa 43 Prozent an Apple. Wenn es wirklich bei diesen 30 Prozent bliebe, wäre ich allerdings zufrieden, weil Apple viel für uns leistet. Das Unternehmen liefert sehr zuverlässig aus und tut es in einer Weise, die der Käufer schätzt. Und – jeder Kiosk zieht Verlagshäusern deutlich mehr ab als 30 Prozent. ZEIT: In der Schweiz ist Ringier ein Riese, gegenüber Apple ein Zwerg. Werden Sie an den Konditionen etwas ändern können? Walder: Unser eigentliches Problem ist ja ein anderes: Tendenziell kaufen weniger Menschen unsere Zeitungen und Zeitschriften. Deshalb haben wir jetzt in einer regelrechten Offensive rund 50 iPhone- oder iPad-App-Versionen unserer Medien, Entertainment- und Digital-Geschäfte auf den Markt gebracht. ZEIT: Wie viel Prozent Ihres Umsatzes sind bedroht? Walder: Gut 60 Prozent. ZEIT: Und für welchen Preis steigen die Leser auf den neuen Lesegeräten ein?

Walder: Unsere Boulevardzeitung Blick kostet auf

dem iPad beispielsweise 36 Franken im Jahr. Das ist eigentlich ein Witz, nicht mal ein Achtel des Zeitungsabonnements! ZEIT: Wie viel hätten Sie denn gerne? Walder: Sicherlich nicht 36 Franken im Jahr. Sie bekommen ja bedeutend mehr als in der gedruckten Ausgabe. Ein Beispiel: Nach Fußballspielen bringt die Zeitung zwei Seiten Berichte plus vier Bilder. Auf dem iPad haben Sie alle Texte plus 40 Bilder plus Videomaterial mit Ausschnitten aus dem Spiel und dazu noch diverse Interviews als Video. Derzeit erwarte ich von einer iPad-App, dass ich dort das PDF der Zeitung und alle digital aufbereiteten Multimedia-Inhalte bekomme. Das macht es ziemlich aufwendig. ZEIT: Ein PDF, also schlicht die Zeitung in den Computer kopiert? Walder: Das PDF besitzt die gleiche Dramaturgie wie die Zeitung, und die suchen weiterhin viele Leser. Der Blick hatte bereits in den ersten Monaten sehr gute Zugriffszahlen. ZEIT: Wie viele Menschen erreichen Sie mit dem gedruckten und dem digitalen Blick? Walder: Wir haben mit der gesamten Blick-Gruppe heute 2,7 Millionen Leser pro Woche, überschneidungsfrei. So viele wie nie zuvor! Und diese Masse gilt es nun zu vermarkten. Wenn zum Beispiel der

Marketing-Verantwortliche von Audi mit seiner nächsten Kampagne kam, dann ist er früher zu jedem unserer Medien einzeln gegangen. Das will heute niemand mehr. Heute sagt der Audi-Manager, dass er eine Kampagne und eine Million Budget hat, und verlangt binnen Wochenfrist ein Konzept, das sich über alle Marken und Kanäle erstreckt. Darin liegt bedeutend mehr Potenzial als in der Frage, ob wir eine iPad-App für 99 Cent oder für zwei Euro verkaufen. ZEIT: Der Erfolg bei den Werbekunden ist also da? Walder: Erstens haben wir eine weiterhin wachsende Reichweite. Und parallel dazu ist die Medienwelt für Marketing-Manager so unübersichtlich geworden, dass sie gar nicht mehr wissen, wo und vor allem wie sie ihr Geld am effektbringendsten ausgeben sollen. Die fragen sich: Was mache ich mit meinen zwei Millionen Euro für die neue Biomilch? Mache ich ein Guerilla-Video für YouTube? Veranstalte ich eine witzige Castingshow? Suche ich das schönste Butter-Girl? Oder doch nur klassische Werbung wie früher? Da kommen sie gern zu uns und lassen sich ein Konzept entwickeln. ZEIT: Wie sieht solch ein Konzept derzeit aus? Walder: Dazu muss man wissen, dass wir komplett neue Geschäftsfelder erschlossen haben. Audi kann künftig auf den Tickets unserer Konzertagentur werben. Es ist die größte des Landes. Audi kann

aber auch ganze Konzerte sponsern, die unsere Walder: Wir haben versucht, ein eigens dafür erEventagentur Good News veranstaltet, und im arbeitetes Regelwerk zu erstellen. Ich fand das Einzelfall wird der Hersteller auch mit Stars wer- Ergebnis pragmatisch. Aber als ich es den Geben können, die unsere Künstleragentur unter schäftsführern vorstellen wollte, habe ich beVertrag hat. Dazu bieten wir ihm Radio, TV, merkt, wie furchtbar es sich niedergeschrieben Scout24 und, und, und. liest. Denn dieses Werk, das reglementieren sollZEIT: Sind Sie in der Lage, das alles zu steuern te, das konnte man missverstehen. Da standen Sachen drin wie »Wenn Ringier an einem Ereig– und zugleich zu trennen? Walder: Wir sind das größte Medienunterneh- nis so und so viel Anteile hält, dann ist damit so men in einem kleinen Land. Deshalb will ich und so umzugehen.« Wenn das nur in die Nähe nicht überbewerten, was wir machen. Immerhin einer Redaktion kommt, stehen denen die Haare untersucht ein angesehener Strategie-Professor zu Berge. Sie brauchen am Ende eine Instanz im der Universität Harvard gerade unser neues Ge- Haus, die mit gesundem Menschenverstand, schäftsmodell, also die Drei-Säulen-Strategie: unter Wahrung der journalistischen Interessen, erstens Zeitungen, Zeitschriften und Druckerei- aber auch mit einem Blick für das unternehmerien, zweitens E-Commerce und Rubriken-Ge- sche Gesamtinteresse entscheidet. Und glauben Sie mir: Verleger Michael Ringier schaut sehr schäft, drittens Entertainment. ZEIT: Sie wollen also nicht nur die Werbekun- genau hin und scheut sich nicht einzugreifen. den über Ihre Medien und Geschäftskanäle be- ZEIT: Es kommt noch eine Schwierigkeit hinzu. gleiten, sondern auch umgekehrt einzelne Ereig- Ringier macht viel Boulevardjournalismus. In nisse und Künstler komplett vermarkten? Deutschland werden dort traditionell viele GeWalder: Nehmen Sie Bon Jovi. Die spielten vor gengeschäfte mit den Stars gemacht. Das heißt, ein paar Wochen in Zürich vor 45 000 Zuschau- die Grenzen sind eh Verhandlungssache. Und ern. Die Musiker geben ein Konzert, das wird das verkomplizieren Sie mit Ihren neuen Gevon unserer Konzertagentur organisiert, unsere schäften in der Unterhaltungsindustrie weiter. Ticketagentur verkauft die Eintrittskarten, und Walder: Wie haben bisher keine Fälle, in denen unsere Medien, Zeitungen, Zeitschriften, Ra- wir in Versuchung geführt werden. Und am dios, berichten darüber mit all den Aktionen, die Ende muss ich entscheiden oder gar Michael es üblicherweise um so ein Großereignis gibt. Ringier. Wie kann ich es erklären? Ich war auch Unseren Werbekunden können wir umgekehrt in meiner Zeit als Chefredakteur ständig damit sagen, wo sie sich gern mit ihrer Markenbot- konfrontiert, dass ich nicht im luftleeren Raum schaft beteiligen können. arbeite. Chefredakteure werden dauernd von ZEIT: Wie muss man sich diese Zusammenarbeit Vorstandschefs, Fußballpräsidenten, Politikern vorstellen? Sitzen dann die Journalisten mit den oder Künstleragenten angerufen, die ihre Interessen wahrnehmen wollten. Das muss jeder ChefStars und den Werbekunden an einem Tisch? Walder: Auf keinen Fall. Aber die Vertriebsexper- redakteur aushalten. Das Konglomerat bei Rinten mit den Marketing-Managern, den Veran- gier macht es noch ein bisschen komplexer, weil staltern und den Vertretern von Sportrechten es immer noch das Gesamtinteresse des Konzerns oder den Künstlern. Wir haben vor Kurzem bei- gibt. In so einer Situation gibt es drei Chefredakspielsweise die kompletten Marketingrechte für teurs-Typen. Der erste opponiert aus Prinzip. die Erste Schweizer Fußballliga erworben und Der zweite kuscht und schreibt nur, was der Vorstand in seinen Augen ledefinieren nun mit den Verantsen will. Und der dritte Typ, wortlichen in unseren TochterWas mache ich mit den wünsche ich mir, der gesellschaften sowie mit großen Werbekunden, wie wir mit dem meinen zwei Millionen sieht eine journalistische Geschichte, sieht die Interessen Produkt Fußball in den nächsten Euro für die neue des Hauses und ruft im Zweifünf Jahren optimal umgehen. Biomilch? Veranstalte felsfall an, bevor die GeZEIT: Was ist dabei herausgeich eine witzige schichte in Druck geht. Der kommen? Castingshow? Suche Chefredakteur macht danach Walder: Die Interessen sind klar. seine Geschichte, und ich Die Liga will, dass Fußball noch ich das schönste rufe dann denjenigen an, um populärer wird und noch mehr Butter-Girl? den sich die Geschichte Sponsorengeld anzieht; der neue dreht, und werde ihm notfalls Hauptsponsor der Liga, die sagen müssen: »Wir haben Raiffeisen-Bank, will möglichst viel qualitativ gute Publicity – und wir überlegen, zwar ein gemeinsames Geschäft, aber morgen was wir für alle am Produkt Fußball Beteiligten wird leider etwas Unangenehmes in der Zeitung tun können. Provokant vereinfacht: Unsere Me- stehen.« Wenn Madonna also schlecht singt, dien sind journalistischer Verbreitungskanal, dann schreibt das der Blick auch so. und unsere Werbeformen sind Kommunikati- ZEIT: Schwer, da die Balance zu halten. onskanal. Unsere zentrale Frage in diesem Bei- Walder: Die Konflikte bestehen, und es gibt sie, spiel ist: Wo überall können wir als diversifizier- weil wir unser Geschäft in den vergangenen Jahtes Unternehmen Leistungen anbieten? ren weiterentwickelt haben. ZEIT: Finden Sie das nicht heikel? ZEIT: Bereuen Sie das nie? Walder: Die Frage höre ich regelmäßig. Es geht Walder: Meine Aufgabe ist, dass der Verleger und darum, ob unsere Medien noch unabhängig be- dessen Familie in Ruhe schlafen können. Dass richten können ... die Familie Ringier also nicht allein auf das ZEIT: ... nun ja, bisher ist kein einziger Fall be- leicht, aber eben doch kontinuierlich schrumpkannt geworden, in dem Ringier diese neuen Ge- fende Zeitungsgeschäft angewiesen ist. Heute schäftsinteressen mit der publizistischen Arbeit sind 65 Prozent des Umsatzes noch Journalisvermischt hat. Aber wie stellen Sie das auf Dauer mus, 15 Prozent Entertainment und 20 Prozent digitales Geschäft. sicher? Walder: Ich komme aus dem Journalismus. ZEIT: Wie weit bilden die ManagementstruktuZEIT: Aber wie verankern Sie das im Haus? Wie ren innerhalb von Ringier die neue Struktur des entkoppeln Sie das von der Person Marc Walder? Konzerns schon ab? Walder: Es gilt, rund 50 Gesellschaften zu be- Walder: Weil sich das Medienhaus Ringier treuen. Viel läuft über das BlackBerry. Ich habe schnell verändert hat, ist in der Geschäftsleitung 20 Verwaltungsratssitze innerhalb von Ringier. Schweiz heute das Kerngeschäft noch sehr stark Das System beruht derzeit zu stark auf meinen vertreten. Hinzu kommt, dass wir viele UnterKontakten, dem Vertrauen dem Haus Ringier nehmen übernommen haben oder sie als Joint und mir gegenüber bei den Geschäftspartnern. Venture mit einem Dritten betreiben. Diese FirDies muss nun auf verschiedene Schultern ver- men führen wir über die Verwaltungsräte. Meteilt werden. dienhäuser entwickeln sich. Und mit ihnen die ZEIT: Aber müsste es nicht eine Chinese Wall internen Strukturen. Das Tempo ist horrend. oder zumindest einen Kodex geben, der die JourDas Gespräch führte GÖTZ HAMANN nalisten schützt?

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laube mag Berge versetzen, offene Rechnungen begleicht er aber nur selten. Selbst die Kirche kommt daher nicht umhin, sich dem Profanen zu widmen. So druckte zum Beispiel das Bistum Mainz vor einiger Zeit eine Broschüre mit dem leicht sperrigen Titel Planen im Sparen. Die zentrale Botschaft: Bis zum Jahr 2014 sollen im Bistum Mainz 25 Millionen Euro eingespart werden. »Demografischer Wandel, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen zwingen die Kirche dazu, ihre Ausgaben auf den Prüfstand zu stellen«, heißt es in dem Papier. Auch die Kirchen sind, ob sie wollen oder nicht, ökonomische Akteure. Im Außendienst beten, seelsorgen und pflegen ihre Mitarbeiter. Im Innendienst bilanzieren und investieren Wirtschaftsexperten. Längst holen Bischöfe sich Rat bei Unternehmensberatern von McKinsey. Mönche produzieren Liköre, Seifen oder Süßwaren für die Produktlinie »Gutes aus Klöstern«. Diakone gründen Unternehmen. Gemeinden lernen das Fundraising. Die Evangelische Kirche im Rheinland etwa war 2009 Mitveranstalterin eines ganzen Kongresses, es ging um »Win-win-Partnerschaften«, um Firmenspenden und Sponsoring. Motto: »Unternehmen als Partner gewinnen«. Doch der Spagat zwischen Ökonomie und Theologie, zwischen wirtschaftlichen Zwängen und christlicher Lehre ist schwierig – und manchmal gelingt er nicht.

Die Kirchen setzen Milliarden um – fast so viel wie Volkswagen Wären die Kirchen Konzerne, zählten sie wohl zu den größten Unternehmen des Landes. Im Jahr 2010 war Volkswagen mit 126,9 Milliarden Euro der umsatzstärkste Konzern im Deutschen Aktienindex. Die Kirchen spielen in einer ähnlichen Liga. Friedrich Schwarz benannte 2005 in seinem Buch Wirtschaftsimperium Kirche – der mächtigste Konzern Deutschlands für beide deutsche Kirchen zusammen einen Gesamtumsatz von mehr als 125 Milliarden Euro, ihr Vermögen bezifferte er auf 500 Milliarden Euro. Auch der Sozialwissenschaftler und Kirchenkritiker Carsten Frerk kam 2002 in einer Studie auf Umsätze von rund 125 Milliarden Euro, er geht davon aus, dass sich an dieser Zahl nicht viel geändert hat. Neuere und vor allem belastbare Zahlen gibt es nicht. Viele Experten meiden dieses Thema. So beschäftigt sich das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln schon seit über 25 Jahren mit Fragen zum Thema Kirche und Wirtschaft, doch an Spekulationen über Vermögen und Umsatz wolle man sich nicht beteiligen, wie es dort heißt. Zahlen veröffentlichen die beiden großen Kirchen des Landes nicht. Sie sind nicht daran interessiert, als Wirtschaftsakteur wahrgenommen zu werden. »Die evangelischen Kirchentümer wissen nicht, wie reich oder arm sie wirklich sind. Kirchensteuereinnahmen lassen sich ausweisen, aber alle Gesamtzahlen, die im Umlauf sind, sind empirisch nicht belastbar, weil der größte Teil, insbesondere alle Vermögenszahlen, spekulativ

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

hochgerechnet sind. Das alles hat nichts mit Geheimhaltungspolitik zu tun, sondern ist eine Folge des kirchlichen Föderalismus«, erklärt Peter Mörbel, Studienleiter an der Evangelischen Akademie im Rheinland. Und bei den Katholiken? Eine offizielle Gesamtbilanz gibt es auch bei der katholischen Kirche in Deutschland nicht. Nach Wirtschaftsdaten befragt, heißt es bei der Deutschen Bischofskonferenz zum Beispiel, man müsse »dazu die Bistümer (27 Stück) und den Deutschen Caritasverband selbst befragen«. Frerk, der auch Autor des Violettbuches Kirchenfinanzen ist, stellte bei seinen Recherchen fest, »dass über Finanzen prinzipiell nicht öffentlich gesprochen wird«. Er kommt allein auf 19 Milliarden Euro staatliche Zuwendungen im Jahr, sei es in Form von Steuervergünstigungen oder Zuschüssen für Schulen und Pflegeeinrichtungen. Das Vermögen der katholischen Kirche hierzulande schätzte Frerk in der Vergangenheit auf 270 Milliarden Euro. Nimmt man die Kirchensteuer als Maßstab, erscheinen derlei Zahlen plausibel: So flossen den Kirchen 2009 allein auf diesem Weg 9,4 Milliarden Euro zu. Daten zum Kirchensteueraufkommen 2010 hat das Statistische Bundesamt in seinem Jahrbuch an diesem Mittwoch (nach Redaktionsschluss) veröffentlicht. Die Bistümer verfügen zum Teil über große Jahresbudgets. In Freiburg sind es in diesem Jahr etwa 475 Millionen Euro, in Münster 372 Millionen, in Augsburg fast 300 Millionen. Bistümer sind an Unternehmen beteiligt, etwa am Weltbild-Verlag, sie besitzen Immobilien und Grund. Das ökonomische Gewicht der Kirchen wird bei deren Wohlfahrtsverbänden Caritas (katholisch) und Diakonie (evangelisch) offenbar. Insgesamt arbeiten für beide Verbände fast eine Million Menschen – damit sind sie, zusammen gesehen, nach dem Staat der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland. Zur Diakonie gehören – ähnlich wie zur Caritas – allein rund 9000 Kindertageseinrichtungen, in der Altenhilfe sind es 2500 Adressen, bei der Caritas beträgt diese Zahl etwa 1500. Das sind Größenordnungen, die ohne ökonomisches Denken kaum mehr auskommen. Bei der Caritas gibt es seit 2008 Leitlinien für unternehmerisches Handeln. Demnach sollen ihre Unternehmen »innovativ, wirtschaftlich, nachhaltig und transparent handeln«. Was das im Alltag konkret bedeuten soll, illustriert eine Nachhaltigkeitsoffensive, für die Caritas und Diakonie im vergangenen November gemeinsam den Startschuss gaben. In gut 35 000 Einrichtungen beider Verbände soll der Einkauf von Produkten und Dienstleistungen umgekrempelt werden. Grüner ner soll er werden. Und sozialer. Die Rede ist von einem »ökofairen Managementsystem«. Zunächst werden dafür 30 Testeinrichtungen gen – vom Pflegeheim bis zum Kindergarten – unter nter die Lupe genommen. Mitarbeiter des Instituts für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche che von Westfalen (IKG), das das Projekt leitet, sollen llen schauen, ob Ökostrom genutzt und fair gehanandelter Kaffee aufgesetzt wird. Sie werden sich für E-Bikes und andere klimafreundliche Innovatiotio-

Konzern Kirche Bei Caritas und Diakonie kämpfen Mitarbeiter gegen Lohndumping VON TOBIAS ROMBERG

nen starkmachen. Und prüfen, wo und unter welchen Bedingungen Arbeitskleidung hergestellt wird. Erste Ergebnisse des Projekts sollen Anfang 2012 vorliegen. Es geht um Kaufkraft in immenser Höhe. Zusammen ordern Caritas und Diakonie jährlich Produkte und Dienstleistungen für gut 50 Milliarden Euro – das entspricht in etwa dem Bruttoinlandsprodukt von Sachsen-Anhalt oder Kroatien. »Wir sollten die geballte Kaufkraft, die wir als Kunde Kirche haben, nicht unterschätzen«, sagt Alfred Buß, der Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen. »Die Idee der ökofairen Beschaffung kann so auch in die Breite getragen werden«, hofft IKG-Leiter Klaus Breyer. Kraft ihrer ökonomischen Macht versuchen die Kirchen, positive Akzente zu setzen, Produzenten und Gesellschaft zu bekehren. Nachhaltigkeit oder Fair Trade, das sind Schlagwörter, die gut zu christlichen Leitbildern wie dem der Wahrung der Schöpfung passen. Experten erkennen das Potenzial. Es handele sich um ein »äußerst relevantes Volumen«, sagt Uwe Schneidewind, Präsident am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Er sieht die Möglichkeit, dass Caritas und Diakonie Märkte beeinflussen können, wenn sie »sich auf strategisch wichtige und sichtbare Produktgruppen konzentrieren« und »gezielt auf bestimmte Hersteller zugehen und sie dazu bringen, Einfluss auf die Hersteller von Vorprodukten zu nehmen oder ihre Produktpalette zu ändern«. Doch die Unternehmen Diakonie und Caritas machen nicht nur positive Schlagzeilen. Lohndumping, Leiharbeit und Outsourcing finden auch unter dem Dach der Kirche statt. So berichtete beispielsweise der stern im Januar von Dumpingmethoden bei der Diakonie. Demnach sollen Beschäftigte unter anderem über eine eigene Zeitarbeitsfirma namens Dia Logistik zu niedrigeren als den üblichen Löhnen eingestellt worden sein. Zudem sollen Geschäftsführer von Diakonie-Einrichtungen neue Gesellschaften gegründet haben, um gekündigte Beschäftigte zu schlechteren Konditionen wieder einzustellen. Nikolaus Schneider, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), räumte gegenüber dem stern ein, dass es unter den etwa 35 000 ausgelagerten Mitarbeitern der Diakonie Probleme mit der Lohnhöhe gebe. Insbesondere in der Pflegebranche geht es bisweilen eher unchristlich zu. Ein Beispiel: Seit Anfang des Jahres wirbt ein Osnabrücker Unternehmer mit der Vermittlung von Pflegekräften aus Polen, zu Bezügen ab 1490 Euro monatlich. Diese Pflegekräfte ziehen bei den Pflegebedürftigen ein und sind rund um die Uhr für sie da. Die Gewerkschaft ver.di schrie auf, sah Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz und beklagte Lohndumping. Doch die Geschäftsidee scheint aufgrund der EUDienstleistungsfreiheit juristisch zulässig. Das Osnabrücker Unternehmen plant, in den Norden Deutschlands zu expandieren. Prompt meldete sich der Caritasverband für das Olden-

Allein über die Steuer fließen den Kirchen in Deutschland jedes Jahr große Summen zu

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burger Land zu Wort. Nicht mit Kritik, sondern mit ganz ähnlichen Bestrebungen: Man wolle Frauen aus Osteuropa zur Betreuung von Pflegebedürftigen vermitteln. Rund um die Uhr, für etwa 1850 Euro monatlich. Auch die Caritas in Hildesheim hat die Arbeit bereits aufgenommen. Allerdings wurden bisher nur vereinzelt Frauen aus dem polnischen Tschenstochau als »hauswirtschaftliche Hilfen« vermittelt. Beim Caritasverband für die Diözese Osnabrück drängt man ebenfalls. »Die polnische Seite im Bistum Allenstein ist sehr interessiert, mit uns eine entsprechende Kooperationsvereinbarung zu schließen. Sie werden zunächst die entsprechenden Gespräche mit der Caritas auf Landesebene in Warschau führen«, heißt es.

In Hamburg und Hannover gehen Beschäftigte auf die Straße Gerade bei der Pflege von Menschen gerät die Caritas in eine Zwickmühle: Christlich anständig oder ökonomisch denkend? Variante eins ist vielen Pflegebedürftigen und Angehörigen schlichtweg zu teuer. Variante zwei ist moralisch anfechtbar: Werden dabei womöglich Menschen aus Osteuropa ausgebeutet? Unterwandert die Kirche ein akzeptables Lohnniveau, sofern es das in der deutschen Pflegebranche überhaupt gibt? Einiges läuft derzeit schief. Immer wieder gingen Mitarbeiter von Caritas und Diakonie in den vergangenen Monaten auf die Straße, in Hamburg, Hannover, Oldenburg, Osnabrück oder Vechta. Ihr Streikrecht mussten sie gerichtlich klären lassen. Bisher hielten auch sie am sogenannten dritten Weg fest, dem kirchlichen Sonderarbeitsrecht, dessen Kern eine grundsätzliche Absprache bildet: keine Betriebsräte, keine mit Gewerkschaften ausgehandelten Tarifverträge, kein Arbeitskampf – aber Löhne, die sich grob an denen des öffentlichen Dienstes orientieren. Doch in letzter Zeit wird diese Absprache zunehmend missachtet. Mit mancherlei Tricks werden Löhne gedrückt. Gewerkschafter fordern, dass, wenn bei den kirchlichen Verbänden schon ähnlich harte Geschäftspraktiken gelten würden wie bei privaten Anbietern, die Mitarbeiter dann auch das Recht haben sollten, zu streiken. »Wir versuchen, uns gerade ein Bild zu machen«, antwortet das Diakonische Werk der EKD auf die Frage nach eigenen Zeitarbeitsfirmen und Leiharbeitern. Offenbar ist der Wildwuchs ziemlich ausgeprägt. Man hoffe, Ende September aussagekräftige Ergebnisse vorliegen zu haben, heißt es. Der »Spagat zwischen Wirtschaftlichkeit und Nächstenliebe«, von dem das Diakonische Werk der EKD spricht – er gelingt offensichtlich nicht immer. Die Kirchen und ihre Verbände operieren heute in vielen Bereichen wie Konzerne, sie müssen es sogar. Doch greifen manche Auswüchse um sich, droht ihnen ein Verlust ihrer Glaubwürdigkeit. Und der wirtschaftliche Druck auf Einrichtungen der Caritas und der Diakonie, aber auch auf Gemeinden und Bistümer, nimmt in Zukunft wohl eher noch zu.

Fotos [M.]: Topic Media (o.); Lehtikuva/action press

WIRTSCHAFT

38 6. Oktober 2011 Kursverlauf

Veränderungen seit Jahresbeginn

WIRTSCHAFT

FINANZSEITE

DIE ZEIT No 41

$ DAX

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1,32 US$ –1,5 %

76 US$/BARREL –15,3 %

1648 US$/ FEINUNZE +15,9 %

ALUMINIUM ZUCKER

0,25 US$/PFUND –23,4 %

2206 US$/ TONNE –11,7 %

GELD UND LEBEN

Card? Cash! Bei Kreditkarten und ihren Kosten lohnt es sich, genau hinzuschauen

38,4 Millionen für einen Warhol

Illustration: Karsten Petrat für DIE ZEIT/www.splitintoone.com

Samuel hat das System durchschaut. Samuel, so nenne ich einmal den New Yorker Taxifahrer, der mich neulich vom Flughafen JFK nach Manhattan fuhr. Samuel, 49 Jahre alt, Rastalocken, nebenbei Musiker, stammt von der Elfenbeinküste. Er erzählte, dass er als Kind in seiner Heimat immer die Deutsche Bundesliga gesehen habe, und wir waren uns einig, dass der schüchterne Auftritt der Deutschen im Halbfinale der WM 2010 enttäuschend war. Beide liebten wir Seinfeld, die ultimative Fernsehserie über die Widrigkeiten des New Yorker Alltags. Und auch bei der Frage »cash or card?« war unsere Antwort einhellig: cash! Er sehe nicht ein, sagte Samuel, warum eine Firma fünf Prozent bekommen solle, die mit uns beiden in diesem Taxi nichts zu tun habe. Klar, man kann diffeDiese Woche von renzierter argumentieren, Arne Storn dachte ich mir, etwa von »Dienstleistung« faseln. Im Nachhinein aber wünsche ich mir, ich hätte mich auch danach an unser beider Rat gehalten und vornehmlich in bar bezahlt. Zurück in Deutschland, erhielt ich direkt eine lange Liste mit all meinen Kreditkartentransaktionen. Dass außerhalb der EU Gebühren anfallen, war mir vor der Abreise klar, nicht aber, dass es eine Mindestgebühr von 1,50 Euro je Einsatz gibt. Und das läppert sich. Ob beim Postkartenkauf für 8,11 Dollar oder beim Museumseintritt für 20 Dollar, überall kamen am Ende 1,50 Euro hinzu. Da kann man jedes Gerede vom günstigen Wechselkurs vergessen. Überhaupt, der Wechselkurs: Wie der Euro an Wert verlor, kann ich Tag für Tag meiner Liste entnehmen. Mehr Bargeld, früh besorgt – das wäre für mich günstiger gewesen. Die Alternative ist, die Konditionen seiner Kreditkarte zu prüfen: Jahresgebühr, Auslandsgebühr, Tageslimits, Guthabenzins oder Kreditfunktion. Welche Karte passt zu den Bedürfnissen, wo verstecken sich Kosten, ist ein Wechsel sinnvoll? Bei meiner Kreditkarte ist eine Auslandskrankenversicherung inklusive, das finde ich sehr praktisch, dafür zahle ich gern. Doch diese Mindestgebühren, die ärgern mich. Und so werde ich jetzt doch einmal en detail vergleichen.

D

ie Anspannung ist Brett Gorvy anzusehen. Kleine Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn. Gorvy leitet die Abteilung für zeitgenössische Kunst beim Londoner Auktionshaus Christie’s. Stumm hebt er die Hand. Diese Geste ist 31,5 Millionen Dollar wert. Der anonyme Anrufer am anderen Ende der Leitung hat gerade sein Gebot erhöht. Und es ist Gorvys Aufgabe, den Willen seines Mandanten in ein entsprechendes Handzeichen zu übersetzen. Im Mittelpunkt des Bieterduells bei den Frühjahrsauktionen in New York steht ein mittelgroßer Silk-Screen-Druck in Blautönen des teuersten Künstlers unserer Zeit: Andy Warhol. Es ist ein Selbstporträt von 1963/64, vier Schnappschüsse eines jungen, coolen Warhol mit der berühmten Sonnenbrille. Für die Auftragsarbeit hatte Warhol

Anleger flüchten aus Aktien und Anleihen in die Kunst. Bei Auktionen werden wieder Rekordpreise bezahlt VON CATRIONA MCLAUGHLIN

damals 1600 Dollar bekommen. Nun hebt Gorvy erneut die Hand. Das Gebot steht bei 33 Millionen. Der Auktionator nickt zufrieden, ein Raunen geht durch den Saal. Gorvys Anrufer – angeblich ein europäischer Sammler – sichert sich schließlich den Warhol. Für 38,4 Millionen Dollar. Es sind Szenen wie aus einem Hollywoodstreifen. Doch das Wettbieten der Kunstnarren in New York ist noch mehr: ein Ausrufezeichen der Branche. Fast 600 Millionen Dollar brachten die zeitgenössischen Werke allein in den Abendauktionen der drei großen Häuser Christie’s, Sotheby’s und Phillips de Pury in New York ein. Auch die Londoner Auktionen Ende Juni liefen gut. Während die Arbeitslosenquoten in den USA Rekorde brechen und der Euro in Bedrängnis ist, blicken Verkäufer und Auktionshäuser zuversichtlich auf die Auktionen im Herbst. »Der Markt ist zwar noch nicht ganz da, wo er einmal war, aber er ist fast zurück«, sagt Tobias Meyer, Auktionator bei

Sotheby’s. Und das Wall Street Journal titelte: »Der Anlageklasse in einer Reihe mit Devisen oder IndusKunstmarkt kommt zurück«. trieanleihen. Viele Käufer orientieren sich weniger Mit dem Untergang der US-Investmentbank an ihren Gefühlen und mehr an den Gutachten Lehman Brothers vor drei Jahren war der Kunst- internationaler Berater und Indizes wie dem Meimarkt in eine Art Schockstarre verfallen. Als an der Moses-Index. Der Index hilft bei der Entscheidung, ist aber Wall Street die Geldhäuser wankten, fielen die Preise vor allem im spekulativen zeitgenössischen freilich nicht das einzige Kriterium. AusschlaggeMarkt um ein Drittel, Werke fanden keine Ab- bend sind nach wie vor die Künstlerpersönlichkeit, nehmer. Anerkannte Künstler wie Francis Bacon der Werdegang eines Werks, nicht zuletzt der perwurden für einige Zeit gar nicht mehr gehandelt. sönliche Geschmack. Schließlich »möchte man sich Die Sotheby’s-Aktie fiel von 50 auf 9 Dollar. diese Investition ja auch an die Wand hängen könEs war ein jäher Absturz. Denn vor Ausbruch nen«, so Suzanne Gyorgy, Kopf der Beratungsabteider Finanzkrise schien die Kunstszene keine Gren- lung für Kunst bei der Citibank. »Das macht es zen zu kennen, weder beim Geschmack noch beim aufregender, als in Wertpapiere zu investieren.« Die Geld. Als geradezu prophetisch erwies sich Damien Sammler seien heute sehr viel besser informiert als Hirst mit seinem Totenschädel, den er mit 8601 früher, sagt Gyorgy. Für Künstler ohne länger anDiamanten besetzt hatte. Ohne eine Galerie ein- haltende Karriere würden kaum noch hohe Sumzuschalten versteigerte der britische Künstler sein men geboten. Sicherheit ist das Gebot der Stunde. Werk im Sommer 2007 direkt über ein AuktionsDoch ist Kunst eine echte Alternative zu Applehaus – für 100 Millionen Dollar. Aktien oder griechischen Staatspapieren? Simon de Es war der höchste Preis, der je für Pury, Vorstand und Hauptdas Werk eines lebenden Künstlers auktionator des Auktionsgezahlt worden ist. Auf dem HöheMei-Moses-Index hauses Phillips de Pury, der punkt der Euphorie 2007 kamen bei Sotheby’s und Christie’s Werke Nummer drei nach Christie’s im Wert von 11,3 Milliarden DolDer Index gibt Auskunft und Sotheby’s, ist von der über die WertentwickAttraktivität von Kunst als lar unter den Hammer. Zwei Jahre lung von Kunstobjekten. später schafften die beiden Häuser Vermögensanlage überzeugt. Er vergleicht die Preise, nicht einmal mehr die Hälfte dieser »Es lohnt sich sicherlich, jetzt die ein Werk auf der Summe. Doch im vergangenen zu investieren, besonders ersten und der jüngsten Jahr waren es bereits wieder 9,8 wenn man die kommende Auktion erzielt hat, und Milliarden Dollar. Und vieles deuInflation und steigende Preileitet daraus einen jährtet darauf hin, dass dieses Jahr noch se in Betracht zieht oder auch lichen Ertrag ab. Der besser werden könnte. einfach den Umstand, dass Index geht auf die beiden Doch was ist heute anders als sich Kunst als Anlageform New Yorker Forscher beim letzten Hype? Heute setzen seit 1850 nachweislich gut Jiangping Mei und Midie Superreichen noch mehr als entwickelt hat.« De Pury bechael Moses zurück. Sie früher auf die großen Namen. Am obachtet ein zunehmendes fanden heraus, dass ihr liebsten auf Andy Warhol. Mit Interesse von den neuen ProIndex in den vergangenen seinem Handzeichen hat Brett fiteuren an den Finanzmärk50 Jahren fast exakt den Gorvy im Mai einen neuen Auktiten, die anfingen, Kunst als Aktienindex der 500 alternative Anlageform zu ons-Weltrekord für ein Warholgrößten US-Börsenunterbetrachten. »Das ist ein Porträt gesetzt. Der maximale nehmen abgebildet hat. Grund, warum der KunstSchätzwert hatte bei 30 Millionen markt wächst und die Preise Dollar gelegen, mehr als acht Millionen Dollar weniger als der anowieder ordentlich nach oben nyme Sammler am Ende dafür gehen«, sagt er. Auch für den Auktionator Tobias Meyer sind bezahlte. Warhols Werke allein setzten bei den MaiAuktionen in New York 168 Millionen Dollar um, Kunst und Kapital eng verwoben. »Der Markt, von damit machte der Pop-Art-Künstler ein Drittel des dem wir sprechen, das sind die oberen Prozent der gesamten Auktionswertes aus. Auch ein Mark Gesellschaft. Diese sind sehr einflussreich auf den Rothko erzielt in diesen Zeiten Rekordsummen. Finanzmärkten. Schon deshalb ist der Kunstmarkt Untitled No. 17 wechselte für 33,7 Millionen Dol- sehr eng mit dem Finanzmarkt verbunden. Gibt es lar den Besitzer. Geschätzt wurde das Werk zuvor eine Krise, spüren wir das sofort«, sagt Meyer. auf 22 Millionen Dollar. Verändert hat die Kunstszene auch die GlobaliDank Warhol hat zeitgenössische Kunst die sierung. Die neuen Reichen der Schwellenländer impressionistischen Werke, die zuvor die Privat- drängen nicht nur auf die Forbes-Liste der Milliarräume von Hedgefondsmanagern und Selfmade- däre, sondern mehr und mehr in die Welt der Milliardären zierten, zumindest bei den Preisen schönen Künste. Die Chinesen haben im verganüberholt. Sind die reichen Kunstliebhaber etwa genen Jahr bei Auktionen und in Galerien Kunst risikofreudiger geworden? Im Gegenteil. Denn im Wert von sechs Milliarden Euro erworben. Nur sie setzen auch bei den zeitgenössischen Künst- die Amerikaner gaben noch mehr aus. lern auf Bewährtes. Neben Warhol zum Beispiel Für asiatische Kunden stellt Christie’s inzwiauf Cindy Sherman, deren Selbstporträt von schen einen asiatischen Experten zur Verfügung. 1981 mit knapp 3,9 Millionen Dollar in diesem Eine Veränderung der Kundschaft beobachtet Jahr zum teuersten Foto in der Geschichte der auch Simon de Pury: »Bei jeder Auktion haben Kunstauktionen wurde. Das Werk ist schon lan- wir inzwischen eine Handvoll neuer Käufer, die ge in den Kunstenzyklopädien zu finden. Doch aus allen Teilen der Welt kommen, aus Russland, vor drei Jahren, glaubt der Kunstexperte Gorvy, Asien, den Golfstaaten und Lateinamerika.« hätte man für dieses Bild keinen Käufer gefunDer Kunstmarkt ist längst zu einem Riesenden. Zu konservativ. geschäft geworden. Und doch ist die Rendite Und noch etwas ist anders als vor der Krise. Der nicht alles. Das beweist – wieder einmal – Andy Kunstmarkt lockte stets durch eine Mischung aus Warhol. Für Auktionator Brett Gorvy ist der Leidenschaft und Kalkül, doch jetzt scheint das Kauf des Selbstportäts ein »echter LeidenschaftsKalkül klar die Oberhand zu haben. Die Kunst- kauf« und weniger ein realistisches Abbild seines sammler sind vorsichtiger, zurückhaltender und eigentlichen Werts. Das hätte Warhol gefallen. überlegter als noch vor wenigen Jahren. Heute gilt der Kunstmarkt vielen Sammlern als asset class, als A www.zeit.de/audio

WIRTSCHAFT

ANALYSE UND MEINUNG

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

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Bei Licht betrachtet

Erhebt keine Reichensteuern!

Können die Griechen ihre Krise mit dem Export von Sonnenstrom überwinden? VON FRITZ VORHOLZ

Mehr Umverteilung auf Kosten der Wohlhabenden geht an die unternehmerische Substanz VON LUTZ GOEBEL

Seit Griechenland in der Schuldenkrise steckt, 200 Megawatt (MW) installiert (in Deutschland gewinnt eine Idee Anhänger, die Ökonomie und waren es mehr als 17 000 MW). Entsprechend Ökologie auf geniale Weise miteinander zu ver- klein ist die griechische Solarbranche. Es gibt zwar söhnen scheint: Die von der Sonne verwöhnten einige Zellhersteller – HelioSphera, Solar Cells Griechen sollen mit deutscher Hilfe Solarstrom Hellas und Silcio; im Vergleich zu den chinesierzeugen und die solaren Kilowattstunden nach schen Konzernen, die den Weltmarkt beherrDeutschland exportieren. Der griechischen Wirt- schen, sind die griechischen Unternehmen aber schaft wäre geholfen, aber eben auch der deut- Zwerge. Investoren, die sich in Griechenland schen, die seit dem Atomausstiegsbeschluss auf engagieren, bringen die Komponenten – Modu»Grün« programmiert ist. le, Wechselrichter und Gestelle – meist selbst mit. Den Aufbau im Süden mit dem Umbau im Die Konsequenz: Während die Ausländer profitieNorden zu verknüpfen, das kann sich Bundesfi- ren, bleibt die Wertschöpfung in Griechenland nanzminister Wolfgang Schäuble gut vorstellen: niedrig. Dass sich daran grundsätzlich etwas än»Griechenland hat eine viel höhere Anzahl von dert, dass sich die unterentwickelte griechische Sonnenstunden im Jahr als wir in Deutschland Solarwirtschaft in einem härter werdenden Umund könnte Strom zu uns exportieren«, sagte er feld gegen die internationale Konkurrenz durchder ZEIT. Ähnlich äußert setzt, ist nach Einschätzung sich Bundeswirtschaftsmides Bonner Marktfornister Philipp Rösler, in schungsinstituts EuPD Redessen »Marshallplan« für search eine »sehr optimistiGriechenland erneuerbare sche« Annahme – also unwahrscheinlich. Energien eine wichtige RolHinzu kommt: Selbst le spielen. Rösler, der diese die wenigen bisher in Woche Griechenland beGriechenland installierten sucht, hat fast zwei Dutzend Solaranlagen überfordern Manager aus der Erneuerteilweise die örtlichen bare-Energien-Branche im Stromnetze. Ein Kabel, Schlepptau. Selbst BDI-PräDIE ANALYSE das dem Solarstromexport sident Hans-Peter Keitel bis nach Italien dienen schwärmt von einem »Enerkönnte, existiert immergiepakt« mit Griechenland. hin. Aber zu allem Übel ist Ist das eine fixe Idee? der per Fotovoltaik erOder könnte die Produkzeugte Strom per se kein tion von grünem Strom der ideales Exportprodukt – es am Boden liegenden griesei denn, der Bau teurer chischen Wirtschaft tatsächlich helfen? Der griechische Umweltminister Stromspeicher ermöglichte es dem Lieferanten, Giorgos Papakonstantinou, ein in London stu- gerade dann zu liefern, wenn der Kunde es dierter Ökonom, ist davon überzeugt. Das Projekt wünscht. Solarstromexport, ein Geschäftsmodell zur Wiederbelebung der griechischen sei »der Traum jedes Politikers«. Wirtschaft? Danach sieht es nicht aus, jedenAbwarten. Den Strom, den sie exportieren könnten, falls nicht in absehbarer Zeit. Selbst die Nutzung von mehr Solarstrom in müssten die Griechen erst einmal herstellen; bisher importieren sie aber acht Prozent ihres Griechenland ist problematisch. Denn bisher Elektrizitätsverbrauchs. Obendrein ist der Strom, kommen für die üppigen Einspeisevergütunden sie erzeugen, alles andere als grün. 85 Prozent gen die griechischen Verbraucher auf, also die, davon werden aus Kohle, Öl und Gas hergestellt. die den Gürtel wegen der Sparpolitik ohnehin Kein anderer europäischer Stromkonzern pro- enger schnallen müssen. Sie würden entlastet, duziert seine Kilowattstunden klimaschädlicher schulterten die Griechenland-Helfer, zum Beials der mehrheitlich in Staatsbesitz befindliche spiel die deutschen Stromverbraucher, in Zukunft die griechische Einspeisevergütung. Mit griechische Versorger DEI. Bisher ist die wichtigste regenerative Strom- dieser Idee und dem Vorschlag, im deutschen quelle Griechenlands die Wasserkraft. Strom aus Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) die VoWind- und Sonnenkraft steuerte nach vorläufigen raussetzungen dafür zu schaffen, sorgte Horst Erkenntnissen der Internationalen Energieagen- Reichenbach, der Leiter der Task Force der EUtur (IEA) im Jahr 2010 gerade einmal rund vier Kommission für Griechenland, schon für AufProzent zum griechischen Verbrauch bei, deutlich regung. Umweltminister Norbert Röttgen ließ umgehend wissen, »dass das EEG dafür nicht weniger als in Deutschland. Dabei sind die klimatischen Voraussetzungen infrage kommt«. Raus aus der Krise mit grünem Strom? Mit für die Nutzung der Fotovoltaik in Griechenland tatsächlich viel besser als hierzulande. Die in Ki- Fotovoltaik wäre das mehr als ein kleines Abenlowattstunden pro Quadratmeter gemessene teuer. Solarthermische Kraftwerke, bei denen Globalstrahlung ist wesentlich höher. Griechen- die Solarenergie nicht direkt in elektrischen land verfügt auch bereits seit Längerem über groß- Strom umgewandelt wird, sondern der Erzeuzügige Tarife für die Einspeisung von Solarstrom gung von Wasserdampf dient, kommen aus ins Netz; 55 Cent pro Kilowattstunde gibt es der- geografisch-physikalischen Gründen kaum inzeit für Solarstrom von Dachanlagen, mehr als 30 frage, die Strahlung reicht nicht. Bleibt die Windenergie. Vor allem auf den Cent für Strom von großen Solarparks; das ist viel mehr, als es in Deutschland gibt. Die Rendite von Inseln weht der Wind kräftig; die EinspeiseverFotovoltaik-Anlagen, sagt Gerhard Stryi-Hipp, gütung beträgt knapp neun Cent pro KilowattLeiter Energiepolitik des Fraunhofer-Instituts für stunde, ungefähr so viel in Deutschland. In ihSolare Energiesysteme, liege »deutlich höher als ren Aktionsplan für erneuerbare Energien hat in Deutschland«. Deshalb erlebt Griechenland die Athener Regierung denn auch geschrieben, momentan trotz Krise einen regelrechten Solar- dass im Jahr 2020 schon fast ein Viertel des heiboom. Mehrere Parks baut beispielsweise der mischen Verbrauchs aus Windenergie kommen soll. Nur, der Wind weht eben auch anderswo, Hamburger Solarkonzern Conergy. Dennoch, der griechische Solarmarkt ist im- nicht zuletzt in Deutschland. Griechenland hat mer noch winzig; Ende 2010 waren nicht einmal keine besonderen Standortvorteile.

Wenn man den Esel nicht erwischen kann, schlägt man den Sack. Mit der Forderung nach Steuererhöhungen für vermeintlich Reiche wird wieder einmal der Sack geschlagen, weil sich die Esel – die vielen Urheber der Finanzkrise – aus dem Staub gemacht haben. Die Finanzkrise und jetzt die Euro-Staatsschulden-Krise sorgen für so hohe Folgekosten und haben zu einer so tiefen Vertrauenskrise geführt, dass Forderungen nach Steuererhöhungen für die Bezieher höherer Einkommen populär werden. Das schlachten, wen wundert’s, auch einige Parteien und Politiker populistisch aus – allen voran die SPD und die Grünen mit ihren neuen Steuerkonzepten. Bevor wir den Sack verteidigen, bleiben wir kurz bei den vielen Eseln, die unsere westlichen Länder in zwei Krisen hintereinander manövriert haben. Am Beginn der Krise stand eine Politik, die massiv niedrige Zinsen für die Wirtschaft und, nicht zu vergessen, ihre Staatshaushalte forderte. Dem folgten zuerst die stark politisierte Federal Reserve Bank in den USA, bald auch die Europäische Zentralbank (EZB) und andere Zentralbanken. Sie lieferten das Spielgeld für Finanzprodukte, die komplett von der Realwirtschaft entkoppelt und häufig mit weniger als fünf Prozent Eigenkapital unterlegt waren. Im Klartext: Wer für seine risikoreichen Geschäfte nicht mehr selbst mit eigenem Geld haftet, kann sich leicht völlig aus der Verantwortung ziehen. Und das geschah auch: Dieses negative Anreizsystem, gepaart mit der kriminellen Energie einzelner Akteure, führte zu den bekannten Kettenreaktionen. Als Esel taten sich in Deutschland besonders Landesbanken hervor, die noch auf faulen Papieren sitzen.

A

Nun sollen also die Kosten weitergereicht werden mögen dagegen bleiben immer im eigenen Land – und obere Einkommen stärker belastet werden. Das vorerst zumindest. Wenn Deutschland durch falsche Problem in der Argumentation der Befürworter wird Regulierungen seine gesunde industrielle Basis veroffenbar, schaut man sich die echten Zahlen an: Die liert, würde nicht nur auf den Sack geschlagen, oberen 10 Prozent der Einkommensteuerzahler sondern auf viele Menschen, die in den vergangenen schultern bereits 53 Prozent des Aufkommens, die zwei Jahren vom Beschäftigungswunder profitierten. oberen 25 Prozent bringen 75 Prozent, die unteren In öffentlichen Haushalten ist genügend Spar25 Prozent zahlen praktisch keine Steuern. Unsere potenzial: etwa bei den Subventionen. So erhielten Gesellschaft ist viel solidarischer, als viele es wahr- Automobilhersteller erst in der Krise mit der Abnehmen – auch dank der Reichen. wrackprämie fünf Milliarden Euro, um jetzt trotz Besonders ärgerlich ist allerdings, dass die Befür- hoher Gewinne für die Subvention von Elektroautos worter einer Erhöhung der Einkommensteuer – wieder eine Milliarde Euro zu empfangen. Das beauch die aus der Wirtschaft – nur aus legt: Schon jetzt hat durch wieder der Politiker- oder der Managerper- L U T Z höhere Steuereinnahmen der Spardruck nachgelassen. Nach Steuererspektive argumentieren, für die die Ein- G O E B E L höhungen ginge er ganz verloren. kommensteuer nichts anderes als ihre Die Verhinderung einer neuen Lohnsteuer ist. Ein oder zwei ProzentFinanzkrise ist die wichtigste politipunkte mehr dürften für viele von ihsche Aufgabe. Nur: Die bisher genen leicht möglich sein. Doch über 90 Prozent der deutschen Unternehmen troffenen Regulierungen sind unzureisind kleine und mittlere Familienunterchend und verstärken sogar krisenvernehmen, deren eigentliche Unternehschärfende Anreize, konzentrieren sich menssteuer die Einkommensteuer ist. ist Geschäftsführenauf normale Banken und lassen das Steuererhöhungen für diese tragende der Gesellschafter Schattenbankensystem wie HedgeSäule der Wirtschaft sind Gift für den der Henkelhausen fonds völlig unbeeinträchtigt. Das Zocken wird gegenüber dem KreditAufschwung und neue Arbeitsplätze. GmbH & Co. KG Das gilt in noch viel stärkerem in Krefeld und geschäft mit der Realwirtschaft immer Maße für die Pläne einer Vermögen- Präsident des noch begünstigt. Das sorgt auch unter steuer beziehungsweise Vermögens- Verbandes »Die deutschen Familienunternehmern für abgabe. Geldvermögen können sich Familienunternehgroßen Unmut – und die Antworten weltweit frei bewegen, werden also mer – ASU« mit Sitz hierauf sind bis heute eher Scheindeschnell vor Einführung einer solchen in Berlin batten und politische »Eseleien« als Steuer verlagert werden. Betriebsverzukunftssichere Lösungen.

DER ÖKONOM

Irgendwo auf der Welt Seit dem Erdbeben von Japan haben Forscher Neues über die globalen Lieferketten gelernt Wie funktioniert es eigentlich, dass Autos, Laptops und Digitalkameras entstehen – aus Hunderten Bauteilen Dutzender Hersteller rund um den Globus? Klingt nach einer einfachen Frage, aber in Wahrheit weiß es niemand ganz genau. Denn mit den Lieferketten eines Industriekonzerns ist es ein bisschen wie mit einem Flugzeug. Beides sind ungeheuer komplizierte Systeme. Solange sie funktionieren, will niemand etwas ändern. Welche Mechanismen und Routinen dabei im Lauf der Jahre entstehen und sich einschleifen, offenbart sich beim Flugzeugfliegen oft erst nach einem Absturz – und bei Lieferketten, wenn sie gerissen sind. Über die Letzteren weiß man seit dem japanischen Erdbeben im März deutlich mehr. Damals zerrissen die Lieferketten Hunderter Unternehmen – von A wie Apple bis Y wie Yamaha. Doch so gut wie kein Endhersteller hat seither Produktionsschritte ins eigene Unternehmen zurückgeholt. »Das Beben hat mehr Lieferketten gestört als jede Katastrophe zuvor«, sagt James Rice vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. »Jetzt, ein halbes Jahr später, liegen viele Informationen aus Japan vor, und man kann neue Schlüsse ziehen.« Erste Erkenntnis: Kaum jemand hat noch den Überblick. »Viele Unternehmen merkten nach dem Beben, dass ihnen ein Bauteil fehlt, wussten aber gar nicht, wer das herstellt«, sagt der Züricher Professor Stephan Wagner. Denn

VON PIERRE-CHRISTIAN FINK

die einzelnen Glieder in der Lieferkette haben Heiss von der Unternehmensberatung Oliver auch wieder Lieferketten, und deren Glieder Wyman. Jetzt versuchen viele Endhersteller, haben Lieferketten, und so weiter. Was die Sa- ihre Lieferketten sehr viel widerstandsfähiger zu che noch komplizierter macht: Die meisten Lie- machen. Etwa indem sie jedes wichtige Bauteil ferketten spannen sich inzwischen über Staaten, von mehreren Zulieferern beziehen, möglichst aus verschiedenen Staaten. gar Kontinente hinweg. Doch sogar solche Absicherungen versagen Zweite Erkenntnis: Das mit der globalen mitunter. Das spürten im Produktion ist nicht die alleiMärz die Hersteller von tragnige Wahrheit. Volker Wittke barer Elektronik. Ihnen half es von der Uni Göttingen sagt: nichts, dass sie die Kompakt»In etlichen Branchen gibt es die; (Wirtsch.) Der ganze Akkus für ihre Produkte bei gar nicht mehr viele Orte auf Transportablauf von Rohverschiedenen Zulieferern einder Welt, an denen ein beund Zwischenprodukten bis kauften. Denn Kompakt-Akstimmtes Produkt hergestellt hin zum fertigen Erzeugnis. kus benötigen ein Polymer, wird.« Das folgt aus der magidas weltweit fast nur ein Unschen Verbreitung der ZuliefeZunehmend international ternehmen herstellt. Dessen rer-Idee: Am Ende spezialisiert Name: Kureha. Der Standort: sich jedes Unternehmen auf eine winzige Nische. Und Firmen, die in der Nordjapan. Daher konnte nach dem Beben gleichen Nische arbeiten, produzieren oft am zum Beispiel Apple vorübergehend sein iPad 2 selben Ort – weil sich dort das nötige Know- nicht mehr herstellen. Gegen solche Ausfälle hilft nur eines: Vorrähow und die richtige Infrastruktur entwickelt haben. Zum Beispiel für die Produktion von te anlegen. »Viele Produzenten bauen derzeit Kunstharz, mit dem Mikrochips in Handys ge- für ihre kritischen Teile Puffer auf«, beobachtet klebt werden. Das war kaum jemandem aufge- Heiss. Vor dem Beben wäre das noch undenkfallen, bis das Erdbeben in Nordjapan 90 Pro- bar gewesen, sagt der Züricher Professor Wagzent der weltweiten Kunstharz-Fertigung vorü- ner: Es galt als zu teuer. Aber war es das wirklich? Der Autokonzern bergehend lahmlegte. Solche Überraschungen »haben die Ein- General Motors musste im März eine Fabrik in kaufsabteilungen großer Industriekonzerne in den USA schließen, weil ein Sensor aus Japan den Grundfesten erschüttert«, sagt Christian fehlte – Einkaufspreis: 2 Dollar.

Lie fer kette,

Foto: Die Familienunternehmer

FORUM

40 6. Oktober 2011

WIRTSCHAFT

WAS BEWEGT

DIE ZEIT No 41

Ilse Aigner?

Von der bayerischen Alm bis ins kalifornische Silicon Valley reichen die Aufgaben der Ministerin für Landwirtschaft, Ernährung und Verbraucherschutz

Verbraucherschützerin Ilse Aigner ringt mit Facebook. Eine Reise nach Amerika wird zum Sinnbild ihrer Politik

I

n breiten Kaskaden stürzt das Wasser eine schwarze Wand hinunter, sammelt sich und strömt dann weiter, in Tiefen, deren Ende nicht zu fassen ist. Ilse Aigner legt Blumen am neu errichteten Mahnmal in New York nieder, das an die Terroranschläge vom 11. September 2001 erinnert. Etwas verloren blickt sie hinunter. Der Schlund zeichnet das Fundament eines der eingestürzten Türme des World Trade Center nach. Die Bundesministerin tritt privat auf, denn noch sollen die Angehörigen der fast 3000 Todesopfer ungestört trauern können. Im Ministerium hatte man sich das anders vorgestellt, hoffte auf einen offiziellen Auftritt am Mahnmal. Doch nun gerät der Besuch zum Symbol für die Zerrissenheit, die Aigner ausmacht. So groß der selbst gewählte Auftrag der Verbraucherschutzministerin ist, so oft und sehr mangelt es ihr an politischen Möglichkeiten. Aigner tritt Mächten entgegen, die sie am liebsten nur als Störung der Routine wahrnehmen wollen. Die Ministerin ist in die USA geflogen, um ihren größten Gegner zu stellen: Facebook, das globale Soziale Netzwerk mit mehr als 750 Millionen Nutzern, das die Daten seiner Kunden dazu nutzt, Profile für passgenaue Werbung zu bilden. Einmal eingegeben, sind die Daten nie wieder vollständig löschbar. Aigner ist die Letzte im Bundeskabinett, die das Internet als ein gestaltbares Feld betrachtet. Ihre Fahrt nach New York und Washington in diesem September ist der dritte Anlauf, den Datenschutz im Netz nach ihren Vorstellungen zu ordnen. Zuvor hatte sie erfolgreich für die Häuserverpixelung auf Google Street View gekämpft und ihren Ausstieg aus Facebook medienwirksam zelebriert.

»Bitte schön, auf Wiedersehen«, schon ist sie wieder draußen Doch Amerika hat nicht auf Aigner gewartet. Auch der Diensthabende der berühmten Feuerwache am Ground Zero schaut irritiert durch die halb geöffnete Tür. Nein, niemand habe ihm eine Ministerin angekündigt, und seine Einheit müsse jetzt zu einer Übung. Die Peinlichkeit des Augenblicks lässt den Ministertross erstarren, hektisch wird verhandelt. Dann steht Aigner doch vor den Feuerwehrautos, wirft einen Blick auf die Namen der Toten. »Waren Sie hier, als es geschah?« Nein, war er nicht, sagt der Feuerwehrmann, aber etwas Deutsch kann er: »Bitte schön, auf Wiedersehen«, schon ist sie wieder draußen. Das ist Ilse Aigner: eine Ministerin, die geduldig wartet, sich nicht über den missglückten Auf-

tritt empört. Die es aushält, ein Haus zu leiten, in dem der Streit immer schon angelegt ist, weil die Interessen der Bauern gegen die der Verbraucherschützer stehen. Die von einem Moment auf den anderen mitten im Feuer steht: Dioxin, Ehec, sogar Fukushima – jedes Mal verlangen Verbraucher nach Antworten. Sie binden so über Wochen und Monate Kräfte, die eigentlich Politik gestalten sollten. Und oft genug kann Aigner die Antworten trotz aller Anstrengung gar nicht geben, darf keine Entscheidungen treffen: Mal sind die Länder zuständig wie beim Seuchenschutz, mal liegt die Federführung beim Innenminister wie beim Datenschutz. Marne Levine gehen diese Worte nur schwer über die Lippen: data privacy protection. Aber immerhin spricht die für Lobbyismus zuständige Vorstandsfrau von Facebook die Worte öffentlich aus. Alle anderen großen Internetunternehmen wie Google oder Microsoft, die die Ministerin in Washington besucht, lassen die mitreisenden Journalisten nicht mal in ihre Gebäude. Eine Ministerin kann man nicht abweisen. Aber ihr die öffentliche Wirkung rauben, das schon. Auch einige staatliche Behörden schweigen lieber, unter anderem die für den Datenschutz zuständige Federal Trade Commission (FTC). Aigner überragt ihre Gesprächspartnerin von Facebook um einen Kopf. Levines konservativer schwarzer Hosenanzug steht im Kontrast zu ihrem bunt-flippigen Büro. Facebook will anders sein, gerade hier in Washington. Offen ziehen sich die Rohre der Klimaanlage durch die Großraumbüros. Eine grob verputzte Wand dient als Gästebuch, ein irgendwie zwischen die Stockwerke gehängter Raum als Partykeller. Große Bildschirme hängen an der Wand, »damit unsere Leute zur Entspannung Computer spielen können«, sagt Levine, »aber dazu haben sie eigentlich nie Zeit«. Die US-Kongressabgeordneten, die Facebook besuchen, sollen merken, dass sie es mit einer neuen, innovativen Welt zu tun haben. Es ist die Uniform der New Economy. Lässig. Stylish. Erfolgsverwöhnt. Aigner hat für Levine unerfreuliche Botschaften mitgebracht, ihre Vorstellungen sind sehr klar: Facebook muss verstehen, dass schon das Erheben von Daten in Deutschland ein Problem sein kann, noch mehr deren Speicherung und kommerzielle Verwertung. Nutzer müssen sehen können, was das Unternehmen mit den Informationen tut. Die Voreinstellungen bei Neuanmeldungen müssen so gestaltet sein, dass sie den größtmöglichen Schutz für alle persönlichen Daten bieten.

Bis ins Detail wollen die Deutschen wissen, was technisch geschieht, wenn jemand beispielsweise den Gefällt-mir-Button anklickt. Dieser Knopf kann in jede beliebige Internetseite eingebunden werden. Wer bei Facebook angemeldet ist und ihn anklickt, empfiehlt die Seite allen seinen Freunden weiter. Datenschützer fürchten jedoch, dass schon ein Klick auf den Button genügt, damit ein Cookie für zwei Jahre auf dem Computer platziert wird, mit dem dann das Surfverhalten des Nutzers analysiert werden kann – selbst wenn der nicht angemeldet ist. Stimmt das, will Aigner wissen. Die Antwort bleibt unklar, vielleicht kennt Levine sie einfach nicht. Doch sie verspricht: »Wenn Sie in Deutschland aus dem Flugzeug steigen, steht da jemand, der Ihnen alle Fragen beantworten kann.« Dazu kommt es dann aber nicht. Hat die Cheflobbyistin zumindest im Grundsatz verstanden, worum es der Deutschen geht? »Es ist immer gut, miteinander zu sprechen statt übereinander«, sagt Aigner.

Die Ministerin nervt Internetkonzerne so lange, bis sie sich bewegen Man darf diese Antwort als Drohung verstehen. Denn die Ministerin weiß die strukturelle Schwäche ihres Amtes zu nutzen. Ihr Kampf gegen die Internet-Giganten folgt dem Prinzip: Erst deren Image angreifen, dann verhandeln. Die jüngste dieser Spitzen setzte sie, als sie alle Bundesministerien aufforderte, den Gefällt-mir-Button nicht in regierungsamtliche Internetseiten einzubinden. Ist das der richtig Weg, für den Verbraucherschutz im Netz einzutreten? »Die Unternehmen beschädigen selbst ihr Image, wenn sie beim Datenschutz gegen Gesetze verstoßen. Meine Aufgabe als Verbraucherministerin ist es, Missstände zu thematisieren und für die Rechte der Nutzer zu kämpfen«, sagt Aigner. Die Verbraucherschutzministerin sägt so lange an den Nerven der Beteiligten, bis diese sich bewegen. Die Selbstverpflichtung, die Facebook jüngst gegenüber Innenminister Hans-Peter Friedrich in Sachen Datenschutz abgab, wischt sie beiseite. Eine einseitige Verabredung, die weder effektiv kontrolliert noch sanktioniert werde, helfe keinem weiter. Umso begeisterter greift sie eine Waffe auf, die ihr die Beamten der FTC vorführen: »In Amerika werden Selbstverpflichtungen meist in einem gemeinsamen Prozess von Unternehmen, Verbraucherschutzorganisationen und Datenschutzbehörden entwickelt. Erst wenn gar nichts mehr geht, wird die Politik als Schlichter eingeschaltet.« Grobe Verstöße kann die FTC mit Berichtspflichten und hohen Bußgeldern

VON KARSTEN POLKE-MAJEWSKI

ahnden. Das kann sich Aigner auch für Deutschland vorstellen. Hier allerdings zeigt sich die Schwäche der Ministerin. Denn es gibt ja längst Regeln, auch zum Datenaustausch zwischen der Europäischen Union und Amerika. Weil die amerikanischen Standards niedriger sind als die der EU, dürften nämlich eigentlich gar keine Daten den Atlantik queren. Deshalb vereinbarte man vor mehr als zehn Jahren im sogenannten Safe-Harbor-Abkommen, dass USUnternehmen von dem Verbot ausgenommen sind, wenn sie sich verpflichten, entsprechende Schutzregeln einzuhalten. Auch Facebook gehört dazu. Nur belegen Studien, dass lediglich ein Viertel der Unternehmen die Mindestanforderungen des Abkommens erfüllt. Und die FTC schreitet nicht ein. Warum fasst Aigner hier nicht nach? Denn so freundlich die US-Beamten sie nun auch bitten, Verdachtsfälle zu melden: Sie hätte doch wissen können, dass die deutschen Datenschutzbeauftragten längst in Washington Beschwerde eingelegt haben. Sie hätte mit einer Liste von Verstößen anreisen können, die den Ernst ihres Vorhabens belegen. Sie hätte damit drohen können, dass sie in der EU darauf hinwirken werde, das unerfüllte Abkommen neu zu verhandeln. So aber verliert sich die Wucht ihrer Kritik in prozessualen Fragen, wie denn nun korrekt Beschwerde einzulegen sei. Wie glaubhaft ist überhaupt das Bekenntnis zum Kampf für Datenschutz und Privatsphäre im Netz, wenn eine Ministerin in einem Haus von mehr als 900 Mitarbeitern lediglich zwei Personen auf die Fragen des Internets angesetzt hat? Immerhin, als sich Aigner und die Facebook-Managerin Levine voneinander verabschieden, gibt die Amerikanerin der Ministerin mit auf den Weg: »Wir müssen weiter daran arbeiten, unser gegenseitiges Verständnis in diesen Fragen zu entwickeln. Aber ich denke, wir teilen ein gemeinsames Interesse am Schutz der Verbraucher.« Vielleicht ist Aigner also doch einen Schritt vorangekommen. Wenige Tage nach ihrem Besuch wird FacebookChef Mark Zuckerberg verkünden, sein Unternehmen wolle nun zum umfassenden und öffentlichen Privatarchiv seiner Nutzer werden und vom Babyfoto bis zur Traueranzeige alles, wirklich alles einsammeln, was das Leben ausmacht. Das ist ziemlich das genaue Gegenteil dessen, was die Ministerin fordert. Wussten Sie davon, Frau Aigner? »Es ist nicht in Ordnung, dass man uns das in Washington nicht gesagt hat«, antwortet die Ministerin. Was aber wird sie dagegensetzen? »Wir haben ja vereinbart, dass die Diskussion nicht beendet ist. Die wird jetzt um einen weiteren Punkt angereichert.«

Die Mächtigste in der CSU Ilse Aigner, Jahrgang 1964, wuchs in einem Dorf zwischen München und dem Chiemsee auf. Sie trägt gern Dirndl und passt rein optisch gut in ihr Amt als Agrarministerin. Landwirtschaft ist nicht ihr eigentliches Metier. Nach der mittleren Reife machte sie eine Ausbildung zur Radio-, Fernseh- und Elektrotechnikerin und entwickelte für die EADS-Tochter Eurocopter die Systemelektrik für Hubschrauber. Aigner (Foto Mitte: mit der Facebook-Managerin Marne Levine) interessiert sich für Technik und das Internet, auch daher ihr Engagement für Verbraucherschutz im Netz. Mit 18 Jahren trat sie in die Junge Union ein, mit 21 Jahren in die CSU, und seither ging es stetig bergauf. Sie war im Gemeinderat von Feldkirchen-Westerham, im Kreistag von Rosenheim und saß vier Jahre im bayerischen Landtag. Seit 1998 ist sie als direkt gewählte Abgeordnete des Wahlkreises Starnberg-Bad Tölz im Bundestag. Aigner war gerade bildungs- und forschungspolitische Sprecherin der Unionsfraktion geworden, als ein Ministeramt frei wurde: Horst Seehofer ging als Parteichef und Ministerpräsident nach Bayern. Aigner wurde seine Nachfolgerin im Verbraucherschutzministerium. Wegen ihrer Reaktion auf Dioxin-Verseuchungen und wegen des Ehec-Skandals stand sie in der Kritik; die »Bild«-Zeitung titelte: »UngeAignet«. Als Vorsitzende der CSU Oberbayern, des mitgliederstärksten Bezirksverbandes der Christsozialen, ist Aigner (Foto unten am Denkmal für die am 11. September 2001 verstorbenen Feuerwehrleute in New York) die mächtigste Frau ihrer Partei. LSE

Fotos: Gerald Klepka/vanit.de (o.); BMELV (2)

Die Internetministerin

KINDERZEIT

WISSEN

Gemeinsam stark? Warum Staaten sich zusammenschließen S. 49

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

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U M W E LT P O L I T I K

Eine Menge Holz

Mehr, als das Auge sehen kann Der Physiknobelpreis ehrt die Entdecker der »dunklen Energie« im Kosmos. Ihre Forschung zeigt: Über den größten Teil des Universums weiß die Wissenschaft so gut wie nichts VON ULRICH SCHNABEL 11 000 Lichtjahre entfernt leuchten die Überreste der Supernova Cassiopeia A

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ann die Vergrößerung von Unwissen preiswürdig sein? Aber sicher! Der Physiknobelpreis dieses Jahres ist das beste Beispiel dafür. Denn wofür werden die drei Laureaten geehrt? Das Wort hat das Nobelkomitee: »Die Entdeckungen der Preisträger haben dazu beigetragen, uns ein Universum zu enthüllen, das der Wissenschaft zu einem großen Teil unbekannt ist.« Ein Tusch auf das Unbekannte! Dank Saul Perlmutter, Brian P. Schmidt und Adam Riess wissen wir nun: Über den größten Teil des Universums wissen wir so gut wie nichts. Seine Erforscher befinden sich damit in der Situation von biederen Küstenfischern, die plötzlich entdecken, dass vor ihnen ein Ozean unendlichen Ausmaßes liegt, dessen ferne Ufer sie nicht einmal erahnen. Tatsächlich markiert die Arbeit der drei USamerikanischen Astrophysiker eine Zäsur in der modernen Kosmologie. Ihnen verdanken wir die Erkenntnis, dass sich im All eine »dunkle Energie« verbirgt. Welcher Natur diese Energieform ist, darüber zerbrechen sich seit gut zehn Jahren die Wissenschaftler die Köpfe. Klar ist nur, dass von ihr nicht weniger als das Schicksal des Universums abhängt. Dehnt es sich bis in alle Ewigkeit aus? Zieht es sich eines Tages wieder zusammen? Oder sind gar noch andere Weltentwürfe denkbar? Mit dankenswerter Klarheit stellt das Nobelkomitee fest: »Alles ist möglich.« Dabei traten Perlmutter, Schmidt und Riess vor etwa zwanzig Jahren mit dem Ziel an, das bis dahin herrschende Bild vom Kosmos zu bestätigen, es nur noch in einigen Details zu verfeinern. Keiner von ihnen dachte daran, einen Umsturz anzuzetteln. Um zu verstehen, warum es anders kam, hilft es, kurz die wissenschaftliche Schöpfungsgeschichte zu rekapitulieren.

Das Universum verhält sich wie ein Autofahrer vor der Ampel Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts galt der Kosmos als unwandelbares, statisches Gebilde. Was Generationen vor ihnen gedacht hatten, stellten die Physiker lange nicht infrage. Auch Albert Einstein, der das Weltbild revolutionierte, ging selbstverständlich von einem unveränderlichen Kosmos aus. Als die Gleichungen seiner Allgemeinen Relativitätstheorie 1917 wider Erwarten kein statisches, sondern ein expandierendes All beschrieben, »korrigierte« Einstein seine Formeln; er fügte einfach einen zusätzlichen Faktor ein, den er »kosmologische Konstante« nannte. Diese beschrieb zwar keine beobachtbare physikalische Größe, sondern war nur ein Rechentrick. Doch der sorgte mathematisch für Ruhe im All. Dummerweise wies der Astronom Edwin Hubble 1929 nach, dass es mit dieser Ruhe nicht weit her ist. Im Gegenteil, je weiter entfernt eine Galaxie von der Erde ist, desto schneller bewegt sie sich von uns fort – ein Effekt, der sich in einer Ver-

schiebung des Lichtspektrums hin zu größeren, roten Wellenlängen zeigt (»Rotverschiebung«). Das All gleicht demnach einem riesigen, immer weiter aufgehenden Hefekuchen; und wie die darin befindlichen Rosinen treibt es auch die Galaxien im All immer weiter auseinander. Einstein nannte daraufhin die kosmologische Konstante seine »größte Eselei«. Er konnte damals nicht ahnen, dass sie fast ein Jahrhundert später wieder zu Ehren kommen sollte. Zunächst aber gewöhnten sich die Astronomen an den Gedanken eines expandierenden Alls und entwarfen die Urknalltheorie: Demnach begann unser Universum vor knapp 14 Milliarden Jahren in einem Zustand unendlicher Dichte und Temperatur (Big Bang) und dehnt sich seitdem permanent aus. Strittig schien nur, wann der Anfangsschwung an sein Ende kommen würde. Schließlich ist der Kosmos voller Materie; schätzungsweise 100 Milliarden Galaxien tummeln sich im All und ziehen sich gegenseitig an. Diese gewaltige Schwerkraft, so lautete die Annahme, müsste den Schub des Urknalls irgendwann abbremsen. Nur wann? Diese Frage wollte in den neunziger Jahren gleich zwei Astronomenteams beantworten; zum einen das von Saul Perlmutter geleitete Supernova Cosmology Project, zum anderen Brian Schmidts HighZ-Supernova Search Team. Beide untersuchSaul Perlmutter ten die Ausdehnungs(links) erhält eine geschwindigkeit anHälfte des Preises, hand weit entfernter Brian P. Schmidt Sternexplosionen, so(rechts oben) und genannter Supernovae Adam Riess teilen Typ Ia. Diese sind die sich die andere hellsten Leuchtquellen im Universum. Indem man ihre Leuchtkraft misst, kann man auf ihre Entfernung rückschließen. Und mithilfe der Rotverschiebung ihres Lichts lässt sich ihre Geschwindigkeit bestimmen. Dabei erhält man auch einen Einblick in die Geschichte unseres Kosmos: Denn je weiter entfernt ein Stern ist, desto länger braucht sein Licht, bis es die Erde erreicht – desto älter ist also das Objekt. Auf diese Weise wollten Perlmutter und Schmidt herausfinden, ob die Expansionsgeschwindigkeit des Alls im Laufe der Zeit abnahm. Ihre Daten jedoch legten das Gegenteil nahe: Supernovae jüngeren Datums bewegten sich viel schneller als erwartet, ja, die Expansion des Alls schien im Laufe der Zeit nicht ab-, sondern zuzunehmen – ganz so, als ob eine geheimnisvolle Kraft die Galaxien auseinandertriebe. Als Perlmutter im Dezember 1997 diese Ergebnisse erstmals auf einer Tagung vorstellte, so erinnerte er sich später in einem Interview, sei als Ers-

tes der berühmte Kosmologe Joel Primack aufgestanden und habe gesagt: »Bevor jetzt irgendjemand eine Frage stellt, möchte ich klarmachen, was das bedeutet: Das ist ein Schock.« Im Frühjahr 1998 kam dann die Bestätigung von Schmidt und Riess: Ihre Daten zeigten exakt dasselbe Muster. Adam Riess, der damals noch ein junger Forscher war, vermaß in den folgenden Jahren die Supernovae-Geschwindigkeiten immer genauer – mit noch irritierenderem Ergebnis: Demnach verlangsamte sich bis vor etwa 7,5 Milliarden Jahren tatsächlich die Expansion des Alls; danach gewann die Ausdehnung plötzlich wieder an Fahrt. »Das Universum verhält sich wie ein Autofahrer, der beim Zufahren auf eine rote Ampel abbremst und plötzlich aufs Gas tritt, wenn sie grün wird«, kommentierte Riess damals konsterniert. Seither fragen sich die Kosmologen, welche beschleunigende Kraft denn da am Werke sei. Nach dem Faustschen Motto »Wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein« fanden sie zumindest eine passende Bezeichnung: Der Astrophysiker Michael Turner nannte die mysteriöse Treibkraft »dunkle Energie«, in Anlehnung an die »dunkle Materie«, die schon länger in den astronomischen Gleichungen auftauchte. Beides sind allerdings nur wissenschaftlich klingende Ausdrücke für »Nichts Genaues weiß man nicht«. Denn »dunkel« heißt zunächst einmal nur: unsichtbar, unbekannt. Sowohl die dunkle Materie als auch die Energie sind nicht direkt beobachtbar, sie offenbaren sich nur über ihre Wirkungen. Die Dunkelenergie spielt dabei in dem sich aufblähenden All die Rolle der kosmischen Hefe; die Dunkelmaterie ist der Teig, der alles zusammenhält. So lässt sich beispielsweise die Bildung der großräumigen Strukturen im All nur erklären, wenn man von großen Mengen unsichtbarer Materie ausgeht. »Die dunkle Materie und die dunkle Energie sind das Yin und Yang des Universums«, formulierte Michael Turner poetisch. Am Unwissen änderte sich dadurch allerdings nichts. Berechnungen zeigen inzwischen, dass die dunkle Energie rund 70 Prozent der Energiedichte des Alls ausmacht; weitere 25 Prozent gehen auf das Konto der sogenannten dunklen Materie. Damit stehen die Astrophysiker vor dem kuriosen Phänomen, dass die uns bekannten chemischen Elemente nur etwa 5 Prozent des Universums ausmachen. Der größte Teil des Alls dagegen ist der Wissenschaft verborgen.

Nicht dass es an Erklärungen mangelte. Manche Physiker glauben zum Beispiel, dass Einstein mit seiner »Eselei« in genialer Vorwegnahme schon die Lösung skizzierte. Vielleicht beschreibt seine kosmologische Konstante just die geheimnisvolle Hefe im All. Die Quantenmechanik liefert mittlerweile sogar eine physikalische Erklärung dafür. Ihr zufolge lässt sich die kosmologische Konstante als »Vakuumenergie« deuten, die bei den quantenphysikalischen Energiefluktuationen entsteht. Einziger Schönheitsfehler: Die quantenmechanischen Berechnungen ergeben einen Wert, der rund 120 Zehnerpotenzen größer ist als jener, den die astronomischen Beobachtungen erfordern – die »schlechteste Vorhersage« in der Geschichte der Physik, witzeln Theoretiker.

Derzeit lässt sich kaum eine der kosmologischen Theorien beweisen Doch es gibt auch alternative Vorschläge, etwa die Existenz eines noch unbekannten Kraftfelds namens Quintessenz (ein Begriff, der aus der Antike entlehnt ist und der eine fünfte Substanz neben den vier klassischen Elementen – Erde, Wasser, Feuer, Luft – beschrieb). Oder dass die beschleunigte Expansion unseres Kosmos darauf zurückzuführen sei, dass noch viele weitere Universen existieren und eines davon an unserem »zieht«. Oder dass sich die Lichtgeschwindigkeit im Laufe der Ausbreitung unseres Alls verändert – dann müssten die Supernovae-Daten völlig neu gedeutet werden. Leider lässt sich kaum eine dieser Theorien mit heutigen Hilfsmitteln beweisen. Ausgeschlossen scheint nur, dass die Messungen selbst fehlerhaft sind. Mit dem Nobelpreis für Perlmutter, Schmidt und Riess haben die drei den endgültigen Ritterschlag erhalten, der ihre Forschungsergebnisse (fast) unangreifbar macht. Dass der Kosmos damit eher rätselhafter wurde und unser modernes Weltbild weniger geschlossen ist als jemals zuvor, gehört zur Logik echter Forschung. Fortschritt verläuft eben längst nicht immer linear, und manchmal besteht der Erkenntniszuwachs gerade darin, mit scheinbaren Gewissheiten aufzuräumen und einen Zustand größerer Verwirrung herbeizuführen. Häufig ist die Klage zu hören, angesichts der nüchternen Erklärungen der modernen Wissenschaft bleibe kein Platz für das Merkwürdige und Wunderbare (siehe auch Feuilleton S. 64). Da stiftet der diesjährige Physiknobelpreis ein wenig Trost. Schließlich hat die Forschung der drei Laureaten so viele Geheimnisse offenbart, dass der Fantasie ungeahnte neue Räume eröffnet wurden. In der Kosmologie jedenfalls sind die Erkenntnisgrenzen mittlerweile so weit hinausgeschoben, dass in der dunklen Weite des Alls alles denkbar scheint.

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Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/nobelpreis

Fotos: ESA & NASA/dpa; Portraits: Gabriela Hasbun/Redux/laif (o. l.), Australian Academy of Science/epa/dpa (o. r.), Gail Burton/AP (u. r.)

Agrarministerin Ilse Aigner vernachlässigt den Waldschutz Die deutsche Liebe zum Wald ist sprichwörtlich, doch sie ist auch blind. Von allzu viel Kenntnis, gar Politik sollen die tiefen Gefühle nicht getrübt werden, von denen GPS-gestützte Wanderer beim Anblick eines Rehleins ereilt werden – auch wenn das Tier gerade wertvolle Baumtriebe verputzt. Nur mit solch romantischer Ausblendung ist zu erklären, dass das Bundeskabinett eine neue Waldstrategie verabschieden kann, die bis zum Jahr 2020 gelten soll – und kaum öffentlichen Widerhall provoziert. Dabei steht der Wald – immerhin fast ein Drittel der Gesamtfläche Deutschlands – inmitten eines heftigen Zielkonflikts zwischen Nutzen und Bewahren. Er ist nicht weniger brisant als der lautstark beschworene Kampf der Naturschützer gegen neue Windmühlen oder die Futtermittel-Konkurrenz zwischen Teller und Tank. Der »grüne Patient« Wald hat sich seit den siebziger Jahren zwar erholt. Er beherbergt vielerorts wieder mehr Baum-, Tierund Pflanzenarten; die Holzvorräte sind auf europäische Rekordhöhen gewachsen. Doch Naturschützer, Forstwirte und Waldbesitzer stehen jetzt vor einer spannungsgeladenen Herausforderung: Einerseits fordert der Klimawandel große, vielfältige Wälder als Kohlenstoffsenken. Diese müssen mit einer Mischung möglichst einheimischer Baumarten gegen häufigere Trockenheit gewappnet werden. Andererseits erhöht die Energiewende die Nachfrage nach ökologisch verträglichen Brenn- und Baustoffen. Und die Säge- und Holzindustrie schielt auf hungrige Weltmärkte. Dies alles steigert massiv den Druck, im Vorreiterland der Nachhaltigkeit wieder kräftig einzuschlagen. Nach drei Jahren Vorarbeit, einem Veto des Umweltministeriums und mehrfachem Aufschub legt Ilse Aigner endlich ihren Versuch vor, die Interessen auszugleichen. Doch herausgekommen ist ein nur vager Kompromiss. Er soll es allen recht machen – und hat doch eine ökonomische Schlagseite. So erwähnt die Bundesregierung zwar die nationale Biodiversitätsstrategie, die neue Schutzgebiete fordert. Exakte Daten und Pläne fehlen jedoch. Demgegenüber wird den Waldnutzern sehr konkret eine Steigerung der Holzentnahme auf rund 100 Millionen Kubikmeter pro Jahr zugestanden. Genauso viel wie nachwachsen könne, heißt es. Doch das ist zweifelhaft. Zu Recht protestieren Umweltschützer, der Wald werde »zum Rohstofflieferanten herabgestuft«. Im Vergleich zum Durchschnitt der vergangenen Jahre entspreche der Einschlag einer Erhöhung der Menge um real 60 Prozent. Wichtige ökologische Funktionen des Waldes würden dadurch gefährdet, vor allem seine Bodenfruchtbarkeit. Ausgerechnet im Internationalen Jahr der Wälder hat Ilse Aigner eine große Chance verspielt. Höchste Zeit, dass der Wald, wie die Agrarpolitik, zu einem breiten Thema wird. CHRISTIANE GREFE

Tierische Quote In der Hundefutterwerbung gilt es, eine Schwierigkeit zu überwinden: Nicht der Endverbraucher soll die Dosen mit Fleischmaterial kaufen, sondern sein Herrchen. Deshalb suggerieren TV-Spots auch, die Vierbeinerdelikatesse werde aus Filets hergestellt – obwohl den Viechern bekanntlich müffelnde Kadaver besser schmecken. Einen neuen Weg geht Nestlé. Der Futtermulti richtet sich direkt an die Napfnutzer – in der hintergründigen Hoffnung, dass diese winselnd, wedelnd oder sabbernd ihre kaufkräftigen Herrchen erweichen. Die mit dem firmeneigenen Canidenexperten Georg Sanders produzierten Fernsehwerbespots für eine neue Futterlinie sollen direkt beim Hund AufHALB merksamkeit erzeugen. Und zwar mit den hochfrequenten Tönen einer Hundepfeife, akustisch ergänzt wird dieser Lockruf noch mit Gummienten-Quietschgeräuschen. In ersten Tests werden Österreichs Hunde umworben, später sind die deutschen dran. Die Taktik könnte sich auszahlen, nicht nur für den Multi. Gelänge es, hierzulande fünf Millionen Tölen vor die Glotze zu locken, erhöhte dies die Kopfzahl der Zuschauer. Eine tierische Quote? Die Sender würden sich wohl darum reißen, die Spots für den Hund auszustrahlen. Und das Potenzial ist noch größer. Deutschland zählt acht Millionen Katzen. Und viele Meerschweinchen, Vögel, Schlangen, Spinnen. WILL

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42 6. Oktober 2011

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DIE ZEIT No 41

Kommandeure der Selbstverteidigung Die Nobelpreisträger für Medizin haben das Immunsystem beobachtet. Wer dessen Tricks kennt, kann sich gegen Krankheiten wappnen Dendritische Immunzelle als Mittel gegen Krebs

Jules Hoffmann (links oben), Bruce Beutler (links unten) und der verstorbene Ralph Steinman (rechts)

Fotos: Dennis Kunkel Microscopy/Corbis; Portraits: Carlos Barria (l. o.), The Scripps Research Institute (l. u.), Zach Veilleux/Rockefeller University (r. u.) alle: Reuters

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ast hätte Ralph Steinman den größten Triumph seines Lebens feiern können. Das schwedische Nobelpreiskomitee hatte ihn am Montag als einen der drei Gewinner des diesjährigen Medizinnobelpreises vorgestellt. Doch der Ruf erreichte den Adressaten nicht mehr. Drei Tage zuvor war der kanadische Immunologe verstorben. Dieser in der Nobelpreisgeschichte einmalige Vorfall elektrisierte die Medien: der ungerechte Krebstod des bescheidenen Wissenschaftlers, der ihn um die Früchte seines Forscherlebens brachte. Und die kurzfristige Verwirrung des Nobelpreiskomitees darüber, ob es Steinman den Preis entgegen den Statuten doch verleihen durfte (man revidierte die Entscheidung nicht). Für kurze Zeit war das Ereignis mehr als eine zwar prestigeträchtige, aber für Laien letztendlich langweilige Erörterung komplizierter Grundlagenforschung. Über die öffentliche Erschütterung geriet die eigentliche Forschungsarbeit der drei Nobelpreisträger in den Hintergrund. Das hat sie nicht verdient! Schließlich haben der Amerikaner Bruce Beutler, der Luxemburger Jules Hoffmann und eben Ralph Steinman die Grundlagen für möglicherweise bahnbrechende Krebstherapien geschaffen, für neue Strategien gegen die Blutvergiftung und Autoimmunkrankheiten. Lange Zeit konnte sich Ralph Steinman mit seiner Idee nicht durchsetzen. Schlimmer noch: Weil Kollegen seine Ergebnisse aus Unwissenheit nicht in ihren Laboren wiederholen konnten, begegneten sie ihm mit purer Feindseligkeit. Doch versuchte der Immunologe beharrlich, die Fachkollegen von der Bedeutung der von ihm 1973 entdeckten wundersamen dendritischen Immunzellen zu überzeugen. »Wir sind mit ihm damals von Kongress zu Kongress gezogen, wie Jesus mit seinen Jüngern«, erinnert sich der Erlangener Immunologe Gerold Schuler, der als junger Forscher in Steinmans Labor arbeitete. »Die Leute haben ihm nicht einmal geglaubt, dass dendritische Zellen überhaupt existieren.« Mit ihren weit verzweigten Auswüchsen muten dendritsche Zellen wie ein Flechtwerk an. Sie strecken ihre Fühler in alle Gewebe aus, die auf irgendeine Weise Kontakt mit der Umwelt haben – in Haut und Schleimhäute ebenso wie in die Speiseröhre und die Lunge. Die dendritische Zelle ist gleichzeitig erste Verteidigungslinie und Dirigent des Immunsystems. Ralph Steinman wies nach, dass dendritische Zellen Teile von Angreifern wie Bakterien, Viren, Pilzen oder auch beschädigten Körperzellen aufnehmen und sie dann der zweiten Linie der Immunabwehr präsentieren. Erst die dendritische Lehrstunde schaltet diese sogenannten T-Zellen

VON HARRO ALBRECHT

scharf, lässt sie den Feind erkennen. Ohne die Information würden die T-Zellen planlos durch die Blutbahnen patrouillieren. In New York bot die Rockefeller University – eine Institution mit hoher Laureatendichte – dem Wissenschaftler einen sicheren und inspirierenden Arbeitsplatz. Steinmans Forschung gedieh. Der Immunologe ging unermüdlich der Frage nach, auf welche Weise die dendritischen Zellen zwischen bedrohlichen und freundlichen, fremden und körpereigenen Molekülen unterscheiden. »Er hat 15 Jahre gegen enormen Widerstand stur weitergearbeitet«, sagt Schuler. »Wäre er nicht an der Rockefeller University gewesen, hätte er das nicht machen können.« Erst in den neunziger Jahren dämmerte den Spöttern, welchen Schatz Steinman gehoben hatte. Es hagelte Preise. Ralph Steinmans Arbeit zeigt einmal mehr, wie strikt die Arbeitsteilung im menschlichen Immunsystem ist. Es gibt Generalisten wie die dendritischen Zellen und Spezialisten wie die Lymphozyten. Ständig fließen Informationen hin und her. Ist dieses Eiweiß feindlich, gehört dieses Fragment zu einem Eindringling? Während sich der Kanadier Steinman auf den Koordinator im Abwehrkampf konzentrierte, drangen der Amerikaner Bruce Beutler und der Luxemburger Jules Hoffmann zu den Sensoren der ersten Verteidigungslinie weiter innen im Körper vor. Der Biologe Jules Hoffmann beugte sich über Fruchtfliegen. In diesen hatte die deutsche Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard ein Gen mit dem Namen »Toll« entdeckt (angeblich, weil die Arbeitsgruppe die mutierten Fliegen toll fand). Erst galt die Erbinformation als ein Gen, das die embryonale Entwicklung steuert. Dann entdeckte Hoffmann, dass Fliegen mit Mutationen im TollGen an Pilz- oder Bakterieninfektionen starben. Denn Toll produziert Rezeptoren, welche die Eindringlinge wahrnehmen können. Die Erbanlage gehört offenbar zum Immunsystem. Bruce Beutler übertrug die Erkenntnis letztlich auf Menschen. Zunächst jedoch fand der Genetiker und Immunologe vom Scripps Research Institute einen Toll-ähnlichen Rezeptor (TLR) in Mäusen. Aktiviert wird TLR durch Zuckermoleküle in den Bakterienwänden. Im besten Fall löst dies nur eine gesunde Entzündungsreaktion als Abwehr gegen Bakterien aus. Ist aber die Zuckerdosis zu hoch, folgt der septische Schock. Mäuse ohne TLR in Beutlers Labor waren resistent gegen den septischen Schock – aber ihre Körper waren den Keimen hilflos ausgeliefert. Die TLR gehören zu einem uralten Teil unseres Immunsystems. Inzwischen sind sehr viele verschiedene TLR entdeckt worden. Vor sieben

Jahren erhielten Beutler und Hoffmann für ihre Entdeckungen den Robert-Koch-Preis (der ein guter Indikator für Nobelpreiskandidaten ist). Die drei Nobelpreisträger haben Mechanismen der Aktivierung und der Kontrolle des Immunsystems enträtselt. In diesem Kontrollraum kann einiges schieflaufen. Sind die Immunsensoren zu empfindlich oder auf das falsche Ziel programmiert, dann folgen Autoimmunerkrankungen wie Lupus erythematodes oder Rheuma. Sind sie zu unempfindlich und erkennen den Feind nicht richtig, dann kann sich etwa Krebs ungehemmt ausbreiten. Da liegt es nahe, diesen Kontrollraum für Therapien zu nutzen. Bruce Beutler arbeitet zum Beispiel an einer Behandlung für Lupus erythematodes. Vielversprechender aber wirken zurzeit Ralph Steinmans Erkenntnisse. Weltweit »trainieren« Biowissenschaftler dendritische Zellen darauf, Krebszellen zu erkennen. 391 Therapiestudien mit dendritischen Zellen listet die amerikanische Studiendatenbank clinicaltrials.gov. Es geht um Brustkrebs, Darmkrebs, Hirntumore und sehr oft um schwarzen Hautkrebs. Und jedes Mal sollen die dendritischen Zellen ihren Kollegen, den T-Zellen, Teile der Krebszellen so präsentieren, dass sie sich mit Verve auf die Tumoren stürzen. Mitte vergangenen Jahres erhielt die erste Tumor-Vakzine auf der Basis von dendritischen Zellen ihre Zulassung von der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA. Das Mittel der Firma Dendreon wird bei Prostatakrebs im fortgeschrittenen Stadium eingesetzt. Von der University of California, Los Angeles, gab es im März frühe positive Ergebnisse einer Studie an Patienten mit Glioblastom, einem Hirntumor. Ralph Steinman selbst war vor vier Jahren an einem besonders aggressiven Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Für den Vakzine-Pionier die Gelegenheit. Er ließ sich Gewebe aus dem Tumor entnehmen. Ein Kollege vermehrte die Zellen im Labor und schickte sie in ein halbes Dutzend Labore der Welt. Steinman erhielt seine maßgeschneiderte dendritische Vakzine – und trotzte seinem Krebsleiden sehr viel länger, als bei Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs zu erwarten ist. Ob es ein Erfolg der Vakzine war, lässt sich mit nur einem Patienten nicht sagen. Das ist das Dilemma der personalisierten Medizin. »Wir sind froh, dass man ihm den Preis nicht wieder aberkannt hat«, sagt Schuler. Steinman selbst habe auf den Preis eigentlich nicht mehr gewartet: »Ihm hat es genügt, dass er als künftiger Preisträger gehandelt wurde.« A www.zeit.de/audio

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Der Preis und der Tod Es ist klug, Ralph Steinman posthum zu ehren. Nicht zum ersten Mal in 110 Jahren passt das Nobelpreiskomitee sich der Realität an VON STEFAN SCHMITT Es ist ein wenig wie in dem Neunziger-Jahre-Radiohit Ironic von Alanis Morissette: »An old man turned 89, he won the lottery and died the next day« – ein 89-Jähriger gewinnt im Lotto und stirbt am Tag darauf. Ironisch? Tragisch? Dass ein Preisträger zwischen Bekanntgabe im Herbst und Verleihung am 10. Dezember verstirbt, das hat es in elf Jahrzehnten Nobel-Geschichte schon gegeben. Das Schicksal Ralph Steinmans aber sei einzigartig, stellte eine Sprecherin der Nobelstiftung fest. Den Statuten nach erhalten nur Lebende die höchste wissenschaftliche Auszeichnung. Posthume Aberkennung? Die Wächter des Preises haben sich dagegen entschieden – und missachten damit ihre eigenen Regeln. Das ist klug. Nicht nur, weil es Pietät beweist (ein schlechter Grund), sondern weil es eine ausgezeichnete Forschungsarbeit wichtiger nimmt als starre Statuten (ein guter). Welches Licht hätte eine postmortale Aberkennung auf den Auswahlprozess geworfen? Bis zum 31. Januar müssen 3000 Gutachter Nominierungen abgeben, über die dann monatelang beraten wird. Und zwar äußerst diskret: Auf ewig, so galt seit der ersten Verleihung im Jahr 1901, sollten die Akten darüber im Archiv der Stiftung verschwinden. Um Kontroversen zu vermeiden, schimpften Kritiker. Damit gehe ein Schatz verloren, jammerten Historiker. Tatsächlich besann sich die Stiftung und lockerte in den achtziger Jahren die Geheimhaltung. Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass die Praxis des Nobelpreises immer wieder der Realität des echten (Forscher-)Lebens angepasst wurde. Praktisch von Beginn an stellten die Vorgaben des schwedischen Multimillionärs Alfred Nobel die aus seinen Dynamitgewinnen gegründete Stiftung vor kaum lösbare Aufgaben. In seinem Testament hatte er verfügt, dass die »Preise denen zugeteilt werden, die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben«. Eine Einschränkung, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts unpraktikabel war. Sie dürfte auch zu den peinlichen Fehlentscheidungen in der Geschichte des Preises beigetragen haben: So war 1926 der Däne Johannes Fibiger vorschnell für eine Entdeckung in der Krebsme-

dizin geehrt worden, im Jahr darauf der Österreicher Julies Wagner-Jauregg, der Syphilispatienten Malariaerreger spritzte. Und 1949 erhielt der Portugiese António Egas Moniz den Preis für eine Psychosentherapie mittels operativer Schnitte durchs Gehirn. Das stellte sich später als nutzlos, gar gefährlich heraus. Bahnbrechende Leistungen erkennt man oft erst nach langer Zeit – entsprechend vorsichtig wurden die Gutachter. Eine Statistik der Physikpreisträger im 20. Jahrhundert zeigt, wie deren Durchschnittsalter kontinuierlich anstieg. Auch werden etwa seit Mitte des Jahrhunderts die Preise in zunehmendem Maße aufgeteilt. Ein weiteres Zugeständnis an die Forschungswirklichkeit, in der ohne Teamspieler kaum Neues entstehen kann. Noch beschränken – aber in Stein gemeißelt ist auch dies nicht – die Statuten die Zahl der Preisträger auf drei pro Disziplin. Überhaupt, die Fachrichtungen, die Nobel in seinem Testament vorgab! Chemie, Medizin, Phy-

sik mögen die Forschungsprioritäten des 19. Jahrhunderts widerspiegeln, im 21. Jahrhundert sind sie nur ein kleiner Ausschnitt. So haben sich längst andere Auszeichnungen etabliert. Die FieldsMedaille für Mathematik oder der Turing-Preis für Informatik. Und als die Stiftung des norwegischen Philantropen Fred Kavli ankündigte, von 2008 an alle zwei Jahre hoch dotierte Preise für Fortschritte auf den Feldern der Astrophysik, Nanotechnik, Neurowissenschaft und der theoretischen Physik zu vergeben, sprachen die Zeitungen weltweit von den »nächsten Nobelpreisen«. Das zeigt, welche Zugkraft die 110 Jahre alte Auszeichnung aus Stockholm heute noch hat. Ein zu früh verstorbener Laureat wird daran nichts ändern.

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6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

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Davongekommen VON REINER LUYKEN

Fotos: Minden Pictures/Masterfile; klein: Rainer Luyken (3); ullstein (r.)

Ein Vierteljahrhundert nach Ausbruch der Rinderseuche BSE in Großbritannien: Wie hat die Seuche das Land verändert?

Normalerweise ungefährlich: Bos primigenius taurus

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ose Smith weint. Wie jeden Tag. kann auch durch infiziertes Blut und unzureichend Manchmal überkommt es sie sterilisierte chirurgische Instrumente übertragen ganz unerwartet, und sie heult wie werden. Die Statistiken zeigen: Die menschliche ein Schlosshund. Selten verlässt Form des Rinderwahns geht ihrem Ende entgegen. sie ihr Reihenhaus in einer engen Seit 2004 verzeichnet die zentrale Erfassungsstelle Seitenstraße im Südlondoner an der Universität Edinburgh nur einstellige OpferStadtteil Greenwich. Sie sitzt an zahlen. Billy Smith war 2010 einer von drei Toten. dem Holztisch in ihrem Wohnzimmer und blickt Dieses Jahr verstarb bislang nur der 27-jährige in ihren Hintergarten. Die Sonne wirft ein gelbes Nordire Jonathan Simms, dessen experimentelle Abendlicht durch die Fenster. Und wieder treten Behandlung die ZEIT 2003 schilderte (Nr. 44/03). Rose Smith will nichts von einem Abklingen der ihr die Tränen in die Augen. Sie denkt an vorletztes Epidemie wissen. Für sie ist sie hier und überall. Jahr, als sie im Dauerstreit mit Billy lag. Billy, ihr Sohn, war da 21 Jahre alt. Er vernach- Vor ihr auf dem Tisch liegen Ausrisse aus dem Daily lässigte seine Arbeit als Kfz-Mechaniker, wurde le- Mirror mit Kurznachrichten von Schnitzern bei der thargisch und immer dicker. Morgens kam er nicht Sterilisation chirurgischer Instrumente, die 59 Paaus dem Bett. Seine Freundin, mit der er ein Kind tienten in zwei Krankenhäusern der Gefahr einer Infektion aussetzten, von in hatte, verließ ihn. Mancheinen Metzgerladen gelangmal torkelte Billy wie betem, möglicherweise kontatrunken durch das Haus. miniertem Fleisch und von Die Mutter war überzeugt, einem Farmer, der das Alter ihr Sohn würde saufen und einer in der BSE-Zeit geboDrogen nehmen. Sie keifte renen Kuh fälschte und sie ihn an, schimpfte ihn aus. als nicht infektiöses Rind Schließlich setzte sie ihn verkaufte. Für sie Beweise vor die Tür. dafür, dass Wissenschaftler Jetzt ist sie voller Gewisund Politiker das wahre sensbisse. Billy war nicht Ausmaß der Seuche nach auf die schiefe Bahn gerawie vor vertuschen. ten, er war todkrank. Sein Sie denkt an das Jahr Hirn wurde von vCJD 1990. Für ihren zweijährizerstört, jener Form der gen Billy und seine acht Creutzfeldt-Jakob-ErkranJahre ältere Schwester gab kung, die durch BSE-infies fast täglich Hackfleisch ziertes Fleisch auf den und Stew, jeden Sonntag Menschen übertragen wird. tischte sie einen Braten auf. Billy ist eines der letzten Ihr mittlerweile geschieOpfer der BSE-Epidemie. dener Mann, ein LieferwaBovine spongiforme Enzegenfahrer, war übellaunig, phalopathie, gemeinhin als wenn es kein Fleisch gab. Rinderwahn bekannt, sei Als in den Nachrichten imso gut wie ausgerottet, mer mehr von der BSE-Krimeldete der New Scientist se die Rede war, bekam sie Anfang dieses Jahres. WeltAngst und gab den Kindern weit gingen 2010 noch 17 kein Rind mehr. Rinder daran ein, sieben Dann trat John Gumdavon in Großbritannien, mer, der damalige Landwirtdem Epizentrum der 1986 schaftsminister, mit einer ausgebrochenen Seuche. Frikadellensemmel vor die Im Januar 1993, auf ihrem Fernsehkameras. Als seine Höhepunkt, erkrankten vierjährige Tochter Cordelia tausend Rinder pro Wonicht abbeißen wollte, biss che. 188 000 Tiere wurden er selbst hinein und verkünnotgeschlachtet. dete: »Das schmeckt aber Als Ursache spürten Mutter Rose Smith (oben), Bauer gut!« Frau Smith ließ sich Wissenschaftler bald die Steve Brandon (Mitte) und von der ministeriellen PR Beimengung von FleischVeterinär Gerald Wells (unten) überzeugen. Sie kochte wieund Knochenmehl im der Rind. Heute nennt sie Kraftfutter auf. Der RinderGummer einen Verbrecher wahn wurde ein politisches Fanal, ein Symbol, so glaubten viele, für die Verfeh- und Mörder. Kürzlich schrieb sie ihm einen Brief, lungen moderner Landwirtschaft und des Neolibe- der so endete: »Ich hoffe, Sie werden in der Hölle ralismus, die es Landwirten erlauben, Pflanzen fres- verrotten.« Nicht lange nachdem sie Billy Jahre später vor sende Kreaturen in Kannibalen zu verwandeln. Prognosen der zu erwartenden menschlichen die Tür gesetzte hatte, brachte ihre Tochter ihn in Erkrankungen überschlugen sich. Ein Team der eine psychiatrische Notaufnahme. Sein Zustand Oxford University rechnete mit 136 000 Toten, hatte sich von Tag zu Tag verschlimmert. Die Ärzeine von der EU eingesetzte Kommission errech- te diagnostizierten die schreckliche Erkrankung nete sogar eine mögliche Infektion von einer hal- und gaben ihm noch vier Monate zu leben. Frau ben Millionen Menschen. Eine Heilung gibt es Smith brachte ihn nach Hause und pflegte ihn bis nicht. Die Erkrankung verwandelt das Hirn un- zu seinem Tod. Von einer Woche auf die andere verlernte er zu schreiben. Er konnte nicht mehr aufhaltsam in schwammartige Zellklumpen. Tatsächlich fielen der Seuche bislang 171 Perso- gehen, er konnte nicht mehr essen. Die letzten nen zum Opfer. Fünf waren Vegetarier; die Seuche Monate verbrachte er nur noch im Bett.

Frau Smith holt eine schuhkastengroße Eichenurne vom Regal. Sie ist immer wieder erstaunt, wie schwer die eingeäscherten Überreste ihres Sohnes sind. »Das ist er, unser Billy«, sagt sie dann. »Zu Hause auf der Stereoanlage. Der Platz, den er sich gewünscht hätte.« Und wieder werden ihre Augen feucht. Steve Brandons Großvater kaufte die New Buildings Farm 1947 von der Gutsverwaltung des Lord Shrewsbury. Zweihundert Hektar üppiges Weideland in der mittelenglischen Grafschaft Staffordshire, ein Milchhof mit mehr als 700 Kühen, Färsen und Kälbern. Der Weg führt in eine gepflegte Hofstatt, eine Welt für sich mit ausgedehnten Stallungen, einem Weiher und einer schönen, zweistöckigen Backsteinvilla. Brandon, untersetzt und kräftig, ist ein bodenständiger Farmer, seine Frau eher die Lady vom Lande. Sie schneidet Blumen für das Haus in einer sonnigen Rabatte. Brandons Betrieb war einer der vom Rinderwahn am ärgsten betroffenen Höfe der Grafschaft. Zwischen 1988 und 1997 schläferten Veterinäre in seinen Ställen 54 Kühe ein. Bei 51 Tieren bestätigte sich bei der anschließenden Gewebeuntersuchung der BSE-Verdacht. Er habe schon früh die ersten Anzeichen erkannt, erinnert sich Brandon, vor allem Überreiztheit in Stresssituationen, etwa nach dem Kalben oder bei Viehtransporten. Das Ministerium zahlte eine am Marktpreis orientierte Kompensation. BSE war tatsächlich eine eher kleine Viehseuche. Während des Maulund Klauenseuchenausbruchs 2001 wurden in Großbritannien sieben Millionen Schafe und Rinder geschlachtet und verbrannt. Vielleicht kein Wunder, dass der Rinderwahn in Brandons Bewusstsein bereits zu einer vagen Erinnerung geschrumpft ist. Abgespeichert als eine Unannehmlichkeit, und nicht als jene Apokalypse, als die die Seuche in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. »Wir haben immer unser Fleisch gegessen«, sagt seine Frau. »Unsere Einstellung war: Wenn es jemanden krank macht, dann sind wir die ersten.« Ihr Mann holt lose Papierbogen aus einem abgegriffenen Ordner. Sein damaliges Karteisystem: Handschriftliche Eintragungen in mit einem Kugelschreiber gezogenen Spalten. Neben den Namen der Kühe, sie hießen Beauty und Dolly und Püppchen und Komtess, stehen die Geburtsdaten ihrer Kälber. Und rechts am Rand, welche Kälber später an BSE eingegangen sind. Die Zahlen schwankten enorm. Fast sechzig Prozent der im September und Oktober 1997 geborenen Tiere erkrankten, das Zehnfache des Durchschnitts. Brandon glaubt, das Kälberfutter in den ersten zwölf Lebenswochen sei entscheidend gewesen. Sein Futterlieferant müsse damals eine besonders kontaminierte Ladung auf den Hof gebracht haben. Nicht aus bösem Willen oder weil er schräge Geschäfte machte. Brandon glaubt, alle hätten Fehler gemacht. Aus Unkenntnis. »Ich wusste natürlich, dass Kraftfutter Fleischund Knochenmehl enthielt. Das war nicht neu. Ich hatte auf der Landwirtschaftsschule gelernt, dass das eine hervorragende Quelle für Eiweiß und Spurenelemente ist.« Wie alle Farmer beklagt sich Brandon über die ihnen seither übergestülpte Bürokratie. Jedes Kalb muss mit doppelten Ohrmarken gekennzeichnet werden. Jedes Tier hat einen mehrseitigen, computerlesbaren Pass, in dem alle Details aufgeführt sind. Bei der letzten Hofinspektion vor drei Jahren brauchte ein Kontrolleur des Landwirtschaftsamts drei Tage, um sämtliche Karteikästen zu durchkämmen und alle im Computer gespeicherten Daten zu prüfen.

Doch er räumt ein, der Papierkrieg sei halb so niert wie britisches Fleisch durch die Prionen, die schlimm, wenn man sich erst einmal daran ge- der später mit dem Nobelpreis ausgezeichnete wöhnt habe. Was ihm wirklich am Herzen liegt, ist Amerikaner Stanley Prusinger 1982 als mutmaßder Wandel, den sein Hof seither erfahren hat. Er liche Ursache des Rinderwahns beschrieb. Prionen ist stolz darauf. Sein Milchvieh trottet gerade aus sind degenerierte Eiweißverbindungen. Wells war als Staatsangestellter an die Schweigeder Melkanlage auf eine Weide. Sie ist nicht größer als drei oder vier Fußballfelder, eine Fläche für pflicht gebunden. Im Rückblick sieht er ganz klar die vierhundert Kühe. Am nächsten Tag ist die Weide damals begangenen Fehler – die Rolle des Landwirtkahl gefressen. Dann ist die nächste Wiese dran. schaftsministeriums als Interessenvertretung der Nur einen Tag im Monat wird jedes Feld genutzt, Farmer statt als Anwalt der Konsumenten und eine ein in Neuseeland entwickeltes Rotationssystem. sträfliche Vernachlässigung der Erforschung aller Es spart Geld und bringt bessere Erträge. möglichen Übertragungswege. Der leitende veteriIn den Tagen vor der BSE-Krise produzierten närmedizinische Berater der Regierung nannte die Brandons ganzjährig mit Kraftfutter gepäppelte erste Erkrankung einer Katze 1990 »keinen Grund Kühe zwanzig Liter Milch am Tag. Heute fressen sie zur Sorge«, obwohl die Pathologen in Wells’ Institut von April bis September nur Gras – und geben 27 sich fast sicher waren, dass es sich um BSE handelte. Liter pro Tag. Er habe seitAber er kuschte wie alle her gelernt, sagt der Farmer, seine Kollegen. Erst Mitte wie man Gras richtig verder neunziger Jahre begann werte. Stolz zeigt er eine Urein großes Umdenken. Die kunde der British Grassland Regierung steckte enorme Society, die ihn 2010 zum Geldmittel in die Erforbesten britischen Grünlandschung der Seuche. Das bauern kürte. Pendel schlug ins Gegenteil aus. Groteske UntergangsEine Autostunde südwestszenarien machten die Runlich des Hofs lebt im engde. Wieder folgte die Wislisch-walisischen Hügelland senschaft der Politik. »Wie ein älterer Herr mit schlohjetzt beim Klimaschutz«, weißem Haar und gepflegschmunzelt Wells. tem Bart. Er ist der Mann, Viele Erklärungen für der im November 1986 die die Seuche, meint Wells, ersten BSE-Fälle diagnostiseien spekulativ, ihr letztlizierte und bis zu seiner Pencher Ursprung bleibe ein sionierung im letzten Jahr Rätsel. Vermutlich werde tagaus, tagein mit dem RinDie Rinderkrankheit BSE (bovies deshalb nie möglich sein, derwahn befasst war. Gerald ne spongiforme Enzephalopathie) ein definitives Ende der Wells arbeitete als Neuropawütete von Mitte der achtziger JahBSE- oder vCJD-Epidemie thologe am staatlichen vetere an vor allem in England. Verzu erklären. breitet wurde sie über verseuchtes rinärmedizinischen Labor im Der wichtigste ÜberKraftfutter aus Tierabfällen. Für südenglischen Weybridge. tragungsweg auf den Mendessen Herstellung waren auch Ein Tierarzt aus Kent hatte schen, glaubt er, seien nicht Kadaver von Schafen verwendet ihm damals die Hirne zweier worden, die an der Hirnschwamman einer mysteriösen ErkranHackfleisch und Würstchen erkrankung Scrapie gelitten hatten. kung eingegangener Kühe gewesen, sondern BabyUrsache von Scrapie und BSE sind geschickt. Was er unter dem nahrung, die vor 1989 bis zu zehn Prozent SchlachtMikroskop sah, erinnerte ihn Prionen, Eiweiße im Hirn, die durch abfälle enthielt. Das Alter an Scrapie, eine seit Langem Umlagerung ihrer räumlichen Moleder meisten Opfer, die als bekannte Hirnerkrankung külform zu einem Nervengift werden. Teenager oder junge Ervon Schafen. In einer Kettenreaktion zwingen sie Wells fotografierte das normale Prionmoleküle in die toxiwachsene erkrankten, unterschwammige Gewebe und sche Form. Das BSE auslösende Prion mauert die These. zeigte es einer Kollegin. Die Heute könnte man sich ist übertragbar. Es wandert aus dem hatte gerade ähnliche Proin Wells’ Augen eine verDarm der Rinder bis ins Gehirn. Über nünftige Kosten-Nutzenben aus dem Südwesten verseuchte Produkte haben sich Abwägung leisten, wie man Englands auf den Tisch beauch Menschen infiziert. Sie erkrankkommen. Die beiden unterten an der neuen Variante der Creutzsie bei jeder anderen gefährrichteten ihren Abteilungsfeld-Jakob-Krankheit (vCJD). BAH lichen Erkrankung trifft. leiter Ray Bradley. Der bat Viele Restriktionen könnten sie umgehend, ihre Befunde bei minimalem Restrisiko geheim zu halten. Im Dezember erhob Bradley den gelockert werden, etwa das europaweite Verbot von Krankheitsausbruch zum Staatsgeheimnis, da er Rinderdarm zur Wurstherstellung. Doch für BSE »schwerwiegende Folgen für den Außenhandel und gelte wegen der die Seuche umhüllenden katastroauch für Menschen haben könnte, wenn sich bei- phenartigen Aura eine absolute Verhinderung als spielsweise herausstellte, dass sie engen Kontakt mit alleiniger Maßstab. befallenen Rindern hatten«. Hat sie uns nicht beigebracht, dass das der richEs galt, eine Panik zu verhindern und die Inte- tige Weg ist? »BSE hat uns gelehrt, dass exotische ressen der Landwirtschaft nicht zu gefährden. Die Seuchen völlig unerwartet über uns hereinbrechen Wissenschaft unterwarf sich der Politik. Die Folge können«, erwidert Wells. »Und wie wir nicht dawar ein jahrelanges Wegducken, Beschwichtigen, mit umgehen sollten. Das Problem ist nur«, setzt Lügen und Vortäuschen falscher Tatsachen. Die er elegisch hinzu, »die nächste Generation lernt nie Regierungen von Margaret Thatcher und John aus den Fehlern der Vergangenheit.« Major verloren ihre Glaubwürdigkeit. Die britische Politik wurde durch den Skandal so kontami- A www.zeit.de/audio

Tödliche Seuche

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6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

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Wilde Gewächse Unkraut zu sein heißt meist, verachtet zu werden. Das Stigma tragen jene Pflanzen, die auf vom Menschen genutztem Kulturland wachsen und die Ernte verringern – oder schlicht das heiß geliebte Gartenbeet verderben. Dabei kommt es ganz auf den Blickwinkel an! Tatsächlich gibt es Neubürger in unserer Pflanzenwelt, die Schäden verursachen könnten. Sie breiten sich massiv aus und verdrängen die heimischen Arten.

Unter die unscharfe Definition »Unkraut« fallen so ziemlich alle Ackerwildkräuter und Wiesenpflanzen in Deutschland – in der Summe sicher mehrere Hundert Arten. Dazu zählen Pflanzen, die ihres medizinischen Nutzens oder ihres Aussehens wegen geschätzt werden. Ist unsere Welt noch so unbeständig: Auf Unkräuter ist Verlass. Selbst wenn der Mensch ihnen zu Leibe rückt, die Pflanzen kehren immer wieder zurück.

Die Schönen

Die Echte Kamille (Matricaria chamomilla) ist der Mediziner unter den Unkräutern und hilft etwa bei Magenbeschwerden. Die Herbstzeitlose (Colchicum autumnale) enthält Colchicin, das zur Behandlung von Gichtanfällen verwendet wird.

Kaum zu glauben: Die Feuerlilie (Lilium bulbiferum) und der AckerRittersporn (Consolida regalis) sind tatsächlich Ackerunkräuter. Ebenso die Kornrade (Agrostemma githago). Letztere wird sogar als Zierpflanze in WildblumenMischungen genutzt, da sie schnell keimt und schon im ersten Jahr blüht.

Die Beständigen Viele Ackerunkräuter, wie der Klatschmohn (Papaver rhoeas), sind fast so alt wie der Ackerbau selbst. Sie werden Archäophyten genannt. So gelangte die Kornblume (Centaurea cyanus) spätestens in der Römerzeit mit Saatgut aus dem Mittelmeerraum und dem Vorderen Orient zu uns.

THEMA: UNKRAUT

Die Ärzte

Die Themen der letzten Grafiken:

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Wohlstand

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Marsroboter

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Essen im Müll Weitere Grafiken im Internet: www.zeit.de/grafik

Die Hartnäckigen Unkräuter haben effektive Überlebensstrategien. Ihre Samen sind besonders langlebig, das Wurzelgeflecht ist weit verzweigt. Sie sind besser an Klima und Schädlinge angepasst als Kulturpflanzen. So lassen sich weder das Hirtentäschelkraut (Capsella bursa-pastoris) noch das Kleinblütige Knopfkraut (Galinsoga parviflora) ausrotten.

Die Feinschmecker

Die Europäer

Der Giersch (Aegopodium podagraria) lässt Gärtner fluchen. Dabei könnte das Jäten mit einem leckeren Wildkräuter-Menü verbunden werden. Auch herber Löwenzahn (Taraxacum sect. Ruderalia) oder Sauerampfer (Rumex acetosa) sind essbar.

Die Globetrotter

Einst wuchsen manche Kräuter nur selten auf Weiden und in Flussauen der Republik. Weil der Mensch die Landschaft aber ständig verändert, breiten sie sich aus. Vor allem Steppenpflanzen aus dem östlichen Mitteleuropa wie die Küchenschelle (Pulsatilla vulgaris) nutzten diese Chance.

Neophyten sind Pflanzen, die – oftmals ungewollt – in fremde Gebiete eingeführt worden sind. Sie sind meist besonders weit gereist, wie zum Beispiel das Schmalblättrige Greiskraut (Senecio inaequidens) aus Südafrika. Es kommt seit etwa 30 Jahren bei uns vor – und breitet sich vehement aus (siehe unten).

Die Abweisenden Einige Unkräuter machen ihrem Namen alle Ehre: Sie sind giftig, wie die Herbstzeitlose (Colchicum autumnale). Die Kornrade (Agrostemma githago) galt als toxisch und wurde fast ausgerottet – zu Unrecht. Ihr schlechter Ruf beruht auf der Verwechslung mit dem Mutterkorn, einem giftigen Pilz.

Bekämpfung

Integration

Einwanderung

Anzahl zugelassener Pflanzenschutzmittel, aufgeschlüsselt nach Anwendungszweck und Einsatzgebiet

Anzahl einheimischer und seit 1492 nach Deutschland eingeschleppter Pflanzenarten

Um die Verbreitung von Pflanzen zu erfassen, haben Biologen Deutschland in 2940 Quadrate eingeteilt. Die Zahlen geben an, in wie vielen Quadraten das Schmalblättrige Greiskraut g gesichtet worden ist

einheimische Pflanzen

seit 1492 etablierte Neophyten

seit 1492 unbeständig auftretende Neophyten Weinbau

Forst

Nichtkulturland

Haus- und Kleingarten

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Obstbau Obstbau

GemüseGemüsebau bau

Baumschulen/ Baumschulen/ Zierpflanzenbau Zierpflanzenbau

Ackerbau/ Ackerbau/ Grünland Grünland

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Stand Stand Dezember Dezember 2010 2010

Stand 2010

1980

2000

2010

Illustration: Kirsten Maria Peter Recherche: Alina Schadwinkel Quellen: Thomas Hövelmann (Sprecher NabuBundesfachausschuss Botanik), Stefan Nehring und Rudolf May (Bundesamt für Naturschutz), floraweb.de BMELV

WISSEN

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

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Fotos: Dawin Meckel/Ostkreuz (Ausschnitt); Thomas Lohnes/dapd (u.)

»Eine glatte Lüge« Das Salzbergwerk Asse ist faktisch ein Endlager: Michael Sailer über die Suche nach sicheren Standorten für Atommüll Die deutschen Bürger stellen sich (wie hier in Gorleben) »X-tausendmal quer«, sobald in ihrer Nähe ein End- oder Zwischenlager errichtet werden soll DIE ZEIT: Die EU fordert Entsorgungspläne, Niedersachsen stellt Gorleben infrage, ein aktuelles Memorandum fordert eine erweiterte Standortsuche – kommt wieder Schwung in die Endlagerdiskussion? Michael Sailer: Das hoffe ich sehr. Das Bundesumweltministerium will noch dieses Jahr ein neues Entsorgungsgesetz vorlegen. Es sollte auf einem möglichst breiten Konsens beruhen, nur so macht es Sinn. ZEIT: Das Memorandum stammt von der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen. Sie stellt fest, dass chemische Gifte, die toxischer und langlebiger sind als radioaktive Stoffe, problemlos endgelagert werden. Wieso beurteilt unsere Gesellschaft industriebedingte Risiken so unterschiedlich? Sailer: Hochgiftige Schwermetalle sind tatsächlich ähnlich problematisch wie radioaktive Stoffe. Unsere Gesellschaft nimmt nukleare Risiken aber stärker wahr. ZEIT: Diese laufende Chemikalien-Entsorgung werten die Autoren des Memorandums als Beispiel dafür, dass sichere Endlager in der Praxis längst funktionieren. Stimmen Sie zu? Sailer: Bei sorgfältiger Standortwahl und Einlagerung der Stoffe ist eine Endlagerung möglich. Das ist entscheidend, denn grundsätzlich benötigen wir sowohl für chemische wie für radioaktive Abfälle sichere Endlager. ZEIT: Die Anforderungen an atomare Endlager wurden massiv verschärft. Zunächst sollten sie einige 10 000 Jahre überdauern, bis zur nächsten Eiszeit. Dann wurden eine Million Jahre daraus. Das duldbare Strahlenrisiko wurde weit unter die natürliche Strahlenbelastung gesenkt, auf 0,1 Millisievert. Nun werden 0,01 Millisievert gefordert. Sind so hohe Sicherheitsansprüche überhaupt noch garantierbar? Sailer: Eine Million Jahre sind geologisch ein kurzer, durchaus vorhersagbarer Zeitraum. Er soll gewährleisten, dass der Endlagerstandort geologisch stabil ist und nicht durch Effekte wie Vulkanismus oder Grabenbewegungen ganz anders aussieht. ZEIT: Da es sich nicht nur um ein naturwissenschaftlich-technisches Problem handelt – wie lässt sich die notwendige Akzeptanz für ein Endlager erreichen? Sailer: Wichtig ist zunächst die Einsicht, dass wir eine endgültige Lösung für die Beseitigung radioaktiver Stoffe schaffen müssen. Wir können sie nicht wegzaubern. Und da sich die Diskussion jetzt erübrigt, ob solche Lager die Kernenergie fördern oder nicht, könnte und sollte man das Thema politisch streitfrei stellen und gemeinsam einen Weg suchen, der zum Endlager führt. ZEIT: Das erfordert aber auch die Einbindung möglichst vieler Bürger. Sailer: Ja, wir brauchen eine breite Diskussion und Auswahlverfahren sowohl in einem nationalen Endlagerdialog als auch regional an den Standorten, die dafür infrage kommen.

ZEIT: Das neue Memorandum stellt fest, dass

sachliche Dialoge kaum noch möglich seien, insbesondere seit der Wiederaufnahme der Untersuchungen in Gorleben. Halten Sie den Salzstock noch für erkundenswert? Sailer: Es ist politisch gewollt, ihn als Endlager weiter zu erkunden. Allerdings gibt es aus technisch-naturwissenschaftlicher Sicht viele Zweifel an der Eignung. So ist seine obere Deckschicht durch eine eiszeitliche Rinne durchbrochen, die Gorlebener Rinne. An verschiedenen Stellen wurden Kohlenwasserstoffe nachgewiesen. ZEIT: Eine Greenpeace-Studie hält den Salzstock deshalb für untauglich. Die Kohlenwasserstoffe stellten eine Explosionsgefahr dar. Stimmt das? Sailer: Diese Defizite sind nicht hinreichend aus-

diskutiert und wissenschaftlich bewertet, um und ehrlich diskutiert vor dem Hintergrund, dass feststellen zu können, ob sie den Standort un- schon der bestehende Wasserzufluss unkontrolliergeeignet machen. Die Eignungsfrage ist nach bar ist und sich verstärken kann. wie vor offen. ZEIT: In den nächsten Wochen soll die öffentliche ZEIT: Die notwendigen Daten müssten doch Erörterung um die Stilllegung des ehemaligen DDR-Endlagers Morsleben beginnen. Es ist wie die längst vorliegen und bewertbar sein. Sailer: In der Tat. Nur müsste die Bewertung Asse ein ehemaliges, stark ausgehöhltes Salzbergerst mal fachlich sauber durchgezogen werden. werk und droht ebenfalls einzustürzen. Warum hat ZEIT: Kommen Salzstöcke nach dem Wasser- man dort nicht die Bergung der radioaktiven Stoffe einbruch in der Asse und den dort gemachten propagiert wie in der Asse? Fehlern überhaupt noch als Lagerstätten infrage? Sailer: Die Gefahr eines Wassereinbruchs in MorsSailer: Die Asse ist kein ernsthaftes Argument leben ist deutlich geringer, weil man dort beim Salzgegen die Eignung von Salz. Dort sind schlicht abbau nicht so brutal an den Rand gegangen ist wie Fehler gemacht worden: Erstens war es falsch, in der Asse. Auch sieht das Konzept in Morsleben ein altes Bergwerk zu nehmen, das bis dicht an keine Rückholung vor. Es lautet: möglichst viel verfüllen und Barrieren einbauen, bevor die Ränder ausgehöhlt war und es ernst wird mit einem Wassereinso keine Sicherheitsbarrieren bruch. Ohne Wassereinbruch gibt es mehr hatte. Zweitens ist die keine Probleme im Endlager. Die Salzformation dort ungeeignet. Chancen, Morsleben dauerhaft troDrittens haben seit 1965 die cken zu halten, sind wesentlich gröbeteiligten Organisationen ßer als in der Asse. massiv versagt. ZEIT: Die wollten doch kein ZEIT: Dann wäre rasches Verfüllen End-, sondern nur ein Verund Barrierenbauen doch auch das suchslager errichten. Beste für die Asse. Michael Sailer, Mitglied Sailer: Eine glatte Lüge! Diese der ReaktorsicherheitsSailer: Zunächst gilt es, die Rücksollte formaljuristisch eine ein- kommission des Bundes holbarkeit zu klären. Dann könnte fachere Konstruktion ermögliIhr Vorschlag aufgehen. chen. Aber alle Fässer wurden ZEIT: Die Ethikkommission zur so abgekippt, dass sie unten bleiben und nicht, Energiewende hat Ende Mai eine rückholbare Endwie bei einem Versuchslager, zurückgeholt wer- lagerung gefordert, der niedersächsische Ministerden könnten. Außerdem sind 125 000 Fässer präsident McAllister blies kürzlich ins gleiche Horn. längst kein Versuch mehr. Sind damit Gorleben und die Endlagerung in plasZEIT: All dies hat die Glaubwürdigkeit der tischem Salz, das ja selbstständig für endgültigen Atomindustrie massiv erschüttert. Dann zeigte Verschluss sorgen soll, nicht Vergangenheit? Fukushima, dass extrem unwahrscheinliche Er- Sailer: Die Entsorgungskommmission hat im Sepeignisse verheerende Überraschungen bergen tember ein Diskussionspapier verabschiedet zur können. Viele Menschen halten das nukleare Rückholbarkeit hochradioaktiver Abfälle aus einem Risiko für unkalkulierbar, warum sollte das für Endlager. Darin wird festgestellt, dass RückholbarEndlager anders sein? keit die Sicherheit gefährden kann. Wenn man ein Sailer: Ich halte das nukleare Risiko weiterhin Lager offen hält, dann kann auch Wasser eindrinfür kalkulierbar. Ich habe bereits früher gesagt, gen. Deshalb sollte man Schritt für Schritt jene dass eine weitere Katastrophe wie in Tschernobyl passieren kann. Deshalb hat mich Fukushima nicht völlig überrascht. Man kann ein Endlager vorausberechnen. Es muss nur an vernünftiger Stelle mit einer vernünftigen Organisation errichtet werden. ZEIT: Das wird viel Überzeugungsarbeit kosten. Sailer: Was wäre die Alternative? Viele oberirdische Zwischenlager? Man muss nur die Geschichte des vergangenen Jahrtausends anschauen, um festzustellen, dass das auf Dauer keine gute Idee ist. Der sichere Einschluss in tiefen geologischen Schichten ist klar überlegen. Nur da kann für eine Million Jahre Ruhe herrschen. Alles Oberirdische unterliegt der Geschichte. ZEIT: Unterirdisches lässt sich wieder ausbuddeln. So will das in der Asse federführende Bundesamt für Strahlenschutz dort lagernden radioaktiven Müll hochholen und an anderer Stelle besser endlagern. Sailer: Die Diskussion über die Rückholung aus der Asse dauert bereits drei Jahre. Anfangs hoffte man, die Abfälle wären einfach in ganzen Fässern zu bergen. Inzwischen muss man befürchten, dass dort eher, salopp gesagt, eine Art Matsche aus Fassresten, Salz und Radioaktivität vorliegt. ZEIT: Lässt sich solch eine Matsche sicher hervorholen und umlagern? Sailer: Bisher gibt es noch kein Konzept, wie man unter Einhaltung der Sicherheitsregeln diese Abfälle herausbekommen und an der Erdoberfläche umverpacken könnte. Dafür müsste man die größte nukleare Abfallbehandlungsanlage in Deutschland errichten. Und die Menge überträfe alles Bisherige, auch die Gesamtmenge, die für den Schacht Konrad derzeit genehmigt ist. Wohin damit? Wir können zudem nicht sicher ausschließen, dass in den nächsten Jahren ein größerer Wassereinbruch stattfindet und bei offener Grube die radioaktiven Abfälle erreicht. Für Endlager gilt das Absaufen ohne Barriere zwischen den Abfällen und der Umgebung als schlimmstes Szenario. ZEIT: Was lässt sich vorbeugend tun? Sailer: Dämme und Barrieren einbauen und die Grube möglichst sicher verschließen. ZEIT: Nach außen wird die Rückholung immer noch als Ziel für die Asse gepriesen und dafür ein gefährlicher offener Zustand aufrechterhalten. Ist das nicht äußerst fragwürdig? Sailer: Man kann den Verantwortlichen nur raten, klare Abbruchkriterien für ihr Rückholszenario festzulegen. Intern ist längst bekannt, dass das Konzept in wichtigen Teilbereichen enorme Schwierigkeiten aufwirft. Die entsprechenden Fakten gehören offen auf den Tisch

Bohrlöcher, die mit Abfall gefüllt sind, jeweils verschließen und abdichten. ZEIT: Dann wäre das Zeug für alle Ewigkeit weg und ein Irrtum nicht mehr korrigierbar. Sailer: Nein. Solange das Endlager noch in Betrieb ist, kann man Abfall wieder bergen, falls neue Erkenntnisse dies erfordern. Und sollten etwa in 300 Jahren endgelagerte Rohstoffe äußerst wertvoll oder grundwassergefährdend sein, dann kann man sie durch das Auffahren eines neuen Bergwerks wieder hochholen, vor allem wenn genau dokumentiert ist, wo welcher Behälter mit bestimmtem Inventar liegt. ZEIT: Ist eine solche Dokumentation vorgesehen? Sailer: Genau deshalb. Ein gutes, verschlossenes Endlager bedarf zudem keiner Überwachung durch künftige Generationen. Rückholbarkeit hingegen erzwingt ständiges Aufpassen sowie Pflegen der Schächte und Strecken über Jahrhunderte hinweg. Was aber passiert, wenn ein Staat instabil wird? Aus vielen Gründen wäre es falsch, ein offenes Endlager mit Rückholbarkeit zu planen. ZEIT: Dennoch findet die Idee in der Politik große Resonanz. Warum? Sailer: Es sind wohl zwei Grundmotive: Die einen erhoffen sich davon eine Art Kompromiss im Streit pro und kontra Endlager. Es ist eins, aber doch keins. Die anderen hoffen, mit einem rückholbaren Lager Gorleben loszuwerden, weil das im Salz nicht gehe. Tatsächlich könnte man auch im Salz rückholbar lagern, es ist nur sehr aufwendig. Ich plädiere dafür, nicht politisch über Hintertüren zu argumentieren, sondern nüchtern zu diskutieren. ZEIT: Sie waren bereits Mitglied im längst aufgelösten Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte (AkEnd), den Jürgen Trittin berufen hatte. Der AkEnd hatte sich klar gegen Rückholbarkeit ausgesprochen. Hat sich an der Grunderkenntnis seither etwas geändert? Sailer: Nein. Die Kontinuität zeigt nur, dass jene, die sich fachlich damit befassen, die Rückholbarkeit infrage stellen. Als Vorsitzender der Entsorgungskommission muss ich – wie soeben getan – klar sa-

gen, welche Sicherheitsprobleme aufkämen, würde die Politik diesen Weg einschlagen. ZEIT: Deutscher Atommüll soll national gelagert werden. Die EU gestattet neben supranationaler sogar außereuropäische Lagerung, sofern die Sicherheit stimmt. Ist das Denken in nationalen Kategorien nicht überholt? Sailer: Nein, das nationale Konzept ist das einzig realisierbare. Überall, wo die Endlagerung weiter fortgeschritten ist, wie in Finnland, Schweden oder Frankreich, wird die Aufnahme ausländischen Atommülls ausgeschlossen. Deutschland hat geologisch außergewöhnlich gute Voraussetzungen für Endlager, etwa in Ton- oder Salzformationen. Wir hätten gute Aussichten, dass ein EU-Lager bei uns entstünde. Aber wollen wir ausländische Kernkraftwerke entsorgen? Das würde die Entscheidungsfindung enorm belasten. ZEIT: Umgekehrt ließe die Forderung nach Rückholbarkeit neben den Salz- auch die Tonformationen weitgehend ausscheiden, weil Ton sich genauso plastisch verformt. Damit wäre Deutschland als Standort elegant weg vom Fenster, oder? Sailer: Wir könnten auch in hartem, kristallinem Gestein endlagern. Das aber wäre viel aufwendiger. In kristallinem Gestein lagern nur Länder, die keine geologischen Alternativen haben. Die Behälter müssen dann absolut dicht sein und zusätzlich mit einer plastischen Schicht geschützt werden. Für diesen sicheren Einschluss sorgen Salz oder Ton auf natürliche Weise. Warum darauf verzichten? ZEIT: Das Bundesamt für Strahlenschutz wird im neuen Memorandum kritisiert, weil es gleichzeitig genehmigende und betriebsführende Behörde für Endlager ist. Teilen Sie diese Bedenken? Sailer: Grundsätzlich ist im demokratischen Staat sauber zu trennen zwischen Betreibereigenschaft und kontrollierender Behörde. Dies fordert auch die europäische Direktive, zu Recht. Deshalb muss in Deutschland eine Umorganisation stattfinden. Das Gespräch führte HANS SCHUH

46 6. Oktober 2011

WISSEN

DIE ZEIT No 41

Quelle im All Woher stammt unser Wasser? Kometen sollen es aus dem Weltraum auf die Erde gebracht haben

VON ALINA SCHADWINKEL

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Asteroidengürtel

Am 17. November 2010 kam der Komet Hartley 2 der Erde ganz nah – und konnte genau untersucht werden. Ursprünglich stammt er aus dem Kuipergürtel jenseits des Neptuns

E

s regnet vom Himmel, macht unser Klima, spült Geschirr. In Wasserwerfern nutzen wir es als Munition, es dient dem Gütertransport. Und als Hauptbestandteil menschlichen Bluts (92 Prozent) hilft es, Gifte zu entsorgen und Nahrung zu liefern. Wasser ist der Stoff, den wir nach der Luft am nötigsten brauchen – nach vier Tagen gehen dem Körper die Reserven aus. Die Erde, der »blaue Planet«, ist zu drei Vierteln damit bedeckt. In den Urmeeren entstand einst das Leben. Und heute beherbergen Gewässer, süß und salzig, den Großteil aller tierischen Arten. Doch wo kommt das lebensnotwendige blaue Gold überhaupt her? Es gab nachweislich eine Zeit, in der unser Planet trocken war. Die Proto-Erde war schlicht zu heiß, als dass sich leichte chemische Verbindungen darauf hätten niederlassen können. »Solange es keine

Erdkruste gab, ist alles Wasser immer wieder verdampft«, erklärt der Physiker Paul Hartogh vom MaxPlanck-Institut für Sonnensystemforschung in Katlenburg. Erst vor 4,3 bis 3,9 Milliarden Jahren, das lassen Funde aus Australien und Grönland vermuten, gab es zum ersten Mal Wasser auf der Erde. Seit Jahrzehnten diskutieren Wissenschaftler daher seine Herkunft. Eine zentrale Frage ist, ob das Wasser überhaupt irdischen Ursprungs ist oder ob es nicht einst aus dem Weltraum auf den Planeten kam – und falls es aus dem Kosmos kam, auf welche Weise? Der kürzlich verstorbene Geologe Michael Drake von der Universität von Arizona, plädierte für die These, dass unser Wasser aus dem Erdinneren stammt. Zunächst im Gestein eingeschlossen, sei es mit der Auskühlung des Planeten als Gas aus dem Magma ausgeströmt und schließlich flüssig

geworden, so lautet die eine These. Zum Teil mag das stimmen, doch die riesigen Wasservorkommen der Erde lassen sich damit nur schwer erklären. Denn der Planet liegt sehr nah an der heißen Sonne. »Genügend Wasser gibt es eigentlich erst hinter der ›solaren Schneegrenze‹, die im Asteroidengürtel liegt«, sagt der Physiker Hartogh. 1961 vertrat der Astrobiologe John Oró daher erstmals die Theorie, dass Kometen einst lebenswichtige biochemische Verbindungen auf die Erde gebracht hätten. Sie beruht auf der Annahme, dass das innere Sonnensystem vor rund vier Milliarden Jahren vom »kosmischen Bombardement« getroffen wurde. Kometen, die auf langen Bahnen um die Sonne flogen, seien damals vermehrt und mit enormer Wucht auf die Erde eingeschlagen. »Manche dieser ›schmutzigen Schneebälle‹ bestehen bis

zu 90 Prozent aus Wasser. Die Vermutung lag daher nahe, dass Kometen das Nass auf die Erde gebracht haben«, sagt Hartogh. Die These hielt sich – bis zur europäischen Giotto-Mission in den 1980er Jahren und der Erkundung des Halleyschen Kometen, kurz Halley genannt. Halley stammt aus der Oortschen Wolke, einer echten Schutthalde mit massenhaft Kometen am äußersten Rand unseres Sonnensystems. »Das Problem war, dass die Zusammensetzung des Halley-Wassers nicht mit dem unserer Ozeane übereinstimmte«, sagt Hartogh. Weitere Kometen wurden einer Isotopenanalyse unterzogen: Die chemische Zusammensetzung des Wassers sprach gegen die Oortsche Wolke als Herkunftsort und maßgeblich gegen die Theorie von John Oró und den schmutzigen Schneebällen. »Plötzlich hieß es«, erzählt Hartogh, »dass nur ein Bruchteil des Wassers auf der Erde von Kometen stammen könne.« Den Rest habe man Asteroiden, also Kleinplaneten zu verdanken. Diese Annahme haben die Max-Planck-Forscher um Paul Hartogh nun im Fachblatt Nature widerlegt. Sie identifizierten eine Gruppe von Kometen im Sonnensystem, die als außerirdische Wasserquelle durchaus infrage kommen: die Jupiter-Familie. Mehr als 480 Mitglieder sind bekannt, in Wirklichkeit sei die Anzahl aber viel größer, sagt Hartogh. So konnte das Team des Physikers nachweisen, dass es auf dem Kometen 103P/Hartley 2 eine Form von Wasser gibt, das aufgrund der Isotopenzusammensetzung mit jenem auf der Erde exakt übereinstimmt. Vom Boden aus konnten die Forscher keine brauchbaren Messungen durchführen. Die Erdatmosphäre erschwert den Blick ins All. Zudem ist Hartley 2 ein kleiner Komet und produziert

nur wenig Wasserdampf, wenn er von der Sonne aufgeheizt wird. Genau diesen mussten Hartogh und Kollegen jedoch analysieren. Die entscheidenden Daten lieferte schließlich das empfindliche Weltraumteleskop Herschel, das 2009 ins All geschickt worden war. Die Sonde hat einen nahezu unbehinderten Blick in die unendlichen Weiten – und auf den dunklen Hartley 2. Mithilfe des hochauflösenden Spektrometers (HIFI) an Bord des Teleskops konnten die Forscher die Isotopenzusammensetzung des Wassers auf dem Kometen bestimmen. Hierfür haben sie das Verhältnis von herkömmlichem zu schwerem Wasserstoff gemessen – es stimmt mit dem Vienna Standard Mean Ocean Water (VSMOW) überein, dem Referenzwert für das reine Nass der Ozeane auf unserem Planeten. Der Komet Hartley 2 ist anderen Ursprungs als Halley. Er stammt aus dem Kuipergürtel. Die ringförmige, relativ flache Region erstreckt sich in unserem Sonnensystem jenseits der Umlaufbahn des Neptuns und beherbergt mindestens 70 000 Objekte, deren Durchmesser größer ist als 100 Kilometer. Dort dürfte also der Ursprung des irdischen Wassers liegen. »Anhand unserer Messung können wir nicht explizit sagen, dass die Kometen der Jupiter-Familie das Wasser zu uns gebracht haben. Aber sie kommen infrage«, sagt Hartogh. Es gelte eben nicht mehr die Einschränkung, dass gerade mal zehn Prozent des Wassers auf der Erde von Kometen stamme. »Die Wanderung und die Entstehung der Planeten sowie unseres Sonnensystems können nun neu überdacht werden.« Die Wahrheit über unsere Lebensgrundlage – sie liegt irgendwo dort draußen.

Grüne Glotze Jetzt bekommen auch Fernseher ein Energiesparlabel – ganz selbsterklärend ist es aber nicht VON BRITTA VERLINDEN Ein Fernseher im Ökodesign – das klingt nach Hier teilen sich zwei Techniken die Arbeit: einer Holzkiste aus nachhaltiger Forstwirtschaft Durchsichtige Flüssigkristalle erzeugen Pixel für mit pedalbetriebenem Bildwechsel. Gemeint Pixel das Bild (Liquid Crystal Display, LCD), sind sind damit aber Plasma, LCD und Co. Seit ei- aber selbst relativ schwach. Damit der Zuschauer nem Jahr schon müssen neue Geräte der europäi- etwas erkennen kann, muss von hinten beleuchschen Ökodesign-Richtlinie genügen. Etwa in- tet werden. Anfangs steckten hierfür spezielle dem sie im Ruhezustand Energie sparen. Leuchtstoffröhren (Kaltkathoden-FluoreszenzRechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft sollen lampen, CCFL) in den Bildschirmen, mittlerweile nun alle Geräte zeigen, wie sparsam sie wirklich werden meist die sparsameren Leuchtdioden (LED) sind. Vom 30. November an müssen sie ein Ener- eingesetzt. Allerdings gibt es »schlaue« LED, die gieeffizienz-Label tragen, wie man es von Kühl- ausgehen, wenn sie nicht gebraucht werden (»local schränken kennt: mit farbigen Stufen vom grü- dimming«) – und »dumme«: Die brennen nicht nur nen A (gut!) bis zum roten G (ruinös!). die ganze Zeit, es kostet sogar noch zusätzlich In 96 Prozent der deutschen Strom, sie künstlich abzudunkeln. Haushalte steht mindestens ein So ist LCD nicht automatisch sparFernsehapparat, in vielen stehen samer als Plasma; sonst brauchte es gleich mehrere. Vier Stunden ja auch keine umständliche Kennhockt der Durchschnittszuschauer zeichnung. täglich davor. Und vier große Selbst die Faustregel »Je größer Kraftwerke werden benötigt, um der Bildschirm, desto höher der alle Fernseher der Republik mit Stromverbrauch« gilt nur mit AusStrom zu versorgen. Nach Hochnahmen, da manche Hersteller die rechnungen des Fraunhofer ISI modernste und damit effizienteste gehen jährlich knapp 16 TerawattTechnik nur in ihre größten und Ruinös! stunden Energie auf das Konto teuersten Modelle einbauen. Ein Viele Fernseher deutscher Fernseher und ihres Zuweiterer Faktor, der es dem Versind Umweltsünder behörs; dabei entstehen sechs Milbraucher erschwert zu vergleichen, lionen Tonnen klimaschädliches sind Zusatzfunktionen wie eingeKohlendioxid – Tendenz steigend. Um diese baute Festplatten oder Empfänger. Für sie gibt es Entwicklung aufzuhalten, gilt eben ab Novem- in der Energielabel-Richtlinie ein Hintertürchen: ber die Kennzeichnungspflicht. Und ab April Ein Apparat voller Funktionsfülle darf mehr Strom 2012 dürfen keine Apparate der miesen Effi- verbrauchen, ohne in die nächste Effizienzklasse zienzklassen E bis G mehr hergestellt werden. abzurutschen. A bis G stellen also keine absoluten Wie viel Strom ein Fernseher frisst, hängt davon Sparklassen dar, sondern relative Bewertungen. Daher lohnt es sich, beim Einkaufsbummel ab, was hinter seiner Scheibe geschieht: In den alten Röhrengeräten feuerte eine heiße Glühkathode – neben dem Blick auf den Buchstabencode – Elektronen, die von starken Magneten abgelenkt den absoluten Jahresstromverbrauch der Geräte wurden. In Plasmabildschirmen entzünden sich zu vergleichen. Auch ihn muss das neue Label Millionen winziger Neongaslämpchen, um das Bild ausweisen. Umweltschützer haben schon einmal zusammenzusetzen. Beides braucht enorm viel ausgerechnet: Im Laufe eines durchschnittlichen Energie – trotz Verbesserungen immer noch bis zu Fernseherlebens von zehn Jahren haben Besitzer siebenmal mehr als sparsamere Technik. Die steckt eines sparsamen Geräts mehrere Hundert Euro weniger auf der Stromrechnung. heute in den meisten Neugeräten.

ZEIT-Grafik; Foto unten: W. M. Weber/TV-yesterday

Kuipergürtel

WISSEN

KOMPAKT

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

STIMMT’S?

ERFORSCHT UND ERFUNDEN

Macht Zucker das Ceranfeld kaputt?

Hirn-Maschine

Sex-Maschine

... fragt Carsten Heinisch aus Kaiserslautern

Virtuelle Prothesen, die sich nicht nur vom Gehirn steuern lassen, sondern auch Sinnesreize zurückmelden – dieser Vision sind der Neurowissenschaftler Miguel Nicolelis und sein Team von der Duke University einen Schritt näher gekommen (Nature, online). Die Forscher pflanzten Affen an zwei Stellen Mikro-Drähte in die Hirnrinde: in jenen Teil, der Bewegungen befiehlt, und dort, wo Tasteindrücke ankommen. Danach sollten die Tiere am Bildschirm unter identischen Symbolen per Hirnaktivität jenes auswählen, das sich »anders anfühlte« als die übrigen. Suchten die Affen das richtige aus, gab es eine Belohnung. Die Versuchstiere lernten schnell – obwohl Cursorbewegung auf dem Bildschirm und auch Sinneswahrnehmung einzig über die Drähte im Hirn vermittelt wurden.

Warum sich Männchen mit mehreren Weibchen paaren, ist längst klar: bessere Chancen auf viel Nachwuchs. Aber warum Weibchen mit mehreren Männchen? Männchen drängten sie dazu, so die gängige Annahme von Evolutionsbiologen. Doch weit gefehlt: Graue Mausmaki-Weibchen suchen sich aktiv mehrere Männer. Das haben Forscher um Elise Huchard vom Deutschen Primatenzentrum gezeigt (Proceedings of the Royal Society B, online). Einer Gruppe von Mausmaki-Weibchen gaben sie weniger Futter, damit sie kleiner blieben als die sonst gleich großen Männchen. Die anderen Weibchen fraßen so viel, wie sie wollten – und wuchsen über die Männchen hinaus. Die Wissenschaftler hatten erwartet, dass nun eher die schwächeren Weibchen Sex mit verschiedenen Männchen in Kauf nehmen müssten. Tat-

Kochfelder aus Glaskeramik halten Temperaturschwankungen von mehreren Hundert Grad aus, ohne zu reißen: Das Glas dehnt sich bei Erwärmung aus, während die keramischen Kristalle sich zusammenziehen. Mit der richtigen Mischung bleibt das kombinierte Material über große Temperaturbereiche stabil. Der einzige wirkliche Feind des Ceranfelds ist der Zucker. »Beim Abkühlen, in einem Temperaturbereich um 200 Grad Celsius, klebt Zucker regelrecht auf der Glaskeramik fest«, erläutert Matthias Rüder,

Produktmanager bei der Firma Bosch Hausgeräte. Wenn der Zucker dann weiter abkühlt, zieht er sich zusammen. Das erzeugt eine Spannung, und es können Teile der glaskeramischen Oberfläche herausgerissen werden, sogenannte Ausmuschelungen. Diese Schäden sind irreparabel, beeinträchtigen aber die Funktionsweise des Kochfelds nicht. Trotzdem sollte man den verschütteten Zucker sofort mit einem Schaber entfernen. Besser noch: das Feld regelmäßig mit einem entsprechenden Schutzmittel behandeln. CHRISTOPH DRÖSSER

Die Adressen für »Stimmt’s«-Fragen: DIE ZEIT, Stimmt’s?, 20079 Hamburg, oder [email protected]. Das »Stimmt’s?«-Archiv: www.zeit.de/stimmts www.zeit.de/audio

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sächlich waren es aber die wohlgenährten (die sich gegen Übergriffe problemlos hätten wehren können), die sich mit mehreren Männchen paarten. Also sind die Affendamen freiwillig promiskuitiv. Die Frage nach dem Warum ist weiter offen.

MEHR WISSEN: Im Netz: Das Leben der Nobelpreisträgerin Marie Curie...www.zeit.de/curie Wie die Technologie des Kinderkriegens die Gesellschaft verändert Das neue ZEIT Wissen: Am Kiosk oder unter www.zeitabo.de

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6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

P O L I T I K , W I S S E N , K U LT U R U N D A N D E R E R Ä T S E L F Ü R J U N G E L E S E R I N N E N U N D L E S E R WER IST EIGENTLICH ... (22)

UMS ECKCHEN GEDACHT

A. A. Milne?

U M S

Die beiden As stehen für Alan Alexander. Er war ein englischer Schriftsteller, der mit seinen Geschichten über Pu den Bären berühmt wurde. Weil Alan Alexander so lang ist, kürzte er seinen Vornamen mit dem Doppel-A ab. Milne wurde 1882 geboren und wuchs in London auf. Nach der Schule studierte er Mathematik, es sah also zuerst gar nicht danach aus, als ob er später einmal Geschichten schreiben würde. 1920 bekamen er und seine Frau Dorothy einen Sohn, den sie Christopher Robin nannten. So heißt auch der kleine Junge in den Pu-Büchern. Die Geschichten kamen Milne nämlich in den Sinn, als er seinem Sohn beim Spielen zusah. Christopher Robin vergnügte sich am liebsten mit seinen Stofftieren: Dazu gehörten neben Pu dem Bären das kleine Schwein Ferkel, ein Tiger namens Tigger, der Esel I-Aah und das Känguru Känga.

E C K C H E N G E D A C H T

Findest Du die Antworten und – in den getönten Feldern – das Lösungswort der Woche? 1. Die vertreiben die Dunkelheit, doch damit sie ... können, brauchen die meisten Stromanschluss 2. Mit einem kleinen kann man was anstellen, an einen großen muss man sich schon mal anstellen 3. Das Immer-mehr-Elektrogeräte-Problem: Es ist keine ... mehr frei 4. Hier gibt’s BASTELKROM zu entwirren: Die bringen Energie dahin, wo man sie braucht 5. Ein Maß in der Elektro-Welt, auch bekannt am Ozeanrand 6. Kurzschluss-Verdruss: Das Licht geht aus, und die fliegt raus!

Die Radiogeschichte über A. A. Milne hört Ihr am Sonntag um 8.05 Uhr in der Sendung »Mikado – Radio für Kinder« auf NDR Info oder im Internet unter www.ndr.de/mikado

7. Manche schmecken saftig, manche glühen hell 8. Welcher Takt ist im Elektrizitätswesen am wichtigsten?

FRAGEBOGEN

In Europa arbeiten viele Länder eng zusammen – auch Deutschland macht bei dem Staatenbund mit. Aber warum eigentlich?

Jede Woche stellt sich hier ein Kind vor. Willst Du auch mitmachen? Dann guck mal unter www.zeit.de/fragebogen

9. Da schaut der Heimwerker ...: »Es gibt keinen Strom, denn ich vergaß, Leitungen zu ...« 10. »NA BITTE, ER läuft auch bei Stromausfall«, freut sich Rekorder-Besitzer – aber nur, wenn man so was hat 1 2

VON MATTHIAS KRUPA

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Dein Vorname:

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Wie alt bist Du? 8

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Was ist besonders schön dort?

Was macht Dich traurig?

Was möchtest Du einmal werden?

Was ist typisch für Erwachsene?

Wie heißt Dein Lieblingsbuch?

Bei welchem Wort verschreibst Du Dich immer?

Trendsport Poi Poi ist eine recht neue Sportart, eine Mischung aus Tanzen und Jonglieren. Das Wort Poi kommt aus der Sprache der Maori, der Ureinwohner Neuseelands, und bedeutet schlicht Ball. Dabei ist ein Poi mehr: ein Ball oder ein Reissäckchen an einer Schnur, geschmückt mit einem langen bunten Schweif. Nimmt man einen Poi in jede Hand und schwingt sie vorwärts, rückwärts oder über Kreuz, dann kann man über zwanzig Figuren mit ihnen turnen. Im neuen Kindermagazin ZEIT LEO zeigen wir Dir, wie man sich Poi ganz leicht und günstig selber basteln kann. Dazu eine Anleitung für Deine ersten drei Figuren. r me h u nd s a D e ne nd st s p a n e n f i nd e O E m L e h IT T k! n ZE Du i a m K io s t z t im Je I n fo s e r e t i We rnet: .de Inte .z eit leo www

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enn Ihr in diesen Wochen Nachrichten guckt oder hört, was viele Erwachsene sagen, habt Ihr vielleicht den Eindruck, Europa sei gerade kein besonders schöner Kontinent. Ständig wird über eine Krise gesprochen. Die Politiker schauen ganz besorgt, und manche behaupten sogar, Europa würde »scheitern«. Und wenn sie das sagen, gucken sie noch besorgter. Komisch eigentlich, schließlich geht es uns hier doch ziemlich gut. Jedenfalls gilt das für die meisten Menschen, die in Deutschland, Spanien, Polen oder einem anderen europäischen Land zu Hause sind. Die meisten Menschen in Europa haben genug zu essen. Sie dürfen ihre Regierungen frei wählen und ihre Politiker kritisieren, ohne dass sie dafür bestraft werden. Das ist in vielen Ländern etwa in Afrika oder Asien anders; auch bei uns war das nicht immer so. Fast alle Kinder in Europa können zur Schule gehen – auch wenn Ihr das nicht immer toll findet. In Wahrheit ist es aber natürlich eine großartige Sache, wenn man als Kind etwas lernen darf, anstatt arbeiten zu müssen. Oder, noch schlimmer, anstatt vor einem Krieg fliehen zu müssen. Warum also schimpfen dann gerade immer mehr Menschen auf Europa? Und welches Europa meinen sie überhaupt, wenn sie sich sorgen, dass es »scheitern« könnte? Fast immer, wenn in diesen Tagen von Europa gesprochen wird, ist eigentlich die Europäische Union gemeint, kurz: EU. Diese EU ist etwas anderes als der Kontinent Europa. Der Kontinent hat Grenzen, die man im Atlas sehen kann. Die EU dagegen ist eine Art politischer Verein, in dem viele, aber nicht alle europäischen Länder Mitglied sind. Gegründet wurde dieser Verein 1957, anfangs hatte er nur sechs Mitglieder:

Illustrationen für DZ: Jochen Schievink/www.jochenworld.de; Jon Frickey/www.jonfrickey.com (Wappen, Leo); Foto: Getty Images (wer war...)

Und was gefällt Dir dort nicht?

Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg. Heute liest man das und denkt: Na und? Doch damals, vor mehr als 50 Jahren, war die Gründung dieses Vereins eine Sensation. Der Zweite Weltkrieg war erst 1945 zu Ende gegangen, und die meisten Menschen erinnerten sich noch daran, wie dieselben Länder, die sich nun zusammentaten, kurz vorher gegeneinander gekämpft hatten. Genau deswegen aber hatten kluge Staatsmänner (Staatsfrauen oder Kanzlerinnen gab es damals noch nicht) den Verein gegründet: Damit ihre Länder nie wieder Krieg gegeneinander führen würden. Ihre Idee war im Grunde genommen einfach: Je mehr die Länder gemeinsam machen würden, desto geringer war die Gefahr, dass sie noch einmal miteinander kämpfen würden. Im Laufe der Jahre wurde der Verein immer größer, heute hat er 27 Mitglieder. Von A wie Austria (oder Österreich) bis Z wie Zypern. Und bald soll Kroatien als 28. Mitgliedsstaat aufgenommen werden. Die Angst vor einem Krieg spielt heute zum Glück keine große Rolle mehr. Und in den vielen Jahren haben die Länder sogar noch gemerkt, dass es viele Vorteile hat, wenn man sich zusammentut. Heute können die Menschen, die in der EU leben, zum Beispiel von einem Land in ein anderes ziehen und dort arbeiten. Sie können auch innerhalb der EU verreisen, ohne dass sie an einer Grenze kontrolliert werden (jedenfalls in den meisten Ländern). Und die Firmen, die zum Beispiel Autoreifen oder Schokolade herstellen, dürfen diese auch in jedem anderen Land der EU verkaufen. Davon haben dann alle etwas: Die Menschen, die eine größere Auswahl haben, und die Firmen, die ihre Autoreifen oder Schokolade an mehr Menschen verkaufen können. Seit einigen Jahren kann man in 17 der 27 EU-Staaten sogar mit demselben Geld bezahlen, dem Euro.

Damit das alles funktioniert, hat sich die EU wie jeder andere Verein Regeln gegeben. Um diese Regeln zu kontrollieren, gibt es die EU-Kommission, eine Art Vereinsvorstand, in den jedes der 27 Mitgliedsländer einen Vertreter entsendet. Der heißt Kommissar, hat aber nichts mit der Polizei zu tun. Außerdem treffen sich die Regierungschefs aller 27 Länder regelmäßig in Brüssel. Dann entstehen diese ulkigen Bilder, auf denen ganz viele Männer und ein oder zwei Frauen wie eine Fußballmannschaft hintereinander stehen. Eigentlich ist die EU ein riesiger Erfolg und für viele andere Menschen in der Welt deshalb ein Vorbild. In Afrika zum Beispiel haben einige Länder einen ähnlichen Verein gegründet, die Afrikanische Union (AU). Auch diese Länder hoffen, dass sie gemeinsam stärker sind als jedes Land für sich allein. Ja, aber wo ist denn dann das Problem? Nun, wie in jedem Verein gibt es auch in der EU immer mal wieder Streit. Und im Moment gibt es besonders heftigen Streit, weil sich einige Länder, Griechenland zum Beispiel, nicht an die gemeinsamen Regeln gehalten haben. Schuld daran sind weniger die Menschen in Griechenland, als vielmehr die früheren Regierungen. Einige sagen nun, dass es besser gewesen wäre, Griechenland gar nicht in den Verein aufzunehmen. Andere finden, dass der Verein ohnehin viel zu groß geworden sei. Natürlich ist es schwieriger, wenn sich heute 27 Länder verständigen müssen als früher nur sechs. Richtig ist es auch, dass Mitglieder, die sich nicht an die Regeln halten, dafür bestraft werden. Deswegen denken die Politiker nun über noch strengere Regeln für die EU nach. Oder wäre es am Ende sogar besser, den Verein wieder aufzulösen? Außerhalb von Europa verstehen die Menschen diese Frage gar nicht. »Euch geht es doch gut!«, sagen sie. »Wie gut, dass ihr euch zusammengetan habt.«

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Wo wohnst Du? 10

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Schick es bis Dienstag, den 18. Oktober, auf einer Postkarte an DIE ZEIT, KinderZEIT, 20079 Hamburg, und mit etwas Losglück gewinnst Du mit der richtigen Lösung einen Preis, ein Bücher-Überraschungspaket. Lösung aus der Nr. 39: 1. Eicheln, 2. Stoppelfeld, 3. Stoerche, 4. Dezember, 5. Windstaerke, 6. ernten, 7. Blaetter, 8. Vorrat, 9. Zugvogel, 10. Vogelbeeren. – HERBSTLAUB

DER ELEKTRONISCHE HUND D

BLEEKER

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DIE ZEIT No 41

KRIMIZEIT DIE NEUE ZEITEDITION KRIMIS FÜR JUNGE LESER

Sie jagen entflohene Reptilien und stellen Diebe und Verbrecher. Die Detektive und Spürnasen dieser Krimi-Sammlung sind nie weit, wenn es um Gefahr, Spannung und Abenteuer geht. 15 Bände für Leser zwischen 8 und 13 Jahren haben wir ausgewählt, jeweils ein Buch pro Woche stellen wir auf dieser Seite vor. Der Erlös aus dem Verkauf geht an die Stiftung Lesen.

1. Antonia Michaelis: Kreuzberg 007 – Mission grünes Monster 2. Frida Nilsson: Ich, Dante und die Millionen 3. Gert Prokop: Detektiv Pinky 4. Christine Nöstlinger: Pudding-Pauli deckt auf

Monster entlaufen, bitte melden! Ein sprechendes Poster, ein vermisstes Reptil und drei Kinder, die sich nicht ausstehen können – Antonia Michaelis erzählt von einer ungemein witzigen Ermittlung mitten in Berlin VON KATRIN HÖRNLEIN ie fängt man mitten in Berlin ein Krokodil? Ein kleines Krokodil zwar, aber eben doch ein Krokodil? »Entlaufen!«, steht auf einem Plakat im Café au Spree. »Gutmütiges Haustier, vermisst seit circa 16 Uhr, hört auf den Namen Charly. Wenn Sie Charly sehen, bitte melden Sie sich unter 0162/27112. Großzügiger Finderlohn. Charly ist ungefähr katzengroß und mittelgrün.« Und darunter ist in winzig kleiner Schrift »Gattung: Kaiman« vermerkt. Ein Kaiman mitten in Berlin-Kreuzberg, dazu die Aussicht auf einen Finderlohn: eindeutig ein Fall für das Spezialermittler-Team Kreuzberg 007, bestehend aus den Geschwistern Bella und Max und ihrem Nachbarn Pelle. Dumm nur, dass die Kinder bisher überhaupt noch kein Spezialteam sind. Sie

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5. Werner Färber: Das Krokodil im Silbersee 6. Die drei ??? und die flüsternde Mumie/ Die drei ??? und das Gespensterschloss 7. Henry Winterfeld: Caius ist ein Dummkopf 8. Dietlof Reiche: Die Hexenakte 9. Helmut Ballot: Das Haus der Krokodile 10. E. L. Konigsburg: Die heimlichen Museumsgäste 11. Andreas Steinhöfel: Beschützer der Diebe 12. Rudolf Herfurtner: Milo und die Jagd nach dem grünhaarigen Mädchen 13. Arthur Conan Doyle: Der Hund der Baskervilles 14. Jenny Valentine: Wer ist Violet Park? 15. Timm Wynne-Jones: Brandspuren Die ZEIT-Edition »Krimis für junge Leser« 15 Bände für 99,90 Euro bestellbar unter www.zeit.de/shop

Nächste Woche: Ihr wollt mehr von Pelle, Bella und Max erfahren? Gern! In der kommenden Woche beginnen wir mit einer neuen (Vor)Lesegeschichte: »Heimliches im Hinterhof« – ein weiterer Fall für die Detektivbande aus Berlin-Kreuzberg ...

Illustrationen: Ulf K. für DIE ZEIT/www.ulf-k.blogspot.com

können einander nicht ausstehen. Schon bei ihrer ersten Begegnung sind sie sich nicht grün, nicht mal mittelgrün. Der neunjährige Pelle lebt eigentlich recht zufrieden in der Bergmannstraße in BerlinKreuzberg. Er verbringt seine Nachmittage im Café au Spree, um mit der Besitzerin Maria zu plaudern und deren Schokoladenkuchen zu futtern: Mittagessenersatz. Pelles Vater, der Koch in einem »extrafeinen« Hotel ist, bringt nämlich dauernd Reste mit nach Hause, weil er nach getaner Arbeit nicht auch noch für den Sohn am Herd stehen will. Pelle hält nicht sonderlich viel von diesen erlesenen Hotelspeisen, besonders dann nicht, wenn Meeresfrüchtewochen sind und er jeden Tag Hummer oder Muscheln in seiner Butterbrotdose findet. Ausgerechnet an solch einem »Hummerkummer«-Tag, kurz bevor die Kaiman-Suchmeldung auftaucht, ist Pelles Stammplatz im Café besetzt − von einer Familie, die Pelle nicht kennt. Vater, Mutter, ein Junge und ein Mädchen, eine richtige Bilderbuchfamilie. Na ja, kein allzu niedliches Bilderbuch: Der Junge, Max, ist rund wie eine Kugel und vollkommen aufs Essen fixiert. Dazu spricht er unendlich langsam – und in diesem Tempo scheint er auch zu denken. Das Mädchen, Bella, ist zwar hübsch und äußerst

schlagfertig, bezeichnet Pelle allerdings schon nach wenigen Sätzen als »blöde«. Natürlich zieht die Familie in Pelles Haus. Und natürlich müssen erst einige Kabbeleien überstanden werden, bis aus den dreien eine Bande werden kann. Doch dann taucht eben das kleine Krokodil auf, beziehungsweise: Es taucht nicht auf, sondern unter. Und so beginnt ein großes Abenteuer mit leuchtenden T-Shirts, einer verärgerten Lehrerin, nächtlichen Picknicks, einer höllisch scharfen Torte, einer wirklich sehr verärgerten Lehrerin, einer schwebenden Currywurstbude, Schwimmzügen im Landwehrkanal, einer ganz unglaublich verärgerten Lehrerin und einem sehr verzweifelten Max. »Es war einmal Berlin.« Mit diesem Märchensatz beginnt Antonia Michaelis’ erster Fall für die Kreuzberg-007-Freunde, dem inzwischen zwei weitere Bände gefolgt sind. Es ist eine klassische Bandengeschichte: drei Kinder und ein Fall, den es gegen diverse Widerstände zu lösen gilt. So weit, so bekannt. Frisch und modern sind die Charaktere, die Michaelis losschickt. Pelle, ein Junge, der bei seinem alleinerziehenden und berufstätigen Vater lebt. Die widerborstige Bella, die dem Leser mit ihrer herablassenden Wichtigtuerei manchmal fast unsympathisch ist. Und ihr Bruder Max als entschleunigter Konterpart, der mit seiner sensiblen Behäbigkeit schnell in die Opferrolle geraten könnte. Um diese drei Protagonisten strickt Michaelis ein Netz skurriler Figuren, mit dem sie augenzwinkernd Phänomene unserer Zeit einfängt: Der

Vater von Max und Bella ist Inder – und arbeitet mit Computern. Auf der Straße leben zwei Obdachlose, die auf die Namen Milde Gabe und Haste-mal-n-Euro hören. Da gibt es die Cafébesitzerin Maria, die amerikanischen Touristen Kaffee au Spree (verdünnten Kaffee) als Spezialität anpreist. Und nicht zu vergessen James, der mit Nachnamen Bond heißt und auf einem Poster im Esszimmer von Pelle und seinem Vater lebt. Erstaunlicherweise kann Pelle mit ihm reden, allerdings ist 007 ein unerträglicher Angeber: »Ich habe für solche Gelegenheiten kleine, handliche Sprengsätze in meinem Schlipsknoten.« Dazu kommt eine ausgefallene tierische Besetzung: die schwarze Katze, die keine Vokale spricht und im Comicladen arbeitet (oder so tut), und der Hund Floyd, der im Plattenladen zwischen Baustellenhütchen liegt, damit niemand auf ihn tritt – denn sein Fell hat exakt die Farbe des Fußbodens. anchmal grenzen die Figuren, Dialoge und Szenen so sehr ans Absurde, dass man Michaelis Klamauk vorwerfen könnte. Meist gelingt ihr aber ein Witz, der für junge wie für erwachsene Leser unterhaltsam ist. »Es war einmal ein besonders buntes Stadtviertel von Berlin, das hieß Kreuzberg.« Das ist der zweite Satz des Buches. Michaelis verortet damit nicht nur ihre Geschichte, sie nimmt eine Verkleinerung der Welt vor: Die Kindergeschichte spielt mitten im heutigen Berlin. Und doch erinnert die Kreuzberg-007Welt an Dorfidyllen wie die von Astrid Lindgrens Kalle Blomquist. Michaelis legt Ortsmarken fest, die hinten im Buch auf einer Karte verzeichnet sind. Die Autorin konzentriert sich auf eine überschaubare Zahl von Plätzen: das Wohnhaus der Kinder, das Café von Maria, den Comicladen, den Plattenladen, den Secondhand-Russen, einen Bio-Supermarkt. Das lärmende Gewusel einer Großstadt aber bleibt ausgeblendet. Zwar kann man die Straßen und Plätze wirklich im Berliner Stadtplan finden, auch die Figuren und Läden könnten real existieren. Doch die Kinderbande bewegt sich frei und eigenständig in einem überschaubaren Kosmos. Michaelis überwindet so die Unüberschaubarkeit urbaner Räume, wie es Kindern viel leichter gelingt als Erwachsenen – und so finden die Kinderhelden hier, mitten in Berlin, ihr eigenes modernes und ziemlich bunt-verrücktes Kleinköping.

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»Es kommt mir obszön vor« Warum Jean-Luc Godard den Technikwahn des Kapitalismus für unanständig hält. Ein Gespräch über Geld, Europa, seinen Hund und sein neues Werk »Film Socialisme«

GLAUBEN & ZWEIFELN

86 Seiten Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse

Kunst und Kunstreligion: Im Gespräch mit Martin Walser über ein paar letzte Dinge S. 66

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

DIE ZEIT: Jean-Luc Godard, welches Verhältnis sich beim Sprechen der Logik der alten Griechen bedient, müsste man zehn Euro überweisen. Und haben Sie zum Geld? Godard: Es ist für mich kein Selbstzweck, sondern wer Geld hat, aber keines geben will, hätte nicht ein Mittel zum Zweck. In einem Buch von ehema- mehr das Recht, sich dieser Logik zu bedienen. Er ligen Kämpfern der Résistance sagten diese Kämp- wäre gezwungen, ein bisschen anders zu denken. fer, dass das Geld bis 1943 in der Résistance ein ZEIT: Ein aristotelischer Euro-Rettungsschirm? reines Tauschmittel gewesen sei, um zu überleben, Godard: Warum nicht? Man vergisst immer, dass um Waffen zu kaufen. Nicht, um etwas zu verdie- die griechische Demokratie als soziales und politinen. Mein Problem besteht darin, dass ich immer sches System im gleichen Moment erfunden wurvon dem Geld für den Film lebe, den ich gerade de wie die Tragödie. Jedes Mal, wenn man heute drehe. Daher muss ich immer weiter Filme machen. das Wort Tragödie ausspricht, sollte man zur gleiZEIT: Sehen Sie sich als Mitglied einer kulturellen chen Zeit das Wort Demokratie aussprechen, und umgekehrt. Der Beweis für diese Verbindung ist Résistance? das, was heute in Griechenland geschieht. Man Godard: Das ist ein zu großes Wort. ZEIT: In Ihrem neuen Werk Film Socialisme heißt spricht von der Tragödie der griechischen Schules zu Beginn: »Geld ist ein öffentliches Gut, wie den, aber es lag von Anbeginn etwas Tragisches in der Erfindung der Demokratie und etwas Demodas Wasser.« Godard: Natürlich ist Geld kein öffentliches Gut. kratisches in der Erfindung der Tragödie. Aber das sollte es sein. Ein Tauschmittel für alle. ZEIT: Was ist das Tragische an der Demokratie? In unserem System sieht es so aus, dass sich man- Godard: Schauen Sie sich die Tagesschau an. che des Geldes bedienen und andere überhaupt ZEIT: Und was bleibt vom kulturellen Europa? nicht. Das Problem ist nicht, dass die einen mehr Godard: Es wurde von Anfang an beiseite gelassen. und die anderen weniger haben, sondern dass Europa wurde aus Stahl und aus Kohle gemacht manche überhaupt nicht in und dann aus Geld. Denn das Tauschsystem eintreten das moderne Europa war können. eine Folge des Krieges, und das ist wie die Folge eiZEIT: Sie leben auch vom ner Krankheit. Ich erinnere Geld, das Sie durch Ihre Urmich an einen Satz von Truheberrechte einnehmen ... man auf der Potsdamer Godard: Sie sind ein Teil Konferenz kurz nach dem meines Einkommens. Gäbe Krieg. Er hat gesagt, ohne es sie nicht, wäre das auch in Teil 1: Jens Jessen dass ihm klar war, was er da Ordnung. Es gibt kein geisTeil 2: Arundhati Roy sagte, aber vielleicht war es tiges Eigentum. Autoren Teil 3: Paul Kirchhof ihm auch klar: »Wir werden haben keine Rechte, nur den Frieden genauso maPflichten. Und ich bin daTeil 4: Lisa Herzog chen, wie wir den Krieg gegegen, dass Autorenrechte Teil 5: Jean-Luc Godard macht haben.« ein privates Eigentum sind, In den nächsten Wochen das einen befugt, darüber zu ZEIT: Sie haben mal gesagt, antworten auf unsere Frage entscheiden, ob ein Film geeine Geschichte brauche eiunter anderem Colin Crouch zeigt werden darf. So wie nen Anfang, eine Mitte und und Tim Jackson zum Beispiel der Enkel von ein Ende, aber nicht not-

? T T Kapitalismus APU K

Mythische Gestalt des Kinos: Jean-Luc Godard

Matisse darüber entscheiden kann, ob ein Bild angesehen werden kann oder nicht. ZEIT: Warum heißt Ihr neues Werk Film Socialisme? Godard: Hätte man als Titel nur das Wort socialisme genommen, wäre der Bezug zum realen Sozialismus zu stark geworden. Zur Geschichte auch. Man hätte den Film als politisches oder militantes Statement gelesen. Film Socialisme ist etwas anderes. ZEIT: Und was genau? Godard: Ein Vorschlag, eine Frage, eine Collage. ZEIT: Der erste Teil spielt auf einem Kreuzfahrtschiff. Man sieht meist ältere Leute in der Schlange vor dem Buffet, beim Shoppen, an den Spielautomaten. Dieses Schiff wirkt wie eine endzeitliche Fantasmagorie. Godard: Die Leute dort sind aber nicht unglücklich. Das Schiff hat fünf oder sechs Etagen, und auf jeder Seite gibt es Kabinen, die nicht mal richtige Fenster haben, keinen Meerblick. Es sind die billigsten Kabinen. Trotzdem gibt es Leute, die da drinnen Ferien machen wollen. Es ist weniger die Endzeit als der Triumph des Kapitalismus. Zum Glück haben wir auf diesem Schiff einen Film gedreht, sonst hätten wir es nicht ausgehalten. ZEIT: Ihre Kreuzfahrt führt an die antiken Orte der europäischen Kulturgeschichte: Ist das Schiff auch eine schwimmende Metapher Europas? Godard: Eines Europas, das in seiner Geschichte verloren ist. ZEIT: Ist Europa nur noch eine finanzielle Konstruktion? Die Reise Ihres Schiffes führt auch nach Griechenland ... Godard: Der Tourismus hat sehr von Griechenland profitiert. Alle sind hingefahren. Die Deutschen, die Franzosen, die Briten haben Griechenland verdorben, so wie sie Tunesien und andere Länder verdorben haben. Daher sollten wir den Griechen etwas zurückzahlen. Es gäbe eine einfache Lösung für die griechische Schuldenkrise: Wann immer man

wendigerweise in dieser Reihenfolge. In welchem Stadium unserer Geschichte des Kapitalismus befinden wir uns? Godard: Es ist nicht das Ende und auch kein Neuanfang. Es geht einfach so weiter! Auf andere Weise. ZEIT: Was hat sich verändert? Godard: Wir sind sehr dominiert von dem, was man schlicht die Technologie nennen könnte. Ich habe kein Mobiltelefon. Die Leute glauben die Tasten oder das Display ihres Telefons zu beherrschen. Es sind aber die Tasten, die uns beherrschen (tippt auf sein altes Telefon). Wenn ich auf diesem alten Apparat eine Nummer wähle, habe ich nicht das Gefühl, dass er mich beherrscht. Vielleicht ein bisschen. Aber ich fühle mich nicht gezwungen, dabei auf dem Ding entlangzustreichen. Das ist die gleiche Beziehung wie zwischen einem Hund und seinem Herrchen, die eine Leine zwischen sich haben. In dieser Beziehung gibt es zwei Herren oder zwei Sklaven. In jedem Fall beherrscht der Hund seinen Herrn genauso wie dieser umgekehrt ihn. Das gilt auch für Flugzeuge, Autos, für alles. Manchmal scheint mir die Technik obszön. ZEIT: In welchem Sinne? Godard: Im wörtlichen Sinne. Es kommt mir obszön vor, wenn Menschen jederzeit erreichbar sind. Wenn ich mich sofort an die Stimme des anderen anschließen kann. Es ist nicht richtig. Es stört mich. Es scheint mir obszön, dass es keines Weges, keinerlei Anstrengung bedarf, um mit jemandem zu kommunizieren. Es gibt nur noch den Umweg über die Droge, über kleine Maschinen, die uns mit ihren Stimmchen anpflaumen: »Los, kommuniziere!« ZEIT: Ist das gegenwärtige Stadium des Kapitalismus für Sie eine rein technologische Frage? Jenseits von Zusammenbrüchen und Wirtschaftskrisen? Godard: Oswald Spengler, der etwas reaktionäre deutsche Philosoph, hat schon 1918 vom »Untergang des Abendlandes« gesprochen. Das deutsche Fortsetzung auf S. 52

Foto (Ausschnitt): Patrick Messina/Contour by Getty Images

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LITERATUR

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D E R KO M M E N D E A U F S TA N D

Frühling in Amerika Die Anti-Wall-Street-Proteste greifen den Finanzkapitalismus an Wann hat es das in den USA zuletzt gegeben? Seit drei Wochen demonstrieren New Yorker Bürger gegen die Macht der Hedgefonds und Spekulanten, es sind vor allem junge Leute, die aussehen, als seien sie direkt aus dem Herzen der postmodernen Coolness, aus den Szene-Cafés und Retro-Clubs, auf die Straße gestolpert. Doch erstaunlich an diesem Aufruhr ist nicht, dass es ihn gibt, sondern dass er erst jetzt ausbricht. Denn seit Langem ist der American Dream ausgeträumt; die USA haben die höchste Armutsquote aller industrialisierten Länder, fast jeder sechste Amerikaner – und das sind 46 Millionen Bürger – lebt unterhalb der Armutsgrenze, jeder siebte bezieht Lebensmittelmarken. Die einen stochern im Müll, die anderen bekommen neunstellige Abfindungen, sobald sie ihre Firma in den Sand gesetzt haben. Verblüffend ist aber auch: Nicht Philosophen oder Sozialwissenschaftler sind die Mentoren der neuen Protestbewegung, sondern Ökonomen – also jene Zunft, die von den Achtundsechzigern zuverlässig als »Lakaien des Kapitals« ausgepfiffen wurde. Paul Krugman zählt ebenso zu den Zitierzeugen der Anti-Wall-Street-Bewegung wie Simon Johnson, der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds. Johnson nimmt kein Blatt vor den Mund. Für ihn ist die Finanzoligarchie die wahre Macht im Staate, und deshalb müsse man den »Einfluss der Wall Street brechen«. Die Demonstranten sagen es kaum anders: »Occupy the Wall Street!« Der Held der Bewegung aber ist der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz. Am Sonntag rechnete der berühmte Ökonom den Demonstranten vor, dass das obere eine Prozent der Bevölkerung vierzig Prozent des Gesamtvermögens besitzt. »Amerika betreibt Ungleichheit auf Weltklasseniveau.« Doch Geldmacht ist zugleich politische Macht. »Fast alle Entscheidungsträger für Handels- und Wirtschaftspolitik stammen aus dem oberen einen Prozent.« Nun darf sich Stiglitz durch die Proteste bestätigt fühlen. Vor Kurzem noch hatte er sich in Vanity Fair gefragt, warum der rebellische Funke nicht längst vom arabischen Raum auf sein Land übergesprungen sei. Und doch steckt auch eine abgründige historische Ernüchterung in dem Umstand, dass Wirtschaftswissenschaftler in die Rolle des Linksintellektuellen schlüpfen. Damals, in den sechziger Jahren, träumten die Vordenker der Studentenrevolte vom postmateriellen Glück, vom »Ende der überflüssigen Entsagungen« (Herbert Marcuse) und vom Jenseits der Marktlogik. Die Revolutionäre wollten das »ganz Andere« und am besten gleich ein neues System. Heute dagegen ist die Hoffnung klein und bescheiden geworden. Die couragierten New Yorker Demonstranten fordern »mehr Gerechtigkeit«, einige wollen Steuererhöhungen rückgängig machen, andere sind gut gelaunt ratlos. Ein Programm ist noch nicht in Sicht. Das utopische Verlangen beschränkt sich auf die Forderung, die kapitalistischen Exzesse müssten endlich aufhören und alle Bürger genug zu essen haben. Armes reiches Amerika. THOMAS ASSHEUER

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DIE ZEIT No 41

Jean-Luc Godard Fotos (Ausschnitte): © 2010 Vega Film AG (gr.); Cinetext Bildarchiv

»Herein!« Die Tür ist offen. Wer Jean-Luc Godard im Schweizer Städtchen Rolle in seinem Haus nicht weit vom Genfer See besucht, tritt von der Straße direkt in eine Wohnküche. In der Mitte des Raumes steht Godard, lächelnd, mit leicht zauseligem Haar, in der Hand die ewige Zigarre. Er lädt ein, auf zwei alten Ledersesseln Platz zu nehmen. Der Meister der Nouvelle Vague ist achtzig Jahre alt, verströmt aber immer noch den Geist des jungen Wilden, der mit Filmen wie Außer Atem (1960), Die Verachtung (1963) und Pierrot le fou (1965) das Kino revolutionierte. Letztlich sei es ihm aber nie um eine Revolution gegangen, sagt Godard: »Eher um eine Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit zu erzählen.« Sein neues Werk Film Socialisme ist ein Filmessay in drei Kapiteln über das Dasein unter den Bedingungen des Spätkapitalismus, über ein in seiner Geschichte verlorenes Europa und über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Demokratie. Der erste Teil folgt einem Kreuzfahrtschiff auf einer Odyssee durch die antiken Stätten des Abendlandes. Der zweite springt zu einer Familie, die irgendwo in Frankreich eine Tankstelle betreibt. Der dritte ist ein frei schwebender Bilderdiskurs über die Geschichte und die Kinogeschichte. Film Socialisme ist eine für Godards Spätwerk typische Collage aus Kinobildern und Musik, Literatur- und Philosophiezitaten. Man begegnet Pauschaltouristen und französischen Philosophen, Patti Smith und russischen Politikern, einem Kriegsverbrecher und einem palästinensischen Botschafter. In diesem Gedankengewitter schlägt Godards Montage Blitze, vergleicht Unvergleichbares und katapultiert den Betrachter aus dem einförmigen Strom linearen Erzählens heraus. Mit den fantasmagorisch verfremdeten Aufnahmen des Kreuzfahrtschiffes hat Godard eine schwimmende Tretmühle des Konsums geschaffen, das Brigitte Bardot und Bild einer durch ihre Michel Piccoli in Geschichte düm»Die Verachtung« pelnden Rentnergesellschaft, eine geisterhafte Metapher der Dekadenz. »Das Geld wurde erfunden, damit die Menschen einander nicht in die Augen blicken müssen« heißt es zu Beginn von Film Socialisme. Jean-Luc Godard blickt seinem Gegenüber während des Gesprächs durch seine Zigarrenwolke fest in die Augen. Manchmal schweigt er lange. Und manchmal hat er auch keine Antworten. Zum Abschied sagt er: »Bis in ein paar Jahren.« NIC

Auf dem Deck des Kreuzfahrtschiffes in »Film Socialisme«

Fortsetzung von S. 51

Wort Abendland ist übrigens viel schöner als das französische Wort occident. Spengler schrieb von der Tyrannei der Technik zu einer Zeit, als man sich noch gar nicht vorstellen konnte, was das bedeuten könnte. Ich stelle nur fest, dass es eine Art dumpfes Unbehagen gibt angesichts der Dominanz der Technologie. Vielleicht fahren die Leute deshalb auf solche Kreuzfahrten. Weil sie sich ein bisschen beschützt fühlen. Weil sie in den Ferien nicht nachdenken müssen. Aber Ferien sind heute nicht Ferien. Das französische Wort für Ferien, vacances, kommt von Vakanz, von einer Leere. Aber heute sind Ferien eher ein Zu-voll-Sein. ZEIT: Die Menschen konnten sich noch nie von der Technik emanzipieren. Godard: Sie hätten es gekonnt, aber sie wollten es nicht. Dabei kann man Prozesse kritisch betrachten und verlangsamen. Hier, in der Nähe von Genf, gibt es einen Teilchenbeschleuniger, ein riesiges Ding, das viele Millionen Franken im Jahr kostet. Man könnte sagen: Das reicht uns erst einmal, jetzt investieren wir das Geld mal woanders. Man könnte. Es gibt einen Satz von Dostojewskij, der mir im Kopf herumgeht: »Jeder kann es so einrichten, dass es keinen Gott gibt.« Aber keiner tut es. ZEIT: Sie haben mit Ihrem Kino immer wieder versucht, etwas zu tun. Deutschland (Neun) Null, ihr 1991 entstandener Filmessay zur Wiedervereinigung, war eine prophetische Warnung vor einem Kapitalismus, der keine Skrupel und keine Feinde mehr hat. Godard: Der Kapitalismus hat einfach nur den Feind gewechselt. Nordamerika kann gar nicht anders. Es braucht eine Art finanziellen Bürgerkrieg oder einen Kampf der Kulturen, was auch immer. Ein System, das mit sich selbst nicht im Reinen ist, wird sich immer äußere Feinde suchen. ZEIT: War der Kommunismus eine notwendige Fessel des Kapitalismus? Godard: Ich glaube nicht, dass man überhaupt von Kommunismus sprechen kann, sondern von dem, was bestimmte Länder daraus gemacht haben. Das gilt auch für den Kapitalismus. Schon Marx hat

das Kapital so untersucht, wie es von bestimmten Leuten geformt oder auch deformiert wurde. Ich kann Ihnen Geld leihen. Aber meinen Lebensunterhalt damit zu bestreiten, Ihnen Geld zu leihen und Zinsen einzunehmen, wäre etwas anderes. Ich könnte Ihnen Geld leihen, aber dann aus einer Idee der Brüderlichkeit. ZEIT: Wie viel? Godard: Pardon? Ach so, ja, nicht viel, aber immerhin. Ich würde daraus aber kein Lebensprinzip machen. Ich frage mich gerade, was die Schweizer Großbanken von der Idee der Brüderlichkeit halten würden. ZEIT: Stört es Sie, dass der Kapitalismus fast nur ökonomisch und nicht kulturell kritisiert wird? Godard: Es gibt schon eine kulturelle Kritik des Kapitalismus, aber sie bleibt meistens Schrift, Literatur, écriture. Man reiht einen Satz an den nächsten, aber es entsteht keine Vision daraus. Zu einer kulturellen Kritik müsste auch eine Kritik durch Bilder gehören. ZEIT: Bei der Verleihung des Adorno-Preises haben Sie gesagt: »Im großen Kampf zwischen den Augen und der Sprache hat der Blick die größere analytische Kraft.« Godard: So ist es. Das heißt auch: die Montage. ZEIT: Was genau entsteht durch den Zusammenprall verschiedener Bildausschnitte? Godard: Wenn zwei Bilder aufeinandertreffen, entsteht ein Drittes. Eine andere Art des Sehens. ZEIT: Ist die Montage das bessere Mittel zur Analyse von Geschichte als die Sprache? Godard: Ja. Weil die Montage der Bilder die Linearität der Geschichte, die Linearität des Denkens und der Schrift durchbrechen kann. ZEIT: In Ihren neuen Film montieren Sie immer wieder Aufnahmen des Meeres. Das wirkt, als ob sich in diesem schwimmenden Konsumalbtraum ein Fenster öffnet. Godard: Ich weiß nicht, ob das eine Utopie ist, eine Kritik oder einfach nur ein Blick von der Reling. Das ist das Gute an der Montage: Es ist an Ihnen, das Dritte aus zwei Bildern zu bilden. ZEIT: Sie haben in Ihren Filmen immer wieder den Kapitalismus reflektiert. In Die Verachtung als

korrumpierende Abhängigkeit des Autors von ZEIT: Es ist aber nicht primitiv, an einer Tankseinem Produzenten. stellenzapfsäule zu lehnen und Balzacs Verlorene Godard: Es schien mir einfach logisch, Fritz Lang Illusionen zu lesen. in der Rolle des Regisseurs dieses Brecht-Zitat in Godard: Gut, das bin ich, der das Mädchen in den Mund zu legen: »Jeden Morgen gehe ich auf dieser Szene so inszeniert, um eine Metapher ins den Markt, wo Lügen gekauft werden.« Bild zu setzen. ZEIT: Am Anfang, wenn Brigitte Bardot nackt ZEIT: Das Primitive als Glück. Hat das nicht mit Michel Piccoli auf dem Bett liegt und fra- auch leicht reaktionäre Züge? gend ihren Körper fragmentiert, da scheint schon Godard: Ich bin nicht gegen die Demokratie oder das Objekt, die Ware auf, zu der Piccoli sie später den Fortschritt. Ich kritisiere nur unseren Umgang machen wird. damit. Meine Kameras kaufe ich in ganz normaGodard: In jedem Fall ist das das Bild, das die len Fotodiscountern. Aber der Mensch hat so vieLeute von Die Verachtung in Erinnerung behalten. les erfunden, was er nicht beherrschen kann. Man weiß so viel mehr über die Technik, denkt aber so ZEIT: Stört Sie das? Godard: Nein, es ist ja schon was, wenn man sich viel schlechter. Und das betrifft nicht nur die Technik. Sehen Sie sich diesen überhaupt an ein Bild erinnert. Aschenbecher an, er sieht doch ZEIT: Gibt es überhaupt noch JEANLUC GODARD ganz in Ordnung aus. Warum ein Bedürfnis nach Bildern im braucht man noch Tausende eigentlichen Sinne? Es entsteht keine weitere Modelle? Früher sahen Godard: Nun, es gibt große die Automarken unterschiedAusstellungen von berühmten Vision. Zu einer lich aus, heute sind sie alle Malern, die massenhaft besucht kulturellen Kritik des gleich. Eine einzige Firma würwerden. Man sollte meinen, Kapitalismus müsste de genügen. Jeder will ein bissdass die Leute da nicht mehr auch eine Kritik durch chen erfinden, jeder will kreiehingehen, weil ihnen die Bilder ren. Also kreiert man tausend vom ZDF, von TV 1 oder Bilder gehören Blödsinnigkeiten, um die SehnCNN genügen. Aber sie haben sucht nach Kreation zu befriedas Bedürfnis, etwas zu sehen, digen. das nicht in Verbindung mit Sprache spricht. Sie wollen Bilder sehen. Aber ZEIT: Und das gilt auch für das Kino? man zeigt sie in Gebäuden, die aussehen wie Mau- Godard: Drei Viertel der Leute, die heute Kino soleen oder Kirchen, die man in Prozessionen be- machen, brauchen keine Kamera, um etwas zu sucht, als ginge man in einen Tempel. In Tempel sehen. Sie benutzen die Kamera, um nicht viel des Profits. In dieser Hinsicht bin ich für einen anders zu filmen als die Mutter, die ihr Baby aufsozialistischen Umgang mit der Kunst. nimmt, oder das Paar, das seine Hunde filmt und ins Internet stellt. Die Leute filmen letztlich nicht, ZEIT: Auch das Kino hat seine Tempel. Godard: Die Multiplexe. Ja, das sind Popcorntem- sie schreiben. Und dann kopieren sie mit der Kapel, in denen das Kino nur ein Accessoire ist. Ich mera, was sie aufgeschrieben haben. Sie benutzen frage mich, wie es eine kulturelle Kritik des Kapi- die Kamera nicht, um etwas zu sehen, was ohne talismus geben kann, wenn sich die Kultur längst Kamera unsichtbar bleiben würde. Etwas, was eine Kamera braucht, um überhaupt zu existieren. selbst kapitalisiert hat. ZEIT: Der Philosoph Slavoj Žižek vergleicht ZEIT: Glauben Sie, dieser Kamerablick geht unden Neoliberalismus mit dem Film Kung Fu wiederbringlich verloren? Panda: »Die Lächerlichkeit der herrschenden Godard: Die meisten Filmemacher brauchen Ideologie liegt offen zutage. Aber sie besteht diesen Blick einfach nicht. Sie sind genauso wie trotzdem weiter.« diese Fische, die seit Millionen von Jahren in Godard: Ich habe bei diesen Philosophen meine Grotten auf dem Grund des Meeres leben und Zweifel. Sie haben manchmal Ideen, die ich inte- keine Augen mehr haben. ressant finde, aber wann immer sie Beispiele aus ZEIT: Was für ein Fisch wären Sie selbst? dem Kino nehmen, sind sie plakativ. Wenn sie Godard: (hebt beide Hände) Ein Fisch mit Audas Kino und seine Bilder analysieren, dann von gen? Hoffentlich. einem literarischen Standpunkt aus. Sie mokie- ZEIT: Warum schließen sich nicht mehr sehende ren sich über schlechte Filme, wissen aber nicht, Fische zusammen? was ein guter Film ist. Und sie schreiben nicht Godard: Ich kann nur für mich selbst sprechen. gut. Wenn man an Freud oder Bergson denkt Ich kann jemandem widersprechen aus Freude und dann auf jemanden stößt wie Slo..., wie an der Diskussion, aber nicht um eine Wahrheit heißt er doch? Diesen Sloterdijk. Er kann nicht zu suchen oder die Welt zu beherrschen. schreiben, was ihn aber nicht davon abhält, ein ZEIT: Es gab einmal eine Zeit, da gehörten Sie zu Buch nach dem anderen zu publizieren. einer kulturkritischen Bewegung, der Nouvelle ZEIT: Was sagen Sie zu denen, die die Zukunft Vague. des Kinos im Internet sehen? Godard: Ja, aber wir waren jung, wir waren auf Godard: Wenn man wirklich sucht, dann findet der Suche, wir stürmten voran, wir waren wüman im Netz das eine oder andere Bild. In Film tend. Und ich muss zugeben, dass wir sehr, sehr Socialisme gibt es eine Aufnahme, die ich aus ernst waren. So ernst, dass mich meine damalidem Internet kopiert habe: zwei Katzen, die gen Abenteuer heute manchmal zum Lachen schnurrend einen Dialog führen. Den Leuten, bringen. Obwohl es sich auch um Tragödien die das gefilmt haben, ist ein hübsches Bild ge- handelte. lungen. Aber sie gehen nicht weiter. Es gibt zu ZEIT: Das ist vielleicht besser, als sich selbst zu viele Aufnahmen im Netz, und von 100 000 heroisieren. machen vielleicht drei etwas halbwegs Interes- Godard: Wer mich sehr erstaunt, ist Danny santes. Cohn-Bendit. Es ist seltsam, ihn in dieser UmgeZEIT: Folgen Sie denn dem Geschehen im Netz? bung wiederzufinden, als Europaabgeordneter. Godard: Nein. Ich habe keinen Anschluss. Aber Ich sehe ihn immer als Überblendung mit dem wenn mir jemand von etwas erzählt, dann gehe jungen Cohn-Bendit. Und ich frage mich, ob er ich zu einer Freundin, um es mir anzuschauen. sich nicht zu Tode langweilt. Aber wahrscheinlich Nur stehen die Dinge im Netz einfach herum. blickt er genauso auf mich, einen 80-Jährigen, Meist als Befriedigung des Egos. Es wird nichts der seit einem Jahr in einem Schweizer Städtchen damit gemacht. Etwa eine Montage, ein Film. an einem neuen Film bastelt. Das Netz bleibt eine Demokratie mit vielen In- ZEIT: Was ist das für ein Projekt? formationen, aber ohne allzu großen Sinn. Sie Godard: Die Geschichte eines Paares, das sich wird beherrscht von Hohepriestern namens Ser- nicht sehr gut versteht. Und das sich besser ververn, die selbst wiederum von Konzernen be- steht, sobald es einen Hund hat. (Er steht auf, herrscht werden. geht über eine Treppe ins obere Stockwerk und holt das Drehbuch) Hier, machen Sie damit, was Sie ZEIT: Schauen Sie fern? Godard: Selten. Manchmal. Tierfilme auf der wollen. BBC, in denen Menschen Monate damit ver- ZEIT: Adieu au langage. Da sind ja schon lauter bringen, um einem Käfer oder einer Haselmaus Bilder auf den Seiten. nachzustellen. Godard: Ja, aber Bilder, die ich irgendwo geZEIT: Ihr neuer Film wirkt weniger abgeklärt als macht habe und die nicht notwendigerweise im Film auftauchen. sie selbst. Godard: Mag sein. ZEIT: Und dieser Hund? ZEIT: Es gibt sogar eine Hoffnung: In Form eines Godard: Das ist unser Hund. Sozialismus, der aber nicht ein politisches System ZEIT: Welche Rasse? ist, sondern eine andere Form der Kultur. Godard: Keine Rasse. Godard: Ja, man könnte sagen ein Konglomerat ZEIT: Verstehen auch Sie und Ihre Frau sich von Ideen, die eher auf etwas Primitives verwei- besser, seit Sie den Hund haben? sen. 3000 Jahre europäische Kulturgeschichte Godard: Nun ..., er tut uns gut. sind nicht viel. In Film Socialisme gibt es die ZEIT: Weil Sie manchmal über den Hund mitSehnsucht, sich an einen Anfang zurückzuver- einander kommunizieren? setzen. Sie wird verkörpert durch die Jugend. Die Godard: Sehr oft sogar. Sehen Sie, ich brauche Jugend in meinem Film ist primitiv. Eine kleine wirklich kein Mobiltelefon. primitive Gesellschaft. Ich glaube, primitive Gesellschaften sind glücklicher als unsere. Das Gespräch führte KATJA NICODEMUS

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6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

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Der schmutzige Heilige Katalonien hat den Stierkampf abgeschafft. Das Verbot wird Europa kulturell ärmer machen

An den zierlichen Ballettschuhen klebt das frische Blut der toten Stiere Tatsächlich bedroht ist die Tauromachie aber von der Politik. Im nächsten Jahr tritt in der spanischen Provinz Katalonien ein Stierkampfverbot in Kraft; gerade fand in Barcelona die letzte Corrida statt. Die Zunft hat ein akutes Legitimationsproblem. Vor nicht einmal einer Stunde hat sich Manzanares wieder einmal überwunden. Er stand in der Arena, diesmal im römischen Amphitheater von Nîmes, und zelebrierte seine Kunst auf eine Weise, die das Publikum in den Himmel hob und dem Präsidenten die höchsten Auszeichnungen abrang. Den Tieren wurden jeweils beide Ohren und dem zweiten zudem der Schwanz abgeschnitten. Es war ein Triumph wie zuletzt in Madrid und davor in Sevilla, wo der Torero auch schon auf Händen aus der Arena getragen wurde. Noch ungewöhnlicher ist vielleicht, dass wir nun hier tatsächlich an seinem Bett sitzen. Einem Journalisten aus dem stierkampfkritischen Deutschland hat José María Manzanares bisher noch kein Interview gegeben. In seiner Heimat aber gilt er, neben dem nach einer langen Verletzungspause gerade wieder genesenden José Tomas, als der herausragende Matador unserer Tage,

als der Lionel Messi seiner Zunft. Die Fans lieben sein Können, die Modefotografen sein Gesicht. Von der spanischen Vanity Fair bis Vogue – kein Magazin, das den 29-Jährigen nicht schon auf ausführlichen Bilderstrecken präsentiert hätte, seine Hochzeit im vergangenen November, ein Fest für die Boulevardpresse. Stierkämpfe sind verpönt, besonders dort, wo noch nie einer stattfand. Das weist sie als Symptom der europäischen Krise aus. Weil die wirtschaftliche Homogenisierung Europas ins Desaster geführt hat, erscheint vielen plötzlich die Wiedereinführung der griechischen Drachme angeraten und morgen vielleicht diejenige der italienischen Lira. Ganz offenbar verstieß die ökonomische Vereinheitlichung des Kontinents gegen die Gebote der ökonomischen Vernunft. Das drohende Verbot des Stierkampfs hingegen käme der Abschaffung einer kulturellen Währung gleich. Man hält diesen Ritus für einen Schmutzfleck der mediterranen Voraufklärung und wünscht sich ein Europa, das derlei Barbarei unter seinem Dach nicht länger duldet. In anderem Zusammenhang hat der Philosoph Robert Pfaller ganz grundlegend erklärt, worum es hier geht. Pfaller stellt der »reinen Vernunft« den »schmutzigen Heiligen« gegenüber. »Die reine Vernunft«, so schreibt er, beschränke sich auf das, »was ihr angenehm und geheuer ist. Sie hält sich an jene Gegenstände, in denen sie sich selbst gerne wiedererkennt, beziehungsweise an solche, die ihr gut zu Gesicht stehen. Was ihr Rätsel aufgibt, betrachtet sie nicht als Herausforderung, sondern als Obszönität; als ein Pudendum, das aus dem Gesichtsfeld – wenn nicht überhaupt aus der Welt – zu verbannen ist.« Eine Obszönität war schon die Ankunft der Toreros in der Lobby des Novotels. Ein sterilerer Ort, ein unspezifischerer und dadurch im Sinne Pfallers wiedererkennbarerer, lässt sich kaum denken. Die wenigen Hundert Meter, die das Hotel vom Amphitheater trennen, wurden die Toreros in einem Minibus mit getönten Scheiben gefahren, anders wäre der Weg durch die sich draußen stauende Menschenmasse auch kaum zu überwinden gewesen. Hände werden ausgestreckt und Kameras in die Luft gehalten, und erst allmählich löst sich die Gruppe der Verehrer von jenen Gestalten, die in ihren trajes de luces wie aus der Zeit gefallen wirken. Der Ausdruck »Lichteranzug« macht die dunkle Seite ihres Tuns aber nicht vergessen. Denn an den zierlichen Ballettschuhen, den paillettenbesetzten Boleros und engen Kniebundhosen klebt noch das frische Blut der Stiere, die sie in den vergangenen drei Stunden getötet haben. José María Manzanares umarmt Menschen, die sich ihm in nur durch Ehrfurcht gezügelter Zudringlichkeit nähern, streicht Kindern über den Kopf, als hätte er die Macht zu segnen. Dies ist ein ganz und gar lebendiger Heiligenkult. Und der wirkt wie eine surreale Bildmontage: Die Toreros passen nicht zu den blanken Marmorkacheln, Sitzgruppen, Fernsehbildschirmen und automatisch sich öffnenden

Glasschiebetüren. Sie sind der Keim in der keimfreien Zone. Es gibt nichts Kultivierteres als den Stierkampf. Kein Opernpublikum der Welt reagiert so sensibel auf das Dargebotene wie die Zuschauer einer Corrida. Unter den 12 000 Menschen, die die Ränge der römischen Arena von Nîmes bis obenhin besetzen, ist kaum ein Tourist. Das Publikum kennt die Regeln, weiß, was es erwartet, und reagiert mit sofortigem Protest auf jede Verfehlung, die die Schönheit und Flüssigkeit des Ablaufs stört. Es liebt den Stier. Wenn der berittene Picador, der ihn zu Beginn eines jeden Kampfes auf sich zieht, um das angreifende Tier vom Pferd herunter mit seiner Lanze zu stechen, unsauber vorgeht, dann schlägt die absolute Konzentration plötzlich in lautstarke Entrüstung um. Ein Stich, der nicht präzise die Muskelhöcker im Nacken trifft, sondern stattdessen Lungen oder Rippenfell verletzt, quält und schwächt das Tier vor der Zeit. Auch in Nîmes war nicht selten zu beobachten, wie einem zuvor schnell und stark wirkenden Stier nach seiner Kollision mit der pica die Vorderläufe einknickten. Die verlang-

Töten als Kulthandlung: José María Manzanares in der Arena in Madrid

samten Bewegungen verrieten dem Publikum schon da, dass ein Kampf zu Ende war, bevor er so recht beginnen konnte. Ein frühzeitig ruinierter Stier wird dem Matador kaum gefährlich werden, er wird ihm aber auch keine Gelegenheit zu jenem atemberaubenden Tanz geben, der ein Stierkampf sein kann. Man muss sehr viele – vielleicht fünfzig – Kämpfe verfolgen, um den einen, herausragenden zu sehen. Darunter sind hässliche, langweilige oder brutale Prozeduren, bei denen es der Matador erst nach einigen Versuchen vollbringt, das Tier zu töten. José María Manzanares aber gelingen in der Mittagshitze dieses Tages gleich zwei Kämpfe von unvergesslicher Schönheit. Wie er den in die Arena rasenden Stier mit einem cambio de rodillas, also auf Knien, erwartet, um ihn mit seiner über den Boden schwingenden capa hautnah am ungeschützten Körper vor-

beizuführen, hat das nichts mit den gefallsüchtigen Mätzchen zu tun, nach denen sich manche seiner Kollegen stolz in die Brust werfen, um den Applaus des Publikums zu erzwingen. Manzanares führt die tollkühnen und die klassischen Manöver mit derselben Konzentration aus. Frontal zum Stier stehend, schwingt er ihm sachte lockend die rote muleta entgegen und führt das angreifende Tier dann mit gerade ausgestrecktem Arm im Kreis um sich herum. Unmittelbar und durch einen minimalen Impuls aus dem Handgelenk zieht er es sofort wieder an sich heran. Mensch und Tier drehen sich in engen Pirouetten umeinander, das Publikum versinkt in einer Stille, die die Stimme des Matadors bis in die obersten Reihen hören lässt. Manzanares und der Stier verschmelzen zu einer beweglichen Einheit, die einem anderen Gesetz gehorcht als der Dominanz des Menschen über das Tier. Als sei der Tod sein Freund, steht der Matador in hauchdünnem Abstand vor den Hörnern und schaut in die Augen des Stiers. Seine Ballettschuhe bohren sich in den Sand, irgendeine Macht zieht sie ins Innere des Bannkreises. So innerlich diese Kulthandlung bis zuletzt ist, findet sie doch ein extrovertiertes Ende. Der Stier senkt den Kopf, und Manzanares wirft sich zwischen die Hörner. Bis zum Schaft steckt sein Degen im Rücken des tödlich ins Herz getroffenen Stiers. Es ist wie eine Explosion. Die estocada reißt das Publikum von den Bänken. So etwas sieht man nicht oft. El Juli, El Cid, Juan Bautista, Alexandro Talavante, Javier Conde, Sebastian Castella – in Nîmes waren einige der berühmtesten Matadore der Gegenwart zu sehen, aber keiner von ihnen schuf einen solchen Moment. Das Spektakel das Stierkampfs handelt vom Leben und Tod und kann den Zuschauer mit der spontanen Gewalt eines Blitzes treffen. Es ist zugleich der förmlichste Ritus, der sich denken lässt – eine getanzte Kunst- und Kulturgeschichte Europas, denn sie reicht bis zu den allerersten Anfängen des Abendlandes zurück. Allein das Manöver der veronica zeigt, dass hier nichts spontan oder improvisiert ist. Der Torero lockt den Stier dabei mit der capa, einem aus Rohseide geschneiderten, außen kirschfarbenen und innen gelben Umhang, zum möglichst eng an seiner Taille vorbeiführenden Vorstoß. Er belebt damit die Vera Icon, eine Szene der christlichen Ikonografie, wie sie unter anderem auf El Grecos Bild Die Heilige Veronika mit dem Schweißtuch Jesu zu sehen ist. Die Heilige Veronika hält das Tuch, mit dem sie das Gesicht von Jesus Christus auf seinem Kreuzweg trocknet, auf dieselbe Weise mit beiden Händen wie der Torero den Umhang beim Anblick des Stiers. Das Opfer der Christen verschränkt sich in der Arena mit antiken und archaischen Ritualen. Der Stierkult der Minoer verdichtet sich im Minotaurus, Homer und Ovid haben mit der Geschichte von Europa und dem Stier den Ursprungsmythos unseres Kontinents besungen. Auch in das vor zweitausend Jahren

erbaute Amphitheater von Nîmes sind Stierdarstellungen eingemeißelt worden. Und noch viel früher zeugten steinzeitliche Höhlenmalereien vom rituellen Spiel zwischen Stier und Mensch. Solche Bilder finden sich unter anderem in der Gegend des andalusischen Ronda, wo um 1750 der moderne Stierkampf entwickelt wurde. Draußen riecht die Altstadt von Nîmes schon am Mittag nach Sangria und Urin. Blaskapellen lärmen in den engen Gassen, auf dem Place des Arènes drehen sich Karusselle. Paella schmort in riesigen Pfannen. Wer sich keine Karte für die Corrida leisten kann, wartet auf den Sänger Youssou N’Dour, der am Abend auf einer Freilichttribüne spielen wird. In der Nacht wird die sonst so friedliche Stadt vollends im Alkoholexzess versinken. Mit diesem Spektakel haben die Toreros dann nichts mehr zu tun.

Der Stier in der Arena ist für den Matador weder Freund noch Feind Drinnen, auf dem Bett seines klimatisierten Hotelzimmers, liegt José María Manzanares. Er ist schon beinahe wieder auf dem Weg nach Istres, Jerez, Valladolid und Talavera. Wie alle großen Matadore riskiert er sein Leben auch in der Provinz. Der nächste Kampf findet in einer Woche statt, manchmal sind es aber fünf an aufeinanderfolgenden Tagen. Im Winter verlassen die Toreros Europa und treten in Mexiko, Chile und Ecuador auf. Nach getaner Arbeit weicht die Anspannung langsam aus Manzanares’ Gesicht. Toreros altern schneller, sagt er, wirkt dabei aber jetzt jünger, als er tatsächlich ist. In seinen Adern fließt sangre torera, Stierkämpferblut. Schon der Großvater war Banderillero von Beruf, sein Vater ein berühmter Matador, der jüngere Bruder Manuel ist rejoneador, Torero zu Pferd. Erklärt das seine Leidenschaft und seinen Mut? Den Entschluss, Stierkämpfer zu werden, fasste er mit elf Jahren und trat dann in eine spezielle Schule ein. Mit zwanzig stand Manzanares, damals wie heute in Nîmes, zum ersten Mal im Mittelpunkt einer regulären Corrida. Er kämpfte gegen einen dunkelbraunen Stier von 418 Kilogramm und überzeugte seinen Vater davon, dass das Familienerbe bei ihm in guten Händen lag. Von diesem habe er zweierlei gelernt: hart zu arbeiten und den Geist des Opfers zu achten. Die Angst, die ihn verfolgt, ist seine Lebensversicherung, sie schützt vor Tollkühnheit. In der Arena muss er sie durch Mut überwinden. Er überhört dabei die Musik der Kapelle und übersieht das Publikum. Der Blick ist einzig auf den Stier gerichtet, denn seine Augen verraten ihm die nächste Bewegung, die er lenkt, und der er folgt. Der Stier, auf seinem Weg in den Tod, ist weder Feind noch Freund, er ist, mit einem großen Wort, sein compañero, sein Begleiter. Nîmes aber, vormals das römische Nemausus, wird nach der Feria in seinen gewohnten Zustand zurückfallen. Es wird zu einem um eine unbelebte Kultstätte herumgruppierten Freilichtmuseum, bevölkert vor allem von fotografierenden Touristen. Kurzum: zur Zukunft Europas.

Der Lionel Messi des Stierkampfs: José María Manzanares in Sevilla

Fotos: Manuel H. de Leon/EFE/Photoshot (o.); Marcelo del Pozo/Reuters

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ngst ist sein treuester Begleiter. Seit Tagen schon ist sie da, am schlimmsten aber war es in der letzten Nacht. Er wacht in schweißnassen Laken auf und hat ein Kilogramm Gewicht verloren. Der Bart wächst schneller an solchen Tagen, die Tränensäcke schwellen an, das Gesicht erscheint gealtert. Später dann, als im Eingang zur Arena gierig die letzten Zigaretten geraucht werden, will er nur noch flüchten. Vielleicht zu seiner Frau, die ein Kind erwartet, vielleicht in ein anderes Leben, in dem er Schriftsteller sein darf oder FlamencoSänger. Aber so ist es eben, so ist es jedes Mal. José María Manzanares ist Stierkämpfer. Jetzt, nachdem der Kampf vorbei ist, liegt er, noch ungeduscht, in T-Shirt und kurzer Hose auf einem Hotelbett und erzählt vom Alltag seines Berufs. Die entblößten Beine erzählen ihre eigene Geschichte. Sie sind überzogen von den verschorften Wunden vergangener Kämpfe. Die Hörner eines Stiers können schreckliche Verletzungen in den Oberschenkel des Toreros reißen, eine durchtrennte Arterie hat schon viele das Leben gekostet. Unter größter Verachtung des Schmerzes hat auch Manzanares nach schweren Verwundungen schon oft weitergekämpft, bis das Ritual vollendet und der Stier getötet war. Daher rührt die Angst des Stierkämpfers. Manzanares erinnert sich an ein altes Wort von Juan Belmonte, des berühmtesten Matadors aller Zeiten: Wenn die Toreros ihre Verträge erst zwei Stunden vor einer Corrida unterschreiben müssten, dann gäbe es keinen Stierkampf mehr.

VON RONALD DÜKER

FEUILLETON

DIE ZEIT No 41

T H O M A S G L AV I N I C

PSYCHOTHERAPIE IM NETZ

IM IRAN VERHAFTET

Autor fährt Auto zu Schrott

Ihre Neurosen sind der Star!

Terror gegen die Filmwelt

Vor gut einem Monat ist das neue Buch des österreichischen Autors Thomas Glavinic erschienen. Er erzählt darin von seiner Pilgerfahrt auf den Balkan und dass das weniger ein Pfad der Erleuchtung als vielmehr der Highway to Hell gewesen sei: Tourismusfalle, Fanatiker, exzessives Beten und so was. Das Buch heißt Unterwegs im Namen des Herrn. Vor gut zwei Wochen hat der Autor dann, diesmal unterwegs im Namen von »Österreichs führendem Automagazin«, einen Lamborghini verschrottet. »Ein höchst banaler Landstraßenknaller«, informierte das Automagazin, dem Autor ist – der Pilgerreise sei Dank – nichts passiert. Der Lamborghini Aventador, der »schnellste Supersportler ever«, der ist halt hin. Und Glavinic musste 39 Euro für einen gekappten Telefonmasten blechen. Überraschend ist das alles nicht. Eigentlich war es sogar vorherzusehen. Spätestens seit Das bin doch ich, zu seinem Erscheinen 2007 als »1 : 1-Roman« und »furiose

Egomanie« gewürdigt, weiß man: Glavinic schreibt auch ganz gerne über sich selbst. Und er gibt in Interviews Dinge von sich wie: »Für Autos interessiere ich mich nicht, aber ich bin ein Geschwindigkeitsfreak.« Weiters behauptete er eine enge Verwandtschaft zwischen Voyeurismus und Vandalismus und zeigte sich »ziemlich sicher, als Kind den anderen immer die Sandburgen zerstört zu haben«. Dann habe er »ihnen wohl beim Weinen zugesehen«. Mehr als Mutmaßungen kann dieser Mann über sich selbst nicht anstellen. Denn die Wahrheit ist: Er ist eine Romanfigur. Irgendwo sitzt der echte Thomas Glavinic und schreibt gerade an seinem neuen Roman. Wie er heißen wird? Das bin jetzt wirklich ich. ANDREA HEINZ

T E L E KO M U N D E M A N Z I PAT I O N

Wann ist eine Frau eine Frau? Letztens bekam meine Freundin eine Einladung zum »Männerabend«. In unserem Briefkasten lag ein Umschlag, gestaltet wie eine schwarz glänzende Handtasche mit Krokodilledereffekt. Darauf stand in Magenta und Weiß: »Glamour, Glanz und Gloria. Feiern Sie mit den Männern des Jahres!« Der Absender: die Telekom. Meine Freundin ist eine »treue Kundin«, und weil sie sich so viele Jahre mit Tarifen und Technikern herumgeschlagen hat, will die Telekom sie nun belohnen. Mit einem Gewinnspiel für ein Absolutes-Wohlfühl-Wochenende bei den GQ Awards 2011. Sie solle sich zusammen mit ihrer besten Freundin verwöhnen lassen wie die Stars, schreibt die Telekom im Begleitbrief. Und zwar mit persönlichem Berater beim Luxus-Shopping im KaDeWe, mit Limousinenservice für den gesamten Aufenthalt, mit Hair-&-Makeup-Styling im Salon von Udo Walz und mit exklusiver Wellnessbehandlung. Das, glaubt die Telekom, sei für eine junge Frau das Glück auf Erden. Gekrönt von diesen tollen Männern, denen sich das Unternehmen auf der Rückseite des Briefes widmet. Eine sehnig starke Männerhand hält im Rampenlicht den GQMann-des-Jahres-Award. Daneben: die Grönemeyer-Frage »Wann ist ein Mann ein Mann?«, gefolgt von: »Smart oder hart, Waschbrett- oder Bierbauch, Dreitagebart oder glatt rasiert wie ein Kinderpopo – an den Vorstellungen des perfekten Mannes scheiden sich die Geister.« So eindimensional das Frauenbild der Telekom ist, Germany’s-Next-Topmodel-Sex-and-the-CityVerschnitt mit Sektchen, Abendkleid und Handtäschchen, so vielfältig darf der Mann sein. Da sollte doch für jede und von jedem etwas dabei sein. In diesen Stereotypen denkt also das Unternehmen, das als erster Dax-30-Konzern eine Frauenquote eingeführt hat. KILIAN TROTIER

Sie leiden unter Neurosen? Ab ins Netz damit! Ein paar Klicks, das mentale Problemchen geht online und – verschwindet. »Ihre Neurosen sind der Star!«, propagiert die Expositionsmaßnahme nach Verbier, die die klassische Methode der Konfrontation mit den eigenen Spleens nun um die Zurschaustellung im Internet erweitert und als neuestes Heilsversprechen der modernen Psychotherapie bereits nach einigen Wochen im Netz beachtliche Erfolge zu verbuchen scheint. Wie genau die virtuelle Spontanheilung funktioniert, macht ihr ominöser Erfinder, der Kölner Therapeut Dr. Hanno Verbier persönlich vor. Im Sozialen Netzwerk Facebook und auf YouTube demonstriert der Doktor mit Glatze und Cordanzug, wie sein Methodenmix aus Gesprächs-, Verhaltens- und Experimentaltherapie bei Gert, dem »Patienten Null« anschlägt. Einmal die Woche wird an ihm exerziert, was die Demonstrationsfilmchen auf Verbiers Website versprechen: Der Mensch überträgt die Auseinandersetzung mit seinem Leiden per Video ins Internet, wo es sich langsam – »im Verhältnis 1 : Bodensee«, wie die sonore Stimme Verbiers die Infografik erläutert – auflöst. Nicht gerade gering war die Verwirrung, als das von der Film- und Medienstiftung NRW geförderte Onlinekunstwerk des Pseudotherapeuten Dr. Hanno Verbier, dargestellt vom Schauspieler Hanns Zischler, erstmals online ging. So seriös ist sein Internetauftritt (www.drverbier.de) inszeniert, dass Zischler für eine wahre Figur gehalten und seine Methoden in Psychologiefo-

ren ernsthaft diskutiert wurden. Mittlerweile sind Verbier und sein Patient Gert allerdings als fiktiv entlarvt worden und dafür zu Webstars avanciert. Elf Sitzungen gibt es bereits online zu sehen, von der Konfrontation mit der Höhenangst, die sich in der nächsten Sitzung als »Höhlenangst« (die Urangst vor der Mutterhöhle) entpuppte, bis zur hypnotischen Reise ins gemeinsam gebaute Fantasieland. Pannen sind dabei Standard: Gerts Abgrenzung zum eigenen Vater scheitert fast daran, dass der Therapeut vor lauter Sympathie mit dem Alten vergisst, seinen Patienten daran zu erinnern, wie gesund es wäre, den Kontakt zu ihm für immer abzubrechen. Zischlers Filmchen beflügeln das neue Genre einer »Webserie«, die ausschließlich in kleinen Häppchen im Netz erscheint. Ihre Stärke liegt in der gnadenlosen Ernsthaftigkeit. Der Klamauk wird unvorbereitet eingestreut, nie zuckt auch nur der Mundwinkel der Schauspieler, die mit dem Kontrollverlust der eigenen Psyche Pingpong spielen. Verbier, der Onlinetherapeut, schafft es nicht nur, den zeitgenössischen Pathologisierungs- und Therapierungswahn auf die Schippe zu nehmen, indem er das humoristische Potenzial im Psychologenvokabular ausspielt. Er karikiert auch das ewige Ausstellen der User im Netz, der »Weltgemeinde WWW«, wie er sie nennt, wobei ihm gerne mal ein »W« zu viel rausrutscht. Es ist dieser zwischen Pseudoprofessionalität und völligem Irrsinn changierende Tonfall, der Verbiers Therapie so komisch und die Neurosen tatsächlich zum Star macht. NINA PAUER Der Netztherapeut Dr. Hanno Verbier (alias Hanns Zischler)

Sie ist eine der renommiertesten Filmhändlerinnen Irans. Katayoon Shahabi verkauft einheimische Produktionen an ausländische Verleiher und Sender oder vermittelt sie an Festivals. Wer Shahabis Firma Sheherazad in einem hellen Neubau im Norden von Teheran besucht hat, begegnete einer kleinen Frau, die sich vor lauter Energie kaum auf dem Stuhl halten kann. Während sie auf ihrem schmalen Schreibtisch ein mehrgängiges Mittagessen servieren lässt und nebenbei die Gewürze ihres Landes erklärt, spricht sie vom Kino als Fenster zur Welt. Shahabi gilt als hart verhandelnde Geschäftsfrau, versteht sich aber auch als Kämpferin für die heimische Filmwelt. Am 17. September wurde Shahabi zusammen mit sechs iranischen Filmemachern verhaftet: Hadi Afarideh, Naser Safarian, Shahnam Bazdar, Mohsen Shahrnazdar und Mojtaba Mir Tahmaseb, der zuletzt als Co-Regisseur von Jafar Panahi den Dokumentarfilm This is not a film über Die Filmhändlerin dessen Hausarrest Katayoon Shahabi drehte. Ihnen wird vorgeworfen, illegal für den in Iran verbotenen persischen Dienst der BBC zu arbeiten. Zu keinem der Verhafteten besteht Kontakt, bekannt ist nur, dass alle sechs im berüchtigten Evin-Gefängnis festgehalten werden. Die BBC hat bereits erklärt, dass keiner der Inhaftierten für sie tätig sei. Die Behauptung, dass Katayoon Shahabi und die Filmemacher Spionage betrieben und Umsturzpläne gegen das Regime geschmiedet haben sollen, gilt in der iranischen Filmszene als weiterer Versuch, das kulturelle Milieu des Landes zu terrorisieren und einzuschüchtern. Wie schwach muss ein Regime in seinem Innersten sein, wenn es eine der leidenschaftlichsten Kulturvermittlerinnen des Landes in ein Foltergefängnis steckt? KATJA NICODEMUS

Abb. [M.] (v.l.n.r.): mauritius images (2); Getty Images (2); action press (m.); imago

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Fotos (Ausschnitte): Paul Hahn/laif (l.); Henning Kaiser/picture alliance/dpa

»Frau mit Hut«, im Geist von Kees van Dongen gemalt von Wolfgang Beltracchi (rechts)

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ür sie ist er ein Lump, ein Hochstapler, ein ganz mieser Betrüger. Und recht haben sie, all die Händler und Sammler, die Wolfgang Beltracchi über viele Jahre hinweg hinters Licht führte. Deswegen steht er nun in Köln vor Gericht, vorige Woche hat er gestanden, hat erzählt, wie er die Legende von der Sammlung Jägers erfand, wie er auf Flohmärkten alte Bilderrahmen und Leinwände kaufte, dann Ölfarben nach historischer Rezeptur anrührte und schließlich Bilder malte, die ebenso gut von Max Pechstein, Heinrich Campendonk oder Max Ernst hätten stammen können. Unter ihrem Namen ließ er sie auch verkaufen, Wolfgang Beltracchi betrog die Kunstwelt – das Gericht wird ihn verurteilen. Was aber, wenn man die Paragrafen für einen Moment beiseite schiebt? Was, wenn Künstler alles dürften und die Kunst absolut frei wäre? In einer solchen Welt jenseits des Rechts wäre Beltracchi kein Lump und kein Hochstapler, er wäre ein großer Künstler. Kein Originalgenie vielleicht – ein Genie ohne Original aber in jedem Fall.

Beltracchi hat keine Bilder nachgemalt, sondern nachempfunden So versteht er sich offenbar auch selbst, tritt auf als Malerfürst mit wallendem Haar und Musketierbart, verschmitzt der Blick, seine Rede betont unbescheiden. Vor Gericht schwärmt Beltracchi von seiner »besonderen Gabe des Sehens«, erzählt, dass mehrere »Künstlerseelen parallel in mir existiert« hätten. »Ich brauchte keine bewusste Analyse der Maltechnik. Ich verstand intuitiv, wie der Maler gemalt hat.« Wenn er vor der Leinwand stand, war er nicht mehr Wolfgang, er war Heinrich oder Max, er kopierte nicht einfach deren Bilder, sondern erfand Werke in ihrem Geiste, Werke, »die nicht im Œuvre hätten fehlen dürfen«. Es sind keine Fälschungen im herkömmlichen Sinne, Beltracchi hat die Bilder nicht nachgemalt, er hat sie neu gemalt – und alt empfunden. Sein Können verdankt er vor allem dem Vater, einem Kirchenmaler und Restaurator, bei dem er schon früh lernen konnte, wie leicht es ist, sich das Alte anzuverwandeln und einen Rembrandt täuschend echt nachzumalen. Bereits mit 14 Jahren kopierte Beltracchi, 1951 in Geilenkirchen nahe Aachen geboren, eine Picasso-Zeichnung, kaum

»Absurd einfach«

Wer glaubt noch ans Original?

Der Kunstfälscher gesteht – und fühlt sich vom Kunstmarkt betrogen VON TOBIAS TIMM

Wolfgang Beltracchi mag ein großer Kunstfälscher sein – seine Bilder gehören dennoch ins Museum VON HANNO RAUTERBERG mehr als zwei Stunden brauchte er dafür, sehr zur Verblüffung des Vaters. Noch heute verblüfft er viele, mit seiner technischen Brillanz und seinem Einfühlungsvermögen, mit tiefer Kenntnis der Stile und der Kunstgeschichte und nicht zuletzt mit seiner Fantasie. Doch zum wahren, zum modernen Künstler wurde Wolfgang Beltracchi erst dank seiner konsequenten Verachtung des Originals. Und ausgerechnet das beschert ihm nun den großen Ärger. Es gehört zu den seltsamen Verdrehungen dieses großen Kunstskandals, dass hier ein Maler für etwas vor Gericht steht, das seit rund hundert Jahren zu den Kardinaltugenden der Moderne zählt. 1917 war es, in New York, da kaufte Marcel Duchamp bei einer Firma für Sanitärbedarf ein Pissoirbecken und wollte es bei einer Jahresausstellung als Skulptur zeigen. Spätestens seit damals war der Mythos des einmaligen, unwiederholbaren Kunstwerks zum Abschuss freigegeben. Ob Andy Warhol, Gerhard Richter oder Damien Hirst, ob Avantgarde oder Postmoderne – die meisten Künstler des 20. Jahrhunderts wollten nichts Meisterliches mehr schaffen, glaubten nicht mehr an das Authentische und dekonstruierten die Vorstellung vom Künstlergott. Duchamp schlug vor, »einen Rembrandt als Bügelbrett« zu benutzen. Und etwas Ähnliches tat er dann auch: 1919 malte er einer Reproduktion der Mona Lisa einen elegant gezwirbelten Schnurrbart ins Gesicht und nannte das Werk L.H.O.O.Q. Fast 50 Jahre danach griff er wiederum nach Mona Lisa, zeigte sie diesmal ohne alle Bärte und nannte sie rasée L.H.O.O.Q. Nur acht Jahre später machte sich die Künstlerin Elaine Sturtevant daran, Duchamps reproduzierte Reproduktion zu reproduzieren, nicht die erste, sondern die zweite, rasierte Fassung, wie der Titel Duchamp rasée L.H.O.O.Q. verrät. Ein mehr oder weniger amüsantes Verwirrspiel, bei dem am Ende kaum noch zu unterscheiden ist zwischen originalen Originalen, kopierten Originalen, originalen Kopien oder kopierten Kopien. Heute ließe sich spielend ein Spezialmuseum mit lauter reproduzierten Reproduktionen füllen. Längst werden auch Fotografien von Künstlern fotografiert, so kopierte Sherrie Levine einige Bilder von Walker Evans, und es dauerte nicht lange, bis ein weiterer Künstler kam, Michael Mandiberg, der nun seinerseits Levines Re-Fotografien refotografierte. Mittlerweile nimmt die Nachfertigung fast schon industrielle For-

men an, Eric Doeringer zum Beispiel bietet seine sogenannten Bootlegs gleich im Dutzend an, kleinformatige Ausgaben von teuer gehandelten Kollegen wie John Currin, Elisabeth Peyton oder Damien Hirst. Daneben nimmt sich Wolfgang Beltracchi mit seinen nachempfundenen Nicht-Originalen geradezu bescheiden aus. Er ist jedenfalls in bester Gesellschaft. Auch die Art und Weise, wie er den Kunstbetrieb bloßstellte, wie er die Gier und Eitelkeit vieler Händler, Sammler und Experten zutage treten ließ, macht Beltracchi zu einem überaus modernen Künstler. Schon vor etlichen Jahren ist Institutional Critique zu einer eigenen Gattung geworden, und die Künstler, die sich ihr verschreiben, sind emsig darum bemüht, die Machtverhältnisse in Museen oder auf Messen zu befragen. Vor allem die von Beltracchi betriebene Strategie einer Subversion durch Affirmation erfreut sich großer Beliebtheit.

Ewiger Ruhm wäre dem Fälscher sicher, hätte er sich beizeiten gestellt Nur einen Fehler hat Wolfgang Beltracchi begangen: Er blieb zu lange im Verdeckten. Hätte er sich bereits vor zwei Jahren, bevor der erste Verdacht auf ihn fiel, als großer Kunsthauptmann von Köpenick zu erkennen gegeben, hätte er sich damals als Konzeptkünstler gepriesen, dem es auf einzigartige Weise gelungen sei, die mafiosen Strukturen der Szene aufzudecken, hätte er seine vielen ergaunerten Millionen nicht für Partys und teure Villen ausgegeben, sondern notleidende Künstler unterstützt – ewiger Ruhm wäre ihm sicher. Vielleicht hätte man ihn sogar straffrei davonkommen lassen, von der Kunstfreiheit geschützt. So aber erscheint er nun als Epigone, dessen eigene Gier kaum geringer war als die Gier der Händler, Sammler und Experten. Dennoch sollte man seine Bilder zeigen, am besten in einer großen Ausstellung. Denn sind sie nicht dieselben wie zuvor, noch immer interessant, noch immer schön? Warum sollte ein Gemälde, eben noch im Museum bewundert, jetzt nur noch Abfall sein? Der Handelswert der Bilder mag implodiert, ihr kunsthistorischer Wert geschwunden sein – ihr Kunstwert im engeren Sinne bleibt. Und auch ihr Erkenntniswert: Zeugen sie doch nicht zuletzt davon, dass die Künstler des 20. Jahrhunderts mit dem Versuch gescheitert sind, den Geniekult, den Glauben

an das Original zu zertrümmern. Wären sie erfolgreich gewesen, dann könnte es uns gleich sein, wer den Liegenden weiblichen Akt oder die Katze in Berglandschaft gemalt hat. Wie bei der Lektüre eines Buchs, bei der es einen auch nicht interessieren muss, wann und wo es gedruckt wurde, würde man sich einfach am Bild des Bildes wegen erfreuen. So hatte es schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts der große Historiker Jacob Burckhardt vorgeschlagen, der die Frage nach der Echtheit gern in den Hintergrund gedrängt hätte. »Das Jagen nach berühmten Namen hat überhaupt seine großen Schattenseiten; es wäre eigentlich richtiger, die Bilder um ihrer Schönheit willen zu lieben.« So gesehen wäre es ein avantgardistischer Akt, wenn die Berliner Nationalgalerie die Bilder Beltracchis ankaufen würde. Ganz im Sinne des 20. Jahrhunderts könnte sich das Museum gegen den Kult der großen Namen wenden und den Eigenwert der ästhetischen Erfahrung stärken. Wenn selbst ein Experte wie Werner Spies einen falschen Max Ernst nicht von einem echten unterscheiden kann, warum soll dann der Originalität überhaupt noch so große Bedeutung beigemessen werden? In der Albertina in Wien oder anderen Grafikmuseen der Welt ist es längst üblich, empfindliche Blätter in Ausstellungen durch Repliken zu ersetzen, die selbst für lupenbewehrte Fachleute nicht als solche zu erkennen sind. Andere Häuser präsentieren ihre Werke als hochaufgelöste Kopien im Internet, wo man sie mitunter besser betrachten kann als in den Museen – kein spiegelndes Glas behindert den Blick, keine lärmenden Besucher stören die Kontemplation. Für viele Kunsttheoretiker der Geschichte war das Original ohnehin verzichtbar. Kant, Hegel, Schelling schrieben über Werke, die sie nur von Kopien kannten, das genügte für ihre klugen Gedanken vollauf. Braucht es also noch das Original? Wäre es nicht an der Zeit, die Künstler ernst zu nehmen und auf den Kult des Echten zu verzichten? Gerade in Zeiten des Internets erodieren die alten Werte der Autorenschaft und Authentizität. Bald wird man nur noch auf Kunstmessen und in den Museen an das wahre und einzige Original glauben. Wolfgang Beltracchi hat diesen Glauben erschüttert. Zumindest dafür gebührt ihm Preis und Dank. A www.zeit.de/audio

Beim großen Kölner Kunstfälscherprozess steht neben den vier Angeklagten auch der Kunstmarkt vor Gericht. Indirekt jedenfalls, denn die Recherchen des Kunstdezernates im Berliner LKA haben Erstaunliches über die Branche zutage gefördert. »Absurd einfach« sei es gewesen, sagte jetzt auch die Angeklagte Helene Beltracchi vor Gericht, selbst angesehenen Experten und Sammlern die Fälschungen ihres Mannes Wolfgang unterzujubeln. Einem Pariser Kunsthändler fiel es noch nicht einmal auf, dass ihm zur Herkunft ein und desselben Gemäldes erst die eine und später dann eine ganz andere Geschichte aufgetischt wurde. Die Angeklagten griffen besonders das Kölner Auktionshaus Lempertz an. Wolfgang Beltracchi fühlt sich, so scheint es, selbst betrogen. Ein gefälschter Pechstein, den Beltracchi beim Auktionshaus Lempertz einliefern ließ, fand in der Auktion keine Bieter und wurde danach von Henrik Hanstein, dem Inhaber des Auktionshauses, selbst gekauft. Angeblich zu einem niedrigeren Preis, als andere Sammler bereit waren zu zahlen. Hanstein habe das Bild für einen Bekannten gekauft, sagt hingegen Lempertz, und es habe kein höheres Gebot gegeben. Aus den Aussagen des Ehepaars Beltracchi konnte man zudem indirekt den Vorwurf an Lempertz heraushören, dass die Fälschungen nur wegen der Schludrigkeit des Auktionshauses aufgeflogen seien. Angeblich haben die Beltracchis, wenn sie gefälschte Gemälde bei Galerien oder Auktionshäusern einlieferten, stets die Erstellung von Gutachten durch Experten vor dem Verkauf gefordert. Durch dieses Vorgehen wollten sie wohl nicht nur besonders seriös wirken, sondern sich auch vor Verfolgung schützen. Hätte ein Experte das Bild vor der Auktion oder dem Verkauf für unecht erklärt, wäre es wahrscheinlich stillschweigend an die Beltracchis zurückgereicht worden – wie in solchen Fällen auf dem Kunstmarkt üblich ohne strafrechtliche Ermittlungen. Da im Fall des bei Lempertz versteigerten vorgeblichen Campendonk-Gemäldes Rotes Bild mit Pferden aber erst nach der Auktion die Campendonk-Expertin Andrea Firmenich um ein schriftliches Gutachten gebeten worden sei und diese auf einer materialtechnischen Untersuchung bestand, welche Zweifel an der Echtheit des Gemäldes aufkommen ließ, war der Betrug schon vollzogen. Lempertz sagt dazu, dass der (inzwischen verstorbene) Herbert Campendonk die Echtheit des Bildes vor der Auktion mündlich bestätigt habe. In dem zivilrechtlichen Prozess um die Rückabwicklung der Campendonk-Versteigerung gab es vergangene Woche übrigens auch noch eine Anhörung. Die Richterin deutete an, dass sie am Ende des Verfahrens genauere Regeln zur Sorgfaltspflicht des Auktionshauses festlegen könnte. Es könnte ein Urteil werden, das den deutschen Kunstmarkt umkrempelt. Ein wenig zumindest.

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DIE ZEIT No 41

Nix war früher besser Schon wieder führen sich die Kritiker von Facebook auf, als drohe der Untergang des Abendlandes. Das nervt VON IJOMA MANGOLD

Foto: Klaus Lefebvre (gr.); Abb.: © Comedy Central

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Trotz Verstrahlung: Das Orchester in der Kölner Uraufführung von »Kein Licht« spielt weiter

Nicht Worte noch Töne Wie viel Katastrophe kann der Mensch vertragen, fragt Elfriede Jelineks »Kein Licht«, in Köln uraufgeführt von Karin Beier. Die Antwort: Nicht viel VON ANDREA HEINZ

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iese Welt ist kein schöner Ort; Elfriede Jelinek weiß das. Als nobelpreisgekröntes weibliches Pendant zu Thomas Bernhard und mit einer ebensolchen unbändigen Wut auf die Verhältnisse wühlt sie sich mit ihren Textkaskaden hinein in die Abgründe des Menschendaseins: Antisemitismus und Raubtierkapitalismus, ebenso Kindesentführung und die Misshandlung dementer Verwandter. Spätestens mit der Trilogie Das Werk/Im Bus/Ein Sturz ging sie über zum Konkreten, Materiellen: Katastrophen, natürlich menschengemachte. Gott, heißt es in Kein Licht, das diese Trilogie nun fortsetzt, ist schließlich längst weg – und irgendwer muss ja schuld sein. Jelinek, die Mutter der postmodernen Dramatik, weiß: Nicht nur Gott, auch das Subjekt ist tot. Es gibt keine Figuren bei ihr. Erst die von Katastrophen geschüttelte Welt, in der sich die Schauspieler bewegen, die grammatische Struktur ihrer Texte lassen diese Darsteller überhaupt so etwas wie »Ich« sagen.

Verstrahlte Zombies treiben im wüsten Land Standen in der antiken Tragödie noch Menschen ihrem Fatum (und damit ihren Göttern) gegenüber, sind es bei Jelinek Zombies, die mit dem Zusammenbruch einer Welt, die sie selbst geschaffen haben, nicht mehr zurande kommen. In Kein Licht reicht ein Wort, um diese Welt zu beschreiben: Fukushima. Und es sind tatsächlich Zombies, lebendige Tote, die verstrahlt in einem Strom aus Schlamm treiben. In Jelineks Text sind die Figuren eine erste und eine zweite Geige, und folgerichtig leitet Intendantin Karin Beier, die 2010 am Schauspiel Köln bereits Das Werk/Im Bus/Ein Sturz inszeniert hat, ihn mit einer Orchesterprobe ein. Demokratie in Abendstunden nennt sich diese Probe, Eine Kakophonie im Untertitel, und die Partitur umfasst nicht nur Kompositionen von Jörg Gollasch, John Cage oder Franz Schubert, sondern auch von Bettina Auer, Karin Beier und Rita Thiele enggeführte Texte von (unter anderem) Bernhard, Beuys, Rilke, Breton, Jelinek, Wagner oder al-Qaida – ein buntes Diskurs-Allerlei eben. Es sind Schauspieler ebenso wie Musiker beteiligt an dieser Orchesterprobe, und es geht nicht nur um die Frage, wie man gemein-

sam Kunst machen kann, sondern auch darum, wie man zusammen leben soll. Es wird mit Noten wie mit Worten geworfen, und das ganze beredte Bemühen um Demokratie und Konsens und Gerechtigkeit, das ganze »Wir sind das Volk«, wir haben es ja geahnt – es endet wieder mal in Gewalt und Anarchie, in »Natürlich darf geschossen werden« und »Dreck! Dreck! Hass! Hass!«. Da bebt dann die Erde, fegt ein Sturm über die Bühne, beschmieren die Schauspieler sich mit Farbe. Nötig wäre das alles nicht gewesen. Berührend wird es ohnehin erst, wenn das Orchester Ich gehe langsam aus der Welt spielt und verzweifelte Musiker rufen: »Wir sind nicht zusammen!« – »Wo sind wir?« Das menschliche Zusammenleben, aber das wussten wir ja längst, ist schwierig. Bittere Tropfen reicht einem diese zweistündige Ouvertüre, das schon. Aber die Musiker spielen, dass es eine Freude ist, und die Schauspieler arbeiten so präzise und nahezu perfekt, dass es nicht mehr weit ist zu jener Katharsis, die Jelinek doch immer so unbedingt zu vermeiden sucht. Diese bitteren Tropfen bringen niemanden zum Würgen, sie lassen sich problemlos schlucken wie auf einem Stück Zucker. Gut sieht das aus, wie die schwarze Dreckbrühe die Bühnenwände herunterrinnt – und ihr Tropfen klingt schön heimelig. Für Jelinek bleibt der Saal erst einmal schwarz. Es heißt schließlich nicht umsonst Kein Licht, und umsonst havariert auch kein Atomkraftwerk. Der Glaskubus, der während der Orchesterprobe meist als Raucherkämmerchen diente, erleuchtet schließlich schwach die Bühne. Eine Art Stromleitung verbindet ihn mit einem Hometrainer, auf dem, mundschutzbewehrt, der Schauspieler Michael Wittenborn sitzt. Das ist nicht mehr das weite, das hier ist das wüste Land: Die Bühne ist bedeckt mit Schlamm und Unrat, dazwischen japanischer Nippes. Die erste und die zweite Geige, die im Text durch dieses unheimliche Land treiben, sie vergessen trotzdem immer wieder, wo sie eigentlich sind. Sie können nichts mehr verstehen, nichts mehr sagen, ihre fünf Sinne sind ihnen vergangen. »Nicht einmal ein Wort rührt uns an.« Zwar spielen sie noch, doch: »Ich höre mich nicht mehr, ich höre nichts mehr, Hilfe!« Die Natur und die Technik, diese zwei gottgleichen, unkontrollierbaren Größen haben sich den Menschen unterworfen. Der ist beleidigt: »Die

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Natur müsste auch nicht immer so übertrieben reagieren.« Tatsächlich sind diese Figuren gar keine Menschen mehr, weil ihnen angesichts der Katastrophe alles abhandengekommen ist, was sie zu solchen gemacht hat.

Kontaminierter Schlamm als letzte Verbindung zwischen Menschen Sie können sich über diese Katastrophe auch nicht verständigen, sämtliche Kommunikationswege versagen; als zwischenmenschliche Verbindung bleibt nur der kontaminierte Schlamm. »Ich kenne mich nicht mehr aus«, klagen sie, womit wir nach Wittgenstein ein klassisches philosophisches Problem hätten: Eine solche Katastrophe lässt sich nicht denken. Und wo Nietzsche – der hier ohnehin hinter jeder Ecke lauert – noch glaubte, als ästhetisches Phänomen wäre selbst die schrecklichste aller Welten zu rechtfertigen, da muss nun auch die Kunst passen. Stattdessen wird sie als grausames Placebo entlarvt. Das Elend des japanischen Volkes, auf der Bühne verkörpert von der schreienden und leidenden Sachiko Hara, wird von den anderen Schauspielern, von Kathrin Wehlisch, Michael Weber und den beiden Geigen Lina Beckmann und Julia Wieninger, zu Musik gemacht; nach Gebrauch bringen sie das Leid mit einem »Scht!« zum Schweigen. Sachiko Hara wälzt sich mit einem Sousafon auf dem Boden und jammert ihre Qualen in die Windungen des Blechinstrumentes, als säße sie im bronzenen Stier des Phalaris von Akragas, der sich an den Schreien seiner Gefangenen delektierte. Die platte Medienkritik, in der ein Telefongespräch Sachiko Haras von der Meute mittels allerlei japanischen Beiwerks und Regieanweisungen für ihre Film- und Fernsehkameras inszeniert wird, hätte es neben solch subtilen Bildern gar nicht gebraucht. Karin Beier hat diesen Abend mit Bedeutung überfrachtet, bis er fast platzt. Andererseits darf man von Theater, erst recht von einer Autorin wie Jelinek, nun einmal nicht erwarten, dass sie die Dinge simpler machen, als sie sind. Und am Ende ist es sowieso nur die eine große Frage: Wie gehen wir um mit unserem Schicksal, unserem menschen- und naturgemachten Elend, das wir nicht denken und nur schwer verarbeiten können? Und vielleicht ist die Antwort keine tröstliche, sondern einfach nur: Wir spielen.

Chris tian Schmidt- Häuer, Jana Simon, Burk hard Straßmann, Dr. Volker Ullrich Berater der Art-Direktion: Mirko Borsche Art-Direktion: Haika Hinze (verantwortlich), Klaus-D. Sieling (i. V.); Dietmar Dänecke (Beilagen) Gestaltung: Mirko Bosse, Martin Burgdorff, Mechthild Fortmann, Sina Giesecke, Katrin Guddat, Philipp Schultz, Delia Wilms Infografik: Gisela Breuer, Anne Gerdes, Wolfgang Sischke Bildredaktion: Ellen Dietrich (verantwortlich), Florian Fritzsche, Jutta Schein, Gabriele Vorwerg Dokumentation: Mirjam Zimmer (verantwortlich), Davina Domanski, Michael Jobst, Melanie Moenig, Dorothee Schöndorf, Dr. Kerstin Wilhelms Korrektorat: Mechthild Warmbier (verantwortlich) Hauptstadtredaktion: Marc Brost (Wirtschaftspolitik)/ Matthias Geis (Politik), gemeinsam verantwortlich; Peter Dausend, Christoph Dieckmann, Jörg Lau, Mariam Lau, Petra Pinzler, Dagmar Rosenfeld, Dr. Thomas E. Schmidt (Kulturkorres pondent), Dr. Fritz Vorholz Reporter: Tina Hildebrandt, Elisabeth Niejahr Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin, Tel.: 030/59 00 48-0, Fax: 030/59 00 00 40 Frankfurter Redaktion: Mark Schieritz (Finanzmarkt), Eschersheimer Landstr. 50, 60322 Frankfurt a. M., Tel.: 069/24 24 49 62, Fax: 069/24 24 49 63, E-Mail: mark.schieritz@zeit. de Dresdner Redaktion: Stefan Schirmer, Ostra-Allee 18, 01067 Dresden, Tel.: 0351/48 64 24 05, E-Mail: [email protected] Europa-Redaktion: Matthias Krupa, Residence Palace, Rue de la Loi 155, 1040 Brüssel, Tel.: 0032-2/230 30 82, Fax: 0032-2/230 64 98, E-Mail: [email protected] Pariser Redaktion: Gero von Randow, 39, rue Cambronne, 75015 Paris, Tel.: 0033-972 23 81 95, E-Mail: [email protected] Mittelost-Redaktion: Michael Thumann, Posta kutusu 2, Arnavutköy 34345, Istanbul, E-Mail: [email protected] Washingtoner Redaktion: Martin Klingst, 940 National Press Building, Washington, D. C. 20045, E-Mail: [email protected]

in Gespenst geht um, und wer auf sich blick über seine Privatsphären-Einstellungen zu hält, warnt vor seiner Gefährlichkeit: der behalten. Aber wenn Facebook den Bogen überAlgorithmus. Was früher einmal die Kul- spannt, dann zieht die Karawane irgendwann weiter. turindustrie war, der Verblendungszusam- Es sind schon andere Internet-Giganten, die für die menhang oder das Kapital, das ist heute der Algo- Ewigkeit gemacht schienen, sehr rasch vom Fenster rithmus. Also eine latente Struktur, die uns steuert, verschwunden. Man denke nur an AOL oder Myohne dass wir es merken, ein abstraktes Prinzip, das space. Der wiederkehrende Hauptvorwurf all jener, die nur die (wenigen) Aufgeklärten durchschauen, während die (vielen) Dummen in sein Netz gehen. den Menschen bei Facebook auf Abwegen sehen, Algorithmen gab es schon immer, waren früher lautet aber: Authentischer Austausch zwischen Menaber eher etwas für Mathe-Freaks. Heute ist der Al- schen würde aufgegeben zugunsten oberflächlicher, gorithmus zur beliebtesten Münze der Gesellschafts- virtueller Kommunikation. »Verliert nicht das«, kritik geworden. Wenn man in einer gebildeten schreibt Nina Pauer, »an Gewicht, was pausenlos Runde fragt, was die Macht ist, die uns manipuliert, abgefilmt, aufgenommen und kommentiert wird?« wird an erster Stelle der Algorithmus genannt. Er ist Hier sind wir im Herzen des Anti-Facebook-Reszur Metapher geworden für das Internet, das alle sentiments, das ein schlichtes kulturkritisches ArguInformationen, die wir einspeisen, speichert, sortiert ment wieder und wieder variiert: dass wir an einer und qualifiziert, um hinter unserem Rücken eine Entgrenzung von Kommunikation leiden. Dass in Matrix zu erstellen, in der wir gefangen sind wie die der Gesellschaft insgesamt ein Exhibitionismus herrFliege im Spinnennetz. Aus selbstbestimmten Indi- sche, der von Facebook auf die Spitze getrieben viduen werden Persönlichkeitsprofile für die Werbe- würde. Dass das narzisstische Selbst auf dem Vorwirtschaft. Der Algorithmus ist aus dieser Sicht eine marsch sei. Und dass kein Mensch die Nichtigkeiten, dunkle Macht, die uns entmündigt, und wo wir noch die da ausgetauscht würden, wirklich brauche. glauben, ganz frei eine bestimmte Einspielung eines Dies Argument erinnert einen an Leute, die sich Beethoven-Streichquartetts herunterzuladen, hat in auf Partys über oberflächlichen Small Talk lustig Wahrheit der Algorithmus unsere Hand geführt, der machen. Man fürchtet diese Leute, denn es sind just unseren Musikgeschmack besser kennt als wir selbst. die, deren Konversation jeder Esprit fehlt. ZugegeDie Verkörperung der Macht der Algorithmen, ben, nicht jedes Posting ist eine kulturelle Sterndie uns im Moment am meisten umtreibt, ist Face- stunde, aber auch das analoge Leben besteht nicht book. Hatten unsere Ängste vor dem totalitären Zu- nur aus geistigen Höchstleistungen. Es geht auch um griff des Internets noch vor Kurzem Google gegolten, Zerstreuung. Die Zerstreuung mit Facebook ist prowerden sie heute auf Facebook projiziert. Das hat vor duktiver als die vor dem Fernseher, weil man selber allem damit zu tun, dass sich bei etwas hervorbringt. Kommunikation ist immer auch das Austesten Facebook die innigsten seelischkommunikativen Bedürfnisse des und spielerische Entwerfen der Persönlichkeit, ist BrückenschlaMenschen mit der digitalen Technologie so anschmiegsam vergen zu anderen und Integration in bunden haben wie in keiner andeeine Gemeinschaft: Das leistet virtuelle Kommunikation nicht ren Internet-Anwendung. Deshalb fürchten viele um ihre Seele und schlechter als die sogenannte reale. Sie ersetzt ja auch nicht die reale darum, dass die Menschheit sich an ihrem zartesten Punkt eiBegegnung, sondern bahnt sie nem Netzmonopolisten ausliefert. In unserer letzten Ausgabe mitunter an. Wobei man feststellen muss: Die warnte Nina Pauer, dass mit Dabei ist das Niveau von FaceSorge ums Seelenheil ist bei denen »Timeline«, dem neuesten An- book exakt so hoch wie der Freunam größten, die noch nie einen gebot des Sozialen Netzwerkes deskreis, den ich mir zusammenSchritt in Richtung Facebook ge- Facebook, eine Grenze über- stelle. Wenn ich die Postings tan haben. Das Bild, das sie dabei schritten sei, weil das analoge meiner Freunde lese, bekomme von den Usern entwerfen, ist von Leben zusehends mit dem digi- ich eine Fülle von Anregungen verächtlicher Abwehr gezeichnet: talen verschmelze. Heute wider- über die Welt, die sich in ihrem digitaler Plebs, der die bürgerliche spricht Ijoma Mangold: Face- analytischen Witz und ihrer zeitUnterscheidung zwischen privat book sei als Kommunikations- diagnostischen Hellhörigkeit nicht raum genau so intelligent wie kategorial unterscheiden von dem, und öffentlich verlernt habe. Als Facebook nun seine neues- seine Nutzer was ich in der Zeitung lese. Nur dass Facebook ein Frühwarnsysten Weiterentwicklungen bekannt tem ist, bei dem die Themen frügab, herrschte wieder Alarmismus: her auftauchen. Die »Timeline«, die jede Statusmeldung und jede Mediennutzung dauerhaft archiDie Kritiker von Facebook unterscheiden implizit viert, sei die endgültige digitale Verknechtung des zwischen hochwertiger und niederwertiger KomMenschen, Mark Zuckerberg der Big Brother unserer munikation. Es gibt ein Reden, das der Authentizität elektronischen Lebensläufe. Nina Pauer schrieb in des Menschen gerecht wird, und ein Reden, das den der ZEIT der vergangenen Woche (Die Utopie ist da), Menschen zur Sprechblase herabwürdigt. Facebook mit »Timeline« sei die »Gleichzeitigkeit von Leben wird stets der niederwertigen Kommunikation zuund seinem Abbild im Netz« möglich geworden. Sie geordnet. Dabei kenne ich kein Kriterium, das diese findet für diesen Qualitätssprung den schönen Aus- Unterscheidung steuert. Ich mache nur die Beobachdruck eines »Lebens im Liveticker-Modus«. tung, dass die meisten Menschen ihr eigenes Reden Aber stimmt das? Fällt wirklich unsere ganze (besonders wenn es eine Klage über niederwertiges reale Existenz der elektronischen Archivierung an- Reden ist) für hochwertig halten. Natürlich ist es so: Wer bei Facebook nicht mitheim? In allen Diskussionen über Facebook wird die Vorstellung, dass es sich bei den Usern um mündige macht, spricht wie der Blinde von den Farben. Und Bürger handeln könnte, stets als naiv zurückgewie- wer mitmacht, hat schon Blut geleckt und ist auf sen. Dabei kann jeder genau steuern, welche Infor- Droge. Natürlich verlangen neue Kommunikationsmationen auf Facebook auftauchen. Nur der You- räume auch neue soziale Fähigkeiten. Die Evolution Tube-Clip, den ich auf Facebook runterlade, hin- netzspezifischer Umgangsformen aber ist erstaunlich terlässt auf Facebook Spuren. Man muss Facebook schnell und einfühlsam. Natürlich brauchen wir eine nicht sein Adressbuch anvertrauen, man kann Ap- neue Sorge ums Selbst. Wir müssen lernen, unsere plikationen blocken. Wenn ich nicht möchte, dass Expressivität zu dosieren. So wie man lernt, in einer Facebook meine E-Mail-Nachrichten speichert, Tischgesellschaft im rechten Moment das Wort zu dann schreibe ich Mails mit einem anderen Pro- ergreifen. Aber wir werden das hinkriegen. Die einen gramm. Das mag einen gewissen Aufwand erfordern, anmutiger, die anderen weniger anmutig. Schon klar. aber Selbstbestimmung ist immer Arbeit. Es ist Und wenn gar nichts mehr hilft, gibt es zu guter Letzt richtig: Facebook ist ein schuftiges Unternehmen, noch die »Web 2.0 Suicide Machine«, die Facebookdas es seinen Kunden nicht einfach macht, den Über- Accounts rückstandsfrei entsorgt.

Die Debatte

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FEUILLETON

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

Die perfekte Form von Ruhm Eine London-Reise auf den Spuren von Pink Floyd. Die legendäre Band, die es eigentlich längst nicht mehr gibt, bringt jetzt eine Werkausgabe heraus

Foto: EMI Music Germany

VON CHRISTOPH DALLACH

Pink Floyd Anfang der siebziger Jahre (von links nach rechts): David Gilmour, Nick Mason, Roger Waters, Richard Wright

V

or der Eingangstür des Studios 3 in den Londoner Abbey Road Studios steht ein uniformierter Wachmann mit Metalldetektor und strengem Blick. Wer an ihm vorbeiwill, muss Tasche, Mobiltelefon und iPod abgeben und sich dann wie am Flughafen von Kopf bis Fuß abtasten lassen, bevor er den dunklen, etwas muffigen Studioraum betreten darf. Eine bizarre Show, die sich nur eine Band wie Pink Floyd leisten kann, die auch in diesem Jahrtausend noch eine Aura von Geheimnis und Größenwahn umnebelt. Es geht darum, Medienvertreter, die aus aller Welt nach London gekommen sind, zu beeindrucken; ihnen ein Dutzend historischer, unveröffentlichter Pink-Floyd-Aufnahmen vorzuführen, die im Archiv Staub fingen und nun restauriert im Rahmen einer Werkausgabe als sensationeller Schatz vermarktet werden. Und um diesem Zirkus für Journalisten die angemessene Exklusivität zu verleihen, wird die betagte Musik eben an dem Ort vorgespielt, an dem sie einst entstand. Das »Wohnzimmer von Pink Floyd« nennen Abbey-Road-Angestellte das Studio 3 ehrfürchtig, wo unter großer Geheimnistuerei die sogenannte Listening Session stattfindet; hier spielte die Band vor Jahrzehnten berühmte Alben wie Wish You Were Here ein. Gleich nebenan ist das Studio 2, wo sich einst die Beatles einrichteten. »Ab und zu trafen wir uns auf dem Flur. Ich erinnere mich vor allem an einen Abend, als ich in ihr Studio schlich und staunend lauschte, wie sie den Song Lovely Rita für ihr Sgt. Pepper’s-Album vorbereiteten«, sagt Nick Mason und fügt hinzu, dass Paul McCartney damals regelmäßig bei Pink-Floyd-Konzerten aufgetaucht sei.

Pink Floyd stehen für zwei Begriffe: Weltruhm und Streit Mason sitzt in einem kleinen Aufenthaltsraum für Techniker über dem Studio 3 auf einem klapprigen Sofa, nippt an einer Tasse Tee und verfolgt auf einem Fernseher ohne Ton ein Wimbledon-Tennismatch, das ihn mehr zu interessieren scheint, als noch einmal über Pink Floyd Auskunft zu geben, die Band, deren Schlagzeuger er war und die immer noch sein Leben prägt: »Es vergehen keine 24 Stunden, ohne dass ich damit behelligt werde«, sagt er müde lächelnd. Der 67-jährige Brite spricht so geduldig und freundlich wie ein Märchenerzähler und sieht in Designerjeans, blau kariertem Oberhemd und Slippern sowieso nicht mehr aus wie ein Rockstar. Mehr wie ein Privatier, der irgendwo im Grünen sein Leben genießt und sich dort nur ungern stören lässt. Nick Mason war als Einziger bei Pink Floyd von Anfang bis Ende dabei und schien in dieser Gang von streitbaren, versponnenen Egozentrikern immer am zugänglichsten, weshalb er auch als eine Art Pink-Floyd-Vorstandssprecher fungiert. An diesem Tag ist Mason, der sonst seine Zeit mit dem Sammeln und Vermieten alter Rennwagen verbringt, von seinem Landsitz kurz in die Stadt gerauscht, um Werbung für eine Neuauflage der renovierten dreizehn Pink-Floyd-AlbumKlassiker wie Dark Side Of The Moon, The Wall oder Wish You Were Here zu machen, die zwischen 1967 und 1994 veröffentlicht wurden und die auch heute noch in einer krisengeschüttelten Branche für beständige Millionenumsätze sorgen. Why Pink Floyd? ist der Titel der rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft gestarteten Wiederveröffentlichungskampagne. Warum dieser Titel? Das weiß auch Nick Mason nicht so recht. Ausnahmsweise hätten alle drei noch lebenden Bandmitglieder nichts dagegen gehabt. Das ist etwas Besonderes, denn Pink Floyd sind nicht nur eine der erfolgreichsten Bands, sondern auch eine der zerstrittensten. »Wir sind selten einer Meinung und kommunizieren meistens über Rechtsanwälte oder in dringenden Fällen per E-Mail, das reduziert das Konfliktpotenzial gewaltig«, sagt Mason lächelnd.

Die Mitte der sechziger Jahre in Cambridge gestartete Band zählt seit den Siebzigern zu den Größten der Branche. Pink Floyd haben mehr als zweihundert Millionen Alben verkauft, wurden mit jeder möglichen Auszeichnung der Musikbranche bedacht und beeinflussten Generationen von Musikern. Ihre finale Tournee absolvierten Pink Floyd 1994, den letzten regulären Auftritt hatten sie 2005 im Rahmen des Live-8-Spektakels, dennoch ist ihre außergewöhnliche Popularität auch in diesem Jahrtausend ungebrochen. Pink Floyd scheinen jenseits aller Moden, Trends, Hypes und Umsatzkrisen zu existieren. Ihr größter Bestseller ist das Album Dark Side Of The Moon, das 1974 erschien, sich bislang fast fünfzig Millionen mal verkaufte und noch immer auf Rang drei der bestverkauften Platten aller Zeiten (hinter Michael Jacksons Thriller und AC/DCs Back in Black) steht. Es wird geschätzt, dass Dark Side Of The Moon immer noch 30 000-mal pro Woche über die Ladentheke geht. Obendrein trieben Pink Floyd die Idee des Geldverdienens jenseits der Musik auf die Spitze. Ihr Onlineshop bietet eine irrwitzige Auswahl. Neben den üblichen T-Shirts, Kaffeebechern und Baseballkappen gibt es Hausschuhe, Flipflops, Feuerzeuge, Unterhosen, Briefmarken, Golfbälle oder Kühlschrankmagneten mit Pink-Floyd-Logo. Da scheint das Gerücht, dass Pink Floyd mehr Geld umsetzen als die Beatles oder die Rolling Stones, nicht so abwegig. Der Name Pink Floyd ist eine wertvolle Marke – sie steht für eine mit Bedeutung aufgeladene Musik, die immer wieder auch junge Generationen beeindruckt. Ein cleveres Konzept zu etablieren war wohl auch der Plan, als die Upper-Middle-Class-Architektur- und -Kunststudenten Roger Waters, Nick Mason, Rick Wright und Syd Barret die Band Mitte der Sechziger in Cambridge gründeten. Im Swinging London kamen Pink Floyd bald in der PsychedelicSzene zu Ruhm. Auffällig war von Beginn an ihr virtuoser Gebrauch von Lichteffekten und Filmprojektionen. »Man könnte sich ein Pink-Floyd-Konzert in der Zukunft vorstellen, bei dem die Band nur noch auf die Bühne kommt, um ihre Tonbandgeräte anzustellen, dann ihre Instrumente per Fernbedienung kontrolliert und hinter den Verstärkern verschwindet, um über Fußball zu plaudern oder Billard zu spielen«, lästerte der britische Starjournalist Nick Kent 1974 in einer Konzertbesprechung. Die vier Briten waren als Individuen so unauffällig, dass auf ihrer ersten USA-Tour ein Mitarbeiter ihrer Plattenfirma fragte, wer von ihnen denn nun Pink sei. Indem die Musiker auf kaum einer ihrer Plattenhüllen abgebildet sind, perfektionierten sie ihre mediale Unsichtbarkeit. Auch dank dieser Anonymität überstand die Band zwei gravierende Abgänge. Ihr charismatischer erster Chef und Songwriter Syd Barret wurde wegen ausufernden Drogenkonsums Anfang der siebziger Jahre durch seinen Freund David Gilmour ersetzt. Damals übernahm Roger Waters die Regie in der Band. Er verantwortete als Autor und Stratege die ganz großen Pink-Floyd-Erfolge und musste später verblüfft und verbittert zur Kenntnis nehmen, dass die Band auch nach seinem wütenden Abgang Mitte der Achtziger unbeschadet erfolgreich war. Waters wollte seinen Exkollegen damals die Nutzung des kostbaren Bandnamens verbieten und scheiterte. Er ließ Toilettenpapier mit David Gilmours Gesicht bedrucken und kommentierte die arenenfüllenden Auftritte seiner ehemaligen Band so: »Diese Songs kann wohl jeder Depp mit einer aufwendigen Lightshow, einem fliegenden Gummischwein und bombastischem Sound aufführen. Dem Publikum scheint das offensichtlich egal zu sein.« Wie recht er damit hat, beweist der erstaunliche Erfolg von Pink-Floyd-Coverbands wie Brit Floyd oder The Australian Pink Floyd Show, die in diesem Jahrtausend rund um die Welt größte Hallen füllen. Auch Roger Waters lockte erst wieder mit seinen Vorführungen von Pink Floyds The Wall ein nennenswertes Publikum in seine Konzerte. Die Frage, warum Pink Floyd immer noch so viele Menschen interessieren, ist für Nick Mason

schnell beantwortet: »Wer sich auf unsere Musik einlässt, kann sich ausmalen, was er möchte. Natürlich sind die Texte wichtig, und Roger hatte meistens eine klare Idee, was er damit kommunizieren will. Aber es sagt auch eine Menge, dass verschiedene Generationen sich immer wieder aufs Neue damit identifizieren können. Seit einer Ewigkeit erzählen mir Leute, dass sie nun genau verstanden hätten, worum es in dem einen oder anderen Song geht. Das Tolle daran ist, dass diese Deutungen sich nur selten gleichen. Es gibt da Romantik und Abstraktion, jeder findet in Rogers Texten, was er sucht.« Letztlich haben Pink Floyd mit ihren besten Werken einen Ton, eine Stimmung getroffen, die nachgewachsene Generationen immer wieder beeindruckt. Dark Side Of The Moon gehört zu haben ist für viele Teenager so selbstverständlich und aktuell, wie Salingers Fänger im Roggen zu lesen. Zudem haben gefeierte, vermeintlich innovative Bands der Moderne wie Radiohead oder Muse ihre besten Ideen bei Pink Floyd geborgt.

Dies ist der ideale Sound für die kleinen Fluchten aus dem Stumpfsinn Entscheidend ist auch, dass Pink Floyd einen eigenen Sound entwarfen, der sich noch längst nicht abgenutzt hat. Nach Anfängen mit psychedelischem Rock perfektionierten Pink Floyd in den Siebzigern mit ausufernden Songs einen einlullenden Wohlklang, der von sanften Synthesizermelodien und entrückten Gitarrenläufen getragen wurde. Diese Rockmusik war das ideale Vehikel für Eskapismus und Tagträume. Das begann 1969, als weltweit Fernsehbilder der Mondlandung mit Pink-FloydGeschnurre unterlegt wurden. Und die Anzahl der Drogentrips, zu denen Dark Side Of The Moon in den folgenden Jahrzehnten den Soundtrack lieferte, liegt wohl im kosmischen Bereich. Zu all dem passt, dass Pink Floyd immer als »Album-Band« galten, als »wahre Künstler«, denen einzelne Songs fürs Radio gleichgültig waren und die Wert darauf legten, dass ihre Musik auf Albumlänge beeindruckte. Das gilt für die beteiligten Bandmitglieder bis heute. Kein Wunder, dass sie sich lange sperrten, ihre Klassiker für den Onlinedienst iTunes freizugeben. Weil ihre Plattenfirma das erwartungsgemäß anders sah, wurde der Streit gerichtlich geklärt. Pink Floyd bekamen recht und gaben bald darauf doch ihre Werke für die Onlinenutzung frei, angeblich wurden sie überzeugt mit sehr viel Geld. Mason illustriert mit einem Schulterzucken, wie rätselhaft ihm das Phänomen iTunes ist: »Sich nur drei Songs von Dark Side Of The Moon runterzuladen, finde ich eine fürchterliche Vorstellung. So wird doch die Grundidee dieser Musik ausgehebelt. Unsere Alben funktionieren nur am Stück. Aber bitte ...!« Mit ähnlich entspannter Abgeklärtheit kommentiert Mason auch die Neuauflage der alten Pink-Floyd-Dauerbrenner. »Unsere Idee war das nicht. Die Plattenfirma schlug es vor, wir hatten nichts dagegen, wahrscheinlich auch deshalb, weil physische Tonträger bald gar keine Rolle mehr spielen werden und das die letzte Chance ist, Geld damit zu verdienen. Deshalb sitze ich nun hier und beantworte ein paar Fragen.« Was er liebt am speziellen Pink-Floyd-Ruhm, ist der Luxus der Anonymität. Denn wenn Nick Mason nachher an den Schaulustigen vorbeigehen wird, die stets vor den Abbey Road Studios lauern, zu seinem dezent um die Ecke geparkten Sportwagen, um wieder nach Hause aufs Land zu entschwinden, wird er »mit allergrößter Wahrscheinlichkeit« nicht erkannt werden. Das sei die »ideale Form von Ruhm«, sagt er. Nur manchmal ist Nick Mason enttäuscht über sein Leben im Schatten von Pink Floyd. Zum Beispiel vor jeder langen Reise: »Ich hoffe immer darauf, beim Einchecken am Flughafen erkannt zu werden, um ein Upgrade zu bekommen. Aber das passiert nie. Weder mein Name noch mein Gesicht fallen auf. Vielleicht sollte ich den Namen ›Pink Floyd‹ in meinen Pass eintragen lassen. Das wäre dezent, aber effektiv – so wie die Band.« Mason lacht kurz auf und stellt den Fernseher laut.

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FEUILLETON

DIE ZEIT No 41

Ein Albtraum namens Anting

E

Johannes Dell wurde 1956 geboren, studierte Architektur und Stadtplanung in Kaiserslautern und Darmstadt. In Jugendzeiten bekennender »Hardcore-Öko«, lebte er in einer Landkommune und organisierte eine Kooperative für biologisch angebaute Lebensmittel. Bezeichnet sich heute als »undogmatischen Veganer«. Begeisterte sich früh für Albert Speers Ideen eines ressourcensparenden, nachhaltigen Bauens. 1989 trat er in Speers Firma ein. Heute ist Dell Partner und Mitglied der Geschäftsleitung bei Albert Speer & Partner (AS&P). Seit 2003 ist er China-Repräsentant des Unternehmens, seit 2007 arbeitet er als Geschäftsführer der AS&P Architects Consulting Shanghai.

Albert Speer & Partner integrieren in ihren Planungen Architektur, Städtebau, Verkehr sowie Landschaftsarchitektur. Für das arabische Emirat Katar, das im vergangenen Jahr den Zuschlag für die Ausrichtung der Fußball WM 2022 erhielt, erstellte das Unternehmen die Bewerbung und entwarf die Stadien. AS&P plante 2000 die Expo in Hannover, 2008 legte es einen Masterplan für Kölns Innenstadt vor. Aktuell arbeitet AS&P an einem Stadterweiterungskonzept für die ägyptische Hauptstadt Kairo.

inmal im Jahr fliegt Johannes Dell nach Frankfurt am Main und bezieht für ein paar Tage sein altes Büro in der Zentrale des Stadtplanungsbüros Albert Speer & Partner. Alles ist geräumig, streng, strahlt Professionalität und unbedingten Stilwillen aus. Dell bringt sich auf den deutschen Stand der Dinge und geht mit Albert Speer zum Essen. Seit vielen Jahren ist er Partner in der Firma. Sein Büro in Shanghai hingegen liegt auf halber Höhe in einem alternden Geschäftshochhaus an einer Stadtautobahn und ist etwa so groß wie zwei zusammengelegte Badehandtücher. Mit seiner Assistentin kann er sich mühelos durch die Pappwand unterhalten. Das Shanghai-Büro ist nichts für Ästheten, es ist Werkstatt, Höhle, Gefechtsstand. Wieso sollte China es jemandem leicht machen? Die für Speer arbeitenden Architekten und Stadtplaner genießen ein hohes Renommee, in Deutschland oder im Nahen Osten, eigentlich überall. In China war der Ruf nicht immer so gut. Die Arbeit war auch nicht immer so erfolgreich. In China haben sie die harte Tour hinter sich. Albert Speer sagt: »Mir war früh klar, dass wir uns in China engagieren müssen. Wir waren auch sehr früh da, vielleicht zu früh.« Und Johannes Dell meint: »Wir hatten ja keine China-Erfahrungen, überhaupt keine.« Unter den staunenden Augen der Zunft bauten sie in Shanghai, wo eigentlich jedes brüchige Dach über dem Kopf gebraucht wird und einen Käufer findet, ein Stadtviertel. Es erwies sich als vollkommener Flop. Niemand wollte dort wohnen. Das Beste aus dem Land der Ideen, aber keiner interessierte sich dafür. Als Verantwortlicher muss man das erst einmal verkraften. Genau das ist die Geschichte des Johannes Dell. Er richtete die Suppe an, aber er löffelte sie auch wieder aus. »Anting New Town«, das hatte Glamour, das klang nach Aufbruch zu neuen Ufern. Sie würden helfen, das Wachstum der Stadt mitzugestalten, mit solider deutscher Architektur, ressourcenschonend und wärmegedämmt, lange bevor eine Bundeskanzlerin anfing, anderen Ländern das Energiesparen unter die Nase zu reiben. Sie gehörten zu den Ersten, die aus China einen solchen Auftrag erhielten: einen Stadtteil zu bauen, nicht groß für chinesische Verhältnisse, aber immerhin für 50 000 Menschen, mit solider Bauqualität und Technik, einem leicht germanisierten Bauhaus-Design, einem europäischen Stadtgrundriss und mit so viel Ökologie, dass die Chinesen nur so staunen sollten. 1999 hatten sie den Wettbewerb gewonnen, wenig später stand schon ihr Masterplan. Die deutsche Presse reagierte enthusiastisch: »Endlich: Wir bauen in China!« Albert Speer fragte damals in die Runde, wer nach Shanghai geht. »Alle haben dezent unter sich geguckt. Ich habe mich gemeldet, mich hat das irgendwie gereizt«, erzählt Dell. Seine Kenntnisse über das Land bestehen zu diesem Zeitpunkt aus den üblichen China-Klischees eines Deutschen – sowie der Erinnerung an ein Buch über chinesische Kunst und Kalligrafie aus der elterlichen Bibliothek. Das hatte er als Kind entdeckt, es war zwischen Hochgotik und Manet so ziemlich das Exotischste, was er je gesehen hatte. Er kapierte nichts. Folglich nahm er sich den Wälzer immer wieder vor. So fliegt er im Jahr 2000 ins Reich der Mitte. Damals treibt er viel Sport. Und zwar so, wie es seinem Selbstbild entspricht: bis zur physischen Grenzerfahrung, vor allem Langstreckenlauf und Gleitschirmfliegen. Am liebsten tritt er gegen sich selbst an. Er weiß, dass er etwas kann und dass die Welt auf seine Häuser wartet, denn sie sind robust und ökologisch. Er ist der deutsche Architekturmissionar, ein tollkühner Globalisierer ohnehin. Doch dann kommt Shanghai: »Es stinkt, es gibt irre viele Leute, das kannte ich nicht, ich kannte New York und London. Und dann dieses total fragmentierte, kakofonische Stadtbild, dieses Sammelsurium von allen möglichen Bauformen. Unserem asketischen Bauhaus-Bewusstsein läuft das zuwider, es ist

das Turbo-Gegen-Bauhaus, wo jeder lauter schreien will als der andere, ein orientierungsloser Stadtbrei, in dem du verloren bist, ein Grundrauschen bis zum Horizont.« Die Stadt macht ihn klein, die Hitze, der Lärm, das Gedränge und Geplapper. Nach ein paar Tagen legt sich der erste Schock, und Dell sammelt sich. Die brausende Metropole kitzelt sein Sendungsbewusstsein: Klar wird das hart hier, das wird kein Gleitschirmflug mit sanftem Aufwind. Er rüstet sich für die kommenden Verhandlungen, aber er weiß noch nicht, was ihm blüht. Auf chinesischer Seite läuft sich nämlich auch jemand warm. Es ist ein durchtriebener Enddreißiger

sondern nur ein kleiner, dicker Junge aus guter PolitFamilie, der sich an Anting New Town bewähren muss – und seine erste Chance erhält, richtig abzukassieren. Vom Bauen hat Fei keine Ahnung, noch weniger vom Immobilien-Management. Er will mit fünf Leuten zwei Millionen Quadratmeter bebaute Geschossfläche in die Höhe stemmen, ohne funktionierende Projektsteuerung, ohne kompetente Bauleitung. »Da stimmt was nicht, dachte ich, der weiß nicht, wovon er redet. Das ist nicht kriminelle Energie, das ist Unkenntnis. Da war es zu spät.« Das Anting-Projekt entwickelt sich nach einem Jahr zum Albtraum eines jeden Geschäftsmannes

ihn nicht. Es riecht, und es ist warm. Du denkst: Gehöre ich hierher? Und die Antwort: Ich weiß es nicht.« Er redet sich ein, Preuße zu sein und hier seine Pflicht erfüllen zu müssen, er hat Angst vorm Gesichtsverlust, genau wie die Chinesen, er will auch den Kollegen in Frankfurt nicht erzählen, dass die Sache schiefzulaufen beginnt. »Dann rappelt man sich auf und sagt: Probieren wir’s mal weiter. Man geht zum Frühstück und zieht sich Dim Sums rein. Dann bricht einem der Schweiß aus; der Körper ist noch in der Tiefschlafphase. Im Taxi schläft man erst mal ein. Bis einen der Fahrer wach rüttelt, weil er keine Ahnung hat, wo man hinwill. Die

Großzügig, aber menschenleer: Anting könnte auch eine Neubausiedlung irgendwo in Ostdeutschland sein.

aus Sichuan. Er wird Dell als »Professor Fei« vorgestellt. Fei behauptet, er lehre Ökonomie an einer amerikanischen Universität, aber er spricht kein Wort Englisch. Auf den ersten Blick ist Fei ein freundlicher Zeitgenosse, kein Kader oder Kommisskopp: »Am Anfang lief das prima. Manchmal gingen die Verhandlungsführer mit zwei Dolmetschern einen trinken, wenn etwas nicht weiterging.« Doch irgendwann ist Schluss mit Freundschaft. Fei besteht auf Nachplanungen auf Dells Kosten, er hält sich nicht an Abmachungen, er spielt auf Zeit, hält Informationen zurück und nutzt politische Verbindungen zu seinem Vorteil. Dell ahnt, dass Fei kein Profi ist,

im Ausland: Noch das Kleinste wird kompliziert, keine Absprache gilt. Das Schlimmste: Man kennt nicht einmal die Regeln, nach denen hier gespielt wird. Dell wohnt im Jianjiang-Hotel im alten französischen Viertel der Stadt, einem riesigen Backsteinbau im Kolonialstil, voller vergangener Würde, alteuropäisches Selbstbewusstsein ausstrahlend. Es ist seine Rückzugsburg. Am schlimmsten ist es am Morgen, wenn er aus Frankfurt pendelnd noch den Jetlag in den Knochen fühlt und sich für den nächsten Verhandlungsmarathon aufrappeln muss: »Über dir schwebt so eine verspielte Stuckdecke. Draußen, weißt du, tobt der Verkehr, aber du hörst

Visitenkarte nützt auch nichts, man muss jemanden anrufen, der den Weg kennt.« Die Einsamkeit: Dell ist der einzige Entscheider vor Ort, in einem Projekt, bei dem zwei Milliarden Euro auf dem Spiel stehen. Keiner ist da, mit dem man offen reden kann. Abends rennt er durch die Straßen, auf der Suche nach der nächsten rettenden Idee. Selbst wenn er sie findet: Fei wird dafür sorgen, dass nichts daraus wird, Fei wird mauern und verzögern. Dell weiß auch, dass manche Kollegen in Frankfurt nur auf einen Baustopp warten, um das ganze China-Engagement einzustampfen. Er sieht schon den Prozess vor einem chinesischen Ge-

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Große Geschäfte in einem fremden Kulturkreis: Wie der deutsche Architekt Johannes Dell damit scheiterte, in Shanghai die Germantown hochzuziehen – und doch nicht aufgab VON THOMAS E. SCHMIDT richt auf sie zurasen. Und was das heißen kann. Er telefoniert in dieser Zeit viel mit seiner Frau, die als Business-Coach arbeitet. Sie rät ihm, sich von dem Projekt innerlich zu distanzieren, zwischen sich als Person und seiner Position zu unterscheiden. Aber wie das so ist, wenn Männer sich in einer solchen Lage distanzieren sollen, das klappt nur, wenn sie abends sehr viel Alkohol in sich hineinrinnen lassen. »Es gibt Tage, da denkt man nur, das ist alles Scheiße: aufhören.« Anting ist gut gedacht, ein attraktiver Satellit, eine Stunde vom Stadtzentrum entfernt, Vorzeigeprojekt für den Ausbau des gesamten Jiading-Dis-

das alles wieder vergessen. Manchmal will Professor Fei etwas wiedergutmachen. Dann schenkt er Dell eine Flasche Maotai-Schnaps für umgerechnet 700 Euro – »von unseren Honoraren bezahlt, versteht sich«. Dell redet mit Engelszungen, er argumentiert scharf wie ein Gelehrter, überredet sanft wie ein Buddha. Irgendwann brüllt er nur noch. »Dann bricht es halt raus, dann ist einfach Testosteronkrieg.« Das geht aber nicht in China. Wer rumschreit, verliert seinen Anspruch auf Respekt. Es kommt noch schlimmer. Anting war ein Projekt des mächtigen Vizebürgermeisters Gong Xueping. Es war die Zeit, als man in China von Europa

der Gegend des Dorfes Anting liegt ein großes VWWerk. Man baute eine Formel-1-Piste sowie ein Automobilmuseum. Doch dann verschwindet der Vizebürgermeister von einem Tag zum anderen von der Bildfläche, offiziell wegen Korruption. Mit diesem Tag verliert das Vorhaben den politischen Rückhalt. Es ist nur noch eine Nussschale im Haifischbecken der Shanghaier Stadtpolitik. Im Frühjahr 2004 kommt das Ende. Dell droht, vor Gericht zu ziehen und alle Vorgänge offenzulegen. Die Anwälte einigen sich ohne Verfahren, und Albert Speer & Partner sind raus. Dell fliegt nach Hause zurück und lässt die Chinesen allein weiter-

Am Rand von Shanghai stehen Goethe und Schiller als Kopie des berühmten Denkmals aus Weimar. Leider kennt sie keiner

trikts mit einer Million Einwohnern. Germantown soll zentral von einem Blockheizkraftwerk geheizt werden, die Häuser würden mit guten Materialien isoliert sein. Doch bald geht es schon nicht mehr um Energiekreisläufe oder Wärmedämmung, sondern nur noch um Grundqualität. Dell sagt: »Wenn man in China etwas plant, das außerhalb der Norm ist, muss man das überwachen, sonst erlebt man das Übliche: einstürzende Neubauten.« Was Dell zur Weißglut treibt, ist Feis Doppelgesicht. Es gibt Tage, da kommen sie einander nahe, dann erzählen sie von ihren Familien oder vom Leben in Deutschland und in China. Schon am nächsten Morgen ist

noch ganz begeistert war. Die Idee nannte sich »One City Nine Towns« und war ein erster Versuch, Shanghais Bevölkerungswachstum in den Griff zu bekommen. Dazu mussten die Außenbezirke entwickelt werden. Aber weil auch die Shanghaier lieber zentral wohnen, mussten Zugpferde her, etwas Schickes, ganz Edles, belebte Reklametafeln. Aus kleinen urbanen Kernen wie Anting New Town sollte der gesamte Bezirk erblühen. Shanghai erhielt ein britisches Städtchen, das aussieht wie Stratford-upon-Avon, ein italienisches und ein holländisches mit Grachten und Brücken. Und wo Autos waren, sollte Germantown hin. In

bauen. Die planen die Wohnblocks billig um, halten sich im Erscheinungsbild aber an die deutschen Pläne. Dell schwant Böses. Wenn er hinfliegt, sieht er leere Häuser, rissige, ausbleichende Fassaden, dreckige Fenster. In Anting steht deutsche Architektur, nein, eine Karikatur der ursprünglichen Idee. Auf den ersten Blick könnte Anting eine Neubausiedlung irgendwo im renovierten Ostdeutschland sein. In der Mitte stehen ein Goethelein und ein Schillerchen aus Bronze, es ist eine kleine Kopie des berühmten Klassikerdenkmals in Weimar. In Anting erkennt sie keiner. Es war bis vor Kurzem nicht einmal jemand da, der sie fra-

gend ansah. Niemand war da, es war ganz leer. Es war einer der seltsamsten Orte inmitten der unüberschaubaren Stadtmasse von Shanghai. »Irgendwann stieß ich auf einen Chat im Internet«, erzählt Dell, »in dem sich die wenigen Bewohner über die Missstände beklagten: ›Wie kann es sein, dass ich für teures Geld eine deutsche Wohnung kaufe, und mir fällt nach fünfmal Auf- und Zumachen das Fenster entgegen?!‹ Das lasteten die natürlich den Architekten an.« Er merkt, es ist nicht gut, wenn sich das herumspricht, aber es spricht sich herum. Shanghai debattiert über Anting, auf Diskussionsveranstaltungen ist von »Fehlplanung« die Rede und von einem schlechten Masterplan. Das Unangenehme ist nur: Ganz unrecht haben die chinesischen Architekturkritiker nicht. Dass Anting floppte, hat nicht nur mit der beklagenswerten Bauqualität zu tun, es liegt auch nicht nur daran, dass die Chinesen keinen S-Bahn-Anschluss bauten, dass es keine Geschäfte, keinen Kindergarten, keine Schule gibt, obwohl sie geplant waren. Die Deutschen errichteten, ihrem Raumverständnis entsprechend, eine europäische Stadt, in der alle Quartiere gleichberechtigt sind. Aber jeder Chinese will einen Südblick, niemand kauft in China eine östlich oder westlich ausgerichtete Wohnung. »Die Nord-Süd-Richtung ist die bedeutungsvolle, die mit Status belegte«, erklärt Dell, »das hat traditionelle, klimatische, aber auch abergläubische Gründe. Anfangs hoffte ich noch: Shanghai hat 20 Millionen Einwohner, da werden sich doch wohl ein paar finden, die von ihrem Aberglauben absehen können. Das war aber nicht so. Die gibt’s nicht. Und auch die Vernünftigen haben diese Wohnungen nicht gekauft. Und zwar deswegen, weil die in ihrer Community als billig angesehen wurden.« Die eigenen Fehler begreift Dell erst nach einiger Zeit. Er war nach Frankfurt zurückgekehrt, ohne Aussicht oder Neigung, in China weiterzuarbeiten. Es waren kulturelle Fehler, das sieht er, und die schmerzen besonders. In Sitzungen war er den Hierarchen von der Stadtverwaltung scharf ins Wort gefallen, im Glauben, wer das beste Argument hat, habe auch Einfluss auf die Entscheidung. Man spricht aber in solchen Situationen erst, wenn man gefragt wird, schon gar als Europäer. Am fürchterlichsten war es, wenn er auf seine Weise jemanden zum Lachen brachte. Mehr als einmal diskutierte er den chinesischen Projektmanager so in die Ecke, dass der auflachte. Dann freute sich Dell und nahm es als Zustimmung. In Wirklichkeit fühlte sich der Mann ganz schlecht, weil ihm kein Verhaltensmuster mehr zur Verfügung stand, den Dellschen Drang höflich zu parieren. »Das war schon ziemlich starker Tobak. Ich war der Master of Gesichtsverlust. Am Ende war Anting ein Symbol europäischer Vernünftigkeit. Und deren Mittel wandte ich auch zur Durchsetzung unserer Ideen an. Bis es krachte.« Wenn er dann im Kempinski von Abu Dhabi einen Gin trinkt – Dell macht wieder weniger komplizierte Geschäfte im Nahen Osten –, fragt er sich, wie es kam, dass er als einer von diesen frustrierten deutschen Geschäftsmännern endete, die im Mittelreich baden gingen und nun den Rest ihres Lebens über die Unfähigkeit und Falschheit der Chinesen zetern. Und ob dies das letzte Wort in der Sache ist. Es gärt in ihm. Er begreift, dass er zwei Geschichten mit China hat. Eine turbulente äußere, die in einem Misserfolg, Dell meint: »in einem kulturellen Desaster«, endete. Und eine innere, feine und unmerkliche, die seine Person mehr verändert hatte, als er sich eingestehen wollte. Er war gegen sich angetreten und auf die Nase gefallen. Doch langfristig, das spürt er, war die Partie zu gewinnen. Nur dass »gewinnen« nicht heißt, die Chinesen zu besiegen. »Es war ein langer Reflexionsprozess, aber er endete mit der Einsicht, dass man etwas verstanden hat, dass es Wege gibt, sich richtig zu verhalten.« Was Dell damals genau verstand: Es ging nicht um Erfolg oder um Gepflogenheiten im internationalen Geschäftsleben. Was

ihm widerfuhr, war eine Erfahrung von Integration. Er war auf die Schwierigkeiten gestoßen, sich in einen »fremden Kulturkreis« einzufädeln, und zwar unter Realbedingungen, wenn man bleiben und seine Aufgabe erfüllen will. Maulend nach Hause zu fliegen ist einfach, er aber wollte in Wahrheit bleiben. Im Vorfeld der Olympischen Spiele von 2008 nimmt Albert Speer dann an einem stadtarchitektonischen Ideenwettbewerb in Peking teil. Dell ist dabei. Es geht um die Freilegung der zentralen NordSüd-Achse durch die Hauptstadt, die Weltlinie. Sie verläuft durch die Verbotene Stadt, wurde aber im Laufe der Jahrhunderte verbaut. Wie kann Peking seine alte Stadtstruktur wieder sichtbar machen? Es ist eine anspruchsvolle, tief in die Geschichte und Kultur Chinas eintauchende Arbeit. Das Land packt ihn wieder. Und dann kommt der Zufall zu Hilfe. In Shanghai sind sie verbrannt, aber im Norden, in Changchun, einer Metropole in der Mandschurei, gewinnen sie überraschend einen Wettbewerb, wieder für einen Stadtteil. Sie sind wieder im Geschäft. »Ich traute mir das jetzt zu«, meint Dell. »Auch die Chinesen sind inzwischen professioneller geworden. Bei Anting war keiner sicher, nach welchen Regeln gespielt wurde. Heute ist klar: Es sind die chinesischen Regeln. In zehn Jahren hat sich unglaublich viel verändert.« Jetzt kann er loslegen und fünf Jahre China-Erfahrung mobilisieren. In Shanghai ist er jetzt ein anderer. Er spürt das, und es fühlt sich gut an. Inzwischen freut er sich darüber, wenn ihm abends keiner der Straßenhändler mehr eine falsche Rolex andrehen will, sondern wenn sie flüstern: »Der nicht, der wohnt hier!« Den chinesischen Kollegen gibt er mittlerweile Nachhilfe, wie man sich in Geschäftsverhandlungen am geschicktesten verhält. Dass er die Firma durch die Finanzkrise gebracht hat, macht ihn stolz. Er gilt als Experte für nachhaltiges Bauen in China, hält Vorträge und wird interviewt. Über Anting hat er mittlerweile auf unzähligen Podien gesprochen, dabei eigene Fehler eingestanden, was ihm unter chinesischen Architekturexperten Respekt eintrug. Auch in Shanghai tut sich wieder etwas: Albert Speer & Partner wird einen nördlichen Abschnitt des Bundes, also der Promenade am Fluss Huangpo, neu gestalten. Und sogar in Anting geht es plötzlich weiter. Jahrelang rottete Germantown vor sich hin, keine Werbespots mehr im Fernsehen, keine Anzeigen in den Zeitungen. Wie oft das Management der Anting-Immobiliengesellschaft ausgewechselt wurde, weiß auch er nicht mehr, fünf-, sechs-, vielleicht siebenmal. Das aktuelle findet Dell gut, die Chinesen meinen es jetzt ernst mit der Rettung Antings. Er wird helfen, wenn der zweite Bauabschnitt in den nächsten Monaten verwirklicht wird. Pünktlich zur Expo wurde auch der S-Bahn-Anschluss fertiggestellt, und bei seinem letzten Besuch draußen in Anting entdeckte Dell sogar ein Café, in dem Gäste saßen und rauchten. Fei? Er soll in der Provinz verschwunden sein und kleine Brötchen backen. Was das Bauen betrifft, macht Dell von seinen Standards keinerlei Abstriche. Er sagt, die Chinesen müssen selbst lernen, Energie einzusparen, sie müssen die Bauqualität generell heben, ja erst einmal ihre eigenen Vorschriften einhalten. Ehrgeizige Pilotprojekte von Ausländern bringen nichts mehr. China muss sein bauliches Gesamtgefüge verbessern. Die Realität ist der Maßstab. Genau wie für ihn, denn China ist jetzt seine Wirklichkeit, mit Haut und Haaren, allen Gerüchen und Missverständnissen. Dells Chinesisch reicht für den Alltag, aber sein Ehrgeiz zu verstehen reicht weiter. Er lernt jetzt die Schriftzeichen. Kürzlich sandte er seiner Putzfrau eine SMS: Sie möchte ihm bitte Hustensaft mitbringen. Das richtige Zeichen hatte er ausgewählt, denn abends stand der Hustensaft auf dem Tisch, ein kleiner Triumph. Leider war es dann doch nicht das Präparat, von dem die Putzfrau wusste, dass er es immer nimmt. Dell lacht: »Die Chinesen sind anders. Aber auf welche Weise, daran forsche ich noch.«

Fotos (Ausschnitte): Daniele Mattioli/Anzenberger

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Fotos: ZDF (u.); Koch Media Home Entertainment (3)

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FEUILLETON

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Großes Gemetzel

John Chandor hat den bisher besten Film über die Bankenkrise gedreht: »Margin Call – der große Crash« VON SABINE HORST

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allem ab, was Gier als geil erscheinen lassen könnte. Die Anzüge der Männer wirken uniform, die Räume sind kalt und funktional; auf den unteren Ebenen sieht es ein bisschen schmuddelig aus. Und die Zahlen strömen hier nicht mehr munter übers Display, sie sind zu rätselhaften Standbildern erstarrt, ein bisschen wie die dreisprachige Inschrift auf dem Rosettastein, mit dessen Hilfe die Hieroglyphen entziffert wurden: der Computer als Denkmal einer toten Kultur. Tatsächlich interessiert sich Margin Call weniger für die Bewegung des Geldes als für die Usancen des Metiers, die Verkehrsformen der Menschen. Dabei macht der Film es sich durchaus nicht so leicht, wie er es hätte haben können. Angehörige der Berufsgruppe, die er porträtiert, sind populäre Ziele geworden, nicht nur der Linken, und um die Börse in Wall Street, das Symbol der Abzocke, werden aktuell regelrechte Straßenkämpfe ausgetragen. Der Film zeigt, dass an den Leuten, die ganze Volkswirtschaften in den Finanzschlamassel gerissen haben, nichts Dämonisches ist. Mit Ausnahme von Irons, der ein, zwei Monologe von shakespearescher Boshaftigkeit über die Rampe spricht, wirken die Charaktere eher zurückgenommen, und Chandor, der auch das Drehbuch geschrieben hat, zeichnet sie als einen zusammengewürfelten Haufen: Da gibt es Ex-Wissenschaftler und -Ingenieure, Angehörige unterschiedlicher Nationalitäten, Kulturen und Religionen; manche von ihnen sind Karrieristen, andere haben selbst Hypotheken abzutragen, man fürchtet um Abfindungen und Sozialversicherung. Was diese Menschen zusammenschmiedet, ist das System. Und da macht die Kriegsmetapher erst recht Sinn. Der Büroturm ist eine Kaserne, die Firma eine Maschine, die auf eines hinarbeitet: die Konzentration von Reichtum. Am Ende schickt Kevin Spacey als der gute Sergeant, der wenigstens den Anstand hatte, über seiner Tätigkeit ein Magenleiden zu entwickeln, die ganze Truppe mit einer pathetischen Ansprache in den Sommerschlussverkauf. Das hört sich an, als wäre es das Alamo des Kapitalismus. Aber es wird, das wissen wir längst, nicht das letzte Gemetzel gewesen sein.

ine »amerikanische« Einstellung war mal eine, die den Mann vom Hut bis ungefähr zu den Knien zeigte: Damit man sehen konnte, wie er den Colt zog. Heute müsste »amerikanisch« eigentlich eine Halbnahe heißen, in der man den Mann bis zur Kante seines Schreibtisches sieht. Hier finden sich die Waffen der Moderne: Telefon, Computer und Flaschen mit rosafarbenem Pepto-Bismol gegen die Nachwirkungen opulenter Geschäftsessen. Die meisten Schreibtische der Welt stehen wahrscheinlich in Manhattan; in den Großraumbüros der Hochhaustürme formieren sie sich zu Schützengräben und Frontlinien. Niemand wird da auf offener Szene erschossen. Aber es werden aus der Hüfte heraus Existenzen vernichtet. Davon erzählt J. C. Chandors erster, unabhängig finanzierter Spielfilm Der große Crash – Margin Call, indem er sich nicht nur eine klassische Formel der Bildgestaltung anverwandelt, sondern das ganze Repertoire des Hollywood-Männerkinos: den konzentrierten Stil, die Dramaturgie, die Metaphorik des Westerns und Kriegsfilms. An einem Sommertag im Jahre 2008 marschiert in einer renommierten New Yorker Investmentbank das »Killerkommando« ein: Entlassungen stehen bevor. Der Cheftrader (Paul Bettany), eins dieser Frontschweine, die alles gesehen haben, kennt die Routine und rät den unerfahreneren Kollegen, in Deckung zu gehen. Hinterher, wenn die Gefeuerten ihre Kakteen in die bereitgestellten Umzugskartons gepackt haben, wird er von einem Blutbad sprechen. Wirklich spannend wird es aber erst, nachdem ein leitender Angestellter der Abteilung Risk Management auf dem Weg in seine »neue Lebensphase« einem jungen Quereinsteiger (Zachary Quinto) einen Stick mit einer inoffiziellen Rechnung zugespielt hat. Das Mathe-Genie belegt, dass die Bank auf einem Haufen wertloser Papiere sitzt und dramatisch unterkapitalisiert ist – der Margin Call, der Moment, in dem sie über die Deckung ihrer Handelspositionen Rechenschaft ablegen müsste, würde ihr das Genick brechen. Die Nachricht wird in einer Serie von Krisensitzungen weitergereicht. Der Firmenchef (Jere-

my Irons) weiß zwar nicht, wie so eine Risikorechnung im Detail funktioniert. Aber er hat das große Ganze im Blick und bläst zum Ausfall: Die toxischen Finanzprodukte müssen in wenigen Stunden am nächsten Morgen abverkauft sein – selbst wenn »der Markt« kollabiert. Das hat er, man kann in der Bank unschwer die Firma Lehman Brothers erkennen, deren Zusammenbruch den Höhepunkt der Krise von 2008 markierte, ja auch getan. Was wir im Kino von der Ökonomie sehen, ist meist nur die Spitze des Eisbergs. Auf der Leinwand wird, über die Genregrenzen hinweg, andauernd Geld geliehen, gestohlen, geraubt, es wird gelogen, betrogen und gemordet um des Geldes willen. Und manchmal fließt es in Form neonfarbener Zahlenkolonnen über die Leinwand – dann haben wir es mit einem Finanzthriller im engeren Sinne zu tun. Den klassischen Finanzthriller hat Oliver Stone 1987 gedreht. Wall Street war eine adrenalingeladene Geschichte aus einer Zeit, in der Geldverdienen noch glamourös war und HighEnd-Konsum sexy – selbst Teile der neuen Linken hatten sich damals zu der Vorstellung bekehrt, dass es ein legitimes Bedürfnis nach Versace gibt. Stone feierte diese Kultur der Oberfläche; das charismatische Zentrum seines Films war Michael Douglas als greller Finanzhai Gordon Gekko. Irgendwann in den Neunzigern, die Reagan-Party war vorbei, wurden solche Figuren allerdings peinlich. Die wirklich Reichen fingen an, Pullover zu tragen, die so schlicht waren, dass man ihnen nicht mehr ansah, was sie gekostet hatten. Und sie begannen sich einzubunkern, in einem Land, das der amerikanische Journalist Robert Frank, lange Jahre Reporter fürs Wall Street Journal, als »Richistan« beschrieben hat. Mehr als zwanzig Jahre nach Wall Street ist vom Glam nichts mehr übrig. Der erste Film, der von der Finanzkrise 2008 erzählte, Sam Raimis From Hell, nahm die Opfer in den Blick, die kleinen Leute mit ihren geplatzten Hypotheken – das konnte nur eine Horrorvision sein. Margin Call führt wieder hinauf ins Management, in das New York, in dem jeder Schlipsträger sich als »Master of the Universe« fühlt. Aber Chandor, Sohn eines Investmentbankers und offenbar vertraut mit dem Business, setzt sich entschieden von

Demi Moore (oben), Kevin Spacey (li. unten), Simon Baker (re. unten)

A www.zeit.de/audio

Ein Orgasmus ist ein Normalzustand Gut gespielt, bieder inszeniert: Ein Fernsehfilm über die Lebensgeschichte der deutschen Sex-Unternehmerin Beate Uhse

D

ie sechziger Jahre. Beate Uhse, gespielt von Franka Potente, genießt einen schönen Sommertag an einem See. Ihr Begleiter ist ein ziemlich lässig aussehender Farbiger. Uhse ist in diesen Tagen viel in der Presse, denn sie muss sich mal wieder in einem Prozess gegen den Vorwurf verteidigen, ihr Versandhandel fördere Unzucht. Nun schlendern die beiden in ein Wirtshaus. Sofort beginnt Gewisper bei den anderen Gästen: Das also ist Beate Uhse, fauchen die Spießbürger hinter vorgehaltener Hand, und sie schämt sich nicht mal, mit ihrem farbigen Lover in der Öffentlichkeit aufzutreten. Später, am Nachmittag, kommen beide in Beate Uhses Wohnung an. Ihr neuer Galan entdeckt eine gerahmte Fotografie, die Uhse als Pilotin zeigt. Und während man – der Film läuft jetzt etwa fünf Minuten – noch denkt: bitte, jetzt keine Rückblende!, entfärbt sich der Bildschirm, kurze Blende, und schon sieht man in flackerndem Schwarz-Weiß Beate Uhse in einer Propellermaschine, während Potentes Stimme aus dem Off erzählt, wie sie in den letzten Kriegstagen ihren Sohn aus dem von den Russen belagerten Berlin herausgeflogen hat nach Schleswig-Holstein. Manchmal hat man das Gefühl, der deutsche Film sei die Ausgeburt eines zwangsneurotischen

VON IJOMA MANGOLD

Gemeinschaftskundelehrers mit Zweitfach Ge- die Sexualität zu reden, und dem Mut, darüschichte, der die Geschichte der Bundesrepublik ber heute einen Film zu machen, liegen, um mit den immergleichen Spielkarten erzählt: die es zurückhaltend zu sagen, Welten. Und desVerbrechen des Dritten Reichs, Deutschland in wegen ist das Pathos, mit dem sich der Film Schutt und Asche, beherzte Trümmerfrauen, auf die Seite seiner Heldin schlägt, so läpWirtschaftsaufschwung (da rollt der millionste pisch. »Ein Orgasmus ist ein Normalzustand«, Käfer vom Band, während im Hintergrund der erklärt Beate Uhse kämpferisch im GerichtsSchlager Konjunktur-Cha-Cha läuft), verklemmte saal. »Lassen Sie sich nicht vorschreiben, was Sexualmoral, schließlich SchlaghoSie in Ihren Schlafzimmern zu sen und Rock ’n’ Roll, die Rebellitun und zu lassen haben. Hier on der Jugend gegen den Mief der steht heute der Orgasmus vor Adenauerzeit. Gericht.« Und indem der Film Die Zeitsprung Entertainment, sich auf die Seite der Sieger die für das ZDF den Spielfilm über der Geschichte stellt, tritt er Beate Uhse produzierte, hat sehr gern noch mal genüsslich nach genau darauf geachtet, dieses Spieljenen, die als Beate Uhses Wikartenset auch nicht um eine Karte dersacher längst am Boden liezu erweitern. Auch in Beate Uhse – Libertäre Vorkämpferin: gen. Zum Beispiel der schleiDas Recht auf Liebe (9. Oktober, Franka Potente in der mige, heuchlerische Staatsan20.15 Uhr) die Vergangenheit im- Rolle der Beate Uhse walt (gespielt von Sylvester mer nur etwas, das überwunden Groth). Seine Frau, die im Gewerden muss, um in der Moral der heimen Beate Uhses AufkläGegenwart anzukommen. Das ist aber eine blöde rungsschriften liest und die Lügen satt hat, Voraussetzung, wenn man eine Geschichte von ruft im Schlafzimmer aus: »Verdammt noch Mut und Eigensinn erzählen will. Anders gesagt: mal, ich will einen Orgasmus!« Ihr Mann Zwischen dem Mut, den es in den fünfziger Jahren kocht vor Wut: »Damit habe ich nicht geBeate Uhse gekostet haben mag, über die Lust und rechnet. Diese Frau (er meint Beate Uhse)

macht die besten Ehen kaputt.« Die patriarchalen Klemmis, die sich dem Geist der Aufklärung entgegenstellen, bekommen ein Gesicht, mit dem sich ganz sicher kein Zuschauer identifizieren möchte. So ist Beate Uhse (Regie: Hansjörg Thurn) ein etwas biederer Film, weil er keine Ambivalenzen kennt. Schade, denn er lebt auf sympathische Weise vom Engagement seiner Schauspieler: Henry Hübchen als Anwalt der Uhse und typischem Vertreter der skeptischen Generation und Hans-Werner Meyer als Uhses Ehemann, dem die Kämpfe, in die seine Frau verwickelt ist, über den Kopf wachsen. Vor allem Franka Potente hat sich die Figur der Beate Uhse auf leise, aber eindringliche Weise zu Eigen gemacht: Sie bringt Neugier und Nachdenklichkeit, Überzeugung und Selbstzweifel, Furchtlosigkeit und Mütterlichkeit einfühlsam zusammen. Vor allem hält sie die Rolle frei von jeder Anzüglichkeit, ohne sie deshalb zu einem erotischen Neutrum zu machen. Das alles hätte in einem etwas komplexeren Setting eine große Charakterstudie werden können. Die Geschichte der Beate Uhse ist eine der großen Erfolgsgeschichten der Bundes-

republik. Warum war es ausgerechnet eine deutsche Firma, die auf diesem Feld auch international reüssierte? Darauf dürfte es keine einfache Antwort geben. Aber es lohnt sich, die Frage zu stellen. Woher hatte Beate Uhse die Vorurteilsfreiheit, Sexualität von allen moralisch-normativen Codierungen losgelöst zu sehen? Die Adenauerzeit mag prüde gewesen sein. Das Dritte Reich war es ganz gewiss nicht. Vielleicht verkörperte Beate Uhse eine Form sexualmoralischer Lässigkeit, wie sie vor 1945 bereits geherrscht hatte. Zwischen Ehehygiene und Eugenik mag es mehr Parallelen geben, als einem lieb ist. Die Muffigkeit der fünfziger Jahre wäre dann vielleicht gar der Versuch, den Geist der erotischen Freizügigkeit, weil er NS-belastet war, wieder zurück in die Flasche zu bringen. Die Geschichte des moralischen Fortschritts schillert jedenfalls in vielen Farben.

Sehenswert Melancholia von Lars von Trier Whores’ Glory von Michael Glawogger Über uns das All von Jan Schomburg Hell von Tim Fehlbaum

KUNSTMARKT

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Die Bilder spielen Pingpong mit uns TÄGLICH GEÖFFNET, AUSSER MONTAGS



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Henri Rousseau »Le Charme« (1909)

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VON JÖRG SCHELLER

usgerechnet in einem schwäbischen Barockschlösschen eine Ausstellung mit Naiver Kunst, mit Art brut und Outsider-Art zeigen zu wollen mag auf den ersten Blick ein bisschen spleenig wirken. Doch waren nicht auch adelige Schlösslebauer auf ihre Weise Outsider, nur eben von der anderen Seite? Verkörpern nicht beide, der Prinz im Brokatgewand und der verschrobene Hinterglasmaler aus der Provinz, auf unterschiedliche Art das jeweils »Andere« der Gesellschaft? Schließlich gehören beide nicht der Masse an und bevölkern Inseln im Meer der Normalität. Zugleich dienen sie als soziale Orientierungspunkte – im positiven wie im negativen Sinne. Kurzum, das 1756 erbaute Stadionsche Schloss in Bönnigheim bietet sich durchaus an für die Kunstsammlung der ehemaligen Münchner Galeristin Charlotte Zander. Hinzu kommt, dass der Bau einst als Taubstummenanstalt diente, also eine Outsider-Vergangenheit in mehrfacher Hinsicht vorzuweisen hat. Seit 1996 gastiert Zanders Sammlung in Bönnigheim. Sie umfasst etwa 4000 Werke von rund 440 nicht akademischen, autodidaktischen Künstlern aus allen Teilen der Welt, zusammengetragen im Laufe eines halben Jahrhunderts. Neben Werken in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannter Künstler wie Sava Sekulić (1902 bis 1989) finden sich in Zanders Sammlung auch Gemälde des längst modischen Zöllners Henri Rousseau (1844 bis 1910). Seine traumartigen Szenarien wertete nicht zuletzt Picasso als Signale zu Feldzügen gegen den Akademismus. Überhaupt waren es neben Dubuffet vor allem Vertreter der Klassischen Moderne und der Avantgarden, die das »Naive« als das Authentische vereinnahmten. Denjenigen Werken, die außerhalb des Kunstsystems entstanden, attestierten sie große Unmittelbarkeit. Auch Charlotte Zander rühmt die Wahrhaftigkeit: »Immer wieder faszinierten mich die Arbeiten dieser Künstler, die mit so viel Ehrlichkeit die Welt schilderten, in der sie lebten oder die sie sich erträumten.«

Im Bönnigheimer Museum scheint die Hängung eines kleines Gemäldes diese mutmaßlich ehrliche, authentische Verbindung symbolisieren zu wollen. Louis Vivins (1861 bis 1936) Partie de boule ist gleich neben einem Fenster zum Hinterhof des Schlosses platziert. In diesem Hof treffen sich bei gutem Wetter Boulespieler, sodass sich eine eigenartige Verdoppelung ergibt: vor dem Fenster die Bönnigheimer Boulespieler, deren Kugeln mit mattem Klacken in den Schotter schlagen, hinter dem Fenster die stark stilisierten Boulespieler Vivins, die sich in ihren steifen Anzügen vor einer Windmühle vergnügen. Beim weiteren Gang durch das Museum mit seinem knarrenden Fischgrätparkett wird der Besucher jedoch schnell ins Grübeln geraten. Was ist »inside«, was »outside«? Wo beginnt das »Naive«, und wo endet es? Bedeutet Naivität tatsächlich eine unmittelbare, gleichsam kindliche Wiedergabe der Wahrnehmung oder im Gegenteil eine radikale Abstraktion derselben? Ist das eine vielleicht gar nicht so verschieden vom anderen? Dass die »Naiven« oder die »Outsider« jenseits aller Konventionen und Kanons stünden, lässt sich in Bönnigheim jedenfalls nicht so leicht bestätigen. Rein formal betrachtet, sind die Sujets mehrheitlich konventioneller Natur. Da sind Stadtansichten, etwa von Abram Topor (1903 bis 1992), der die Kathedrale von Rouen – das Kunstpublikum kennt sie vor allem aus der Serie Claude Monets – in einer bunten Zuckerbäcker-Version wiedergibt. Da sind Schlachtengemälde, darunter Josef Wittlichs (1903 bis 1982) poppiges Bild mit Kanone und Fahnen – als ehemaliger Fremdenlegionär war Wittlich prädestiniert für diese Gattung. Da sind Akte, auf grandiose Weise inszeniert vom Wrestler, Eisenbahnarbeiter und Documenta-Teilnehmer Camille Bombois (1883 bis 1972) mit seinen burlesken Wuchtbrummen. Da sind mythologische Szenen von der Antike bis zum Christentum, etwa Shalom of Safeds (1882 bis 1980) Bibelepisoden im Comicstil. Und da sind die rührenden antifaschistischen Bildappelle Louis Auguste Déchelettes (1894 bis 1965), der seine Überzeugungen

sogar in ein Stillleben hineinschmuggelte. Wie um an diese Ära zu erinnern, prangt über einer Kellertür des Schlosses ein altes Leuchtschild: »Gasalarm«. Häufig durchmischen sich Sujets und Stile. Von heiterer Hybridität ist Annemarie Hoffmanns 2008 entstandenes Acrylgemälde Baum-Wildsau, das eine hinterhältig lugende Sau auf einem divisionistischen Waldboden in Grau-Türkis zeigt, überwölbt von einem ornamentalen Baum in Goldtönen. Bei Bombois’ Nue assise wiederum konterkariert das fein getupfte Schamhaar die Stilisierung und Geometrisierung des voluminösen Körpers. Diese irritierenden Momente gleichzeitiger Anziehung und Abstoßung zwischen Professionalität und Dilettantismus, Einfachheit und Raffinesse, Referenz und Selbstreferenz, Kunst und Kunstsystem machen Zanders Sammlung so spannend und einzigartig – nicht aber die treuherzige Ehrlichkeit vermeintlich edler Wilder oder ewiger Kinder, die die Welt gar nicht anders zeigen können, als sie sie sehen. Liest man ein wenig mehr über die Künstler, stellt man fest, dass viele von Kunstexperten entdeckt und gezielt gefördert wurden. Weil der Begriff des Naiven jedoch weiterhin pathologisch besetzt ist und unser Kunstverständnis sich an professionellen, strategisch operierenden Kunstsystem-Künstlern orientiert, blieben die meisten Geheimtipps – trotz einiger erfolgreicher internationaler Wanderausstellungen wie Masters of Popular Painting in den 1930er Jahren. Es besteht aber durchaus ein Markt für Naive Kunst, wenngleich er weniger sichtbar ist als der Tummelplatz von Mediendompteuren und Investorennaturen wie Damien Hirst oder Jeff Koons. Charlotte Zander half mit, ihn auszubauen. Auf Schloss Bönnigheim wird klar, dass Naivität und Raffinesse, vergleichbar mit dem Outsider und dem Aristokraten, keine Gegensätze sind. Sie erscheinen als zwei Punkte auf ein und demselben Kontinuum. Zwischen diesen Punkten bewegt sich der Betrachter unablässig hin und her. Manchmal ist es, als spielten die Bilder kichernd Pingpong mit ihm.

Abb.: Henri Rousseau, »Le Charme«, 1909, Foto: Alistair Overbruck

Der ZEIT-Museumsführer: Das Museum Charlotte Zander in Bönnigheim

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FEUILLETON

DIE ZEIT No 41

Er kann fliegen! Ein Mensch überquert die Grenze zwischen Mexiko und den USA. Videoprojektion des venezolanischen Künstlers Javier Téllez

Wundert euch! Eine Hamburger Ausstellung lehrt, das Außergewöhnliche im Selbstverständlichen zu entdecken VON ULRICH SCHNABEL

Fotos: Javier Téllez

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enn uns je ein politisches Jahr das Wundern lehrte, dann war es wohl das zurückliegende: Ein revolutionärer Sturm fegt durch die arabischen Diktaturen, eine deutsche Atomkanzlerin leitet die Kehrtwende in der Energiepolitik ein, politische Hoffnungsträger verwandeln sich in atemberaubendem Tempo in ihr Gegenteil, und der Zerfall der Euro-Zone wird zum Spekulationsobjekt von Anlageberatern. Hätte man vor Jahresfrist solche Ereignisse prophezeit, jeder vernünftige Mensch hätte einen für verrückt erklärt. Dann zeigte sich: Nichts ändert sich schneller als die Realität, was gestern noch undenkbar schien, ist heute selbstverständlich. Unter solchen Umständen scheint »realistisch sein« vor allem zu heißen: jederzeit damit rechnen, sein blaues Wunder zu erleben. Das menschliche Gehirn allerdings ist ein Gewohnheitstier. Wir sind inzwischen so sehr darauf trainiert, für alles eine »vernünftige« Erklärung zu finden, dass wir uns das Wundern weitgehend abgewöhnt haben. Und statt den Mut aufzubringen, Unmögliches für denkbar zu halten (und dafür unser Möglichstes zu tun), richten wir uns im selbst geschaffenen Käfig einer angeblich »alternativlosen« Rationalität ein – die dann eben auch alternativlos bleibt. Da kommt die Ausstellung WUNDER in den Hamburger Deichtorhallen gerade zur rechten Zeit. Nicht nur, weil sie den Begriff des Unerklärlichen ins Blickfeld rückt, sondern auch, weil sie uns für die unendliche Vielfalt möglicher Wirklichkeiten sensibilisiert. Denn die Realität hängt stets von unserer Betrachtungsweise ab. Da wären zum Beispiel die Gipsabdrücke von »Geisterhänden«, die vor hundert Jahren während spiritistischer Sitzungen entstanden: Angeblich hatten die erschienenen Geister ihre Hände in eigens dafür vorbereitete Gipsgefäße gesteckt, worauf Abgüsse davon als Beleg an verschiedene Forscher geschickt wurden. Ein Beweis für das Übernatürliche? Wenn der Besucher hier noch den Kopf über die Gutgläubigkeit der damaligen Zeitgenossen schüttelt, kommt ihm spätestens beim nächsten Exponat die Selbstgewissheit abhanden. Denn da steht eine Nebelkammer des Deutschen Elektronen-Synchrotrons Desy, die sichtbar macht, wie gerade subatomare Teilchen durch die Deichtorhallen fliegen. Auf den normalen Betrachter wirken die flüchtigen weißen Spuren kaum weniger geisterhaft als die gipsernen Geisterhände. Worauf beruht unsere Gewissheit, dass das eine Humbug, das andere seriöse Wissenschaft ist? Es gehört zum angenehmen Konzept der Ausstellung in den Deichtorhallen, solche Fragen zwar aufzuwerfen, aber dem Besucher keine schlüssige Antwort abzuverlangen. Jeder darf sich hier nach seiner Fasson wundern – etwa über jene bei eBay versteigerten Batterien, die trotz jahrelanger Nutzung angeblich noch immer voll aufgeladen sind. Oder über die 850 Leserbriefe, die nach einem Telepathie-Experiment mit Uri Geller 1974 bei der Bild-Zeitung eingingen. Sie berichten nicht nur vom Einbruch des Unerklärlichen in bundesdeutsche Wohnzimmer (»Alter Reisewecker, seit über 10 Jahren unbrauchbar, tickt wieder! Zeugen vorhanden. – Der Uri ist unheimlich«), sondern auch vom mühsamen Ringen um Wahrheit (»Die Gabel, die ich in meinen Händen hielt, wurde nach Minuten weich wie Butter. Leider bog mir mein Mann die Gabel wieder gerade, weil er nicht überzeugt war, daß es von alleine geschah«). Solche Berichte allein danach zu beurteilen, ob sie »wahr« oder »falsch« sind, hieße allerdings, die eigentliche Funktion von wundersamen Ereignissen zu verkennen; dient doch der Verweis darauf letztlich dazu, »Energien anzuziehen und sie auf etwas anderes, Neues zu bündeln«, wie der Kurator Daniel Tyradellis sagt. Für ihn ist daher das Wunder »fast überall da zu finden, wo es um ein Versprechen geht«.

Wo ein Wunder stattfindet, geht es um Macht und ein Versprechen Und das gilt in der Esoterik wie in der Religion, in der Wissenschaft ebenso wie in der Kunst. Wundersame Objekte wie Uri Gellers verbogene Löffel, die weinende Madonna von Syrakus, der Zauberstab eines afrikanischen Medizinmannes oder das goldene Zepter der Universität Erfurt haben alle eines gemeinsam: Sie symbolisieren magische Kräfte und verweisen damit auf einen Machtanspruch, der sich aus verborgenen Dimensionen ableitet. Technische Wunder – wie die Nebelkammer oder ein hochgezüchteter Formel-1-Rennwagen – erfüllen dabei eine sehr ähnliche Funktion wie religiöse Wunder: Als außerordentliche Ereignisse sollen sie die Menschen für eine Idee, ein Projekt oder eine Lebensform einnehmen und sie von der Richtigkeit eines Weges überzeugen. Illustriert wird dieser Gedanke unter anderem mit zwei Exponaten aus der deutschen Wunderhistorie: dem WM-Pokal von 1954 und einem mannshohen Metallkegel, der Raketenspitze von Hitlers »Wunderwaffe« V2. Diese sollte den kriegsmüden Deutschen den »Endsieg« in Aussicht stellen und sie damit zu einer letzten Bündelung ihrer Kräfte mobilisieren, von der sich die oberste Heeresleitung eben das angekündigte Wunder erhoffte. Nachdem der Sieg ausblieb, hätte man meinen können, die

Deutschen wären von Wundern kuriert gewesen. Doch keine zehn Jahre später waren die gerade Besiegten dank des »Wunders von Bern« wieder wer, nämlich Fußballweltmeister – ein Ereignis, das für die kollektive Psyche der jungen Bundesrepublik von kaum zu ermessender Bedeutung war. Als »Öffnung in der Welt« definiert Tyradellis im lesenswerten Ausstellungskatalog das Wunder; als »etwas, was das realistisch Erwartbare übersteigt, aus der bekannten (rationalen) Ordnung der Dinge fällt und ein Mehr an Möglichkeiten verspricht«. Und als solches ist es gleichermaßen in Religion, Kunst und Wissenschaft zu Hause. Denn diese lassen sich letztlich nur als verschiedene Optionen beschreiben, sich zu der Erscheinung des Unerklärlichen zu verhalten.

Wissenschaft und Religion sind zwei Arten, auf das Wunder zu reagieren So entzünden sich am Wunder – wie die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston in ihrem 2001 erschienenen Buch Wunder, Beweise und Tatsachen wunderbar beschrieb – sowohl individueller Glaube wie Zweifel, fraglose Überzeugung und der Drang zu empirischer Erkenntnis. Anders gesagt: Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Wunder gewann die abendländische Opposition von Wissenschaft und Glaube ihre heutige Gestalt. Dass andere Kulturen mit dem Wunder sehr viel gelassener und selbstverständlicher umgehen, zeigt exemplarisch ein filmischer Streifzug der chinesischaustralischen Künstlerin Fiona Tan, die den Betrachter in den verwirrenden Kosmos fernöstlicher magischer Praktiken führt. Im Hinduismus, so lernt man in der Ausstellung, sind Wunder geradezu die Regel. Im Westen dagegen wird die Frage, wie man sich zur Möglichkeit eines Wunders stellt, zum Lackmustest für das eigene Selbstverständnis: Während der nüchterne Wissenschaftler darauf mit der Forderung nach weiterer Forschung reagiert, sehen religiös ausgerichtete Naturen darin den untrüglichen Hinweis auf das Vorhandensein höherer Kräfte. Die katholische Kirche etwa verlangt als zwingende Voraussetzung für eine Heilig- oder Seligsprechung den Nachweis einer »Wunderheilung« (die paradoxerweise erst als gültig anerkannt wird, wenn sie wissenschaftlich bewiesen ist). Daniel Tyradellis und seinen Mitstreitern von der Berliner »Praxis für Ausstellungen und Theorie« geht es auch hier nicht um die Frage nach der einzig selig machenden Wahrheit. Ähnlich wie in ihren früheren Ausstellungen – etwa Der neue Mensch im Dresdner Hygiene-Museum oder Schmerz im Hamburger Bahnhof in Berlin – interessiert sie vor allem das Zusammenspiel verschiedener Perspektiven. In den Deichtorhallen stehen daher technische Artefakte neben Kunstwerken, Alltagsobjekte neben religiös aufgeladenen Symbolen. Der Blick des routinierten Museumsbesuchers, der schon immer weiß, wie er die Dinge zu betrachten hat, wird damit ein ums andere Mal in die Irre geleitet. Diese Verunsicherung des Schauens ist für Tyradellis ein wesentliches Element seiner Ausstellung: Schließlich sei »die Fähigkeit, sich über vorgestanzte Wahrnehmungsschemata hinwegzusetzen«, die Bedingung dafür, Wunder überhaupt wahrnehmen zu können. Und weil Erwachsene mit zunehmendem Alter zu einer Verhärtung ihres Denkens neigen und immer starrere Wahrnehmungsschemata entwickeln, haben in dieser Ausstellung auch die wahren Experten fürs Wundern und Staunen das Sagen: die Kinder. Eine eigene »Kinderspur« begleitet einen auf mehreren Ebenen: mit speziellen Exponaten und thematischen Räumen, die auf Kinder zugeschnitten sind, sowie mit verschiedenen Videomonitoren, auf denen Kommentare von Kindern zu ausgewählten Kunstwerken zu sehen sind. Wie etwa hat Timm Ulrichs es geschafft, Dutzende blauer Schnecken zu einem exakt abgezirkelten Quadrat zusammenlaufen zu lassen? Wer an die gelehrten Debatten unter Kunstkennern gewöhnt ist, wird die Diskussionen der Kinder über diese Frage als erfrischend empfinden. Folgerichtig gibt es ein ausführliches Begleitprogramm, das sich speziell an Kinder und Jugendliche richtet. Die Ausstellung folgt damit dem Vorbild des Berliner Comenius-Gartens, in dem in den vergangenen Jahren Kinder, Wissenschaftler und Künstler gemeinsam auf Wundersuche gingen (beschrieben in dem Buch Wunderforschung, Nicolai Verlag, Berlin 2010). Die Erwachsenen müssen dagegen in den Deichtorhallen eine ungewohnte Kränkung einstecken: Die Kopfhörer, mit denen man die Kinderkommentare abhören kann, werden nur Kindern ausgehändigt. Damit drehen sich die Rollen um: Statt ihren Nachwuchs wie üblich belehren zu können, sind diesmal die Eltern auf die Expertise der Kinder angewiesen. Denn diese haben gegenüber Erwachsenen einen unschätzbaren Vorteil: Sie richten ihr Handeln nicht ständig an einem schon vorab gegebenen Sinn aus, sondern lassen sich vorurteilslos auf das Erleben des unendlichen Potenzials der Gegenwart ein. Und diese Offenheit lohnt sich. Denn wenn die üblichen Denkschablonen fallen, öffnet sich der Blick für die außergewöhnlichen, verstörenden und mitunter auch wunderbaren Seiten des Daseins. Wer die Hamburger Ausstellung verlässt, kann jedenfalls unvermutet die Erfahrung machen, dass die Welt voller Wunder ist.

FEUILLETON

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

»Mami hat dich immer mehr geliebt«

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enn in New York die Sonne aufgeht, ist es in Los Angeles zappenduster. Und so dachte man auch damals in den fünfziger Jahren, als über Manhattan ein neuer, güldener Morgen der Malerei erwachte, dass Kalifornien einfach weiterpennen würde wie zuvor. Tatsächlich dämmerte aber auch an Amerikas sonniger Westküste eine neue, aufregende Generation von Künstlern herauf, nur dass davon selten die Rede war. Um das zu ändern, beginnt dieser Tage rund um Los Angeles eine konzertierte Ausstellungsaktion namens Pacific Standard Time, in 60 Museen und Galerien rund um Los Angeles – mit dem Ziel, die eigene Nachkriegskunst zu preisen und somit den Meridian der Kunstwelt an seinen rechten Ort zu schieben. Es trifft sich, dass John Baldessari vor Kurzem aus Los Angeles angereist kam, um eine Ausstellung neuerer Arbeiten in der Berliner Galerie Sprüth Magers vorzubereiten. Baldessari war einer der ersten Künstler aus Los Angeles, die in New York Erfolg hatten; er kennt beide Welten. Und mit seinen 80 Jahren und dem schlohweißen Bart scheint er beiden auch schon ein Stück entrückt zu sein – weit genug jedenfalls, um in KunstGlaubensfragen als weiser Verfechter einer kulturellen Ökumene aufzutreten. Eine Assistentin der Galerie fragt ihn, ob er wisse, dass morgen der Papst in der Stadt eintreffe. »Jaja«, sagt Baldessari, »ich hasse den Wettbewerb.« Um Wettbewerb geht es in der kalifornischen Mammutschau, die gerne den einen oder anderen Gegenpapst auf den Thron heben möchte. Einer von ihnen soll John Baldessari sein. Der Foto- und Konzeptkünstler ist gleich in elf Ausstellungen und damit am häufigsten von allen vertreten. Neben den Kollegen Robert Irwin, Ed Moses oder Ed Kienholz soll sein Werk als Beweis dafür dienen, dass die Kunst aus dem Wes-

ten den Vergleich mit der aus New York nicht zu scheuen braucht. Thomas W. Gaehtgens, der Direktor des Getty Center in Los Angeles, das maßgeblich an der Veranstaltung beteiligt ist, sprach davon, dass die Kunstgeschichte jetzt ganz neu geschrieben werden müsse. Baldessari hat sein Leben an vielen Orten auf der Welt, auch in New York, vor allem aber in Kalifornien verbracht. Sein Werk kann man am ehesten mit »Konzeptkunst« umschreiben; er hat Filmstills abfotografiert und die Gesichter der Menschen mit bunten Punkten verklebt; die New Yorker Pop-Art ist da nicht fern. 1971 hat er ein Buch mit kunsthistorischen Gleichnissen herausgebracht. Darin erzählt er die Geschichte eines Künstlers aus Los Angeles, der nach New York geht, wo alle Leute seine Bilder schrecklich finden. Also streift er durch die Galerien der Stadt und malt so wie das, was er dort sieht. Und alle sind begeistert. Stellt sich die Frage: Was ist so anders an kalifornischer Kunst? »Ja, das Buch.« Das habe er für seine Schüler gemacht, um zu zeigen, dass man in New York nur etwas erreichen konnte, wenn man sich in irgendeiner Form auf die Kunstgeschichte bezog. »In L.A. tat das niemand, weil auch kaum jemand eine Ahnung davon hatte.« Das sei einer, aber nicht der wichtigste Grund, so Baldessari, warum auch die Malerei in L.A. nie habe Fuß fassen können – weil es gewissermaßen keinen Boden gebe. »Los Angeles ist eine sehr uneuropäische Stadt ohne Geschichte – eigentlich ist es ja nicht einmal eine Stadt. Und ich denke, dass die Malerei etwas sehr Zivilisiertes ist.« Das passe nicht zusammen. Leinwände müssten sich an etwas anlehnen können. In Los Angeles habe sich dagegen etwas Eigenständiges entwickelt, und das hat mit dem Wetter zu tun. Ob man hierzulande davon gehört habe, dass John Travoltas Mercedes-Oldtimer geklaut worden sei, mitten in Los Angeles?

Sicher, es habe der New Yorker Herrliches Auto, braunmetallic, Szene enorm geholfen, dass dort sah aus wie neu. Weil in der kalidie meisten entscheidenden Kunstfornischen Sonne nichts rostet. magazine säßen, die sich allesamt Daher der große Autofetisch, der und bis heute für weniges außereiner ganzen Kunstrichtung den halb ihrer Stadt interessierten. AnNamen gab: Finish Fetish, eine dererseits sei an den abstrakten Bewegung in der Plastik, die MaExpressionisten aus New York, an terialien wie Blech und Karbon Franz Kline oder Robert Motherverwendet und ihnen – wie die well, eben niemand vorbeigekomAutotuner in ihren Garagen – mit men. »Man konnte sie hassen, und Farblack ein Finish gibt. Vielviele haben das getan, aber man leicht sei Finish Fetish aber auch musste sie zur Kenntnis nehmen nur eine Reaktion auf den New und auch irgendwie darauf reaYorker Minimalismus von Dogieren.« nald Judd oder Carl Andre gewesen. Sein Fall war es jedenfalls nie. »Sind kalifornische Künstler also Eine andere Richtung seien Inzu Unrecht unbekannter als die stallationen mit Licht und Raum, New Yorker?«, fragt er, will sich da vielleicht wegen der kalifornischen Der Konzeptkünstler aber nicht festlegen; er sei ohnehin Sonne. Der Lichtkünstler James John Baldessari, 2009 in kein kalifornischer Künstler, auch Turrell habe ihn einmal in sein Krefeld auf seinem kein Konzeptkünstler, sondern Studio eingeladen, um ihm eine Ohrsofa sitzend, und einfach nur Künstler und fühle sich seiner frühen Arbeiten zu zeigen: darunter Bilder seiner von dem Anliegen gar nicht be»Das war ein Lichtstrahl, der aus kalifornischen Kollegen troffen. Überhaupt sei dieser Wettdem Fenster auf die gegenüberlie- aus der Ausstellung bewerb heute, wo es keine Rolle gende Wand fiel. Aber das hat »Pacific Standard spiele, wo welcher Künstler hermich nun wirklich überhaupt Time«, Asco, kommt, ein großer Unsinn. Als er nicht interessiert.« Judy Chicago und erstmals von der Ausstellung gehört Und schließlich gab es noch Dora de Larios habe, sei es ihm vorgekommen, als die Cool School, eine Gruppe von (von oben nach unten) wolle da ein verstoßener Sohn Los Künstlern, die in den fünfziger Angeles’ seinem großen Bruder New Jahren in der legendären Ferus York beleidigt den Vorwurf machen, Gallery ausstellten. »Die Leute von Ferus waren »Mami hat dich immer mehr geliebt«. weniger für ihre Werke bekannt als für sich Es habe da einen Künstler namens John selbst. Im Wesentlichen hingen sie mit Filmstars McLaughlin gegeben, auch ein Abstrakter, den herum. Ich hatte mit ihnen nichts zu tun. Ich außerhalb von Los Angeles kaum jemand kennt. mochte auch nicht, was sie gemacht haben.« Er, »Wir werden also wieder John McLaughlin sehen, Baldessari, habe sich in seinem Werk weder um und wir können sagen, okay, was ist also mit John die Selbstinszenierung noch um die Ästhetik ge- McLaughlin? Ist er gut?« schert. Habe immer sein eigenes Ding gemacht. Sei aber, immerhin, noch nicht vergessen. Weiteres unter www.pacificstandardtime.org

Das Letzte Fotos.: (v.o.n.u.): Bernd Thissen/picture-alliance/dpa (gr.); Harry Gamboa; The Womann´s Building; Private Collection (Foto: Dale Strumpell)

Muss die Kunstgeschichte umgeschrieben werden? John Baldessari über den Zwist zwischen Los Angeles und New York, der jetzt neu entfacht wird VON SVEN BEHRISCH

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Schon wieder hat ein ICE, aus München unterwegs nach Berlin, die Station Wolfsburg verpasst und ist ohne Halt bis Stendal durchgefahren. Die Stadtväter sind empört – gekränkt wäre ein Hilfausdruck, gedemütigt und bis aufs Blut gereizt schon treffender. Es ist, nach einer oberflächlichen Zählung des Gedächtnisses, das dritte Mal in letzter Zeit, dass Wolfsburg von dem Schnellzug, dessen Halt nach allgemeiner Meinung einer Stadt recht eigentlich erst das Stadtrecht verleiht, links oder meinetwegen auch rechts liegen gelassen wurde (je nachdem wie man die Karte hält). Aber wer weiß. Vielleicht sind die Züge schon öfter durchgefahren, es ist nur nicht bemerkt worden, weil kein Passagier aussteigen wollte, der sich hätte beschweren wollen. Die Bahn spricht zur Entschuldigung gerne von einem Fehler des elektronischen Fahrplans, an dem sich die Lokführer orientieren. Wer daran glaubt, mag selig werden oder sich in seinen zähen Vorurteilen gegenüber Programmierern bestätigt fühlen. Wir glauben nicht daran. Lokführer sind nicht fehlbar, sie kennen ihr Wolfsburg auch ohne Fahrplan nur allzu gut. Wir glauben vielmehr an einen internen, hoch geheimen, höchst elitären Wettbewerb der Lokführer untereinander, Wolfsburg absichtlich zu überfahren. Es ist eine Art Mutprobe, und wer sie besteht, wird in den exklusiven Kreis der Wolfsburg-Überfahrer aufgenommen. Wahrscheinlich ist es leichter, mit dem Sammeln von Kronkorken ins Guiness Buch der Rekorde zu kommen. Wir stellen uns die Überfahrer als überzeugte Antifaschisten vor, die sich schon aus Gewissensgründen weigern, Städte zu akzeptieren, die zwischen 1933 und 1945 entstanden sind. Beweis: Niemals wurde von ihnen das ehrwürdige Stendal ignoriert, dass heute viel unbedeutender, aber dafür schon seit 1022 in der Altmark verzeichnet ist. Wolfsburg dagegen wurde erst 1938 gegründet, und zwar nicht einmal unter seinem heutigen Namen, sondern als »Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben«. Vielleicht nehmen die Lokführer auch den Namenswechsel übel, den sie als Geschichtsfälschung empfinden, obwohl er auf Drängen der britischen Besatzungsmacht 1945 zustande kam. Aber wer wollte schon in die Herzen der Lokführer schauen, die zur Elite ihrer Zunft gehören? Für sie existieren keine Karten aus der Hitler-Zeit. Sie sind die Helden der Erinnerungspolitik. »Wider das Vergessen« ist die geheime Losung, mit der sie sich auf der Strecke grüßen. FINIS

WÖRTERBERICHT

Absolut Man kann sich über die ewigen Jasager aufregen, wie man will – eine andere Spezies läuft ihnen längst den Rang ab. Es sind jene Leute, die auf so gut wie alle Fragen mit einem »Absolut« antworten. Mögen Sie Tizian? Spinat? Herrn Mischke? Tiere? Die Antwort lautet immer: »Absolut.« Sagt man nicht mehr Ja, weil man seinem Ja nicht traut? Ist man über jeden Zweifel hinaus? Es darf doch aber mit Fug bezweifelt werden, ob man alle Bilder Tizians, ob man alles an Mischke oder ob man Spinat zum Frühstück mag. Und nicht nur Rehe, auch Krätzmilben sind Tiere. Es hat etwas Anmaßendes, dieses »Absolut«. Es fragt in einem alten Film das Mädchen den Mann: »Liebst du mich?« Er antwortet: »Ein bisschen.« Wie enttäuschend wäre es gewesen, hätte er »Absolut« gesagt. HEIKE KUNERT www.zeit.de/audio

GLAUBEN & ZWEIFELN »Liebe ist auch Glaubenssache« DIE ZEIT: Herr Walser, in Ihrem neuen Roman

Und das Sterben könnten wir uns leichter machen. Ein Gespräch mit Martin Walser über Gott, die Literatur und noch ein paar andere letzte Dinge

ZEIT: Weil wir sonst nicht zwei Wörter bräuchten.

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»Ob dich einer liebt, kannst du nicht ausrechnen, nur glauben«

Martin Walser Der Bodensee ist die Heimat von Martin Walser. Hier wurde er 1927 in Wasserburg geboren. Heute lebt er in Nußdorf bei Überlingen. Sein Haus steht am See. Sein Arbeitszimmer hat er unter dem Dach. Von hier aus schaut man durch seinen Garten auf das Wasser. Seit seinem ersten Roman »Ehen in Philippsburg« (1957) ist sein Werk auch eine Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik. Martin Walser war Mitglied der Gruppe 47 und erhielt 1981 den Büchner-Preis.

Dieses Jahr erschien von ihm im Rowohlt Verlag der Roman »Muttersohn«. Er erzählt von Percy, der mit seiner Mutter aufwuchs und in dem Glauben lebt, dass zu seiner Zeugung kein Mann nötig gewesen sei. Percy wird zu einem bewegenden Prediger und Psalmodierer. Eine wichtige Rolle spielt auch Augustin Feinlein, Direktor einer psychiatrischen Landesklinik. Er flieht aus einer Liebesenttäuschung immer mehr in die Welt des Glaubens, über dessen Paradoxien er neugierig reflektiert.

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Walser: Solange einem nichts wehtut, kann man Weil wir uns sonst auch gar nicht an ihrer Annähe- überhaupt nicht vom Ende sprechen für sich selrung zu erfreuen bräuchten! Wenn Religion nichts ber. Es ärgert mich, dass unsere Kultur noch imanderes sein wollte als nur schön, dann wäre sie ja mer nicht erlaubt, dass wir sterben dürfen, wie wir plötzlich identisch mit der Kunst. wollen. Das nenne ich eine fortgesetzte Leibeigenschaft, und die würde ich ganz gerne hinter mich Walser: Ja und?! ZEIT: Das ist sie aber nicht. Weil zum Beispiel das bringen. Diese kleine Emanzipation müsste mögGefühl der Abhängigkeit von einer höheren lich sein, dass ich sterben darf, wie ich persönlich Macht, das Gefühl der Unverfügbarkeit eine ge- will. Oder? Dass das nicht verurteilt werden kann von zivilen oder kirchlichen Instanzen. nuin religiöse Erfahrung ist. Keine ästhetische. Walser: Das Ästhetische ist nur das Mittel, um ZEIT: Denken Sie jetzt an Selbstmord oder Sterbedieser Erfahrung zu antworten. Ich gebe Ihnen ein hilfe? Beispiel aus der Bibel: Esau und Jakob. Esau ist der Walser: An alle Möglichkeiten des Aufhörens. Ich von Gott Vorverurteilte, Jakob der Gerettete. Da- fände das nicht unwürdig, wenn uns das Aufhören mit haben sich die größten Gottesmänner Europas angenehm gemacht werden könnte. auseinandergesetzt. Von Augustin über Luther ZEIT: Da bestimmt der Glaube das Sterben. Wie und Calvin bis zu Karl Barth. Jeder versuch- aber greift der Glaube ins Leben? te, Gottes Gerechtigkeit zu retten, obwohl Walser: Das wichtigste Menschenverhältnis ist die Gott den Esau bereits verbannt hat, als der Liebe, und die ist abhängig vom Glauben. Dass noch gar nicht geboren war. Das ist doch man geliebt wird, muss man glauben. Die Leute Literatur! Das ist reiner Dostojewskij! Wir denken beim Wort Glauben sofort an Beichtstuhl wünschen uns zwar einen gerechten Gott, und an ein Kirchendings. Wir sind aber noch ganz doch die Idee eines ungerechten Gottes anders angewiesen auf den Glauben. Mir persöntrifft eine viel genauere Aussage über die lich ist die Genesis lieber als der Urknall. Ich müssWelt, wie sie ist. te ja auch an den Urknall glauben. ZEIT: Religion macht nicht nur eine Aus- ZEIT: Wie war es für Sie als Kind, in einer kathosage über die Welt, wie sie ist, sondern auch lischen Welt aufzuwachsen? darüber, was wir hoffen dürfen. Wir können Walser: In der Beichte zum Beispiel habe ich imnicht hoffen auf einen Gott, der so unge- mer den sogenannten Beichtspiegel heruntergeberecht ist wie die Welt. tet. Erst viel später erfuhr ich, dass andere Kinder Walser: Da sind wir schon beim Hauptthe- schon damals frei gesprochen, dem Pfarrer einen ma meines nächsten Buches. Für dieses eigenen Text gesagt haben. Das hätte ich nie geBuch habe ich einen Führer, der heißt Karl wagt. Ich hielt mich strikt an den Beichtspiegel. Barth. Wo Gott anschaulich und nachvoll- Und dann kam das Ego te absolvo. Die Absolution aber war an die vollkommene ziehbar wird (also mein Reue geknüpft. Du hast also ganzer Barockhimmel), da Schau: Die einen gleich noch in der Kirche wird er für Barth trivial. schalten schon ab, schnell runtergebetet, was du Barth verurteilt sogar Tolswenn sie nur das als Buße aufgetragen bekamst. toj als bürgerliche Soße, Ich wusste aber, dass ich lüge, nur Dostojewskij lässt er Wort Glauben hören. wenn ich sage, dass ich dies gelten. Dann meinen sie, und jenes nie wieder tun würZEIT: Er würde Sie auch jetzt würden sie in de. Also hielt ich mir vor: Du verurteilen! einen Ratzinger-Käfig erschleichst dir deine AbsoluWalser: Immerhin das aber gesperrt. tion und bist schon wieder der würde er mir gelten lassen, Erzsünder fürs nächste Mal. dass ich bei meiner SuchbeRein sportlich gesehen war diewegung an keiner Stelle se Seelengymnastik der vollkommenen, aber nicht haltmache. ZEIT: Also so ambivalent und fließend ist zu leistenden Reue allerdings nicht das SchlechtesReligion doch gar nicht. Im Christentum te, was man als Zehnjähriger absolvieren konnte. gibt es meines Wissens die Heilige Schrift, Denn wenn man heimging – und man durfte ja die ist offenbart und nicht beliebig. Da ste- auch vor der Beichte nichts gegessen haben –, schuf das einen Innenraum, da wurdest du ein hen bestimmte Grundüberzeugungen. Dialogpartner für dich selbst. Walser: Zum Beispiel? ZEIT: Zum Beispiel, dass dem Tod der Sta- ZEIT: Wie hörte diese traditionelle Form des Kachel genommen ist. tholizismus bei Ihnen auf? Walser: Durch die Auferstehung Christi. Walser: Als ich Student an der PhilosophischDas ist doch eines der schönsten Märchen, Theologischen Hochschule Regensburg wurde. das je geschrieben wurde. Der Rektor war ein Pfarrer, und der hat immer nur gelesen: Thomas von Aquin, erster Teil, zweiter ZEIT: Sie nennen das Märchen? Walser: Nein, ich nehme das Wort zurück, Teil, dritter Teil. Das war’s. Ich habe das mitgedas ist zu blöd. Einer der schönsten Texte. schrieben, aber es hat mit mir nichts gemacht. Das ist Literatur, die uns einen Christus ser- ZEIT: Ein wichtiges Motiv in Ihrem Roman ist der viert, der am dritten Tage auferstanden ist. Hochmut. Dass Gott die Hochmütigen zerDa bleibt mir nichts zu wünschen übrig. schmettert. Hochmut ist eine Kategorie, die lässt ZEIT: Das Muster unseres Gesprächs ist sich viel einfacher über andere sagen als auf sich jetzt immer das gleiche. Ich sage »Glaube«, selbst anwenden. Wie bekommt man denn einen und Sie sagen »Literatur«. Solange man »Li- Blick für seinen eigenen Hochmut? teratur« sagt, ist man auf der sicheren Seite. Walser: Sehr gut, sehr gut. Das räume ich Ihnen Walser: Sollen wir diese Vision »aufgefahren sofort ein. Darauf kommt es an. (schenkt zwei in den Himmel, er sitzt zur Rechten Gottes, Schnapsgläser ein, die schon die ganze Zeit auf dem von dorther wird er kommen, zu richten die Le- Tisch standen) Zum Wohl. benden und die Toten« – sollen wir das zu einem ZEIT: Was ist das? Glaubens-Muss machen? Tonlos, abstrakt, inhalts- Walser: Ach, ein Williams Christ. Ganz brav aus süchtig, bewegungslos? Glaub das, oder du bist Wasserburg. (sinniert) Ich tue so, als wüsste ich, nicht? Oder sollen wir sagen: Etwas Schöneres was Hochmut ist. (lange Pause) Hm, das hätte mir kann es nicht geben als »am dritten Tage aufgefah- eigentlich schon mal auffallen müssen. Hochmut ren in den Himmel«! Ich will allerdings nicht be- gehört zu den Dingen, wo man überhaupt keine haupten, dass dem Tod damit der Stachel genom- Selbsterfahrung haben kann. Das stammt aus Ermen sei, so wie die Kirchen das ihren Gläubigen fahrungen zur Bezeichnung von anderen. Ich glauzumuten. Bei meiner Mutter, einer tiefgläubigen be, solche Wörter gibt es auch heute noch. Wenn Frau, habe ich erlebt, dass ihr Glaube dem Tod heute einer sagt: »Verantwortungsgefühl«, dann gegenüber nichts geholfen hat. Sie war voll Todes- meint er auch immer andere. angst, obwohl sie nie etwas getan hatte, wofür ZEIT: Herr Walser, woran glauben Sie? Gott sie hätte strafen können. Die Angst war eine Walser: An das Unmögliche. Urbefindlichkeit in ihr. Ihr ganzes Leben lang. ZEIT: Kann man sich auf den Tod vorbereiten? Das Interview führte IJOMA MANGOLD

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Foto: Helmut Wachter/13 Photo

geht es die ganze Zeit um religiöse Themen. Martin Walser: Ich war wirklich gespannt, wie die zuständige Öffentlichkeit reagiert. Überraschenderweise fanden die Intellektuellen es toll. Die hätten auch sagen können: »Spinnt der jetzt?« Dass so ein Ton ein Echo findet – da habe ich mehr Glück gehabt als im Lotto. ZEIT: Was ist denn die Herausforderung, wenn man vom Glauben spricht? Walser: Das Wichtigste für mich ist, dass du die Glaubensbewegung an keiner Stelle anhalten darfst, um zu sagen: Das ist es. Glaube ist dialektisch. Jede Position hebt die vorhergehende auf. Wer das anhält, der verfälscht alles. Deshalb ist für mich die größte Enttäuschung, der absolute Tiefpunkt, wenn ich mit jemandem rede, und nach einer Stunde sagt der: Und woran glauben Sie, Herr Walser? ZEIT: Gut, ich werde mir die Frage bis zum Schluss aufheben. Walser: Ich habe zehn Jahre lang Kierkegaard studiert: »Die Größe des Glaubens ist kenntlich an der Größe des Unglaubens.« Verstehst du? Es gibt keine Sekunde Glauben ohne Unglauben. ZEIT: In Ihrem literarischen Werk gab es schon immer so eine Art Diesseitsreligion, eine Bejahung der Immanenz. Jetzt in dem Roman Muttersohn geht der Blick aber doch nach oben, übers Diesseits hinaus. Walser: Soso. Das sagen Sie, mein Lieber. ZEIT: Ja, Ihr Buch führt mich über das Diesseits hinaus. Walser: Gut, dann müssen wir das Diesseits erweitern. Der Augustin Feinlein in meinem Roman sagt: »Wenn das Jenseits nicht schön ist, kannst du es gleich vergessen.« Doch wodurch wird das Jenseits schön? Durch Schubert, durch Caravaggio. Schau: Die einen schalten schon ab, wenn sie nur das Wort Glauben hören, dann meinen sie, jetzt würden sie in einen Ratzinger-Käfig gesperrt. Die anderen haben ein Bedürfnis nach einer Glaubenserfahrung. Und ich habe es am liebsten verbunden mit dem Bedürfnis, dass etwas schön sei. Das halte ich für ein Glaubensbekenntnis. ZEIT: Nennt man das nicht Kunstreligion? Walser: (sich schüttelnd) Was ist das für ein Wort! ZEIT: Kunstreligion meint: an das Schöne glauben, weil man in Wahrheit von der Existenz Gottes nicht mehr überzeugt ist. Walser: Also gut. Ich habe mal einen Vierzeiler geschrieben: »Ich bin an den Sonntag gebunden / Wie an eine Melodie / Ich habe keine andere gefunden / Ich glaube nicht, aber ich knie«. ZEIT: Religiosität ist also eher eine Praxis? Walser: Ja, sowieso, eine innere. Aber das Wort Religiosität haben Sie jetzt gebraucht, das kommt nicht von mir. ZEIT: Welches Wort wählen Sie denn? Walser: Bitte, man muss das ernst nehmen, auch wenn es von Nietzsche kommt: dass das Dasein nur ästhetisch zu rechtfertigen ist. Wenn die Schubert-Messe nicht so schön wäre, hätte ich mich als Kind nicht erhoben gefühlt. Ich benutze wie Sie jetzt auch die Richtungsangabe nach oben. ZEIT: Warum sagen Sie das so distanziert? Walser: Weil nicht jedes Glaubenserlebnis nach oben führen muss. Na gut, in meinem Roman kommt auch öfter mal Levitation vor. ZEIT: Das ist Schweben und Schwebenlassen. Walser: Aber noch wichtiger ist mir: Leichtigkeit. Meine Lieblingsillusion beim Schreiben wäre, dass die zwei Daseinsarten Religion und Literatur einen Hauch einander näher kommen. In meinem Roman psalmodiert der Percy. Er sagt: »Psalmodieren wird man wohl noch dürfen, oder?« Höhere Literatur als die Psalmen ist ja gar nicht vorstellbar. Da sind wir uns doch einig? ZEIT: Absolut. Trotzdem müssen Glaube und Literatur etwas Verschiedenes sein. Walser: So? Warum?

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

CDs aus Klassik, Pop und Jazz – der indische Jazzer Rudresh Manhathappa, die Poplady Lana Del Rey, neue Liszt-Aufnahmen u. a.

Foto: Nadav Kander

MUSIK

EXTRA 6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

DIE ZEIT: Mr. Gabriel, stimmt es, dass Ihre Uhr um

ZEIT: Im Grunde sind Sie damit Teil einer Bewegung 13 Minuten vorgeht? im Pop, die gerade dabei ist, sich von der Vorstellung Peter Gabriel: Hier, sehen Sie selbst (krempelt eine einer für alle Zeiten gültigen Originalversion zu lösen: monströse Armbanduhr aus dem Ärmel): exakt 13 Mi- Alles ist immerzu im Fluss, ist Umschrift, Variante, nuten. Es ist eines dieser kleinen Spiele, die verhin- Remix oder Dialog. dern sollen, dass ich zu spät komme. Mit fünf oder Gabriel: So funktioniert nun mal das Leben: Man zehn Minuten gelingt das nicht. Bei 13 Minuten hin- wünscht sich, derselbe geblieben zu sein, der man mit gegen ergreift den Körper eine innere Unruhe. Und 17 einmal war, tatsächlich aber wird man älter. Alles, bestenfalls bricht man dann rechtzeitig auf. was lebt, bewegt sich unweigerlich auf den Tod zu, ZEIT: Dann leben Sie sozusagen permanent in der man kann nichts dagegen tun, außer hier und da einen Moment einzufangen, und genau das tun SchallZukunft? Gabriel: (lacht) So könnte man es sehen. Natürlich platten ja. Wenn nun aber auch ein Song ein lebendes gibt es Leute, die sich weitaus mehr Gedanken um die Wesen ist, und daran habe ich immer geglaubt, dann Zukunft machen als ich, aber das Bild gefällt mir. entwickelt er sich in der Zeit. Das war schon immer Außerdem habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, so, der Unterschied ist: Inzwischen verfügen wir über dass wir als Spezies alles in allem eine Zukunft haben. die entsprechende Technologie, um das Prozesshafte Technik ist nicht per se gut oder schlecht. Es kommt besser zur Geltung zu bringen. darauf an, wie wir mit der technologischen Entwick- ZEIT: Sie sprechen vom Internet? lung umgehen. Gabriel: Vom Internet, von der Globalisierung und den damit verbundenen erweiterten KommunikaZEIT: Was macht Sie so zuversichtlich? Gabriel: Ich denke, es hat mit meinem Vater zu tun. tionsmöglichkeiten. Auch wenn viele inzwischen Heute ist er 99 und längst im Ruhestand, doch in glauben, dass das Netz vorwiegend der Kontrolle dient, glaube ich, dass die Chancen seiner Zeit als Elektroingenieur die Risiken bei Weitem überwiegen. hat er eine bahnbrechende ErfinAuch Scratch My Back war ja letztdung gemacht, das Fernsehen lich ein Social-Media-Projekt: Ich nach Wahl. Über die Wählscheikratz an eurem Zeug herum, bitte be des Telefons sollte man sich ist auf keine Rolle festzulegen. tut das Gleiche mit meinem! seine eigene Unterhaltung zuEr ist Sänger, Menschenrechtsammenstellen können. Im ler, sozialer Aktivist. Und als ZEIT: Der Schriftsteller William Grunde war das die VorwegnahUnternehmer bietet er PopGibson hat gesagt, der Remix sei die me von Pay-TV und Internettalenten aus aller Welt eine eigentliche Natur des Internets. shopping, es war ein Stück elekPlattform. Zuletzt hat der Gabriel: Da hatte er recht. William tronische Demokratie. Sein Leist ein schlaues Bürschchen, ich hab 61-jährige Ex-Frontmann von ben lang hat er versucht, diese ihn mal auf der Art Futura, diesem Genesis mit großem Orchester zukunftsträchtige Idee zu verFestival in Barcelona, persönlich experimentiert. Seine neue CD markten, doch leider ist kein kennengelernt. Im Grunde stellen »New Blood« erscheint am Unternehmer an ihm verloren wir heute bloß neue Mischungsvermorgigen Freitag gegangen, zumindest kein guter. hältnisse aus Bekanntem her, das aber auf Weltniveau. ZEIT: Auf Sie trifft das nicht zu. Musiker ist nur einer Ihrer Jobs, eigentlich sind Sie so ZEIT: Man kann das auch ermüdend finden wie der etwas wie eine Firma: Peter Gabriel, Experimente, Musikjournalist Simon Reynolds, der in seinem geraIdeen und Ressourcen Unlimited. de erschienenen Buch Retromania von einer Re-DekaGabriel: Zunächst einmal bin ich Vater und Ehe- de gesprochen hat: Seit den nuller Jahren ist alles ist mann, dann Musiker, in dieser Reihenfolge. Erst an nur noch Re-cycling, Re-launch, Re-interpretation. dritter Stelle kommt meine Tätigkeit als technikinte- Gabriel: Ich halte es mit Brian Eno: Wir befinden uns ressierter Gelegenheitsunternehmer und schließlich in einem Moment des Übergangs. Die alte Vorstelmein soziales Engagement in diversen Benefizprojek- lung von Kreativität wird von der Tätigkeit des Kuraten wie The Elders, wo emeritierte Staatsmänner Lö- tierens abgelöst, es geht um Neubewertungen, Prosungsstrategien für die Probleme unseres Planeten zu zesse des Filterns und Kompilierens. entwickeln versuchen. Aber Firma – warum eigentlich ZEIT: Wo bleibt dabei die Originalität? nicht? Manchmal habe ich das Gefühl, ein Tier zu Gabriel: Sie ist im Prozess des Remixens enthalten. Im sein, das Witterung aufnimmt. Ich kann riechen, was Gegensatz zum traditionellen Künstler greift der Kugerade in der Luft liegt. rator bereits existierende Strömungen auf und stellt ZEIT: Ihr jüngstes Album heißt New Blood, doch das sie in einen überraschenden Zusammenhang. Ich selzugrunde liegende Material ist alt: Sie haben einige ber unterscheide gern zwischen Erbrochenem und Ihrer Songs mit großem Orchester neu eingespielt. Scheiße. Das Erbrochene ist etwas, das man seinem Heißt das, dass Ihnen inzwischen doch die Vergan- System einverleibt hat, beim Herauswürgen kommt es mehr oder weniger so wieder heraus, wie man es genheit auf den Fersen ist? Gabriel: Nun, die Vergangenheit ist immer da, auch hineingetan hat, nur eben vermischter. Scheiße hinin der Zukunft. New Blood ist so etwas wie eine musi- gegen hat deinen ureigenen Organismus durchlaufen, kalische Transfusion. Zusammen mit meinem Arran- das Material wird völlig absorbiert und verändert. geur John Metcalfe, der für die Orchesterparts verant- Genauso funktioniert ein guter Remix. wortlich war, ging es darum, neues Blut in einen alten ZEIT: Ein gewagter Vergleich. Körper zu pumpen, damit er sich auf eine neue Weise Gabriel: Das setzt natürlich voraus, dass Sie über eine bewegen kann. Wir haben existierende Songs genom- funktionierende Verdauung verfügen. Aber versuchen men und sie bearbeitet, überprüft, etwas Verborgenes wir es mit einem anderen Beispiel: Garage Band, der an ihnen zum Vorschein gebracht. Computersoftware, mit der jeder zu Hause Musik zuZEIT: Wie verhält sich New Blood zu seinem Vorgän- sammenbasteln kann. Die erste Generation funktioger Scratch My Back aus dem Vorjahr, wo Sie Stücke nierte noch nach dem Modell eines DJs, man wählte von Lou Reed, Radiohead, Bon Iver und anderen ei- Soundelemente aus und kombinierte sie. Inzwischen ner Bearbeitung unterzogen haben, auch damals kann man mit der Software individuelle Rhythmen und Klänge kreieren. Genau in diesem Sinne gehe ich schon mit 50-köpfigem Orchester? Gabriel: Ursprünglich sollte, sozusagen als direkte davon aus, dass die technische Entwicklung unser AusAntwort, I’ll Scratch Yours folgen, ein Album, auf dem drucksvermögen nicht zerstören, sondern fördern wird. die angefragten Künstler sich umgekehrt an meinen ZEIT: Man wächst sozusagen mit der Summe der Songs zu schaffen machen, aber wir bekamen einfach Möglichkeiten. nicht genug zusammen. Manche hatten keine Zeit, Gabriel: Es ist eher eine Wellenbewegung. Im ersten andere mussten im letzten Moment passen wie Neil Stadium geht es um unbegrenzten Zugang zu allem. Young. John Metcalfe und ich hatten aber so viel Ge- Im zweiten Stadium wird das Material auf die eigenen schmack an den entstandenen Versionen gefunden, Bedürfnisse hin zugeschnitten. Das schließt die Freidass wir beschlossen, das Verfahren auf meine eigenen Sachen anzuwenden. Fortsetzung auf S. 68

Peter Gabriel

Ich kann die Zukunft riechen Ein Gespräch mit Peter Gabriel über das Zeitalter des Remixes, seinen Verzicht auf Gitarre und Schlagzeug und das Tier in uns allen

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MUSIK

DIE ZEIT No 41

Fortsetzung von S. 67

heit mit ein, vieles wieder wegzulassen. Stellen Sie sich einen Maler vor, der irgendwann ein paar Farben entdeckt, die es vorher nicht gab. Zunächst wird er alles in diesen Farben malen wollen, einfach weil sie neu sind. Irgendwann aber wird er merken – ich denke jetzt an Yves Klein – dass er im Grunde bloß am Blau interessiert ist, vielleicht noch mit ein paar Spuren von Gold darin. ZEIT: Klingt New Blood deswegen so erstaunlich monochrom? Gabriel: Paradoxerweise habe ich erst mit dem Einsatz von 50 Mitspielern den Reiz der Leere für mich entdeckt. Sowohl auf Scratch My Back als auch auf New Blood gibt es wirklich leere, exponierte Momente, zu denen mir früher der Mut gefehlt hätte. ZEIT: Als jüngerer Mann neigten Sie stark zum Bombastischen. Sind Sie gerade dabei, eine historische Schuld zu begleichen? Gabriel: (lacht) Nein, ich denke, die Neigung zur Übertreibung ist ein gesunder Bestandteil des Erwachsenwerdens, genau wie die Neigung zur Onanie. Mit 50 oder 60 hat man einfach nur andere Erfahrungen, andere Qualitätsstandards. Scham angesichts der Vergangenheit zu empfinden würde ja bedeuten, dass man etwas bereut. Das ist bei mir nicht der Fall. ZEIT: Was bedeutet der Verzicht auf Schlagzeug und Gitarren? Wollten Sie die juvenile Breitbeinigkeit einer klassischen Rockband mit 61 hinter sich lassen? Gabriel: Künstler sind auch Gewohnheitstiere, sie müssen sich immer wieder selbst überlisten, um weiterzukommen, und das funktioniert am besten, wenn man sich neue Regeln gibt. Keine Gitarren zu benutzen und auch kein konventionelles Drumkit ist also eine strategische Entscheidung, die mich zwingt, dort, wo ein fetter Powerakkord war, subtiler zu arbeiten. Ich habe mich sozusagen selbst zum Einsatz meiner Fantasie überredet. Aber es stimmt, New Blood ist die Platte eines alten Mannes. Leute, die Sledgehammer, Steam oder Solsbury Hill toll fanden, werden wahrscheinlich nicht begeistert sein. ZEIT: Vielleicht werden sie eine Welt jenseits testosterongetriebener Rockposen entdecken. Gabriel: Das wäre sehr in meinem Sinne. Ich hatte schon immer diese feminine Seite in mir, etwas Meditatives und Verspieltes. Wenn das Orchester einsetzt und, sagen wir, afrikanische Trommeln simuliert, klingt das natürlich gewaltig, man spürt die Muskeln, aber die Männlichkeit darin springt dir nie ins Gesicht, und das tut der Sache gut. ZEIT: Ging es darum nicht schon bei Genesis: Schmetterlingskostüme gegen Schuluniformen, singende Tulpen als Waffe gegen britische Steifheit?

das ein Gefühl der Erleichterung, und bestenfalls ist es so überwältigend, dass ich umgekehrt dieselbe Wirkung erzielen möchte, auch wenn ich im Moment des Schreibens zugegebenermaßen nur an mich selbst denke. Vielleicht ist es wie mit einer Schachtel bunter Pillen, die verschiedene Stimmungen erzeugen. Man kann zwischen den gewünschten Effekten wählen. Aber natürlich ist das ein sehr individueller Ansatz. Um mehr zu bewirken, muss man heute an sehr vielen Fronten kämpfen. ZEIT: Womit wir wieder beim Gesamtkünstler Peter Gabriel angelangt wären. Wie geht es Ihrer Initiative Witness.org? Gabriel: Ist immer noch aktiv, in wie vielen Ländern, hab ich vergessen, aber es müssen um die 50 sein. Unser Ziel ist es, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. ZEIT: Daneben gibt es The Elders, den Online-Musikdienst OD2, den Full Moon Club, dessen Konzept darin besteht, bei Vollmond Stücke ins Netz zu stellen, sowie diverse Konzerte zugunsten von Amnesty International. Habe ich etwas vergessen? Gabriel: Die Real World Studios, wo wir Talenten, die bislang bloß in ihren Heimatländern Erfolg hatten, eine internationale Plattform geben. ZEIT: Haben Sie keine Angst, sich zu verzetteln? Gabriel: Ständig. Ich muss mich immer wieder dazu zwingen, neue Ideen liegen zu lassen, um die alten endlich umzusetzen. Aber das Schöne daran ist, dass sich Erfahrungen aus dem einen Bereich oft in den anderen übertragen lassen. Vor Kurzem zum Beispiel habe ich diese beiden wunderbaren Ärzte kennengelernt, William und Vincent Li. Sie erzielen erstaunliche Ergebnisse in der Bekämpfung von Hautkrebs, indem sie eine Creme mischen, die das Beste aus fünf anderen Cremes in sich vereint. Wissen Sie, woran mich das erinnert? ZEIT: An einen Remix? Gabriel: Genau. Bislang basierte die Pharmaindustrie darauf, eine Droge zu schaffen, die Patente daran zu besitzen und möglichst viel Profit damit zu machen. Die Li-Brüder dagegen verfahren wie ein DJ, indem sie ihr Mittel einerseits aus bereits existierenden Substanzen und Verfahren zusammensetzen und andererseits auf dem Weg einer nicht kommerziellen Stiftung unter die Leute bringen. Und wir sprechen hier nicht von Alternativmedizin – die kann hin und wieder auch von Nutzen sein –, sondern von echten, messbaren Erfolgen. ZEIT: Gilt das Prinzip der richtigen Mischung auch für die Politik? Gabriel: (lacht) Vielleicht. Aber darüber müssen wir ein andermal reden. Für heute ist unsere Zeit um.

Gabriel: So politisch dachten wir damals nicht, zu-

mindest war es uns nicht bewusst. Unsere Revolte war persönlicher Natur, wir wollten uns mit unseren Leidenschaften zu einer neuen Welt hin öffnen und luden jeden zum Mitmachen ein. Im Rückblick kann man das dann als Kritik an den Erstarrungen des Klassensystems deuten. Wir fanden die britische Form von militärisch geprägter Männlichkeit einfach nicht mehr zeitgemäß. ZEIT: »There’s Winston Churchill dressed in drag, he used to be a British flag.« Hat man den Humor in Genesis-Texten vor lauter Bombast übersehen? Gabriel: Definitiv. Wir waren große MontyPython-Fans damals. Alles, was mit absurder, dadaistisch geprägter Komik zu tun hatte, kam uns entgegen. Leider haben Scherze die Eigenschaft, schneller zu altern, vielleicht war die Musik von Genesis deshalb so lange komplett aus der Mode (lacht). Andererseits: Wenn sie heute gelegentlich wieder gehört wird, dann von 20-Jährigen. Wahrscheinlich ist es auch hier so, dass man gar nicht anders kann, als Spuren seines damaligen Selbst zu hinterlassen, seines Lebensalters, seiner Vorstellungen von Sex ... ZEIT: Was passiert mit der Sexualität im Alter? Ich frage aus persönlicher Neugier. Gabriel: Ich finde es interessant, dass sie noch da ist, aber nicht mehr als Haupttriebkraft. Das Dumme an der Libido ist ja, dass man auf ihrem Höhepunkt dazu neigt, sein Gegenüber zu verkennen: Man sieht es zu sehr als Sexobjekt. Insofern hat das Nachlassen der Begierde mit den Jahren etwas Befreiendes. Ganz los wird man sie natürlich nicht, zum Glück. Es gibt nichts Kreativeres, als ein Kind zu zeugen, mit allem, was dazugehört. ZEIT: Wie sehen Sie den neuen Typus des angry young man, den die Unruhen von Tottenham und Manchester sichtbar werden ließen: großenteils nicht weiß, ohne Mittelklassehintergrund, fern jeglicher Hippie-Ideale? Gabriel: Als große Herausforderung. Im Arabischen Frühling riskierten Menschen ihr Leben für die Freiheit. In London hatte man den Eindruck, es ging bloß darum, einen Flachbildfernseher zu ergattern. Wahrscheinlich klingt auch das nach den Meinungen eines älteren Mannes, aber meine Vorstellungen von einer revolutionären Bewegung sind nun einmal moralisch geprägt, und das war hier nicht der Fall. ZEIT: Kann Musik heute noch die Welt verändern? Gabriel: Mit der Musik ist es wie mit dem Sex: Früher war sie der entscheidende Motor der Gegenwartskultur, heute ist sie eine Kraft unter vielen. ZEIT: Eine Art Hintergrundgeräusch? Gabriel: Nicht ganz. Sie kann immer noch befreien. Wenn ich die Musik anderer höre, verschafft mir

Die Fragen stellte THOMAS GROSS

Swingt wie Hölle Der 30-jährige Schlagzeuger Jonas Burgwinkel ist der deutsche Jazzmusiker der Stunde

K

lapp. Verzögert schlägt das Pedal auf die vielfach preisgekrönt und unaufhaltsam unterwegs auf Bass-Drum. Nachhall, Pause. Ratsch: Leicht seinem Weg durch das Feld des aktuellen Jazz. Ein hinter dem Beat fällt der Stick auf die Snare- Schlagzeuger für alle Fälle, der überall dort gefragt ist, Drum. Vier Takte lang gibt Jonas Burgwinkel einen wo es darum geht, die rhythmische Grundlage selbst Groove auf dem Schlagzeug vor: reduziert, einen vor unter Spannung zu setzen, statt nur einen Groove absich hinschlurfenden Swing-Rhythmus andeutend. zuspulen. Für die lukrativen Jobs auf der großen Dann steigt Niels Klein auf dem Bühne oder im Popstudio kommt Tenorsaxofon ein. Er bläst kurze Burgwinkel eher nicht infrage. Motive, die sich nach und nach zu Er arbeitet lieber mit Musikern, einer Melodie verbinden: Don’t Exderen Spiel ihm seit Langem vertraut plain, die bittersüße Ballade aus ist – mit dem Bassisten Robert dem Songbook von Billie Holiday Landfermann, dem Pianisten Pablo – emotional, ohne banal zu sein, Held oder Niels Klein. Wie Burgvirtuos, ohne den Jazzklassiker winkel sind auch sie Musiker der technisch zu exekutieren. Die StimKölner Szene und Alumni der Mumung wendet sich ins Helle, die Jonas Burgwinkel ist sikhochschule. »Wenn ich im AusDynamik wird breiter, um am in der Kölner Jazzszene land spiele, werde ich oft als Berliner Schluss erneut beim Thema zu zu Hause angekündigt«, sagt Burgwinkel. landen, das Niels Klein und der »Deshalb hat er vor zwei Jahren das Trompeter Claus Stötter aber nur noch als Skizze Jazzkollektiv KLAENG gegründet, um den Fokus umreißen. »Don’t Explain ist eines meiner Lieblings- auf die Szene in Köln zu richten und auf die große stücke«, bekennt der 30-jährige Schlagzeuger. Jazzgeschichte der Stadt zu verweisen, in deren TraJonas Burgwinkel ist der deutsche Jazzmusiker der dition sich auch Burgwinkel und Co. sehen. Stunde, Absolvent der Kölner Musikhochschule, KLAENG hat sich zum Ziel gesetzt, die Zirkel der

VON MARTIN LAURENTIUS

Eingeweihten aufzubrechen, in der eigenen Stadt eine Plattform zu schaffen, um sich in einem weiteren Schritt mit Kollektiven anderer europäischer Metropolen zu vernetzen. Vier der sechs Musiker, mit denen Burgwinkel seine Debüt-CD Source Direct einspielte, gehören zum KLAENG-Kreis. Hinzugekommen sind der Trompeter Claus Stötter und der englische Saxofonist Julian Argüelles, um sich neuen Einflüssen zu öffnen. In den zehn Stücken des Albums stellt Burgwinkel eine Improvisationsmusik vor, die zeitgenössisch, variabel und variantenreich ist. Oft gräbt er sich in die amerikanische Jazzgeschichte, ohne jedoch die Perspektive eines jungen europäischen Musikers zu verlassen. Sein Jazz swingt wie Hölle, ohne die Moderne aus dem Blick zu verlieren. Und wenn am Ende der CD Björks Cocoon in der Version des Sextetts zur Hymne wird, öffnet Burgwinkel ein weiteres Fenster – hinein in einen wahrlich schillernden Kosmos aus Klang und Rhythmus. Jonas Burgwinkel: Source Direct (Traumton/Indigo)

Ein Inder in Amerika Weder schwarz noch weiß: Asiatische Musiker wie der Saxofonist Rudresh Mahanthappa eröffnen dem Jazz neue kreative Potenziale VON STEFAN HENTZ

A

ls Rudresh Mahanthappa anfing zu thappa zunächst mehr für die Melodik und studieren, machte er eine neue Er- die Techniken der ornamentalen Ausschmüfahrung. Zum ersten Mal kam er in ckung der Melodien interessierte. Mittlerweieine Stadt mit einem nennenswer- le haben sie in ihrem Zusammenspiel eine ten afroamerikanischen Bevölkerungsanteil Plattform gefunden, auf der sie sich unbeund erlebte den kleinen Unterschied der Haut- fangen dem mächtigen Erbe nähern. Vorsicht farbe und seine großen Folgen. Er sah, dass er ist geboten, denn frühere Versuche einer Verselbst nicht dazugehörte, denn seine Haut war knüpfung von Jazz und indischer Musik braun – weder schwarz noch weiß. Damit durch John Handy beispielsweise oder das tauchten die Fragen nach seiner ethnischen Mahavishnu Orchestra finden vor ihrem UrIdentität auf, nach Zugehörigkeit und Fremd- teil keine Gnade: Die seien oberflächlich exoheit, nach Mischungsverhältnissen im kultu- tisch und letztlich unbefriedigend. »Mein Zurellen Erbe, die immer auch Antriebsfedern in gang zu dieser Verknüpfung ist ein ganz andeder Entwicklung des Jazz sind. Für Mahan- rer«, erklärt Mahanthappa. »Es geht nicht thappa gab es keine Vorbilder, die Antworten darum, dass ich mich für indische Musik intevorformuliert hatten. Indoamerikaner, Immi- ressiere, es geht darum, dass ich indisch bin, granten aus Indien und Südasien, waren ein indisch und amerikanisch, und gleichzeitig neues Phänemen, erst eine Änderung der Im- keins von beidem.« Gerade Mahanthappa hat in den letzten migrationsbestimmungen in den sechziger Jahren hatte ihnen die Türen geöffnet und eine Jahren Maßstäbe gesetzt in der Verbindung Einwanderungswelle ausgelöst. Mittlerweile von Jazz und klassischer indischer Musik. In sind die Kinder der südasiatischen Immigran- Madras suchte er den Saxofonisten Kadri Gopalnath auf, der die komten erwachsen und auch in der plexen Intonations- und OrJazzszene zu einer sichtbaren namentierungstechniken der Größe geworden. Mit zunehsüdindischen Musik auf sein mender Intensität speisen sie Instrument übertragen hat ihr kulturelles Erbe in den und mittlerweile als MeisterMaterialfundus des Jazz ein. musiker gilt. Mit einem JazzRudresh Mahanthappa quartett und Gopalnaths wurde 1971 in Triest geboDakshina Ensemble nahm er ren. Er ist Sohn indischer Eldanach ein Album auf, das die tern, die schon in den fünfziger Jahren dem Ruf der Wis- Rudresh Ma han thap pa ist Ragaskalen und die zirkulären senschaft in die Vereinigten Sohn indischer Eltern und Rhythmisierungen der karnatischen Talas in einen im Jazz Staaten gefolgt waren. Auf- wuchs in den USA auf beheimateten Improvisationsgewachsen ist er in der Uniprozess glanzvoll einbindet. versitätsstadt Boulder, ColoAuf Samdhi, seinem neuesten Album, rado, am Fuße der Rockies, dort, wo Amerika sehr weiß ist, wo man als Kind indischstäm- bringt Mahanthappa nun die Spannung zwimiger Wissenschaftlern zwar Erfahrungen schen dem elektrischen Sound des R&B seimit rassistischer Nachrede sammelt, aber ner Jugend und Ideen aus der klassischen nicht wie in den großen Städten mit den Pa- indischen Musik zum Leuchten. Man hört rallelgesellschaften, die sich entlang der Mahanthappas volltönendes Altsaxofon, wie Hautfarben sortieren. »Ich habe versucht, es über einem Bordun sanft durch die Oktaweiß zu sein«, sagt der Saxofonist, »und habe ven gleitet wie durch ein Wasserbassin, in mich meistens selbst für einen Weißen ge- dem alle Bewegung leicht gedämpft wird. halten.« Indien war für ihn auf die religiösen Mit Veränderungen seines Lippenansatzes Rituale der Eltern, praktizierender Hindus, umspielt er die Tonhöhen und treibt in geschrumpft und das indische Essen, das den schwebenden Bewegungen weit weg von der familiären Speiseplan prägte. Kultur war die Intervallik der westlichen Musikkultur. westliche, Theater, Sinfonieorchester, Dann explodiert die Musik regelrecht. Man manchmal auch Jazz. Als in der Schule eine vernimmt ein vertrackt zirkuläres Thema, Big Band gegründet wurde, wählte Rudresh nervös und mit kantiger Virtuosität vorgedas Saxofon, sein Lehrer brachte ihm Musik tragen, während ein funky Puls die Bewezum Hören mit, eine weite Palette, wildes gungsenergie hoch hält. »Jede einzelne Melodie basiert auf der Zeug – Sidney Bechet und Ornette Coleman, Frank Zappa. Ein Doppelalbum von Charlie Tonfolge eines speziellen Raga«, erklärt MaParker besorgte den Rest: Mahanthappa hör- hanthappa den komplizierten Bauplan seiner te die Solos ab, übte, und irgendwann war er Stücke, »jede Taktfolge auf einem südindiein richtig guter Jazzsaxofonist, feurig und schen Akzentzyklus oder Polyrhythmus.« virtuos, ungestüm und bei aller Leidenschaft Auch mit dem konsequent durchgehaltenen Wechsel von Solostücken über einem Bordun diszipliniert und formbewusst. Es folgte das Jazzstudium. Mahanthappa und anschließenden bewegten Ensemblestüsammelte Auszeichnungen und Stipendien cken knüpft er an Gepflogenheiten der klassiund dockte sich an die Szene um den Saxofo- schen indischen Musik an. Allerdings wirft nisten Steve Coleman und das Musikerkollek- Mahanthappa dem Ganzen ein sehr westtiv M-Base in New York an, die mit komple- liches Klangkostüm über, vorlaut, mitreißend, xen, sich immerzu wandelnden Taktmustern heiß, garniert nach allen Regeln der elektroarbeiteten und darin eine gewisse Verwandt- nischen Klangbearbeitung – ein wildes Hyschaft zur klassischen indischen Musik auf- brid. »Mit dieser Musik«, sagt Mahanthappa, wiesen. In diesem Umfeld traf er auch auf »spreche ich alle Facetten meiner Persönlichden Pianisten Vijay Iyer, der so etwas wie sein keit an: den Musiker, den an mathematischen musikalisches Spiegelbild ist. Die beiden sind Fragen interessierten Intellektuellen und meiim selben Jahr geboren und teilen als Kinder ne Herkunft. Sie drückt aus, was es bedeutet, indischer Einwohner die hybride Identität. ein Inder in Amerika zu sein.« Beide zögerten lange, bevor sie begannen, sich mit indischer Musik zu beschäftigen, beide Rudresh Ma hanthappa: Samdhi (ACT/edel) erlagen dann jedoch der Faszinationskraft Rudresh Ma hanthappa feat. Kadri dieser Musik, Iyer als Pianist eher von der Gopalnath & The Dakshina Ensemble: rhythmischen Seite her, während sich Mahan- Kinsmen (PI Recordings/AVI)

Fotos (Ausschnitte): Mark Duggan (o.); Stefanie Marcus/Traumton

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MUSIK alles treibe formlos umher, nur auf Wirkung und Klingelingeling bedacht. Dagegen hat Béla Bartók, der bedeutende ungarische Komponist, einmal apodiktisch (und gewiss patriotisch angehaucht) gesagt: »Ich glaube, dass die Bedeutung Liszts für die Weiterentwicklung der Musik größer ist als die Wagners.« Diesen Vergleich muss kein Mensch entscheiden, zumal Liszt und Wagner Wahlverwandte waren. Aber von Liszt geht ein Laserstrahl in die Zukunft, der sogar zu Claude Debussy, ja in die Atonalität weist. Man muss sich Liszts Akkorde anhören, wenn sie wie Granitsäulen prangen oder wie Zypressen im Wind lispeln; wenn sie den Flügel zum Ächzen bringen oder ihm das Gift der Delikatesse entlocken – das erahnt den Debussy der Préludes. Diese Liszt-Akkorde gelingen auf CD auch dem Kanadier Marc-André Hamelin, er lockt reichste Schattierungen aus dem Steinway. Wo in der gefürchteten h-moll-Sonate drei Akkorde nebeneinander stehen, gleicht bei Hamelin keiner dem anderen, obwohl sie einander so ähneln. Tatsächlich begreift man hier, dass der Klavierklang bei Liszt eine ganz neue Dimension gewinnt; was Berlioz (den Liszt sehr verehrte) für das Orchester bedeutete, das war Liszt für das Klavier. Zuweilen hat man das Gefühl, hier spreche nur noch die reine, vibrierende Luft. Wer hier als Pianist eine nicht so exquisite Anschlagskultur wie Hamelin besitzt, sollte besser Tanzmusik machen. Liszt hatte zeitlebens große und größte Ideen, darin ähnelte er seinem Schwiegersohn Wagner (Liszt starb 1886 justament bei den Bayreuther Festspielen). Wie Wagner war er sensibel und leicht zu enttäuschen. Als enthusiastischer Hofkapellmeister in Weimar (von 1848 an) kümmerte sich Liszt um neue Musik – bis ihn das wenig kunstsinnige Publikum dort dermaßen verdross, dass er fast weltverloren umhergeisterte, 1865 die niederen Weihen annahm und im Gewand eines Abbé die Erneuerung der Kirchenmusik vorantrieb. Zu dieser Zeit hatte er wichtigste Teile seiner Klaviermusik schon komponiert – neben den klirrenden, schiere Poesie flüsternden, nachtschwarz-spukhaften Etüden vor allem die Schweiz- und Italien-Bände der Années de pèlerinage. Der Komponist auf Pilgerreise – das beschreibt die reizvolle Mixtur aus romantisch umwittertem Exhibitionismus (im Sinne Lord Byrons) und einer anbetenden Demutshaltung. Michael Korstick, der große deutsche Donnergott des Klaviers, der Nuancen nicht verschmäht, spielte jetzt den dritten Band der Années de pèlerinage ein und abermals weiß man nicht, was man mehr bestaunen soll: die aus dem Nichts zuschlagende Härte von Korsticks Oktaven, die fast impressionistische Illusion eines völlig gleichmäßigen Wellengangs oder die mönchisch geordnete Prozession von Akkorden. Korstick glücken sogar in dem notorisch unterschätzten Sursum Corda zauberhafte Momente einer Poesie, die auf das Titanische nicht verzichtet. Traditionelle Strukturen und Formverläufe sind bei Liszt stets vom Regelkreis abgetrennt. Er erfindet eigenwillige episodische Prozesse; Sonaten sind keine Sonaten, sondern freigängige Erkundungen der Veränderung im Konstanten. Ihn interessierte, wie sich ein musikalisches Thema beugen, verwandeln, transformieren ließ. Bei dem Russen Kirill Gerstein frappiert in der h-moll-Sonate eine fabelhafte gestalterische Übersicht – er lässt uns spüren, wohin sich Motive und

Ein Laserstrahl in die Zukunft Pünktlich zum 200. Geburtstag entdeckt eine junge Pianistengeneration den Komponisten Franz Liszt auf faszinierende Weise neu VON WOLFRAM GOERTZ

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Themen entwickeln. Zugleich begeistert die Sonorität des Anschlags, die jedes Fortissimo vor Brutalität bewahrt. Manches gerät Gerstein sogar witzig, obwohl Witz als Liszt-Kategorie bislang nicht oder nur als unfreiwilliger Nebeneffekt vorgesehen ist: Die trappelnde Fuge der h-moll-Sonate spielt er fast in Richtung Glenn Gould, als habe er ein Cembalo vor sich. So scheint das Liszt-Jahr 2011 tatsächlich ein trefflicher Auslöser für einen Paradigmenwechsel zu sein – die jüngere Pianistengeneration übt sich merklich in einer gewissen Vorsicht, wenn es um die vermeintliche Brillanzschleuder Liszt geht. Trotzdem blendet sie das große Kino nicht aus. Khatia Buniatishvili findet auf ihrer Liszt-Platte einen vielversprechenden Zugang zu den Atemlosigkeiten der h-mollSonate und taucht andererseits das mirakulöse La lugubre gondola in ein Dämmerlicht, aus dem stille Sensationen überhell hervorleuchten. Eine ähnliche Verdichtung von Delikatesse und Trennschärfe gelingt Lise de la Salle in den kühnen Nuages gris; sie weiß auch in ihrer Darbietung der Dante-Sonate aufregend viel mit den merkwürdig offenen Tritonus-Gebilden des Beginns anzufangen. Die löst Liszt eben nicht korrekt zu runden Harmonien auf, sondern lässt sie wie wehende Gespenster im Klang hängen, auf dass sie noch das 20. Jahrhundert erschrecken. Geheimer Höhepunkt von Lise de la Salles bemerkenswerter Platte: die Beerdigungs-Unerbittlichkeit der Funérailles. Wie man Liszt auf beispielhafte Weise die Kühnheit lässt und sie trotzdem mit einem humanen Antlitz versieht, zeigt der junge Deutsche Joseph Moog in seiner Aufnahme der h-mollBallade: Sie ist mitunter torpedohaft schnell, aber nicht affig, nicht abgebrüht. Ähnlich hell und bedeutend gelingen dem ähnlich jungen Alexander Krichel die drei Petrarca-Sonette, die Liszt als Sänger, Rezitator und Visionär ausweisen. Tatsächlich ist der Poet Liszt nicht von dem Diener Liszt zu trennen, der sich mit opfervoller Lust auf fremde Vorlagen stürzte und ihnen per Paraphrase und Transkription eine subjektive Kenntlichkeit zweiter Hand andichtete. Was soll man von einer 4-CDBox halten, die fünf Mal dasselbe Stück bietet? Produktionsirrtum? Kompensation wegen Materialmangels? Oder Methode? Auf vier CDs begegnen wir der aufregenden Art und Weise, wie der legendäre Wladimir Horowitz Klavierwerke Liszts spielte. Wie er sie sich aneignete und unterwarf, gelegentlich auch frisierte, wie er prasselnde Läufe als Konfetti in die Luft warf, Oktaven schier maschinell in die Klaviatur stanzte, wie er das Klavier gleichzeitig zur Parfümfabrik und zur Geisterbahn umfunktionierte. Bannender, furioser, elementarer, wahnwitziger hat das kein Pianist je gespielt. Diese Box, die alle relevanten Werke Liszts mindestens einmal abbildet, umgreift verschiedene Phasen der Horowitz-Klavierkunst, bietet live und Studio – insgesamt spannt sich der Bogen über 69 Jahre. Und in jeder Ecke wartet schon jene Valse oubliée No. 1 auf uns. Jedes Mal klingt sie anders. Stets überwältigend. Und immer nach Liszt. Abb.: Miklós Barabás «Porträt Franz Liszt», Öl auf

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ie müssen dieses bedrohlich virtuose Zeug nicht spielen. Niemand zwingt sie dazu, die Kandidaten wollen es selbst. Ihre innere Stimme, mehr noch rituelle Zwänge befehlen ihnen offenbar zu zeigen, dass keiner sie in die Knie zwingt, auch nicht dieser mephistophelische Typ aus dem 19. Jahrhundert. Schon damals hat er für kollektive Ohnmacht gesorgt, jetzt sorgt er regelmäßig für den Nervenkitzel in einer Arena, wenn sein Name auf dem Programmzettel steht. In Klavierwettbewerben gilt Franz Liszt als eine der finalen Hürden. Wer seine Musik bewältigt, darf den puren Horror der Pianistik vorführen und muss auf Inhaltstiefe nicht verzichten. Trotzdem scheint diese Musik hier vor allem Zirkus, Hochseilartistik ohne Netz, Vabanque zu sein. Junge Olympioniken wollen zeigen, was sie können, und dazu scheint Liszt, der Erfinder der pianistischen Extremsportarten, nachgerade ideal. Der Internationale Musikwettbewerb Köln wuchtete in den vergangenen Tagen ein ganzes Liszt-Gebirge in die Musikhochschule: mehrfach die h-moll-Sonate, die DanteSonate, einige Etüden, Balladen, kleinere Werke. Schier unverwüstlich: der Mephisto-Walzer. Man hörte Liszt aus Südkorea, China, Russland, Belgien, Japan, Chile, Polen, Deutschland; er wurde interkontinental zum Kreiseln und Taumeln gebracht. Und immer dachte man als Hörer: Ja, Liszt, der alte Erfolgs- und Effektfischer! Um den Komponisten Franz Liszt (1811 bis 1886) hat sich, seit er das 19. Jahrhundert in Aufruhr brachte, im Lauf der Zeit eine Dornenhecke gerankt, die immer dichter, immer abweisender wurde. Von der Hecke scheint bis heute eine seltsame Warnung auszugehen: Hier gibt es doch wohl nichts zu finden, hier droht nur Verletzung. In der Tat: Ist Liszts Musik nicht oft dürftig, hohles Gebimmel, eine Art Selbstbefriedigung eines großen Pianisten, der den bestaunten Geiger Niccolò Paganini an schauerlicher Virtuosität übertreffen wollte? Ist andererseits diese Musik nicht eine Heimsuchung der Anatomie, ein Hohngelächter auf die begrenzte Bewegungsfähigkeit von Fingern, Gelenken, Muskeln? Wer Liszt übt, steht vor absurden Aufgaben, die oft in Schrei- und Muskelkrämpfe, Sehnenscheidenentzündungen und Ärgeres münden. Gelegentlich gelingt es großen Pianisten aber, die Dornenhecke zu durchschreiten und zum wahrhaft bedeutenden, tiefsinnigen Geheimnis Franz Liszts vorzudringen und all jene Klischees Lügen zu strafen. Dies glückte neulich dem russischen Pianisten Jewgenij Kissin in der Düsseldorfer Tonhalle. Er spielte einen ganzen Abend lang ausschließlich Liszt. Ein Vorgang von maximaler Bekenntnistiefe. Zunächst atmete der Saal jene Nervosität, die auch damals in Paris geherrscht haben soll, wenn Liszt auftrat. Der blutjunge Ungar, der es wegen seines epochalen Talents über Wien nach Frankreich gebracht hatte, riss die jungen Damen hin, wurde von ihren Vätern aber zugleich missgünstig behandelt. Liszt war der Sohn kleiner Leute. Dabei hat sich Liszt nie aufgespielt: Schon der junge Mann soll, anders als die Mär sagt, bescheiden gewesen sein – und hochherzig. Armen gab er Klavierunterricht, ohne Geld zu verlangen. Nur wenn er Klavier spielte, verwandelte sich der Junge in einen Hexer. Das Interesse Kissins, dieses zurückhaltenden, nicht von Pfauenfedern kostümierten Musikers, galt der aufrechten, ritterlichen 1 : 1-Begegnung mit einer Zentralgestalt der Musik. Er spielte zunächst erlaucht, gepflegt, diskret, doch nicht onkelhaft. In der Etüde Ricordanza suchte Kissin nach der Atmosphäre der Musik, nicht nach dem Kitzel ihrer materiellen Gestalt. In der Tat liegt das Geheimnis der Musik Liszts nicht in dem, was sie konkret in die Tasten wuchtet, sondern in ihren Ahnungen. Dass Liszt in vielen Momenten das Klavier einstimmig spielen lässt, als singe es ein Rezitativ in einer Oper ohne Worte, machte Kissin wunderbar klar. Er ließ sich Zeit; er stauchte solche Momente nicht zusammen, als seien sie lästige Mautstationen auf der Reise durch eine brillante Welt. Kissin zeigte uns, dass Liszts tönende Dämonie die Kehrseite tönender Einsamkeit ist, die in der Stille entsteht und wie soeben erfunden klingt. Dieser improvisatorische Geist wurde Liszt später von Gegnern wie dem Musikkritiker Eduard Hanslick immer wieder vorgeworfen: Der Mann habe ja keinen klaren Gedanken fassen können,

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

Franz Liszt wurde am 22. Oktober 1811 in Ungarn geboren. Er war der berühmteste Klaviervirtuose des 19. Jahrhunderts und ein Komponist, der avantgardistischer schrieb, als viele glauben

Marc-André Hamelin: Liszt (Hyperion CDA67760) Alexander Krichel: Insights (Telos CD TLS 129) Khatia Buniatishvili: Franz Liszt (Sony 8869 7766042) Kirill Gerstein: Liszt, Schumann u. a. (Myrios MYR 005) Lise de la Salle: Liszt (Naïve CD V 5267) Michael Korstick: Années de pèlerinage (CPO 777663-2) Wladimir Horowitz spielt Liszt (Sony 8869 7839852)

70 6. Oktober 2011

MUSIK

DIE ZEIT No 41

Der Glanz der alten Tage

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op hat den Glauben an die Zukunft verloren. Es ist längst nicht mehr die Frage, ob die Vergangenheit recycelt wird, sondern nur noch, wie. Die Sängerin Lana Del Rey hat sich dafür ein besonders reizvolles Konzept ausgedacht: »Gangsta Nancy Sinatra« nennt sie sich ironisch und verbindet den Girl-Pop der Sechziger mit der dunklen Attitüde des Hip-Hop. Nicht allein die Musik steht dabei im Vordergrund, sondern das Gesamtkunstwerk eines All American Popstars, die Stilisierung eines Lebens zwischen Hollywood und Trailerpark. Lana Del Reys Songs klingen wie melodiesatte Klassiker, die kontroverse Inszenierung ihrer Person als »Rich Daddy’s Girl« und ehemalige Trailerpark-Bewohnerin wirkt dagegen fast drastisch: Vom ersten Vorschuss ihrer neuen euen Plattenfirma hat sie sich die Lippen aufspritzen tzen lassen, eine Tatsache, die im Internet seit Monaten lebhaft diskutie diskutiert ert wird. Auf der er Seite des österreichischen Rundfunks dfunks ORF findet sich eine besonders Thenders gewagte Th hese: »Der Verdacht sogar dacht liegt soga garr nahe, das Gesicht absichtcht wurde absi ich chttlich »verspritzt«« – um den »dirty »dirrty »d look« des gefallenen Mädchens, enen Mädc dche hens ns, das sich trotz aller Schic Schicksalsicks ksal alssschläge nicht unterkriegen unterkkri rieg egen en lässt, noch zu verstärken.« erstärkeen. n « Wo die Realität in Fiktio Fiktion überon üb über er-geht – bei Lana Del Rey Rey ist ist das das eine Frage der Sicht Sichtweise. twe w is ise. e. Fast täglich pos postet ste tet di diee 24-Jährige auf Faceuf F acebook. Ein ganzes zes es JJahr ahrr ah ihrer noch jungen ungen Karriere lässt sich ch so zurückverfolgen: Zuerst jubelten die Blogs, dann diee wichtigen Mu-sikseiten, und schließlich auch h seriöse Tageszeiitungen wie Guaruardian und Observer. rver. Mithilfe des Soziaozialen Netzwerks gelingt es der Künstünstlerin, ihr eigenes genes Image zu definieren, nieren, ehe die klassischen sischen Medien ihr zuvorkommen: Einee raffinierte Mischung ung aus Hochkultur und nd Trash breitet sich so vor dem Betrachter aus; us; eine Welt der Bilderr und Andeutungen, glamourös und todtraurig zugleich. Die Frage, ob das echt ist oder die Umsetzung eines genialen Marketing-Konzepts, onzepts, bleibt vorerst unbeantwortet. Doch egal, wie die Antwort ausfällt llt – die Sängerin ist immerhin mmerhin seit anderthalb lb Jahren beim Musikkonzern nzern Universal unter Vertrag rtrag – Lana Del Rey giltt vielen als Newcomerin des Jahres. Ihre Debüt-Single Video Games,

die an diesem Wochenende offiziell erscheint, erhielt innerhalb eines Monats bei YouTube weit mehr als eine Million Klicks. »I heard that you like the bad girls Honey, is that true?«, gurrt die Sängerin mit einer Stimme zwischen Julie London und Nancy Sinatra zur hemmungslos bombastischen, aber auch tief berührenden Musik. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Ende einer Liebe und dem Ende der Welt – so lautet die melodramatische Botschaft des Songs, der problemlos im Abspann eines Douglas-Sirk-Films laufen könnte. Lana Del Rey treibt ein elegantes Spiel mit der »Größer als das Leben«-Haltung des alten Hollywood. Wenn sie einen Jazz-Song singt, dann klingt das Klirren der Eiswürfel im Whiskey-Tumbler immer mit. Bereits mit 17 war Lana Del Rey eine frühreife Sängerin und Songwriterin – nun möchte sie in der Lady-Gaga-Arena reüssieren. »Früher habe ich Gitarre gespielt und dazu gesungen, in kleinen kleiinen Clubs in Brooklyn und der Lower Eastside. Seit ich meine Nägel habe, geht das nicht mehr so gut.« Wie zum Beweis hebt Lana Del Rey ihre Hände über den Tisch und un nd präsentiert die langen türkisund u d perlmuttfarbenen lackierten un Fingernägel Finggernägel mit den winzigen Glitzer-Applikationen. Gllit i zer-Applikationen. Auf der Rechten thront ein mit Strass besetzter »Schlagring« in Form eines Dollarzeichens. Lana Del Rey heißt in i Wirklichkeit Elisabeth »Lizzy« Grant, als Tochter eines erfolgreichen Unternehmers ist sie im idyllischen Wintersport-Ort Lake Placid aufgewachsen. Im Moment sitzt sie auf der Dachterrasse eines schicken New Yorker Privatund Clubs sieht aus, als käme sie direkt vom Set eines alten Elvis-Presley-Films. Die rotblonden Haare fallen in perfekten Kurven über die Schultern, die Wimpern sind lang und Mascara-schwarz, selbst die umstrittenen Lippen wirken einfach nur ... voll. Weltgewandt bittet sie den Kellner um ein paar Oliven zu ihrem Drink und zündet sich dann so selbstverständlich eine Zigarette an, als sei sie die junge Lana Turner und es gäbe in New York kein Rauchverbot. Nein, dies ist kein normales

Die besten Musiker Frankreichs haben eine grandiose Gesamtaufnahme mit der Kammermusik von Gabriel Fauré vorgelegt VON VOLKER HAGEDORN

VON JÜRGEN ZIEMER

Interview, eher die Inszenierung eines Rendezvous mit einem Hollywoodstar. »Ich habe das alles nicht geplant, es gibt keinen Masterplan zu der überraschenden Resonanz auf YouTube«, behauptet sie. »Meine Videos habe ich schon immer selbst produziert, mit iMovie auf meinem Notebook. Niemand schaute sich das an. Als Video Games plötzlich 20 000 und mehr Klicks am Tag bekam, hat mich das enorm verunsichert und irritiert.« Das großartige Video zum Song ist ein sepiafarbener Traum, der an David Lynchs Tauchfahrten durch das Unterbewusstsein Amerikas erinnert: Teenager springen ausgelassen in einen Pool, Starlets stolpern betrunken kichernd über einen roten Teppich, die Lichter des alten Hollywood illuminieren eine scheinbar bessere Welt. Nur die amerikanische Fahne hängt seltsam erschöpft am Mast, rikan als wollte dieses Video sagen: Das Beste ist längst w vorbei, vorb und die meisten von uns haben es verpasst. »In » den fünfziger und sechziger Jahren war Pop so brandneu und leuchtend«, sagt Lana Del Rey. b Und weil auf der Musikanlage im Hintergrund gerade gera I’m On Fire läuft, ergänzt sie: »Bruce Springsteen war ebenfalls eine wunderbare Variation des Amerikanischen Traums. Doch inzwischen scheint Ame dieses diese Imperium vor seinem Ende zu stehen. Es gibt nicht mehr so viel Hoffnung und Optimismus. mus Die Popmusik reagiert darauf, indem sie die dunkle dunk Seite des Traums erkundet.« Lana Del Rey findet find diese dunkle Seite nicht unbedingt attraktiv, auch wenn sie den Rapper Tyler, The Creator mag und dessen suburbane Albtraum-Szenarien. Sie hängt häng zu sehr an den alten Glücksversprechen, ist eine konservative Romantikerin. Den an ein schweres, etwas zu süßes Parfüm erinnernden schw Künstlernamen hat sie sich zusammen mit ihrem Kün ersten erste Manager ausgedacht: »Lana Del Rey gibt eine Richtung vor und definiert meine Musik, seit ich mit m 19 bei einem kleinen New Yorker Independent Label unterschrieben habe.« Zusammen mit dem namhaften Produzenten David Kahne – ein Grammy-Preisträger, der vorher mit Paul McCartGram ney, Tony Bennett, Stevie Nicks und den Strokes zusammenarbeitete – entstand 2008 das Debüt zusa Lana Del Rey a.k.a. Lizzy Grant. Das D Album wirkt wie eine hochkarätige Fingerübung. übun Kill Kill, Yayo oder Gramma besitzen zwar noch die Niedlichkeit des Indie-Pop, doch schon hier werden die Pop-Mythen Amerikas beschworen, als sei es das letzte Mal. Brite Lites – ein überraschender House-Track – inszeniert die aggressive rasch Sehnsucht einer suburbanen Hausfrau nach einem Sehn Leben Lebe wie in den Magazinen, die beim Friseur ausliegen: liege »I’m taking off my wedding ring. Give me the bright brigh lights«. Doch nur drei Monate, nachdem es den Handel gekommen war, verschwand das Alin de bum wieder vom Markt. »Wir haben uns mit dem alten Label vertraglich darauf geeinigt, besser etwas Neues, Frisches zu beginnen«, sagt Ben Mawson, der Anwalt und Manager. Das neue Management und die neue PlattenfirD haben die Sängerin davon überzeugt, dass sie ma h genug Potenzial hat, um zukünftig in einer andegenu ren, viel größeren Liga zu spielen. Die nächsten Monate werden darüber entscheiden ob der Plan Mon aufgeht. Sicher ist: So tröstlich klang der Abschied aufg von der Ära des Wachstums nie. Sicher ist auch, dass die Reaktion der Facebook-Gemeinde auf die Ankündigung einer kurzen Welt-Tournee, die Ank Lana Del Rey im November auch nach Köln und Berlin führen wird, Anlass zu großen Erwartungen Berl gibt: »Ich versuche, Tickets zu bekommen, für jedes Konzert in Europa. Egal, wie weit ich reisen muss und wie lang es dauert«, schreibt ein junger mus Schweizer. Er wird schnell sein müssen. Ein für Schw Anfang Oktober angekündigtes Konzert in LonAnfa don war in 30 Minuten ausverkauft.

Zwischen Hollywood und Trailer-Park: Lana Del Rey

Fotos [M.]: Nicole Nordland (l.); Lebrecht Music Collection/Interfoto

Star im eigenen Film: Lana Del Rey gibt dem Pop die ganz große Pose zurück

Parfümfreier Charme

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dison bastelt am Phonographen, Ri- Renaud Capuçon und Michel Dalberto spielen chard Wagners Bayreuther Festspiele das genießend, aber mit der Intensität, die sind erst ein halbes Jahr alt, Frank- hinter dem Charme einen rätselhaften Drang reichs Dritte Republik erholt sich zü- freilegt. Der zeigt sich 40 Jahre später in der gig vom Sieg der Deutschen bei Sedan, und in Zweiten Violinsonate mit verblüffender OffenParis hat ein Komponist von 32 Jahren seinen heit. 1917 vollendet, reißt das Stück sofort ersten großen Erfolg. Mit der Uraufführung der weiten Raum auf, Metren werden so gegeneiA-Dur-Violinsonate im Januar 1877 hat sich nander verschoben, dass man kaum den Takt Gabriel Fauré »in die Riege der Meister einge- dazu schlagen könnte, und umso fassungsloser reiht«, das gibt ihm der große Camille Saint- genießt man die Idyllen in dieser Tektonik, Saëns schriftlich. Als Fauré 47 Jahre später sein neben deren subtiler Rhythmik die Strawinskys letztes Stück schreibt, hat der Erste Weltkrieg etwas hemdsärmelig wirkt. Dem grandiosen Plädoyer seines Bruders Europa umgepflügt und Arnold Schönberg die Musik von alten Regeln befreit und ihr neue stellt Gautier Capuçon die beiden späten, herverpasst. Außer Fauré, nun 79 Jahre alt, lebt ben Cellosonaten zur Seite, und gemeinsam und schreibt kein Komponist mehr, der so tief mit dem Pianisten Nicholas Angelich hauen sie uns im Klaviertrio d-Moll von 1923 ein Finale im 19. Jahrhundert begann. Ein Gestriger? Das wäre ein typisch deut- um die Ohren, das in besessenen Sechsachtelketten die Tonalität schneller scher Verdacht. Als man den verlässt, als man es begreift – alten, tauben Fauré an der Sorund in donnerndem D-Dur bonne mit einem nationalen endet wie ein sarkastischer Festakt ehrt, ist er eine nicht Schostakowitsch. nur von Schülern wie Maurice Da kann man sich jenen Ravel wahrhaft verehrte GröMann schon vorstellen, der, ße, einer, auf dessen neue Stükaum war er 1905 Direktor cke man noch immer gespannt des ehrwürdigen Pariser Conist. In ihm spiegelt sich jene servatoire geworden, den Lehrfranzösische Kontinuität, die plan so gründlich modernies in Deutschland nie gegeben sierte, dass die alte Garde ihn hat, eine in diversen Revoluals »Robespierre« beschimpfte. tionen eher gereifte als gebroNun durfte dort auch Musik chene Gesellschaft. Der Epovon Wagner studiert werden, chenknick als Kategorie der den Fauré verehrte, ohne selbst Kunst, der radikale Neustart in seinen Stücken wagnerisme als Geniebeweis ist da nicht so zu betreiben wie andere franwichtig. Besonders Fauré zeigt, zösische Komponisten. Näher dass es noch eine andere Ge- Gabriel Fauré – ein als Chromatik und sehrende schichte gibt als die, in der das Komponist zwischen 19. Vorhalte ist ihm eine terzen19. Jahrhundert brutal vom Jahrhundert und Moderne geprägte, mediterrane Harmo»Zeitalter der Extreme« abgenik. Immerhin kam Fauré am löst wird. Man erkennt in seiner Musik immer gleich Fuß der Pyrenäen zur Welt, unfern von Carcasden typisch parfümfreien Charme und die ge- sonne. Mit neun Jahren wurde der Begabte in bändigte Melancholie. Doch wie Fauré sich ein Pariser Musikinternat gesteckt und blieb entwickelte, das zeigt jetzt auf fünf CDs die dort elf Jahre. komplette Kammermusik für Streicher und Danach schlug er sich als Organist durch, als Klavier, das zentrale Genre dieses Komponis- Komponist fiel er erst mit der A-Dur-Violinsonaten. Es spielen französische Interpreten der ers- te auf, bis heute sein meistgespieltes Werk neben ten Liga: Die Brüder Renaud (Geige) und Gau- dem Requiem. Danach verlobte er sich mit einer tier Capuçon (Cello); die Pianisten Michel Tochter der Starsängerin Pauline Viardot – doch Dalberto und Nicholas Angelich, der Bratscher die ließ ihn sitzen. Er soll ihr zu leidenschaftlich Gérard Caussée und das Quatuor Ébène. Letz- gewesen sein. Das kann, wer will, dem ersten Satz teres lässt mit dem einzigen Streichquartett des seines Klavierquartetts c-Moll anhören: Tief geKomponisten hören, was der alte Mann noch troffen von der Trennung, unterbrach Fauré die kurz vor seinem Tod riskiert: Wie der Beginn Komposition für zwei Jahre. Die Capucons, einer spannungsvollen Zwölftonreihe tasten Bratscher Gérard Caussée und Pianist Michel sich da Bratschentöne ins Leere. Das Cello deu- Dalberto spielen das Allegro drängend und lassen tet dazu eine Art frühbarockes Bicinium an – nach dämonisch witzigem Scherzo das Adagio in und dann schwebt von oben eine Geige mit so eine Depression fallen, aus der einen das Finale anmutiger Eleganz herein, als wisse sie von Ab- nicht befreit. gründen nichts. Oder so viel wie ein DrachenAls sich Gabriel Fauré, längst eine Größe, flieger: Man stößt sich ab und segelt sanft über 1903 an ein Klavierquintett setzte, spürte er die Landschaft. Tonale Anhaltspunkte tauchen erste Anzeichen seiner Gehörerkrankung, die da nur am Rande auf, wie Dörfer am Horizont. beim nächsten Klavierquintett weit fortgeDass das Gewebe der Stimmen höchst an- schritten war. Doch wer beide Werke verspruchsvoll geknüpft ist, bemerkt der Hörer gleicht, stößt auch hier wieder auf ein Spätkaum, so anstrengungslos entwickelt sich die werk, das eher noch spannender und dringMusik. Motivische Arbeit betreibt der geschul- licher ist, ohne auf bewährte »Markenzeichen« te Kontrapunktiker Fauré durchaus, er führt sie wie die chorisch singenden Streicher über Klanur nicht vor, sie dient ihm als Bindemittel. vierakkorden zu verzichten. Vielleicht hat ihn Wer von hier zurück ins Jahr 1877 springt, auch seine Ertaubung davor bewahrt, es sich in erkennt den Komponisten wieder, obwohl sei- Amt und Würden und Stilreife bequem zu ne Erste Violinsonate formal den Erwartungen machen. Dass der späte Fauré der kühnere ist, jener Zeit entspricht. Aber in der Harmonik passt schlecht in unser Bild vom Vertreter einer lauern Rückungen, die nicht so einfach be- versunkenen Epoche. Gut, dass diese Aufnahgründbar sind und einen leicht ins Schweben men es revidieren. bringen. Saint-Saëns schrieb nach der Uraufführung, der »besondere Charme« führe dazu, Gabriel Fauré: »dass das gewöhnliche Publikum die Kühn- Complete Chamber Music for Strings and Piano heiten als etwas ganz Natürliches empfindet«. (5 CDs, Virgin/EMI Classics)

MUSIK

DIE ZEIT No 41

Die norwegische Band Katzenjammer beherrscht 30 Instrumente und rückt allem Phallischen mit dem Beil zu Leibe

Der türkische Pianist Fazil Say spielt auf seiner neuen CD Mussorgskys »Bilder eine Ausstellung«

Foto: Bryce Ward

Foto (Ausschnitt): Bernd Thissen/picture-alliance/dpa

Dem Hörer stockt der Atem, wenn das großartige Quatuor Ebène Mozarts »Dissonanzen-Quartett« spielt

Foto (Ausschnitt): Andreas Ulvo

Foto (Ausschnitt): Erik Weiss

Das norwegische Jazztrio Humcrush hat sich vom gepflegten Geschichtenerzählen verabschiedet

Foto: Julien Mignot/Virgin Classics

72 6. Oktober 2011

Spank Rock aus Baltimore peitscht seinen wilden Musikmix wie eine Droge durchs Gehirn

Die Katzen jammern

Kraft der Urlaute

Bildhauer am Klavier

Dunkler Mozart

Wille zur Party

Country-Balladen. Gefällt mir. FreibeuterHymnen. Gefällt mir auch. Zirkus-Lieder. Gefällt sowieso. Beach Boys, B-52s, Balkan. Gefällt, gefällt, gefällt. Klick, Klick, Klick: Katzenjammer, so scheint es, spielen den Soundtrack zu einer Session im Sozialen Netzwerk. Dort ist der nächste Song aus einem neuen Genre stets nur eine Freundesempfehlung entfernt, auf A Kiss Before You Go, dem zweiten Album der Norwegerinnen, immerhin noch zwei oder drei Takte. Das Paradoxe: Diesen vier Frauen gelingt es, mit dem Tempo moderner Kommunikationsmittel mitzuhalten, ohne sich allzu aktueller Methoden der Klangerzeugung zu bedienen. Statt mit Breakbeats und Auto-Tune unterlegen sie ihre mitreißenden, mehrstimmigen Melodien mit Gitarre und Klavier, Ukulele und Mundharmonika, Banjo oder Akkordeon. Für neue Songs wird neues Instrumentarium erlernt, auf der Bühne wechseln Anne Marit Bergheim, Marianne Sveen, Solveig Heilo und Turid Jørgensen ständig die Aufgabenbereiche. Mehr als 30 Instrumente sollen sie beherrschen, Sampler und Computer aber sind nicht darunter. Strukturell findet das Sampling trotzdem statt. Katzenjammer stellen im schnellen Wechsel die Stimmungen aus billigen Horrorstreifen, verwehten Western oder launigen Piratenfilmen mit ironischem Abstand nach. In einem gewaltigen Spagat bedienen sie die Sehnsucht nach Authentizität, zugleich aber auch das chronische Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, das im Rhythmus des Internets vibriert. Da ist auch der Feminismus nur einen Klick entfernt. Solange die Tatsache, dass hier vier Frauen zusammen Musik machen, ignoriert wird, akzeptieren Katzenjammer die scheinbare Normalität. Sobald sie aber gefragt werden, beklagen sie die immer noch patriarchalen Strukturen im Musikgeschäft. Vor diesem Hintergrund verwandeln sich die Lieder. Aus der Single I Will Dance, einem vordergründig fröhlichen Song über einen traurigen Abschied, wird ein Lied über eine Frau, die sich von einem Mann befreit. Die männlichen Karikaturen im dazugehörigen Videoclip reißen sich Nasenhaare aus und tragen peinliche Vokuhila-Frisuren, während die Frauen mit dem Hackebeil stellvertretend für den Phallus einer Zucchini zu Leibe rücken. Das wird dann doch nicht jedem gefallen, aber: Wer’s merkt, hat längst begeistert mitgesungen. THOMAS WINKLER

Sie grummelt, stöhnt, gibt Laut. Richtige Wörter und Sätze mit Sinn und Syntax nutzt die norwegische Ausnahmesängerin Sidsel Endresen kaum noch. Das hat sie lange genug getan, auf Soloalben, die etwa So I Write heißen, oder wenn sie an der Seite von Bugge Wesseltoft einem Oldie wie Paul Simons 50 Ways to Leave Your Lover das Sentimentale austrieb. Seit Jahren hat sich Sidsel Endresen von der Last des Sinnstiftens, von gepflegtem storytelling gelöst. Ihre Sprachschöpfungen knüpfen an eine Urwelt der Laute an, an wenig erforschte Gesetze von Einkehr und Ekstase. Und so wirken Endresens Eruptionen und Soundforschungen merkwürdig archaisch. Wer weiß, inwieweit sie unbewusst Gesangstechniken übernimmt, die bei fernen Ethnien zu den Ritualen zwischen Leben und Tod zählen! Jazztugenden from a whisper to a cry realisiert sie allemal mit uralter nordischer Intensität. Die beiden Musiker an ihrer Seite sind das ideale Pendant. Als Humcrush haben der Trommler Thomas Strønen und der Keyboarder Ståle Storløkken schon mehrfach Unverbrauchtes aus der Fusion-Ära (einen Hauch von Joe Zawinul) mit seltsamen Sinnlichkeiten der E-Musik (einer Prise Arne Nordheim) sowie kaum definierbaren Quellen kombiniert, rhythmisch trickreich und sphärisch entrückt. Der elektroakustische Jazz der CD Ha! wirkt wie ein Destillat detailverliebter Studioarbeit, entstand aber, in einer einzigen Stunde wahrer Empfindungen, live in Willisau. Aus alten Jazzträumen, die sich selbstverliebt im Kreis drehen, wird bei Humcrush w/ Sidsel Endresen ungebremster Vorwärtsdrang. Das Unerhörte spielt eine Hauptrolle, und die Sicherheiten des guten Geschmacks helfen nicht weiter. Diese furiosen Unberechenbarkeiten werden zwar niemanden aus dem Diana-Krall-Fanclub überzeugen. Wer aber der Meinung ist, dass es im Jazz beim Singen vielleicht noch um andere Dinge gehen könnte als um gekonntes Wiederkäuen von Nostalgieveranstaltungen in memoriam Ella Fitzgerald im Hochglanzkostüm, wird diese Musik unter der Haut spüren, und sie wird kein Ruhekissen sein. Man kann eben auch mit Lauten jenseits der Sprache richtig spannende Geschichten erzählen. MICHAEL ENGELBRECHT

Als Fazil Say noch studierte, sollte er eine Freundin am Klavier in ihrer Prüfung begleiten. Doch die wollte nicht, weil sie befürchtete, komplett in dessen Schatten zu verschwinden. Schon als Student war der türkische Pianist eine Bühnenerscheinung, der alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Say ist ein Extremmusiker, bei dem man den Eindruck hat, 88 Tasten reichten ihm nicht, um all das auszudrücken, was er in der Musik entdeckt. Er grimassiert und singt, summt und röchelt, während er spielt. Am Ende, wenn er sich artig verbeugt, klebt sein Haar strähnig am Kopf, und den Hörer lässt er mit dem Gefühl zurück, gerade einem aufgewühlten Ozean entstiegen zu sein. Fazil Say ist der geborene Live-Musiker, denn im Konzert kann er besser Repertoiregrenzen spontan überschreiten, auf dem Steinway türkische Folklore verjazzen zum Beispiel. Im Aufnahmestudio relativiert sich diese musikalische Urgewalt naturgemäß. Trotzdem schafft es Say, das Temperament auch seinen CD-Produktionen einzubrennen Bei Mozart etwa, zu dem Say eine ganz eigene Beziehung hat. Den lässt er swingen, als säße der Komponist direkt neben ihm. Man kann Say für seine Exzentrik lieben oder hassen, gleichmütig lässt sie niemanden. Says neue CD heißt Pictures. Neben Sonaten von Sergeij Prokofjew und Leos Janácek hat er die Bilder einer Ausstellung von Modest Mussorgsky aufgenommen. Sie gehören zum Lieblingsrepertoire der Klaviervirtuosen, bieten sie doch technisch wie musikalisch dankbar viel kreativen Gestaltungsraum, Say beschäftigt sich seit 20 Jahren mit Mussorgsky, und noch immer rechtfertigt er sich im Beiheft dafür, die Gefühlswelt eines Russen nachzuvollziehen, obwohl er Türke ist. Say baut nicht einfach technisch brillant und sorglos Burgen, spaziert durch blühende Gärten oder lässt Hühnerfüße tanzen, das wäre von ihm auch nicht zu erwarten gewesen. Nachdem er einen fast asketischen Bogen über der Promenade gespannt hat, behaut er die Musik mit seiner Virtuosität wie einen rohen Stein. Schroff wie zart, drohend und lockend, übermütige Kanten meißelnd, dem Lyrischen nachspürend, sich den kontrastierenden Atmosphären hingebend. Ein Spaziergang durch eine Ausstellung ist das nicht. Say nimmt die Stücke von der Wand und in Besitz. Unbedingter und entschlossener ist unter den lebenden Pianisten womöglich nur Jevgenij Kissin mit Mussorgskys Bildern einer Ausstellung umgegangen. CAROLIN PIRICH

Vielleicht ist das Tragische schlechthin oder die Hölle bei Mozart doch nicht da zu verorten, wo sie öfter vermutet wird: also nicht im d-Moll von Don Giovannis Opernabgang, nicht im d-Moll vom Streichquartett KV 421 und nicht im d-Moll des Klavierkonzerts KV 466, sondern hier, in den ersten 22 Takten des C-Dur-Quartetts, KV 465 – im Andante cantabile des sogenannten Dissonanzen-Quartetts. Wobei das C-Dur zu Beginn gar kein C-Dur ist, sondern ein c-Moll, das sich gewissermaßen erst allmählich durchsucht und abklopft (um in Takt 19 fündig zu werden). Aber richtig eindeutig ist auch diese Stelle nicht. Mozart komponiert aus, wie ein harmonisches Ereignis durch langsame Bewegung entsteht, wobei die einzelnen Stimmen wie Detektive im Dunkeln schon einmal aneinandergeraten – über tastenden und dynamisch direkt die Nerven reizenden langsamen Achteln des Cellos. Es wird einem immer wieder die Luft knapp, wenn man hört, wie überlegen weit weg Mozart doch von der (musikalischen) Welt um ihn herum lebte, und sie bleibt einem vollends weg, wenn man vernimmt, wie die genialen französischen Musiker vom Quatuor Ebène seine Reisen vom Dunkeln ans Licht durchmessen. Dabei sind die angeschlagenen Tempi (auch im KV 421 sowie der Salzburger Sinfonie Nr. 3, KV 138) keineswegs rasant und überrumpelnd. Es ist viel Zeit da. Zeit, um ein wenig jenen Druck herauszunehmen, dem sich die Musiker bei Beethoven oder Bartók verpflichtet fühlen und der sie auszeichnet. Der Cellist Raphael Merlin nennt diesen Übergang vom eher perkussiven, bestimmenden Duktus zum Sichgehenlassen »das Finden der natürlichen Resonanz«. Man überantwortet sich Mozart auf höchstem technischen Experimentalniveau. Und siehe da: Selbst ein den Frühwerken zugerechnetes Stück wie das Divertimento in F-Dur des 15-jährigen Mozart hat, namentlich im Adagio, viel mehr Abgründe als geglaubt. Als hätte Mozart schon damals geahnt, worauf das alles hinausläuft mit der Liebe und der Leere, der Lust und dem Leid. Veredelter noch scheinen diese Töne gewordenen Antithesen im d-MollStreichquartett auf, wenn im zweiten Thema das durchgegrübelte Material mehr figurativ aufgefasst wird. Aber selbst im freien Spiel entzieht Mozart nie den ernsten Hintergrund. Wie von selbst wechselt die Beleuchtung in dieser Interpretation und wird auf ein kunstvoll gemischtes Licht umgestellt. Trotzdem ist alles wundersam klar. MIRKO WEBER

Die Zeit rast. Gegenwart überholt Zukunft und Geschichte sich selbst. Die Wende von morgen ist übermorgen eine von gestern, was die Halbwertszeit jedes Trends drastisch verringert. Es rappelt sozusagen unablässig im Karton des Zeitgeistes, und um darin nicht komplett durchzudrehen, helfen nur Sedativa, am besten gemischt mit Aufputschmitteln. So ähnlich wirkt auch der Musikmix des Künstlers, der sich Spank Rock nennt: Wie eine Wirkstoffkombination aus Uppern und Downern dockt er sich an die Rezeptoren an. Man empfindet nichts – und zugleich auf eine berauschende Weise alles Mögliche. Schon als Naeem Juwan, der Mensch hinter dem Kunstnamen, seiner Heimatstadt Baltimore eine Art technoiden Hip-Rock mit dem Plattentitel YoYoYoYoYo verschrieb, war das als lautmalerisches Manifest gegen den offenkundigen Niedergang der Stadt an der amerikanischen Ostküste gedacht. Party-Rap nannte sich die Welle zu Anfang, und als sie an Fahrt aufnahm, spülte sie Spank Rock von der Ostküste nach Europa, wo der amerikanische Sprechgesang mit elektronischen Mitteln erstmals tiefergelegt wurde. Fünf Jahre später geht der Nachfolger mit dem discoesken Titel Everything Is Boring And Everyone Is A F–ing Liar ein paar Schritte weiter. Irgendwo zwischen dem Punk von Peaches, der Power von M.I.A. und der Apathie eines Tricky peitscht Spank Rock seinen Electroclash wie eine neue Droge durchs Gehirn. Um Botschaften geht es dabei weniger, was sich mitteilt, ist der Wille zur Party. Selbst wenn zwischendurch von einem Race Riot die Rede ist oder der Titel # 1 Hit die Ausbeutung im Musikbiz anprangert – das neue Album macht einfach nur deutlicher, was schon zu Beginn mit dem Begriff »Dirty Rap« gemeint war: ein Gegengift zu ökonomischer und sozialer Aussichtslosigkeit. Wenn es schon sonst nicht zu feiern gibt, lass uns wenigstens tanzen! Stücke wie das breakbeatbefeuerte The Dance oder der kleinteilige Car Song klingen, als hätte eine Riege erlesener Starproduzenten sie im rappelvollen Kellerclub eins zu eins abgemischt. Die Atmosphäre entspricht so sehr dem fröhlichen Fatalismus des Techno, dass man sich immer wieder an die Neunziger erinnert fühlt. Doch diese Disco liegt im Krisengebiet. Hier treten alle Stile wie in einem grandiosen Finale gegeneinander an, weil alle Kompromisse faul wirken. JAN FREITAG

Fazil Say: Pictures (Naïve/Indigo)

Quatuor Ebène: Mozart Dissonances (Virgin)

Katzenjammer: A Kiss Before You Go (Vertigo Berlin/Universal)

Humcrush w/Sidsel Endresen: ha! Sidsel Endresen, Thomas Strønen, Ståle Storløkken (Rune Grammofon, www.runegrammofon.com)

Spank Rock: Everything Is Boring And Everyone Is A F–ing Liar (Boysnoize/Word and Sound)

REISEN

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

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Munchs Welt Die Kunsthalle Bremen zeigt eine große Ausstellung mit Werken von Edvard Munch. Sein »Schrei« ist weltberühmt. Bei einer Spurensuche in Oslo sind auch andere Seiten des norwegischen Künstlers zu entdecken VON SANDRA DANICKE

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Großes Foto: Das Wandgemälde im Café des Grand Hotel zeigt Edvard Munch in der zweiten Reihe, zu sehen links oberhalb des Lampenschirms Kleine Fotos: Der Hafen von Oslo und die Kantine des Schokoladenherstellers Freia mit Werken von Munch. Der Künstler (oben rechts) in seinem Atelier auf Gut Ekely 1943. Es ist das letzte Foto, das von ihm aufgenommen wurde

Fotos: Haakon Harris/Polaris/laif für DIE ZEIT (2); ddp (l. o.); Getty Images (r.) Abbildungen von Edward Munch Werken Freia Chocolate Factory und im Atelier: © The Munch Museum/The Munch-Ellingsen Group/ VG Bild-Kunst, Bonn 2011

as Kind hält sich die Ohren zu. Im Hintergrund liegt die tote Mutter, und das Mädchen, das sich abwendet, presst seine Hände an den Kopf, als könnte es damit die Welt aus seinem Bewusstsein verbannen. Edvard Munch war fünf Jahre alt, als seine Mutter an Tuberkulose starb. Neun Jahre später starb seine ältere Schwester Sophie. Laura, eine weitere Schwester, wurde depressiv. Das Kind und der Tod von 1899 ist nur eines in einer ganzen Reihe von Bildern, mit denen Munch die traumatischen Erfahrungen seiner Kindheit zu verarbeiten suchte. Dass das Gemälde ein Geheimnis barg, erwies sich erst nach mehr als hundert Jahren. Restauratoren der Kunsthalle Bremen untersuchten 2005 das Gemälde mit einem Röntgengerät und entdeckten dabei, dass sich unter der Leinwand eine zweite verbarg – mit einem unbekannten, geradezu gruseligen Werk. Es zeigt ein nacktes Mädchen, das mit schaurigen Männerfratzen konfrontiert wird. Der spektakuläre Fund ist Anlass für eine Ausstellung ab Mitte Oktober in der Kunsthalle Bremen. Warum Edvard Munch das Bild hinter einem anderen versteckt hat, bleibt jedoch rätselhaft, wie so vieles im Leben und Werk jenes Malers, der die Verzweiflung und das Dahingehen zu seinen Leitmotiven erkor. Wer war dieser Sonderling, der für seine düsteren Motive so sparsame Ausdrucksmittel fand, dass Zeitgenossen meinten, sie hätten es mit Entwürfen zu tun? Wo kommt einer her, der seinen Bildern Titel wie Melancholie, Angst, Trauer oder Verzweiflung gibt und von sich selbst sagt: »Die Lebensangst hat mich begleitet, solange ich mich erinnern kann«? Wer sich auf Munchs Spuren begeben will, muss nach Oslo reisen, hier hat der Künstler seine eindrücklichsten Erfahrungen gemacht. In jener Stadt, die damals Christiania hieß, hat er seine Kindheit verbracht, die ersten Bilder gemalt, erste Ausstellungen gehabt. Hier erlebte er eine Reihe unglücklicher Liebesbeziehungen. Und obwohl er seine größten Erfolge zunächst in Berlin hatte, waren es doch Oslo und sein Umland, wo er die letzten Jahrzehnte seines Lebens verbrachte. Munch war ein Jahr alt, als sein Vater 1864 von der Küste in die norwegische Hauptstadt zog, um eine Stelle als Militärarzt anzutreten. Man zog in die Nedre Slottsgate 9, damals wie heute eine unspektakuläre Straße im Zentrum. Hierher kommt man, wenn man sich die Dauerwellen auffrischen

lassen oder ein Paar bequeme Schuhe kaufen will. Das Haus der Munchs ist einem gesichtslosen Neubau gewichen, in dem ein Geschäft namens Kreativ Flora Orchideen und Erika offeriert. Auch die weiteren Wohnadressen der Familie kann man sich sparen. Nirgends stößt man auf geschichtsträchtige Fassaden, erläuternde Tafeln oder gar Besichtigungsmöglichkeiten. Es scheint, als mache man in Oslo wenig Aufhebens um Munch. Eine späte Bestätigung für den Künstler, der sich zu Lebzeiten von seinen Landsleuten verkannt fühlte. Statuen berühmter Bürger stehen in der Stadt überall herum, eine Munch-Büste findet man bloß auf dem Friedhof.

Neben dem Geldautomaten hängt ein goldgerahmtes Munch-Original Auf der Suche nach einem Supermarkt gelangen wir zufällig in die winzige Munch Gate. Dass man ausgerechnet eine zugige Gasse mit bedrückender Parkhausarchitektur nach ihm benannt hat, passt bei genauer Betrachtung ganz gut. Hier lässt sich das beklemmende Gefühl seiner Bilder intensiv erleben. Genauso wie im Paléet Shopping, einer Einkaufspassage auf der Hauptflaniermeile Karl Johans Gate. Eine edel gemeinte Architektur aus grauen Marmorwänden trübt die Stimmung. Zwischen einem Schreibwarenladen und einem Bankautomaten hängt eine gekritzelte Straßenansicht, die man im ersten Moment für BleistiftWerbung hält. Es ist ein Munch-Original im Goldrahmen, sehr ungünstig platziert. Der Herr, der gerade seine Girokarte in den Schlitz des Geldautomaten schiebt, blickt indigniert in unsere Richtung. Wahrscheinlich glaubt er, dass unsere Aufmerksamkeit seinem Pin-Code gilt. Wir gehen zurück auf die Karl Johans Gate, die gespenstisch leer wirkt – wie alle Straßen hier. Das mag daran liegen, dass Oslo nicht so dicht besiedelt ist wie andere Großstädte. Oder daran, dass es außer einer Skisprungschanze kaum Sehenswürdigkeiten für Besucher gibt. Den schönsten Anblick bietet die Stadt selbst, betrachtet vom Ekeberg, einem Hügel im Südosten. Hier kam Munch die Vision zu seinem berühmtesten Bild Der Schrei. Aus seiner Zeit geblieben sind einige mondäne Plüschlokale. Etwa das Café des Grand Hotel, das mit exotischer Tischdekoration auf antikem Stilmobiliar aufwartet. Hier traf sich Ende des 19. Jahrhunderts die Boheme von Christiania piekfein gestylt zu Wein, Bier und Härterem. Das jedenfalls suggeriert ein gigantisches Wandgemälde, auf dem

Per Krohg, Sohn von Munchs Lehrer Christian Krohg, die Intellektuellenszene der Stadt in Lebensgröße aufmarschieren lässt. Edvard Munch, hier als blasiert-blasser Schönling dargestellt, war Krohg bloß einen Platz in der zweiten Reihe hinter dem Kellner wert. Die realen Kellner sind derweil ein wenig genervt, weil wir, aufs Bild starrend, störend im Weg stehen. Henrik Ibsen sei der mit dem Zylinder, leiert eine Bedienung mit weißem Schürzchen herunter. Darf es vielleicht ein Cappuccino sein? Nein? Auf Wiedersehen. Prominenter erscheint Munch in der Bar des nahen Continental Hotel. Hier begrüßt das Abbild eines streng starrenden Mittdreißigers die Eintretenden. Vor ihm liegt bedeutungsschwer ein Skelettarm. Das lithografierte Selbstbildnis hängt neben weiteren Munch-Blättern in einer Sitzecke hinter cremefarbenen Clubsesseln und bietet einen merkwürdigen Kontrast zur Klavierberieselung und der gefälligen Konsistenz des Krabbenkuchens. Munch, der als exzessiver Weintrinker bekannt war (»Ich soff wie ein Besessener«), soll mit den Zeichnungen einst seine Rechnungen beglichen haben. Besoffen hat er sich aber wohl eher im Theatercafé nebenan, wo sich noch heute die Kreativen der Welt zu Krevettencocktail und Martini treffen: Gérard Depardieu und Beyoncé haben hier ebenso Grußbotschaften hinterlassen wie Elton John oder Pelé. Aber wir suchen ja Munch. Drei Minuten später stehen wir vor einem seiner Hauptwerke. Im griechisch angehauchten Imponierbau der Universität hat der Künstler von 1914 bis 1916 die Aula mit einem gigantischen Fries aus elf großformatigen Einzelwerken dekoriert – ein Auftrag, den er sich über Jahre erkämpfen musste. Hinter den dorischen Säulen der Halle kneifen wir unwillkürlich die Augen zusammen. Geblendet vom Scheinwerfer eines Fernsehteams, taumeln wir weiter in Richtung Sonne. Majestätisch prangt das Riesengestirn auf dem Zentralbild an der Stirnwand. Vielfach gebrochen, umflackern grellbunte Strahlen ein gleißend helles Zentrum. Ein großartiges Bild. Lange möchte man davorstehen und sich dem flirrenden Sog der Erleuchtung hingeben. Doch leider schweift der Blick nach rechts, nach links und wieder zurück. Ungläubig registrieren wir die biedere Allegorik nackter Pärchen, die sich mal mit Erlenmeyerkolben und grünen Flüssigkeiten, mal mit Apfelpflücken oder Sonnenbaden beschäftigen – Sinnbilder der hier gelehrten WisFortsetzung auf S. 82

Edvard Munch Edvard Munch wurde am 12. Dezember 1863 in Løten geboren. Ein Jahr später zog die Familie nach Oslo. Munch studierte an der Königlichen Zeichenschule; die erste große Einzelausstellung 1889 brachte ihm ein Paris-Stipendium ein. Von 1892 an pendelte er zwischen Paris, Oslo und Berlin, wo er 1902 mit dem Zyklus »Lebensfries« den Durchbruch feierte. 1908 begab er sich nach einem Zusammenbruch in eine Klinik, zog dann ganz nach Norwegen. Er starb am 23. Januar 1944 auf seinem Gut Ekely bei Oslo.

REISEN

DIE ZEIT No 41

Abb.: Edvard Munch (1863-1944) »Vier Maedchen auf der Bruecke«, 1905 AKG Images/© The Munch Museum/The Munch-Ellingsen Group/VG Bild-Kunst, Bonn 2011

82 6. Oktober 2011

entfernt, so licht und malerisch, dass für Trübsinn kein Raum zu sein scheint. Hinter der Eingangstür des ockergelben Holzhauses, das noch heute so dasteht wie einst, stapeln sich Putzutensilien, es riecht nach Möbelpolitur. Dass hier niemand mehr wohnt, erkennt man schon an den Teesieben. Kein Mensch breitet schließlich gleich drei davon dekorativ auf der Fensterbank aus. Und gerade einen Künstlerhaushalt stellt man sich ja chaotisch vor. Nicht mit repräsentativ aufgereihten Medizinfläschchen und einer Tagesdecke, die völlig faltenfrei auf dem Mahagonibett liegt. Dennoch: Die kleinen, vollgestellten Räume wirken so suggestiv, dass man das Gefühl hat, Edvard Munch könne jeden Augenblick durch die Tür treten, ein paar selbst gepflückte Kirschen auf den aufklappbaren Holztisch legen und den fleckigen Malerkittel gegen das schwarze Jackett an der Garderobe tauschen. Ehrfürchtig beglückwünschte man den Meister zur idyllischen Aussicht und der geschmackvollen Tapete, ließe sich im benachbarten Atelierhäuschen die neuesten Werke zeigen und begleitete ihn bei seinem täglichen Spaziergang zur Weinhandlung.

Fortsetzung von S. 81

»Vier Mädchen auf der Brücke« heißt dieses berühmte Werk

Oslo Museen: Munch Museum, Tøyengata 53, www.munch.museum.no. Eintritt circa 12 Euro. Öffnungszeiten Di, Mi, Fr und Sa 10–16 Uhr, Do 10–20 Uhr, So 10–17 Uhr. Bis 9. Januar 2012 läuft hier die Ausstellung »Munch’s Laboratory. The Path to the Aula«, die Vorarbeiten zum Fries in der Universität zeigt

Munch in Bremen: Vom 15. Oktober 2011 bis 26. Februar 2012 läuft in der Kunsthalle, Am Wall 207, die Ausstellung »Edvard Munch. Rätsel hinter der Leinwand«. Öffnungszeiten Di 10–21 Uhr, Mi bis So 10–18 Uhr

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Führungen: Hilde Stoklasa bietet Führungen zu Munch durch Oslo auf Deutsch an. Zu buchen unter www.osloguide.no, [email protected]

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Die Kantine der Freia Schokoladenfabrik, Johan Throne Holsts Plass 1, ist nur nach vorheriger

Edvard Munchs Haus in Åsgårdstrand, Edvard Munchs Gate 25, ist regulär von Mai bis September geöffnet. Außerhalb dieser Zeit können Führungen unter Tel. 0047-33/08 50 00 vereinbart werden

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2014 soll das Munch Museum in einen am Bjørvika-Hafen geplanten Hochhausneubau ziehen. Im Parlament ist darüber jedoch eine Debatte entbrannt. Bis 2017 soll, ebenfalls am Hafen, der Neubau für das Nationalmuseum stehen

Die Aula der Universität, Karl Johans Gate 47, ist unregelmäßig für Besucher geöffnet. Informieren kann man sich unter Tel. 0047-22/85 95 55

No

Nationalgalerie, Universitetsgata 13, www.nasjonalmuseet.no/en/. Eintritt circa 6 Euro. Öffnungszeiten Di, Mi, Fr 10–18 Uhr, Do 10–19 Uhr, Sa und So 10–17 Uhr.

Anmeldung zu besichtigen. Führungen vermittelt Bodil Bergan, [email protected]

senszweige. Irritierend auch die idyllische AlmaMater-Darstellung und die rührselige Szene mit dem blinden Fischer, der einem Jungen Geschichten erzählt. Wo ist der düstere, der melancholische, der depressive Munch, zu dem wir uns so sehnsuchtsvoll hingezogen fühlen? Wie kühn die vermeintlich braven Allegorien im Norwegen von damals waren, fällt uns erst im kleinen Munch-Museum auf. Eine Sonderausstellung zur Aula-Dekoration zeigt Gegenentwürfe anderer Maler. Neben dem unsäglich heroischen DrachentöterEntwurf seines ärgsten Konkurrenten Emanuel Vigeland wirkt Munchs Stil brüskierend modern. Dass Hauptwerke wie Der Schrei oder Madonna gerade im Depot lagern, findet die Reisegruppe im Museumscafé dann aber doch enttäuschend. Mit langen Gesichtern verspeisen die deutschen Touristen ein Stück Schrei-Torte (blutroter Glibber mit Sahnecreme und einem schreienden Schokokopf ). Dabei hätten sie bloß in die U-Bahn steigen müssen. Nur vier Stationen entfernt ist das Nationalmuseum, das ebenfalls je eine Version von Der Schrei und Madonna besitzt. Für die Kantine der Frauen hat Munch Praktischerweise hat Munch seine bedeutendsten durchweg friedliche Motive gewählt Bilder alle mehrfach gemalt. Im Munch-Saal des Nationalmuseums stehen wir Unten am Strand ließe man sich jene Stelle zwischen regelrecht elektrisiert. Hier hängen Meisterwerke wie Meer und Felsen zeigen, an der das beklemmende Lebenstanz, Asche oder Das kranke Kind, Munchs Bild Melancholie mit dem einsamen Mann am untevielleicht radikalstes Werk von 1885. Steht man da- ren Bildrand entstand, oder jenen Steg, auf dem die vor, dann flirren die Farben im Kopf. Alles in diesem vier Mädchen so seltsam verloren am Geländer steBild wirkt gebrechlich und krank, das modrige Grün, hen. Wie gerne würde man erfahren, was es mit den die versehrte Oberfläche mit den Kratzspuren, die Einschusslöchern im Gästezimmer auf sich hat. schlohweiße Haut des rothaarigen Mädchens, das so Stammen sie tatsächlich aus dem Revolver der Weinseltsam im Bild sitzt, als kippe es gleich vornüber. händlertochter Tulla Larsen, einer abgelegten Gelieb»Kein Gemälde«, so Munch, »hat in Norwegen so ten, die von Munch nicht lassen konnte? Er hatte viel Ärgernis erregt wie dieses.« Als er es 1886 erstmals hinterher einen lädierten Finger. Wer damals gepräsentierte, »standen die Menschen dicht gedrängt schossen hat, kann heute keiner mehr sagen. vor dem Bild – man hörte Geschrei und Gelächter«. Selbst Solfrid Sakkariassen weiß da nichts GenauKein Wunder, dass der Maler der Heimat als- es. Und es gibt wenig, was die energische, bildschöne bald den Rücken kehrte, um in Berlin, Frau, die das Sommerhaus als kleines MuParis, Kopenhagen sein Glück zu seum betreibt, über Munch nicht versuchen. Und doch vermisste weiß. Solfrid schwärmt von dem Munch nichts so sehr wie die Garten, in dem der Künstler einst NORWEGEN nordische Landschaft. Immer Obst und Gemüse zog. Sie wieder zog es ihn zu den Fjorschwört, dass der Vollmond sich Oslo Ekeberg den und in die dichten Wälhier tatsächlich als riesige Säule der – und sei es nur für weniim Wasser spiegelt, wie man es ge Wochen. Einmal zu Geld aus vielen Munch-Bildern Åsgårdstrand gekommen, sammelte er kennt. Bei der Restaurierung SCHWEDEN Häuser wie andere Armbanddes Hauses 1944, sagt Solfrid, uhren: eins in Hvitsten, eins in habe man hinter der HolzvertäfeDÄNEMARK Kragerö, eins auf der Insel Jelöya, lung das Bild einer Frau am GelänZEIT-Grafik zuletzt das Gut Ekely bei Oslo. der entdeckt. Auf die Rückseite der 100 km Doch es soll vor allem jenes stille, Leinwand war ein Mädchen gezeichnet. 1907 gekaufte Sommerquartier in ÅsgårdAuch dieses Werk wird vom 15. Oktober an strand gewesen sein, in dem Munch hin und wie- in der Bremer Ausstellung zu sehen sein. der eine Ahnung von Zufriedenheit erlebte. Wir marschieren einen schmalen, hügeligen Weg Åsgårdstrand ist ein beschaulicher Küstenort am zwischen Holzhäusern entlang, die Munch mehrfach Oslofjord, etwa 40 Kilometer von der Hauptstadt gemalt hat, und genießen die träge Stille eines per-

fekten Spätsommertages. Immer wieder bleibt die Kunsthistorikerin, die mal als Zimmermädchen in Liechtenstein gejobbt hat, stehen, hält eine Reproduktion in die Höhe und fordert zum vergleichenden Blick auf. Tatsächlich. Wir sehen, was Munch sah, laufen durch seine Bildausschnitte, können kaum fassen, dass noch alles so ist; bloß ein blauer Volvo stört den Gesamteindruck. Und das Fenster, in dem Der Schrei als Aufblasfigur vor einer Häkelgardine hängt. Rührend, die grünen Briefkästen, die alle mit unterschiedlichen Munch-Reproduktionen im Miniformat verziert sind. Am nächsten Tag, zurück in Oslo, sehen wir Åsgårdstrand wieder. In der Kantine des Schokoladenherstellers Freia, nordöstlich vom Zentrum, riecht es nach Essen: Hähnchen in Sahnesoße. Eine Arbeiterin im weißen Kittel mit Haarhaube beißt gedankenverloren vom Mettbrötchen ab. Zwei Kolleginnen häufen plaudernd Reiskörner auf ihre Gabeln. Um sie herum: zwölf MunchWerke, die der Künstler von 1921 bis 1923 als Fries für die Frauenkantine entworfen hat. Es sind durchweg friedliche Motive, die am Strand angesiedelt sind und vom schlichten Leben der Fischer erzählen: Pärchen, die tanzen, Frauen, die Blumen gießen oder Äpfel pflücken, niemand sonderlich fröhlich, doch alle gelassen. Wir erkennen eine Baumgruppe wieder, ein Haus, eine Wegbiegung, die uns Solfrid gezeigt hat, das eiskühle Blau des Wassers vor Åsgårdstrand. Und einen anderen, unbekannteren Munch, der weniger um sich und seine Psychosen kreist. 1934 wurden bei Freia die Männer- und Frauenkantine zusammengelegt. In Absprache mit Munch entwarf man den neuen Raum um die Bilder herum. Jetzt dient das beruhigende Braun einer Holzvertäfelung den Bildern als gigantischer Rahmen. An einem solchen Ort schmeckt sogar Automatenkaffee. Gestorben ist Munch im Januar 1944 auf Ekely, seinem Alterswohnsitz direkt bei Oslo, um sich herum Hunderte seiner Bilder, von denen er sich nicht trennen mochte. Seine letzten Jahre fristete er in ständiger Angst vor den deutschen Truppen, die Norwegen besetzt hatten. Die Angst war berechtigt: Für die Nazis war er das Musterbeispiel eines »entarteten« Künstlers. Im Ateliergebäude hängt noch heute der Geruch nach Ölfarbe und Terpentin, an den Wänden stehen Leinwände. Mit Munch hat das nichts zu tun, hier arbeiten andere Künstler. Weihnachten 1943 soll Edvard Munch, erschrocken vom Lärm eines explodierenden Sprengstoffdepots in der Nachbarschaft, aus der Tür seines Wohnhauses getreten sein. Man sagt, er habe sich dabei eine Lungenentzündung geholt, die schließlich zum Tod führte. An jener Stelle befindet sich heute ein Parkplatz. www.zeit.de/audio

REISEN

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

83 Einige Häuser im Strombad wurden von namhaften Architekten wie Heinz Rollig (links und rechts) gebaut. Die Stelzenkonstruktion soll sie vor Hochwasser schützen. Mitte: Detail aus der Hüttenzeile

Stadt N Land Fluss Lange lag das Strombad Kritzendorf vergessen am Ufer der Donau. Jetzt erleben Wiener den Charme der Siedlung neu VON SILKE BURMESTER

Kritzendorf Anreise: Mit dem Auto von Wien kommend auf der B 227 über die B 14, Abfahrt Klosterneuburg, von dort aus nach Kritzendorf. Oder mit der S-Bahn-Linie 40 ab Franz-Josefs-Bahnhof in Richtung Tulln Unterkunft: Schrannenhof, 3400 Klosterneuburg, Niedermarkt 17–19, Tel. 0043-2243/320 72, www.schrannenhof.at. DZ ab 98 Euro inkl. Frühstück Essen: Eine Übersicht der traditionellen und mitunter originellen Weinlokale rund um Kritzendorf findet man unter info.klosterneuburg.net/downloads/heurigenkalender11.pdf Informationen: Im Internet unter www.klosterneuburg.at, Stichwort »Freizeiteinrichtungen«, oder beim Tourismusverband Österreich, Tel. 00800/40 02 00 00 (aus Deutschland gebührenfrei), www.austria.info Literatur: Lisa Fischer: Die Riviera an der Donau. 100 Jahre Strombad Kritzendorf. Böhlau Verlag, Wien 2003; 164 S., 19,90 €

och einmal die Augen schließen und den Rasen spüren, samt Stein im Rücken. Noch einmal erst das Quietschen, dann das Klappen hören, wenn ein Fahrradständer aufgestellt wird, das metallische Scheppern, wenn der Gepäckträgerbügel auf seinen Rahmen schnellt. Das Dröhnen des herannahenden Lastenschiffes, das Kichern und kurze Schmatzen des Paares nebenan. »Pauline! Das sind Lederschuhe!«, ruft eine Frau, ihre Stimme schrillt mit jedem Wort höher. »Sei nicht so dumm, komm damit aus dem Wasser!« Auf der Terrasse des Restaurants zerbricht Porzellan, ein leises Fluchen dringt ans Ohr. Die Sonne wärmt den Körper mit voller Wucht. Nach wenigen Minuten schon möchte man ins Wasser, um sich abzukühlen. Es ist ein Sonntag im September, vielleicht der letzte für dieses Jahr, an dem es Spaß macht, in der Donau zu baden. Gestern Nacht sind in Tirol mehrere Zentimeter Schnee gefallen. Hier, im Wiener Umland, soll es morgen auf 13 Grad abkühlen. Aber heute spielt der Spätsommer noch einmal seine Kraft aus. An Tagen wie diesen zieht es die Wiener in die Badeanstalten an der Donau und ihren Nebenarmen. Die meisten von ihnen entstanden nach einer Regulierung des Stroms im späten 19. Jahrhundert und blühten auf, als um 1900 das Baden vornehm wurde. Am vornehmsten war es im Strombad Kritzendorf, dem Grand Hotel unter den Strandbädern. 1903 begründet, zog es Künstler, Intellektuelle, Fabrikanten, aber auch Arbeiter aus der nahen Hauptstadt an. Sie alle kamen, um, zunächst nach Geschlechtern getrennt, Kühlung in der Donau zu suchen. Und vor allem, um sich zu vergnügen beim Tanz, Kartenspiel, Sport, am Lagerfeuer und bei Kinoabenden in der Sommerluft. Und weil es so idyllisch war, richtete man sich gleich sommerhäuslich ein. So entstand am Rand des alten Dorfes eine exklusive Ferienkolonie mit Schiffsanlegestelle und Bahnhof. In den zwanziger, dreißiger Jahren verbrachten Literaten wie Heimito von Doderer und Hilde Spiel, Schauspieler wie Lina Loos und Karl Farkas, Wochenenden oder auch einen ganzen Sommer in »Krizes-les-Baines«. Dann kam der Einschnitt, der das Bad binnen Stunden in der Bedeutungslosigkeit versinken ließ, vielleicht auch in schamhaftem Vergessen. Daraus steigt es erst jetzt allmählich wieder auf. Es sind nur zwanzig Minuten per S-Bahn von Wien bis nach Kritzendorf. Eine kleine Straße führt ins Bad, doch zunächst durch den Wald. Schon auf dieser kurzen Strecke fallen der Großstadtlärm und der Schmäh von einem ab. Noch bevor man den Eingangsbereich, ein aus Holzbauten bestehendes Rondeau, durchquert, fällt der Blick auf die Häuser und Hütten zu beiden Seiten. Sie stehen auf Stelzen; die meisten sind mit Blumen geschmückt. Wege verlieren sich im Grün. Ein blaues Schild »Tennis Riviera« weist auf den Sportplatz hin. Schon hier wird man neugierig. Dieser Ort ist mehr als die Kleingartensiedlung mit 484 Parzellen, als die er amtlich geführt wird. Aber was? Das »Bad am Strom« ist gut besucht. Im grünen Wasser der Donau spielen Kinder, Erwachsene versuchen, gegen den Strom anzuschwimmen. Überall auf der großen Wiese sonnen sich Menschen. Vater und Tochter versuchen einen Drachen steigen zu lassen, Kinder fahren mit dem Rad herum, kleinere spielen in der von einem niedrigen Holzzaun eingefassten Sandkiste unter dem Son-

nensegel, ein Vater sitzt daneben, den Laptop auf dem Schoß. Der Weg flussaufwärts führt an der Gartenlände, der äußersten Häuserzeile, entlang. Hier wird es schnell ruhig – ein bisschen zu ruhig, wenn man Peter Gerlach fragt. Ihm gehört das Eckhäuschen mit den Geranienkästen und den grünen Fensterläden, das aussieht, als hätte man es einer Kinderbuchzeichnung nachgebaut. Da sitzt er jetzt auf der Veranda und trinkt Kaffee, abgeschirmt von hohen Hecken. Sein Sohn stutzt derweil die Zweige, und seine Frau räumt auf. Gestern waren Freunde zu Besuch, mit zwölf Personen haben sie am Donauufer gegrillt. Da war was los, da war es wie früher. Mit früher meint Gerlach nicht die großen Tage von »Krizes-lesBaines«. Die hat er mit seinen 71 Jahren nicht mehr erlebt. Aber er erinnert sich an die Zeit, als es noch normal war, mit den Nachbarn zusammenzusitzen oder in der Milde des Abendlichts am Ufer zu flanieren. »Heute sind die Leute in ihren Häusern und sehen fern«, sagt Gerlach traurig. »Mir fehlt das. Mir fehlt, dass hier die Kinder rumtoben und es lebendig ist.« An diesem Spätsommertag läuten die Gerlachs das Ende der Saison ein, Hecken werden gestutzt, Moos wird aus den Fugen gekratzt. »Am 15. Oktober ist für dieses Jahr Schluss« sagt Peter Gerlach, der seit seinem zehnten Lebensjahr ins Strombad kommt. »Dann wird das Wasser abgedreht.« Hinter den Gerlachs liegt die vielleicht schönste Häuserzeile des Bades. Auf jeden Fall die kurioseste. Wer daran vorbeigeht, fühlt sich wie Schneewittchen im Zwergenreich: winzige Häuser, manche so schmal, dass man fast meint, man könnte sie mit den Armen umfassen. Viele sind schief und krumm, manche liebevoll hergerichtet, anderen fehlen Fenster, die Farbe blättert, Schindeln sind vom Dach gerutscht. Sie alle sind von der Donau gezeichnet, die alle Jahre wieder das Gebiet flutet. Im verzweigten Auengebiet stehen aber auch imposantere Häuser. Bedeutende Architekten wie Heinz Rollig, Adolf Loos und Felix Augenfelder haben sie für vermögende Wiener Saisongäste entworfen. Manches lässt die Nüchternheit des Bauhaus erkennen, anderes die maritimen Sehnsüchte im Binnenstaat Österreich. Die Burg-Schauspielerin Lili Marberg ließ sich direkt am Wasser eine Mini-Villa errichten, die an Hamburger Kapitänshäuser erinnert – gebaut mit Blick über den Fluss wie von der Schiffbrücke aus. Innen ziert es noch immer die original Holzverkleidung der dreißiger Jahre mitsamt geschickter Einbauten wie einem ausklappbaren Schreibtisch. Gegenüber der Panoramascheibe dominiert die Bar im maritimen Stil den Raum. Die Dame feierte gern – Feste, wie man sie im Strombad schon lange nicht mehr sah. Was ist hier passiert? Die Wiener Historikerin Lisa Fischer hat in ihrem Buch zum hundertjährigen Bestehen des Bades den abrupten Niedergang dokumentiert. In den dreißiger Jahren waren etwa achtzig Prozent der Eigentümer nach den Begriffen der Nationalsozialisten jüdisch. Nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 ließ man ihnen gerade mal 24 Stunden Zeit, ihre Häuser abtransportieren zu lassen, abzureißen oder zum Abbruchwert der Gemeinde zu überlassen. Nach dem Krieg machte ein mutiger Bäderverwalter die Arisierung rückgängig, so gut es ging. Aber denen, die noch lebten, war wohl nicht mehr nach Baden zumute. So geriet der Freilicht-Salon der Wiener Gesellschaft allmählich in Vergessenheit. Die Besitzer der Häuschen kamen in die Jahre und lernten, anders als die Gerlachs, die Ruhe der Leblosigkeit schätzen. Bei den Jüngeren galt der Stadtrandurlaub als spießig; sie entdeckten lieber von Wien aus die Welt. Und auch das Bundesdenkmalamt hat sich um die Siedlung nicht eben verdient gemacht. Als »nicht erhaltenswerte Gebäude« werden die hölzernen Zeitzeugen bis heute abgetan. Kein Wunder, dass etliche inzwischen auch so aussehen. Doch vielleicht erwacht »Krizes-les-Baines« gerade wieder aus seinem langen Dornröschenschlaf. Den Anstoß gab Lisa Fischer, die für ihr engagiertes Jubiläumsbuch als Wiederentdeckerin des Strombades gelobt wird. Und solche Entdeckungen sind gerade sehr gefragt bei der jungen Groß-

stadt-Boheme auf ihrem Landlust-Trip. Einer, der den Charme dieser Mischung aus Gartenzwerg und Freigeist für sich entdeckt hat, ist Martin Eder, 39 Jahre alt, Vater zweier Kinder. Seit 2003 hat er zusammen mit seiner Frau eine 15 Quadratmeter große Badekabine gepachtet, 1100 Euro zahlen sie im Jahr an die Bäderverwaltung. Mit Freude beobachtet er, dass sich etwas tut. »Es kommen immer mehr Familien, es wird bunter, lockerer.« Nicht allen Eingesessenen passt das. »Es ist nicht immer leicht, miteinander auszukommen«, sagt Eder. »Aber ich mag den Pluralismus hier.« Selbst wenn einmal die Nachbarin mit dem Gartenschlauch gegen Lärmquellen vorgeht. Heute muss sie sich da wohl nicht ernstlich Sorgen machen. Der Pavillon, unter dessen Dach einst Musiker der Wiener Symphoniker spielten, steht verlassen wie eine große, einsame Bushaltestelle inmitten der Wiese. Keine Musik, keine Tänzer. Weder Schauturnen noch Pyjamapartys. Trotz der Badegäste scheint das Leben sich noch nicht so richtig breit machen zu wollen. Es liegt eine Zurückgenommenheit in der Luft, ein Sich-nicht-Trauen. Vielleicht ist es auch die Geschichte, die sich nicht herauslösen und nicht fortspülen lässt und die es dem Bad so schwer macht, seine Leichtigkeit zurückzugewinnen. Das Donaurestaurant hinter dem Pavillon ist an diesem warmen Abend gut besucht. Obschon der Betreiber nicht auf Gäste eingestellt zu sein scheint. Bei jedem Schritt raschelt das welke Laub der Linden unter den Füßen, auf die Bestellung wartet man eine Dreiviertelstunde. Johannes Wegenstein unterhält in Wien drei Lokale, unter anderem das des Museumsquartiers. Seit diesem Frühjahr ist er Pächter des Donaurestaurants. Er hatte genaue Vorstellungen davon, wie er mit moderner, anspruchsvoller Küche und einem Kulturprogramm die Tradition des Bades wiederbeleben würde. Doch seine Rechnung hatte er ohne jene gemacht, die weder moderne Küche noch Kultur wollen, sondern ein Schnitzel für 4,80 Euro und Ruhe. Er fühlt sich von den Kritzendorfern gegängelt. Ein Dutzend Beamte sei durch das Bad getobt auf der Suche nach den Schwarzarbeitern, die er angeblich beschäftige. Drogenhandel und Sex am Strand habe man ihm unterstellt. Und als der zwölfjährige Sohn seines Kompagnons im Musikpavillon Mozart gespielt habe, seien kaum die ersten Takte erklungen, da habe jemand bei der Polizei angerufen: Ob eine Genehmigung dafür vorliege! Der Spitzenkoch Patrick Müller, den Wegenstein als Küchenchef angeheuert hat und der als »Silent Cook« dem Kochfernsehen eine neue Richtung gab, setzt dem Widerstand eine eigene Rezeptur entgegen: »Dem hier Leben einzuhauchen. Und Herz.« Fragt sich nur, ob er dazu nächstes Jahr die Gelegenheit bekommt. Noch ist nicht entschieden, ob Wegenstein sich mit dem Eigentümer über den Pachtvertrag einig wird. Der Himmel hat sich zugezogen, die letzten Gäste verlassen die Wiese. Wind kommt auf und zerzaust das Haar, während die Kellnerin des Restaurants Fischer die lokale Spezialität, Ribisel-Wein, serviert. Walnüsse und Kastanien fallen von den Bäumen, die Schirme werden eingeholt. Der Sommer verabschiedet sich und überlässt dem Herbst das Feld. In einem halben Jahr wird dann wieder gebadet und gestritten. Als Besucher von weiter her wünscht man sich, dass die Donau den ganzen Zank um Macht und Moderne hinwegspült, damit die Menschen wieder sehen, was für einen bezaubernden Ort sie hier haben. Und dass sich wiederholt, was Lisa Fischer von der besten Zeit des Strombades schreibt: »Im Badekostüm wurden alle gleich.«

Eingang zum Strombad (Mitte) an der Donau (rechts). Martin Eder (links) pachtet hier mit seiner Familie seit 2003 eine Strandkabine

Wien

Strombad Kritzendorf

ÖSTERREICH

Klosterneuburg

Do na u

ÖSTERREICH

ZEIT-Grafik

2 km

WIEN

Innere Stadt

Fotos: Oskar Schmidt für DIE ZEIT

NIEDERÖSTERREICH

Kritzendorf

84 6. Oktober 2011

REISEN

DIE ZEIT No 41

Nachbarn all-inclusive

LESEZEICHEN

Kreativ durch die Krise

In England sind die Bewohner einer Straße gemeinsam in Urlaub gefahren. Ein Traum, sagt Paul John, der die Reise nach Ibiza für die 49 Leute organisiert hat

Die Isländer haben es schwer. Heimgesucht von Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Bankenpleiten, sei das Land im Grunde »eine einzige Krise«, findet Alva Gehrmann. Trotzdem fährt die Berliner Journalistin jedes Jahr immer wieder hin. Denn die Not zwingt die Inselbewohner auch zu viel kreativer Improvisation. Das kommt unter anderem der Literaturproduktion zugute, die das Land mit der Einwohnerzahl von Bielefeld schon rein quantitativ als Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse qualifiziert. In neun vergnüglichen Lektionen erklärt Gehrmann anhand von vielen Episoden aus dem Alltag, warum häufige Berufswechsel, eine bedrohliche Natur und ständige Verwandtenbesuche Energien freisetzen und originelle Ideen entstehen lassen können. So reagierten die Isländer etwa 2008 auf die Finanzkrise, indem sie im zehn Grad kalten Meer ihre Gemüter kühlten und dann den bekanntesten Komiker des Landes zum Oberbürgermeister ihrer Hauptstadt Reykjavík wählten. MWE Alva Gehrmann: Alles ganz isi. Isländische Lebenskunst für Anfänger und Fortgeschrittene. dtv premium, München 2011; 259 S., 14,90 €

Richard Kerler: Deutschland mal anders. Ellert & Richter, Hamburg 2011; 207 S., 12,95 €

Illustration: Gert Albrecht für DIE ZEIT/www.gertalbrecht.de; Foto: Wales News Service

Sehenswerte Häppchen Es gibt touristische Ameisenpfade, und es gibt Geheimtipps. Und dann gibt es noch die Sehenswürdigkeiten, von denen man schon mal gehört hat, die einem aber just in dem Moment nicht einfallen, wenn man sie mal eben auf der Durchreise besuchen könnte. Es schadet deshalb nicht, wenn man beim Reisen zwischen Flensburg und Berchtesgaden Deutschland mal anders von Richard Kerler dabeihat. Das Buch versammelt mittelberühmte Orte von Interesse in knappen Kurzporträts – vom Kriminalmuseum in Rothenburg bis zu den »Pinkelbäumen« auf der Herrentoilette des Münchner Nobelclubs P1. Beruflich in Düsseldorf? Vielleicht reicht die Mittagspause für einen Abstecher zur größten Dezimaluhr der Welt. Das Nordseewatt schon aus jeder Perspektive gesehen? Aber noch nicht von einer Kutsche aus, auf der Hallig Südfall. Gestrandet in Stralsund? In der Hafenkneipe Hanni bestellen die Einheimischen seit 1332 ihr Bier. Beim Herumblättern stößt man auf vieles, was man eigentlich längst mal tun wollte: den Baumkronenpfad im Nationalpark Hainich entlangwandern zum Beispiel. Oder auf Helgoland die Trottellummen besuchen. LEM

kennt wie wir, muss man sich nichts mehr vormachen. Man weiß um die Macken der anderen und Habe viel am Pool gesessen und den ganzen Tag auch, wie man einen Spruch zu nehmen hat. Am Bier getrunken. Und ich hatte immer Gesell- Frühstücksbuffet gute Laune vortäuschen und Smalltalk führen, obwohl man völlig verkatert ist? schaft. ZEIT: Das glaubt man gern – immerhin sind Sie Nicht nötig, wenn man einander schon dutzendmal nach einer durchfeierten Nacht am Briefkasmit ein paar Nachbarn verreist ... John: Ja, wir waren 49 Leute! Wir wohnen alle in ten begegnet ist. der Coronation Avenue in Haverfordwest. Für die ZEIT: War die Organisation der Reise schwierig? britischen Medien war das ein Traum: Seit 1960 John: Eigentlich nicht. Ich habe von jedem 500 läuft im Fernsehsender ITV die Serie Coronation Pfund eingesammelt und bin damit ins örtliche Street, die den Alltag in einer fiktiven Straße zeigt. Reisebüro gegangen. Die Leute dort haben vielUnd jetzt fuhren Leute aus einer Straße, die fast leicht gestaunt, als ich mit so viel Geld ankam. Für genau so heißt, in einer großen Gruppe zusammen eine so große Gruppe hatten die noch nie einen in die Ferien. In ganz Großbritannien wurde über Urlaub gebucht. Wir haben dann einen Bus geuns berichtet. chartert, der uns zum Flughafen nach Cardiff ZEIT: Haben Sie sich denn früher im Urlaub oft brachte. Die Unterbringung auf Ibiza war in einem Club. Sieben Tage all-inclusive – ein Traum. einsam gefühlt? Und wir haben auch AusJohn: Quatsch. Ich habe flüge gemacht, zum Beieine Frau und drei Töchspiel in einen Aquapark. ter. In der Coronation Die meiste Zeit waren wir Avenue verstehen wir uns tatsächlich als Gruppe nur einfach sehr gut. Wir unterwegs. grillen oft zusammen, da sind alle Nachbarn dabei, ZEIT: Wollte niemand das sind richtige Straßenmal für sich sein? feste. Vor ein paar MonaJohn: Doch, aber das war ten, als jemand seinen 50. kein Problem. Im GegenGeburtstag feierte, kam teil: Wenn ein Ehepaar Die Truppe: Als Freunde hingefahren dann ganz spontan die mal einen Ausflug zu und als Freunde zurückgekehrt Idee auf, gemeinsam zu zweit machen wollte, verreisen. Sechs oder siekonnte es die Kinder im ben Leute haben sofort gesagt, da seien sie dabei, Club lassen. Die anderen haben dann auf sie aufund später meldeten sich immer mehr Interessen- gepasst. Auch sonst gab es keine großen Schwierigten. Da habe ich die ganze Sache in die Hand ge- keiten – höchstens ab und zu mal einen Kater oder nommen. einen Sonnenbrand. Es war eine tolle Zeit, auch, weil drei Generationen mitgefahren sind. Der ÄlZEIT: Wieso gerade Sie? John: Es gab hier früher ein Pub, das Bull Inn. Das teste war 58 Jahre alt, der Jüngste vier Monate. gehörte meinen Eltern, und später habe ich es Wir sind als Freunde hingefahren und als Freunde übernommen. Dort traf sich früher die ganze Stra- zurückgekehrt – und jetzt sind wir alle wunderbar ße, also liefen bei mir immer schon die Fäden zu- gebräunt. sammen. Das Pub gibt es zwar nicht mehr, ich bin ZEIT: Wer hat inzwischen auf die Häuser in der jetzt Lastwagenfahrer statt Kneipenwirt. Aber die Coronation Avenue aufgepasst? Dort standen ja Freundschaften mit den Gästen sind geblieben. viele gleichzeitig leer. Insofern war es nur logisch, dass ich mich um die John: Ein paar von uns haben erwachsene Kinder, Reise kümmere. Außerdem ist meine Familie die daheimgeblieben sind. Die haben dann die schon in den siebziger Jahren, als ich noch ein Blumen gegossen und die Katzen gefüttert. So ist Kind war, oft mit anderen Familien zusammen in das eben bei uns. Wir sind eine Gemeinschaft. die Ferien gefahren. Das waren auch alles Stamm- ZEIT: Und wann fährt die Gemeinschaft das gäste aus dem Pub. nächste Mal weg? ZEIT: Viele Menschen genießen es, wenn sie im John: Im kommenden Sommer. Diesmal soll es Urlaub mal keiner kennt. Kann man sich wirklich auf die Kanaren gehen. Es haben sich schon 62 entspannen, wenn man den Nachbarschaftstratsch Leute fest angemeldet. Ich hoffe, wir kriegen einen von zu Hause am Hotelpool fortführt? Bus, der groß genug ist. John: Gerade dann! Das ist doch gut. Da fällt die ganze Förmlichkeit weg. Wenn man sich so lange Interview: ANNE LEMHÖFER DIE ZEIT: Herr John, wie war Ihr Urlaub? Paul John: Danke, sehr schön. Ich war auf Ibiza.

REISEN

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

85 SCHWEDEN Kattegat

DÄNEMARK

Æbelø

Æbelø Dræet Drætlingen

Bogense Start: Lindøhoved

Bogense

Kopenhagen

Fünen

Ostsee

Fünen 2 km

DEUTSCHLAND Nordsee

ZEIT-Grafik

50 km

Fünen Anreise: Dänemarks neue Inseln liegen vor Fünens Nordküste, nahe dem Hafenort Bogense. Anfahrt über die A 7 in Richtung Flensburg, die nach der Grenze E 45 heißt. Hinter Kolding auf die E 20 nach Odense abbiegen, an der Ausfahrt 57 abfahren und weiter über die Landstraßen 317 und 329 Unterkunft: Informationen zu Bed-andBreakfast-Unterkünften auf Fünen unter www. bb-syddanmark.dk. Doppelzimmer mit Frühstück je nach Jahreszeit ca. 60 bis 70 Euro Wattwanderung: Wattwanderungen von Lindøhoved bei Bogense nach Æbelø sind wetterabhängig ganzjährig möglich. Æbelø gehört der Stiftung Aage V. Jensen Naturfond, www.avjf.dk. Die neuen Inseln westlich von Æbelø, darunter Drætlingen, sind von März bis August als Vogelschutzgebiete gesperrt. Touren mit einem Ranger unter www.naturvejleder.net

Neuland am Horizont. Der Forstbeamte Kirk Strandgaard kümmert sich um das Fleckchen Erde

Foto: Christoph Schumann für DIE ZEIT

Auf nach Neuland! Vor Fünens Nordküste entstehen regelmäßig kleine Inseln. Wer sie erforschen will, darf nicht wasserscheu sein VON CHRISTOPH SCHUMANN

D

er Zeitpunkt scheint perfekt. Als wir den grasbewachsenen Parkplatz von Lindøhoved erreichen, hat die Sonne die Wolkendecke gerade erst durchbrochen. Es ist kurz vor neun. Doch Søren Kirk Strandgaard erwartet uns schon ungeduldig. »Zieht schnell eure Turnschuhe an«, drängt uns der Naturführer zu mehr Tempo. Gleich beginnt die Ebbe. Als oberster Forstbeamter wacht Strandgaard nicht nur über alle Wälder, Jagdreviere und Naturschutzgebiete der knapp 3000 Quadratkilometer großen Insel Fünen. Der 56 Jahre alte promovierte Ökologe kümmert sich auch um die zahlreichen kleinen Eilande ringsum. Um die bekannten. Vor allem aber um die neuen. Denn zu den mehr als 400 Inseln des dänischen Königreichs kommen regelmäßig einige hinzu – und viele davon liegen vor der Nordküste von Fünen, wo der weltbekannte Märchendichter Hans Christian Andersen in der Stadt Odense aufwuchs. Um dieses Neuland zu entdecken, dürfe man nicht wasserscheu sein, hatte Strandgaard uns vorgewarnt. Auch sollten wir alte Turnschuhe anziehen, um Schnittwunden durch Muscheln zu vermeiden, und winddichte Kleidung und Proviant mitbringen. Im Norden wisse man schließlich nie – vor allem, wenn man zwei bis drei Stunden ins offene Meer hinaus wandere. »Also los!«, sagt Strandgaard jetzt und reicht jedem noch zwei selbst geschnitzte Holzstöcke – zum Balance halten und Erkunden der Wassertiefe. Wir überqueren den schmalen Strand und stapfen in die Fluten. Die See antwortet platschend auf unsere Schritte. Schon bald umspült das Meer Füße und Unterschenkel. Die Schuhe werden immer schwerer, während wir auf sandigem Grund bunten Holzpfählen folgen, die Wattwanderern den Weg nach Æbelø anzeigen – der größten Insel vor Fünens Nordküste. Dann biegen wir nach links ab und halten auf das Mini-Eiland Dræet im Nordwesten zu. Auf die offene See, so scheint es fast. »Keine Angst«, sagt Strandgaard angesichts unserer fragenden Blicke, »es bleibt hier noch lange flach und sicher. Etwas tiefer wird das Wasser aber schon.« Auch Dræet lassen wir rechts liegen – einen kleinen Flecken Land, auf dem zwei alte Häuser stehen. »Seit den 1950er Jahren lebt niemand mehr dort«, sagt Strandgaard, »und auch auf Æbelø nicht.« Wir waten weiter, jetzt durch See- und Blasentang. Im flachen Wasser in der Nähe dümpeln ein paar Plattfische; und kleine Krebse suchen das Weite. Inzwischen haben sich die Schuhe so vollgesogen, dass wir fast in Zeitlupe laufen. Kurz überqueren wir die Landzunge Drætlingen, doch gleich sind wir wieder im Wasser. Weitere dreißig, fünfundvierzig Minuten lang geht es dahin, das Meer umspült schließlich Knie und Shorts. Dann ist erneut Land in Sicht: Nach mehr als einer Stunde oder zweieinhalb Kilometern erreichen wir – eine Insel ohne Namen. Ein flaches Stückchen Land aus Sand und ein paar Steinen. »Vor etwa zehn Jahren war an dieser Stelle nichts, nur Wasser«, erklärt Strandgaard. »Ich habe das auf alten Landkarten überprüft. Als wir dann erste Spuren einer Insel entdeckten, war ich völlig überrascht. Und jetzt ist dieser Flecken schon fast 800 Meter lang.« Strandgaard zeigt mit seinem Stock in Richtung Horizont. Fast die ersten Menschen der Welt sind wir, die an der steinigen Küste der Insel entlangspazieren. Ein Gefühl, als wäre man ein Entdecker. Mitten in

Europa. »Hierzulande gibt es eine bisweilen heftige Diskussion, ob wir überhaupt noch echte, unberührte Natur haben«, sagt Strandgaard, als habe er meine Gedanken gelesen. »Aber hier ist der Beweis.« An der Südspitze des Eilands ohne Namen deutet er plötzlich gen Fünen: »Da, da vorn – diese Insel war vor einem Jahr noch nicht zu sehen, als ich letztes Mal hier draußen war!« Wie die meisten Dänen liebt Strandgaard Inseln – schließlich bilden sie etwa ein Drittel der Staatsfläche: »Sie haben einen festen Platz in unseren Herzen.« Anders als seine Landsleute darf Strandgaard sich aber auch als Inselmacher bezeichnen. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern von der staatlichen Naturbehörde entdeckt er neue Eilande – in seiner zwanzigjährigen Dienstzeit waren es bisher etwa zwanzig. Anschließend sorgt er dafür, dass sie offiziell erfasst werden: »Wir verorten alle Neuinseln, vermessen und kartieren sie.« Damit ein Stück Land im Meer sich »Insel« nennen darf, muss es bei Pegel Normalnull von mindestens 50 Zentimeter tiefem Wasser umgeben sein und eine erkennbare Landvegetation haben, so will es die dänische Gesetzgebung. »Als Pionierpflanzen siedeln sich erst salzfeste Arten wie Strandhafer an. Später wachsen Strandbeifuß, Kamille und andere.« Was dann folgt, ist dänische Juristerei und ein jahrhundertealtes Prozedere. Nach Jütischem Recht, das 1241 unter König Waldemar II. beschlossen wurde, gilt: »Was niemandem gehört, ist des Königs.« Darum werden neue dänische Inseln noch heute alle vier, fünf Jahre bei Gericht aktenkundig gemacht – und wenn ein Jahr lang niemand Einspruch einlegt, sind sie Staatsbesitz. Erhalten sie dann auch Namen? »Nein, die meisten bleiben namenlos«, sagt Strandgaard und lacht. Zu unbedeutend wirke so ein Flecken Land, der gerade erst geboren wurde. Unterdessen steigt das Wasser. Zeit für den Rückweg. Bei den ersten Schritten weg vom Ufer fühlt sich das Meer erneut kalt an, der Sand tief. Doch schnell gewöhnen sich die Beine wieder an den schweren, leicht schwankenden Seemannsgang. Bleibt mehr als eine Stunde Zeit für die Frage, warum so eine Landscholle überhaupt entsteht. »Unsere alten Eilande sind Moräneninseln, die während der letzten Eiszeit geformt wurden«, erläutert Strandgaard, während wir in fast hüfthohem Wasser waten. »Die neuen sind eine Mischung aus grobem Sand, Muscheln, Kalk und kleinen und größeren Steinen. Solche Ablagerungen hat die Strömung zum Beispiel von der Nordküste Æbeløs angespült und fast parallel zu Fünens Küste verteilt.« Dass sich daraus während eines Menschenlebens Inseln bilden können, ist für Strandgaard eines der größten Wunder der Natur. Wir nutzen das milde Herbstwetter zu einem letzten Schlenker an Dræet vorbei nach Æbelø – mit 8000 bis 9000 Jahren auf dem Buckel eine alte Insel. Dafür ist sie etwa zwei Quadratkilometer groß und belohnt Watt-Spaziergänger mit einer reichen Kulturlandschaft aus dichtem Wald und Steilküsten. Die letzte Etappe fällt leicht – nur etwas mehr als knöchelhoch ist das Meer zwischen der Südspitze Æbelø Holm und Fünen. Nach einer halben Stunde endet unsere Expedition, und wir haben wieder trockenen Boden unter den Füßen. Höchste Zeit – in wenigen Minuten kommt die Flut.

Auskunft: Touristische Informationen über Fünen bei Syddansk Turisme, Teglgårdsparken 101, DK-5500 Middelfart, Tel. 0045-66 13 13 37, www.visitfyn.com

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REISEN

DIE ZEIT No 41

FRISCH VOM MARKT

MAGNET

Kinder an die Nacht! Wenn Kinder sich ins Nachtleben stürzen, sieht das anders aus als bei Erwachsenen. Zumindest, wenn es sich um die Aktion »Nightlife für Kinder« handelt – ein abendliches Ferienprogramm, das etliche Städte in Schleswig Holstein während der Herbstferien anbieten. Statt in der Disco zu tanzen, verausgaben sich die kleinen Nachtschwärmer als Detektive auf der Jagd nach Mister X. Statt Bier und Cocktails gibt es Stockbrot und Bratwurst am Lagerfeuer. Geflirtet wird mit den vierbeinigen Bewohnern eines Ponyhofs. Und statt einer Kinoleinwand beobachtet man lieber gleich das ganze Firmament mit einem Fernrohr. Alle Nacht-Abenteuer sind inklusive Abendessen und Betreuung, für Kinder von sechs bis zwölf Jahren geeignet und finden immer donnerstags, freitags und samstags statt. Die Eltern können solange ihr eigenes Nightlife-Programm verwirklichen – und für ein paar Stunden Ferien vom Familienurlaub machen.

Fahrt ins Leben

»Nightlife für Kinder«. 7.–23. Oktober, immer Do, Fr und Sa 19–23 Uhr, je nach Paket 10–26 Euro/Kind, www.sh-elternfrei.de

Was für ein Schlitten! Und ganz ohne PS. Denn man braucht kein Auto, man braucht kein Kart, man braucht nicht einmal eine Seifenkiste. Ein Brett und ein paar Rollen drunter – und los geht die Fahrt ins Leben! Sabine Weiss fotografierte dieses automobile Kinderglück auf den Straßen von Paris, der Stadt, wo sie seit Langem lebt. Sie ist eine der ganz großen Fotoreporterinnen unserer Zeit. Geboren wurde sie als Sabine Weber 1924 in der Schweiz. Doch zu Hause ist sie in der ganzen Welt. Entdeckt Anfang der fünfziger Jahre von dem legendären französischen Fotografen Robert Doisneau, hat sie in der goldenen Zeit der großen Illustrierten für alle internationalen Magazine gearbeitet, für Time und Life, für Paris Match und Vogue. Seltsamerweise blieb ihr faszinierendes Werk hierzulande im Schatten anderer großer Kollegen. Das will das Aachener Suermondt-Ludwig-Museum ändern. Bekannt für seine exzellenten Fotoschauen, zeigt das Haus jetzt eine umfassende Retrospektive mit Bildern aus fünf Jahrzehnten. Zu entdecken ist eine Fotografin des Lebens, des Lebens in jedem Alter, jeder Kultur, an jedem Ort der Erde. Denn nichts interessiert Sabine Weiss so sehr wie Menschen in Aktion, ob als Tanzende, Betende, Lachende … oder eben als Reisende wie jene Jungen 1952 in Paris. B.E. Foto: Sabine Weiss

Sabine Weiss: »Photographie aus fünf Jahrzehnten«. Suermondt-Ludwig-Museum, Wilhelm-Str. 18, 52070 Aachen, Tel. 0241/479 80 20. Bis 30. Oktober, Di–Fr 12–18 Uhr, Mi 12–20 Uhr, Sa und So 11–18 Uhr, Eintritt 5 Euro, www.suermondt-ludwig-museum.de

L.A. treibt’s bunt Die Universal Studios besichtigen, über den Walk of Fame schlendern, vor den Anwesen von Filmstars durch die Hecken spähen – ein bisschen Hollywood-Glamour live erleben: Das war bisher der Grund, warum viele Touristen nach Los Angeles reisten. Nun sieht es so aus, als bekäme Hollywood Konkurrenz von einem weiteren Besuchermagneten – dem Projekt »Pacific Standard Time: Art in L.A. 1945–1980«, benannt nach der Westküsten-Zeitzone. Die Initiative, zu der sich mehr als 60 Museen und kulturelle Organisationen zwischen Santa Barbara, San Diego und Palm Springs zusammen geschlossen haben, ist die größte Kunst-Retrospektive in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Von Anfang Oktober an sind in ganz Südkalifornien Ausstellungen zu sehen, die sich mit der schillernden Kunstszene von Los Angeles befassen. Zusätzlich zu den 68 großen Museumsschauen zeigen außerdem mehr als 70 Galerien in Los Angeles ihr eigenes Programm zum Projekt. Insgesamt ist »Pacific Standard Time« auf ein halbes Jahr angelegt. Einer der Höhepunkte in dieser Zeit wird ein zehntägiges Performance- und Kunstfestival im Januar 2012 sein, das ebenfalls an vielen Orten stattfinden wird – in L.A. Downtown genauso wie in der Wüste. »Pacific Standard Time«. Bis Ende März 2012, Festival 19.–29. Januar 2012, www.pacificstandardtime.org

CHANCEN

S. 91

BERUF

Wie wird man eigentlich Baumhausbauer? Johannes Schelle zeigt, wie’s geht – bei der Arbeit an seinem 60. Holzbau in luftiger Höhe

SCHULE HOCHSCHULE BERUF

LESERBRIEFE S. 104 DIE ZEIT DER LESER ab S. 92 STELLENMARKT S. 103

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

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BUNDESWEHRUNI

Fatales Signal Münchner Studenten stützen ihre extrem rechtslastige Zeitschrift Der studentische Konvent der Universität der Bundeswehr in München-Neubiberg hat mit großer Mehrheit abgelehnt, den extrem rechtslastigen Chefredakteur der Studierendenzeitschrift Campus des Amtes zu entheben. Er bewege sich »voll und ganz im legalen Bereich«, sagte Konventssprecher Dennis Horz, und habe von den rund hundert bei der Aussprache anwesenden Studierenden »volle Rückendeckung« erhalten. Oberleutnant Martin Böcker und seine Mitstreiter in der Campus-Redaktion propagieren das Gedankengut der Neuen Rechten, wo die Grenze zwischen national-konservativ und rechtsextrem nicht immer klar zu ziehen ist. Sie machen Stimmung gegen Frauen in der Bundeswehr und Homosexuelle, verehren Ernst Jünger und Oswald Spengler. Der Konvent hat es versäumt, sich davon zu distanzieren. Er hat Corpsgeist über staatsbürgerliche Verantwortung gestellt, zu der auch gehört, dass man Minderheiten respektiert und extremistische Äußerungen vermeidet. Und er hat die Universitätspräsidentin Merith Niehuss bloßgestellt, die diesem Treiben ein Ende bereiten wollte und zu Unrecht eines Angriffs auf die Meinungs- und Pressefreiheit bezichtigt wurde. Dies ist ein fatales Signal in Zeiten, in denen nicht wenige fürchten, dass bei der Wandlung der Bundeswehr von der Wehrpflichtigen- zur Berufsarmee das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform abhandenkommen könnte. GEORG ETSCHEIT

Einer sagte, wie es war Missbrauch an der Odenwaldschule: Warum ist Salman Ansari der einzige Lehrer, der sich auf die Seite der Opfer stellte? VON MARTIN SPIEWAK

Salman Ansari, 70, wirft der Reformpädagogik vor, den sexuellen Missbrauch bis heute zu verdrängen

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Fotos: Hardy Müller für DIE ZEIT, Thomas Lohnes/ddp (kl.)

om Balkon aus kann Salman Ansari jeden Tag seine Vergangenheit sehen. Wenige Hundert Meter von seinem Haus entfernt erhebt sich auf einer Anhöhe ein brauner Giebel über dichten Tannen. Zwei weiße Fenster blicken über saftige Wiesen ins Tal. Manchmal weht der Wind das Geschrei von Kindern herunter. Der Giebel gehört zu einem der Häuser der Odenwaldschule, des einstigen Vorzeigeinternats, das zum Ort des größten Missbrauchsskandals der Republik wurde. Hier, im hessischen Ober-Hambach, hat Salman Ansari fast die Hälfte seines Lebens verbracht: rund dreißig Jahre als Lehrer, elf Jahre als Oberhaupt einer Internatsfamilie. Mit seiner Frau wohnte er auf dem Gelände, sein Sohn besuchte hier die Schule. Und selbst nach seiner Pensionierung 2005 blieb er der OSO, wie das Internat hier alle nennen, so nahe wie kein zweiter Ehemaliger. Gleichzeitig findet man niemand anderen in der Lehrerschaft, der sich so weit von der Odenwaldschule distanziert hat wie Salman Ansari. In den unzähligen Medienberichten über die pädosexuelle Gewalt an der ehemaligen Modellschule hat er den Vorwürfen eine Stimme gegeben. Kein Film über das Leid der missbrauchten Schüler kommt ohne ihn als Zeugen aus. Und wenn in der nächsten Woche mehr als tausend Schulreformer auf einem Kongress zusammenkommen, um die Reformpädagogik zu feiern, dann ist es auch Salman Ansari zu verdanken, dass der sexuelle Missbrauch erstmals in diesen Kreisen prominent auf der Tagesordnung steht. Warum bricht jemand so konsequent mit seiner Biografie? Wie gelingt es, »ich« und »Nein« zu sagen, während sich andere im »wir« verstecken und im Schwarm der Jasager mitschwimmen? Und woher stammt die Ausdauer, jahrelang auf Aufklärung zu drängen – ohne jeden Erfolg? Es ist die alte Frage nach den Wurzeln von Widerstand. In diesem Fall lautet eine Antwort: Sturheit bis zur Rechthaberei, eine andere: Herkunft. Wer wie Salman Ansari im jugendlichen Alter aus Pakistan zum Chemiestudium nach Deutschland kam, ist es gewohnt, anders zu

sein. Bis heute scheint es ihm geradezu Vergnügen zu bereiten, gegen den Mainstream in der Pädagogik zu stänkern. Etwa wenn der Naturwissenschaftler den »Forscherwahn« in Kitas und die »Akademisierung der Kindheit« kritisiert. Aber es gibt noch eine andere, wichtigere Erklärung dafür, dass Salman Ansari der einzige Lehrer der Odenwaldschule war, der sich von Beginn an unmissverständlich auf die Seite der missbrauchten Schüler gestellt hat: sein – schlechtes – Gewissen. »Auch ich war ein Profiteur des Systems von Herrn Becker«, sagt Ansari. »Auch ich habe mich schuldig gemacht.« All das liegt schon lange zurück. Verzeihen kann er es sich dennoch nicht. Siebzig Jahre ist er mittlerweile, ein etwas untersetzter Mann mit dunkler Haut und sanftem Wesen. Seine braunen Augen verschwimmen hinter Brillengläsern. Wenn er redet, ertönt ein leiser Singsang. Andere sagen »Becker«, wenn sie vom ehemaligen Schulleiter und Haupttäter Gerold Becker sprechen, oder: »der pädophile Becker«. Ansari vergisst niemals, das höfliche »Herr« davorzusetzen. Schließlich hat Gerold Becker auch ihn stets höflich behandelt. Noch gut erinnert sich Salman Ansari an den Tag, als er sich dem damals jungen Schulleiter der Odenwaldschule vorstellte. Der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer, ein Freund Ansaris und ehemaliger OSO-Schüler, hatte den promovierten Naturwissenschaftler empfohlen. Ansari war nur halbherzig gekommen. Er hatte an der Darmstädter Hochschule einen festen Job. Doch der Menschenbezauberer Becker – charmant, intelligent, wortgewandt – umgarnte ihn. Persönlich fuhr er den Gast mit seinem VW-Bus nach Hause. »Eine Schule mit einem so sympathischen Leiter muss einfach gut sein«, dachte sich Ansari und ließ sich umstimmen. Wenige Monate später gehörte er zur OSOGemeinschaft, verantwortlich für neun Jungen und Mädchen zwischen 12 und 18 Jahren. Dass er vom Unterrichten nicht das Geringste verstand, störte niemanden. Ebenso wenig, dass ihm jede Erfahrung mit Kindern fehlte. »Man ließ mich einfach machen.« Das ist ein Schlüsselsatz in Ansaris Erinnerungen zum Verstehen der damaligen Oden-

Eine Sprache für das Erlebte Als die Odenwaldschule im Juli 2010 zu einem öffentlichen Hearing über den Missbrauchsskandal lud, war auch Jürgen Dehmers im Saal. Es gab Leute, die Gerold Becker verteidigten. Dehmers hörte sich das eine Weile an. Dann nahm er das Mikrofon und rief: »Damit ihr es endlich kapiert: Ich bin davon aufgewacht, dass Becker wie ein Berserker meinen Schwanz gelutscht hat!« Dies war eine von zahllosen Attacken Beckers und ereignete sich Anfang der Achtziger, als Dehmers 14 war. Jürgen Dehmers, der Name ist ein Pseudonym, war derjenige, der den Skandal 1999 öffentlich machte. Es blieb damals nahezu ohne Resonanz. Nun hat er ein Buch geschrieben über das, was er und andere an der Reformschule erlitten haben (siehe auch »Eros, Herrschaft, Missbrauch« in der ZEIT Nr. 40/11, S. 53): »Wie laut soll ich denn noch schreien?«

Dehmers’ Sprache ist klar, wütend und in einem guten Sinne rotzig. Ihm gelingt es, ein Gefühl dafür zu erzeugen, was für eine Atmosphäre an der Schule geherrscht haben muss. Klebrig und bigott muss es gewesen sein. Die angebliche Freiheit, deren sich die Odenwaldschule rühmte, war für viele Schüler nur eine Täuschung, eine Falle. »Ich gehöre ja zu den Opfern, denen es relativ gut geht«, sagt Dehmers, obwohl ihn das Erlittene in vielfältiger Weise krank gemacht hat. »Ich habe eine Sprache für das Erlebte gefunden. Viele andere haben nie geredet und werden niemals reden, weil sie es nicht können.« Dehmers’ Buch ist ein Angebot, das Geschehene zu verstehen. MEIKE FRIES Jürgen Dehmers: Wie laut soll ich denn noch schreien? Rowohlt 2011; 320 S., 19,95 €

Die Odenwaldschule, Internat im hessischen Ober-Hambach

waldschule. Unzählige Reden und Abhandlungen sind über ihre besondere Pädagogik verfasst worden. In Ansaris Beschreibungen entpuppen sie sich alle als reine Dichtung. Stattdessen ist das berühmteste Internat der Republik in diesen Jahren ein Ort selbstbezogener Beliebigkeit: für die einen das Zentrum linker Weltveränderung, für andere eine anarchische Kommune, mal Selbsthilfegruppe, mal Abenteuerspielplatz der Triebe. Während dieses OSO-Universum jeder Vorliebe eine Heimat gibt, arbeitet Becker am Glanz der Schule nach außen. Einmal begleitet Ansari ihn zu einem seiner vielen Vorträge. Es geht um Leistung in einer demokratischen Schule. Nach dem Referat fragt der

Chemielehrer seinen Schulleiter, ob er nicht in die beschriebene Schule wechseln dürfe – sie erscheine ihm traumhaft. Becker lächelt ihn an und entgegnet: »Dann habe ich also wieder schön gesungen.« Zu diesem Zeitpunkt hat sich Ansari in OberHambach bereits den Ruf eines konservativen Querulanten eingehandelt. Er ist einer, der es nicht hinnehmen will, wenn Schüler Drogen nehmen oder Lehrer ein Verhältnis mit ihren Schülerinnen pflegen. Der Zeitgeist, der in Ober-Hambach heftiger weht als anderswo, ist offensichtlich nicht seiner. Aufgewachsen in einer Großfamilie, weiß er, dass Fortsetzung auf S. 88

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DIE ZEIT No 41

SCHULE

CHANCEN

Reif für die Bühne

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s ist ihre dritte Theaterstunde. Maike Schomaker und ihre Schüler stehen in der Mitte des Klassenzimmers im Kreis, die Tische sind zur Seite geschoben, an der Tafel steht »Theater«. »Unsere Bühne geht bis zu den Tischen«, erklärt die Lehrerin an der Elbinselschule im Hamburger Süden ihren Schülern. Sie will etwas mit ihnen ausprobieren, das sie am Vortag bei einer Lehrerfortbildung für Theater gelernt hat, eine Übung zum Thema Requisit als imaginäres Objektspiel. »Ich gebe jetzt etwas herum, und der Trick ist, dass es nicht da ist«, sagt sie und tut so, als habe sie ein niedliches Tierchen in der Hand. Vorsichtig gibt sie es dem Erstklässler zu ihrer Rechten. Der zögert erst, nimmt das unsichtbare Etwas dann in seine Hände, streichelt es und gibt es behutsam weiter. Die Übung gelingt, die Lehrerin ist zufrieden. Man merkt ihr an, dass sie Theater toll findet, und sie hält den Unterricht für sinnvoll: »Die Schüler lernen dabei zum Beispiel, verschiedene Gefühle auszudrücken und darauf zu reagieren.« Darstellendes Spiel wird in Deutschland bereits an den meisten Schulen in irgendeiner Form angeboten, nicht nur in Hamburg. Doch die Hansestadt wagt nun einen Vorstoß: Als erstes Bundesland führt sie Theater als Pflichtfach an den Grundschulen und in der Unterstufe ein und riskiert damit eine bundesweite Debatte. Spätestens vom kommenden Schuljahr 2011/12 an muss Theater im Schnitt mindestens eine Stunde wöchentlich unterrichtet werden, ausgenommen sind die Berufsschulen. In der 7. Klasse können die Schüler das Fach dann weiter belegen oder stattdessen Musik oder Kunst wählen. Warum gerade Theater als zusätzliches Fach in die neuen Stundentafeln aufgenommen wurde, will die Hamburger Schulbehörde nicht begründen. Man habe es den beiden anderen künstlerischen Fächern gleichstellen wollen, heißt es nur. »Wir sind das erste Bundesland, das Theater durchgängig von der Grundschule bis zum Abitur anbietet«, freut sich die Theater-Fachreferentin der Schulbehörde, Isabell Jannack. Beim Bundesverband Theater in Schulen wittert man nun eine Chance für ein Fach, das an den meisten Schulen bisher ein Schattendasein fristet. Kerstin Hübner: »Wir hoffen, dass Impulse von Hamburg ausgehen und sich Theater bundesweit durchsetzt.« Doch außerhalb der Behörde jubelt sonst kaum jemand. Im Gegenteil: Die plötzliche Neuerung bringt die Hamburger Schulen in Nöte. Auf Theater angesprochen, nennen Leiterinnen und Leiter aller Schulformen das neue Pflichtfach ein »ganz großes Problem« und einen »Störfaktor«, sie fühlen sich von der Schulbehörde übergangen, halten die Einführung für übereilt,

nicht durchdacht und sprechen von »massiven Missständen«. Missstände entstehen vor allem dadurch, dass es weder genügend Räume für Theater noch genügend Fachlehrer gibt. Die Umsetzung der Neuerung erfolgt denn auch insgesamt nur zögerlich: In den fünften und sechsten Klassen lässt sich derzeit nur in Ausnahmefällen Theaterunterricht beobachten. Die meisten Stadtteilschulen und Gymnasien wollen ihn erst einführen, wenn es gar nicht mehr anders geht, also zum kommenden Schuljahr. Schauspielern sei zwar gut für die Entwicklung der Persön-

Spiel mit Requisiten: Theaterunterricht an der Elbinselschule in HH-Wilhelmsburg

VON JULIA NOLTE

lichkeit, aber keine Kompetenz, die Schüler in gen ist. Unter den Anwesenden ist auch Maike Klasse 5 und 6 dringend benötigten, sagt Marga- Schomaker, die Lehrerin von der Elbinselschule. rete Eisele-Becker, die stellvertretende Vorsitzen- Es habe gut geklappt, sagt eine von ihnen. Es sei de des Gymnasialschulleiterverbandes in Ham- unglaublich gewesen, sagt eine andere, »still und burg. Die Mehrzahl der Mitglieder lehne die konzentriert«. Was anmutet wie eine SelbsthilfeNeuregelung ab: »Gerade im G 8 brauchen wir gruppe, ist die Lehrerfortbildung Theater in der die Zeit für die Kernfächer – Mathe, Deutsch, Grundschule des Landesinstituts für LehrerbilEnglisch und die Naturwissenschaften. Wir wol- dung. In 60 Stunden sollen Lehrer hier lernen, wie man mit Schülern Theater spielt. 132 haben len kein zusätzliches ästhetisches Fach!« Es ist nicht das erste Mal, dass Politik und sich angemeldet, 50 haben einen Platz bekomSchulen (und Bürger) in Hamburg aneinander- men. »Der Bedarf ist so groß, dass wir das gar geraten. Seit Jahren schon gibt es Diskussionen, nicht auffangen können«, gesteht die Kursleiteetwa um die Schulzeitverkürzung auf zwölf Jah- rin Johanna Vierbaum. Sie klappt eine Holztruhe auf und stellt den re und um die durch einen Volksentscheid gekippte Schulreform, welche die Grundschule Frauen eine Aufgabe, die sie später im Unterricht durch eine sechsjährige Primarschule ersetzen verwenden können: »Ihr nähert euch der Schatzsollte. Auch die Zusammenlegung von Gesamt-, truhe, nehmt einen Gegenstand heraus und Haupt- und Realschulen zu Stadtteilschulen zeigt, wie ihr dazu steht.« Aus allen Richtungen bleibt problematisch: Manche Standorte wur- schreiten oder stürmen die Lehrerinnen auf die den geschlossen und stehen leer, andere platzen Kiste zu und greifen sich Requisiten heraus, die aus allen Nähten. Eine wohl noch größere Bau- sie eifrig oder heißhungrig durch den Raum trastelle ist die Abschaffung des Sitzenbleibens und gen, einen roten Boxhandschuh etwa oder ein die dringend nötige Förderung betroffener Brathähnchen aus Plastik. Die Kursleiterin lobt: Schüler. Das ständige Hin und Her lässt Lehrer »Die Kolleginnen sind alle sehr spielfreudig.« Doch das allein reicht nicht. Die neue Mateund Schulleiter aufstöhnen. Manchen fällt zum Stil der Hamburger Schulpolitik nur noch eine rie bringt die Schulen nicht nur in Personalnöte, plattdeutsche Redewendung ein: »Rin in de sondern stellt auch die Planung auf den Kopf. Wie lässt sich das Zusatzfach im Stundenplan Kartüffeln, rut ut de Kartüffeln.« Das neue Pflichtfach stellt die Schulen zu- unterbringen? Auch in dieser Frage schiebt die sätzlich vor ein ernstes Personalproblem: In Behörde den Schulen den Schwarzen Peter zu. Hamburg gibt es jetzt zwar das Fach Theater, Offiziell wird kein Fach gekürzt, die Schulen aber keine an der Universität ausgebildeten sollen selber mit den Stunden jonglieren und Theaterlehrer. Die Änderung wurde kurz vor entscheiden, wie sie Raum für Theater schaffen. Manch eine Grundschule verden Sommerferien verkündet zichtet dafür auf die dritte – da waren alle Lehrer bereits Stunde Sport. Andere überleeingestellt, nur nicht für TheaSchwerer Stoff gen, eine Theater-Projektwoter. »Bis zum Sommer durfte che durchzuführen, sodass alle man in Hamburg eigentlich Rollenspiel und Panto- Fächer von der Kürzung begar keine Lehrer einstellen, die mime, kein Problem. troffen sind. An der ElbinselDarstellendes Spiel als Zweitschule geht der Theaterunterfach studiert hatten, weil es bei Aber Theaterunterricht unter anderem zulasten der Behörde nicht als ordentliricht? »Das ist eine von Englisch. »Das sorgt bei ches Fach galt«, sagt Sven KerNummer größer. Und manchen Kollegen für Ärger«, telhein, Schulleiter eines Gymniemand hat so richtig sagt Maike Schomaker, die genasiums. Nun sind Theaterrade erst eine Zusatzausbillehrer plötzlich heiß begehrt. Ahnung vom Fach« dung für das Fach Englisch Die Schulen sind ratlos. abgeschlossen hat. Als sie aus »Wo sollen wir von heute auf morgen Fachlehrer herbekommen?«, fragt Gud- der Zeitung von der Neuerung erfuhr, war ihre run Wolters-Vogeler, Vorsitzende des Verbandes erste Reaktion trotzdem keine Verärgerung. Sie Hamburger Schulleitungen. »Wir sind am Ran- dachte sich, »Es macht bestimmt Spaß, das zu de unserer Kapazitäten.« Die Lehrer, die bisher unterrichten« – und meldete sich bei der TheaDarstellendes Spiel unterrichtet haben, können terfortbildung an. Für die Schüler bedeutet die Änderung zuden Zusatzbedarf allein nicht decken. Doch von der Uni Hamburg können die fehlenden Fach- nächst einmal: Sie haben künftig von der ersten kräfte nicht kommen, denn dort kann Theater Klasse an ein Fach, das ihnen die Möglichkeit gar nicht auf Lehramt studiert werden. Dies ist bietet, sich auszuleben und vor allem in der Pudem Bundesverband Theater in Schulen zufolge bertät mit Identitäten und Rollen zu spielen. bisher nur in Niedersachsen, Bremen, Mecklen- Diese Vorzüge nennt Ingrid Ahlring, Schulleiteburg-Vorpommern, Berlin und Bayern möglich, rin der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, wo Theater schon seit mehr als zwanzig Jahren zum obwohl Theater dort gar kein Pflichtfach ist. Wer also soll den Schülern das Schauspielern Schulkonzept gehört, obwohl es in Hessen nicht beibringen? Manche Lehrer haben im Sprach- vorgeschrieben ist. Den Vorstoß der Hamburger unterricht schon Texte mit verteilten Rollen le- findet sie daher »grundsätzlich richtig und wichsen lassen, mit ihrer Klasse Pantomime gespielt tig«. Möglicherweise könne der Theaterunteroder ein Stück in der Schulaula aufgeführt. Aber richt gerade auf dem achtstufigen Gymnasium Theaterunterricht? »Das ist eine Nummer grö- auch ein Ausgleich zu den Paukfächern sein, etßer«, sagt die Lehrerin Cornelia Bernheim. was, das entspannt. Auch Kerstin Hübner vom »Und niemand hat so richtig Ahnung von dem Bundesverband Theater in Schulen findet die Fach.« Weil Theater auch bei ihr plötzlich auf Einführung des neuen Pflichtfachs positiv. »Jeder dem Stundenplan stand, hat sie sich kurzerhand braucht einen ästhetischen Zugang zur Welt«, bei einer Fortbildung angemeldet. Spaß mache sagt sie. Schauspiel dürfe nicht bestimmten das schon, sagt sie, »aber es ist auch eine Zusatz- Schultypen oder Altersgruppen vorbehalten sein. Trotzdem können alle Schüler von den Erbelastung«. Auf der Bühne der Französischen Schule sit- wachsenen auch erwarten, dass ihre Lehrer komzen Cornelia Bernheim und 24 andere Frauen petent sind und hinter ihrem Fach stehen. Um im Stuhlkreis beieinander. Sie sind ganz in dies zu erreichen, braucht es aber nicht nur Zeit Schwarz gekleidet, tragen per Hand beschriftete für eine fundierte Ausbildung, sondern auch für Namensschilder und tauschen sich darüber aus, Diskussion und Mitgestaltung. Und die haben wie es ihnen in der vergangenen Woche ergan- in Hamburg bisher nur eine Nebenrolle gespielt.

Fortsetzung von S. 87

Regeln das Leben leichter machen. Literatur findet Ansari wichtiger als Politik. Und auch von einem anderen Deutschland träumt Ansari nicht. Das aktuelle ist ihm ganz sympathisch. Ansari ist nicht der einzige Kritiker der Laisserfaire-Atmosphäre an der Odenwaldschule, aber der sichtbarste. Jeden Morgen sitzt er mit seiner Internatsfamilie im Speisesaal als Erster am Frühstückstisch. Während andere Lehrer schon eine Drei unter der Klassenarbeit als Menschenrechtsverletzung betrachten, gibt es in Chemie auch mal Fünfen. Nie sieht man Ansari einen Schüler umarmen. »Er war kein Kumpel-Typ, mit dem man saufen konnte. Als Schüler fand ich das ganz seltsam«, erinnert sich Jürgen Dehmers, der seine Erlebnisse als Missbrauchsopfer gerade als Buch veröffentlicht hat (siehe Kasten Seite 87). Warum aber bleibt Ansari an der OSO? Wieso zieht er nicht die Konsequenz und sucht sich wie andere Kollegen eine neue Stelle? Die Antwort ist paradox und typisch für Ansari: An einer Schule, an der das traditionelle Lernen wenig zählt, will Ansari unbedingt ein guter Lehrer werden. Er erprobt Unterrichtsmodelle und studiert anhand der Klassiker der Kognitionswissenschaften, wie Schüler lernen. Später baut er eine Ausbildung zum chemisch-technischen Assistenten auf, akquiriert Projektgelder, hält Vorträge. Der pädagogische Laie entwickelt sich zum Fachdidaktiker – und niemand redet ihm rein. An einer anderen Schule wäre dieser Erfolg kaum möglich gewesen.

Salman Ansari wählt das richtige Leben im falschen. Die Quittung dafür bekommt er im Juni 1998, als zwei Schüler in einem Brief an die Odenwaldschule beschreiben, wie sie jahrelang von Gerold Becker und anderen Kollegen systematisch sexuell missbraucht wurden. Die Nachricht ist für Ansari ein Schock: Während er selbst eine erfüllte Zeit als Lehrer an der OSO verbrachte, wurden Kinder über Jahre an Körper und Seele beschädigt. Wieso habe ich davon nichts bemerkt? Warum ist keiner der Schüler zu mir gekommen? Was hätte ich tun können? »Das Haus brannte, und du bist mit einer Teetasse herumgelaufen, um zu löschen«, wirft ihm ein Schüler später vor. Der Satz hallt lange in ihm nach.

Einmal soll ein Kollege ihn sogar Judas genannt haben Dass die Vorwürfe stimmen, bezweifelt Ansari keinen Augenblick. Ebenso wenig, was nun seine Aufgabe ist: den Betroffenen zuhören, Aufklärung fordern, die Schule zum Handeln zwingen. Und als die Frankfurter Rundschau ein Jahr später erstmals über die Vorfälle berichtet und von anonymen Mitarbeitern schreibt, welche die Vorwürfe bestätigt hätten, steht nur einer in der Lehrerkonferenz auf und bekennt sich vor Kollegen dazu, mit dem Journalisten geredet zu haben: Ansari. Das ist der Bruch, auch wenn es damals noch nicht so aussieht. Nestbeschmutzer nennen sie ihn nun, einmal soll sogar das Wort Judas gefallen sein. Kollegen fragen Ansari, ob

er vielleicht selbst einmal missbraucht worden sei, weil er auf den »alten Geschichten« so penetrant herumreite. Die schlimmste Zeit sollte jedoch noch kommen. Denn der Artikel in der FR bleibt in der Öffentlichkeit ohne jeden Widerhall und zieht an der Schule so gut wie keine Konsequenzen nach sich. Gerold Becker, der nach seiner Ablösung als Schulleiter 1985 noch im Trägerverein tätig war, tritt zwar zurück, doch schon bald taucht er an der Schule wieder auf. Die Untersuchung ist beendet, bevor sie begonnen hat. Nur Ansari will sich damit nicht zufriedengeben. Ein Langstreckenläufer sei er einst gewesen, der ungern verloren habe, erzählen Kollegen. Zudem kann er sich in die Betroffenen hineinversetzen, denn er weiß, wie lange Gewalt die Seele quälen kann. Als Junge floh er nach der Teilung Indiens im Viehwagen mit seiner Familie und hunderttausend anderen nach Pakistan. Unzählige Muslime und Hindus wurden dabei abgeschlachtet. Seitdem meidet er große Menschenansammlungen. Die Erinnerungen daran beschäftigen ihn bis heute in einer Therapie. Also bohrt er weiter nach und erinnert die Schule immer wieder an ihr schmutziges Geheimnis. Taucht Gerold Becker irgendwo in der Republik als Redner oder Autor auf, geht ein Brief Ansaris an die Adresse: Man solle einem Kinderschänder kein Forum bieten. Kommt Ansari mit reformpädagogisch gesinnten Lehrern zusammen, spricht er sie auf den Artikel in der Frankfurter Rundschau an. Fast jeder

kennt den Bericht. Doch die Antworten lauten immer gleich: Die Ereignisse seien verjährt, es gebe kein Urteil, Herr Becker sei ein anerkannter Pädagoge. Der Kampf um die Wahrheit zehrt. Ansaris Sohn und seine Frau bitten ihn, die Sache auf sich beruhen zu lassen; er könne nichts mehr tun. Später plagen ihn Asthma und eine Gürtelrose. Am Ende hat er die Hoffnung fast aufgegeben – bis plötzlich, im Frühjahr vergangenen Jahres, ein neuer Anlauf der OSO-Opfer die Aufklärung endlich ins Rollen bringt und ein wahrer Tsunami der Berichterstattung das ganze Ausmaß des Verbrechens ans Licht bringt.

Ansari ist der Meinung, dass man das Internat besser schließen sollte Doch nach wie vor warten die Opfer auf eine Entschädigung. Bisher ist diesbezüglich im Grunde noch nichts geschehen. Und auch die Reformpädagogik habe ihre Schuld noch nicht abgetragen, sagt Ansari. Dass Beckers Lebenspartner, der berühmte Pädagoge Hartmut von Hentig, bei vielen noch immer ungebrochene Bewunderung erfährt, empfindet Ansari als beschämend. »Noch immer weigern sich die Vertreter der Zunft, den Missbrauch zum Thema zu machen«, sagt Ansari. Am übernächsten Wochenende könnte sich daran etwas ändern. In Bregenz trifft sich das

Netzwerk »Archiv der Zukunft« zur größten Zusammenkunft innovativer Schulen im deutschsprachigen Raum. Eigentlich wollte man auch hier lange Zeit die Opfer nicht anhören. Doch der Betroffenenverein Glasbrechen und sein Mitglied Ansari machten Druck, bis die Veranstalter nicht mehr anders konnten, als das Programm zu ändern. Experten diskutieren nun über Das Schweigen und seine Tabus in der Reformpädagogik, Missbrauchsopfer werden das Publikum mit ihren Wahrheiten konfrontieren, und der Dokumentarfilm Und wir sind nicht die Einzigen wird in einer Art Endlosschleife laufen. Salman Ansari, selbst einer der Gründer des Netzwerkes, wird nicht hingehen. Er ist vor zwei Jahren aus dem Verein ausgetreten, nachdem Hentig Ehrenmitglied wurde. Und die OSO, was bedeutet sie Ansari noch? Längst ist sein Kontakt zu allen ehemaligen Lehrern abgebrochen. Sein bester Freund im Kollegium redet nicht mehr mit ihm; er pflegte, wie herauskam, selbst eine Liebschaft mit einer Schülerin. Das Schulgelände meidet er. Mittlerweile ist Ansari der Meinung, dass man das Internat besser schließen sollte. Dennoch sagt Salman Ansari immer noch »wir«, wenn er von der Odenwaldschule spricht. Als ob er noch dazu gehörte. Und irgendwie stimmt das ja auch. www.zeit.de/audio

Fotos: Valeska Achenbach + Isabela Pacini für DIE ZEIT

Müssen Kinder von der ersten Klasse an Theaterunterricht erhalten? Hamburg sagt Ja. Nur: Wer soll das neue Pflichtfach unterrichten?

CHANCEN

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

HOCHSCHULE

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STUDENTEN ERKLÄREN IHRE WELT

»

Ist ›romantische Liebe‹ antiquiert?«

… fragt:

Was will Svenja Schulze?

Udo di Fabio, 57, Bundesverfassungsrichter

wenn das Kaminfeuer der Liebe nicht »jedenAuch Tag prasseln kann und das Bett im Kornfeld schon etwas durchgelegen ist, wage ich – ein zartes Pflänzchen auf dem weiten Feld der Liebesweisheit – zu behaupten, dass romantische Liebe auch in der heutigen Zeit aufrechterhalten werden und funktionieren kann. Romantisch ist Liebe für mich, wenn der gewöhnliche Augenblick durch die Zweisamkeit besonders wird, man mit der gleichen Leidenschaft zu lieben vermag wie der andere, und wenn die Vorstellung, zu zweit auf einer einsamen Insel zu stranden, keine Panikattacke hervorruft. Nein, es muss nicht immer der Sonnenuntergang sein. Dem, der sich nicht weiter mit der Theorie der romantischen Liebe auseinandersetzen möchte, lege ich folgende Verfahrensweise aus Erich Kästners Fabian ans Herz: »Die Liebe ist ein Zeitvertreib, man nimmt dazu den Unterleib.«

… antwortet: Maximilian Lanzinger, 21, der Kommunikationswissenschaft im dritten Semester an der LMU in München studiert

Die nordrhein-westfälische Wissenschaftsministerin sucht nach einer Linie – bislang vergeblich VON JAN-MARTIN WIARDA

N Fotos [M.]: Bernd Thissen/ddp images/dapd (gr.); Reiner Zensen/ecopix (r.o.); privat

eulich war Svenja Schulze wieder einmal sehr zufrieden mit sich, und das wollte sie der Welt auch gleich mitteilen. »Es gibt keine bessere Möglichkeit, Gleichstellungsbeauftragte, Gender-Forscherinnen und -Forscher, Hochschulleitungen und die Politik an einen Tisch zu bekommen«, schwärmte sie in einer ellenlangen Pressemitteilung über den bundesweit ersten »Kongress zur Geschlechtergerechtigkeit an Hochschulen«. Natürlich eine »Initiative der Ministerin« höchstpersönlich, wie man da nachlesen kann, der »über 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer« nach Düsseldorf gefolgt waren. Die Hochschulrektoren im größten Bundesland sind in diesen Tagen nicht so glücklich, wenn man sie auf die Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Nordrhein-Westfalen anspricht. Mehr als ein Jahr nach Amtsantritt kämpft die Sozialdemokratin Schulze mit hartnäckigen Imageproblemen: Sie habe sich immer noch nicht ausreichend in die Mechanismen moderner Forschungsförderung eingearbeitet, klagen die einen, zu wesentlichen Zukunftsfragen beziehe sie nicht eindeutig Stellung. Andere wiederum sehen bei ihr eine Verherrlichung der alten Gremienuniversität. »Die kennt sie noch von früher«, spottet ein Rektor über die ehemalige Bochumer Asta-Chefin. Ein Kollege von ihm formuliert krasser: »Die Ministerin faselt etwas von einem Innovationsbegriff, versucht sich an einer windelweichen Definition dessen, was autonome Hochschulen ihrer Meinung nach bedeuten, und am Ende steht man da und weiß nicht, ob sie eigentlich selbst versteht, was sie da sagt.«

Namentlich will sich kein Hochschulchef über die 43 Jahre alte Schulze äußern, zu groß ist das Misstrauen, das mit dem rot-grünen Koalitionsvertrag vergangenes Jahr seinen Anfang nahm. Seitdem wurde nicht nur die Streichung der 249 Millionen Euro Studiengebühren angekündigt, was viele Rektoren noch begrüßt hätten; es wurden aber auch die mit Krediten finanzierten Ausgleichszahlungen – das Geld, welches das Land an die Universitäten als Ersatz für die abgeschafften Studiengebühren zahlt – gedeckelt, was in Zeiten steigender Studentenzahlen auf reale Verluste hinausläuft. Besonderen Frust verursachen derzeit die von der Ministerin als »offen« titulierten Gespräche über die Zukunft der Hochschulräte, die, so wie Aufsichtsräte Unternehmensvorstände, die Rektorate kontrollieren sollen. Ziemliche Hochkaräter engagieren sich darin ehrenamtlich, von früheren Ministern über Manager und Wissenschaftler bis zu bekannten Künstlern. Ihre Macht ist groß: Sie wählen den Rektor, segnen das Budget ab und beraten über die strategischen Ziele der ihnen anvertrauten Hochschule. Ganz so offen, fürchten viele, sind die Gespräche über die Zukunft des Gremiums aber doch nicht. Denn sowohl SPD als auch Grüne haben vor der Wahl versprochen, die Hochschulräte zu schwächen. Im Koalitionsvertrag wird dies nur noch angedeutet – doch der Argwohn bleibt. »Wir führen ein Gespräch nach dem anderen, aber weder die Ministerin noch ihre Beamten haben uns erklären können, warum es ihrer Meinung nach überhaupt grundsätzlichen Reformbedarf gibt«, sagt Winfried Schulze, der den Hochschulrat der Uni Paderborn leitet.

Und was sagt die Ministerin? Ja, also zunächst einmal finde sie es gut, dass es so ein externes Gremium gebe, und das dürfe auf keinen Fall ein zahnloser Tiger werden. Andererseits müsse sie schon auch gucken, dass sie die Fraktionen ins Boot hole, aber im Übrigen sei nichts entschieden. Ach ja, eines doch schon: »Die Zusammensetzung der Räte wird sich ändern. Ich sehe da ein Übergewicht bei den Arbeitgebern.« Womöglich hat ihr Lavieren ja tatsächlich weniger mit Unkenntnis und mehr mit einer verzwickten Ausgangslage zu tun: Da ist dieses von ihrem FDP-Vorgänger Andreas Pinkwart »Hochschulfreiheitsgesetz« getaufte Reformpaket, das zu Oppositionszeiten von SPD und Grünen als Inbegriff einer Ökonomisierung der Hochschulen gegeißelt wurde. Ein Gesetz allerdings, das mittlerweile von Bildungsexperten als Vorbild für ganz Deutschland und von Rektoren der NRW-Hochschulen als Befreiung gefeiert wird. »Ohne Hochschulräte wären die Hochschulen weiter am Gängelband des Staates«, sagt der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth, der selbst im Hochschulrat von Bielefeld sitzt. »So einfach ist das.« So einfach ist es für Schulze eben nicht, denn ihre Parteifreunde wollen zumindest einige der verhassten Symbole der Pinkwart-Jahre fallen sehen. Die Räte wären ein geeignetes Opfer, zumal es um sie tatsächlich ein paar mal richtig Ärger gegeben hat – in Paderborn etwa, wo eine Rätin wegen eines Geschäfts mit der NPD abgelöst werden sollte, aber im Amt blieb, weil im Gesetz keine Abberufung vorgesehen ist. In Siegen gab es Ärger, als der Hochschulrat seinen Wunsch-

kandidaten gegen den Willen des Senates zum Rektor wählte. So wird die Debatte um die Hochschulräte zu einem Bewährungstest für die Ministerin: Schafft Schulze es als einstige Studentenfunktionärin, sich für ein Gremium starkzumachen, das bei Studierendenvertretern verhasst ist wie kein zweites – und das noch dazu aufgrund einiger Mängel für Negativschlagzeilen gesorgt hat? Besitzt sie die persönliche Stärke und die Fachkenntnis, einerseits behutsam die nötigen Korrekturen vorzunehmen, andererseits jedoch die Macht der Hochschulräte zu bewahren? Offenbar ist Schulze sich da selbst noch nicht so sicher. Vorsichtig sagt sie: »Ich bewerte die Rolle der Hochschulräte heute ein Stück anders als noch vor zwei Jahren.« Und was die Vorwürfe angehen, sie verfüge nicht über ausreichende Kompetenzen für ihren Job: »Als Frau bin ich solche Sätze gewohnt. Einem Mann wird so was nie vorgeworfen.« Womit sie wieder bei ihrem Lieblingsthema, der Geschlechtergerechtigkeit, wäre. Doch allmählich wird die Zeit knapp für Svenja Schulze, endlich auch bei den politisch umstrittenen Themen ihre Linie zu finden. Beispiel Exzellenzinitiative. Zwar geht der Ministerin das Wort »Elite« mittlerweile flüssig über die Lippen, doch sie sagt auch gern mal in Interviews, dass man sich in den vergangenen Jahren in den Hochschulen zu viel um Elite und zu wenig um Breite und Demokratie gekümmert habe. Die Rektoren, die für ihren Erfolg im Wettbewerb dringend Schulzes Rückendeckung brauchen, lässt dieses beherzte Sowohlals-auch zunehmend ratlos zurück.

NACKTE ZAHLEN

27,7

Prozent der Führungspositionen in deutschen Privatunternehmen sind derzeit mit Frauen besetzt. In den vergangenen Jahren hat die Anzahl weiblicher Chefs deutlich zugenommen. Dennoch ist ihr Anteil immer noch niedriger als der Anteil der weiblichen Beschäftigten insgesamt (45,6 Prozent).

CHANCEN

BERUF

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

Hoch hinaus

DAS ZITAT

Ephraim Kishon sagt:

Johannes Schelle hat sein Architekturstudium abgebrochen. Jetzt baut er Baumhäuser

VON KRISTIN HAUG

Foto: Markus Hintzen für DIE ZEIT

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reißig Stufen muss Willfried Bez hinaufsteigen, um anzukommen in seinem Kindheitstraum – er wird gerade in fünf Metern Höhe zusammengezimmert, aus hellem, warmem Lärchenholz. Bez ist 79 Jahre alt und lässt sich ein Baumhaus in seinen Garten setzen – über die Waldweidenröschen, den Sommerhibiskus, den wilden Wein, die Rosen und über die Ligusterhecke. »Ich hatte schon immer den Wunsch, über das Nachbarhaus in die Rhein-Main-Ebene schauen zu können«, sagt Bez. Der Rentner möchte dort oben den Blick genießen, mit den Nachbarn Einweihung feiern, Karten spielen und ab und zu im Baumhaus übernachten, auch mit seiner Frau, wenn sie mag. Nur einer Nachbarin gefällt nicht, was da gerade entsteht, so nah an ihrem Grundstück. Sie hat Angst, Besucher könnten vom Baumhaus aus in ihren Nachmittagstee schauen. Die Plattform ist schon fertig, lediglich Wände und Dachstuhl müssen noch errichtet werden. Die Hämmer klopfen, und die Sägen singen im Garten des Rentners. »Als ich jung war, habe ich von Baumhäusern geträumt«, sagt Bez. Mit dem Haus setzt er neue Maßstäbe in seiner Nachbarschaft, hier in Königstein im Taunus. Das Lärchenholz ist rau, riecht süß, und es klebt vom Harz der Fichten, auf denen die Plattform steht. Johannes Schelle streicht mit seiner Handfläche über die frisch konstruierte Plattform, auf die das kleine Haus gestellt werden soll. Mehr als ein Bett, ein Tisch und eine Eckbank werden nicht hineinpassen. Schelle ist mit seinen zwei Mitarbeitern aus München angereist. Eine gute Woche brauchen sie, um das Baumhaus aufzustellen. Die Einzelteile haben sie in der Münchner Werkstatt schon vorbereitet: gesägt, gebohrt, geklebt. Seit sechs Jahren baut der 36-Jährige schon Baumhäuser für Erwachsene, für Kindergärten, für Hotels. Kleine Häuser, große Häuser, Häuser mit Strickleitern, Sprossenleitern oder Wendeltreppen. In diesem Jahr werden es wohl insgesamt 20 sein. Je nach Projekt engagiert Schelle freie Mitarbeiter, Elektriker und Zimmerer, die ihn bei der Arbeit unterstützen. Der Handwerker hat weiche Gesichtszüge, einen warmen Blick und wirkt immer etwas besorgt. Schelle ist einer, der sich um seine Kunden kümmert, sich mit ihnen unterhält, mit ihnen Kaffee trinkt. Er hat einmal Architektur studiert, dann aber abgebrochen, weil ihm das Studium zu lange dauerte, weil er sich für die Theorie nicht begeistern konnte und nur mit Holz arbeiten wollte. Es sei ein tolles Material, sagt er: »Es riecht gut, es schaut gut aus, und es ist wahnsinnig vielseitig.« Schelle wurde dann Zimmermeister und heuerte bei seinem Vater an. Er sollte die Baufirma übernehmen, die einst der Urgroßvater in München gegründet hatte. Die Familie war fassungslos, als er bei seinem Vater kündigte, um Baumhäuser zu bauen. Wie Willfried Bez träumte auch Schelle schon als kleiner Junge von Baumhäusern, von einem Platz in der Höhe, einem Domizil zum Verweilen, einem Ort, den ungebetene Gäste nicht einfach betreten können. Damals habe er sich ein paar Bretter aus der Garage seiner Eltern geholt und sie wild in eine Rotbuche getrieben. Dann, Jahre später, während der Semesterferien, baute sich Schelle ein zweites, größeres Baumhaus, eines zum Übernachten. Irgendwann übermannte ihn die Lust am Baumhausbauen, und so setzte er ein Foto seines Prototyps auf eine »unglaublich unprofessionelle« Homepage – und bot sich an als Baumhausbauer.

Auf der Wendeltreppe zu seinem 60. Baumhaus, in Königstein: Johannes Schelle

Nach zwei Jahren kam der erste Auftrag. Am Anfang habe er kaum Erfahrung gehabt, aber mit jedem Haus dazugelernt. Vom ersten Lohn, von viereinhalbtausend Euro, leistete sich der Zimmermeister eine neue Website mit professionellen Fotos, kaufte sich Werkzeug und schaltete Anzeigen im Internet. Fast alle Anfragen und Aufträge erhalte er über die Homepage. »Die meisten Kunden sind erstaunt, wenn sie die Preise erfahren.« Viele rechneten mit 300 Euro, aber allein das Material koste schon das Zehnfache. Schelle verlangt für seine Baumhäuser, je nachdem, wie groß sie sind und welche Ausstattung sie haben, 6000 bis 40 000 Euro. Seit einigen Jahren lassen sich immer mehr Menschen Baumhäuser in ihre Gärten setzen, vielleicht um der Natur näher zu sein oder um sich etwas Besonderes zu leisten. Architekten und Zimmerleute haben diese Nische erkannt und bieten individuell zugeschnittene Baumdomizile an. In Deutschland berichten die drei größten Hersteller von Baumhäusern, dass sie jedes Jahr mehr Aufträge erhalten – das Geschäft mit den Baumhäusern floriert. Eine Baugenehmigung braucht man dafür nicht, solange man das Haus in den eigenen Garten setzt, es eine gewisse Größe nicht überschreitet und nicht gewerblich genutzt wird. »Das ist aber oft eine rechtliche Grauzone«, sagt Schelle. Auch Hoteliers reizt die Idee vom Übernachten in den Bäumen. In Görlitz, Sollingen, in der Nähe von Ellwangen und im Spessart gibt es bereits Baumhaushotels. Die Zimmer zwischen den Zweigen sind mitunter luxuriös und mit Doppelbetten, Bädern, Strom und Heizung ausgestattet. Eine Nacht kostet, je nach Saison, Verpflegung und Aufenthaltsdauer, zwischen 40 und 180 Euro. Der Markt sei zwar noch nicht groß, aber um mithalten zu können, müsse man sich ständig weiterbilden, sagt Johannes Schelle. Zum Beispiel mit Baumkletter- oder Baumpflegekursen. »Ich muss wissen, wie ich in Bäumen arbeiten kann, wie sie funktionieren und wie ich sie am wenigsten schädige.« Schlimm sei es, wenn Handwerker Wurzeln aufhackten oder Äste aus Baumkronen sägten. Schelle versucht, die Bäume so wenig wie möglich zu verletzen, indem er etwa mit besonderen Schrauben oder Edelstahlbolzen arbeitet, die im Baum nicht rosten können. Böse Briefe von Umweltschützern habe er noch keine erhalten. Sein jüngster Kunde war fünf Jahre alt, erzählt Schelle. »Er hat seine Eltern so lange bequatscht, bis sie ihm das Baumhaus kauften.« Überhaupt seien seine Auftraggeber meistens Eltern, die ihren Kindern etwas bieten wollten. »Wenn sie dann aber sehen, was wir für Häuser bauen, dann sollen wir die Zimmer meistens größer machen, damit auch die Eltern mal darin übernachten können.« Für Willfried Bez baut Schelle nun sein 60. Baumhaus. Er braucht etwa drei Kubikmeter Lärchenholz, einen halben Kubikmeter Fichte, 1000 Schrauben, 700 Nägel, Fenster, Fenstertüren, Dachpappe, Styropor zum Dämmen und ein paar Leitungen für den Strom. Die meisten Baumhäuser stellt er von März bis Oktober auf. Bei Kälte und Nässe sei es zu gefährlich, auf Bäumen und Dächern herumzuklettern. Doch auch im Winter hat Schelle zu tun, dann baut er Türen und entwirft neue Modelle. Als alles fertig ist, sitzt Willfried Bez am Abend mit seiner Frau bei einer Flasche Sekt in seinem neuen Baumhaus. Inge Bez hat sich extra ein Dirndl angezogen. Freuen kann sich das Ehepaar trotzdem nicht. Die Nachbarin hat sie bei der Baubehörde angezeigt, weil das Baumhaus zu dicht am Nachbargrundstück stehe. Vielleicht müssen sie es bald wieder abbauen lassen.

CHANCEN KOMPAKT

»Und was machen Sie so?« Vor einer Verhandlung, auf einer Party, im Fahrstuhl: Worauf es beim Small Talk wirklich ankommt Nähe aufbauen Nur wer mit seinem Gesprächspartner im Blickkontakt bleibt und nicht nebenbei die Umgebung sondiert, vermittelt ihm das Gefühl, wichtig zu sein. Anstarren sollte man ihn natürlich nicht. Eine offene Haltung baut Distanz ab, also nicht die Arme verschränken. Auch wichtig: Eine Armlänge Abstand halten, damit der andere sich nicht bedrängt fühlt. Aber auch man selber muss sich wohlfühlen. Dabei hilft die Haltung: aufrecht und auf beiden Beinen stehen, beim Sitzen leicht nach vorn lehnen. Und: Wenn einem gar nichts einfällt, ist schweigen und freundlich gucken besser als krampfhaft zu versuchen, etwas zu sagen. Das passende Thema finden Small Talk vor einem Bewerbungsgespräch oder einer Verhandlung ist natürlich anders als auf einer Party. Generell sollte der Ton aber nicht zu förmlich sein; locker, aber nicht anbiedernd. Das wird er, wenn Sie ein Thema wählen, das ebenfalls nicht anstrengend ist. Einerseits muss es etwas sein,

wozu Sie etwas zu sagen haben, sonst fühlen Sie sich unwohl, und das merkt der Gesprächspartner. Andererseits muss das Thema Ihrem Gegenüber die Möglichkeit geben, darauf einzugehen. Von Experten immer noch für passend gehalten ist das Thema Wetter. Von hier aus kann man zu Plänen fürs Wochenende, zu Reisen, Hobbys, Sport überleiten. Auch eine allgemeine Frage kann helfen, etwa: »Wie lange arbeiten Sie schon hier?«, oder: »Ist der Kaffee sehr stark?« »Beim Small Talk geht es nicht um Sachinformationen, sondern darum, eine Beziehung herzustellen oder zu pflegen«, sagt die Sprachwissenschaftlerin Katja Kessel, die ihre Doktorarbeit über Small-Talk-Ratgeber geschrieben hat. Tabus sind, klar: Krankheiten und Politik. Krankheiten sind unangenehm und intim, politische Meinungsäußerungen können zu Konflikten führen, und die können die eben begonnene Beziehung stören. Vertritt Ihr Gegenüber dennoch eine Meinung, die Sie nicht teilen, entscheiden Sie sich: Wollen Sie beim Small Talk bleiben, dann wechseln Sie das

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VON JULIA NOLTE

Thema. Lassen Sie sich auf eine Diskussion ein, müssen Sie damit rechnen, dass das Gespräch länger wird. Auf das Gegenüber eingehen »Und was machen Sie beruflich?« Diese gängige Frage sollte man sich verkneifen und lieber abwarten, ob der andere eine Bemerkung über seinen Beruf fallen lässt und damit zeigt, dass er darüber sprechen möchte. Dann kann man darauf eingehen. Generell sollte man keine Monologe halten, sondern dem Gesprächspartner die Möglichkeit geben, von sich zu erzählen. Fragen Sie also, zum Beispiel: »Haben Sie dieses Jahr eine Reise geplant?« Aber: Ein Small Talk ist kein Verhör. Es sollte ein ausgewogener Dialog stattfinden, sonst fühlt sich der eine ausgehorcht und der andere zugetextet. Etwas von sich preisgeben »Ruhig mal Gefühle äußern«, rät der Ratgeber-Autor und Psychotherapeut Stephan Lermer. Wenn man zu seinem neuen Kollegen sagt: »Ach, ich bin

so froh, dass es geklappt hat mit der Stelle«, wirkt das sympathischer als: »Wissen Sie, ich habe eigentlich immer Erfolg.« Vor allem bei scheuen Gesprächspartnern kann es sich lohnen, zuerst etwas von sich preiszugeben. Zum Beispiel: »Ich gehe sehr gern ins Kino, haben Sie den neuen Film von ... auch schon gesehen?« Das kann den anderen aus der Reserve locken. Allzu persönlich werden sollte man dabei aber nicht. Beim Small Talk will der andere nicht hören, was Sie für private Probleme haben. Das besprechen Sie besser mit vertrauten Personen. Gemeinsamkeiten aufspüren Vielleicht stellen Sie fest, dass Sie beide einen Hund haben oder mit dem Rad zur Arbeit fahren. Dadurch schaffe man »ein kleines Wir«, sagt die Kommunikationstrainerin Gabriele ten Hövel. Dies hat zur Folge, dass beide das Gespräch hinterher als angenehm empfinden. Dann ist der Small Talk geglückt, und hier können Sie wieder anknüpfen, falls es zu einer erneuten Begegnung kommt.

Die Asiaten haben den Weltmarkt mit unlauteren Methoden erobert – sie arbeiten während der Arbeitszeit

Der Coach erklärt:

Wenn die Lichter in der Firma ausgehen, bleiben zwei Spezies zurück: Nachtwächter und Karrieristen. Die Wächter, weil sie müssen. Die Karrieristen, weil sie meinen, sie müssten. Und trifft es nicht zu, dass die deutschen Firmen noch immer vom Anwesenheitswahn regiert werden? Dass als Faulpelz gilt, wer pünktlich geht, aber als Held der Arbeit, wer Nachtschichten einlegt? So mancher Chef verharrt abends wie ein lebendes Mahnmal auf seinem Sessel, Botschaft: Nur mit Überstunden bringt man’s hier zu was! Dieses Denken zeugt von Naivität. Denn ein Mitarbeiter, der am Schreibtisch sitzt, ist noch lange nicht anwesend. Mit dem Hintern auf dem Sessel, mit den Gedanken am Strand – was ist daran vorbildlich? Viele Büros sind abends vollgestopft mit Ausgelaugten, deren Geist nichts mehr entzündet. Sie machen Überstunden nicht, weil die Arbeit es erfordert, sondern nur, weil sie sich unter Zugzwang fühlen. Doch ein Vorgesetzter, der Überstunden schiebt, sendet immer auch die Botschaft: »Ich bin überfordert!« Er muss die Nachspielzeit beanspruchen. Das ist nicht nur ein Zeichen für Engagement, sondern auch für Bedrängnis. Niemand käme auf die Idee, einen Fußballstürmer nach seinen Anwesenheitsstunden auf dem Trainingsplatz zu beurteilen. Man misst ihn am Ergebnis, an den Toren im Spiel. Fortschrittliche Firmen halten es genauso: Sie beurteilen ihre Mitarbeiter nach der Produktivität. Was juckt es, wie lange einer an seinem Schreibtisch saß? Hauptsache, er schultert seine Aufgabe! Manchmal reicht es schon – frei nach Kishon –, während der Arbeitszeit auch zu arbeiten. Denn im Unterschied zum Fließband, wo die Leistung proportional mit den Arbeitsstunden zunimmt, lässt sie bei geistiger Arbeit überproportional nach – sodass der Überstunden-Fetischist unterm Strich oft nicht mehr, sondern weniger als der Acht-Stunden-Mitarbeiter leistet. Zumal körperliche Abwesenheit, etwa durch frühen Feierabend, geistige Anwesenheit nicht ausschließt – zum Beispiel wenn dem Mitarbeiter beim Joggen eine entscheidende Idee für sein Projekt kommt. Gerade Entspannung ebnet der Kreativität den Weg. Der klügste Weg, den Firmen und Mitarbeiter gehen können: klare Ziele vereinbaren. Dann lässt sich am Ende messen, was man von der Uhr niemals ablesen kann: wie gut einer arbeitet. MARTIN WEHRLE Das aktuelle Buch unseres Autors heißt »Ich arbeite in einem Irrenhaus« (Econ)

TIPPS UND TERMINE

Karrieremesse für Juristen Die Juracon in Hamburg richtet sich an junge Volljuristen, an Referendare und Studierende. Am 26. Oktober von 10 bis 17 Uhr können sie die Partner und Personalverantwortlichen aller teilnehmenden Kanzleien und Wirtschaftsunternehmen in persönlichen Gesprächen kennenlernen und sich über Festanstellungen, Ausbildungsplätze in der Wahlstation, Promotionsbetreuungen oder Praktika informieren. Wer teilnehmen will, muss sich online bewerben: www.juracon.de Wirtschaftsmaster in Berlin Die ESCP Europe Wirtschaftshochschule Berlin lädt am 28. Oktober zum Tag der offenen Tür. Vorgestellt werden unter anderem der Masterstudiengang »Master in Management« für Absolventen wirtschaftswissenschaftlicher Erststudiengänge und das nicht konsekutive Management-Aufbaustudium »Master in European Business« für Absolventen aller anderen Fachrichtungen. Außerdem präsentiert sich das berufsbegleitende »General Management-Programm« für Fach- und Führungskräfte. Anmeldeschluss ist am 21. Oktober. www.escpeurope.de/openday

ZEIT DER LESER

S.103

LESERBRIEFE

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

103 Anleitung zum Vatersein

Verbessert

Aus No:

39

Interview mit Bernd Behnke: »Weggesperrt« ZEIT NR. 39 Die Situation in Baden-Württemberg hat sich keinesfalls verschlechtert, sondern bereits jetzt enorm verbessert. Seit vielen Jahren wird den hier untergebrachten Sicherungsverwahrten selbstverständlich qualifizierte Arbeit angeboten. So arbeiten Sicherungsverwahrte zum Beispiel als Facharbeiter in der Schreinerei oder nehmen die Möglichkeit wahr, diverse Schulkurse (Realschulkurs, Kurse zur Erlangung des Abiturs sowie verschiedene Studiengänge, die bis zum Masterabschluss führen können) zu besuchen. Rechtsanwalt Behnke verkennt im Übrigen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wenn er davon ausgeht, dass künftig eine Aufnahme von Verwahrten in Sozialtherapeutischen Anstalten nicht mehr möglich sein soll. Thomas Rösch, Direktor JVA Freiburg

Erwachsen Dagmar Rosenfeld: »Mild hilft mehr« ZEIT NR. 39 Ich bin seit 32 Jahren als Strafverteidiger tätig, Mandanten wie Torben P. gehören zu meinem alltäglichen Umgang. Trotzdem möchte ich Frau Rosenfeld widersprechen. Ein Achtzehnjähriger ist volljährig, darf jede Art von Rechtsgeschäften eingehen, darf durch das Wahlrecht an der politischen Willensbildung partizipieren. Die Beispiele, die belegen, dass Personen dieses Alters für sich in Anspruch nehmen, als Erwachsene behandelt zu werden, ließen sich endlos erweitern. Nur bei der Frage, wo es darum geht, Verantwortung für das zu übernehmen, was man anderen angetan hat, nimmt man für sich in Anspruch, unter »Reifeverzögerungen« zu leiden. Kann das wirklich richtig sein? Ich – übrigens als Alt-68er (!) – meine, dass man das Verständnis auch übertreiben kann. Dr. Peter Helkenberg, Erfurt

22. September 2011

Kein Brot Patrik Schwarz und Bernd Ulrich: »Ist dieser Besuch ein Segen?« ZEIT NR. 39 Zum Gespräch mit Alexander Kluge: »Entgleist das Jahrhundert?«, ZEIT Nr. 39

Willkommen im Club, ihr Männer! Titelgeschichte: »Anleitung zum Vatersein«

ZEIT NR. 39

ist, werden diejenigen bestätigen können, die diese Erfahrung wirklich gemacht haben und sich – auch ohne Hilfe der Partnerin – um den Nachwuchs kümmern mussten. Oder anders gesagt: Könnten Sie sich vorstellen, dass eine Mutter mit drei Kindern (und einem arbeitenden Ehemann) ebenso entspannt die Titelseite des ZEITmagazins zieren könnte wie ihr männlicher Gegenpart?

Den meisten Scheidungskindern und deren Vätern wird ein regelmäßiger Kontakt miteinander verwehrt. Viele Väter müssen ihre Anleitungen als Hohn empfinden, weil sie zum Ernährer reduziert werden, und ihre Kinder nicht sehen dürfen. In Deutschland arbeiten viele Richterinnen und Richter der Familiengerichte und viele Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter der Jugendämter auf den Vaterverlust hin. Wir geben den getrennten Vätern einen weiteren wichtigen Rat: Väter, gebt eure Kinder nicht auf, nur weil man euch ausgrenzen möchte!

Tianzuo Zhan, per E-Mail

Den Satz: »Der Vater müsse sich allerdings im Umgang mit dem Kind aktiv einbringen, mit ihm spielen und toben«, halte ich nicht wirklich für sinnvoll. Ja, die Väter müssen sich auf jeden Fall Zeit nehmen für die Kinder. Nein, Väter müssen nicht spielen und toben mit ihren Kindern, wenn ihnen das nicht liegt. Jeder Mensch hat Interessen, Dinge, die ihn begeistern. Das kann der Vater an die Kinder weitergeben. Begeisterung, woran auch immer, und

Christian Peters, Väteraufbruch für Kinder Hamburg e. V.

»Elternzeit ist Urlaubszeit« – dies suggeriert das Titelbild des ZEITmagazins und bestärkt das Vorurteil von männlichen Chefs und Kollegen, dass Elternzeit eigentlich nur zur Erholung genommen wird. Dass dem nicht so

nicht lustloses Spielen und Toben, wenn der Vater daran keine Freude hat. Viele Eltern gehen der Zeit mit den Kindern aus dem Weg, weil ihnen nichts einfällt, was sie machen können, stürzen sich in die unkreative Kinderfreizeitindustrie und lassen andere die Hirne ihrer Kinder füllen. Schade.

nicht mehr weiter plagen, das können wir dann schlichtweg vergessen. Und by the way: Während sich löblicherweise immer mehr Väter an der Kindererziehung und der Sorge um den Nachwuchs beteiligen, sieht es in Sachen Haushalt weiter mau aus. Lisa Flottau, Bad Homburg

Maria Vogt, Zürich

Willkommen im Club, ihr Herren! Denn mit den Problemen, die hier beschrieben werden, plagen sich Mütter schon seit vielen Jahren. Auch wir Mütter finden Kinder bisweilen ziemlich anstrengend, auch wir Mütter bekommen die lieben Kleinen genau dann, wenn es auch beruflich gerade gut laufen könnte – und unser Zeitfenster für die Familienplanung ist deutlich kleiner als das der Männer. Mit dem beruflichen Fußfassen müssen wir uns im Unterschied zu den Männern aber nach der Geburt der Kinder

Jeder hat da in seiner Sparte die passende Lösung. Als Normalo-Papa fühl ich mich gleich etwas dumm oder mit dem (Profi-)Zeigefinger belehrt. Ich frage mich, wie denn ein normaler Mann (Vater) geantwortet hätte, der in Alltagssituationen gefordert ist mit dem ganz normalen Wahnsinn in der Familie. Es wäre doch bestimmt gut, zu wissen, wie ein Hr. Martenstein seinem Kind das Knie verarztet oder ein Süppchen kocht. Ich finde es etwas zu einfach, Ratschläge von Experten zu verteilen. Wo auch Experten an ihre Grenzen kommen, wäre interessant. Harald Gohlke, per E-Mail

Geschenke hat der Papst nicht mitgebracht. Wer auf eine gemeinsame Eucharistiefeier für konfessionsverschiedene Ehen oder die Freigabe des Priesteramtes für Frauen hoffte, wurde enttäuscht. Doch das Zeichen, das der Papst im Augustinerkloster in Erfurt setzte, war mehr als das: Er erinnerte uns an unsere gemeinsame Aufgabe als Christen, egal welcher Konfession, nämlich Zeugnis abzulegen für unseren Glauben. Zu zeigen, dass es uns nicht egal ist, in welcher Gesellschaft wir leben, dass wir durch unsere Lebensführung öffentlich wahrnehmbar eines deutlich machen: Es reicht nicht, wenn wir nur für uns selbst das Beste herausholen. Ein erfülltes Leben ist ein Leben, in dem wir unser Glück aus dem Dienst an der Gemeinschaft gewinnen und unseren Staat aus diesem Gedanken heraus formen. Und: Der Glaube ist dabei mehr als ein ethisches Programm. Dr. Ralf Weskamp, Bad Wildungen

Herr Schwarz unterliegt in diesem Artikel einem Missverständnis, wenn er beklagt, als Protestant vom Brotempfang in der katholischen Kirche ausgeschlossen zu sein. Die katholische Kirche reicht in der Eucharistiefeier nicht Brot und Wein, sondern durch die Wandlung (Transsubstantiation) den Leib und das Blut Christi in Realpräsenz. Wem der Glaube daran fehlt, sollte aus Respekt vor den Glaubenden auf den Empfang des vermeintlichen Brotes verzichten. Matthias Freiwald, Berlin

Armer Gaul

Von oben nach unten

Und die Entschädigung?

Ph. Mausshardt: »Der Gaul, den sie ›Pferd‹ nannten« NR. 39

Wilhelm Heitmeyer: »Rohe Bürgerlichkeit«

Das Quandt-Interview von R. Jungbluth und G. di Lorenzo: »Man fühlt sich grauenvoll und schämt sich« ZEIT NR. 39

»Ich konnte jetzt reiten« – selten habe ich mich über einen Satz in der ZEIT so geärgert. Mit Reiten oder Pferdeverstand hat es überhaupt nichts zu tun, wenn man einer dürren, verdreckten Stute mal rechts, mal links mit einem scharfen Gebiss im Maul zerrt, sich von Kindern auf lose Hufeisen aufmerksam machen lassen muss und am Ende eines langen Tages »verlorene Zeit im Galopp« aufholt. Wie es um den Tierschutz in Rumänien bestellt ist, wäre einen Artikel wert – aber bitte nicht in Form von launigen Reiseberichten.

Sicherlich ist Heitmeyer zuzustimmen, wenn er die Gefahren einer gesellschaftlichen Desintegration, einer Gesellschaft mit zunehmender Ungleichheit beschreibt. Leider sind seine Ursachenanalyse und auch sein Lösungsansatz nicht nur einseitig, sondern tendenziell so, dass das Problem verewigt wird. Er fordert eigentlich nur, dass der »von oben inszenierte Klassenkampf« durch eine von oben inszenierte Fürsorglichkeit ersetzt wird. Die beklagte Spaltung zwischen oben und un-

Claudia Wagner, Freising

ZEIT NR. 39

ten wird dadurch überhaupt nicht verändert. Der Grundgedanke einer Solidargemeinschaft kann nur die Übernahme von Selbstverantwortung auf beiden Seiten bedeuten. Die Suche nach Ursachen der gesellschaftlichen Spaltung und nach Möglichkeiten ihrer Überwindung kann sinnvollerweise nur auf beiden Seiten erfolgen und nicht in einer erneuten Trennung in Täter hier und Opfer dort. Dr. Jürgen Beeck, Rothenhausen

Frau Quandt sagt: »Man fühlt sich grauenvoll ...«, und: »Man schämt sich.« Wen meint Frau Quandt mit »man«? Die anderen Quandts, die Kinder von anderen Profiteuren des Naziregimes oder gar sich selber? Heinz N. Fischer, Hamburg

»An ihren Taten sollt ihr sie erkennen!« – Was tun nun diese Erben eines Schandvermögens, bei dem man sich nach 66 Jahren angeblich »grauenvoll fühlt und sich schämt«? Sie fördern die »historische Erinnerung«

mit der angeblich »größten privaten Zuwendung, die es in diesem Bereich in Deutschland gibt«. Wie groß ist diese Zuwendung? Sie »unterstützen dabei ein Projekt, mit dem frühere Zwangsarbeiter aufgefunden werden sollen, um von ihnen authentische Berichte für eine Dauerausstellung zu bekommen«. – Wo aber bleibt die Entschädigung der Zwangsarbeiter? Die sind natürlich nach 66 Jahren fast alle tot. Aber auch die haben Nachfahren, Erben. Achim Kästner, Meschede

Ihre Zuschriften erreichen uns am schnellsten unter der Mail-Adresse: [email protected]

Beilagenhinweis Unsere heutige Ausgabe enthält in Teilauflagen Prospekte folgender Unternehmen: Innovatives Niedersachsen GmbH, 30159 Hannover; RSD Reiseservice Deutschland GmbH, 85551 Kirchheim; TAZ Verlags- und Vertriebs GmbH, 10969 Berlin; WALBUSCH, Walter Busch GmbH & Co. KG, 42646 Solingen

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

Leserbriefe siehe Seite 103

2011

Vor 20 Jahren wurde unser Sohn Jonas geboren, vier Jahre später unsere Tochter Marie. Der Wesenskern der Kinder, das Originelle und Individuelle, war vom ersten Tag an zu spüren und zu sehen. Seitdem wachsen sie in diese mitgebrachte Form und füllen sie mit ihrer eigenen Art. Als Eltern können wir diese Entwicklung meistens nur beobachten. Das Empfangen wird zum Betreuen, bald zum Begleiten, dann zur

reicher macht

in sein »Freies Soziales Jahr« verabschiedet, das er in einem Favelaprojekt in São Paulo absolvieren wird. Kurz vor Schluss wurde es noch einmal turbulent in der Familie, vieles war noch zu organisieren, zu regeln und zu übergeben. Alle waren gut vorbereitet, die Zeit war reif, und es war eine Freude, Jonas gehen zu sehen.

Klassische Lyrik, neu verfasst

Lieber Rupert Neudeck,

Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm: Was pestest du die Luft Mit deines Wagens grauem Dunst, Mach ihn nur aus, du Schuft! Ach wüsstest du, wie gut es ist Für Umwelt und Natur, Du stiegst heraus, so wie du bist, Und gingst zu Fuß auf Tour. Liebst du die grüne Wiese nicht, Die Felder und das Meer? Liebkost der Wind nicht dein Gesicht, Erfrischt dir Geist und Herz? Freut dich der blaue Himmel nicht, Des Regens frisches Nass? Lass ab von deiner Unvernunft Und nimm den Fuß vom Gas! Der Motor rauscht’, der Motor schwoll, Es zuckt’ und ruckt’ sein Fuß; Das Weib vom Gehweg, ist es toll, Dass es ihn mahnen muss? Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm; Da war es schon geschehn: Die Ampel schaltet schnell auf Grün, Er ward nicht mehr gesehn.

dp

o/ E i b n e r - P re s s ef ot to:

Der Motor rauscht’, der Motor schwoll, Am Steuer saß der Mann, Sah nach der Ampel ruhevoll, Kühl bis ans Herz hinan: Und wie er sitzt, und wie er lauscht, Zum Himmel blickt empor, Kommt aus dem Gehweg wie ein Geist Ein fremdes Weib hervor.

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SCHÖNE GRÜSSE

Nach einem anstrengenden Nachtdienst nicht ins Bett gehen, sondern aufs Mountainbike steigen. Auf einen Berg fahren und bei strömendem, warmem Sommerregen wieder ins Tal rollen. Danke, Daniel, für deine Motivation! Karina Kösel, Freiburg

danke für Ihr Buch Abenteuer Menschlichkeit! An vielen Stellen hatte ich das Gefühl: »Dieser mutigen Familie musst du schreiben!« Seit achtzehn Jahren arbeite ich in einem Heim für minderjährige Flüchtlinge, ich weiß viel über die Herkunftsländer der Jugendlichen und habe von Ihnen doch unheimlich viel Neues erfahren. Als ich im Sommer mit meinen Söhnen (21 und 11 Jahre alt) durch Ungarn, Kroatien und Bosnien reiste, war Ihr Buch dabei: Das Kapitel über Sarajewo las ich meinen Kindern abends in unserem Zimmer vor – mit Blick auf die Stadt. In Mostar tat ich das Gleiche, und so wurde aus unserem Urlaub auch eine Bildungsreise für uns drei. Katrin Hausburg, Madlitz-Wilmersdorf, Brandenburg

Wiedergefunden: Die Reiseerlaubnis Als ich vor einiger Zeit den Nachlass meines Vaters sortierte, fand ich diese InterzonenReiseerlaubnis. Damit durfte mein Vater aus dem britisch besetzten Schleswig-Holstein durch die Sowjetische Besatzungszone nach West-Berlin reisen, um das Fußball-Länderspiel Deutschland – Türkei am 17. Juni 1951 zu u sehen. (Die Türkei hat damals vor 90 000 Zuschauern übrigens 2 : 1 gewonnen.) Ich wusste zwar, dass mein Vater ein großer Fußballfan war – sein Schiedsrichter-Ausweis von 1932 war auch bei den Unterlagen –, doch dass er extra zu diesem Spiel nach Berlin gereist ist, obwohl das Geld knapp war, das hat mich schon überrascht. Heuzutage wäre es wohl weniger kompliziert, zum Europameisterschafts-Qualifikationsspiel in die Türkei zu gelangen.

Tua Herbst, Oldenburg

Mein Mann und ich besuchen Breslau. Wir gehen durch die Straßen und schauen bewundernd hoch zu den Fassaden. Da eilt ein junger Mann an uns vorbei, dreht sich um und sagt: »Schöne Stadt, ja?« Ich sage: »Wunderschöne Stadt!« Er, im Rückwärtsgehen und ganz stolz: »Is majne Stadt!« Ich: »Meine Mama ist auch von hier. Und meine Oma.« Er geht ein paar Schritte weiter, dreht sich noch mal um, kommt her zu mir: »Wie hajßt du?« Ich: »Sybilla.« Er strahlt mich an mit seinem hübschen Gesicht: »I bin Adam!« Und weg ist er. Immer wieder die Musik von Jamie Cullum. Immer wieder die ersten Klänge von All at Sea. Anneke Hoppensack, Hamburg

Der ältere Herr im Rollstuhl, draußen vor dem Seniorenwohnheim. Wenn ich mit meinen Klassen auf dem Weg zum Sportplatz bin, winkt er uns immer zu und ruft: »Viel Spaß beim Sport!« Wir winken gern zurück und vermissen ihn schon, wenn er einmal nicht da ist! Dirk Kubatzki, Arnsberg

Wolfgang Richter, Darmstadt

AG LT SK U

Die Kritzelei der Woche

Wenn meine Frau mich, ihren Mann, gelegentlich auch Frau sein lässt, sie mir schmale, lange Röcke und andere schöne Sachen näht und sie mich darin bewundert, dann fühle ich mich mit all meinen Facetten geliebt und reicher als alle Millionäre dieser Welt.

Sybille Dörner, Bad Wörishofen

AL

Dorothee Kremer, Frankfurt am Main

An einem Werktag, deutlich zu früh, im Zug auf dem Weg zur Arbeit. Ich döse mit geschlossenen Augen vor mich hin. An einem größeren Umsteigebahnhof tippt mir ein etwa 15-jähriger Schüler vorsichtig auf die Schulter: »Entschuldigung, müssen Sie hier vielleicht auch aussteigen?« – »Nein, aber danke fürs Wecken!« antworte ich. Mit einem Lächeln auf den Lippen setze ich die Fahrt fort. Nicole Berger, Sandhausen, Baden-Württemberg

Kurt Friedrich, Darmstadt

EIN GEDICHT! (Nach Johann Wolfgang von Goethe, »Der Fischer«)

N ST

»Diese Hütte hier, die war zu DDR-Zeiten beheizt.« Zu DDRZeiten – auch so eine Redewendung, die aller Voraussicht nach in zehn, zwanzig Jahren ausgestorben sein wird. Heute aber höre ich sie noch viel hier in den neuen Ländern; mir, der Zugezogenen gegenüber, aber erst wenn der Sprecher sich von meiner Harmlosigkeit überzeugt hat. Oder wenn er austesten will, wie ich wohl reagiere. Dann schaut man mir in die Augen, die Worte haben einen trotzigen Ton, und ich kann nur spekulieren, weshalb. Meist aber sind es junge Leute, denen mit diesen Worten erklärt wird, wie es früher war, vor der Wende. Ich nehme an, für diese jungen Leute ist es ähnlich spannend wie für meine Generation, wenn der Vater oder Großvater eine Erzählung mit den Worten »Damals, nach dem Krieg ...« eingeleitet hat. Für mich heute aber öffnet die Redewendung »in DDR-Zeiten« ganze Welten, die große Geschichte in kleinen, privaten Mosaiksteinchen. Es schwingt mit: Erinnerung, manchmal wehmütig. Erschrecken, dass man verdächtigt werden könnte, ostalgisch zu sein und die alte Zeit wiederhaben zu wollen. Dann wird schnell ein »Aber heute ist das ja glücklicherweise anders geregelt« nachgeschoben. Oder, wie im angeführten Fall, es spricht daraus auch der Stolz, dass etwas damals besser war, die Verwunderung, dass etwas heute, in den doch so viel bequemeren Zeiten, unbequemer geworden ist. Wer diese Redewendung benutzt, sagt damit eigentlich: »In meiner Jugend«. Und es sind nur Leute aus derselben Generation, aber von der anderen Seite der Mauer, die verstehen wollen, wie das damals war.

LEBEN

Unterstützung. Was folgt, ist das Loslassen, der Abschied, das Freigeben neuer Räume. Jonas und Marie hatten immer ihren eigenen Platz in der Familie und sind einander als Geschwister sehr verbunden. Die beiden Bilder zeigen einen Zeitsprung von 2001 nach 2011, und eigentlich war beim ersten Bild schon abzusehen, wie es zehn Jahre später sein würde. Vor wenigen Tagen haben wir unseren Sohn

Der Stinker

Mein Wort-Schatz

Was mein

Zeitsprung

2001

Fo

Liebe ZEIT-Leserinnen und -Leser, wieder sehen Sie auf dieser Seite eine »Kritzelei der Woche«, die offenbar während des Schulunterrichts entstanden ist. Pisa hin, Bildungsreform her: Deutsche Schulen scheinen zumindest ein gutes Pflaster für die Kunst des klandestinen Zeichnens zu sein. Manchmal ermutigen Lehrer ihre Schüler sogar, uns die inkriminierten Werke zu schicken. Solche Pädagogen hätten wir auch gern gehabt! WL

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Jeden Tag sehe ich, abends beim Heimkommen, jetzt mehr Kastanien auf der Straße liegen. Eine hebe ich auf, sie glänzt schüchtern aus ihrer grünen Hülle hervor. Ich schenke sie – zusammen mit einem Blumenstrauß – meiner Geliebten, zu der ich in diesem Sommer gezogen bin. Sie lächelt: »Schön, dass du daheim bist.« Und das bin ich. Nach Jahren der Weltreise, Einsamkeit und Trauer: zu Hause! Jan van Oort, Mödling, Österreich

STRASSENBILD

Das fröhliche Lächeln in den Augen von Drita, einem elfjährigen Mädchen aus Makedonien – jedes Mal, wenn sie ein neues Wort auf Italienisch lernt.

Charlotte Bensch, Weimar

Chiara Mobilio, Perugia, Italien

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Unsensibel? Das Foto entstand während eines Kurzurlaubs in Trier. Es erschließt sich mir nicht, ob die Wahl der Werbeschilder und Geschäfte in der Judengasse nun zufällig so entstanden ist oder bewusst. Habe schon überlegt, mich an die Stadtoberen in Trier zu wenden und dort etwas mehr historische Sensibilität anzuregen ...

Sie sehen hier ein Werk der Langeweile ohne jegliche Bedeutung. Verwirrend – und trotzdem nennt man es Kunst. Grüße an meine Chemielehrerin, die mich hierzu inspiriert hat! Anna Pyka, Maulbronn-Zaisersweiher

Uwe Schwarze, Jenhorst, Niedersachsen

Nach La Traviata direkt zu McDonald’s. Letzteres nämlich gehört traditionell zu jedem Stadtbesuch mit meiner Mutter. Danach noch gemeinsam über die Partymeilen schlendern, um ihr meine Welt der Nacht zu zeigen. Sie lacht in einem fort, ich freue mich über sie und bemerke erstaunt, dass sie mir nicht mehr peinlich ist. Unsere Beziehung scheint gewachsen zu sein, ist enger und reifer. Die Liebe zueinander ist größer und tiefer. Sie ist sich ihrer sicher und hält auch den kritischen Blicken der anderen stand. Jessica-Yvonne Riexinger, Stuttgart

Diese Seite. Heinz-H. Buschmann, Remchingen, Baden-Württemberg

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DIE

ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

Warum Schriftsteller die Familie neu entdecken und warum das Gastland Island uns bezaubert. Dazu: Die wichtigsten Neuerscheinungen

Bücher gegen die Kälte Klein, aber stark

Eine Regierung darf auch gegen die Mehrheit in der Bevölkerung stimmen. Aber Abweichler muss sie respektieren VON MATTHIAS GEIS

Auch wenn die USA und China übermächtig erscheinen – die Nationalstaaten in Europa haben noch Zukunft VON BERND ULRICH

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ine neue Parole geht um im politischen Berlin: Der Nationalstaat sei, so heißt es, überholt, er könne sich in einer globalisierten Welt gegen große Mächte wie die USA oder China nicht mehr behaupten. In dieser Form ist die Aussage jedoch sinnlos, denn die USA sind auch ein Nationalstaat, sogar China ist es. Gemeint ist wohl etwas anderes. Es geht nicht um die Staatsform, es geht um die Staatsgröße. Sinnvollerweise müsste der Satz also lauten: In der Globalisierung sind Nationalstaaten europäischer Größenordnung nicht mehr überlebensfähig, nicht mal Deutschland oder Frankreich, ganz zu schweigen von all den kleineren Staaten. Diese Behauptung, die gern als absolute historische Gewissheit daherkommt, enthält dermaßen viele Implikationen, dass man sich hier nicht mit allen näher beschäftigen kann. So würde man natürlich gern wissen, wie es denn bislang die Luxemburger, Portugiesen oder Slowaken auf dieser Welt ausgehalten haben, in der sie sich gegenüber Ländern behaupten mussten, die aus ihrer Sicht relative Chinas oder Amerikas waren, also etwa Deutschland oder Frankreich. Zudem fragt sich, was nach der Theorie vom unausweichlichen Untergang des Nationalstaats mittlerer Größe künftig aus Ländern wie Südafrika, Argentinien oder Japan werden soll. Sind die dann auch alle überholt? Hat man ihnen das schon mitgeteilt? Nicht, dass sie ihren eigenen Untergang verpassen!

elten ist die Spannung zwischen Verfassungsideal und parlamentarischer Wirklichkeit farbiger illustriert worden: Da beruft sich ein Bundestagsabgeordneter bei seinem Nein zur eigenen Regierungslinie auf die im Grundgesetz garantierte Gewissensfreiheit, worauf ihn ein Fraktionskollege auffordert, mit »dieser Scheiße« endlich aufzuhören. Ist das der normale Umgang mit Andersdenkenden im Deutschen Bundestag? Wohl kaum. Doch allein schon wegen der Schlüsselstellung, die Kanzleramtsminister Ronald Pofalla im Machtsystem von Angela Merkel einnimmt, lassen sich die Ausfälle gegen seinen Parteifreund Wolfgang Bosbach nicht einfach ad acta legen. Selbst nach Pofallas Entschuldigung nicht. Denn der Vorfall ist symptomatisch. Er zeigt, welche Wut den Abgeordneten in den letzten Wochen entgegenschlug, die wegen ihrer Zweifel an der Euro-Rettungspolitik angekündigt hatten, sich gegen die eigene Regierung zu stellen. Der erst im Nachhinein bekannt gewordene Eklat liegt nun wie ein Schatten über dem schwarz-gelben Abstimmungserfolg. Doch bedeutsamer noch als für die Atmosphäre in der Koalition ist der Vorfall für das Verhältnis zwischen etablierter Politik und Bevölkerung. Denn er bestätigt auf drastische Weise den Verdacht, dass der politische Betrieb genau so funktioniert, wie Pofalla es demonstriert hat: rücksichtslos im Dienste der Macht und demütigend für alle, die sich deren Imperativ nicht fügen.

Selbst Profis der Machtsicherung verlieren jetzt die Fassung Dass die Gewissensfreiheit des Abgeordneten für die Führung der Fraktionen immer wieder zum Störfaktor wird, gilt lagerübergreifend. Wann immer existenzielle politische Entscheidungen sich in Existenzfragen der jeweiligen Koalition verwandeln, kommt der einzelne, sperrige Parlamentarier leicht unter die Räder der sogenannten Fraktionsdisziplin. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder vor genau zehn Jahren eine Mehrheit für den deutschen Afghanistan-Einsatz beibringen musste, ging es kein bisschen glimpflicher zu als jetzt bei der Euro-Rettung. Damals endete der wochenlange Druck auf die rot-grünen Abweichler damit, dass sie untereinander ausmachen durften, wer seiner Überzeugung gemäß mit Nein stimmen durfte und wer – im Interesse der Macht – mit Ja. Dass es wieder und wieder zu solchen Eskalationen kommt, liegt an einer schon fast fetischhaften Wertschätzung, die hierzulande der Nachweis politischer Stabilität genießt. Selbst bei Entscheidungen, die von der Opposition unterstützt werden, steht die Regierungskoalition schnell unter dem Zwang, ihre Handlungsfähigkeit durch eine »eigene Mehrheit« zu demonstrieren. Diese bundesdeutsche Besonderheit resultiert aus den traumatischen Erfahrun-

gen der ersten deutschen Demokratie, die nicht zuletzt am Mangel stabiler Regierungen zugrunde gegangen ist. Inzwischen könnte man damit vielleicht etwas lockerer umgehen. Doch es sind nicht nur Koalition und Opposition, sondern auch die Medien, die, wann immer sich eine Gelegenheit bietet, von der Regierung den ultimativen Stabilitätsnachweis einer »Kanzlermehrheit« einfordern. Dass dieser Erwartungsdruck am Ende bis zu den einzelnen »unsicheren Kantonisten« durchschlägt, weil an ihnen plötzlich Wohl und Wehe der Regierung zu hängen scheint, ist kaum überraschend. Umso mehr erfordert eine solche Situation von denjenigen Parlamentariern Mut und Rückgrat, die eine abweichende Position vertreten. Auch wenn man dem einen oder anderen, der bei solcher Gelegenheit zu medialer Prominenz gelangt, den Genuss seiner plötzlichen Bedeutsamkeit anmerkt, verdient der Fraktionsdissident allen Respekt. Am Umgang mit ihm erweist sich, wie ernst das Parlament seine Freiheit nimmt. Umso symbolträchtiger war deshalb die Entscheidung von Parlamentspräsident Norbert Lammert, der durch kreative Auslegung der Geschäftsordnung den Abweichlern in der Debatte um den Euro-Rettungsschirm Rederecht einräumte. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen, doch für die Koalitionsspitze war es ein Affront. Sucht man nach den Gründen für die Erbitterung, den der Dissens im Regierungslager provoziert, stößt man auf eine interessante Parallele zwischen der Afghanistan-Entscheidung vor zehn Jahren und der Abstimmung zur Euro-Rettung: In beiden Fällen votierte die überbordende Mehrheit des Parlamentes gegen die überbordende Skepsis der Bevölkerung. Und in der Gereiztheit, mit der, damals wie heute, die Regierungsfraktionen auf die Andersdenkenden in den eigenen Reihen reagierten, schimmert ein Unbehagen durch. Es ist das Unbehagen einer parlamentarischen Mehrheit im Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Minderheitsposition. Kein Wunder, dass in einer solchen Konstellation selbst Profis der Machtsicherung die Fassung verlieren. So wie es für den einzelnen Abgeordneten kein imperatives Mandat gibt, so gibt es auch für das Parlament als Ganzes keine Verpflichtung, die gesellschaftliche Stimmungslage abzubilden. Eine Koalition, die aus Überzeugung gegen die Mehrheit in der Bevölkerung steht, kann sich nicht einfach anpassen. Ihr bleibt nur die Zuversicht, die aus der eigenen Überzeugungskraft entspringt. Und der Respekt vor denen, die anderer Meinung sind. Denn durch nichts immunisiert eine Regierung die Öffentlichkeit mehr gegen die eigene Politik als durch die Schmähung der Andersdenkenden. Sie bilden eine Brücke in die Gesellschaft. Gäbe es die Abweichler nicht, die Koalition müsste sie erfinden. www.zeit.de/audio

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Die USA leiden schon an ihrer Größe – und China bald auch an seiner Für die aktuelle Debatte über die künftige Gestalt Europas ist eine andere Implikation wichtiger. Die Anachronismusthese enthält nämlich eine Annahme über die ideale Größe einer staatlichen Einheit in der globalisierten Welt. Danach sollte ein Staat, der etwas auf sich hält und international ernst genommen werden will, eine Größe und einen nationalstaatlichen Integrationsgrad haben wie mindestens die USA. Aber ist das so? Können wir heute wirklich wissen, ob eine vollintegrierte Nation wie die USA mit ihren 315 Millionen Einwohnern zukunftstüchtiger ist als das etwas flusige Staatengebilde EU mit seinen 500 Millionen? In diesen Jahren erlebt die ganze Welt, wie die Amerikaner zwischen ihrem globalen Machtanspruch und ihren immensen inneren Problemen geradezu zerrissen werden. Auch das politische System zeigt immer öfter Zeichen von Dysfunktionalität, seit der Wohlstand nicht mehr quasi automatisch wächst. Und der Anteil der Schulden am Bruttosozialprodukt ist in den USA genauso groß wie in der EU, obwohl es dort, anders als hier, schon eine Wirtschaftsregierung gibt und einen Bundeshaushalt. Nicht zuletzt hat sich das Land seit einiger Zeit politisch gespalten in zwei verfeindete Lager, um nicht zu sagen, zwei USAen.

Erkennbar leiden die USA im Moment an ihrer Größe. Und an ihrem Nationalstaat, den weite Teile der Bevölkerung ablehnen und den zumindest die Republikaner aushungern wollen. Es kann immer noch sein, dass es sich bei all dem bloß um Übergangsphänomene handelt, möglich, dass die USA doch die perfekte Größe haben für die Aufgaben der Zukunft. Es kann aber auch sein, dass sie zu groß sind. Oder zu klein. Kleiner jedenfalls als China, der Staat der 1200 Millionen Menschen, mit seinen ungeheuren Wachstumsraten, der Staat, dem die USA so viel Geld schulden. Hat womöglich China, nur China, die passende Größe für das 21. Jahrhundert? Und müssen dann alle versuchen, chinaesk zu werden, Europa wird Nation, Brüssel wird Peking? Auch das wissen wir nicht genau. Die Chinesen zahlen für ihre Größe hohe Preise. Einen Preis stellen die dauernden Aufstände in den Provinzen dar. Ein anderer Preis ist die Unterdrückung der Tibeter, denen man keine Autonomie gewähren will, weil dann, so die Angst der Zentrale, alles auseinanderfliegen würde. Ein Preis lautet: Diktatur. Vieles, zumindest aus Sicht der Chinesen, spricht dafür, dass ein Land dieser Größe nicht demokratisch beherrscht werden kann. Aber die Diktatur braucht extremes Wachstum, um die Menschen für die Unfreiheit zu entschädigen. Wird China immer so weiterwachsen können? Diktatur bedeutet auch Korruption, die wiederum den Wohlstand frisst, der das Land zusammenhält. Hat China also die passende Größe? Wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich ist es auf mittlere Sicht viel zu groß. Wir werden es erleben. Und Europa? Die EU ist größer als die USA, kleiner als China und weniger nationalstaatlich als beide. Hier sind die mittleren und kleinen Nationalstaaten immer noch sehr wichtig, während die europäische Zentrale relativ schwach ist. Was sie auch dann noch bleibt, wenn demnächst ein paar mehr Kompetenzen nach Brüssel verlegt werden, um die schlimme Schuldenmacherei zu stoppen. Ob nun dieses Europa die richtige Größe und Gestalt hat – auch das wissen wir nicht präzise. Allerdings hat die EU gegenüber den USA und gegenüber China einen großen strategischen Vorteil – den der flexiblen Staatlichkeit. Wenn es nötig werden sollte, dann könnten wir hier leichter noch ein bisschen mehr Staat drauflegen, als die anderen von ihrer Größe und Nationalstaatlichkeit runterkommen, wenn sie zu groß und zu zentral geworden sind. Das spräche dafür, nur ganz vorsichtig, gewissermaßen experimentell die Integration voranzutreiben. Es geht nicht mehr, wie die Generation Delors, Fischer, Juncker glaubte, um die Finalität, also den Endzustand Europas, es geht um seine Variabilität. Insofern muss man sagen: Es lebe die Nation – zumindest noch eine Weile. www.zeit.de/audio

Gespräche mit Bettina Wulff, der Frau des Bundespräsidenten, dem Meisterregisseur Jean-Luc Godard und dem Altkanzler Helmut Schmidt ZEITmagazin, Feuilleton PROMINENT IGNORIERT

Fettarm sterben Dieser Tage wurde in Dänemark tonnenweise Butter gehamstert. Eine Gesundheitskommission hatte errechnet, dass sich die Lebenserwartung der Dänen um drei Jahre steigern ließe, wenn sie sich fettarm ernährten. Also hat man jetzt eine Fettsteuer eingeführt. Vermutlich würde sich die Lebenserwartung weiter steigern lassen, wenn man das Sterben besteuerte. Bislang war es ja umsonst. Es kostete bloß das Leben. GRN. kl. Fotos: Herlinde Koelbl für ZM; Getty Images; Vera Tammen für DZ (v.l.n.r.); StockFood (u.)

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AUSGABE:

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6 6 . J A H RG A N G

AC 7451 C

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Lob der Mutprobe

Köpfe dieser ZEIT

4 1 90745 104005

Titelfoto: Natalie Bothur für DIE ZEIT/www.nataliebothur.de

ZUR BUCHMESSE: 88 SEITEN LITERATUR

14 6. Oktober 2011

ÖSTERREICH

DIE ZEIT No 41

Foto: Barbara Gindl/APA/picturedesk.com

DONNERSTALK

Rettung für Europa

Foto: Ingo Pertramer

Es war schon ein ergreifender Moment. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso bedankte sich gerührt bei der österreichischen Regierung, weil sie in Sachen Finanztransaktionssteuer eine Vorreiterrolle übernommen habe. Ein schwerer Schlag für die ewigen Nörgler im Land, die keine Gelegenheit verstreichen lassen, dieses blühende Gemeinwesen in schiefes Licht zu tauchen und schlechtzureden. Doch das überschwängliche Lob des Obereuropäers ist beileibe kein Einzelfall. Österreich ist in der Union geradezu zu einem Synonym für Innovation geworden. Zum Beispiel der heldenhafte Verzicht auf Atomkraftwerke. Zwar sickert tagein, tagaus hinterlistiger Atomstrom aus dem rückständigen Ausland in das österreichische Netz, doch damit werden in der atomfreien Oase nur Wasserkraftwerke betrieben. Raffiniert, denn so wird im Handumdrehen böse in gute Energie umgewandelt. Nur eines der vielen Beispiele, wie dieser niedergehende Kontinent am österreichischen Wesen genesen könnte. Ein anderes wäre die Abschaffung der Politik an sich. Dieses behäbige Relikt wird dort obsolet, wo es eine vitale Vielfalt an Boulevardzeitungen gibt. Ganz zu schweigen von der genialen Erfindung, sich eine Armee zu leisten, die fast nur aus Führungskräften besteht. Die Abschaffung des Fußvolks, das ist der Funke, der auf Europa überspringen sollte. Ohne Volk keine teuren, überzogenen Bedürfnisse wie Bildung oder Gesundheit. Ohne Volk kein schnöder Populismus, der in einem demokratischen

Alfred Dorfer ist überzeugt davon, dass sich der Kontinent der Krisen ein Beispiel an Österreich nehmen sollte

System den weisen Ratschluss der Entscheidungsträger doch nur verwässert. Im Grunde steht das Volk der Demokratie gehörig im Weg. Doch wäre anderseits ohne Volk jede Bürokratie sinnlos. Auch das hat Österreich zuerst erkannt und damit den wahren Wert des Volkes neu definiert. Das Lob der EU auch in diesem Punkt wird nicht lange auf sich warten lassen. Sicher!

Die letzte Garde: Harald Dobernig, Gerhard Dörfler, Stefan Petzner, Uwe und Kurt Scheuch und Manfred Stromberger

Haider war ihr Schicksal Generationen von willfährigen Mitarbeitern dienten dem verstorbenen Kärntner Landeshauptmann. Was wurde aus seinem letzten Hofstaat? VON ANTONIA GÖSSINGER

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enn sich am 11. Oktober Jörg Haiders Todestag zum dritten Mal jährt, erinnert nur mehr Witwe Claudia mit einem Gedenklauf an die einstige Ikone der europäischen Rechten. Für die politischen Erben war mit der Aufstellung eines Denkmals (»Haiders Hände«) vor dem Dom zu Gurk das Erinnerungssoll erfüllt. Im Lichte der aufkommenden Skandale ist die Skulptur zum Mahnmal für eine politische Ära geworden, in der Nehmen seliger denn Geben war und eine Hand stets die andere gewaschen hat. Das ehemals engste Umfeld Haiders wird nun von der Vergangenheit eingeholt. Zwar hat es seinen letzten Kärntner Hofstaat versprengt, das Zwielicht, in dem sie nun stehen, ist den Vasallen von einst jedoch als Gemeinsamkeit geblieben.

»Denn Sie wissen nicht, was Sie tun«, zitiert Stefan Petzner für seine neue Werbekampagne die Bibel. Ein neuer Chef, eine neue, sanftere Tonart. Bei BZÖ-Obmann Josef Bucher, der das orange Überbleibsel des Kärntner Landeshauptmannes geerbt hat, fungiert Petzner nur mehr als Werbestratege im Hintergrund. Früher war er mächtiger und deftiger. Als rechte Hand Haiders, den er nach dem tödlichen Unfall zu seinem »Lebensmenschen« stilisiert und damit dessen Privatleben ins Scheinwerferlicht gerückt hatte, richtete er über Funktionäre und Journalisten. Und im Namen seines Herrn textete Petzner einst: »Kärnten wird einsprachig.« Heute ist Kärnten zweisprachig. Haiders Nachfolger als Landeshauptmann, Gerhard Dörfler, hat damit endlich ein schier endloses Kapitel zum Abschluss gebracht. Doch der

Ortstafel-Streit ist nicht der einzige Ballast aus den der Lieferantenfirma EADS an Land gezogen und Haider-Jahren, dessen sich seine Erben zu entledi- fast sieben Millionen Euro Honorar kassiert. Ermittgen versuchen. Mit den Skandalen der Ära, etwa lungen der Justiz wurden bereits einmal eingestellt. dem tollen Treiben rund um die Hypo Alpe-AdriaGeschäften auf private Rechnung geht auch Bank, will die heutige Parteispitze nichts mehr zu Karl-Heinz Petritz nach, Haiders langjähriger Prestun haben. »Meine Partei war da nicht dabei«, ver- sesprecher. Er verabschiedete sich bereits 2004 in leugnete Uwe Scheuch, Chef der Freiheitlichen in die Selbstständigkeit, blieb aber weiterhin im Kärnten, kürzlich den früheren Übervater. Dunstkreis Haiders. Heute versucht er, russische Haider hinterließ mit seinem posthumen Land- Investoren nach Kärnten zu locken. Eine Betriebstagswahlsieg von 2009 Scheuch und Dörfler eine ansiedlung war bereits erfolgreich, doch das Projekt nie da gewesene Machtfülle: das Kärntner BZÖ, das eines Tibet-Zentrums, für das der Dalai Lama persich heute FPK nennt, erhielt 45 Prozent der Stim- sönlich den Grundstein gelegt hatte, ist gescheitert. men. Von Haiders dubiosen Aktivitäten zu Leb- Petritz war es auch, der den Hobby-Diplomaten zeiten will heute niemand Kenntnis gehabt haben. Haider auf seinen Besuchen bei Muammar al-GadDeshalb opferte man Haiders letzten Partei-Landes- hafi in die libysche Wüste und bei Saddam Hussein geschäftsführer, Manfred Stromberger, als die »Con- in den Irak begleitete. Gadhafi-Sohn Saif al-Islam nect«-Affäre ruchbar wurde. Die Connect war eine gilt seit seiner Studienzeit in Wien als persönlicher Ein-Personen-Werbeagentur der Partei. Sie schickte Freund von Petritz. Gemeinsam gaben die beiden an Firmen, die Aufträge des Landes Kärnten erhiel- Jörg Haider im Oktober 2008 in Klagenfurt das ten, Rechnungen mit bis zu fünfstelligen Euro-Be- letzte Geleit. Petritz soll auch Geschäfte mit Libyen trägen. Verrechnete Leistungen waren lapidare »Lay- vermittelt haben, wähnt sich heute aber als Privatout-Beratungen«. Die meisten zahlten gleich direkt mann und der Öffentlichkeit gegenüber zu keiner auf das Parteikonto ein. Die Affäre ist bei der Kor- Rechenschaft verpflichtet. Als vor einem Jahr die ruptionsstaatsanwaltschaft in Wien anhängig. Meldungen über Millionen-Konten Haiders in Stromberger musste als Landtagsabgeordneter zu- Liechtenstein auftauchten, dementierte er, dafür rücktreten und wird nun mit Aufträgen der Partei zeichnungsberechtigt zu sein oder auch nur darüber etwas zu wissen. entschädigt. Franz Koloini muss hingegen allein sehen, wo Die Spur jener Millionen, die Haider von seinen er bleibt. Er war einst Haiders Sekretär, Protokoll- beiden Diktatoren-Freunden erhalten und im Auschef und bevorzugter Ziehsohn, dessen finanzielle land geparkt haben soll, verlief im Sande. Bis heute und private Eskapaden vom »Jörg« oft ausgebügelt ist nichts von dem Geld aufgetaucht. Fraglich, ob wurden. Heute ist Koloini arbeitslos und hält sich überhaupt jemand danach sucht. Umso besser lassen mit Gelegenheitsjobs über Wasser: etwa mit sich die Spekulationen um einen anderen HaiderChauffeur-Diensten für Heather Mills, die Wahl- Getreuen weiter spinnen: Gerald Mikscha. Er war Kärntnerin und Exfrau von Paul McCartney. Nun der Stillste in der »Buberlpartie«, absolvierte neben muss sich der ehemalige Günstling ab 12. Okto- seinem Job als Haiders Privatsekretär ein Wirtschaftsber am Wiener Straflandesgericht wegen Geldwä- studium und wurde vor sieben Jahren als Broker in sche verantworten. Ihm drohen bis zu fünf Jahre London tätig. Jetzt hält sich das Gerücht, er sei nur Haft. Er hatte Gelder von Russen auf anonymen verschwunden, um die Haider-Millionen zu veranlaSparbüchern angelegt. Für zwei Millionen Euro gen. Nach dem Tod des Idols habe er sich die stolze sollte ihnen Jörg Haider zur Summe einverleibt. Indizien dafür österreichischen Staatsbürgergibt es keine, eine Spur von Mikschaft verhelfen. In der letzten scha ebenso wenig. Der Verleugnete Ministerratssitzung der schwarzStefan Petzner hat Mikscha blau-orangen Koalition wurde nicht mehr kennengelernt. Jörg Jörg Haider hinterließ sie den Neoösterreichern auch Haider hat Generationen von seinen Vasallen eine verliehen. Nun sind beide wegen Mitarbeitern verschlissen. Nur beispielslose Machtfülle. einer aus seinem letzten Hofstaat Bestechung angeklagt. Koloinis Prozess verspricht hat den Aufstieg geschafft: HaVon den dubiosen ein Wiedersehen mit der einst rald Dobernig avancierte nach Aktivitäten der Ära von ganz Europa geschmähten Haiders Tod vom Büroleiter des wollen sie nun alle Regierung zu werden: Sein AnLandeshauptmannes zum Regienichts gewusst haben walt hat von Ex-Bundeskanzler rungsmitglied. Nachdem »die Wolfgang Schüssel abwärts naSonne vom Himmel gefallen« hezu alle ehemaligen Regiewar, wie Dörfler den Tod Hairungsmitglieder in den Zeugenstand nominiert. ders beklagte, war Dobernig der Einzige in der Das Geschäft mit der begehrten Einbürgerung Mannschaft, der die Finanzen durchblickte. Er hat wurde auch Uwe Scheuch zum Verhängnis. Er hatte als Finanzlandesrat ein an den Rand des Ruins gein einem Telefongespräch mit einem Exparteifreund führtes Land geerbt und müht sich ebenso intensiv freimütig eingestanden, bei einer großzügigen Spen- wie fantasie- und bisher erfolglos, Kärnten auf de für seine Partei sei die Verleihung der Staatsbür- Sanierungskurs zu bringen. gerschaft »part of the game«. Deshalb wurde er in Dobernig hat von Haider am meisten gelernt. Im erster Instanz zu 18 Monaten Haftstrafe (sechs davon Unterschied zu dem brachialen FPK-Chef Uwe unbedingt) verurteilt. Seither wehrt er sich mit allen Scheuch und zu dem leutseligen, jedoch sträflich unMitteln gegen den Rücktritt. Etwa, indem er in einer politischen Landeshauptmann Dörfler baut DoberPostwurfsendung an alle Kärntner Haushalte wilde nig unbeachtet, aber beharrlich, seine Bastionen aus. Attacken gegen die Justiz ritt. Er hofft nun auf die Mit seinen erst 31 Jahren hat er viel Zeit für weitere Berufungsinstanz und ignoriert die Stimmung in der Karriereschritte. Sofern nicht auch ihn eines Tages Bevölkerung, deren unter Jörg Haider erprobte Lang- Haiders dubiose Machenschaften einholen. Denn mut langsam an ihre Grenzen zu stoßen beginnt. einige sind just in der Zeit geschehen, in der DoberScheuch ist der erste Haider-Jünger, dessen nig Haiders Büroleiter war: etwa der StaatsbürgerTreiben die Justiz mit einer Verurteilung geahndet schafts-Handel, der Franz Koloini vor Gericht gehat. Koloini könnte der nächste sein. Eine Reihe bracht hat und um den sich nun auch ein parlamenweiterer könnten noch auf der Anklagebank lan- tarischer Untersuchungsausschuss kümmern soll. den, wenn die Justiz das Skandal-Erbe der Ära Es kommt nicht von ungefähr, dass sich der Schwarz-Blau im Detail aufarbeitet: die Buwog- Schriftsteller und Georg-Büchner-Preisträger Josef Privatisierung, die Telekom-Geldflüsse und die Winkler im August ausgerechnet in einem indischen Eurofighter-Beschaffung. Die maßgeblichen Be- Bundesstaat an seine Kärntner Heimat erinnerte, als teiligten in allen Fällen waren enge Mitstreiter er dort Demonstrationen gegen Korruption, größenHaiders: Hubert Gorbach, Karl-Heinz Grasser, wahnsinnige Projekte und Geldverschwendung beMathias Reichhold und Walter Meischberger. Es obachtete. Allein, das mit den Demonstrationen gilt wie stets die Unschuldsvermutung. funktioniert in Kärnten nicht – noch nicht. Einer, dessen Name im Zusammenhang mit der Abfangjäger-Beschaffung immer auftaucht, spielt Die Autorin arbeitet in der Kärntner Redaktion der trotzdem den Großteil seiner Zeit gelassen Golf: Kleinen Zeitung und galt als Jörg Haiders Haiders Exwerbezampano Gernot Rumpold. Er und »Lieblingsfeindin«. Für ihre Arbeit erhielt sie 2010 den seine damalige Frau Erika hatten den Werbeauftrag Concordia-Preis für Pressefreiheit

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6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

Kleine Freiheit Nr. 11

Fotos: Johannes Puch für DIE ZEIT (groß); Michael Herdlein für DIE ZEIT (Vignette)

Eine finstere Gasse in Klagenfurt: JOACHIM LOTTMANN besuchte die Bar, in der vor drei Jahren Jörg Haider seine letzten Stunden verbrachte

Letzte Zuflucht für eine gequälte Politikerseele: Die Schwulenkneipe Stadtkrämer in Klagenfurt

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in letztes Mal die bekannte Szene: chen Männchen, stellen sich vor, buhlen um ZuDer mehrere Tonnen schwere Phae- stimmung. Jede Partei tut das, sogar die Grünen. ton saust, ja fliegt fast über die sehr Da sitzen dann die Trachten-Granden an dunkgerade Straße von Klagenfurt nach len Holztischen vor dunkler Holzvertäfelung im Ferlach. Die lang gezogene Kurve, auf dunklen Wirtsraum und schlagen mit den Fäusdie er zurast, verführt, sie zu unterschätzen, dazu, ten auf die Tischplatten und geben urtümliche auf dem Gas zu bleiben. Der Wagen ist mit wahr- Laute von sich. Frauen, von ein paar rechten scheinlich 180 Stundenkilometern viel zu schnell Omas abgesehen, sieht man nur servieren. In der für die gewaltigen Fliehkräfte, hebt ganz allmäh- Sprache der Männer, die hier herumdröhnen, würde es wohl heißen, sie dürften nur ihre Titten lich ab, erst die linken Räder, dann alle. In seinen letzten Momenten, was mag Jörg spazieren tragen. Auch Haider kam hierher und Haider da alles durch den Kopf gegangen sein? holte sich seine Zustimmung. Aber anders als die Während der Wagen den Boden teilweise wieder Mitbewerber musste er sich anschließend davon berührt, schleudert, eine Hauswand touchiert, erholen. Im Stadtkrämer, der totalen Gegenwelt. Er hätte auch nirgendwo sonst hingehen köndabei weiterfliegt, dann einem Hydranten nicht mehr ausweichen kann, dadurch neuerlich in die nen. Die Stadt kennt keinerlei architektonische Luft katapultiert wird, um die eigene Achse wir- oder sonstige Akzente. Überall sieht es gleich aus. belt und schließlich an einem Baum zerschmet- Nahezu alle Häuser sind zweigeschossig niedrig, tert. Dachte Haider in diesen Augenblicken auch so niedrig, als erwarteten sie gleich ein Tiefan seine letzten Stunden? Die verbrachte er wei- druckgebiet. Unbeschreiblich trist wird jedem zumute, der die engen, oft aufgerissenen Straßen nend im Stadtkrämer. Das ist ein kleines Schwulenlokal in der Spital- entlangschleicht und auf ein Taxi hofft, das niemals kommt. Hinter den kleinen Fenstergasse 11 in Klagenfurt. Mit seinem Freund scheiben hocken die missgünstigen Stefan Petzner hatte er sich am Nachmittma Stadtbewohner und baden in ihren tag zerstritten. Auch der schöne und inLot nn Ressentiments. Wenn in Österreich tegre Stadtkrämer-Wirt Patrick, seine der braune Sumpf noch lebendiger Zuflucht, bei der er sonst immer Trost ist als in Deutschland und in Kärnsuchte und fand, blieb seltsam kühl an ten noch mehr als im übrigen Österdiesem Abend. un t e r we g s reich und in Klagenfurt vermutlich Alles klar also? Haider schwul, Auto noch mehr als im übrigen Kärnten, dann schnell, Selbstmord, logisch? Nun, das Lokal gibt es immer noch. Inzwischen weiß man ist man hier an der Quelle des Bösen. Haider, der eigentlich viel zu intelligent war aber, dass Haider gar nicht schwul war. Kein anderer Mann ist so auf Verdacht gejagt worden in für die Schmeicheleien der Provinz, muss es geSachen sexueller Orientierung wie er. Linke Jour- fühlt haben. Anfangs wird es ihm noch gefallen nalisten aus allen fünf Kontinenten haben immer haben, die Ärmsten der Armen medienwirksam wieder recherchiert. Die Ergebnisse sind nieder- zu empfangen und ihnen persönlich hundert schmetternd. Ebenso wenig wie Hitler nur einen Euro in die Hand zu drücken. Das war PopulisHoden hatte oder sonstwie der Perversion, Im- mus nach Gutsherrenart. Überall wurden die arpotenz oder Bisexualität überführt werden konn- men Würsteln mit Almosen beschenkt, und sie te, gelang das bei seinem späten und vergleichs- danken es ihm bis heute mit Blumen und Kerzen weise harmlosen Wiedergänger. Wahrscheinlich, samt Grußkarten voller Rechtschreibfehler an weil sich beide an eine einfache Regel hielten: der Unfallstelle. Doch nach einigen Jahren des Spaß mit Männern, Sex mit Frauen. Ein sehr lustvollen Zynismus wird ihn das nackte Grauen modernes Konzept übrigens. So machen es die gepackt haben. Das war die Geburtsstunde seiner Karriere im Milieu. Metrosexuellen in Berlin-Mitte auch. Heute ist der Stadtkrämer noch unheimlicher Aber Haider kann man so nicht erklären. Die Wahrheit ahnt man eher bei einer Nacht im als damals. Eben weil sich absolut nichts verStadtkrämer. Und auch nur, wenn man zuvor in ändert hat. Das sehr kleine, uralte, heruntergeder Gastwirtschaft Zum Pumpe war, dem sozio- kommene gelbe Haus steht in der leblosen Kopfsteinpflastergasse da wie ein Hexenhäuschen in kulturellen Gegenstück. Dort sitzt die Reaktion, die dumpfe brutale der Innenstadt nach dem Atomschlag. Noch Männerschar, die seit Unzeiten das Sagen hat in immer spielt melodramatische Popmusik, laufen Kärnten. Hier gehen die Politiker rein und maFortsetzung auf S. 16 A

Fortsetzung von S. 15

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DIE ZEIT No 41

dieselben Stücke wie damals. Der ebenfalls tödlich verunglückte Sänger Falco schmettert Out Of The Dark in die Dunkelheit, verzweifelt, schön, traurig, wie in der Todesnacht. Dieses Lied wird jeden Abend hier gespielt, oft mehrmals. Es war Haiders Lieblingslied. Blaues Licht fließt auf die Straße. Ein winziges ehemaliges Schaufenster ist mit schwarzem Band beklebt, wahrscheinlich, damit die Glasscheibe sich nicht aus der mürben Holzverkleidung löst. Nazis könnten den Laden mit einer Hand hochnehmen und verwüsten. Aber es fehlen die provozierenden Rotlichtsymbole. Nach Geld, Abzocke, Bunga-Bunga-Party sieht es wirklich nicht aus. Und drinnen sind dann auch nur drei liebe Leutchen, also der schöne, integre Patrick und zwei Gäste, einer davon ist die Helga. Die Helga ist kein Transvestit und noch nicht einmal lesbisch, sondern eine brave Mutti, die den Zapfhahn übernimmt, wenn der schöne, integre Patrick mal aufs Klo muss. Die Begrüßung ist warmherzig, zugleich angenehm zurückhaltend. Erst wird man mit Blicken lieb willkommen geheißen. Vielleicht wird sich Haider genau an diese hundertfach empfangenen Willkommensblicke erinnert haben, als der Phaeton sich majestätisch in der Luft drehte, in der endlosen Sekunde vor dem finalen Aufprall. Dann erkennt man das Innere, die ganze Situation, das Setting. Der eine Gast merkt, dass er einen anreden darf. Fünf Minuten später hat er seinen Arm auf die Schultern des Fremden gelegt. Er erzählt von dem Stress, den er gerade im Beruf hat. Nett. Auch der Patrick weiß sich zu benehmen. Er mixt einen süßen Cocktail und bringt ihn mit den Worten: »Mit viel Liebe zubereitet!« So etwas wird, nach drei gebrüllten Stunden im Zum Pumpe, dem Haider Jörg gutgetan haben. Er war nicht einmal beliebt, hier im Schwulennest. Viele gingen, wenn er kam, weil sie ihn grauenvoll fanden. Selbst heute sagt einer: »Korrupt war er, ganz und gar. Der Korrupteste von allen. Seine Freunde hat er versorgt, auf Kosten des Volksvermögens!« Er schüttelt sich vor Ekel. Der schöne Patrick interveniert: »Er ist gegangen, du bist geblieben. So ist es doch.« Das ist diplomatisch, nichtssagend, und doch doppeldeutig-kränkend. So ist Patrick immer gewesen. Er hat keinen Dreck am Stecken. Aber er sagt auch kein schlechtes Wort über den Verstorbenen. Das kleine Häuschen, tatsächlich nur ein einziges Zimmer, das freilich durch halbhohe Trennwände, Treppen und Innenbalkone etwas Vielschichtiges bekommt, füllt sich. Kein einziger Gast

trägt jene Porn-Chic-Kleidung, die man bei Homos erwartet. Die Leute sind jung und sehen erschreckend ärmlich aus. Überall nur billige Jeans und T-Shirts. So wie die Inneneinrichtung. Sehr karg und selbst gemacht. Tische aus dem Baumarkt, ohne Farbe, ohne Glasur, für 9,90 Euro das Stück. Keine Kunst an den Wänden, keine Plakate. Die Glühbirnen schwach, aber immerhin rot. So sehen die Menschen hübscher aus, als sie es sind. Ein plumper Blechventilator steht herum und brummt. Der einzige Wandschmuck ist ein hilfloses altes Schwarz-Weiß-Foto aus Paris mit dem Eiffelturm drauf. Der Eiffelturm! 2011! In jedem Hetero-Großstadtklub, könnte man denken, wird allabendlich mehr Geld verbrannt als hier in einem Jahr. Sex, Drogen, Glücksspiel, Prostitution, Geschäfte, Karriere, Statusgeprahle, Networking, Ehe- und Beziehungsanbahnung: All das wird im Kapitalismus woanders hochgekocht und finanziell abgewickelt, gewiss nicht im Stadtkrämer, wo es nur eine Ware gibt – die Liebe. Die drei Euro pro Drink werden mit Münzen bezahlt, niemand muss hier mit großen Scheinen wedeln.

Er trank eine Flasche Wodka leer. So entstanden die Fliehkräfte Um 23 Uhr ist vorne im Raum alles voll. Kein Platz mehr an der Bar. Die Neuankömmlinge müssen nach hinten in den Gang, in die Schmuseecken oder auf die kleine Tanzfläche ausweichen. Ein Gast hat ein Lebkuchenherz um den Hals, auf dem ti amo steht. Als Haider damals nach Hause fuhr, erwartete ihn ein familiärer Großkampftag. Die Mutter war gekommen, die Kinder waren da, die Frau, und die Schwiegereltern noch dazu. Was für ein Wahnsinn. Zwischen 23 Uhr und zwei Uhr morgens trank er eine ganze Flasche Wodka leer. So entstanden die Fliehkräfte, im doppelten Sinn des Wortes. Dann der Streit mit Petzner, seinem Lebensmenschen. Der hatte an dem Tag erstmals davon gesprochen, dass es ein Problem mit dem Altersunterschied gebe. Jörg Haider und alt – was für ein Schock. Das hatte noch nie einer gesagt. Noch am Todestag hatte er mit Petzner eine ultrahippe japanische Designerjeans gekauft. Sie hatte ihm gepasst, ihm, dem Jörg. Die Boutiquebesitzerin hatte noch geschwärmt, dass diese ganz besonders modische Hose nur dem Haider gepasst habe, mit seiner tollen Figur. Das alles und sehr viel mehr erfährt man hier. Auch wenn ihn viele nicht leiden konnten: Er sah einfach toll aus. Auf Männer machte er immer

Eindruck. Das spürte er, und das nutzte er aus, und das verführte ihn. Ja, er war auch ein Verführter. Die Frau hatte er viel zu früh geheiratet, schon vor drei Jahrzehnten. Junge Frauen gab es keine in seinem verkommenen Beruf. Er hätte sie auch verachtet. Schließlich war er ein Leben lang der Geächtete, das war sein role model. Die Eltern waren als Hardcore-Nazis schon geächtet. Nur im Milieu konnten sie reden, wie sie wollten. Diesen Familienauftrag – die geächtete Sippe zum Triumph zu führen – hat der Jörg dann treulich ausgeführt. Ein bisschen zu gründlich wahrscheinlich. Jedenfalls hatte er das hinter sich. Was blieb noch? Falco. Und Abba, immer wieder. Waterloo, auch ein passender Song. Patrick muss ihn immer wieder auflegen, ebenso wie Mamma Mia oder All That She Wants von Ace of Base. Schwule haben sowieso den besten Musikgeschmack. Sie wissen noch, was ein Popsong ist oder war. Auch Haider war Pop. Der letzte Popstar unter den Politikern. Berühmt und unseriös und ziemlich ekelig am Ende, wie Michael Jackson. Aber er war nicht so blöd wie dieser. Vermutlich wusste Haider, wie es um ihn stand. Nie wieder Wien, nie wieder FPÖ-Vorsitzender und Kanzlermacher, niemals Minister, der dumme H. C. Strache schon als Nachfolger im Amt. 58 Jahre im Pass und nunmehr »alt«, laut Petzner. Und wenn jemand sterben will, ist der Stadtkrämer der richtige Ort. Da gibt es sogar einen Dark Room ganz am Ende. Und einen Raum mit zusammengeschobenen Sofas und ohne jede Lampe. Und einen Raum mit einer Table-Dance-Stange, vor der zwei Stühle stehen. Da können zwei Gäste drauf sitzen und von ganz nah zusehen. Das ist alles so rührend, weil en miniature. Wie Kaufmannsläden für Kinder. Da wird verrucht gespielt und erotischer Abgrund, erhitzte Körper reiben sich aneinander – dabei umarmen sich bloß ein paar verängstigte Menschen, denen es da draußen zu grauslich geworden ist. Haider war einer von ihnen, ein Schauspieler. Ihn reizte lebenslang das Mögliche. Das Spiel in der Interaktion, das Foppen, Täuschen, Siegen, Verlieren. Selbst hier in der Gegenwelt blieb er der, der er war. Aber er mochte die Kerzen, die auf den kleinen wackeligen Tischen standen. Der Autor, gebürtiger Hamburger, lebt als Schriftsteller in Wien. Soeben sind zwei Romane von ihm erschienen: »Hundert Tage Alkohol« (Czernin Verlag) und »Unter Ärzten« (Kiepenheuer & Witsch). Joachim Lottmann wird künftig in unregelmäßiger Abfolge für die ZEIT über seine Wahlheimat berichten

Fotos: Johannes Puch für DIE ZEIT/www.johannespuch.at

16 6. Oktober 2011

»Heute ist der Stadtkrämer noch unheimlicher als damals. Eben weil sich nichts verändert hat«

PREIS SCHWEIZ 7.30 CHF

DIE

ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

Warum Schriftsteller die Familie neu entdecken und warum das Gastland Island uns bezaubert. Dazu: Die wichtigsten Neuerscheinungen

Bücher gegen die Kälte Klein, aber stark

Eine Regierung darf auch gegen die Mehrheit in der Bevölkerung stimmen. Aber Abweichler muss sie respektieren VON MATTHIAS GEIS

Auch wenn die USA und China übermächtig erscheinen – die Nationalstaaten in Europa haben noch Zukunft VON BERND ULRICH

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ine neue Parole geht um im politischen Berlin: Der Nationalstaat sei, so heißt es, überholt, er könne sich in einer globalisierten Welt gegen große Mächte wie die USA oder China nicht mehr behaupten. In dieser Form ist die Aussage jedoch sinnlos, denn die USA sind auch ein Nationalstaat, sogar China ist es. Gemeint ist wohl etwas anderes. Es geht nicht um die Staatsform, es geht um die Staatsgröße. Sinnvollerweise müsste der Satz also lauten: In der Globalisierung sind Nationalstaaten europäischer Größenordnung nicht mehr überlebensfähig, nicht mal Deutschland oder Frankreich, ganz zu schweigen von all den kleineren Staaten. Diese Behauptung, die gern als absolute historische Gewissheit daherkommt, enthält dermaßen viele Implikationen, dass man sich hier nicht mit allen näher beschäftigen kann. So würde man natürlich gern wissen, wie es denn bislang die Luxemburger, Portugiesen oder Slowaken auf dieser Welt ausgehalten haben, in der sie sich gegenüber Ländern behaupten mussten, die aus ihrer Sicht relative Chinas oder Amerikas waren, also etwa Deutschland oder Frankreich. Zudem fragt sich, was nach der Theorie vom unausweichlichen Untergang des Nationalstaats mittlerer Größe künftig aus Ländern wie Südafrika, Argentinien oder Japan werden soll. Sind die dann auch alle überholt? Hat man ihnen das schon mitgeteilt? Nicht, dass sie ihren eigenen Untergang verpassen!

elten ist die Spannung zwischen Verfassungsideal und parlamentarischer Wirklichkeit farbiger illustriert worden: Da beruft sich ein Bundestagsabgeordneter bei seinem Nein zur eigenen Regierungslinie auf die im Grundgesetz garantierte Gewissensfreiheit, worauf ihn ein Fraktionskollege auffordert, mit »dieser Scheiße« endlich aufzuhören. Ist das der normale Umgang mit Andersdenkenden im Deutschen Bundestag? Wohl kaum. Doch allein schon wegen der Schlüsselstellung, die Kanzleramtsminister Ronald Pofalla im Machtsystem von Angela Merkel einnimmt, lassen sich die Ausfälle gegen seinen Parteifreund Wolfgang Bosbach nicht einfach ad acta legen. Selbst nach Pofallas Entschuldigung nicht. Denn der Vorfall ist symptomatisch. Er zeigt, welche Wut den Abgeordneten in den letzten Wochen entgegenschlug, die wegen ihrer Zweifel an der Euro-Rettungspolitik angekündigt hatten, sich gegen die eigene Regierung zu stellen. Der erst im Nachhinein bekannt gewordene Eklat liegt nun wie ein Schatten über dem schwarz-gelben Abstimmungserfolg. Doch bedeutsamer noch als für die Atmosphäre in der Koalition ist der Vorfall für das Verhältnis zwischen etablierter Politik und Bevölkerung. Denn er bestätigt auf drastische Weise den Verdacht, dass der politische Betrieb genau so funktioniert, wie Pofalla es demonstriert hat: rücksichtslos im Dienste der Macht und demütigend für alle, die sich deren Imperativ nicht fügen.

Selbst Profis der Machtsicherung verlieren jetzt die Fassung Dass die Gewissensfreiheit des Abgeordneten für die Führung der Fraktionen immer wieder zum Störfaktor wird, gilt lagerübergreifend. Wann immer existenzielle politische Entscheidungen sich in Existenzfragen der jeweiligen Koalition verwandeln, kommt der einzelne, sperrige Parlamentarier leicht unter die Räder der sogenannten Fraktionsdisziplin. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder vor genau zehn Jahren eine Mehrheit für den deutschen Afghanistan-Einsatz beibringen musste, ging es kein bisschen glimpflicher zu als jetzt bei der Euro-Rettung. Damals endete der wochenlange Druck auf die rot-grünen Abweichler damit, dass sie untereinander ausmachen durften, wer seiner Überzeugung gemäß mit Nein stimmen durfte und wer – im Interesse der Macht – mit Ja. Dass es wieder und wieder zu solchen Eskalationen kommt, liegt an einer schon fast fetischhaften Wertschätzung, die hierzulande der Nachweis politischer Stabilität genießt. Selbst bei Entscheidungen, die von der Opposition unterstützt werden, steht die Regierungskoalition schnell unter dem Zwang, ihre Handlungsfähigkeit durch eine »eigene Mehrheit« zu demonstrieren. Diese bundesdeutsche Besonderheit resultiert aus den traumatischen Erfahrun-

gen der ersten deutschen Demokratie, die nicht zuletzt am Mangel stabiler Regierungen zugrunde gegangen ist. Inzwischen könnte man damit vielleicht etwas lockerer umgehen. Doch es sind nicht nur Koalition und Opposition, sondern auch die Medien, die, wann immer sich eine Gelegenheit bietet, von der Regierung den ultimativen Stabilitätsnachweis einer »Kanzlermehrheit« einfordern. Dass dieser Erwartungsdruck am Ende bis zu den einzelnen »unsicheren Kantonisten« durchschlägt, weil an ihnen plötzlich Wohl und Wehe der Regierung zu hängen scheint, ist kaum überraschend. Umso mehr erfordert eine solche Situation von denjenigen Parlamentariern Mut und Rückgrat, die eine abweichende Position vertreten. Auch wenn man dem einen oder anderen, der bei solcher Gelegenheit zu medialer Prominenz gelangt, den Genuss seiner plötzlichen Bedeutsamkeit anmerkt, verdient der Fraktionsdissident allen Respekt. Am Umgang mit ihm erweist sich, wie ernst das Parlament seine Freiheit nimmt. Umso symbolträchtiger war deshalb die Entscheidung von Parlamentspräsident Norbert Lammert, der durch kreative Auslegung der Geschäftsordnung den Abweichlern in der Debatte um den Euro-Rettungsschirm Rederecht einräumte. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen, doch für die Koalitionsspitze war es ein Affront. Sucht man nach den Gründen für die Erbitterung, den der Dissens im Regierungslager provoziert, stößt man auf eine interessante Parallele zwischen der Afghanistan-Entscheidung vor zehn Jahren und der Abstimmung zur Euro-Rettung: In beiden Fällen votierte die überbordende Mehrheit des Parlamentes gegen die überbordende Skepsis der Bevölkerung. Und in der Gereiztheit, mit der, damals wie heute, die Regierungsfraktionen auf die Andersdenkenden in den eigenen Reihen reagierten, schimmert ein Unbehagen durch. Es ist das Unbehagen einer parlamentarischen Mehrheit im Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Minderheitsposition. Kein Wunder, dass in einer solchen Konstellation selbst Profis der Machtsicherung die Fassung verlieren. So wie es für den einzelnen Abgeordneten kein imperatives Mandat gibt, so gibt es auch für das Parlament als Ganzes keine Verpflichtung, die gesellschaftliche Stimmungslage abzubilden. Eine Koalition, die aus Überzeugung gegen die Mehrheit in der Bevölkerung steht, kann sich nicht einfach anpassen. Ihr bleibt nur die Zuversicht, die aus der eigenen Überzeugungskraft entspringt. Und der Respekt vor denen, die anderer Meinung sind. Denn durch nichts immunisiert eine Regierung die Öffentlichkeit mehr gegen die eigene Politik als durch die Schmähung der Andersdenkenden. Sie bilden eine Brücke in die Gesellschaft. Gäbe es die Abweichler nicht, die Koalition müsste sie erfinden. www.zeit.de/audio

E

Die USA leiden schon an ihrer Größe – und China bald auch an seiner Für die aktuelle Debatte über die künftige Gestalt Europas ist eine andere Implikation wichtiger. Die Anachronismusthese enthält nämlich eine Annahme über die ideale Größe einer staatlichen Einheit in der globalisierten Welt. Danach sollte ein Staat, der etwas auf sich hält und international ernst genommen werden will, eine Größe und einen nationalstaatlichen Integrationsgrad haben wie mindestens die USA. Aber ist das so? Können wir heute wirklich wissen, ob eine vollintegrierte Nation wie die USA mit ihren 315 Millionen Einwohnern zukunftstüchtiger ist als das etwas flusige Staatengebilde EU mit seinen 500 Millionen? In diesen Jahren erlebt die ganze Welt, wie die Amerikaner zwischen ihrem globalen Machtanspruch und ihren immensen inneren Problemen geradezu zerrissen werden. Auch das politische System zeigt immer öfter Zeichen von Dysfunktionalität, seit der Wohlstand nicht mehr quasi automatisch wächst. Und der Anteil der Schulden am Bruttosozialprodukt ist in den USA genauso groß wie in der EU, obwohl es dort, anders als hier, schon eine Wirtschaftsregierung gibt und einen Bundeshaushalt. Nicht zuletzt hat sich das Land seit einiger Zeit politisch gespalten in zwei verfeindete Lager, um nicht zu sagen, zwei USAen.

Erkennbar leiden die USA im Moment an ihrer Größe. Und an ihrem Nationalstaat, den weite Teile der Bevölkerung ablehnen und den zumindest die Republikaner aushungern wollen. Es kann immer noch sein, dass es sich bei all dem bloß um Übergangsphänomene handelt, möglich, dass die USA doch die perfekte Größe haben für die Aufgaben der Zukunft. Es kann aber auch sein, dass sie zu groß sind. Oder zu klein. Kleiner jedenfalls als China, der Staat der 1200 Millionen Menschen, mit seinen ungeheuren Wachstumsraten, der Staat, dem die USA so viel Geld schulden. Hat womöglich China, nur China, die passende Größe für das 21. Jahrhundert? Und müssen dann alle versuchen, chinaesk zu werden, Europa wird Nation, Brüssel wird Peking? Auch das wissen wir nicht genau. Die Chinesen zahlen für ihre Größe hohe Preise. Einen Preis stellen die dauernden Aufstände in den Provinzen dar. Ein anderer Preis ist die Unterdrückung der Tibeter, denen man keine Autonomie gewähren will, weil dann, so die Angst der Zentrale, alles auseinanderfliegen würde. Ein Preis lautet: Diktatur. Vieles, zumindest aus Sicht der Chinesen, spricht dafür, dass ein Land dieser Größe nicht demokratisch beherrscht werden kann. Aber die Diktatur braucht extremes Wachstum, um die Menschen für die Unfreiheit zu entschädigen. Wird China immer so weiterwachsen können? Diktatur bedeutet auch Korruption, die wiederum den Wohlstand frisst, der das Land zusammenhält. Hat China also die passende Größe? Wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich ist es auf mittlere Sicht viel zu groß. Wir werden es erleben. Und Europa? Die EU ist größer als die USA, kleiner als China und weniger nationalstaatlich als beide. Hier sind die mittleren und kleinen Nationalstaaten immer noch sehr wichtig, während die europäische Zentrale relativ schwach ist. Was sie auch dann noch bleibt, wenn demnächst ein paar mehr Kompetenzen nach Brüssel verlegt werden, um die schlimme Schuldenmacherei zu stoppen. Ob nun dieses Europa die richtige Größe und Gestalt hat – auch das wissen wir nicht präzise. Allerdings hat die EU gegenüber den USA und gegenüber China einen großen strategischen Vorteil – den der flexiblen Staatlichkeit. Wenn es nötig werden sollte, dann könnten wir hier leichter noch ein bisschen mehr Staat drauflegen, als die anderen von ihrer Größe und Nationalstaatlichkeit runterkommen, wenn sie zu groß und zu zentral geworden sind. Das spräche dafür, nur ganz vorsichtig, gewissermaßen experimentell die Integration voranzutreiben. Es geht nicht mehr, wie die Generation Delors, Fischer, Juncker glaubte, um die Finalität, also den Endzustand Europas, es geht um seine Variabilität. Insofern muss man sagen: Es lebe die Nation – zumindest noch eine Weile. www.zeit.de/audio

Gespräche mit Bettina Wulff, der Frau des Bundespräsidenten, dem Meisterregisseur Jean-Luc Godard und dem Altkanzler Helmut Schmidt ZEITmagazin, Feuilleton PROMINENT IGNORIERT

Fettarm sterben Dieser Tage wurde in Dänemark tonnenweise Butter gehamstert. Eine Gesundheitskommission hatte errechnet, dass sich die Lebenserwartung der Dänen um drei Jahre steigern ließe, wenn sie sich fettarm ernährten. Also hat man jetzt eine Fettsteuer eingeführt. Vermutlich würde sich die Lebenserwartung weiter steigern lassen, wenn man das Sterben besteuerte. Bislang war es ja umsonst. Es kostete bloß das Leben. GRN. kl. Fotos: Herlinde Koelbl für ZM; Getty Images; Vera Tammen für DZ (v.l.n.r.); StockFood (u.)

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AUSGABE:

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6 6 . J A H RG A N G

CH C 7 4 5 1 C

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Lob der Mutprobe

Köpfe dieser ZEIT

4 1 90745 104005

Titelfoto: Natalie Bothur für DIE ZEIT/www.nataliebothur.de

ZUR BUCHMESSE: 88 SEITEN LITERATUR

14 6. Oktober 2011

SCHWEIZ

DIE ZEIT No 41

FRAGEN SIE DR. NOTTER!

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»Ich bin in der Alterspubertät«

Sehr geehrter Herr Notter, was war Ihr schlimmster politischer Fehler?

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Tim Frey, Zug

Der Kultsänger von Stiller Has über seine Bewunderung für die Schweiz und seinen verheerenden Lebenswandel

Mit freundlichen Grüßen Ihr Dr. Markus Notter Markus Notter beantwortet wöchentlich Fragen der Leserinnen und Leser zur Lage der Nation. Richten Sie Ihre Frage per E-Mail an [email protected]

Ihrer Texte. Sie sind ein ironiebegabter Mensch, aber Sie taumeln immer am Abgrund. Anaconda: Die Kunst des Lebens besteht darin, Verfassung. nicht völlig abzustürzen. Ich trinke viel, gehe oft in den Ausgang. Und es ist mein Schicksal, dass ZEIT: Sonst nichts? Anaconda: Meine Herkunft. Meine Mutter war ich familiär nicht in geordneten Verhältnissen Österreicherin, mein Vater Schweizer. Ich bin lebe. Ich befinde mich wohl in einer andropausalen Krise, einer Alterspubertät. Aber das geht zwar in Klagenfurt aufgewachsen ... ZEIT: ... eine Stadt, über die Sie in Ihrem neuen Freund Polo Hofer vielleicht auch so. Kolumnenbuch Walterfahren schreiben: »Der ZEIT: Wie stürzt man nicht ab? Name ist eine Untertreibung.« Anaconda: Man muss arbeiten. Am besten geht es Anaconda: Gut, oder? Ich kam erst Ende der sieb- mir auf Tournee. ziger Jahre hierhin – aber ich habe mich immer als ZEIT: Langweilen Sie sich je mit sich selbst? Schweizer definiert. Heimat ist für mich etwas Anaconda: Nein, ich kann tagelang in Lethargie Emotionales, Sinnliches. Daheim bin ich im Em- versinken, Naturfilme schauen, rauchen und unmental. Ich habe die Schweiz immer bewundert. gesunde Sachen fressen. ZEIT: Ist diese Bewunderung einer Nüchternheit ZEIT: Werden Sie dann nicht depressiv? gewichen? Anaconda: Nein, nur fauler. Mich macht fernseAnaconda: Manchmal. Aber dann nehme ich mich hen intelligenter. Ich schaue ja nicht SpongeBob. wieder zusammen. Wir leben in einem Staat, wo Es fehlt mir an nichts. Gut, manchmal wäre ich man die Schnauze aufreißen darf. Die Schweiz ist lieber reich und anonym. nicht Syrien. Das ist eine ungeheure Qualität. Die- ZEIT: Die Musik hat Sie gerettet. ses Land ist ein pragmatischer Erfolg. Wie Atom- Anaconda: Unbedingt, ich wäre sonst schon lange Doris jetzt den Ausstieg schafft, da sage ich: Cha- im Gefängnis oder tot. Einerseits hatte ich als Jupeau! Aber bei den Frauen funktioniert halt die gendlicher kein Selbstvertrauen, wegen der Physis, Kommunikation zwischen den Hirnhälften besser. ich war immer schon ein Mutschli, andererseits weil ich keine Matur geschweige denn einen UniZEIT: Wie hat sich die Schweiz verändert? Anaconda: Sie hat sich geöffnet, wurde toleranter Abschluss geschafft habe. Das Selbstvertrauen kam und gleichzeitig ängstlicher. Die Schweiz hat viel erst später – weil ich zum Glück intelligente Menvon den Unruhen in den achtziger Jahren profitiert. schen traf. An denen konnte ich meinen Verstand schärfen. Und im Übrigen mussDa kam vieles aufs Tapet, das te ich mein Hirn und meine man früher negiert hat: Drogen, Angesichts der sozialen Rhetorik auch deshalb in Gang Gassenarbeit, der Kampf um die Ungleichheit werde bringen, um mit Frauen ins GeGleichstellung der Geschlechter. Die Jugendbewegung hat die ich vor allem SP-Leute spräch zu kommen. Ich sehe ja aus wie ein Ochsenfrosch. Gesellschaft dynamisiert. Jedes ankreuzen und heftig Flugblatt vom Quartiersmetzger ZEIT: Empfinden Sie sich privat panaschieren. Ich sieht heute aus wie ein Aufruf als gescheitert? wähle auch BDP-Poli- Anaconda: Privat war ich schon zur VV. tiker und Grüne. Aber gescheitert, als ich auf die Welt ZEIT: Ist diese offene Schweiz kam. heute bedroht? Man hat den keine Grünliberalen Eindruck, wenn man die WahlZEIT: Das ist kokett. plakate anschaut. Anaconda: Sie haben recht, ist ja Anaconda: Die Schweiz wird nicht untergehen. gut. Ich habe drei liebe Kinder von drei Müttern. Aber die SVP nimmt Probleme auf, die vorhanden ZEIT: Nicht gerade der typische Lebensentwurf sind. Die politisieren ja nicht im luftleeren Raum. eines Füdlibürgers. Natürlich gibt es ein Problem bei der Zuwande- Anaconda: Es ist manchmal ein Horror. Den berung. Bloß, man kann nicht alle Vorteile genießen rechtigten Ruf nach der Hälfte des Himmels haben und keine Nachteile haben. Alle Seiten machen es wir gehört, aber wir kennen noch keine Modelle, sich halt zu einfach. Die Linken sind nicht alle nett. wie das zu leben sein soll. Ohne Lohngleichheit Und die SVP-Anhänger sind nicht alle Fremden- nützt die Ruferei gar nichts. Ich muss extrem viel hasser. Aber die Agitationen der SVP fördern den arbeiten, um meinen Unterhaltsverpflichtungen Fremdenhass. Ohne Zuwanderer würde die Wirt- nachzukommen. Und die romantische Liebe ist schaft zusammenbrechen. eine Erfindung, sie flaut nach zwei, drei Jahren ab. Ich kenne fast nur gescheiterte Beziehungen. ZEIT: Wen werden Sie wählen? Anaconda: Angesichts der sozialen Ungleichheit ZEIT: Sind Sie nicht auch an Ihrem Egoismus gewerde ich hauptsächlich SP-Leute ankreuzen und scheitert? Sie wollten unbedingt Kunst machen. heftig panaschieren. Ich wähle auch BDP-Politi- Anaconda: Kunst wollte ich noch nie machen. ker und Grüne. Aber sicher keine Grünliberalen. Und zum Scheitern einer Beziehung braucht es zwei. Sie kennen diese Frauen nicht. Ich muss ZEIT: Was wollen Sie damit erreichen? Anaconda: Rudern, aber bloß keine Wellen! Was deren Selbstfindung finanzieren. Aber lange leben schwierig ist. Ohne Stabilität kann es keine Ver- werde ich ja wahrscheinlich nicht mehr. änderung ohne Chaos geben. Im Sternzeichen der ZEIT: Was? Jungfrau geboren, fürchte ich das Chaos. Anaconda: Na, hören Sie mal. Ich bin jetzt 56. Ich bin ein halbes Wrack, habe Diabetes, ein flatterZEIT: Leben Sie das Chaos in der Musik aus? Anaconda: Nein, ich versuche mich an die Geset- haftes Herz, Übergewicht, bin Kettenraucher und ze zu halten, an die musikalischen wie an die ge- emotional zu heiß gekocht – aber ich hatte im Fall noch nie etwas mit einem Fan! Egal. Wegen dieses sellschaftlichen. Nobody is perfect. Lebenswandels wird der Anaconda auch bald umZEIT: Sie sind ein richtiger Füdlibürger. Anaconda: Ach, ich wäre so gern ein Füdlibürger fallen. Und deswegen gar nicht böse sein. – aber man lässt mich einfach nicht! Ich habe ges- ZEIT: Innerlich haben Sie den eigenen Tod schon tern eine Dokumentation über die Brigate Rosse lange akzeptiert. gesehen. Das ist kein Weg. Veränderungen kann Anaconda: Das sollte jeder. Ich verdränge meinen es nur auf dem demokratischen Weg geben. Fal- Tod wirklich nicht. Deshalb bin ich zum Beispiel sche Ideen bringt man nicht aus der Welt, indem nicht geldgierig. Die Menschen glauben, sie müssman den Träger der Idee umbringt. Falsche Ideen ten immer mehr haben, weil sie dann unendlich scheitern in der Praxis, früher oder später. lange in Gestalt eines Bankkontos weiterleben. ZEIT: Was ist die falsche Idee von der Schweiz? ZEIT: Hat sich Ihr Leben gelohnt? Anaconda: Zum Beispiel, dass wir uns für den Anaconda: Ich hoffe, dass hinter meinem Blues Nabel der Welt halten. Dabei sind wir vergleich- manchmal die Dankbarkeit dafür aufblitzt, dass bar mit dem Königreich Bhutan. Wir können ich ein spannendes, lustvolles, erfülltes Leben nicht über den Tellerrand hinausschauen. Und habe. Auch wenn’s manchmal wehtut. wir haben uns der Finanzindustrie verschrieben. ZEIT: Sie bezeichnen sich in einem Ihrer Texte als »Walterfahren«, Kolumnen 2007–2010, erscheint »romantischen Idioten«. Ich finde, das trifft’s. dieser Tage beim Secession Verlag für Literatur Anaconda: Find ich auch. Ich bin ein Lebemann. Und ich bin schon fast angstfrei. Das Gespräch führte PEER TEUWSEN

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Markus Notter war von 1996 bis 2011 Regierungs rat des Kantons Zürich

len, dass im Verfassungsrat selber die Einsicht entsteht. Die Dynamik der Auseinandersetzung wäre eine andere gewesen. Und die Chance besser, zumindest eine breite Diskussion führen zu können. Meine Erfahrung ist: Man kann in politischen Ämtern vieles verhindern, einiges befördern und wenig erzwingen. Man sollte sich aufs Befördern konzentrieren.

ZEIT: Das erstaunt mich angesichts der Lektüre

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Foto: Ruben Wyttenbach/13 Photo

Foto: Dominic Büttner/pixsil

Man macht im Laufe einer langen politischen Tätigkeit immer wieder Fehler. Oft verfügt man zum Zeitpunkt einer Entscheidung nicht über alle notwendigen Informationen. Oder man schätzt die Reaktion der andern Akteure falsch ein. Politik ist zwar ein Handwerk. Es braucht aber auch Intuition. Dabei habe ich festgestellt, dass es sehr aufs Timing ankommt. Ich habe mich etwa sehr für eine neue Regelung des Verhältnisses zu den Religionsgemeinschaften engagiert. Mit viel Geduld und sorgfältiger Argumentation ist es gelungen, im Parlament eine Mehrheit für ein innovatives Gesetz über die Anerkennung von (auch nichtchristlichen) Religionsgemeinschaften zu finden. Die Arbeiten zogen sich über mehrere Jahre hin, und die Volksabstimmung fand erst 2003 statt. Die Terroranschläge von New York und in der Folge die undifferenzierte Wahrnehmung des Islams als Bedrohung der westlichen Welt raubten der Vorlage jede Chance in der Abstimmung. Hätten wir rascher entschieden, was von der Sache her möglich gewesen wäre, wäre es wahrscheinlich anders ausgegangen. Und wir hätten jetzt bessere Bedingungen für die Integration einer größeren Bevölkerungsgruppe und für den Dialog zwischen den Kulturen, Weltanschauungen und Religionen. Einen anderen Fehler habe ich bei der Diskussion über die Kantonsverfassung gemacht. Ich habe sehr früh das Thema Strukturreform lanciert und dafür auch den Regierungsrat gewonnen. Ich glaubte, die Zeit sei reif, unsere föderalistischen Strukturen zu modernisieren. Der Kanton Zürich sollte dabei vorangehen und auf die ganze Schweiz ausstrahlen. Das ging gründlich daneben. Die beharrenden Kräfte haben sich früh formiert. Für viele war das der einzige Grund, sich in den Verfassungsrat wählen zu lassen. Bevor das Thema überhaupt breit diskutiert werden konnte, war die Opposition dagegen schon organisiert. Die Idee schien schon aussichtslos, bevor sie richtig auf die Welt kam. Und die Medien interessieren sich nicht für Totgeburten, das Echo blieb schwach. Ich hätte im Vorfeld nicht davon sprechen und darauf vertrauen sol-

DIE ZEIT: Guten Tag, Herr Anaconda. Endo Anconda: Ich bin im Fall der Endo. ZEIT: Gut. Endo, was macht Sie zum Schweizer? Anaconda: Der Pass und mein Bekenntnis zur

Übergewichtiger Diabetiker und Kettenraucher: Der 56-jährige Endo Anaconda

SCHWEIZ

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

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Frau Fukushimas Gespür für Atom Eine japanische Künstlerin rettet sich vor der Reaktorkatastrophe in die Schweiz. Jetzt will sie nicht mehr zurück. Porträt einer Ängstlichen VON SAMI SKALLI

Foto: Désirée Good für DIE ZEIT/www.desireegood.ch

A

n dem Tag, an dem der Tsunami auf die Küste Japans trifft, geht Sayumi Fukushima in ihrer Wohnung in Ibaraki, gelegen 150 Kilometer südlich des Kraftwerks Fukushima Daiichi, ihrer Arbeit nach: Sie malt, Tag und Nacht. Ein Ausstellungstermin steht kurz bevor. Das Haus verlässt sie nur selten, Freunde trifft sie kaum, Einkäufe erledigt sie über das Internet. Dann wackelt die Erde. Es scheint ein gewöhnliches Beben zu sein, darum fürchtet sie sich nicht. Aber die Erde bebt weiter. Es ist ein einziges Donnergrollen. Sayumi Fukushima wird klar: Das hier ist etwas anderes, etwas Größeres. Sie flüchtet unter den Tisch. Bücher und Geschirr fliegen aus den Regalen. Drei ewige Minuten rüttelt eine schier übernatürliche Kraft an ihrem Haus. Ein Megabeben der Stärke 9,0. Die Künstlerin hat Todesangst. Nun, ein halbes Jahr nach diesem 11. März, sitzt sie auf der idyllischen Terrasse der Villa Sträuli in Winterthur. Hier, in einem Refugium für die Künstler, hat die Japanerin Zuflucht gefunden, nicht vor den Beben, sondern vor der Radioaktivität. Fukushima fürchtet sich vor Fukushima. Deswegen ist sie hier, in der Schweiz. Und will nicht zurück in die Heimat. Die vielfach preisgekrönte Künstlerin, 29 Jahre alt, ist davon überzeugt, dass die Regierung in Japan die Wahrheit über das Ausmaß der Katastrophe verschweigt. Vier Tage nach der Katastrophe seien aus heiterem Himmel stoßartige Winde aufgezogen, ähnlich der Druckwelle einer Explosion. Sayumi Fukushima hält eine Mappe in der Hand, die nach ihrer Meinung Beweise enthält. Darin ist eine Karte von Japan, auf der die Belastungen durch Cäsium-137-Isotope am 15. März 2011 gelb eingezeichnet sind, die Momentaufnahme eines Tages. Sie zeigt auch, wie eine Wolke das Land überzieht. Den Bericht habe die Regierung erst Ende September veröffentlicht, über ein halbes Jahr nach dem Reaktorunfall. Beim Sprechen ist der Blick der Japanerin meist gesenkt, nicht aus Ängstlichkeit, eher aus Bescheidenheit. Sie will sich nicht in den Vordergrund drängen,

die Stille des Raums nicht mit ihrer Stimme füllen. In ihrem blass geschminkten Gesicht, das von glattem, langem schwarzem Haar umrahmt ist, leuchtet eine rote Brille. Die ist aber auch das Exzentrischste an ihr. Über das Radio erfährt Sayumi Fukushima damals, dass die Menschen begonnen haben, ihre Badewannen mit Wasser zu füllen. Die erdbebenerprobten Japaner wissen, dass die Versorgung nach einem solchen Naturereignis aussetzen kann. Sayumi rennt ins Bad und dreht den Hahn auf, doch es kommt kein Tropfen mehr. Kein Gas, kein Strom. Von einem Tsunami sagt der Moderator zu diesem Zeitpunkt kein Wort – Tote und Verletzte gebe es nur wenige. Das soll sich ändern. An die folgenden Stunden kann sich Sayumi Fukushima nur schemenhaft erinnern. Ibaraki, der Ort, an dem sie lebt und arbeitet, liegt etwas landeinwärts und bleibt – anders als die Orte an der Küste – vom Schlimmsten verschont. Im Fernsehen sieht Fukushima später, was die Meeresmassen anrichteten. Brennende Trümmerhaufen treiben auf dem Wasser, Autos und Häuser wurden weggespült, ganze Landstriche verwüstet. Schnell macht das Gerücht die Runde, dass auch die Kernkraftwerke am Meer von den Wellen erfasst worden seien, über ihren Zustand wisse man nichts Genaues. Unbehagen macht sich in Sayumi breit. Sie habe sofort gespürt, dass in Fukushima Daiichi etwas Schreckliches geschehen sei. Ihr siebter Sinn habe ihr das gesagt. Und irgendwie glaubt man dieser Frau.

Es ist die Angst vor dem Unsichtbaren, die ihr die Heimat nimmt Sayumi Fukushima will nur weg. Sie sucht nach Flügen in den Süden, will ihre Eltern und Freunde davon überzeugen, dass sie fliehen müssen. Doch die meinen bloß, dass Sayumi übertreibe, ihre Nerven lägen blank. Die gebürtige Tokioterin geht allein nach Kyoto, 700 Kilometer entfernt von den beschädigten Reaktorblöcken. Von hier aus plant sie ihren Aufenthalt in der Schweiz. Die Villa Sträuli bietet einigen ausgewählten Künstlern Unterkunft, Verpflegung und Arbeitsräume an. Fu-

kushima bewirbt sich, wird zunächst abgewiesen, kann dann aber nachrücken. Sie ist froh, hier zu sein – auch wenn sie die Villa Sträuli bald wieder verlassen muss. Zurück nach Japan aber will sie nicht. Oder nur kurz im Dezember, um ihre Eltern zu sehen. Sie wird wohl in der Schweiz bleiben, einen Sprachkurs machen und weiter studieren. Als Studentin kommt sie einfacher zu einem Aufenthaltsrecht. Auch wenn ihr Heimatort Ibaraki weit außerhalb des Sperrgebietes von Fukushima und damit außerhalb der Gefahrenzone liegt, fürchtet Fukushima die Heimkehr. Von Winterthur aus ist es schwer zu sagen, wie berechtigt diese Angst ist. Aber das spielt keine Rolle. Es ist ihr Gefühl, das ihr sagt, dass es besser sei, fortzubleiben. Es ist die Angst vor dem Unsichtbaren, die ihr die Heimat nimmt. Leben. Das ist das zentrale Thema ihrer Werke. Auf den Ölgemälden sind Blasen zu sehen, sie selbst bezeichnet diese als »Keime des Lebens«. In den Blasen erkennt man die Konturen von Städten. Die Gebäude stehen auf dem Kopf. Es ist das wirkliche Bild, das unsere Augen sehen, nicht jenes, das unser Hirn um 180 Grad gedreht hat. Die Welt in unserer Erinnerung sei eine andere als die Welt, die unsere Augen in der Gegenwart wahrnehmen, sagt Sayumi. Im Keim des Lebens herrschen die idealen Bedingungen. Das perfekte Idyll. Die Wirklichkeit ist anders, das weiß sie, vor allem nach dem Tsunami. Auf dem ersten Bild, das Sayumi in der Villa Sträuli gemalt hat, ist der Keim des Lebens verschwunden. Es scheint sich daraus eine Pflanze entwickelt zu haben. Eine Blume, die in der Schweiz wächst, sagt Sayumi Fukushima. Das Gewächs sprießt am Ufer eines Teichs. Wellen breiten sich aus. Sie treffen aufs Ufer, an dem die Konturen einer Stadt schimmern. Alles wirkt so idyllisch. Ist es aber nicht. Sogar die Eltern Sayumis glauben mittlerweile, dass in Fukushima etwas Schlimmes geschehen ist. Sie raten ihrer Tochter davon ab, heimzukehren. Und Fukushima selbst möchte loskommen von Fukushima. Für immer.

Das Leben ist nicht so idyllisch wie es scheint: Künstlerin Sayumi Fukushima CH

16 6. Oktober 2011

SCHWEIZ

DIE ZEIT No 41

SCHWEIZERSPIEGEL

Ein politischer Mensch Peach Weber läuft als Moderator eines Wahlpodiums zu wahrer Größe auf

Politiker sind nicht bloß Erfüllungsgehilfen der Wirtschaft

Ist die Politik käuflich? Alle wollen genauer wissen, wie sich die Parteien finanzieren. Aber Geld allein macht keinen Staat VON MATTHIAS DAUM

Illustration: Jochen Schievink für DIE ZEIT/www.jochenworld.de

I

n Bundesbern erzählt man sich folgende Geschichte: Als Ueli Maurer, damals noch Nationalrat, vor den Bundesratswahlen im Dezember 2008 zum Hearing vor der SPFraktion antrat, gab er freimütig Auskunft darüber, wie das sei mit dem Geld der Großbanken und der SVP. Die Banken führten Strichlisten: Für jede Abstimmung, bei der die Parlamentarier im Sinne der Bank votieren, gebe es ein »Strichli«. Am Ende des Jahres werde abgerechnet – und entsprechend fließe Geld in die Parteikasse. Anekdoten wie diese bestätigen, was viele Bürger, Politiker, Wissenschafter und Journalisten vermuten: Politik ist käuflich. Ja, Politikfinanzierung ist der heimliche Wahlkampfschlager, obschon keine Partei das Thema offiziell lancierte. Alle wollen Licht ins Buchhaltungsdunkel bringen, mehr Transparenz lautet das Gebot der Stunde. Also wissen wir nun: Eine Ständeratskandidatur im Kanton Bern kostet zwischen 63 000 und 190 000 Franken (Berner Zeitung). Die SVP hat ein geschätztes Wahlkampfbudget von 20 Millionen Franken (Bilanz). Der persönliche Wahlkampf von Christoph Blocher kostet vermutlich eine Million Franken (Sonntag). Von Mai bis August hat die SVP 3,39 Millionen Franken für Werbung ausgegeben – 2,7 Millionen Franken allein im August. Das ist 4-mal mehr als die FDP und 25-mal mehr als die SP ausgegeben hat, errechnete das Marktforschungsinstitut Media Focus für die Télévision Suisse Romande. Und die Sonntagszeitung klärt uns auf: Linkspolitiker verdienen nur halb so viel wie Bürgerliche. Unbeantwortet aber bleibt in diesem Zahlenreigen die Frage: Ist Politik käuflich? Nein, glaubt der Politikwissenschafter Hanspeter Kriesi. Er analysierte die Kampagnenkosten der Abstimmungen zwischen 1981 und 2006. Sein Fazit: »Es erscheint ziemlich übertrieben zu behaupten, dass man Abstimmungserfolg kaufen könnte.« So scheiterte beispielsweise 2008 die Einbürgerungsinitiative der SVP – trotz landesweit vollgekleisterter Plakatwände. Ausschlaggebend ist

Geld, gemäß Kriesi, nur bei Abstimmungen, die Bürgerlichkeit, verlangt seinerseits eine Offenlegung auf der Kippe stehen. Etwa bei der Abstimmung der Finanzierung von Abstimmungskampagnen. über die Unternehmenssteuerreform II, ebenfalls Gleichzeitig erhöht sich der Druck aus dem Ausim Jahr 2008 an die Urne gekommen – und an- land. Die Schweiz ist neben Schweden das einzige genommen mit läppischen 20 000 Stimmen europäische Land, das keine Regulierung der PoliUnterschied. Die Trendwende brachte eine mas- tikfinanzierung kennt. Die Wahlbeobachter der sive PR-Kampagne der Wirtschaft. OSZE maßregelten die Schweiz im Wahljahr 2007: Geld allein macht also keine Politik – und Die Offenlegungspflichten seien ungenügend. Der schon gar keine Wahlsieger. Das erfährt die FDP Global Corruption Report von Transparency Internaseit Jahren. Heuer wie 2007 liegt sie bei den tional, einer Nichtregierungsorganisation, stellt die Wahlkampfbudgets auf Rang zwei, doch an der Schweiz diesbezüglich auf eine Stufe mit Albanien, Urne wurde sie vor vier Jahren nur drittstärkste El Salvador und Sri Lanka. Diesen November erKraft, für den 23. Oktober sagen ihr die Polit- scheint ein Bericht der Antikorruptionsbehörde des Auguren gar einen Totalabsturz voraus. Und Europarats. Was darin steht, hat das Bundesamt für Unternehmer Blocher müsste es vorm Return on Justiz in einem Papier bereits antizipiert. Die Investment seiner SVP grauSchweiz wird wie Schweden eisen. 20 Millionen Franken nen Rüffel kassieren und die kostet die Partei die KonsoliDie Nähe ist gewollt Korruptionsbekämpfer werden dierung ihrer Macht. »Ohne Folgendes fordern: eine detaillierden möglichen Einfluss des te Erfassung der Parteifinanzen Schwache Parteien Geldes zu verkennen, ist der und Kampagnengelder, ein Verund starke Verbände Bundesrat doch der Meinung, bot anonymer Parteispenden, ein aus Wirtschaft und dass Fantasie, Kreativität und unabhängiges Kontrollsystem mit Gesellschaft – darauf Engagement durch keine geldharten Sanktionen. Gedroht wird mächtige Kampagne zu ersetmit einer »schwarzen Listen«, auf gründet die Schweiz zen sind«, antwortete die Landie man die Eidgenossenschaft desregierung vor zehn Jahren setzen werde. auf eine SP-Interpellation. Vielleicht lag sie mit Doch kann die Politik an der Transparenz ihrer leicht naiven Weltsicht gar nicht so falsch. genesen? Klar, es wäre wichtig, zu wissen, wer die Lange forderte allein die Linke mehr Transpa- Großspender der Parteien sind. Allein schon, um renz bei der Politikfinanzierung, die Bürgerlichen den Mythos vom »gekauften Politiker« zu erleditaten dies als Neiddebatte ab. Schließlich bekamen gen. Oder wie Martina Caroni, Luzerner Jusnur sie Geld von Credit Suisse, Novartis, Roche Professorin und Autorin des Buchs Geld und Pooder Nestlé – und bis 2009 von der UBS. Hilmar litik, sagt: »Transparenz schafft Vertrauen.« Aber die Fixierung aufs Geld verstellt den Gernet, Historiker und Cheflobbyist der RaiffeisenBank nennt diese Firmen in seinem Buch (Un-) Blick fürs Ganze. Politik wird als Milchbüchleinheimliches Geld die wichtigsten Geldgeber von FDP, rechnung missverstanden: Stimme gegen Knete. CVP und SVP. Nun fordert aber auch die Rechte Doch Parlamentarier, die in Beiräte oder Vermehr Durchblick. Transparenz ist en vogue, da darf waltungsräte gewählt werden, lechzen nicht in man nicht abseits stehen. SVP-Nationalrat Lukas erster Linie nach Sitzungsgeldern. Sie wollen mit Reimann will die Einkünfte der National- und Wissen über Sachvorlagen versorgt werden. In Ständeräte offenlegen, nicht mehr nur deren Inte- einem Milizsystem ist es für Politiker und Parressenbindungen. Sogar der Ständerat, ein Hort der teien unmöglich, in allen Dossiers sattelfest zu

sein. Einflüsterer, also Lobbyisten, sind unabdingbar. Mehr noch: Ihr Mitwirken ist gewollt – schwache Parteien sowie starke Wirtschafts- und Gesellschaftsakteure, darauf gründet die Schweiz. Man baut auf den Wettbewerb der Ideen. Deshalb gelingt es hierzulande auch Mittellosen oder Minderheiten, Einfluss auf die öffentlichen Debatten zu nehmen. In welchem anderen Land können Mittzwanziger ein gewichtiges Wort in der Außenpolitik mitreden? In Bern finden die jungen Vertreter des außenpolitischen Thinktanks foraus mit ihren papers offene Parlamentarierohren. Wo kann mit Eugen Haltiner ein UBS-Manager zum Finma-Chef aufsteigen, also zum Kontrolleur seines ehemaligen Arbeitgebers? Und wo ernennt eine bürgerliche Bundesrätin mit Serge Gaillard einen Gewerkschaftssekretär zum Direktor für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft? Ohne solche Seitenwechsel kann ein Kleinstaat nicht sein. Und was passiert, wenn Wirtschaft und Gesellschaft das Interesse an einem politischen Dossier verlieren, zeigt sich zurzeit in der Sicherheitspolitik. Das absurde Theater um die Zukunft der Schweizer Armee ist auch eine Folge des Bedeutungsverlusts der Rüstungsindustrie für den Werkplatz Schweiz. Halbwissen dominiert die Diskussion. Ideologen übernehmen die Meinungsführerschaft, man führt eine Hors-sol-Debatte. Expertenwissen ist rar, an den sicherheitspolitischen Forschungsinstituten wie dem Center for Security Studies der ETH Zürich hält man sich bei umstrittenen Fragen vornehm zurück. Zu sehr ist man von den staatlichen Aufträgen aus Bundesbern abhängig. Die Folge ist, dass die Schweiz für mehrere Milliarden Franken Kampfflugzeuge kauft – ohne zu wissen, ob man sie überhaupt braucht. So wird die Transparenzdebatte zum Lehrstück. Wer in der Schweiz Ordnung um der Ordnung willen schafft, rüttelt an ihren Grundfesten. Das Land ist eine große Bastelei – ein Land, in dem sogar Großbanken Strichlisten führen.

Er trampelt durch die Zuschauerreihen, wünscht allen einen schönen Abend und setzt sich mit seiner ganzen Masse auf den mittleren Stuhl von dreien. Er trägt das mit Papageien bedruckte Hemd offen, darunter ein schwarzes T-Shirt und eine Goldkette, die wilden grauen Haare nur unzureichend gebändigt unter einer Dächlikappe, auf der »Switzerland« steht. So kennt man den Aargauer Komiker Peach Weber, der für gewöhnlich die Schweiz mit putzmunteren Liedzeilen wie »only you mein Schatz and the Luftmatratz« beglückt. Ein 58-jähriger Mensch, der aus ökonomischen Gründen den Clown macht. An diesem Montagabend aber wird in Baden offenbar, dass er sein großes Publikum sträflicherweise unter seinem Niveau unterhält. Im kleinen Theater im Kornhaus moderiert er ein Streitgespräch zwischen den jungen Aargauer Nationalratskandidaten Cédric Wermuth (SP) und Pascal Furer (SVP). Das Thema: »Werden wir von Idioten regiert?« Man dachte, das sei nun die letzte Verzweiflungstat zweier um Aufmerksamkeit ringender Wahlkämpfer. War es wohl auch. Aber sie hatten nicht mit Peach Weber gerechnet. Im Kellertheater steht heute nämlich eine selten gewordene Vorstellung auf dem Programm: die Bekenntnisse eines politischen Menschen. Weber verletzt alle Regeln der Moderation, er stellt nicht wirklich Fragen und animiert das Publikum von Anfang an zu Zwischenrufen (was so ausufernd genutzt wird, dass es schließlich zu Gehässigkeiten kommt). Aber vor allem redet der Moderator streckenweise länger als die beiden Politiker, mehr noch: Er ereifert sich, bezieht Stellung. Als der SVP-Mann beim Thema Kernkraft sagt, Risiken gebe es doch in einer modernen Gesellschaft immer, zuckt Weber ein erstes Mal mit den Brauen. Und als der Großrat hinzufügt, der Reaktorunfall in Fukushima könne ja wohl nicht so schlimm gewesen sein, schließlich habe er gehört, die Menschen würden schon in die Sperrzone zurückziehen, reißt Weber die Augen auf: »Das ist jetzt aber nicht dein Ernst! Willst du damit sagen, dass alles kein Problem war?« Furer, von der Aggressivität der Bemerkung überrascht, findet keine schnelle Antwort. Da winkt Weber nur ab und hebt zu einer minutenlangen Brandrede gegen die Kernkraft an, die im Satz gipfelt: »Der Gesamtbundesrat soll sich bei denen entschuldigen, die damals gegen Kaiseraugst und Gösgen demonstriert haben – und dafür als linke Säue beschimpft und mit Wasserwerfern abgespritzt wurden! Das waren mutige Menschen. Ich bedaure es heute, dass ich keiner von ihnen war.« Ein andermal setzt er den SP-Mann unter Druck mit der Bemerkung, die Sozialdemokratie habe es verschlafen, sich rechtzeitig um die sozialen Folgen der Einwanderung zu kümmern. Wermuth rettet sich mit einem gemurmelten »Da war ich noch nicht dabei«. Und wenig später wirft Weber dem SVPler eine seiner Überzeugungen an Kopf: »Wer an den Finanzmärkten mit Lebensmitteln spekuliert, ist eine Drecksau.« Furer soll dazu Ja oder Nein sagen. Der aber windet sich, Gefangener seiner Parteidoktrin. Und das Publikum weiß, wer welches Geistes Kind ist. Große Klasse, Weber! Es wäre an der Zeit, dass sich der Mann vom Blödsinn verabschiedet und wieder bei seinem ursprünglichen Namen nennt: Peter Weber. So viel Ernsthaftigkeit stünde ihm gut. PEER TEUWSEN CH

PREIS DEUTSCHLAND 4,00 €

DIE

ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

Warum Schriftsteller die Familie neu entdecken und warum das Gastland Island uns bezaubert. Dazu: Die wichtigsten Neuerscheinungen

Bücher gegen die Kälte Klein, aber stark

Eine Regierung darf auch gegen die Mehrheit in der Bevölkerung stimmen. Aber Abweichler muss sie respektieren VON MATTHIAS GEIS

Auch wenn die USA und China übermächtig erscheinen – die Nationalstaaten in Europa haben noch Zukunft VON BERND ULRICH

S

ine neue Parole geht um im politischen Berlin: Der Nationalstaat sei, so heißt es, überholt, er könne sich in einer globalisierten Welt gegen große Mächte wie die USA oder China nicht mehr behaupten. In dieser Form ist die Aussage jedoch sinnlos, denn die USA sind auch ein Nationalstaat, sogar China ist es. Gemeint ist wohl etwas anderes. Es geht nicht um die Staatsform, es geht um die Staatsgröße. Sinnvollerweise müsste der Satz also lauten: In der Globalisierung sind Nationalstaaten europäischer Größenordnung nicht mehr überlebensfähig, nicht mal Deutschland oder Frankreich, ganz zu schweigen von all den kleineren Staaten. Diese Behauptung, die gern als absolute historische Gewissheit daherkommt, enthält dermaßen viele Implikationen, dass man sich hier nicht mit allen näher beschäftigen kann. So würde man natürlich gern wissen, wie es denn bislang die Luxemburger, Portugiesen oder Slowaken auf dieser Welt ausgehalten haben, in der sie sich gegenüber Ländern behaupten mussten, die aus ihrer Sicht relative Chinas oder Amerikas waren, also etwa Deutschland oder Frankreich. Zudem fragt sich, was nach der Theorie vom unausweichlichen Untergang des Nationalstaats mittlerer Größe künftig aus Ländern wie Südafrika, Argentinien oder Japan werden soll. Sind die dann auch alle überholt? Hat man ihnen das schon mitgeteilt? Nicht, dass sie ihren eigenen Untergang verpassen!

elten ist die Spannung zwischen Verfassungsideal und parlamentarischer Wirklichkeit farbiger illustriert worden: Da beruft sich ein Bundestagsabgeordneter bei seinem Nein zur eigenen Regierungslinie auf die im Grundgesetz garantierte Gewissensfreiheit, worauf ihn ein Fraktionskollege auffordert, mit »dieser Scheiße« endlich aufzuhören. Ist das der normale Umgang mit Andersdenkenden im Deutschen Bundestag? Wohl kaum. Doch allein schon wegen der Schlüsselstellung, die Kanzleramtsminister Ronald Pofalla im Machtsystem von Angela Merkel einnimmt, lassen sich die Ausfälle gegen seinen Parteifreund Wolfgang Bosbach nicht einfach ad acta legen. Selbst nach Pofallas Entschuldigung nicht. Denn der Vorfall ist symptomatisch. Er zeigt, welche Wut den Abgeordneten in den letzten Wochen entgegenschlug, die wegen ihrer Zweifel an der Euro-Rettungspolitik angekündigt hatten, sich gegen die eigene Regierung zu stellen. Der erst im Nachhinein bekannt gewordene Eklat liegt nun wie ein Schatten über dem schwarz-gelben Abstimmungserfolg. Doch bedeutsamer noch als für die Atmosphäre in der Koalition ist der Vorfall für das Verhältnis zwischen etablierter Politik und Bevölkerung. Denn er bestätigt auf drastische Weise den Verdacht, dass der politische Betrieb genau so funktioniert, wie Pofalla es demonstriert hat: rücksichtslos im Dienste der Macht und demütigend für alle, die sich deren Imperativ nicht fügen.

Selbst Profis der Machtsicherung verlieren jetzt die Fassung Dass die Gewissensfreiheit des Abgeordneten für die Führung der Fraktionen immer wieder zum Störfaktor wird, gilt lagerübergreifend. Wann immer existenzielle politische Entscheidungen sich in Existenzfragen der jeweiligen Koalition verwandeln, kommt der einzelne, sperrige Parlamentarier leicht unter die Räder der sogenannten Fraktionsdisziplin. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder vor genau zehn Jahren eine Mehrheit für den deutschen Afghanistan-Einsatz beibringen musste, ging es kein bisschen glimpflicher zu als jetzt bei der Euro-Rettung. Damals endete der wochenlange Druck auf die rot-grünen Abweichler damit, dass sie untereinander ausmachen durften, wer seiner Überzeugung gemäß mit Nein stimmen durfte und wer – im Interesse der Macht – mit Ja. Dass es wieder und wieder zu solchen Eskalationen kommt, liegt an einer schon fast fetischhaften Wertschätzung, die hierzulande der Nachweis politischer Stabilität genießt. Selbst bei Entscheidungen, die von der Opposition unterstützt werden, steht die Regierungskoalition schnell unter dem Zwang, ihre Handlungsfähigkeit durch eine »eigene Mehrheit« zu demonstrieren. Diese bundesdeutsche Besonderheit resultiert aus den traumatischen Erfahrun-

gen der ersten deutschen Demokratie, die nicht zuletzt am Mangel stabiler Regierungen zugrunde gegangen ist. Inzwischen könnte man damit vielleicht etwas lockerer umgehen. Doch es sind nicht nur Koalition und Opposition, sondern auch die Medien, die, wann immer sich eine Gelegenheit bietet, von der Regierung den ultimativen Stabilitätsnachweis einer »Kanzlermehrheit« einfordern. Dass dieser Erwartungsdruck am Ende bis zu den einzelnen »unsicheren Kantonisten« durchschlägt, weil an ihnen plötzlich Wohl und Wehe der Regierung zu hängen scheint, ist kaum überraschend. Umso mehr erfordert eine solche Situation von denjenigen Parlamentariern Mut und Rückgrat, die eine abweichende Position vertreten. Auch wenn man dem einen oder anderen, der bei solcher Gelegenheit zu medialer Prominenz gelangt, den Genuss seiner plötzlichen Bedeutsamkeit anmerkt, verdient der Fraktionsdissident allen Respekt. Am Umgang mit ihm erweist sich, wie ernst das Parlament seine Freiheit nimmt. Umso symbolträchtiger war deshalb die Entscheidung von Parlamentspräsident Norbert Lammert, der durch kreative Auslegung der Geschäftsordnung den Abweichlern in der Debatte um den Euro-Rettungsschirm Rederecht einräumte. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen, doch für die Koalitionsspitze war es ein Affront. Sucht man nach den Gründen für die Erbitterung, den der Dissens im Regierungslager provoziert, stößt man auf eine interessante Parallele zwischen der Afghanistan-Entscheidung vor zehn Jahren und der Abstimmung zur Euro-Rettung: In beiden Fällen votierte die überbordende Mehrheit des Parlamentes gegen die überbordende Skepsis der Bevölkerung. Und in der Gereiztheit, mit der, damals wie heute, die Regierungsfraktionen auf die Andersdenkenden in den eigenen Reihen reagierten, schimmert ein Unbehagen durch. Es ist das Unbehagen einer parlamentarischen Mehrheit im Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Minderheitsposition. Kein Wunder, dass in einer solchen Konstellation selbst Profis der Machtsicherung die Fassung verlieren. So wie es für den einzelnen Abgeordneten kein imperatives Mandat gibt, so gibt es auch für das Parlament als Ganzes keine Verpflichtung, die gesellschaftliche Stimmungslage abzubilden. Eine Koalition, die aus Überzeugung gegen die Mehrheit in der Bevölkerung steht, kann sich nicht einfach anpassen. Ihr bleibt nur die Zuversicht, die aus der eigenen Überzeugungskraft entspringt. Und der Respekt vor denen, die anderer Meinung sind. Denn durch nichts immunisiert eine Regierung die Öffentlichkeit mehr gegen die eigene Politik als durch die Schmähung der Andersdenkenden. Sie bilden eine Brücke in die Gesellschaft. Gäbe es die Abweichler nicht, die Koalition müsste sie erfinden. www.zeit.de/audio

E

Die USA leiden schon an ihrer Größe – und China bald auch an seiner Für die aktuelle Debatte über die künftige Gestalt Europas ist eine andere Implikation wichtiger. Die Anachronismusthese enthält nämlich eine Annahme über die ideale Größe einer staatlichen Einheit in der globalisierten Welt. Danach sollte ein Staat, der etwas auf sich hält und international ernst genommen werden will, eine Größe und einen nationalstaatlichen Integrationsgrad haben wie mindestens die USA. Aber ist das so? Können wir heute wirklich wissen, ob eine vollintegrierte Nation wie die USA mit ihren 315 Millionen Einwohnern zukunftstüchtiger ist als das etwas flusige Staatengebilde EU mit seinen 500 Millionen? In diesen Jahren erlebt die ganze Welt, wie die Amerikaner zwischen ihrem globalen Machtanspruch und ihren immensen inneren Problemen geradezu zerrissen werden. Auch das politische System zeigt immer öfter Zeichen von Dysfunktionalität, seit der Wohlstand nicht mehr quasi automatisch wächst. Und der Anteil der Schulden am Bruttosozialprodukt ist in den USA genauso groß wie in der EU, obwohl es dort, anders als hier, schon eine Wirtschaftsregierung gibt und einen Bundeshaushalt. Nicht zuletzt hat sich das Land seit einiger Zeit politisch gespalten in zwei verfeindete Lager, um nicht zu sagen, zwei USAen.

Erkennbar leiden die USA im Moment an ihrer Größe. Und an ihrem Nationalstaat, den weite Teile der Bevölkerung ablehnen und den zumindest die Republikaner aushungern wollen. Es kann immer noch sein, dass es sich bei all dem bloß um Übergangsphänomene handelt, möglich, dass die USA doch die perfekte Größe haben für die Aufgaben der Zukunft. Es kann aber auch sein, dass sie zu groß sind. Oder zu klein. Kleiner jedenfalls als China, der Staat der 1200 Millionen Menschen, mit seinen ungeheuren Wachstumsraten, der Staat, dem die USA so viel Geld schulden. Hat womöglich China, nur China, die passende Größe für das 21. Jahrhundert? Und müssen dann alle versuchen, chinaesk zu werden, Europa wird Nation, Brüssel wird Peking? Auch das wissen wir nicht genau. Die Chinesen zahlen für ihre Größe hohe Preise. Einen Preis stellen die dauernden Aufstände in den Provinzen dar. Ein anderer Preis ist die Unterdrückung der Tibeter, denen man keine Autonomie gewähren will, weil dann, so die Angst der Zentrale, alles auseinanderfliegen würde. Ein Preis lautet: Diktatur. Vieles, zumindest aus Sicht der Chinesen, spricht dafür, dass ein Land dieser Größe nicht demokratisch beherrscht werden kann. Aber die Diktatur braucht extremes Wachstum, um die Menschen für die Unfreiheit zu entschädigen. Wird China immer so weiterwachsen können? Diktatur bedeutet auch Korruption, die wiederum den Wohlstand frisst, der das Land zusammenhält. Hat China also die passende Größe? Wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich ist es auf mittlere Sicht viel zu groß. Wir werden es erleben. Und Europa? Die EU ist größer als die USA, kleiner als China und weniger nationalstaatlich als beide. Hier sind die mittleren und kleinen Nationalstaaten immer noch sehr wichtig, während die europäische Zentrale relativ schwach ist. Was sie auch dann noch bleibt, wenn demnächst ein paar mehr Kompetenzen nach Brüssel verlegt werden, um die schlimme Schuldenmacherei zu stoppen. Ob nun dieses Europa die richtige Größe und Gestalt hat – auch das wissen wir nicht präzise. Allerdings hat die EU gegenüber den USA und gegenüber China einen großen strategischen Vorteil – den der flexiblen Staatlichkeit. Wenn es nötig werden sollte, dann könnten wir hier leichter noch ein bisschen mehr Staat drauflegen, als die anderen von ihrer Größe und Nationalstaatlichkeit runterkommen, wenn sie zu groß und zu zentral geworden sind. Das spräche dafür, nur ganz vorsichtig, gewissermaßen experimentell die Integration voranzutreiben. Es geht nicht mehr, wie die Generation Delors, Fischer, Juncker glaubte, um die Finalität, also den Endzustand Europas, es geht um seine Variabilität. Insofern muss man sagen: Es lebe die Nation – zumindest noch eine Weile. www.zeit.de/audio

Gespräche mit Bettina Wulff, der Frau des Bundespräsidenten, dem Meisterregisseur Jean-Luc Godard und dem Altkanzler Helmut Schmidt ZEITmagazin, Feuilleton PROMINENT IGNORIERT

Fettarm sterben Dieser Tage wurde in Dänemark tonnenweise Butter gehamstert. Eine Gesundheitskommission hatte errechnet, dass sich die Lebenserwartung der Dänen um drei Jahre steigern ließe, wenn sie sich fettarm ernährten. Also hat man jetzt eine Fettsteuer eingeführt. Vermutlich würde sich die Lebenserwartung weiter steigern lassen, wenn man das Sterben besteuerte. Bislang war es ja umsonst. Es kostete bloß das Leben. GRN. kl. Fotos: Herlinde Koelbl für ZM; Getty Images; Vera Tammen für DZ (v.l.n.r.); StockFood (u.)

ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail: [email protected], [email protected]

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AUSGABE:

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Lob der Mutprobe

Köpfe dieser ZEIT

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Titelfoto: Natalie Bothur für DIE ZEIT/www.nataliebothur.de

ZUR BUCHMESSE: 88 SEITEN LITERATUR

14 6. Oktober 2011

POLITIK

MEINUNG

DIE ZEIT No 41

ZEITGEIST

Das Obama-Paradox Eigentlich ist er 2012 der vorbestimmte Verlierer, aber ...

JOSEF JOFFE:

Foto: Mathias Bothor/photoselection

HEUTE: 3.10.2011

Kurzatmig Es ist früh am Morgen, und David Cameron läuft durch Manchester. Es ist der zweite Tag des jährlichen Parteitreffens der Tories. Cameron atmet tief ein, vorwärts, immer weiter. Er läuft allein, ein einsamer Brite, und einige seiner Parteifreunde hätten das gern so: einsame Briten, frei von all dem Ballast, den die Europäische Union so mit sich bringt. 34 Kilometer ist Großbritannien vom Kontinent entfernt, lächerlich wenig im Grunde, aber manchmal eben doch ganz weit weg. Fast die Hälfte der Briten möchte raus aus der EU, aber Cameron will nicht zurücklaufen in die Zeit von John Major. Die Euro-Skeptiker sollen ihm nicht den Parteitag vermiesen, denn die Tories laufen ja nicht mehr allein, sie haben jetzt die Liberalen an ihrer Seite, und die mögen Europa. Die Kurzstrecke hat Cameron bereits hinter sich gebracht. Aber er peilt die Langstrecke an. AKE

Foto: AAD/interTOPICS

Stanford, Kalifornien Stell dir vor, der Sieg ist dein, und du hast keinen, der den Pokal abholt. So geht es den Republikanern ein Jahr vor den Wahlen. Eigentlich müssten sie im nächsten November haushoch gewinnen und Obama aus dem Weißen Haus vertreiben. Aber sie kriegen keinen Kandidaten zustande, der diese niedrig hängende Frucht pflücken könnte. Zuerst Obama. Zwei klassische Fragen der Meinungsforscher lauten: »Sind Sie zufrieden, wie die Dinge laufen?« und »Ist das Land auf dem richtigen Weg?« Obama kommt in dieser Phase seiner Amtszeit schlechter weg als jeder seiner Vorgänger, inklusive des glücklosen Jimmy Carter. Nur elf Prozent sind zufrieden, nur 20 Prozent sehen das Land auf dem richtigen Weg. Bei George W. waren es zu diesem Zeitpunkt 44 und 52 Prozent; er hat die Wiederwahl geschafft. Bei Carter waren es 19 und 16 Prozent; er ist gescheitert. Seine Probleme waren Ende der Siebziger praktisch identisch mit denen von Obama heute: eine üble Rezession, hohe Arbeitslosigkeit. Nur den Mühlstein der hohen Inflation hat Obama nicht am Hals, dafür aber zwei Kriege, die verloren gehen. Ist er also der vorbestimmte Verlierer? Er müsste es nach aller historischen Erfahrung sein, aber diese Prophezeiung bleibt im Konjunktiv. Denn seine persönlichen Werte sind nach wie vor hoch: Zwei Drittel halten ihn für »sympathisch«, 49 Prozent für »ehrlich und offen«. Und die Republikaner suchen noch immer verzweifelt nach einem Kandidaten, der das Weiße Haus für sie erobert. Vor ein paar Wochen hieß der Hoffnungsträger noch Rick Perry. Der Gouverneur von Texas schoss nach vorn, weil der Frontrunner Mitt Romney so aufregend war wie Griesbrei. Jetzt liegt Perry knapp zehn Punkte hinter Obama; er ist gewogen und für zu leicht befunden worden. Doch Romney begeistert nicht; er schafft gerade mal den Gleichstand mit Obama. Die Partei begeistert Romney schon gar nicht. Deshalb gewinnt plötzlich ein Pizzakönig namens Herman Cain, der einzige schwarze Kandidat, die Probevorwahl in Florida mit 37 Prozent. Der ganz neue Traumkandidat hieß eine Woche lang Chris Christie, Gouverneur von New Jersey. Der Mann ist ein Schwergewicht in jeder Beziehung (220 Pfund), aber er hat einen großen Makel: Er hat sich am Dienstag trotz einer Welle von Zuspruch,

Josef Joffe ist Herausgeber der ZEIT

die von Henry Kissinger bis Nancy Reagan reichte, gegen die Kandidatur entschieden. Christie, ein erfahrener und beliebter Politiker, wäre das richtige Gegenmittel zu Rechtspopulisten wie Perry, Bachman und Palin gewesen; die beiden Frauen liegen doppelstellig hinter Obama, treiben aber die Partei vor sich her. Nun ist dieser Traum geplatzt. Heute ist nur eines sicher: dass kein Kandidat Feuer fängt und deshalb ein jeder seine Viertelstunde Ruhm einfahren kann. Fazit: Obama müsste haushoch verlieren, aber die Republikaner finden keinen Kandidaten, der den Unmut kanalisiert, der Antworten auf die Wirtschaftskrise anbietet und nicht bloß populistische Wundermedizin. Wahrscheinlich wird Mitt Romney das Rennen machen. In diesem Fall bliebe das ganz Große im November 2012 offen, obwohl alle historische Erfahrung »Obama, ade« flüstert.

Was ich immer über mich wissen wollte Endlich hat ein Facebook-Nutzer seine Daten zurückerobert Warum weiß Mark Zuckerberg mehr über uns als wir über ihn? Weil in seinem Sozialen Netzwerk Facebook 800 Millionen Menschen angemeldet sind. Zehnmal mehr, als Deutschland Einwohner hat. 800 Millionen Nutzer, die sich von verschiedenen Computern einloggen, ihre Lieblingsfilme bewerten, über ihre Wochenendpläne und ihre Affären plaudern und nebenher im Netz surfen. Welche Informationen Facebook dabei von jedem Einzelnen sammelt, ist kaum jemandem klar. Einer hat es jetzt getestet: Maximilian Schrems wollte wissen, was Facebook über ihn weiß. Er hat E-Mails geschrieben, ein OnlineFormular ausgefüllt und die irische Datenschutzbehörde angeschrieben – in Irland hat Facebook einen europäischen Firmensitz. Schließlich bekam Schrems seine Daten. Eine CD, auf der sein digitales Alter Ego in 57 Kategorien sortiert wurde. Gedruckter Umfang: 1200 Seiten. Welche Datenmengen Facebook über seine 800 Millionen User besitzt, kann sich keiner vorstellen. Nur wenige Nutzer interessieren sich dafür. Aber Schrems ist kein gewöhnlicher Facebooker. Er ist ein 24-jähriger Jurastudent. Er hat an der Uni eine Arbeit über den Umgang amerikanischer Firmen mit europäischem Datenschutz geschrieben. Er ist also ein Experte: Er kennt europäische Datenschutzrichtlinien und zuständige Behörden, er hat die nötige Vorbildung, um herauszufinden, was mit seinen Daten passiert. Und er hat das Interesse, weil ihm Datenschutz etwas bedeutet. Wenn aber die Einsicht der eigenen Daten zur Expertensache wird, entsteht ein Problem.

VON FRANZISKA BULBAN

Das ist weder das Problem von Facebook noch das anderer Datensammler, wie zum Beispiel Google. Daten sind ihre Geschäftsgrundlage. Und solange sie nicht streng kontrolliert werden, gibt es für sie nur wenige Anreize, dem Nutzer seine eigenen Daten leicht zugänglich zu machen. Zudem weist Facebook darauf hin, dass ja alles einsehbar ist. Der Nutzer muss sich nur dafür interessieren. Doch das ist selten der Fall. Den Nutzern ist es wichtiger, auf Facebook zu sein, als ihre Daten zu schützen: Sie interessieren sich dafür, welchen Film die Freundin mochte oder wo sie am Wochenende war. Was damit preisgegeben wird, beunruhigt sie nicht. Damit sind die Appelle an Internetnutzer, doch vorsichtig mit ihren Angaben zu sein, etwa so nützlich wie der Vorschlag des Papstes an Jugendliche, keusch zu leben: In beiden Fällen hat Enthaltsamkeit wenig mit der Lebenswirklichkeit zu tun. So kann sich Facebook immer wieder auf die Eigenverantwortung der Nutzer berufen: Sie stellen ja selbst Unmengen an Daten zur Verfügung. Sie müssten das nicht tun. Die persönliche Verantwortung überfordert Nutzer. Sie können sich nicht vorstellen, was für ein genaues Bild man mit ihren Daten zeichnen kann. Erst recht, wenn es um Daten geht, von denen die Nutzer nicht ahnen, dass sie erhoben werden. So sagt Schrems, Facebook speichere Aufenthaltsorte seiner Nutzer: Als seinen letzten Standort habe Facebook zum Beispiel eine amerikanische Uni vermerkt, obwohl er Facebook diesen Ort nie mitgeteilt habe. Ver-

mutlich habe Facebook ihn geortet, als er sich über einen amerikanischen Computer eingeloggt habe. Wo der Einzelne nicht weiterweiß, müsste die Politik Schutz bieten. Doch von der ist zurzeit noch wenig Hilfe zu erwarten: Jedes EU-Land hat seine eigenen Regeln. Gerade hat die EU-Justiz-Kommissarin Viviane Reding eine Reform der EU-Datenschutzrichtlinien angekündigt. Einheitlich, transparent und effizient soll das neue Recht sein. Der Zeitplan: In etwa 30 Wochen soll ein Vorschlag unterbreitet werden. Dann muss das Europäische Parlament beraten. Es könnte ein Jahr dauern. Oder auch länger. So lange wollte Maximilian Schrems nicht warten. Er hat Facebook jetzt bei der irischen Datenschutzbehörde angezeigt, in 22 Punkten, nachzulesen auf der Internetseite www. europe-v-facebook.org. Die zuständige Behörde wird Facebook untersuchen und dabei Schrems Beschwerden berücksichtigen, hat sie ihm mitgeteilt. Ob sie ihm dann am Ende recht gibt, ist fast egal. Dank seiner Aktion wissen jetzt viele Nutzer, wie sie ihre Daten bei Facebook einsehen können. Angeblich haben das so viele genutzt, dass Facebook innerhalb der gesetzlichen Fristen gar nicht mehr nachkommt, die Daten herauszusuchen. Das berichten zumindest Nutzer auf Schrems Internetseite. Vielleicht ist Datenschutz im Moment noch kompliziert. Eine Sache für Experten. Aber mit Usern, die zu Experten in eigener Sache werden, lässt sich vielleicht die Zeit bis zu besseren Gesetzen überbrücken.

BERLINER BÜHNE

Bremsen für Wolfsburg Wie die Bahn ihre Menschlichkeit für Fahrgäste entdecken könnte Schon zum dritten Mal ist am Bahnhof Wolfsburg ein ICE vorbeigefahren, hat die Wartenden am Bahnsteig einfach stehen lassen. Was hat die Bahn nur gegen Wolfsburg? Hat es vielleicht damit zu tun, dass Bahnchef Rüdiger Grube früher im Vorstand von Daimler gearbeitet hat und aus altem Konkurrenzdenken den Wolfsburgern ab und an noch einen mitgeben will? Oder ist gar die Politik schuld? Schließlich ist Niedersachsen eines der letzten schwarz-gelb regierten Bundesländer – und wir wissen ja, in dieser Koalition klappt nichts. Helfen will nun der VfL Wolfsburg, er verspricht jedem Lokführer, der neunmal planmäßig in Wolfsburg hält, ein Freiticket für die Volkswagen-Arena. Das ist nett gemeint, doch Tickets für einen mittelmäßigen Fußballverein sind ähnlich prickelnd wie Karten für eine CDU-Regionalkonferenz. Wir empfehlen der Bahn daher Poesie, das weckt Empathie – auch für den Fahrgast. Konkret sollten sich Grube und seine Leute Hoffmann von Fallersleben zu Gemüte führen, der bei Wolfsburg geboren wurde: »Wie könnt ich dein vergessen, dein denk ich alle Zeit: ich bin mit dir verbunden mit dir in Freud und Leid.« Bei von Fallersleben findet sich übrigens auch Rat für Stuttgart 21: »Freunde, zürnt uns nicht, daß auch wir mitunter so schlecht sind. Bessert ihr unsern Verkehr, bessern wir selber uns auch.« DAGMAR ROSENFELD

IN DER ZEIT POLITIK 2

Afghanistan Warum der Krieg

gerechtfertigt war 3 4

Leben mit dem Krieg – vier Afghanen und ihr Alltag. Europa Wie ein Aktienhändler und

ein Politiker die Krise erleben 5

CSU Peter Gauweilers Comeback Berlin Rot-grüner Koalitionspoker

6

Migration Integrationsministerin

Bilkay Öney im Gespräch 8 9

Polen Hinterbliebene der Opfer von Smolensk drängen in die Politik Anti-Terror-Krieg Ist es richtig,

Terroristen mit Drohnen zu töten? 10 Politische Lyrik »Prokrustes« 11 Proteste Auf der Wall Street und junge Spanier in Brüssel 12 Syrien Meine toten Freunde

SACHSEN 15 Bauwerke Nach allem Ärger um Waldschlößchenbrücke und CityTunnel: Benennen wir sie um!

23 China Gigant oder Crashkandidat?

Ostkurve

24 Währung Sollen Marktkräfte über den Renminbi entscheiden?

VON CHRISTOPH DIECKMANN

Sachsen-Lexikon

Stabilitätskommissar 16 Gespräch Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung über die Dramen seiner Kulturpolitik Heidi Zum Tod des schielenden

Opossums

13 Liberia Afrikas einzige Präsidentin 14 Meinung

25 Wohlstand Mein Aufstieg als chinesischer Kleinunternehmer 27

28 Euro-Rettung Das Endspiel 29 Italien Spaltung in der Regierung 30 Griechenland Noch zu retten?

17 Justiz Am Bundesgerichtshof tobt ein interner Machtkampf

31 Michalis Chrysochoidis Griechenlands Wirtschaftsminister

20 WOCHENSCHAU Korruption In Griechenland

32 GRÜNE SEITEN Öko-Bauten Öko-Fragebogen Niko Paech

Justiz Der Mordprozess in Perugia

33 Mia Auto vom Pharmahändler

GESCHICHTE

34 Ringier Gespräch mit dem Verleger Marc Walder

21 So ist der Krieg In Dresden wird das neue Militärmuseum eröffnet

35 Kirchen Zwischen Nächstenliebe und Geschäft

84 Ibiza Wenn Nachbarn reisen

53 Stierkampf Europa wird ärmer

85 Zuwachs Neue Inseln vor Fünen

Ökonom Lehren aus Fukushima

55

86 Magnet S. Weiss: »Photographie«

Reiche Sollten nicht mehr zahlen

56 Facebook-Debatte Eine Anwort

40 Was bewegt ... Ilse Aigner?

WISSEN 41 Umwelt Waldstrategie des Bundes Nobelpreis Das Universum dehnt

sich aus – rätselhaft schnell

Zeitungsfusion Warum will

Springer die WAZ-Gruppe kaufen?

51 Anti-Wallstreet-Demos

Kunstmarkt Neue Rekordpreise

39 Solar Eine Idee für Griechenland?

26 IG Metall Auf Erfolgskurs

VON M. MACHOWECZ

DOSSIER

38

WIRTSCHAFT

VON ANNE HÄHNIG

Bücher machen Politik Ron

Suskind: «Confidence Men«

22 Harzburger Front Angrff auf die Republik vor 80 Jahren

42 43

Wie das Immunsystem dazulernt Ernährung BSE – 25 Jahre

danach 44 Infografik Nützliches Unkraut 45 Atommüll Sichere Standorte? 46 Geschichte Wie kam das Wasser?

Kunst Wolfgang Beltracchi

57 Pop Das London von Pink Floyd 58 Architektur Ein neuer Stadtteil für Shanghai scheiterte 60

Kino Chandors »Margin Call« Fernsehen Beate Uhses Leben

61 ZEIT-Museumsführer Charlotte Zander in Bönnigheim 65 Kunst Der Zwist zwischen Los Angeles und New York

46 Elektronik Energie-Label 49 KINDERZEIT Gemeinsam stark? Die EU

66 GLAUBEN&ZWEIFELN Religion Martin Walser über Gott

50 Kinderkrimis

51 Kapitalismus Jean-Luc Godard

87

REISEN 81

Oslo Edvard Munchs Orte

83 Kritzendorf Bad an der Donau

Odenwaldschule Salman Ansari, der Lehrer, der redete

88 Hamburg Theater als Pflichtfach 89 Politik Die Ministerin in NRW 91 Job Beim Baumhausbauer Small Talk Was dabei zählt

104 ZEIT DER LESER

64 Ausstellung »Wunder«, Hamburg

67 Musik-Sonderseiten Neues aus Pop, Jazz und Klassik

FEUILLETON

CHANCEN

Theater Elfriede Jelinek in Köln

RUBRIKEN 2 47

Worte der Woche Stimmt’s/Erforscht & erfunden

56 Impressum 65

Wörterbericht/Finis

103 LESERBRIEFE Die so gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im »Premiumbereich« von ZEIT ONLINE unter www.zeit.de/audio

ZEIT FÜR SACHSEN

6. Oktober 2011 DIE ZEIT No 41

Gruß aus ...

15

OSTKURVE

D EM C IT Y-T U N N EL D EM A RT H U R-SC H N IT ZLE R-T U N N EL D ER LE T RO AU ER B AC H S U N T ER K EL LE RU N G D ER RÖ H R E D ER B AC H RÖ H R E

Honeckers Pfarrhaus In den vorigen Zeiten, als Leipzig noch großen Fußball erlebte, war ich Linksaußen des dortigen Theologischen Seminars. Unser Torwart hieß Johannes Holmer, der Stopper Markus Holmer, der Mittelstürmer Reinhard Holmer. Ihre sieben Geschwister kannte ich nicht. Der Vater Uwe Holmer leitete die Bibelschule Falkenberg und seit 1983 die diakonischen Lobetaler Anstalten für behinderte und hilfsbedürftige Menschen. Ganz Deutschland lernte das Ehepaar Holmer kennen, als es Anfang 1990 einem anderen Ehepaar Asyl gewährte: Margot und Erich Honecker, an Leib und Leben bedroht, fanden für zehn Wochen im Pfarrhaus Unterkunft. Der Aufenthalt war kürzer geplant, aber Honeckers Umzug nach Lindow scheiterte, weil der Pöbel seine Hassfiguren totschlagen wollte, vermutlich mit dem Ruf: »Wir sind das Volk!« Auch häuften sich Kirchenaustritte. Jetzt, zum Erntedankfest, war ich erstmals in Lobetal. Posaunen bliesen Wem Gott will rechte Gunst erweisen und Die Gedanken sind frei. Ein froher Dorfumzug folgte geschmückten Traktoren. Ich fotografierte die junge Frau, die das Kälbchen führte. Den Mann mit der Puppe fotografier-

Gruß von ...

DER WALDSCHLÖSSCHENBRÜCKE DER SIEBENSÜNDENBRÜCKE DER GEORGBRÜCKE DER BÜRGERBRÜCKE DER WELTERBEBRÜCKE

Christoph Dieckmann, 1956 in Rathenow geboren, ZEIT-Autor, schreibt hier im Wechsel mit der Journalistin Jana Hensel

Wir haben schon mal die Postkarten entworfen: Für Besucher der Dresdner Brücke (links) und des Leipziger Tunnels (rechts)

Wie heißt es so schön? Waldschlößchenbrücke und City-Tunnel: Zwei Bauten, deren Namen niemand mehr hören mag. Benennen wir sie um!

G

Fotos [M]: action press (l., 28.06.2011); Jan Woitas/lsn/dpa (m., 12.04.2011); Nicole Sturz (r.)

roße Bauprojekte in den Sand zu setzen: Das sei ja fast ein Trend in dieser Zeit, sagt Claus Faber. Stuttgart mit seinem Bahnhof ist, natürlich, das Paradebeispiel dafür. Aber Dresden und Leipzig reihen sich nahtlos ein. Die Waldschlößchenbrücke und der City-Tunnel provozieren seit Jahren Zwist, Streit und Probleme. Claus Faber ist Marketingexperte, ihm gehört die Dresdner Agentur Faber und Marke. Der Werber kennt das Problem: Irgendwann wird, nach Jahren der Debatten, dann doch gebaut. Aber keiner kann noch die Namen der Projekte ertragen. Waldschlößchenbrücke. City-Tunnel. Man will es einfach nicht mehr hören. Auch die Stadt Dresden hat das erkannt. Sie rief gerade ihre Bürger dazu auf, Namensvorschläge für die ohnehin längst berühmteste Brücke der Stadt einzureichen. »In der PR-Rhetorik sprechen wir von Umwertung durch Umwortung«, sagt Claus Faber. Man nehme einen neuen, unbelasteten Begriff und lade ihn mit neuen, positiven Bildern auf. Ist das Etikettenschwindel? Hilft man damit nicht Brückenfreunden und Tunnelfans, ihr Bauwerk endgültig reinzuwaschen von berechtigten Zweifeln? Ja, schon. Aber wir müssen ja doch mit beidem leben; mit Brücke wie Tunnel. Ist es nicht auch unser gutes Recht, nicht mehr täglich an Brückenstreit und Tunnelzwist denken zu müssen, wenn wir sie – mit Auto und Bahn – passieren? Die ZEIT hat deshalb sächsische Kreative aus Hochschulen und Agenturen um Vorschläge für neue Namen gebeten. Zunächst, sagen die Werber, müsse man sich der Vorzüge solcher Bauprojekte bewusst werden: Die Waldschlößchenbrücke soll den Verkehr durch Dresden entkrampfen. Der CityTunnel soll Leipzigs neue S-Bahn-Achse werden. Keine schlechten Absichten, eigentlich. Das Problem liegt in der Geschichte. Tunnel wie Brücke sind Ideen fast aus dem vorvergangenen Jahrhundert. In Dresden ist bereits im Jahr 1900 eine Brücke am Waldschlösschen beantragt worden. Auch in Leipzig haben schon vor dem Ersten Weltkrieg die Bauarbeiten begonnen zu einem Tunnel quer durch die Stadt. Als die Sachsen schließlich zwei Weltkriege und den Sozialismus überstanden hatten, kamen die Ideen zu beiden Projekten wieder auf. Leipzig wollte endlich eine U-Bahn, Dresden eine neue Brücke.

Leipzig strebt nach Geltung – sollte der Tunnel »LEtro« heißen? Ein Teil der Dresdner erzwang sich per Volksabstimmung den Brückenbau. Deshalb verlor das Elbtal den Unesco-Welterbe-Titel. Kurzfristig hätte eine vom Aussterben bedrohte Fledermausart noch das ganze Projekt verhindert. Mittlerweile steht die Brücke aber fast – inklusive der Zufahrten und weiterer Straßensanierungen wird sie am Ende rund 157 Millionen Euro gekostet haben. Immerhin nur ein Sechstel von dem, was Stadt, Land, Bund, Bahn und EU für den Leipziger City-Tunnel ausgeben. Die Kosten haben sich im Lauf der Jahre verdoppelt, auf 960 Millionen Euro. Mindestens. Die Tageszeitung schrieb vom »Stuttgart 21 des Ostens«. Der Landesrechnungshof kritisierte gravierende Planungsfehler, die zur Kostenexplosion geführt hätten. Und die Leipziger schimpfen, weil ihr neuer, sündhaft teurer Tunnel nicht einmal für den Fernverkehr freigegeben sein wird: sondern nur für S-Bahnen. Insofern ist Leipzigs Megaprojekt eigentlich noch schlimmer als Stuttgart 21 – kostet eine Milliarde,

aber der Kopfbahnhof bleibt Kopfbahnhof. Die Menschen in der Stadt spotten über die »kürzeste U-Bahn der Welt«. Die Mitarbeiter der Leipziger Agentur 4iMedia setzten sich in ihren Konferenzraum und begannen, aufzuzählen: Worauf sind sie stolz in ihrer Stadt? Auf Auerbachs Keller, natürlich, schließlich ließ Goethe hier eine Faust-Szene spielen. Zwar sind es eher Touristen als Einwohner, die in Auerbachs Keller speisen. Doch auch der City-Tunnel soll Touristen locken. Wie wäre es, fragt Katina Scholz, Mitarbeiterin der Agentur, also mit dem neuen Namen Auerbachs Unterkellerung? Ein bisschen lang und sperrig, der Name. Wie der Tunnel. Jedoch: Kann man ein 960-MillionenBauwerk wirklich »Unterkellerung« nennen? Nein, sagt Scholz. Zu bescheiden, zu verschämt. Vielleicht nicht großstädtisch genug. »Wir haben nach Synonymen gesucht«, sagt sie. Also: Tunnel, UBahn, Metro. Metro! Das passt, das klingt nach Metropole. Leipzig, Metropole Sachsens. »Nennen wir die U-Bahn doch LEtro!«, sagt Scholz. »Das ist unser Favorit«. Es steckt darin der größenwahnsinnige L.A.-Vergleich, den Leipziger sehr mögen, wenn sie »L.E.« sagen zu ihrer Stadt.

Eine »Georgbrücke« würde auch dem Ex-Premier Milbradt schmeicheln Für Benedict Rehbein von der Agentur Pioneer PR ist der City-Tunnel vor allem eines: sinnlos. »Ich habe mich gefragt, wie die Leipziger den Tunnel wahrnehmen, welche Emotionen sie mit ihm verbinden«, sagt er. Den Leuten sei klar, dass der Tunnel: eigentlich nicht gebraucht werde. Kaum einer warte darauf, endlich durchfahren zu können. »Sinnlos« war also sein Stichwort. Er dachte an Arthur Schnitzler: »Wie sinnlos die Welt dir erscheinen mag«, schrieb der: »Vergiss nie, dass du durch dein Handeln wie durch dein Unterlassen dein redlich Teil zu dieser Sinnlosigkeit beiträgst.« Das passt, dachte Rehbein. Jeder beklage sich über den Tunnel, aber niemand unternehme etwas dagegen. Arthur-Schnitzler-Tunnel ist sein Vorschlag. Das klingt seriös genug und ist nur für die Eingeweihten hintersinnig. Witzige Namen fielen einem für den CityTunnel natürlich schnell ein, findet Mirko Boleslawsky von der WSB-Werbeagentur. »Aber ich will das Projekt nicht auf die Schippe nehmen«, sagt er. Der Name City-Tunnel passe doch wunderbar zur Stadt. »Das Projekt ist typisch für Leipzig und steht in einer Reihe mit aberwitzigen Ideen wie der Olympiabewerbung oder der Bundesligavision von RasenBallsport Leipzig«, sagt Boleslawsky. Leipzig sei eben so: immer ein bisschen großmannssüchtig. Die Stadt hätte dennoch einen weniger administrativen Namen für ihren Tunnel verdient, findet Silvio Brendler vom Leipziger Zentrum für Namensforschung. Etwas lakonischer könne er sein. Sein Vorschlag: Die Röhre. In London schließlich werde die U-Bahn auch Tube genannt. Ein bildhafter Name sei sowieso immer das beste, angelehnt an unbelastete Orte aus der Umgebung. So einer wie Waldschlößchenbrücke? Leider steht nichts wie dieser Begriff für Borniertheit und Grabenkämpfe, ja: für ein verlorenes Welterbe, für ewige Bauverzögerungen, für Streit. »Man müsste schon viel Geld in die Hand nehmen, um diesen Namen wieder positiv aufzuladen«, sagt Tobias Schultz, Leiter der Dresdner Agentur Die Echolotsen. Das negative Image hafte wie Pech an diesem Namen. Vielmehr müsse das Schöne herausgestellt werden. Schließlich sei diese Brücke ein Traum für experimentierfreudige Stadtplaner. Nun werde sie

endlich gebaut, in dieser schönen Elblandschaft, dem Eldorado. Sein Vorschlag: Elborado-Brücke. Benedict Rehbein von Pioneer PR dachte eher daran, welche Sünde es sei, diese Brücke zu bauen. Auf sieben Sünden kam er: Wegen der Brücke ist der Weltkulturerbetitel weg. Die Fledermäuse werden gestört, die Natur wird geschändet, Steuermittel werden verschwendet, der Tourismus geschwächt. Die Wünsche der Bürger werden ignoriert, und deshalb versinkt die Stadt im Streit. Deshalb Siebensündenbrücke. Unrealistisch sei dieser Vorschlag natürlich, sagt Benedict Rehbein. Deshalb hat er noch einen anderen parat: Georgbrücke. Mit Albertbrücke, Carolabrücke, Friedrich-AugustBrücke und Marienbrücke seien schließlich schon vier Flussquerungen in Dresden nach einem sächsischen König, dessen Frau oder einem Kurfürsten benannt. Bleiben gar nicht mehr viele Könige übrig. Georg vielleicht. Na also, welcher Name böte sich

VON ANNE HÄHNIG

besser an als Georgbrücke? Schließlich würde das auch Georg Milbradt schmeicheln. Er war es, der, im Amt des Ministerpräsidenten, den Verlust der Welterbetitels »verkraftbar« nannte. Ein Männername, schon wieder? Das ist gegen den Zeitgeist. In einer Broschüre weist die Stadt Dresden darauf hin, dass nur rund drei Prozent der Straßen und Plätze hier Frauen gewidmet sind. Deshalb schlagen die Autorinnen diverse mögliche Namenspatinnen vor – für neue Straßen. Die Waldschlößchenbrücke böte die Chance, ein berühmtes Bauwerk nach einer Frau zu benennen. Nach Marie Frommer vielleicht? Sie durfte, zur Zeit des Kaiserreichs, als eine der wenigen Frauen in Deutschland Architektur studieren. Ihre Dissertation schrieb sie 1919 an der Technischen Hochschule in Dresden. Das Thema: Flusslauf und Stadtentwicklung. Fromm beschreibt darin, wie sich Städte durch Brücken verändern.

te ich nicht. Es gab Kaffee, Kuchen, Kind- und Kegelspiele. Man wies mir das Pfarrhaus. Honeckers hätten sich nie aus dem von Reportern umlagerten Grundstück gewagt, nur in den Garten und hinunter zum Mechesee. Margot kochte selbst und wischte die Treppe, Erich erstaunte Uwe Holmer mit dem Satz: »Und dann kommt ja wohl auch bald die Zeit, wo ich diese Erde verlassen muß.« Nachzulesen ist das in Uwe Holmers Lebensbericht Der Mann, bei dem Honecker wohnte. Nicht nur dieses christliche Ruhmesblatt enthält das Buch, sondern viele Seiten einer kaum bekannten DDR.

SACHSEN-LEXIKON

Stabilitätskommissar, der. Mitglied der Europäischen Kommission, das sich ausschließlich um die Stärke der gemeinsamen Währung kümmern würde. Die Einrichtung eines S. ist die neueste Idee von Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU). Ein S. müsse »Sanktionen gegen Eurosünder verhängen können«, sagte er in einer Bundesratsrede. Wer Tillich kennt, weiß: Für solch ein Amt käme eigentlich nur er selbst infrage! Denn sein Sachsen macht es vor: knauserig, sanktionslustig und stabil bis zum Erbrechen seit 1990. MAC S

Nach oben geschielt Traurig: Glubsch-Opossum Heidi ist tot. Was bleibt? Am Tag der Deutschen Einheit steht ein Vater vorm leeren Bau der Beutelratte Heidi und gesteht seiner Tochter die ganze Geschichte: »Die hatte jeschielt. Dit war’n Jeburtsfehla jewesen. Nu isse tot.« Muss man mehr sagen? Aber ja. Leipzigs größter Star ist vergangen! Ein Idol muss zum Präparator, eine Heldin wird gestopft! »Das Opossum schielt nicht mehr«, schreiben alle Zeitungen, vom Boulevard- bis zum Leitmedium. Es starb am 28. September, um 7.30 Uhr (»Pensionierter Tierarzt erlöste todkranke Heidi«). Diese Heidi – geboren angeblich 2008 in North Carolina, aufgewachsen in Dänemark, 2011 in Sachsen zur Ikone geworden – war eines der ganz großen Tierphänomene: noch hässlicher als Krake Paul. Noch süßer als Eisbär Knut. Ein fetter PR-Coup, auch körperlich. Eine Ratte, die die Menschen liebten, weil sie grauselig aussah. Was tröstlich ist: War Heidi doch der Beweis, dass kein gebeuteltes Tier perfekt sein muss, um geliebt zu werden. Oder bemitleidet. Heidi bekam ihre eigene Show im MDR (Schielend ins Glück – Die Heidinovela). Sie durfte im amerikanischen Fernsehen die Oscars orakeln. Die FAZ machte sie zum Titelvieh. Es gibt Heidi als Kühlschrankmagnet und als Schneidebrett. Wer jetzt bei Google »Heidi« eingibt, bekommt nicht mehr nur Heidi Klum. Das ist doch gut. Heidi hat ihrem Sterbezimmer zu Berühmtheit verholfen. Sie entschlief in einem 65-Millionen-Grab namens Gondwanaland. Das ist die neue Riesentropenhalle im Leipziger Zoo. Eröffnet im Juli 2011, eine prächtige Tier- und Pflanzenwelt. Man denkt jetzt nicht mehr ans Gewandhaus, wenn von Leipzig die Rede ist. Sondern an tobendes Getier in stickiger Luft, an schielende Viecher und krächzende Bestien. Leipzig, dieser Affenzirkus! Kein einziger Leipziger Mensch scheint auch nur im Ansatz heranzureichen an Heidis Berühmtheit – dies spricht dafür, dass es bergab geht mit der Hochkultur, aber bergauf mit der Zookultur – hier, wo der Tierpark seinen eigenen Bürgermeister hat, die Oper aber darbt (siehe Interview rechts). Heidi, die Auswärtige, kam als Nobody nach Leipzig, sie wurde hier berühmt und starb hier auch, als Promi. War es bei Bach und Mendelssohn Bartholdy nicht genauso? Wir lernen daraus, dass heute Tiergeräusche die Melodie der Stadt sind. Jetzt stehen Familien trauernd vor Heidis Gehege. Bild druckt Sonderseiten, Heidi als Poster in XXL. Die Daily Mail schreibt: »Auf wiedersehen, pet: Heidi the cross-eyed opossum closes her eyes for good.« Der Zoo veranstaltet Pressekonferenzen, Besucher bringen Blumen.

Sie machte den Leipziger Zoo weltberühmt: Heidi, die schielende Beutelratte

Wann zweifeln die Ersten an der Krankheitsgeschichte: War’s nicht doch Mord? Wo bleibt ein Statement von Stanislaw Tillich? Im Zoo liegt ein Kondolenzbuch aus, unterm Foto des Opossums schreibt ein Mädchen namens Ronja: »Liebe Heidi endlich hast du frieden und kwälst dich nich mehr.« Wie wahr. MARTIN MACHOWECZ S

ZEIT FÜR SACHSEN

DIE ZEIT No 41

»Bürgerschrecktheater« Leipzigs p g Oberbürgermeister g Burkhard Jung J g (SPD) ( ) über die Dramen seiner Kulturpolitik p und Intendanten-Gezänk auf offener Bühne

Fotos [M]: Jens Schlueter/dapd/ddp (3); imago (u.)

16 6. Oktober 2011

Kunst und Kultur bedeuteten ihm einiges, sagt der 53-jährige Burkhard Jung (SPD). Die Frage ist, wie viel davon Leipzig sich leisten kann DIE ZEIT: Herr Jung, erinnern Sie sich noch an die

Eröffnung der diesjährigen Buchmesse? Burkhard Jung: Sehr gut sogar. Fünf Tage zuvor geschah der Reaktorunfall in Fukushima. In der Nacht vor der Eröffnung habe ich mich entschieden, keine normale Rede zu halten; stattdessen habe ich im Gewandhaus aus Christa Wolfs Störfall gelesen. ZEIT: Das beeindruckte viele Gäste. Sie präsentierten sich als kunstverständiger Oberbürgermeister. Jung: Ich habe mich nicht präsentiert, sondern Kunst und Kultur bedeuten mir sehr viel. Ich war früher Deutschlehrer, Literatur ist bis heute Teil meines Lebens. Ich mag die modernen Klassiker wie Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt; ich bin ein großer Fan von Martin Walser, das bekenne ich unumwunden. Und Musik liebe ich über alles. ZEIT: Dennoch geht es in der Leipziger Kulturpolitik zurzeit turbulent zu. Im vergangenen Jahr haben Sie dem Dezernenten Michael Faber die Verantwortung für Oper, Gewandhaus und Theater entzogen. Nun hat der Intendant des Centraltheaters angekündigt, seinen Vertrag 2013 auslaufen zu lassen. Jung: Ich finde es nicht problematisch, wenn Sebastian Hartmann sich nach drei Jahren entscheidet, seinen Fünfjahresvertrag zu Ende zu führen, ihn aber nicht zu verlängern. Das Gewandhaus ist ein sehr gut funktionierendes Haus. Und mit der Ernennung von Ulf Schirmer zum neuen Opern-Intendanten habe ich schnell eine sehr gute Lösung gefunden. ZEIT: Verbringen Sie viel Zeit mit Kulturpolitik? Jung: Nicht viel mehr als früher. Als Michael Faber noch für die Häuser zuständig war, musste ich im Nachgang immer wieder eingreifen. Es macht einen Unterschied, ob ich die Intendanten einmal im Monat an meinen Tisch hole und wir alles besprechen – oder ob ich als Vermittler und Schlichter agieren muss. Um es deutlich zu sagen: Als Oberbürgermeister trage ich sowieso am Ende die Verantwortung für die großen Entscheidungen. ZEIT: Michael Faber hat, nachdem seine Abwahl im Stadtrat gescheitert war, die Hoffnung geäußert, Sie würden ihm die Verantwortung zurückgeben. Jung: Ich habe schnell deutlich gemacht, dass ich dazu keinen Anlass sehe und bis zur nächsten Wahl im Jahr 2013 die Verantwortung behalte. ZEIT: Warum gibt es dann den Kulturdezernenten? Jung: Neben den Kulturbetrieben gibt es noch mannigfaltige Aufgabenfelder in der Kulturverwaltung

für Herrn Faber. Der Stadtrat hat versucht, ihn abzuwählen. Weil das nicht gelang, ist die Situation so, wie sie ist. Aber ich stelle auch fest, dass Herr Faber und ich sehr professionell miteinander umgehen. ZEIT: Warum will Theater-Chef Hartmann nun fort? Er hatte doch so hochfliegende Pläne. Jung: Wir wussten von Anfang an, dass er sich schwertut, länger als fünf Jahre an einem Ort zu arbeiten. Wir sind mit seiner Ernennung auch ein Wagnis eingegangen. Auch deshalb gab es im Stadtrat und bei Herrn Hartmann den Wunsch, dass wir in den Vertrag einen Passus aufnehmen, nach drei Jahren einander in die Augen zu schauen und zu entscheiden, ob wir verlängern oder nicht. ZEIT: Ist Sebastian Hartmann einer Nichtverlängerung nur zuvorgekommen? Jung: Noch einmal: Eine Entscheidung nach dem dritten Jahr war vereinbart. Das ist wichtig, denn für alle Nachfolgeregelungen braucht man mindestens zwei Spielzeiten Vorlauf. Ich persönlich hätte mir unter bestimmten Voraussetzungen eine Verlängerung um zwei, drei Jahre vorstellen können. Ich habe ihm angeboten, mich dafür starkzumachen. ZEIT: Wie kann ein Intendant, der nicht weiß, ob er bleibt, einen so radikalen Neuanfang wagen? Er hat das Schauspielhaus in Centraltheater umbenannt, das Ensemble ausgetauscht und Plakate hängen lassen, auf denen »Ende. Neu« stand. Nur als Test? Jung: Nein, das war konsequent. Und bei einem nächsten Intendanten wird es ähnlich sein. Das Theater ist heute einem unglaublichen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Was bedeutet es im 21. Jahrhundert? Es gibt durchaus eine Krise des zeitgenössischen Theaters. Das ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch der künstlerischen Ausrichtung und Aufgabe. Insofern ist es konsequent, die Rolle des Stadttheaters neu zu definieren. ZEIT: Hartmann hat eher Anti-Rollen definiert. Ist er an der Stadt oder an sich selbst gescheitert? Jung: Ich glaube, er hat unterschätzt, dass die konsequente Ausrichtung auf – vereinfachend ausgedrückt – »Bürgerschrecktheater« so stark polarisiert, dass er bestimmte Zuschauergruppen fast zwangsläufig verliert. Außerdem ist er ein RegieIntendant; ein begnadeter Regisseur, wie ich glaube. Aber seine Rolle als Intendant sucht er noch. ZEIT: Es besteht die Gefahr, dass das Haus in den nächsten beiden Jahren weiter erodieren wird.

Jung: Das glaube ich nicht. Herr Hartmann will

mit Elan die verbleibenden Spielzeiten angehen. Das ist sein Anspruch an sich selbst. Und was wäre denn die Alternative? Seinen Vertrag vorzeitig zu lösen hieße, jemanden zu bezahlen, der nicht mehr inszeniert. ZEIT: Wer muss jetzt kommen? Jung: Ich wünsche mir, dass der Weg der Öffnung weitergegangen wird. Gleichzeitig sollte der neue Intendant oder die neue Intendantin auch Zugeständnisse an die verschiedenen Bedürfnisse der Leipziger machen, vielleicht auch mal in das Vorlesungsverzeichnis der Universität schauen oder an den Deutsch-Lehrplan der Gymnasien anknüpfen. ZEIT: Umstritten war auch die Ernennung von Ulf Schirmer als neuen Intendanten der Oper. Jung: Finden Sie? ZEIT: Chefregisseur Peter Konwitschny hat sich beklagt, Sie hätten sich mit ihm nicht abgestimmt. Jung: Peter Konwitschny hat keine Intendantenund Betriebsleiterfunktion. Personalfragen gehören nicht zu seinen Aufgaben. Wir konnten nicht länger warten. Die Situation an der Oper ist schwierig, die Akzeptanz bei den Leipzigern hat rapide nachgelassen. Ein Profil war von außen kaum erkennbar. Es war dringend geboten, in ei-

Kunst und Querelen Gemessen an der Einwohnerzahl, gibt, abgesehen von Frankfurt/Main, keine deutsche Kommune so viel Geld für Kultur aus wie Leipzig – 112,5 Millionen Euro allein 2011. Doch die Kulturpolitik kommt nicht aus den Schlagzeilen: 2010 entzog Burkhard Jung (SPD) dem Kulturdezernenten Michael Faber (parteilos) im Streit große Teile von dessen Aufgaben, darunter die Verwaltung der Eigenbetriebe Gewandhaus, Theater und Oper. Seit Fabers Abwahl im Stadtrat scheiterte, regiert der Dezernent, wie Spötter meinen, eigentlich nur noch den Zoo. Jüngst hat Theaterintendant Sebastian Hartmann angekündigt, 2013 höre er auf. Die Leipziger haben sein Haus ebenso wie die Oper oft verschmäht, die Auslastung liegt bei rund 60 Prozent. JH

ner hochsubventionierten Kulturlandschaft für mehr Akzeptanz beim Publikum zu kämpfen. ZEIT: Aber Intendant und Chefregisseur müssen sich doch künstlerisch einig sein. Jung: Wir planen über den Vertrag mit Peter Konwitschny hinaus wieder eine Oper zu entwickeln, die bei den Leipzigern eine hohe Akzeptanz genießt. Das ist zurzeit nicht der Fall. ZEIT: Wofür steht der Opern-Intendant Schirmer? Jung: Er bringt den großen Vorteil mit, dass er als Generalmusikdirektor die Oper von der Musik her denkt. Das bringt Oper und Gewandhaus wieder viel enger zusammen. Er geht sehr offensiv auf sein Publikum zu, ich schätze ihn als kompromissfähig ein, und er hat auch Spaß daran, auf hohem Niveau Stücke auf die Bühne zu bringen, die vielleicht der ein oder andere als leichtere Kost bezeichnet. ZEIT: Schirmer verspricht Inszenierungen, die man 10, 12 oder 15 Jahre im Spielplan halten kann. Jung: Und ich glaube, dass Schirmers Ansatz richtig ist. Auch die Oper muss sich Gedanken über ihren Platz im 21. Jahrhundert machen. ZEIT: Verabschiedet sich Leipzig damit von den großen Ambitionen der Vergangenheit? Jung: Nein, das Theater muss weiter ein Stachel im Fleisch der Gesellschaft sein – ohne das Publikum zu verprellen. Und in der Oper ist jetzt erst mal eine Vererdung und neue Verwurzelung in der Stadtgesellschaft angesagt. ZEIT: Ist dies das Ende Ihres Anspruchs, mit allen drei großen Häusern überregional mitzuspielen? Sagen Sie Ja zur Provinz? Jung: Nein. Wenn das Gewandhausorchester in der Oper spielt, muss auch auf der Bühne höchstes Niveau geboten werden. Aber es muss gelingen, die Menschen zurück in die Häuser zu holen. Leipzig ist vielfältig, das Spektrum reicht von größenwahnsinnig bis provinziell. Mit angeblichen Widersprüchen zwischen Kunst und Akzeptanz gebe ich mich nicht zufrieden. Den Spagat müssen wir schaffen. ZEIT: Vielleicht leistet sich Leipzig zu viel Kultur. Jung: Ich weiß, dass es Leute gibt, die das so sehen. Ich werde mich aber dafür einsetzen, so viel wie möglich zu bewahren und weiterzuentwickeln. Es ist die Kultur, die unsere Stadt im Innersten so kostbar macht. Wir dürfen sehr stolz darauf sein. Das Gespräch führte JANA HENSEL

Bettina Wulff im Interview, Seite 32

Ich wollte so gern zum Ballett Nr. 41 6. 10. 2011

Deshalb hatten wir manchmal nichts zu essen Unsere Autorin erzählt die Geschichte ihrer Hartz-IV-Familie

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Alles, was in diesem Heft passiert

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Verstehen Sie das, Herr Schmidt?

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Bei Bettina Wulff im Schloss Bellevue Vivienne Westwood in Afrika

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Martenstein wundert sich über die Metaphern des Papstes Viktor & Rolf erzählen und illustrieren jetzt auch Märchen – hübsch & heiter! Wo kann man sich die meisten Orden verdienen? Eine Deutschlandkarte Wie Brad Pitt versuchte, freundlich zu sagen, dass Jennifer Aniston eine Langweilerin ist Hartz IV: Was bedeutet es, in einer Familie groß zu werden, die vom Staat lebt? Hartz I: Und was macht eigentlich der Mann, der sich das alles ausgedacht hat? Paolo Pellegrin betrachtet Hongkong vom Wasser aus Peter Plate von Rosenstolz wäre gern mal wieder wütend Was, schon wieder Clogs? Christine Meffert fährt Auto, und die Beifahrerin duckt sich lieber Zwiebeln machen jetzt auf edel Frage an den Therapeuten: Ist das eine gute Idee, wenn ein Paar in derselben Firma arbeitet? Sein Vater war ein Despot – dennoch verdankt Mario Vargas Llosa ihm seine Rettung

Und so sieht unser Zeichner Ahoi Polloi die Welt Titelillustrationen Gregory Gilbert-Lodge Fotos Inhalt Sigrid Reinichs; Juergen Teller; Herlinde Koelbl

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HARALD MARTENSTEIN

Über die Fehlbarkeit des Papstes: »Was mich vom Glauben abhält, sind seine Reden« Ich bin katholisch erzogen. Meine heutige Haltung zum Glauben würde ich als »stimmungs- und situationsabhängig« bezeichnen. Dass der Papst nicht fortschrittlich ist und seit 2000 Jahren das Gleiche sagt, gefällt mir irgendwie. Eine Welt, in der alle für den Fortschritt sind, sogar der Papst, wäre sehr langweilig, und ich bin, ehrlich gesagt, kein großer Freund der Langeweile. Jede bedrohte Käferart wird geschützt, man sagt: »Eine Welt ohne den Gelbrandkäfer wäre eine ärmere Welt.« Das Gleiche gilt doch wohl auch für Katholiken. Allen Papstgegnern schreibe ich ins Stammbuch: »Auch Katholiken haben ihren Platz im Gebäude der Schöpfung.« Falls es Gott gibt, dann ist die Existenz des Katholizismus Gottes Wille und muss hingenommen werden. Falls es aber keinen Gott gibt, dann haben die Katholiken großes Pech gehabt und verdienen Mitgefühl. Und wenn jemand wegen des Zölibats auf Sex verzichtet, dann ist dies eine freiwillige Entscheidung. Viel menschenfeindlicher wäre doch eine Kirche, die ihre Priester dazu verpflichtet, täglich mehrmals Sex zu haben, vor allem, wenn es, wie in der katholischen Kirche, im Hirtenamt keine verpflichtende Altersgrenze gibt. Ich respektiere also den Glauben und finde, theoretisch, das reaktionäre Denken faszinierend. Gleichzeitig packt mich das Grausen, wenn ich gewisse praktische Auswirkungen dieses Denkens sehe, zum Beispiel das Kondomverbot und die Aids-Politik. Das Gleiche erlebe ich doch aber mit tausend anderen Sachen, zum Beispiel der FDP. Wenn ich deren Forderungen lese, denke ich oft, hey, es klingt richtig vernünftig, erlebe ich aber die FDP-Politik in Aktion, packt mich das Grausen.

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Ich habe gelesen, dass der Papst ein bedeutender Intellektueller sei, quasi die Antwort des Heiligen Geistes auf Hans Magnus Enzensberger. Deswegen habe ich die Berichte und die Reden auf geistige Originalität geprüft. Drei Beispiele. Im Schloss Bellevue sagte der Papst: »Unser Zusammenleben bedarf einer verbindlichen Basis, sonst lebt jeder nur noch seinen Individualismus.« Ich habe mich gefragt, welche Person oder politische Strömung die Ansicht vertritt, dass unser Zusammenleben keiner verbindlichen Basis bedarf, mir sind keine eingefallen. Sogar die Anarchosyndikalisten sind ja zumindest für den Anarchosyndikalismus als Basis. Ich bin, verglichen mit Gott, nur ein kleines Licht, aber mir kommt das, je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wie eine Binsenweisheit vor. Im Bundestag sagte der Papst: »Das Auftreten der ökologischen Bewegung in der deutschen Politik ist ein Schrei nach frischer Luft gewesen, den man nicht überhören darf und nicht beiseiteschieben kann.« Dass man einen Schrei nicht beiseiteschieben kann, finde ich auch, es hängt meines Erachtens damit zusammen, dass er aus so akustischen Wellen besteht, die jedes Mal wegflutschen, wenn man sie schieben will. Die wichtigste Passage der Bundestagsrede lautete: »Die Erde trägt ihre Würde in sich, und wir müssen ihrer Weisung folgen. (...) Wenn in unserem Umgang mit der Wirklichkeit etwas nicht stimmt, dann müssen wir alle ernstlich über das Ganze nachdenken.« Das, was mich von einer Rückkehr zum Glauben am stärksten abhält, ist die Erkenntnis, dass Papstreden so ähnlich klingen wie die Bücher von Paulo Coelho. Aber ernstlich über das Ganze nachzudenken kann natürlich nie schaden.

Zu hören unter www.zeit.de/audio Illustration Fengel

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Die ZEITmagazin-Entdeckungen der Woche

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Dieser hübsche LAVENDELZUCKER schmeckt auf Mascarpone, Beeren, geschmorten Feigen und einfach so aus der Dose (Sosa Ingredients)

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SCHLÜSSELANHÄNGER können doch tatsächlich ein modisches Statement sein – zum Beispiel dieser Papagei é) (von See by Chloé) Schön, wenn Designer ihre überschüssige Energie nutzen und zum Beispiel ein MÄRCHENBUCH schreiben und illustrieren – wie jetzt das niederländische Designerduo Viktor & Rolf, das ansonsten glamouröse Konzeptmode macht (Verlag Hardie Grant)

Wir beschreiben den großartigen SEKT »Primus« von Barth im Rheingau nicht mit albernen Weinvokabeln. Bitte selbst probieren!

LANA DEL REY singt so traurig, nachdenklich und schön, als sähe sie nicht aus wie ein Model. Ihr Debüt, eine DoppelA-Seite mit dem Titel »Video Games / Blue Jeans«, erscheint im Oktober

»Eigentlich wollte ich nach Lourdes fahren, aber da dauern sowohl Fahrt als auch Aufenthalt noch länger« Die Berliner Grafikerin Monja Gentschow liebt es, altes Männerhaar zu zeichnen und Motorradhelme mit Vogelfedern zu bekleben. Außerdem hat sie dieses heitere KARTENSPIEL entworfen (www.monjagentschow.com)

THOMAS GLAVINIC in »Unterwegs im Namen des Herrn« über seine Pilgerreise auf den Balkan

Fotos Sosa Ingredients; See by Chloé, gesehen bei Net-A-Porter; Viktor & Rolf / Verlag Hardie Grant; Wein- und Sektgut Barth; Nicole Nordland; monjagentschow.com

Deutschlandkarte

EHRENORDEN

Schleswig-Holstein 16

Hamburg 12

Mecklenburg-Vorpommern 6

Bremen 5 Berlin 13 Niedersachsen 18 Brandenburg 9 Sachsen-Anhalt 9 Nordrhein-Westfalen 11 Sachsen 18 Hessen 22

Thüringen 16

Rheinland-Pfalz 20 Bayern 48 Saarland 12

Baden-Württemberg 20

Anzahl der Orden und sonstigen Ehrenzeichen, die von den Bundesländern vergeben werden

Verdienst und Ehre sind ja schon länger nicht mehr so die Topwerte. Ehrenorden und Verdienstnadeln sind, wenn sie verliehen werden, auch keine großen Meldungen wert – selbst um das Bundesverdienstkreuz schert sich kaum jemand, noch weniger um die Orden, die von den Ländern vergeben werden. Nach 1945 war man sich einig: Wir wollen wieder

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Orden haben für die Mutigen, Selbstlosen und Schlauen! Die Bayern haben seither die allermeisten Orden erfunden, sogar eine Medaille für Verdienste um die bayerische Gastlichkeit haben sie. Es wäre unfair, zu sagen, dass die Bayern beim Orden-Erfinden so fantasievoll waren wie die Herrenausstatter von Muammar al-Gadhafi. Denn die bayerischen

Orden bekommen die Guten, nicht die Bösen. Die bayerische Finanzmedaille in Gold erhielt zum Beispiel Anfang August ein ehemaliger Finanzamt-Sachbearbeiter und Steuergewerkschaftler, ein Mann also, der nachweislich nicht schuld ist an der Finanzmisere. Der Mann hätte wirklich etwas mehr Aufmerksamkeit verdient. Matthias Stolz

Illustration Jörg Block Quelle Alexander von Sallach

Gesellschaftskritik

Gaaaanz anders, als alle denken: Jennifer Aniston, hier noch liebevoll verbunden mit Brad Pitt

Über Imagekorrekturen Gerade musste Brad Pitt sich entschuldigen, weil er in einem Interview gesagt hatte, dass er sich in seiner Ehe mit Jennifer Aniston so gelangweilt habe, dass er sich interessante Rollen suchen musste. Zur Wiedergutmachung sagte er einen Satz, der seitdem wohl in mehr Sprachen übersetzt wurde als die Bibel: »Jen ist eine unglaublich großzügige, liebevolle und lustige Frau, mit der ich befreundet bleibe.« Über die Genese kann nur spekuliert werden: Pressesprecher Brad Pitt: Okay, sucht euch drei Adjektive aus. Pressesprecher Jennifer Aniston: »Großzügige, liebevolle und aufregende Frau«. Pressesprecher Brad Pitt: »Aufregend« macht Angelina nicht mit. Sorry. No way. PS Aniston: Sexy? PS Pitt: Fuck you. PS Aniston: Okay – wir suchen ein Gegengift gegen das »langweilig«. PS Pitt: »Interessant«? PS Aniston: Das klingt, als gehöre sie einer seltenen Echsenart an. PS Pitt: »Großzügig, liebevoll, spannend«? PS Aniston: Hm. PS Pitt: Hm. PS Aniston: Scheiße. Ihr habt uns da reingeritten. Streng dich mal an. PS Pitt: »Großzügig, liebevoll, wundervoll«? PS Aniston: Das klingt, als sei sie schon in den Wechseljahren.

Foto Globe / Intertopics

PS Pitt: »Großzügig, liebevoll, wundervoll und nicht in den Wechseljahren«? PS Aniston: Harhar. PS Pitt: Wie ist sie denn? PS Aniston: Unsicher, depressiv und vor allem an Yoga interessiert. PS Pitt: »Jen ist eine depressive, unsichere Frau, die Yoga für eine Wissenschaft hält, mit der ich aber trotz allem befreundet bleibe.« PS Aniston: Sehr lustig. Verdammt! Was ist das Gegenteil von Langeweile? PS Pitt: Angelina Jolie. PS Aniston: Hey! Ich hab’s: »Jen ist eine großzügige, liebevolle und mental stabile Frau, mit der ich befreundet bleibe.« PS Pitt: Warum würde ich da leider ablehnen müssen? PS Aniston: Weil es impliziert, dass jemand anderes mental instabil sein könnte? PS Pitt: 100 Punkte. Pass auf: »Großzügig, liebevoll und lustig«! Come on . Männer lieben lustig. Lustig und sexy wie Cameron Diaz! Und weil bald Jom Kippur ist, spendiere ich dir noch ein »unglaublich« dazu. PS Aniston: »Jen ist eine unglaublich großzügige, liebevolle und lustige Frau, mit der ich befreundet bleibe« … warum nicht? Für das »befreundet« schicken wir euch dann eine Rechnung. PS Pitt: Demnächst mal auf ein Bier? PS Aniston: Gerne! Heike Faller

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Meine Hartz-IV-Familie Ihre Eltern haben sich Mühe gegeben, aber nie einen Platz in der Gesellschaft gefunden. Unsere Autorin erzählt, wie schwer es für sie war, sich eine Zukunft aufzubauen – und Mutter und Vater zu respektieren

Viel versucht, immer erfolglos: Irgendwann ist der Vater »auf der Taxe hängen geblieben«, wie er sagt

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Von UNDINE ZIMMER Illustrationen G R E G O R Y G I L B E R T- L O D G E Meine Mutter, mein Vater und ich gehörten, solange ich mich erinnern kann, zur Unterschicht. Meine Eltern sind Langzeitarbeitslose. Geändert haben sich im Lauf der Jahre nur die Bezeichnungen, unter denen in der Öffentlichkeit über Leute wie uns diskutiert wurde: Sozialhilfeempfänger, Prekariat, Langzeithartzer. Und die Subventionen, die man uns zuteilte: Mal lebten wir aus dem Zuschusstopf für Niedriglöhner, mal aus dem Weiterbildungstopf, mal aus dem Ein-Euro-Job-Topf und, weil mein Vater sogar einmal versucht hat, sich selbstständig zu machen, auch aus dem Gründungszuschuss-Topf. Mittlerweile sind meine Eltern beide im Rentenalter und erhalten einen kleinen Grundbetrag mit ergänzender Sozialhilfe. Leider ist bei keinem der beiden die sogenannte Integration in den Arbeitsmarkt gelungen. An der Zahl der Bewerbungen, dem mangelnden Wunsch nach Unabhängigkeit und nach Arbeit, lag das nicht. In der Öffentlichkeit finden Hartz-IV-Empfänger vor allem Beachtung als Jammerlappen, Fertiggerichtekocher, Flachbildschirmkäufer. Manchmal wird in Talkshows und Reportagen auch das Gegenbild vorgeführt, meist in Form einer tapferen Alleinerziehenden, die ohne Schuld in Not geraten ist. Meine Eltern gehören weder zur einen noch zur anderen Gruppe: Sie haben ein mittleres Bildungsniveau, sie legen Wert auf gesunde Ernährung, und sie hören Kulturradio, statt Bild zu lesen. Aber natürlich waren sie nicht nur Opfer der Verhältnisse, sie haben Entscheidungen getroffen, manchmal (wie viele Menschen) eben unkluge. Und obwohl es viele gibt wie sie, liest man nichts von ihnen: Hartz-IVler sind nicht in der Position, ihre Geschichten erzählen zu können, sie haben keine Lobby, und so bleibt der Begriff »Hartz IV« in Deutschland mit ein, zwei Klischeebildern assoziiert, die der Politik dabei helfen, diese Menschen weiter zu entrechten, und der Mittelklasse dabei, sich emotional von Leuten zu distanzieren, die ihnen vielleicht näher sind, als sie glauben. Zum Beispiel denken viele, dass HartzIV-Empfänger keine Arbeit finden, weil sie faul sind und weder Interessen noch Talente haben. Meine Eltern aber hatten Ziele, doch sie haben sie trotz ihrer Anstrengungen, ihrer Qualifikationen und ihres Engagements nicht erreicht. Mein Vater konnte seine Ausbildung zum Betriebseisenbahner wegen Depressio-

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nen und Angstzuständen nicht beenden, danach war er eine Zeit lang in psychiatrischer Behandlung. Es folgten eine abgebrochene Ausbildung zum Funkmechaniker und eine abgeschlossene Lehre als Industriekaufmann. Für eine Weile schien es gut zu laufen für ihn, er holte auch das Abitur nach. Aber nach dem zweiten Studiensemester Politik ist er »auf der Taxe hängen geblieben«, wie er sagt. Ich glaube, mein Vater war durchaus begabt. Er hat früher gezeichnet, Eisenbahnszenen, Blicke aus dem Zugfenster. Er hat ein gutes Gedächtnis. Politische Daten, sämtliche Bundeskanzler kennt er auswendig: Akribisch archiviert er die Vergangenheit.

Der Geschmack der Armut: Haferflocken, Zwieback, Apfel Meine Mutter wollte gerne OP-Schwester oder Entwicklungshelferin werden. Doch schon kurz nach der Ausbildung zur Krankenschwester zeigte sich, dass sie der Belastung des Berufs nicht gewachsen war. Sie wollte das Abitur nachmachen und Philosophie studieren, aber dann kam ich. Als ich noch nicht einmal ein Jahr alt war, trennten sich meine Eltern. Das hat das Leben meiner Mutter sicher nicht einfacher gemacht. Was sie aber nie verloren hat, waren ihr Wissensdurst und ihre Vorliebe für klassische Musik, gelehrte Radiobeiträge, theologische Fragen und Literatur. Sie hat drei Jahre lang die Biografie eines schwedischen Opernsängers mit dem Wörterbuch übersetzt, obwohl sie kein Schwedisch konnte. Im Laufe der Jahre hat sie mehrere Ein-Euro-Stellen gehabt, im Büro, in der Wäscherei, im Sekretariat des Jugendamtes. Sie sagt, sie war immer froh, wenn sie arbeiten, sich nützlich fühlen konnte. Später

war sie bei einer Aufbauausbildung vom Arbeitsamt zur medizinischen Schreibkraft eine der Besten in ihrer Klasse. Aber eine Anstellung hat sie nicht gefunden. Vielleicht war sie in den Bewerbungsgesprächen zu schüchtern, oder man hat ihr den Umgang mit dem Computer nicht zugetraut. Meine Eltern sind nicht die einzigen Langzeit-Hartz-IVler mit ungenutztem Potenzial: Eine Studie mit dem Namen Alg-II-Bezug ist nur selten ein Ruhekissen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung von 2010 kommt zu dem Ergebnis, dass 65,5 Prozent der Hartz-IVler erfassten Aktivitäten nachgehen, sie arbeiten ehrenamtlich und suchen aktiv Arbeit. Die Motivation ist hoch, doch die Erfolge sind bescheiden, so lautet das traurige Fazit. Meine Mutter ist eine kleine, zierliche Frau. Sie ist geradezu hager, und sie geht mit leichten, federnden Schritten, sie sieht aus, als könnte sie jederzeit davongeweht werden. Man merkt meiner Mutter sofort an, dass sie anders ist, vielleicht wegen ihrer Zerbrechlichkeit und ihrer leisen Stimme. Sie hat sich angewöhnt, nur das Nötigste zu essen. Jetzt kann man sie schwer dazu überreden, daran etwas zu ändern. »Mein Magen ist so empfindlich«, verteidigt sie sich. Mein Vater dagegen spart nicht so sehr am Essen. Bei ihm ist es die Kleidung. Er trägt, was sauber und praktisch ist. Wie alt seine Kleidung ist, wie modisch, spielt keine große Rolle. Auch bei Möbeln zählt allein die Funktion (er hatte immer ein Faible für Plastikbecher, Plastikteller und Plastikschalen). Auch das ist typisch: Nicht wenige von Armut Betroffene, das zeigt die Soziologin Claudia Schulz in einer Studie, fangen an, am eigenen Körper zu sparen. Am Schönen, an Wäsche, an Kosmetik, am Essen. Kurz, sie hören auf, dafür zu sorgen, dass sie sich gut fühlen. Sie halten das für unverdienten Luxus. Nur für die Kinder gibt man Geld aus. So war es auch bei uns: Mein geliebtes großes Stoffhuhn von Steiff konnten wir uns eigentlich nicht leisten. Überhaupt entspricht das Klischee, Hartz-IVler gäben ihr Geld für Flachbildschirme und MP3-Player aus statt für Bildung und Zoobesuche, nicht meiner Erfahrung. Meine Mutter hat es geschafft, mir Musik- und Ballettunterricht zu ermöglichen. Das habe ich ihrer Disziplin, ihrem Dispokredit (ein Privileg für besonders zuverlässige Sozialhilfeempfänger) und Köllns Haferflocken zu verdanken. Haferflocken sind die perfekte Notfallnahrung. Sie machen satt und enthalten Vitamin B1, B6 und E, Zink, Eisen und Calcium, Ballaststoffe und ungesättigte Fettsäuren. Hatten wir zu viel ausgegeben, versprachen wir uns: »Nächsten Monat

essen wir nur Haferbrei.« Daran hat sich von uns beiden nur meine Mutter gehalten. Sozialhilfe ist wie eine lange, nie endende Diät. Hunger kenne ich nicht, aber diese Appetitlosigkeit, weil es oft nur zwei Dinge zur Auswahl gab: Zwieback oder Äpfel, während ich von saftigen Soßen oder von gefüllten Keksdosen träumte. Wenn andere Fruchtzwerge und kleine Chipstüten in die Schulpause mitbrachten, gab es bei mir immer das Gleiche: Schwarzbrot mit Frischkäse oder manchmal auch nur Knäckebrot und ein Stück Käse – und immer diese Äpfel. Müsli konnte mich auch in Form liebevoll gebackener Kekse längst nicht mehr begeistern. Am Monatsanfang, wenn wieder Geld gekommen war, erfüllten wir uns ein paar Extrawünsche: Bücher, Ballettkleidung für mich oder besondere Schokolade. Freitags hatten wir ein kleines Ritual entwickelt, das darin bestand, eine Tiefkühlpizza zu verspeisen und unsere Lieblingsschallplatten zu hören. Auch Feiertage bedeuteten für uns vor allem, etwas Besonderes zu essen. Eine teurere Marmelade, eine Zucchini statt Kartoffeln. Meine Eltern haben versucht, anständige Sozialhilfeempfänger zu sein. Keinen Ärger zu machen, nicht zu viel zu fordern. Ihre Würde zu bewahren und ihre Scham zu verbergen. Sie haben getan, was viele tun, die wissen, dass sie als Bodensatz der Gesellschaft wahrgenommen werden, als Gruppe statt als Individuen mit einer Geschichte. Nicht genug Geld zu haben, um am sozialen Leben teilzunehmen, führt bei vielen Arbeitslosen dazu, dass sie sich zurückziehen, sagen die Forscher. Sie grenzen sich selbst aus dem gesellschaftlichen Leben aus, bevor es jemand anderes tut. Viele, die niemanden mehr finden, mit dem sie sich solidarisieren können, brechen ihre sozialen Kontakte allmählich ab und werden einsam. Die wenigsten wollen Teil eines auf den Staat schimpfenden Parkbank-Klubs werden. Dann doch lieber alleine. Jede Unternehmung scheint voller Hindernisse: Wenn ich versuche, meine Mutter dazu zu bringen, unter Leute zu gehen und Volkshochschulkurse oder andere Veranstaltungen zu besuchen, bekomme ich nicht endende Einwände zu hören – Fahrkosten, Eintritt, die körperlichen Strapazen der Fahrt, der Luftzug in den Räumen. Wenn ich ihr sage, dass sie sich zurückzieht, protestiert sie. Meine Mutter sagt, dass sie doch teilnehme am Zeitgeschehen. Sie beobachte und mache sich Gedanken darüber, was sie in den Nachrichten höre. Erst vor Kurzem habe sie sich doch mit der Postbotin unterhalten. Es scheint, als hätten viele arbeitslose Hartz-IV-Empfänger mit persönlichen, familiären oder gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. In der Statistik der Bundesagentur für Arbeit wird diese Gruppe »die Entmutigten« genannt. Sie sind laut einer Studie des Leibniz-Instituts für Arbeitsforschung nicht unmittelbar arbeitsfähig. »Multiple Vermittlungshemmnisse« heißt das in der Amtssprache. In der Studie wird empfohlen, die Betreuung der Entmutigten zu verbessern. Es solle stärker auf ihre individuelle Situation eingegangen werden, auf ihre gesundheitlichen oder familiären Probleme. Ich denke, so eine Beratung hätten auch meine Mutter und mein Vater gut gebrauchen können. Meine Eltern sind ungewollte Nachkriegskinder, beide waren im Heim, sind ohne Vater aufgewachsen, ohne warmes Familiennest – sie gehören zu einer Generation, die mit ihrer Verlorenheit bereits Bücher füllt. Ob sich diese Verlorenheit vererben kann? Obwohl manche meiner Verwandten viele Jahre im selben Bezirk wohnten wie ich, sind sie für mich wie Fremde geblieben. Das hat mich und meine Eltern aber nicht zusammengeschweißt. Mein Vater und ich hatten jahrelang keinen Kontakt. Gegen den Willen meiner Mutter bin ich mit 17 ausgezogen. So weit weg, wie ich konnte. Damit das alles nicht zu traurig klingt, muss ich noch hinzufügen, dass ich nach drei Jahren zurückgekommen bin und dass meine Familie

»Wenn ich ihr sage, dass sie sich zurückzieht, protestiert meine Mutter«

mir heute – ich bin jetzt 32 – viel bedeutet. Trotz allem bin ich stolz auf meine Eltern. Ich würde sie immer verteidigen. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich besonders geduldig mit ihnen umgehe, wenn andere dabei sind. Es ist mir wichtig, dass andere sehen, wie sehr sie respektiert werden – von mir. Doch, einen Punkt gibt es, in dem wir dem Klischee entsprachen. Diesen habe ich, zum Glück, erst später verstanden: Ich wusste immer, dass mein Vater schlecht einschlafen konnte und abends Wein oder Bier trank, bis er müde war. Aber ich habe nie darüber nachgedacht, dass er Alkoholiker sein könnte. Er war nie betrunken in meiner Gegenwart. Dass ich als Kind auch deshalb oft vergeblich auf seine Besuche gewartet habe, weil er einen Kater hatte, wurde mir erst später klar. Als ich 29 war, lag er nach einem Unfall einige Monate im Krankenhaus. Ich habe mich um alles gekümmert. Damals fand ich in seiner Wohnung Notizbücher, in denen er akribisch dokumentiert hatte, wie viele Gläser Prosecco er pro Tag getrunken hatte. In manchen Dingen ist er sehr korrekt. Erst in diesem Moment ist mir bewusst geworden, dass mein Vater viele Jahre lang ein Alkoholproblem hatte. Regelmäßig kleine Mengen, alleine zu Hause. Er habe sich wegträumen wollen, ganz früher habe das auch noch geklappt, hat er mir erzählt. »Es schmeckt mir nicht mehr«, sagt er jetzt. Im Krankenhaus fragte mich eine Ärztin nach seinem Alkoholkonsum: ob das wirklich Vergangenheit sei? Ich weiß noch, wie sie mich ansah: mit so einer Mischung aus Mitleid und Respekt. Erst war es irgendwie angenehm, dann sträubte sich etwas in mir. Ich will mich nicht als Opfer sehen und meinen Vater als bedauernswert. Ich will, wie jedes Kind, meinen Vater lieben und respektieren. Dahin zu kommen war nicht einfach. Er schläft noch heute mit dem Plüschstern in der Hand ein, den ich ihm geschenkt habe, als er nach der Operation bewegungslos im Krankenhaus lag. Das ist vielleicht das Schwierigste daran, ein Kind von Beitragsempfängern zu sein: dass man seine Eltern hilflos und gedemütigt erlebt. Es ist schwer, jemanden als Vorbild zu sehen, auf den man sich nicht verlassen kann, der sich selbst als »ollen Knacker« beschreibt, auch wenn er dabei lacht. Ebenso schwer ist es, sich in der Welt einen Platz zu schaffen, wenn diejenigen, die dir zeigen sollen, wie das geht, selbst keinen Platz haben. Als ich das erste Mal mit meiner alleinerziehenden Mutter auf dem Amt saß, auf einer Steinbank in einer Steinhalle, war ich keine drei Jahre alt. Es gab keine Ecke, in der ich hätte spielen können, meine Mutter weinte. Ein-

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mal wurde sie während eines Praktikums, das Teil einer Weiterbildungsmaßnahme war, von der Chefin gefragt, ob sie das Alphabet könne. Das hat sie mir erst Wochen später erzählt. Meine empörte Frage, ob sie nicht etwas gegen diese Frau unternehmen wolle, war ihr unangenehm. »Nein, da kann man nichts machen. Sonst gibt es nur noch mehr Ärger«, sagte sie. »Irgendwann finde ich einen Weg, dich zu rächen«, dachte ich wütend und stellte mir vor, wie ich auf dem Amt die Schreibtische umwerfe. Meine Mutter wollte, dass ich alles, was sie mir zu Hause nicht bieten konnte, bei anderen erlebe. Es waren oft die Eltern meiner

»Ich bin die Erste, die in unserer Familie das Studium abgeschlossen hat« Freunde, die den Eintritt für die Eisbahn für mich bezahlten und mich mit in den Urlaub nahmen. Mir schien es irgendwie normal, dass andere für mich etwas auslegten, wenn meine Mutter kein Geld hatte. Auch dass meine Klassenlehrerin in der Siebten mir einmal heimlich zu Weihnachten eine kleine grüne Schachtel mit einem Fünfzigmarkschein überreichte, berührte mich damals, aber es wunderte mich nicht. Eine »einmalige Beihilfe«, würde man im Hartz-IV-Jargon sagen. Der Preis dafür war ein gewisses Schamgefühl, das mit den Jahren in mir wuchs: etwas zu bekommen, das mir nicht zusteht. Das Gefühl, nichts zurückgeben zu können und nicht richtig dazuzugehören. Bemitleidenswert zu sein. »Du bist das einzig Vernünftige, was wir hingekriegt haben«, hat mein Vater einmal halb im Spaß zu mir gesagt. Ich bin die Erste, die in unserer Familie das Studium abgeschlossen hat. Haben wir über die Zukunft

gesprochen, habe ich von beiden schon den Satz gehört: »Du machst alles viel besser als ich damals, du bist stärker, dir wird das nicht passieren.« Sie bewundern mich und verstehen nicht, dass ich mir selbst Sorgen mache. Und warum sollten sie nicht recht behalten? Bildung gilt noch immer als der sicherste Weg zu einem besseren Leben. Trotzdem werden meine Zweifel größer. Werde ich auch zu früh aufgeben – wie meine Eltern? Kommt nach einer verpassten Chance wirklich noch eine neue? Ich habe das Gefühl, dass ich mir keine Niederlagen leisten darf, selbst in meinen Hobbys. Jede Schwäche ist ein Beweis dafür, dass ich kein Durchhaltevermögen habe. Wenn ich abends vor dem Computer versacke und Serien schaue, statt bis Mitternacht zu arbeiten, dann spukt in meinem Hinterkopf der Satz: »Du hast keine Disziplin. So wird nie etwas aus dir.« Wenn ich mich vor etwas drücke, dann sagt eine innere Stimme: »Du bist nicht gut genug.« Wenn ich von etwas träume, eine Band zu gründen oder ein Jahr um die Welt zu fahren, reagiert mein Unterbewusstsein sofort mit »Dafür ist es jetzt schon zu spät«. Klar, anderen geht es auch so. Aber wenn ich laut sagen würde, dass ich oft nicht daran glaube, dass ich je genug verdienen werde, um ein Leben mit eigener Waschmaschine und Urlaubsreisen führen zu können, würden mich die meisten meiner Freunde verständnislos anschauen. Warum fällt es mir so schwer, mich durch ihre Augen zu sehen? Wie damals, im Krankenhaus, als ich mich durch die Augen meines Vaters betrachten konnte. Wir hatten mehr als ein Jahr lang nicht miteinander gesprochen. Dann sah ich ihn in seinem Bett – hilflos und dankbar, dass ich gekommen war. In seinem Blick lag alles, was er mir nie sagen konnte: dass ich schon lange stärker bin als er. Es heißt oft, dass Kinder von Sozialhilfeempfängern ihrerseits zu Beitragsempfängern heranwüchsen, weil ihnen die Bildung fehle oder die Fähigkeit, morgens aufzustehen. Ich weiß nicht, ob das das eigentliche Problem ist, dachte ich, als ich meinen Vater im Krankenhaus besuchte, als ich ihm auf dem Flur heimlich die erste Zigarette nach der OP anzündete und er mir begeistert von seiner letzten Reise auf Google Earth erzählte. Mein Vater glaubt an mich, wie wahrscheinlich die meisten Eltern an ihre Kinder glauben. Aber kann ich dem Urteil von Eltern vertrauen, die so häufig zeitmagazin falschgelegen haben? nr . 

Was macht Peter Hartz eigentlich heute? Von einer Begegnung mit ihm lesen Sie auf den nächsten Seiten

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Foto Name Namerich / Agentur

Hartz I Ein Besuch bei Peter Hartz, der die Arbeitslosigkeit besiegen wollte und grandios scheiterte. Er hat nun Mitleid mit sich selbst – aber nicht mit jenen, die mit seiner Reform leben müssen Von JULIA FRIEDRICHS Illustrationen G R E G O R Y G I L B E R T- L O D G E

A U S S E I N E R Sicht ist Peter Hartz ein Opfer seines Idealismus geworden. Es gibt sehr viele Menschen in diesem Land, die das anders sehen. Manchen ist er ein Sinnbild für den Verfall der Sitten in der Wirtschaft. Manchen ist er Chiffre für alles, was in ihrem Leben schiefläuft. Jahrelang pinselten sie seinen Namen auf Transparente und skandierten ihn, als sie wütend durch die Städte zogen. Am 16. August 2002 war Peter Hartz ganz oben. Er war nicht nur Vorstandsmitglied der Volkswagen AG, des größten deutschen Unternehmens, sondern er war an diesem Tag vor allem der Mann, der Deutschland versprach, das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen. Sechs Monate vorher hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder Peter Hartz gebeten, den Vorsitz der Kommission »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« zu übernehmen. Nun lagen die Ergebnisse vor, und Hartz tat alles, um das Bild des Heilsbringers in noch bunteren Farben zu malen. Er sparte nicht an großen Worten. Bei einer großen Feierstunde, die Gerhard Schröder unter der Kuppel des Französischen Doms in Berlins historischer Mitte einem Staatsakt gleich organisiert hatte, sagte Peter Hartz voller Pathos: »Wir haben nach dem Krieg Deutschland aufgebaut, wir haben die Wiedervereinigung geschafft – und jetzt das Arbeitslosenproblem.« Er sei überzeugt, dass dies bald Geschichte sei, sagte er. Und sprach den Satz, in dem seine ganze Begeiste-

rung gipfelte: »Heute ist ein schöner Tag für die Arbeitslosen in Deutschland.« Wer Peter Hartz acht Jahre später treffen will, muss nicht nur nach Saarbrücken reisen, er muss auch noch in die Randgebiete dieser Randstadt fahren, an einen Ort, der sehr weit entfernt ist von der Mitte der Republik, in der man Hartz einmal gebannt lauschte. Sein Büro befindet sich in einem Gewerbepark. »B 5« steht unter seiner Adresse. Ein weißes, funktionales Gebäude. »Warum sind Sie hier?«, werde ich Peter Hartz später fragen. »Hier sind die Mieten günstig«, wird er antworten. »Wir wollen alles in unsere Stiftung stecken«, sagt er und drückt mir drei Broschüren in die Hand. Die Stiftung. Seine neuen Ideen. Darüber wird er an diesem Morgen viel lieber sprechen wollen als über das, was mich interessiert: Wie ist es, Peter Hartz zu sein – der Mann, der den Menschen so viel versprach und der heute damit leben muss, dass sein Name für immer mit einer Politik verknüpft sein wird, die viele als ungerecht empfinden? Der Mann, der im Jahr 2007 wegen Untreue in 44 Fällen zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung und einer Geldstrafe in Höhe von 576 000 Euro verurteilt wurde, weil er gestanden hatte, den VW-Betriebsratsvorsitzenden Klaus Volkert lange Jahre mit Sonderzahlungen verwöhnt, ihm insgesamt fast zwei Millionen Euro »Sonderboni« zugeschanzt zu haben? Der Mann, der zumindest toleriert hatte, dass

Peter Hartz macht heute den Eindruck eines müden, eines geschafften Mannes

Volkert und andere Betriebsräte sich Sexreisen auf Volkswagen-Kosten gönnten, und der ertragen musste, dass der Boulevard plötzlich von Nutten schrieb, wenn es um Hartz ging? Tiefer, so denkt man, nachdem man all das noch einmal nachgelesen hat, kann man kaum fallen. Jetzt sitzt er vor mir und sagt: »Ich musste einen so hohen Preis zahlen. Es hat mich so viel gekostet, etwas ändern zu wollen. Das alles hat zu viele Narben hinterlassen.« Ist der Mann, dessen Name schon Teil der deutschen Geschichte ist, ein Opfer seiner Standfestigkeit, seiner Überzeugungen, seines Idealismus geworden? Das kann ich kaum glauben. Als ich für mein Buch mit Gerhard Schröder gesprochen hatte, fragte ich ihn, ob er Peter Hartz für einen Idealisten halte. »In großen Teilen, ja«, antwortete Schröder. »Sie kennen diese VWGeschichte«, fügte er an. Ich nickte und dachte, dass das eine niedliche Umschreibung der Korruptionsaffäre sei. Damals ahnte ich nicht, dass Peter Hartz noch verschämter von den »Wolfsburger Geschehnissen« sprechen würde. »Diese VW-Geschichte überschattet natürlich sein Lebenswerk«, sagte Schröder. »Aber für mich ist Peter Hartz ein Freund und ein Mann, der Beachtliches geleistet hat.« Ich fand es anständig, dass Schröder das sagte, aber mich überraschte diese Einschätzung. Peter Hartz nicht. »Der Gerd Schröder«, sagt er und lacht, als ich ihm davon erzähle. »Es freut mich«, sagt er. »Aber da er mich kennt

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und das, was ich in Niedersachsen und für ihn nicht mit Unverständnis auf diese Baukasten- was habe ich das teuer bezahlt. Sehr teuer.« – in seiner Kanzlerzeit gemacht habe, käme er konzepte reagierte, die nach PowerPoint-Fo- »Warum haben so wenige der Module funkum diese Bestätigung gar nicht herum. Selbst lien klingen, nicht nach dem wahren Leben. tioniert?«, frage ich. Drei Jahre nach Beginn wenn er mich nicht mögen würde.« Es ist die Hartz-Sprache, die er schon in der Reform hatten drei Wirtschaftsfor»Weil es so offensichtlich ist, dass Sie ein seinem ein Jahr zuvor erschienenen Buch Job schungsinstitute die Bausteine untersucht Idealist sind?«, frage ich zögernd. »Ja«, sagt Revolution inflationär anwandte. Ich mag und festgestellt, dass die meisten nicht taugHartz. »Dieses Arbeitsmarkthema und dieses kaum glauben, dass man jemandem, der es ten, um die Qualität und die Schnelligkeit der Jobthema – das ist mein Lebensthema.« – liebt, einen mageren, kaum nachvollziehbaren Vermittlung von Arbeitslosen zu verbessern. »Warum? « – »Meine Erziehung«, sagt Hartz. Inhalt hinter teilweise absurden Wortkon- »Nicht überall, wo Hartz draufsteht, ist auch Er erzählt von seiner Kindheit als jüngster von strukten zu verbergen, den Arbeitsmarkt eines Hartz drin«, antwortet er. »Aber es ist doch drei Söhnen in »sehr einfachen Familien- ganzen Landes anvertraut. Aber damals riss viel von dem gemacht worden, was Sie wollverhältnissen«. Sein Vater arbeitete in einer Peter Hartz die Menschen offensichtlich mit. ten«, entgegne ich. Drahtzieherei, er beizte das Metall, veredelte »Stimmt«, meint Hartz. »Ich habe da Auf den ersten Blick sieht Peter Hartz an es. Die Dämpfe, die er dabei einatmete, setz- diesem Vormittag aus wie auf all den Fotos, mal für mich in einem Ampelsystem bewerten sich in die Lungen und in die Bronchien. die ich von ihm kenne: der Anzug, die Brille, tet, was ist denn grün, gelb und rot von den Schließlich war der Vater zu schwach, die das weiße Haar. Aber trotz der gewahrten Vorschlägen.« Also in seinem Sinne umgeschweren Drahtringe zu heben. »Er wurde Form macht er den Eindruck eines müden, setzt, teilweise umgesetzt oder abgelehnt. aussortiert und dann als Hilfs»Und?«, frage ich. »Über die arbeiter durch die Gegend geHälfte waren grün und gelb«, sagt schubst«, sagt Hartz. Aber obPeter Hartz. »Na also. Was hatten wohl der Vater krank war, blieb er Sie denn erwartet?«, frage ich. fast nie zu Hause. Von ihm habe »Sie geben das Konzept ab, und er gelernt, wie wichtig es sei, eialles wird ohne Änderung so genen Arbeitsplatz zu haben, sagt macht?« – »Ja«, sagt Hartz. Und Hartz. »Wenn man einen Job hat, fügt ein wenig trotzig hinzu: »Ich ist alles gut. Dann wird man gehatte auch noch den Umsetbraucht, man hat Würde und zungsplan dazugeschrieben. Und kann sein Essen verdienen. Ich das den Herren Schröder und bin Überzeugungstäter. Ich bin Clement gegeben, bis zum Stab, überzeugt, dass man das Problem bis zur Projektgruppe, die das der Arbeitslosigkeit lösen kann.« umsetzen sollte.« Und so sagte Peter Hartz, als FerFast drei Stunden konnte dinand Piëch, der damalige Vorich mit Peter Hartz sprechen. Ich standsvorsitzende von Volkswahabe seine Bücher gelesen und gen, ihn 1993 anrief und fragte, seine Artikel, und langsam fürchob er, Hartz, nicht als Konzernte ich, dass er tatsächlich davon vorstand nach Wolfsburg komüberzeugt ist, dass die Welt am men wolle: »Wenn Sie meinen, besten dran wäre, wenn sie ihm ich komme zu Ihnen, um die eins zu eins folgen würde. Im Jahr 30 000 Leute rauszuwerfen, die 2005 erschien im ZEITmagazin Sie zu viel haben, dann bin ich ein Beitrag von Peter Hartz in der der falsche Mann.« Piëch habe Rubrik Ich habe einen Traum. »Es nachgedacht, erinnert sich Hartz, träumt mir«, schrieb er da, »ich und dann gesagt: »Wenn Ihnen sei Alleinherrscher, ein wunderetwas anderes einfällt, dann mabarer, sympathischer, liebevoller chen Sie etwas anderes.« Alleinherrscher, wie ihn die WeltPeter Hartz’ Name ist jetzt schon Teil der Geschichte Peter Hartz führte die Viergeschichte bisher noch nicht ge– nur nicht so, wie er es sich erträumt hatte tagewoche ein. Er erdachte einen kannt hat und der für das Volk neuen Firmenteil, den er 5000 x nur das Beste will. Der aber plötz5000 taufte und in dem er 5000 neue Mitar- eines geschafften Mannes. Ein Mann, der lich konfrontiert ist mit einem gigantischen beiter einstellte, die unter dem Haustarif be- über die Knackpunkte seines Lebens, über die Problem, dem der fünf Millionen arbeitslosen zahlt wurden und 5000 Mark brutto verdien- Frage, ob er, der Idealist, scheiterte, und wenn Untertanen.« Beim Lesen stockte ich. Alleinten. Bei allem, was er tat, sei er immer von ja, warum, kaum sprechen kann. Immer wie- herrscher, dachte ich, krasser Traum. Ich las einer Idee getrieben worden, sagt Peter Hartz: der bringt er seine Sätze nicht zu Ende, lässt weiter: In einem Jahr wolle er die Arbeitslosig»Kein Nachschub für Nürnberg.« Dort befin- sie einfach in der Luft hängen. Dann schaut keit beseitigen, sagt der Herrscher Hartz in det sich die Bundesagentur für Arbeit, die er ins Leere, oft gähnt er und spricht dann seinem Traum. »Wenn nur und ausschließlich Verwalterin der Arbeitslosen. »Es kam dann über andere, unverfänglichere Themen. Als das umgesetzt würde, was er vorgibt. Uneinder Vorsitz der Kommission«, sagt Peter ich ihn nach der VW-Korruptionsaffäre frage, geschränkt, ohne Kompromisse, ohne BunHartz. Er war davon überzeugt, dass er nun antwortet er nur: »Über die Wolfsburger Ge- desräte würden seine Visionen Wirklichkeit.« das Land so umbauen würde, wie er es mit schehnisse wollen wir nicht sprechen.« – »Warum haben Sie das geschrieben?«, frage seinem Unternehmen getan hat. Ob das der Und auch darüber, ob seine Ideen für die ich. »Weil Sie die Macht haben müssen«, sagt Moment war, in dem sein Wille zu gestalten Reform des Arbeitsmarktes richtig oder falsch Hartz, »zu sagen: Wir machen das jetzt so. zum Wahn wurde, über allem zu stehen? waren, lässt sich mit ihm schwerlich debattie- Wenn ich diese Macht eine logische Sekunde Am Ende präsentierte Hartz 13 Maß- ren. Würde er, wissend, was danach passierte, lang hätte, um alles zu befehlen, dann würde nahmen, die er »Innovationsmodule« nannte. wieder die Kommission leiten, frage ich. ich das Problem der Arbeitslosigkeit lösen.« Sie trugen Namen wie Quick-Vermittlung, »Heute würde ich ...«, sagt er und bricht ab, Aber wir leben zum Glück in einem Bridge-System, Ich-AG und Personal-Service- »würde ich bestätigen, dass man sich unbe- Land, in dem nicht einfach einer die Macht Agentur. Heute wundert es, dass die Politik dingt einsetzen und einbringen muss. Aber hat, denke ich. Und ich sage: »Aber man muss

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doch Kompromisse machen, das ist der Kern von Demokratie.« – »Kompromisse zeigen immer die Unfähigkeit der Beteiligten, ein Problem mit der Hilfe von Fachleuten zu lösen«, sagt Hartz. »Es werden immer viel zu viele Kompromisse gemacht.« Inzwischen glaube ich Gerhard Schröder, wenn er sagt, dass Peter Hartz ein Idealist sei. Er ist ganz offensichtlich von der Idee getrieben, den Menschen Arbeit zu verschaffen. Aber ein lupenreiner Demokrat ist Peter Hartz nicht. Als er doch kurz über die VW-Affäre spricht, über das Vertrauen, das er dort in die Mitbestimmung der Arbeitnehmer gesetzt hat, tut er meinen Einwand ab, dass sich daraus ja ein korruptes System mit Sonderzahlungen und Sexreisen entwickelt habe: »Es hat in Einzelfällen nicht geklappt«, sagt er. »Es gab ein paar Dinge, die aus dem Ruder liefen.« Als finde er es lässlich, wenn im Namen der großen Idee Gesetze übertreten werden. Ist das der Punkt, an dem aus Idealismus Ideologie wird – wenn jemand so überzeugt von seinen Ideen ist, dass er es nicht ertragen kann, dass die Mehrheit diese ablehnt? Nach dem Gespräch wartet vor dem Haus im Industriegebiet eine VolkswagenLimousine. Ein Fahrer bringt Peter Hartz und mich zum Mittagessen in die Stadt. Es ist wie eine kurze Rückkehr in sein früheres Leben. Wir sitzen im Fond auf Ledersitzen, der Innenraum ist mit Holz verkleidet. Im Restaurant begrüßt uns der Chef persönlich. Man kennt Peter Hartz. Er war schon früher hier, als noch alles besser lief. Am Ende sitzen wir uns gegenüber und essen Carpaccio vom Rind mit Trüffelspänen. Es ist ein Moment, den ich als absurd empfinde. Seit fast sieben Jahren, seit der Einführung von Hartz IV, habe ich für etliche Fernsehreportagen Tage, Wochen, Monate mit den Menschen verbracht, die mit den Ideen des Peter Hartz leben. Menschen, die über 600 Bewerbungen geschrieben haben und die trotzdem keiner will. Menschen, die in Ein-Euro-Jobs Arbeit machen, für die es eigentlich einen festen Lohn geben sollte. Und Menschen, die sich aufgegeben haben. Von all denen, deren Leben seinen Namen trägt, erzähle ich Peter Hartz. Er besteht darauf, dass ich sie Alg-IIEmpfänger nenne, will, dass ich seinen Namen meide, wenn ich von den Armen rede, was ich verstehe. Was ich nicht begreife, ist die Leichtfertigkeit, mit der Hartz auch jetzt so tut, als wisse er genau, was die Probleme dieser Menschen lösen könnte. Sie alle sollten doch »Minipreneure« werden, sagt Hartz, und ich »A-Trainerin«. Das ist eine der Broschüren, die mir Peter Hartz zu Beginn unseres Treffens in die Hand gedrückt hatte: »Minipreneure« steht darauf und »Chancen für arbeitslose Frauen und Männer, die ihr Leben neu gestalten wollen«. Das neue Konzept des Peter Hartz sind Selbsthilfegruppen aus je 20 Arbeitslosen, die gemeinsam Geschäftsideen entwickeln. Einmal pro Woche solle sich die Gruppe mit einem Trainer treffen. »Die Seele des Konzeptes

ist der A-Trainer, am besten ein ehemaliger Arbeitsloser, der wieder einen Job hat.« Ein paar Pilotgruppen hätten sich schon zusammengefunden, sagte Hartz. Ob ich mir eine Gruppe anschauen könne, wollte ich wissen. »Nein«, sagte Hartz. »Es ist noch viel zu früh.« Mir bleiben also nur der Prospekt und seine Worte, um diesen neuerlichen Versuch, den Menschen Arbeit zu bringen, zu verstehen. In der Broschüre wird nicht an großen Versprechen gespart: »Ziel ist, das Modell auf alle erwerbsfähigen Arbeitslosen auszudehnen«, lese ich. Hartz will, dass die Arbeitslosengruppen ausschwärmen, um in ihren Dörfern und Städten nach Beschäftigung zu suchen: »Wir liefern den totalen Arbeitsmarkt«, sagt er und merkt nicht, wie mich diese Wortwahl zusammenzucken lässt. »Dieses Konzept ist so faszinierend«, sagt er. »Wenn Sie das jetzt bundesweit nehmen, kriegen Sie auch das Problem der Langzeitarbeitslosen in Deutschland gelöst.« Viel später, als ich noch einmal die Broschüre durchblättere, werde ich lange überlegen, ob ich diese Beharrlichkeit bewundernswert finde oder tragisch. Jetzt frage ich ihn nur: »Warum machen Sie das?« – »Ich muss ja das Problem noch lösen«, sagt er. »Es ist ja lösbar.« Ich denke daran, wie mir Hartz von seiner kranken Frau erzählte, davon, dass auch er Ärzte brauchte, um die letzten Jahre zu überstehen. »Warum können Sie nicht sagen, ich

gehe jetzt nach Hause, ich kümmere mich um meine kranke Frau, um mich und um meine Pferde und lass die Arbeitslosen in Ruhe?«, frage ich ihn. »Das wäre eine Alternative«, sagt er. »Aber das gelingt Ihnen nicht?« – »Man darf nie aufgeben«, sagt Peter Hartz. Nach dem Essen bringt er mich zu Fuß zur Saarbrücker Bahnhofstraße. Viele Menschen sitzen da herum. Alg-II-Empfänger, würde Peter Hartz sagen, Hartz-IVler, würden sie wohl sagen. Ich weiß nun, dass es bitter ist, wenn solch eine Reform den eigenen Namen trägt. Aber ich weiß auch, dass sich der Mann, der diese Ideen hatte, zumindest in den drei Stunden, die wir sprachen, nicht darum sorgte, ob es nicht ebenso bitter ist, mit dieser Reform zu leben. Vielleicht ist auch das eine Eigenart dieses Idealismus, der die Mauer zur Ideologie reißt, vielleicht ist es die zwangsläufige Folge, dass jemand, der glaubt, zu wissen, wie die Welt sein müsste, sich für diejenigen, die in dieser Welt leben, kaum mehr interessieren kann, dass sie ihm Objekte seiner Theorie sind, nicht Menschen, die wollen und wünschen dürfen, die ablehnen und zeitmagazin aufbegehren können. nr . 

Der Text ist dem Buch »Ideale – Auf der Suche nach dem, was zählt« der ZEITmagazinAutorin Julia Friedrichs entnommen, das am 12. Oktober bei Hoffmann und Campe erscheint

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Mit 37 im Schloss Bellevue: Bettina Wulff mit preußischer Herrscherfamilie im Nacken

Sie ist die jüngste First Lady, die Deutschland je hatte, und sie lebt in einer Patchworkfamilie. Aber am meisten geredet hat man bisher über ihr Tattoo

»Ich fände es traurig, wenn dies das Einzige bliebe, was man über mich sagt« Von TINA HILDEBRANDT und STEPHAN LEBERT Fotos HERLINDE KOELBL Frau Wulff, wir möchten über Wendepunkte sprechen, wie Sie wurden, was Sie sind. Wenn die 17-jährige Bettina die heute 37-jährige Bettina Wulff treffen würde: Wie würden sich die beiden verstehen? Gut, weil sie schnell mitbekommen würden, dass sie sich sehr ähnlich sind. Bei mir ist sicher einiges an Erfahrung dazugekommen, aber in den wesentlichen Eigenschaften und Vorstellungen habe ich mich nicht verändert. Es gibt also keine größeren Brüche? Ich finde es fast ein bisschen vermessen, mit 37 schon auf das eigene Leben zurückzublicken. Aber ich würde sagen, dass es bisher keinen richtigen inneren Bruch gegeben hat. Würde die 17-Jährige die Frau des Bundespräsidenten bewundern – oder würde sie denken: So möchte ich auf keinen Fall werden, die ist ja total eingeklemmt in bestimmte Rollen, total uncool? Ich hatte mit 17 einen extremen Freiheitsdrang, nicht in dem Sinn, dass ich gegen alles und jeden rebellieren musste, aber ich wollte unbedingt selbst entscheiden, was ich tue und was ich nicht tue. Insofern würde die 17-Jährige am Anfang sicher erschrecken und denken: Uh, das ist eine ganz schöne Verantwortung, die sie da so lebt. Und dann?

Dann würden wir reden, und am Ende, glaube ich, würde sie zu dem Ergebnis kommen, dass diese 37-Jährige schon auch noch Luft zum Atmen hat. Von außen sieht das formaler und eingetakteter aus, als es eigentlich ist. Was hatten Sie für Haare, ganz lange oder ganz kurze? Ich hatte kurze, hellblond gefärbte Haare. Auch mal rote oder grüne Haare gehabt? Ich hatte fast alle Farben des Regenbogens schon mal, wie mein Mann so nett sagt. Außer Lila und Blau. Das gehörte zu meiner Vorstellung von Freiheit: Ich entscheide, wie ich aussehe. Das war eine Art von Genugtuung, zu sehen, wie sich manche Lehrer morgens wieder über die neue Farbe entsetzten. Aber ich war auch immer eine gute Schülerin, sehr ehrgeizig. Ich wurde also immer für wilder gehalten, als ich war. Ihre Eltern ... Die waren da sehr lässig! Vor allem meine Mutter. Sie sah es so: Solange es in der Schule läuft, ist das andere dir überlassen, da bist du frei. Hätten Sie damals etwas mit einer wie Charlotte Roche anfangen können? Also, wenn sie neu in meine Klasse gekommen wäre und hätte sich neben mich gesetzt, ganz bestimmt, das wäre spannend geworden. Ich kann mir vorstellen, wir hätten uns gut verstanden. Und heute? Wie fanden Sie damals den Antrag von Charlotte Roche an Ihren Mann: Wenn er das Gesetz zur Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke nicht unterschreibe, gehe sie mit ihm ins Bett? Das fand ich amüsant, aber es war nichts, worüber man sich ernsthaft Gedanken macht. Zu ihren Büchern kann ich nichts sagen. Feuchtgebiete habe ich nicht gelesen, es hat

mich nicht interessiert. Und das neue wollte ich tatsächlich auf Norderney kaufen, während unseres Urlaubs. Aber nach Norderney war es irgendwie noch nicht vorgedrungen. Wir ergründen weiter Ihre Jugend: Was haben Sie für Bücher gelesen? Ich hatte eine philosophische Phase, das lag an einem sehr guten Philosophielehrer, der uns die alten Philosophen wie Seneca nähergebracht hat. Dann kam eine psychologische Phase, da habe ich viel über Transaktionsanalyse gelesen. Was ist das? Wie Menschen ihre Wirklichkeit erleben, dieses Erleben formulieren – und wie man das verändern kann durch bestimmte Methoden. Finde ich heute noch sehr spannend. Waren Sie ein Pferdemädchen? Überhaupt nicht. Was vor allem daran lag, dass ich zweimal ziemlich übel von einem Pferd runtergefallen bin. Das war’s dann. Sie haben Basketball im Verein gespielt. Gibt es im Schloss Bellevue einen Korb? Nein, aber bei uns zu Hause, vor der Garage. Und wir versuchen, alle zwei, drei Wochen in einer Halle mit den Sicherheitsbeamten zu spielen. Das macht großen Spaß. Wer ist besser, Sie oder Ihr Mann? Ich natürlich. Ich bin auch die Einzige, die gegen meinen Mann richtig verteidigt, die anderen halten sich zurück. Waren Sie in Ihrer Jugend politisch interessiert? Ich war seit der fünften Klasse immer Schulsprecherin, habe mich in der Kirche engagiert und bei der Schülerzeitung. Ich war politisch auch interessiert, aber wenn Sie mich nach meiner ersten Wahl fragen, habe ich keine große Erinnerung. Ich bin damals irgendwie

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mit dem Gefühl groß geworden, Helmut Kohl war und bleibt immer Bundeskanzler. Ihr Mann hat mal verraten, dass bei ihm als Jugendlicher ein Poster von Helmut Kohl hing. Bei mir nicht. Bei mir hing ein Poster von Terence Trent d’Arby, der war damals als Musiker sehr angesagt, und ich fand ihn richtig super. Würde mich interessieren, was aus dem geworden ist. Blenden wir ins Heute: Sie sind Schirmherrin verschiedener Stiftungen, die Kinder und Schwangere unterstützen, begleiten Ihren Mann bei Staatsbesuchen und -reisen. Wäre es eigentlich vorstellbar gewesen, dass Sie als Frau des Bundespräsidenten gesagt hätten, nein, ich gebe meinen Job nicht auf, nein, ich übernehme keine sozialen Engagements und auch keine Schirmherrschaft? Es steht nirgendwo geschrieben, dass ich nicht arbeiten darf. Und man könnte sicher sagen, ich mache nur die allernotwendigsten repräsentativen Termine, und ansonsten führe ich mein altes Leben. Aber in der Praxis wäre das kaum möglich. Vor allem aber wäre es äußerst unklug, diese Chance, die einem da geboten wird, nicht zu nutzen. Es würde dem Amt schaden, meinem Mann und mir selbst auch, wenn ich diese Rolle nicht annehmen würde. Bei Herrn Sauer, dem Mann von Angela Merkel, würde man sagen: Das kann man von einem so ernst zu nehmenden Wissenschaftler nicht erwarten. Das Amt des Bundespräsidenten unterscheidet sich von dem Amt der Bundeskanzlerin. Das eine ist das operative Geschäft, das andere hat eben viel mit Repräsentieren zu tun. Man vertritt Deutschland nach außen und nach innen, man versucht, einen eigenen Beitrag zum Zusammenhalt des Landes zu leisten. Hört sich vielleicht hochtrabend an, aber es ist so. Und dafür muss man sich engagieren. Wir beide haben uns das gut überlegt.

Eine solche Entscheidung muss man zu zweit treffen. Hätte ich von vornherein gesagt, ich gebe niemals meine Berufstätigkeit auf, dann wäre es wahrscheinlich schwierig geworden, dieses Amt überhaupt anzunehmen. Jetzt mal eine sehr praktische Frage: Wer bereitet einen auf all das vor? Als Sie neben der Frau des türkischen Ministerpräsidenten Gül standen, die ziemlich hohe Absätze trug, waren Sie gefühlte drei Meter größer, obwohl Sie flache Schuhe anhatten. Wer sagt einem, ob das in Ordnung ist? Wer sagt einem, was man mit der Frau des Emirs von Qatar beredet und was besser nicht? Wetter geht immer, oder? Natürlich gibt es vor jedem Zusammentreffen eine Vorbereitung. Man bekommt Informationen, man beschäftigt sich mit dem Land, mit dem Gegenüber. Aber letztlich ist meine Erfahrung, dass man über die kleinen Dinge ins Gespräch kommt, das kann tatsächlich das Wetter sein. Oder es sind die Kinder. Bei der Scheicha von Qatar haben wir sehr schnell festgestellt, dass wir uns beide um die frühkindliche Förderung kümmern. Das war ein sehr gutes Gespräch. Sprechen Sie da Englisch, oder ist ein Dolmetscher dabei? Ich spreche in solchen Fällen Englisch, aber wir haben immer auch einen Dolmetscher dabei, wenn es um den Feinschliff einer Formulierung geht. Sie stehen ständig unter Beobachtung. Über Ihre Kleidung wird viel geschrieben, natürlich über Ihr Tattoo. Psychologen machen sich öffentlich Gedanken, was es bedeuten könnte. Ärgert Sie so etwas, oder amüsiert es Sie? Es ist verrückt. Und ich muss schon sagen, darauf war ich null vorbereitet. Welche Kleiderfarbe ich wähle? Warum ich ein Tattoo trage? Über so was wird im Ernst diskutiert. Haben wir denn keine anderen Themen? Ich will mich nicht weiter damit beschäftigen, weil ich es wirklich für belanglos halte.

Bettina Wulff, 37, war Pressereferentin und alleinerziehend, als sie Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff kennenlernte, mit dem sie 2008 Sohn Linus bekam. Seit 2010 ist sie First Lady. Sie engagiert sich unter anderem für das Projekt »Eine Chance für Kinder« Jetzt müssen wir natürlich fragen: Wollen Sie uns sagen, wofür Ihr Tattoo steht? Das ist absolut meine Sache. Besteht in dieser belanglosen Diskussion nicht auch eine Chance: Vielleicht sagt man am Ende der Amtszeit Ihres Mannes, auf eine Art hat gerade Ihr Tattoo das Land etwas weitergebracht, weil Sie damit das Establishment dieses Landes etwas aufgelockert haben?

Ich fände es absolut traurig, wenn dies das Einzige bliebe, was man über mich sagt. Was sollte stattdessen da stehen, sagen wir mal, im Wikipedia-Eintrag? Ich fände es toll, wenn da stehen würde, sie hat sich für das Themengebiet Kinder, Jugendliche, frühkindliche Bildung engagiert. Ich habe mich entschieden, dieses Thema in den Vordergrund zu rücken. Ich möchte in Deutschland darauf aufmerksam machen, dass da vieles im Argen liegt, dass es eben keinesfalls so ist, dass alle Kinder in diesem Land die gleichen Chancen haben. Ich möchte auf diesem Gebiet etwas bewirken, durch meine Projekte, durch meine Schirmherrschaften. Dafür möchte ich auch gerne meine Bekanntheit nutzen. Und zum anderen möchte ich vermitteln, dass es viele tolle, engagierte Menschen in Deutschland gibt. Nicht immer zu zeigen, was in Deutschland nicht läuft, sondern auf gute, positive Beispiele aufmerksam zu machen. In Berlin fand vor Kurzem der sogenannte U-Bahn-Schläger-Prozess statt: Ein Jugendlicher schlägt auf brutalste Weise einen Passanten beinahe tot. Wenn Sie solche Bilder sehen, was geht Ihnen durch den Kopf? Neben meinem Entsetzen denke ich, wie wichtig es ist, ganz früh mit der Förderung von Kindern anzufangen. Im Grunde muss man schon bei den Eltern anfangen, wenn das Kind noch gar nicht geboren ist. Es gibt viele Eltern, die völlig überfordert sind mit ihrer Lebenssituation. Da müsste die Unterstützung ansetzen. Deshalb ist mir auch das Familien-Hebammen-Projekt in Berlin so wichtig. Die Hebammen treffen lange vor der Geburt auf die Eltern. Eltern müssen lernen, dass man auch etwas geben muss. Und dass sie Verantwortung haben. Es muss möglich sein, dass Eltern ihre Kinder rechtzeitig wecken, ihnen Frühstück zubereiten und sie mit einem Pausenbrot pünktlich in die Schule schicken. Frau Wulff, Sie leben in einer Patchworkfamilie, haben selbst zwei kleine Kinder. Wieder eine praktische Frage: Sie haben einen wichtigen Termin, einen Staatsbesuch – und dann wird Ihr Kind krank. Was ist dann? Wie geht das, Mutter zu sein und Frau des Bundespräsidenten? Ich habe deswegen schon Termine abgesagt, aber bisher waren es Termine im Inland. Wenn ich im Ausland war, war immer alles in Ordnung. Die Priorität liegt bei meinen Kindern. Wenn die Kinder krank werden, muss alles andere warten. Das muss dann irgendwie geregelt werden. Wer von Ihnen geht zum Elternabend? Ich war gestern erst beim ersten Elternabend von Leander, der in die dritte Klasse gekommen ist. Sie saßen auf diesen schrecklich unbequemen Schulstühlchen der Kinder, auf denen man dann sitzt ... Genau.

Ihren Mann kann man sich darauf auch nicht so gut vorstellen. Doch, doch. Mein Mann ging regelmäßig zu den Elternsprechtagen von Annalena. Das ist ihm sehr wichtig. Frau Wulff, bevor Sie Christian Wulff kennenlernten, waren Sie einige Zeit alleinerziehende Mutter, die auch gearbeitet hat. Findet sich davon etwas in Ihrer Arbeit als Frau des Bundespräsidenten wieder? Auf jeden Fall. Ich weiß, wie anstrengend das zeitweise war. Wie man manchmal an seine Grenzen kommt. Das vergisst man nicht. Ich weiß bei diesem Thema, wovon ich rede. Alleinerziehend ist übrigens kein präziser Begriff, was mein Leben anging. Ich war alleinlebend mit meinem Sohn. Der Vater meines Sohnes war immer sehr präsent, ist es bis heute. Wir haben ein sehr gutes Verhältnis. Ein Lob auf die Patchworkfamilie? Bei uns funktioniert es jedenfalls gut, aber man muss auch viel dafür tun. Stichwort Frauen und Karriere: Sie kommen in Ihrer neuen Rolle öfter in große Säle mit wichtigen Leuten, die vor allem eins sind: Männer. Denkt man da nicht manchmal ‒ wann lasst ihr endlich mal mehr Frauen in eure Welt? Ich sehe da zwischen den Männern auch ein paar Frauen sitzen. Meine Wahrnehmung ist, dass sie mehr werden. Und ich denke: Immerhin ist unser Regierungschef eine Frau. Das gibt es nicht in so vielen Ländern. Sind Sie für die Frauenquote? Das ist eine politische Frage, bei der ich mich zurückhalte. Lassen Sie es mich so sagen: Ich finde es wichtig, wenn mehr Frauen in Unternehmen und in der Politik Leitungsfunktionen übernehmen, gerade im Interesse der Unternehmen. Lassen Sie uns am Schluss eine kleine Fragerunde machen: Bier oder Wein? Wein. Zucker oder Süßstoff? Süßstoff. Mut oder Ehrlichkeit? Oho, beides. Das gilt nicht. Ehrlichkeit. Essen: thailändisch oder italienisch? Italienisch. Katze oder Hund? Katze. Wie gut, dass mein Mann nicht da ist, der würde gleich Hund rufen. Sean Connery oder Daniel Craig? Sean Connery. Garbo oder Monroe? Garbo. Nelke oder Rose? Rose. Wer würde denn da Nelke sagen? Alice Schwarzer oder Charlotte Roche? Das mag ich nicht beantworten. Über Frau Roche haben wir schon gesprochen. Alice Schwarzer hat große Verdienste für die Frauenbewegung. Und ich finde bis heute gut, dass sie sich immer wieder zu Wort meldet zeitmagazin und sich engagiert. nr . 

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PAOLO PELLEGRINS EXPEDITIONEN

Für mein Buch Storm war ich 2010 in Hongkong, dem New York Asiens, das mit seiner so beeindruckenden wie dramatisch wirkenden Skyline ein mächtiges Handelszentrum ist und eine der am dichtesten besiedelten Metropolen der Welt. Bis vor wenigen Jahren war Hong-

kong noch eine britische Kronkolonie, es wurde 1997 nach 156 Jahren Kolonialherrschaft an China zurückgegeben. Die Stadt teilt sich, grob gesagt, in zwei Hälften, im Norden das Finanz- und Geschäftszentrum, im Süden die Halbinsel Kowloon. Rund um die Uhr verkehren

Hongkong, vom Wasser aus betrachtet

Fähren zwischen beiden Teilen, und obwohl ich gar nicht lange dort war, bin ich auch ständig mit Fähren auf dem Südchinesischen Meer hin- und hergefahren, um die berühmte Skyline vom Wasser aus zu zeitmagazin fotografieren. nr . 

Paolo Pellegrin, 47, in Rom geboren, ist ein vielfach ausgezeichneter Magnum-Fotograf. Er erzählt jede Woche von dem Bild, das er sich von Mensch und Natur macht. Die Fotos sind in Deutschland zum ersten Mal zu sehen

Die britische Exzentrikerin Vivienne Westwood hat eine neue Kollektio

Westwood in Kibera, dem größten Slum von Nairobi: Hier lässt sie Accessoires herstellen 30

Es sieht gut

on entworfen, die gleichzeitig ein Entwicklungshilfeprojekt für Kenia ist

aus in Afrika

Fotos JUERGEN TELLER 31

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Westwood mag es bunt: Die Taschen werden aus alten Werbetafeln und Safarizelten gemacht

Die Designerin wurde dieses Jahr 70 – für sie kein Grund, sich unauffällig zu kleiden

Vor allem Frauen arbeiten an dem Projekt mit, sie sind am stärksten von Armut betroffen

Aus diesem Elektronikschrott werden Aluminiumapplikationen

Extreme Armut: Die Gemeinden erhoffen sich von der Zusammenarbeit mit der Designerin Hilfe 34

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Vivienne Westwood macht extreme Mode. Jetzt lässt sie in den Slums von Nairobi Taschen produzieren – gegen fairen Lohn. Juergen Teller hat für das Projekt fotografiert Von ELISABETH RAETHER Früher stattete die britische Modedesignerin Vivienne Westwood die Punkband Sex Pistols mit Sadomaso-Accessoires und verballhornten Schottenröcken aus, heute leistet sie Entwicklungshilfe und setzt sich für den Schutz der Umwelt ein. »No Future!«, dachte sie damals. »Save the Planet!«, sagt sie heute. »Das ist doch ein und dasselbe«, findet sie. »Ich habe schon immer gedacht, wir sind eine gefährdete Spezies. Wir müssen etwas tun, damit der Planet und die Menschheit überleben.« Was sie derzeit tut: Sie lässt eine Accessoire-Kollektion in Kenia von den Ärmsten der Armen herstellen, denen sie einen gerechten Lohn zahlt. Das Ethical Fashion Programme des Internationalen Handelszentrums, eines Organs der UN-Sonderorganisation WTO, der Welthandelsorganisation, will Produzenten in Entwicklungsländern am Welthandel beteiligen. Es sind vor allem die Frauen, die so ihr Leben und ihren gesellschaftlichen Status in der Gemeinde verbessern können. In Kenia ist der Großteil der Armen weiblich, archaische Sitten machen es den Frauen schwer. Im Sommer reiste Westwood mit dem Fotografen Juergen Teller, ihrem alten Freund, nach Nairobi, um die Produktionsstätten zu besuchen. »Wir hatten viel Spaß«, sagt Juergen Teller. »Wir waren Teil von etwas Gutem, nicht solche Fashion-Idioten.« Seine Bilder, die bei der Reise entstanden, wurden die Motive für die Anzeigenkampagne für Vivienne Westwood in dieser Saison. Sie zeigen ein Afrika ohne Giraffen, ohne Massai. Sie zeigen die Armut, das Prekäre des Kontinents und den Sinn für Schönes, den es dort trotzdem gibt. Westwoods Accessoires sind auch keine Holzketten oder anderes »Touristenzeug«, wie sie sagt. »Es ist richtiges Design. Sie machen dort aus Tierknochen Knöpfe und Perlen aus Papierabfällen.« Die Stofftaschen, die auf yoox.com zwischen 85 und 245 Euro kosten, sind aus recycelten Materialien, bedruckt, mit expressiven Applikationen versehen und fügen sich in die Westwood-Ästhetik, die das Improvisierte kultiviert. Vivienne Westwood hat das Handwerk des Designs nicht gelernt, sie war Grundschullehrerin, bis sie in den siebziger Jahren zur Mode fand. Für sie, die der Provinz entflohen war, sollte Kleidung nie hübsch aussehen, sondern ein Mittel der Provokation sein. Dieses Jahr wurde sie 70, ein Alter, in dem für eine Frau die Möglichkeiten zu provozieren schier unendlich sind. Einige Beispiele: ohne Unterhose zur Ordensverleihung bei der britischen Königin erscheinen, sich nackt fotografieren lassen, lange Haare und einen 25 Jahre jüngeren Mann haben (er heißt Andreas Kronthaler und hat bei ihr studiert). Eine Massai-Frau, die Westwood traf, überreichte ihr einen mit Perlen und Tierfell verzierten Stab, den nur die Männer der Massai tragen dürfen. »Die Frau sagte, ich sähe so aus«, erzählt Vivienne Westwood, »als hätte ich in meiner Welt dieselben zeitmagazin Rechte wie die Männer.« nr . 

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Fragen an den Altkanzler

Helmut Schmidt und Giovanni di Lorenzo im Büro des ZEIT-Herausgebers in Hamburg

Weil einige EU-Länder schlecht gewirtschaftet haben, sollen die anderen Mitgliedsstaaten helfen. Die lassen ihre eigene Bevölkerung zahlen, für deren Wohlergehen sie eigentlich zu sorgen haben. Die Menschen haben Angst um ihre Ersparnisse, Ökonomen warnen vor einer Weltrezession – und das alles, weil Griechenland, ein Land von der Wirtschaftskraft Hessens, vielleicht zahlungsunfähig wird.

Verstehen Sie das, Herr Schmidt? 38

Lieber Herr Schmidt, seit Monaten berichten die Medien unaufhörlich über die Turbulenzen auf den Finanzmärkten. Aber soviel die Leute auch lesen und hören, in einem Punkt werden sie nicht schlauer: Wäre die Pleite Griechenlands nun eigentlich ein Desaster für die Europäische Union oder nicht? Können Sie uns aufklären? Die ökonomische Bedeutung des griechischen Staates und seiner Volkswirtschaft kann man ermessen, wenn man sich klarmacht, dass das griechische Sozialprodukt etwa 2,5 Prozent des Sozialprodukts der Europäischen Union ausmacht ... ... das Land hat ungefähr die Wirtschaftskraft von Hessen. Wenn dieser Staat vorübergehend zahlungsunfähig würde, dann wäre das für die Griechen und für alle anderen Europäer ein großes Unglück, aber kein existenziell gefährdendes Unglück. Das gilt sowohl für die wirtschaftlichen als auch die politischen Folgen eines solchen Bankrotts. Die politischen Folgen würden möglicherweise noch schwerer wiegen, denn es könnte der Eindruck entstehen, dass es um die Solidarität unter den Europäern noch viel schlechter bestellt ist, als wir uns das in den letzten Jahren vorgestellt haben. Das Vertrauen in die Gemeinschaft der 27 Mitglieder würde weiter schwinden. Dieser politische Preis wäre zu hoch. Deshalb müssen die Staaten der Europäischen Union Griechenland helfen.

Europäische Finanzminister schließen den Vertrag über den Euro-Rettungsschirm Aber ist nicht der politische Preis für alle beteiligten Regierungen mindestens genauso hoch, wenn sie ihren Bürgern immer wieder erklären müssen, dass Griechenland ein Fass ohne Boden ist? Es gehört doch auch zu den vornehmsten Aufgaben von Politikern, Schaden vom eigenen Land abzuwenden! Die Griechen sind die älteste Kulturnation Europas. Heute benötigen sie einen durchgreifenden Gesundungsplan, der sich nicht nur auf finanzielle Hilfen beschränken darf. Diesen Plan gibt es noch nicht, er muss erst noch zusammengebaut werden. Im Übrigen halte ich die Abwägung zwischen nationalen Interessen und Unionsinteressen für irreführend; denn die Unionsinteressen sind zugleich nationale Interessen der Deutschen, ganz sicherlich ebenso nationale Interessen der

Franzosen, der Holländer, der Polen und vieler anderer europäischer Nationen. Aber was tun, wenn die Griechen ihre Hausaufgaben nicht machen? Die bisherigen Ermahnungen, Ratschläge und herablassenden Belehrungen seitens anderer Mitglieder der Europäischen Union haben in Griechenland eine Depression ausgelöst. Ich scheue mich deshalb, den Griechen vorzuwerfen, dass sie nicht ganz so viel gespart haben, wie alle anderen fordern. Denn die Sparerei ist eine der Ursachen für die Depression. Sicher ist jedenfalls, dass die Griechen, egal, wie es jetzt weitergeht, vor einer Reihe bitterer Jahre stehen. Kann man da nicht sagen: selber schuld? Wissen Sie, ich will das einmal mit der deutschen Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergleichen. Natürlich hätten die Amerikaner oder Franzosen damals sagen können: Die Deutschen haben selber Schuld, lass sie doch verkommen in ihrem Elend! Das haben sie aber nicht getan. Stattdessen haben die Amerikaner den Marshall-Plan erfunden, die Franzosen haben uns 1950 mit ihrem Schuman-Plan die Hand entgegengestreckt. Im Verhältnis zur damaligen Lage Deutschlands und zur Hilfsbereitschaft dieser Länder, die wenige Jahre zuvor noch unsere Kriegsfeinde gewesen waren, ist das gegenwärtige griechische Problem ein minores – und der Teufel soll die europäischen Regierungschefs holen, wenn sie es nicht fertigbrächten, Griechenland zu retten! Eine höhere Staatsverschuldung in Deutschland würden Sie dafür in Kauf nehmen? Ich bin nicht der Meinung, dass man Griechenland allein mit Zahlungen retten kann. Und übrigens: Bisher ist noch kein einziger Euro eines deutschen Steuerzahlers nach Griechenland überwiesen worden, das muss man auch mal deutlich sagen. Es wurden Bürgschaften zugesagt. Die ganze Aufregung bezieht sich auf die Zukunft. Bisher ist noch nichts gezahlt worden. Ja, es geht um Bürgschaften. Und die werden, wie alles Geld, im Laufe der Zeit etwas an Wert verlieren. Trotzdem bleibt doch eine ganz erhebliche Belastung. Ja, das stimmt. Aber erhebliche Belastungen hat es auch früher schon gegeben. Immerhin hat Deutschland noch im Jahre 2010 die letz-

ten Zahlungen aufgrund des Londoner Schuldenabkommens von 1952 geleistet. Und immerhin stammten die damaligen deutschen Schulden noch aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen! Was kein Mensch mehr weiß. Aber es ist so. Teilen Sie denn die Sorge vieler Ökonomen, dass die Staatsverschuldung unser Grundproblem ist – auch weil sie Spekulationen auslöst? Die Staatsverschuldung ist ein Problem unter mehreren. Aber ein viel dickeres Problem ist die uferlose Handlungsfreiheit auf den globalen Finanzmärkten. Spekulanten können ihre Hebel aber nur dann ansetzen, wenn ein Staat ihnen wegen seiner hohen Schulden eine Angriffsfläche bietet. Im Jahr 2008 musste Lehman Brothers Insolvenz anmelden. Damals ging es überhaupt nicht um Staatsverschuldung, sondern um eine große Zahl von Finanzinstituten, die reihenweise von ihren Staaten gerettet werden mussten. Auf den sogenannten Finanzmärkten tummeln sich intelligente, aber einäugige Idioten. Sie sind blind auf dem Auge, welches das Gemeinwohl im Blick haben sollte, und mit dem anderen Auge schielen sie auf ihre eigene Bonifikation. Sie haben kein Verantwortungsbewusstsein und gehören deshalb unter viel straffere Aufsicht. Dieser Meinung bin ich seit zweieinhalb Jahrzehnten.

DIE AUTOREN Ihre als Buch erschienenen Interviews »Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt« sind ein Bestseller. Der Gesprächsstoff geht Giovanni di Lorenzo und Helmut Schmidt nicht aus. In der Reihe »Verstehen Sie das, Herr Schmidt?« befragt der ZEIT-Chefredakteur den ZEIT-Herausgeber in loser Folge zur aktuellen Politik

Angestellte der Bank Lehman Brothers verlassen im September 2008 ihre Büros Eine strengere Beaufsichtigung der Finanzmärkte löst aber nicht das Problem der Staatsverschuldung. Das ist richtig. Aber strenge Regulierung löst das Problem der psychotischen Reaktionen

Fotos Sigrid Reinichs; Georges Gobet / Collection: AFP / Getty Images; Antonin Kratochvil / Corbis / VII

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auf den globalen Finanzmärkten, die aus zigtausend Devisen- und Wertpapierhändlern bestehen. Dabei wissen die Vorstände der Banken oft gar nicht, was ihre Händler gerade machen. Glauben Sie wirklich, dass man die Finanzmärkte zügeln kann? Man kann sie zügeln. Dazu gehört aber ein fester Wille, jedenfalls ein fester Wille derjenigen Regierungen, die sich zur gemeinsamen Euro-Währung zusammengeschlossen haben. Können Sie diesen Willen erkennen? Zurzeit leider nicht. Aber es ist nicht undenkbar, dass er entsteht. Und es wäre gut, wenn er entstünde. Viele Deutsche haben im Moment Angst um ihre Ersparnisse. Können Sie das nachvollziehen? Wenn es Deutsche gibt, die Angst haben, dann ist ihnen die Angst gemacht worden. Zum Beispiel durch dicke Überschriften im Spiegel oder in der Bild -Zeitung. Der deutsche Journalismus hat sich, leider Gottes, nicht verändert. Dabei wurde die Bankenkrise des Jahres 2008 noch sehr vernünftig zurückhaltend kommentiert. Aber das ist vorbei. Jetzt machen fast alle in Angst – selbst in der Süddeutschen Zeitung habe ich schon gelesen, dass wir es mit einer Euro-Krise zu tun hätten. Aber das stimmt nicht. Wir haben es mit einer Krise der europäischen Institutionen zu tun.

gibt es viele ausländische Gläubiger. Société Générale, Hypo Real Estate in München, das sind wohl die größten unter den betroffenen Gläubigern. In Italien dagegen sind es im Wesentlichen nationale Banken, das ist eine ganz andere Kanne Bier. Deswegen kann man die italienische Verschuldung nicht mit der griechischen vergleichen. Wobei man auch sagen muss, dass die italienische Regierung sicherlich nicht besser ist als die griechische. Den beiden Währungsreformen in den zwanziger und vierziger Jahren war jeweils ein Weltkrieg vorausgegangen. Ja, aber die Deutschen hätten auch dann eine Währungsreform gebraucht, wenn sie den Krieg gewonnen hätten. Man muss auch sagen, dass die zweite deutsche Währungsreform, die Einführung der D-Mark, nicht von Deutschen erfunden worden ist, sondern im Wesentlichen von Amerikanern. Sie hat sich als großer Glücksfall erwiesen, weil sie nämlich mit den Segnungen des Marshall-Plans zusammentraf. Ohne diesen Plan wäre die Währungsreform nicht so glücklich verlaufen, die Preise wären sofort wieder gestiegen. Weil aber gleichzeitig Bananen und Apfelsinen ins Land kamen und man für das neue Geld etwas kaufen konnte, das es vorher nicht gegeben hatte, wurde die Währungsreform schnell zum Erfolg. Für Griechenland wäre sie allerdings eine Katastrophe? Griechenland braucht keine Apfelsinen und keine Bananen, Griechenland braucht Investitionen! Es muss Unternehmer geben, die das Risiko auf sich nehmen, in dem Land zu investieren. Das werden sie nur tun, wenn es in Griechenland eine verlässliche Wirtschaftspolitik gibt. Wenn ich einen europäischen Marshall-Plan für Griechenland fordere, meine ich nicht Geld, sondern konkrete Projekte.

Das Bild von den Pleite-Griechen: Schlagzeile vom 26. April 2010 Sie halten die Angst vor einer Währungsreform also für ein Gespenst? Für absolut dummes Zeug. Sie haben ja, vom Euro mal abgesehen, zwei solche Reformen miterlebt: die Einführung der Rentenmark 1923 und die Einführung der D-Mark 1948. In beiden Fällen war aber eine sagenhafte Inflation vorausgegangen, und es gab eine uferlose Verschuldung des deutschen Staates. Das liegt heute beides nicht vor. Es ist nicht der deutsche Staat, der sich zu hoch verschuldet hat, nicht der französische und auch nicht die Europäische Union insgesamt, sondern es ist das relativ kleine Griechenland. Möglicherweise auch das noch kleinere Portugal. Das etwas größere Italien hat auch eine stolze Verschuldung. Man muss bei Schulden immer gucken, wer die Gläubiger sind. Im Falle Griechenlands

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Währungsunion im Juli 1990: DDR-Bürger mit den ersten D-Mark-Scheinen Hatten Sie ein emotionales Verhältnis zur D-Mark? Nein, insbesondere auch kein emotionales Verhältnis zur Deutschen Bundesbank. Es hat mir manchmal missfallen, dass sie ihre Verantwortung für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, anders als die amerikanische Zentralbank, relativ kleingeschrieben hat. Die Bundesbank fühlte sich meistens nur für die

Stabilität der Kaufkraft der D-Mark verantwortlich, nicht aber zum Beispiel für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Viele Bürger haben aber die D-Mark sehr geschätzt. Das galt für die Ossis. Die westdeutschen Bürger haben die Wertschätzung für ihre Währung eigentlich erst im Laufe der neunziger Jahre entdeckt. Vorher war die D-Mark nicht Gegenstand emotionaler Zuneigung, sondern sie war selbstverständlich. Erst als man den Menschen erzählte, der Euro sei ein Teuro, fingen sie an, darüber nachzudenken. Von da an liebten manche plötzlich die DMark. Viele Hausfrauen haben geglaubt, jetzt wird alles teurer. Und es stimmt sogar, dass damals eine Reihe von Lebensmitteln teurer geworden sind. Insgesamt aber war die Inflationsrate im Euro-Raum in den zehn Jahren seit seiner Einführung niedriger als die Inflationsrate in Deutschland in den letzten zehn Jahren der D-Mark. Die Hausfrauen hatten unrecht. Tatsächlich haben Jean-Claude Trichet und die Europäische Zentralbank den Euro nach innen und nach außen stabiler gehalten als die Amerikaner ihren Dollar oder die Chinesen ihren Yuan. Sie wirken so gelassen – EU-Ländern droht jedoch der Bankrott, und ernst zu nehmende Ökonomen warnen vor einer Weltrezession! Ja, es liegt nicht in meiner Natur, Angst zu haben. Glauben Sie, dass es zu einer Weltrezession kommt? Nein. Ich halte eine Weltrezession für möglich, aber ich halte sie auch für abwendbar. Wie könnte sie abgewendet werden? Zum Beispiel durch vernünftiges Handeln der Institutionen der Europäischen Union. Und durch eine Rückkehr der Republikanischen Partei der Vereinigten Staaten von Amerika zur ökonomischen Vernunft. Ich gehe davon aus, dass die Republikaner sich spätestens in zwei Jahren von ihrer gegenwärtigen Haltung abkehren werden. Und dann muss eine Weltrezession nicht eintreten. Es könnte übrigens dann nicht nur zu einer Weltrezession kommen, sondern sogar zu einer Weltdepression, wenn etwa einige Regierungen größerer Staaten größere Dummheiten begehen würden. Dergleichen würde ich nicht völlig ausschließen. Das ist auch nichts, worauf man sich freuen könnte. Das ist etwas, was man mit großer Besorgnis als entfernte Möglichkeit im Hinterkopf haben muss. Herr Schmidt, Sie haben mir einmal verraten, dass Sie einen ganz kleinen Teil Ihres Vermögens in Aktien angelegt haben. Haben Sie jetzt in der Krise verkauft? Nein, ich habe mich noch nie darum gekümmert, was gekauft oder verkauft wurde. Sie vertrauen also Ihrer Bank? Nur in Maßen. Aber ich vertraue dem Mann bei der Bank. Das ist ein wichtiger zeitmagazin Unterschied! nr . 

Fotos BILD; Ann-Christin Jansson / ullstein bild

Ich habe einen Traum

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Träume waren schon immer wichtig für mich. Als Jugendlicher war ich ein Außenseiter. Ich bin mit fünf eingeschult worden, war also immer etwas jünger als die anderen, außerdem war ich noch jahrelang für mein Alter relativ klein und schmächtig. Dass ich früh gespürt habe, dass ich schwul bin, hat alles nicht einfacher gemacht. Meine Tagträume gaben mir die Kraft, die Pubertät durchzustehen. Nach der Schule habe ich mich an meine Heimorgel gesetzt und mich mit der Musik aus der Welt geträumt. Ich war 24, als AnNa R. und ich Rosenstolz gründeten. Fast zwei Jahrzehnte lang ging es nach oben, alles wurde größer, die Hallen, die Plattenverkäufe – und der Druck. Ich versuchte zu funktionieren, redete mir ein, dass ich das schaffe, obwohl ich schon damals unter Panikattacken und depressiven Stimmungen litt. Ich bin ständig über meine Grenzen gegangen und habe mich um alles gekümmert, ich kontrollierte sogar die Toiletten in den Hallen, in denen wir auftraten. Ich habe mich in die Arbeit geflüchtet. Anfang 2009 haben mich die Begleiterscheinungen des Erfolgs krankgemacht. Ich habe auf der Bühne eine Panikattacke erlitten und mich danach wegen Burn-outs, das ich lieber chroni-

44, als Enkel eines deutschen Diplomaten in Neu-Delhi geboren, wurde 1991 mit dem Pop-Duo Rosenstolz bekannt. Im Jahr 2009 zog sich Plate, der an Burn-out litt, für zwei Jahre zurück. Kürzlich erschien das neue Rosenstolz-Album »Wir sind am Leben«

Peter Plate,

terung auf der Bühne stehen kann. Statt endlose Tourneen zu machen, möchte ich lieber einige wenige, kleinere Konzerte geben. Ohne dabei den Kontakt zu mir selbst zu verlieren. Seit meinem Zusammenbruch ist meine Wut verschwunden. Ich habe keine Ahnung, wieso. Vielleicht ist es im Moment einfach zu anstrengend, wütend zu sein, ich laufe eher auf Wohlfühltemperatur. Aber ich vermisse diese Wut sehr. Nicht weil ich mich gern echauffiere, sondern weil meine Wut immer ein Antrieb für mich war, beim Sport, bei der Arbeit. Sie hat mich vor vielem geschützt. Meine Wut konnte ich den Anforderungen, die auf mich einstürzten, entgegensetzen. Mit ihr erschien mir alles weniger bedrohlich. Ich wünsche mir also auch meine Wut zurück.

Aufgezeichnet von Jörg Böckem Foto Stefan Heinrichs Zu hören unter www.zeit.de/audio

sche Erschöpfung nenne, zurückgezogen. Die Zeit nach dem Zusammenbruch war sehr schwierig für mich. Mehr als ein Jahr lang überfiel mich jeden Morgen das Gefühl: »Mein Leben ist beschissen.« Ich hatte keine Kraft mehr, habe nur noch geweint. Inzwischen geht es mir besser, ich lerne, mit meinem Leben und meiner Arbeit anders umzugehen. Aber da ist immer noch eine tiefe Traurigkeit. Ich versuche, ihr anders zu begegnen, zu akzeptieren, dass sie ein Teil von mir ist. Manchmal gelingt mir das. In anderen Momenten sehne ich mich danach, wieder so perfekt funktionieren zu können wie früher. Aber das war und ist eine Illusion. Das hat mich mein Zusammenbruch gelehrt. Die Angst ist noch nicht ganz verschwunden. Die Angst vor der Angst: davor, dass sich diese schreckliche Erfahrung wiederholen könnte. Die Vorstellung, mein Gesicht auf einem Konzertplakat zu sehen, mit einem Datum daneben, überfordert mich noch. Gleichzeitig vermisse ich die Auftritte. Trotz meines Lampenfiebers bin ich eine Rampensau, ich genieße es, auf der Bühne zu stehen. Ich träume also davon, dass die Angst kleiner wird und schließlich verschwindet. Dass ich irgendwann wieder mit Begeis-

Peter Plate »Ich vermisse meine Wut«

Der Stil

Gib Holz, Baby: Clogs von Anthropologie, 485 Euro 44

Foto Peter Langer

Klappern, was das Holz hält Tillmann Prüfer über Clogs Der Holzschuh war einmal das unkleidsamste aller Kleidungsstücke. Im späten Mittelalter scheuerte der starre, aus einem Block gehauene Treter am Fuß und klapperte noch dazu bei jedem Schritt laut auf dem Kopfsteinpflaster. Eigentlich gab nur einen einzigen Grund, Holzschuhe zu tragen: Barfuß zu gehen war noch unangenehmer. Denn damals, als die Straßen voller Abfälle und Fäkalien waren, tat man gut daran, sich möglichst hoch über dem Boden zu bewegen. Aus diesem Grund wurden die sogenannten Trippen erfunden – hölzerne Unterschuhe, die man sich unter die normalen Schuhe schnallte, um wie auf Bauklötzen über den Boden zu stelzen. Holz war das Material der niederen Stände — es war im Überfluss vorhanden, und es schützte die Füße bei den harten unangenehmen Arbeiten, die man eben erledigen musste, wenn man nicht viel besaß. Einen Schuh aus Leder hingegen musste man sich erst einmal leisten können. Es spricht für gesellschaftlichen Wohlstand, wenn etwas, das man einmal mit Armut und Elend assoziierte, in Mode kommt. Heute sind Schuhe mit hölzernen Sohlen wieder sehr beliebt. Es gibt sie bei der populären Modekette Anthropologie und auch bei Chanel. Anders als früher wirken Frauen mit Clogs jetzt extrem unangestrengt. Das Hölzerne, das sich einmal wie Blei an die Füße hängte, verleiht ihnen nun eine Art von Leichtigkeit. Weder stecken sie ihre Füße in moderne Folterwerkzeuge, noch erheben sie sich gezwungenermaßen über den Boden. Dazu lässt das klobige Schuhwerk den Fuß sogar zierlicher erscheinen. Und das einstmals störende Klappern sorgt heute für einen großen Auftritt. Bauklotzschuhe kommen nicht das erste Mal in Mode. Clogs erlebten in den 1970ern und frühen 1980ern einen Boom als Arbeitsschuhe. Heute sind sie eher Accessoires. Wobei Clogs in einer bestimmten Abwandlung auch heute noch als Arbeitsschuh beliebt sind – in Form der Crocs. Diese sind zwar nicht schön, aber aus Krankenhausfluren und Großküchen nicht mehr wegzudenken. Crocs sind bequem und haben den Vorteil, nicht zu klappern. Schließlich sind sie aus Weichgummi. In gewisser Weise hat also Weichgummi das Holz als Material der unteren Schichten abgelöst.

Alles wieder offen Christine Meffert fährt den Audi TT RS Roadster Berlin, Neukölln, ein Sommerabend. Eine Ecke, die langsam teuer wird, aber auf keinen Fall so aussehen will. Die Freundin wartet vor ihrer Haustür. »Nicht dein Ernst!« »Wie?« »Was ist das denn?« Es ist ein Cabrio, ziemlich klasse, wie ich finde, schnell, teuer und sieht auch so aus. Am meisten mag ich das Dach, das man zack, zack ein- und ausfahren kann. »Wir können doch laufen, ist nicht weit.« »Bitte?« »Christine, das ist echt peinlich!« Mir war schon manches peinlich, ein Auto war noch nicht dabei. Peinlich ist einem nur, womit man sich identifiziert. Das fiel mir bei Autos immer schwer. Ich finde, wenn man schon anfängt, sich mit Fahrzeugen zu identifizieren, ein perfektes, wunderbar schönes oder auch wunderbar dezentes Auto viel peinlicher. Man spürt immer den Gedankenaufwand dahinter. So ein unverstelltes Angeberauto dagegen, das hat was. Die Freundin sieht das anders. Sie will nicht einsteigen. Dieser Wagen passt hier nicht her. Die Einzigen, die so was hier fahren, sind Türken oder Libanesen, Leute, die oft noch ein ungebrochenes Verhältnis zum Angeben haben. Aber keine Deutschen, schon gar keine Frauen.

Foto Audi AG / Gestaltung Thorsten Klapsch

»Mach wenigstens das Verdeck hoch!« »Nee, nee, nee. Perfektes Wetter zum Offenfahren. Los, komm!« Sie macht sich ganz klein auf ihrem Sitz. Ich drehe die Anlage auf. Das wird jetzt echt hart für sie. In der Straße ist Schrittgeschwindigkeit vorgeschrieben, was ihr die Sache nicht leichter macht. »Guck mal, wie die alle gucken! Mach wenigstens diese Scheißmusik aus!« Der Sender heißt Kiss FM und passt einfach extrem gut jetzt. Ist das blöd von mir? Nein, denke ich, im Gegenteil. Es ist eine Chance für sie. Ein Freund von mir hatte mal eine tolle Idee. Wir machen, sagte er, einmal im Monat etwas, das wir total peinlich finden. Öffentlich singen und Geld dafür nehmen, Menschen unsere Liebe gestehen, deren Blick wir sonst schüchtern meiden, solche Sachen. Es wird uns freier machen, sagte er. Es werden ganz erstaunliche Dinge geschehen, sagte er. Irgendwie kam es nie dazu.

Christine Meffert ist Textchefin des ZEITmagazins Technische Daten Motorbauart: 5-Zylinder-Benzinmotor Leistung: 250 kW (340 PS) Beschleunigung (0–100 km/h): 4,6 s Höchstgeschwindigkeit: 250 km/h CO2-Emission: 212 g/km Durchschnittsverbrauch: 9,1 Liter Basispreis: 59 600 Euro 45

Wochenmarkt

Jetzt ZWIEBELN einmachen

Die edelsten werden einbalsamiert, dann halten sich die Zwiebeln eine kleine Ewigkeit Von ELISABETH RAETHER Es ist der Bodenseehalbinsel Höri, Heimat der Gourmetzwiebel Höri-Bülle, ein Stachel im Herzen, dass ihre berühmtesten Söhne in der Idylle nicht glücklich wurden. Otto Dix lebte hier seit 1936 in der inneren Emigration, Hermann Hesse litt unter der schlechten Laune seiner Frau (die daher rührte, dass Hesse die Reformidee mit der Selbstversorgung und dem Gemüsegarten vor allem in der Theorie gut fand und seiner Frau die Praxis, sprich die Gartenarbeit, überließ). Dabei lesen die Leute in der Zeitung sowieso lieber die Kochrezepte als das Feuilleton – also was kümmern uns Dix und Hesse, wenn es die umwerfend aromatische, mild-scharfe Höri-Bülle gibt? Sie wurde gerade auf der Höri bei strahlender Sonne mit sanfter Hand geerntet (die Bülle ist sehr druckempfindlich). Sehr gut schmeckt sie roh, zu Käse und Schinken, oder zu einem fruchtigen Essig. Markus Bruderhofer, der einen Delikates-

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senladen auf der Höri und im Internet hat, legt die Zwiebeln in Balsamessig ein. Wir wollen die kleine Insel nicht unnötig kränken, aber mit einer der anderen milden Zwiebelsorten, die derzeit geerntet werden, schmeckt das Rezept auch.

Höri-Bülle in Balsamessig 1 kg Höri-Bülle 700 ml Wasser 50 g Steinsalz 250 ml Balsamessig, etwa Apfel-Quitten-Balsamessig 20 g Honig 70 g Rohrohrzucker 3–4 Zweige frischer Thymian Lorbeerblätter Pfefferkörner Wacholderbeeren Senfkörner Die Zwiebeln schälen (dabei eventuell einen der zahlreichen Tricks anwenden, die das Tränen verhindern sollen, oder einfach losheu-

len). Wasser mit Salz aufkochen, Essig, Honig und Zucker dazugeben und mischen. Thymian waschen und die Zweige mit den Gewürzen in Einmachgläser geben. Zwiebeln in die Gläser füllen und mit dem Sud begießen. Die geschlossenen Gläser werden im Einkochtopf auf 80 Grad erhitzt, diese Temperatur muss dann 10 Minuten lang gehalten werden. Wenn man keinen Einkochtopf hat, kann man die Zwiebeln auch im Backofen einkochen. Dafür die Gläser, die alle gleich groß sein sollten, in die mit Wasser gefüllte Fettpfanne stellen, wobei sie sich nicht berühren sollten. Die Fettpfanne auf die unterste Schiene des Backofens stellen. Um Temperatur und Einkochzeit zu bestimmen, sollte man seinen Ofen ein bisschen kennen. Richtwerte: bei 150 bis 170 Grad, bis Luftbläschen im Glas aufsteigen, das dauert zwischen 70 und 80 Minuten. Dann den Ofen auf 120 Grad zurückschalten und weitere 90 Minuten einkochen. Ofen abschalten, die Zwiebeln bei geschlossener Tür noch etwa 30 Minuten nachgaren lassen.

Fotos Walter Pfisterer

Die großen Fragen der Liebe Nr. 161 Soll er in ihre Firma einsteigen? Eve und Jan haben sich als Rucksackreisende in Bali kennen gelernt; was anfangs nur ein Urlaubsflirt war, wurde eine Ehe mit zwei Töchtern. Das ist jetzt 18 Jahre her, und seitdem die Mädchen im Gymnasium sind, führt Eve einen Laden für indonesisches Kunsthandwerk. Es zeigt sich, dass sie die geborene Verkäuferin ist. Sie ist die einzige Angestellte, der Laden brummt. Eines Tages kommt Jan bleich aus der Firma, in der er als Projektleiter arbeitet. »Meine Abteilung wird geschlossen. Sie haben mir eine Abfindung angeboten. Ich würde am liebsten bei dir einsteigen, du jammerst doch manchmal, dass dir dein Laden über den Kopf wächst!« Eve erschrickt. Jan reagiert sauer: »Freust du dich denn nicht?«

Wolfgang Schmidbauer antwortet: Eve sollte Nein sagen. Ihr Laden ist zu klein für zwei Geschäftsführer; als Aushilfsverkäufer und Buchhalter ist Jan überqualifiziert. Außerdem: Wenn sich der geschasste Projektleiter für Eves Firma selbst qualifiziert und gleich pikiert reagiert, wenn sie zögert, verrät das zu wenig Respekt vor ihrer Aufbauarbeit und zu wenig Einfühlung in die Zumutung, die darin liegt, von Eve zu verlangen, ihre Firma mit ihm zu teilen. Das klingt abweisend, ist aber auch in Jans Interesse. Er sollte sich die enttäuschten Blicke von Kundinnen ersparen, die sagen: »Eigentlich würde ich mich lieber von Ihrer Frau bedienen lassen, sie kennt meinen Geschmack, ich komme wieder, wenn sie da ist!«

Wolfgang Schmidbauer ist einer der bekanntesten deutschen Paartherapeuten. Sein aktuelles Buch »Das kalte Herz. Von der Macht des Geldes und dem Verlust der Gefühle« ist im Murmann Verlag erschienen

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Spiele Logelei

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Minihattan besteht aus 25 Hochhäusern, die in einem 5 x 5-Quadrat angeordnet sind. Es gibt genau 5 unterschiedliche Hochhaushöhen in Minihattan. Damit das Stadtbild abwechslungsreicher wird, durfte in jeder Zeile und jeder Spalte jede der 5 Höhen nur genau einmal gebaut werden. Imke ist zu Besuch in Minihattan und hat am Rand ihres Stadtplans an einigen Stellen notiert, wie viele Hochhäuser man in der entsprechenden Zeile oder Spalte aus dieser Richtung sehen kann, wenn man nur genügend weit vom Stadtkern weggeht. Können Sie die Höhen der einzelnen Hochhäuser rekonstruieren?

Lösung aus Nr. 40 Don, Erna und Gabi sind Wahrsager, Hans, Ina und Lena sind Falschsager, Alex, Carl und Jan sind Abwechsler, und Bob, Fred und Ko sind Dummschwätzer

Sudoku

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WAAGERECHT: 7 Beim Wecker leichter als beim Fehler, beim Auto oft mühsamer als beim Motor 11 Mögen – Worte verhindernd – belegen, dass Liebe nicht nur ein Wort ist 15 Ausreißers Beute, wo man sich in die Haare gerät 17 Sprichwörtlich: Lesen und nicht … ist halbes Müßiggehen 19 Pokerspieler wird’s können, will’s schließlich auch 20 So zu sein fand nicht nur Goethe gut und hilfreich 21 Manöver der Wörterseetüchtigen: korrekt von Zeit zu Zeit und von Fall zu Fall 22 Nicht recht passend, wenn ihr Spielleiter Probenpause mit Weiter-im-Text-Ruf beendet 25 Der: selten noch zu fischen, die: elbewärts unterwegs 26 Die schönste Sache der Welt, wenn es mehr Kür und weniger Pflicht gäbe (Jeanne Moreau) 28 Solidere Umverpackung für 30 senkrecht und 44 waagerecht 30 Einer macht die Nahe breiter, eine die Gurk stärker 32 Eine von Hellas’ Antworten in Schriftdetailfragen 33 In Schülers Mappe, nur teils von Pappe 34 Ob Mein-lieber-Sohn-Arie von vornherein ein solches in Taminos Sang vorbeugen sollte? 37 Weiblicher Abschnitt vom Rennstreckenschlussstrich 39 Ist im Grunde genommen die Kunst, Außergewöhnliches an gewöhnlichen Menschen zu entdecken und darüber mit gewöhnlichen Worten Außergewöhnliches zu sagen (Pasternak) 41 Einen Clift kennt man, der hieß wie seine Kapitale 43 Wachsam, der Kläufer wegen? Können keine Kaufregung erzeugen! 44 Ein schönes Zitat ist ein … am Finger des Mannes von Geist und ein Stein in der Hand des Toren (Sprichwort) 45 So was wie 1 senkrecht im 17 waagerecht 46 Verpackte viel Komik in Lyrik in Schnupftabaksdose

SENKRECHT: 1 Elfer, oft Zum-Gewinn-Verhelfer 2 Ohne Scheu: Lebkuchenbudenzauber macht, dass manch Besucher so vom Markt kommt 3 Wo die für einen, sei einer auch mal für die 4 Jene, die mit der kapitalen Wurst nach der kapitaleren Speckseite werfen 5 Dem Abi verpasst, stiftet G 8-Hast 6 Wird im Hinblick auf den letzten Streich sowohl für Max als auch für Moritz gerufen 7 Bewirkt Unmut bei Zahlemann oder Reaktion beim Gegenspieler 8 Sprichwörtlich: Denke …, fühle stolz! 9 Ihr macht Leonce Avancen, so hat’s Büchner erdacht 10 Ihr angeblich größtes Glück kann nur gedeihen, wo’s nicht nur einen Pferdefuß gibt 11 Ein solcher war’s, der besiegten Römern sein 6 senkrecht zurief 12 Eine Schalterstellung wie »umpolresistent« 13 Was spendet noch immer die Hand des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland? 14 Nervigste Zutat in Quälgeists Erfolgsrezept 16 Lahnanrainer zu Olims Zeiten, Unterhaltsames in Realtime 18 Beim Lesen guter Bücher wächst die … empor (Voltaire) 23 Weniger Sorge des Plakatverteilers als des Lehrers: dass nichts … bleibt 24 Jenem Thomas zu eigen, der goldene Stimmgabel ausheckte wie auch jenem, der sich erkuhnt, älteres Musikgold neu zu prägen 27 Steht beim Lenz vorm Museum 29 Oft ist’s die Stirn vorm Grüblerhirn 30 Wenn es … regnete, die Leute würden auch müde werden, es zu sammeln (Sprichwort) 31 Der Berg kreißte, und ein Wozzeck ward geboren 35 Wer Traute das JaWort redet, ist 2 senkrecht oder eben so 36 Anderer Geranien Bewunderer führen’s mit im Munde, Amastres Liebhaber singt es 38 Geistern immer mal wieder durch Spuckgeschichten 40 Olympiervaters Mutter 42 In Nizzas Cuisine: zum Lippenlecken und zum Naserümpfen

Lösung aus Nr. 2087 WAAGERECHT: 7 HOCHRHEIN mit Rheinfall 10 SALINEN 13 ZERRBILD 16 BOESEWICHT 18 Säger-Ei und SAEGEREI 19 STICHE der Nadel und im Skat 20 IRIS = Schwertlilie 21 TRIO 23 Drahtseilbahn: DRAEHTE 25 TRE = drei (ital.) 26 SCHOENHEIT 27 »Geh weg!« und GEHWEG 29 »Der Rest ist SCHWEIGEN« (»Hamlet«) und »schweigende Mehrheit« 32 SORGE 34 REEP 36 TARZAN 37 Kurier und KURIE 38 KALB 39 FEIGE 40 KNOEDEL 42 BECKEN 43 GENESEN 44 ANLOCKEN und an Locken – SENKRECHT: 1 VORSICHTIG 2 URIG 3 BEDROHEN 4 »KASSE machen« = Papiere zu Geld machen 5 KIWI 6 RECHTE, Jura, die Richtige, die rechte Hand 7 HERRSCHER 8 CRASH = Unfall 9 NOIR = schwarz (franz.) 10 SENATOREN 11 LETHE 12 nice = schön (engl.) und NICE = Nizza (franz.) 14 BETOEREN 15 LEIN 16 BEDENKEN 17 hinnehmen vs. HERGEBEN 22 Pilz REIZKER 24 THEKE 27 GRILL 28 WRACKS 30 WAGEN 31 GANS 32 SUDAN 33 GEBOT 35 ELKE aus Klee 41 OEL

Kreuzworträtsel Eckstein

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Spiele Schach

Lebensgeschichte

8 7 6 5 4 3 2 1 a

b

c

d

e

f

g

h

Ich ging ins Bamberger Clavius-Gymnasium. Das ist die Schule, von der es 1933 zum 100-jährigen Bestehen im Bamberger Volksblatt hieß: »Die Rosen blühen! Der Himmel lacht! / Seid gegrüßt in Bambergs Sommerpracht! / Wir schlingen das weiß-grüne Band um die Brust. / O selige, herrliche Burschenlust!« Selbstredend durfte auch noch Jahrzehnte später kein Mädchen diese Burschenlust trüben, Ordnung und Sitte wurden hochgehalten: »Sollte ein Schüler sich an diesem Orte eine Handlung erlauben, welche Störung und Ärgerniß giebt, zum Beispiel ungebührliches Umhersehen, unanständige Stellungen und Geberden, unartiges Geschrei, geflissentliches Vor- oder Zurückeilen im Singen, Schwätzen, Traben mit Eisen beschlagenen Stiefeln ..., so wird er das erste Mal mit einem Verweise, das zweite Mal mit Arreststrafe und bei solchen Exzessen, welche auf eine völlige Gleichgültigkeit für Religion schließen lassen, mit Entfernung von der Anstalt bestraft« (Disziplinarvorschrift von 1838). Gott sei Dank brachte ich es nur zur Entlassungsandrohung und Direktoratsarrest. Doch in Stunden tiefer Betrübnis ist das Rettende manchmal nah, damals in Gestalt des Oberstudienrats Anton Mägerlein, der gern Schach spielte und, als er mich zerknirscht vor einer stumpfsinnigen Strafarbeit im Direktorat sitzen sah, mich stattdessen mit der Lösung von Schachproblemen erlöste. Welcher mutige weiße Schlüsselzug lässt in diesem Dreizüger von E. B.Cook (1856) den schwarzen König spätestens im dritten Zug den Erstickungstod sterben?

Lösung aus Nr. 40

»Inhalt geschmiert, den 22. April, 13 Jahre alt; Schand über alle Schande«, schrieb das spätere Tugendvorbild in sein von Fehlern wimmelndes Aufsatzheft. Statt geistiger Ergüsse kritzelte sie lieber Modekarikaturen und freche Zeichnungen hinein. »Wenn ich in der Kindheit fleißiger gewesen wäre, wäre ich vielleicht imstande, Ihnen fehlerlos die Gefühle meines Herzens auszusprechen«, schrieb sie ihrem Verlobten vier Jahre später. Dafür konnte sie malen und musizieren, außerdem sprudelte sie vor übermütigen Einfällen und Streichen. Die humorvolle Großmutter, bei der sie nach dem Tod der Mutter aufwuchs, ließ ihr und ihrer Schwester große Freiheiten. Und so waren die Mädchen bald außer für ihre Schönheit berühmt für ihren Charme und ihre Natürlichkeit. Der zukünftige Schwiegervater war außer sich »vor Begeisterung über die beiden Engel« und wünschte sich eine Verbindung mit seinen Söhnen. Tunlichst war sie fünf Tage nach der ersten Begegnung verlobt, und mit einem Wirbel an Lustbarkeiten wurde Doppelhochzeit gefeiert. Ihren recht sturköpfigen Mann riss sie mit ihrer Lebendigkeit und Vergnügungssucht vorübergehend aus seiner Ungeselligkeit, eckte aber unbekümmert allenthalben an. Nun forderte der Schwiegervater, der Gatte solle sich bei ihr »Gehorsam verschaffen«. Außerdem schränkten ständige Schwangerschaften ihre Tanzwut ein. »Ich lebe zum Vergnügen meines Mannes«, schrieb sie und suchte bescheiden das Glück in der »frischen Luft« und dem einfachen Leben im Kreis ihrer wachsenden Familie. Ihre Kinder sollten zu »wohlwollenden Menschenfreunden« heranwachsen. Auch wenn sie versuchte, durch Lektüre und Gespräche Bildung nachzuholen, Menschlichkeit ging ihr über alles. Nie würde sie den Verstand über das Gefühl stellen, eher alle Bücher in den Fluss werfen! Dass sie diese Tugenden bei aller Koketterie, Flirtlust und Putzsucht selbst vorlebte, dafür wurde sie geliebt und verehrt. Als ihre Welt durch einen Krieg, für den sie selbst sich eingesetzt hatte, zerstört wurde, titulierte sie den Gegner daher als »Menschenfeind«. Diesem »Unmenschen« sollte sie gegenübertreten, um an seinen Großmut zu appellieren! Ihr Charme und ihre Schönheit, die doch immer gewirkt hatten, wurden nun als politische Waffe eingesetzt. Aber ihre Intervention, ein »Seelenerguss gegen ein Herz aus Bronze«, war vergebens. Flucht und Exil verliehen ihr die Aura einer Märtyrerin. Kurz darauf starb sie, angeblich an »gebrochenem Herzen«, tatsächlich aber an einer Lungeninfektion. So wurde nicht mehr bekannt, dass die Erkenntnis der Vergeblichkeit ihres »Seelenergusses« sie politisiert hatte. Wie würde die Nachwelt sie sehen, hätte sie länger gelebt und ihre resolute Denkschrift für politische Reformen beendet? So aber rühmte anlässlich ihres 100. Geburtstags ein Historiker ergriffen: »Es ist der Prüfstein ihrer Frauenhoheit, dass sich so wenig sagen lässt von Taten.« Wer war’s?

Lösung aus Nr. 40

Nach welchem weißen Schlag war Schwarz schnell verloren? Nach dem Qualitätsopfer 1.Txe7! Txe7 2.Sf6+ gab Schwarz schon wegen 2...Kf8 (auch 2...Kh8 ist hoffnungslos) 3.Dc8+ Te8 4.Dxc5+ Te7 5.Dc8+ Te8 6.Lb4+ Dxb4 7.Dxe8 matt auf

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Pedro Almodóvar (*24. 9. 1949) stammt aus dem mittelspanischen Städtchen Calzada de Calatrava, besuchte eine Klosterschule und ging mit 17 nach Madrid. Nach etlichen Kurzfilmen gelangte 1980 sein erster Spielfilm »Pepe, Luci, Bom y otras chicas del montón« in die Kinos. Seinen internationalen Durchbruch erlebt er 1986 mit »Matador«. Der homosexuelle Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler gilt als wichtigster Regisseur der Gegenwart und als Bewunderer der Frauen. Zu seinen Meisterwerken zählen »Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs« (1988), »Alles über meine Mutter« (2000), die beide einen Oscar erhielten, »Sprich mit ihr« (2003) und zuletzt »Zerrissene Umarmungen«

Schach Helmut Pfleger Lebensgeschichte Wolfgang Müller

1 4

1 1

Scrabble

Impressum Chefredakteur Christoph Amend Stellvertr. Chefredakteurin Tanja Stelzer Art Director Katja Kollmann Creative Director Mirko Borsche Berater Matthias Kalle, Andreas Wellnitz (Bild) Textchefin Christine Meffert Redaktion Jörg Burger, Wolfgang Büscher, Heike Faller, Ilka Piepgras, Tillmann Prüfer (Style Director), Jürgen von Rutenberg, Matthias Stolz Fotoredaktion Michael Biedowicz (verantwortlich) Gestaltung Nina Bengtson, Jasmin Müller-Stoy Mitarbeit Markus Ebner (Paris), Mirko Merkel (Gestaltung), Gianna Pfeifer (Gestaltung), Elisabeth Raether, Annabel Wahba, Philipp Wurm Autoren Marian Blasberg, Carolin Emcke, Herlinde Koelbl, Louis Lewitan, Harald Martenstein, Paolo Pellegrin, Wolfram Siebeck, Jana Simon, Juergen Teller, Moritz von Uslar, Günter Wallraff, Roger Willemsen Produktionsassistenz Margit Stoffels Korrektorat Mechthild Warmbier (verantwortlich) Dokumentation Mirjam Zimmer (verantwortlich) Herstellung Wolfgang Wagener (verantwortlich), Oliver Nagel, Frank Siemienski Druck Prinovis Ahrensburg GmbH Repro Twentyfour Seven Creative Media Services GmbH Anzeigen DIE ZEIT, Matthias Weidling (Gesamtanzeigenleitung), Nathalie Senden Empfehlungsanzeigen iq media marketing, Axel Kuhlmann, Michael Zehentmeier Anzeigenpreise ZEITmagazin, Preisliste Nr. 5 vom 1. 1. 2011 Anschrift Verlag Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg; Tel.: 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11; E-Mail: [email protected] Anschrift Redaktion ZEITmagazin, Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin; Tel.: 030/59 00 48-7, Fax: 030/59 00 00 39; www.zeitmagazin.de, www.facebook.com/ZEITmagazin, E-Mail: [email protected] 16 22

Heute beginnt die angekündigte Partie, die sich über die nächsten Wochen erstrecken wird. Weitergespielt wird immer mit dem besten Zug, den ich finde. Das geht leider nicht anders, weil das ZEITmagazin mit einem gewissen Vorlauf produziert wird. Ich kann ergo nicht rechtzeitig auf Hinweise auf wertreichere Lösungen reagieren. Wenn die Spielsituation es erlaubt, werde ich Sie an meinen Gedanken teilhaben lassen. In Maßen natürlich, ich möchte Ihnen ja nicht das Vergnügen am Herumpuzzeln nehmen. Wer auf bessere Lösungen als ich kommt, kann sich gern eine Liste anlegen und mir diese nach Ende der Partie zumailen (an [email protected]). Unter allen Einsendern verlosen wir drei nagelneue Scrabble-Spiele. Zuerst suchte ich auf dem Spielfeld nach einem G, da mir MÄSSIGTE ins Auge sprang. Vergebens. Später fanden sich vier recht üppig dotierte Anlegemöglichkeiten. Wie aber lautet der Zug mit der höchsten Punktzahl?

Dreifacher Wortwert

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Doppelter Wortwert

125

Dreifacher Buchstabenwert Im nächsten Heft

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Doppelter Buchstabenwert Die Grünen sind eine Volkspartei geworden – wie konnte es nur so weit kommen? Außerdem: Der Selbsttest »Taugen Sie als Grüner?« und eine Bestandsaufnahme der Partei in Grafiken Lösung aus Nr. 40 Für EISERNE auf K5-K11 (dieses Wort zählte vierfach) gab es insgesamt 98 Punkte Es gelten nur Wörter, die im Duden, »Die deutsche Rechtschreibung«, 25. Auflage, verzeichnet sind, sowie deren Beugungsformen. Die Scrabble-Regeln finden Sie im Internet unter www.scrabble.de

Scrabble Sebastian Herzog Infografik Ole Häntzschel

Veruschka war die schönste Frau der Welt. Wovor musste sie gerettet werden? Auf dem iPad Olga Mannheimer und Gil Bachrach, bekannt aus unserem »Typisch jüdisch«-Spezial, kommentieren das Heft – jetzt jede Woche in der App »DIE ZEIT« 53

Herr Vargas Llosa, bis Sie zehn Jahre alt waren, wuchsen Sie ohne Ihren Vater auf. Wie verlief Ihre Kindheit? In meinem Fall trifft die Metapher vom goldenen Zeitalter der Kindheit wirklich zu. Ich lebte mit meiner Mutter und deren Familie zusammen. Ich war ein Junge ohne Vater, ich hatte jedoch viele Väter, meinen Großvater, meine Onkel. Ich war glücklich, bis mein Vater aus dem Nichts auftauchte. Warum lebte Ihr Vater nicht bei Ihnen? Man hatte mir erzählt, er sei tot. Meine Familie war sehr katholisch und schämte sich für die Scheidung meiner Eltern – ich glaubte also, mein Vater sei im Himmel, und bewahrte ein Bild von ihm in seiner blauen Marineuniform auf. Warum haben sich Ihre Eltern getrennt? Es war eine schreckliche Geschichte. Als meine Mutter meinen Vater kennenlernte, war er Fluglotse und ein sehr gut aussehender Mann. Sie sah ihn, und es war ein coup de foudre. Ihre Familie sagte: Warte, Dorita, warte noch, aber das konnte sie nicht, meine Mutter war wie ich, sehr dickköpfig. Also heirateten sie und gingen nach Lima, und offensichtlich war ihr Leben ein Albtraum, weil sie so unterschiedlich waren. Meine Mutter wurde sofort schwanger, und ein paar Monate später tat er etwas sehr Hässliches. Er sagte zu ihr: Du gehst zu deiner Familie, und ich gehe nach Bolivien. Er verschwand, er antwortete nicht auf Briefe, er rief nie an, und schließlich verlangte er die Scheidung. Wie haben Sie erfahren, dass er noch lebt? Eines Tages nahm mich meine Mutter mit auf einen Spaziergang und sagte: »Mario, du weißt, dass dein Vater lebt, oder?« Nein, ich wusste es nicht. Meine Mutter erwiderte: »Wir werden ihn jetzt treffen, aber du darfst deinen Großeltern kein Wort davon sagen.« Ich glaube, ich habe mich bis heute nicht von den Worten meiner Mutter erholt. Was passierte dann? Sie nahm mich mit in ein Hotel, wo wir einen Herrn trafen, der dem von meinem Foto sehr wenig ähnelte. Er war ganz kahl und trug keine Uniform. Ich war völlig verwirrt. Er sagte: Lasst uns eine Rundfahrt durch die Stadt machen, und wir stiegen in sein blaues Auto. Doch anstatt in die Stadt zu fahren, fuhren wir hinaus aufs Land. Nach einer Weile sagte ich: Mama, werden sich die Großeltern nicht Sorgen machen? Da bekam ich zum ersten Mal die autoritäre Stimme meines

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Das war meine Rettung

»Mein Vater verbot mir zu schreiben« Der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa über eine schmerzhafte Erfahrung, die ihm Stoff für seinen ersten Roman lieferte

Mario Vargas Llosa, 75, erhielt 2010 den Nobelpreis für Literatur. Er ist spanischperuanischer Herkunft und kandidierte 1990 für das Präsidentenamt in Peru. Vor Kurzem erschien sein jüngstes Buch, »Der Traum des Kelten«, bei Suhrkamp. Am 15. Oktober wird er daraus im Haus der Berliner Festspiele lesen Louis Lewitan gehört neben der Fotografin Herlinde Koelbl und dem ZEIT-Redakteur Ijoma Mangold zu den Interviewern unserer Gesprächsreihe »Das war meine Rettung«. Er ist Coach und ein renommierter Stressexperte. 2009 erschien sein Buch »Die Kunst, gelassen zu bleiben«

Vaters zu hören, die zum Albtraum meiner Jugend werden sollte. Er sagte: Na und, ein Junge gehört zu seinen Eltern, oder? Von da an änderte sich alles – meine Mutter und ich begannen von einem Tag auf den anderen ein neues Leben in Lima, mit ihm. Wie dramatisch war diese Veränderung? Ich lernte Angst und Einsamkeit kennen. Ich war noch nie geschlagen worden, und plötzlich wurde ich brutal geschlagen, von meinem Vater. Dieser Mann war mir völlig fremd, und ich begann sofort, ihn zu hassen. Er brachte mich fort von meinen geliebten Großeltern. Sie lebten nun mit einem Fremden zusammen, der auf einmal Ihr Vater sein sollte. Diese Erfahrung war für mich essenziell, nicht nur für meine literarische Berufung. Mein Vater war sehr autoritär, sogar brutal. Er hasste alles, was mit Büchern zusammenhing. Bei der Familie meiner Mutter galt ich als begabtes Kind. Ich wurde gefeiert, wenn ich ein Gedicht oder eine Geschichte schrieb. Als mein Vater davon erfuhr, sagte er: Ein Schriftsteller ist ein Perverser, ein Homosexueller. Er verbot mir zu schreiben und schickte mich auf eine Militärschule. Damit bescherte er mir den Stoff für meinen ersten Roman. Hat Ihr Vater Sie ungewollt zum Schriftsteller gemacht? Ja, das heimliche Schreiben und Lesen war für mich der einzige Weg, gegen diesen Mann zu rebellieren. Ich glaube, mein Vater war einer der Gründe, warum ich Diktaturen so verabscheue. Er war in unserer Familie das, was ein Diktator in einem totalitären Regime ist. Schreiben wurde zur Rettung für Sie? Es gab mir meine Unabhängigkeit und Souveränität zurück, die ich in der Gegenwart meines Vaters völlig verloren hatte. Beim Schreiben konnte ich mich meinem Leben stellen, allen Enttäuschungen, dem Scheitern. Ich denke, für einen Künstler ist das wunderbar: Du kannst alles, was schiefgeht in deinem Leben, benutzen und in Fiktion verwandeln. Das ist eine große Befreiung. Haben Sie und Ihr Vater sich versöhnt? Eines Tages, als ich schon bekannt war, hat er in Time einen Beitrag über mich gesehen. Das war die Überraschung seines Lebens. Er war so davon überzeugt, dass ich ein Versager war, und dann war ich in Time. In den letzten Jahren seines Lebens machte er einen vorsichtigen Versuch der Annäherung. Aber es war zu spät.

Das Gespräch führte Louis Lewitan Foto Stefan Nimmesgern

Die wichtigsten Neuerscheinungen zur Frankfurter Buchmesse. Ein Streifzug durch Islands Literaturszene. Ein Besuch bei Judith Schalansky. Die Geschichte der Welt in 100 Objekten

N ˚ 41 — Oktober 2011

Abschied vom Ich Ein Gespräch mit Josef Bierbichler über seinen Roman »Mittelreich« und die Rückkehr der Familie in die deutsche Gegenwartsliteratur Der Letzte seiner Art: Josef Bierbichler

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N 41

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JOS E F B I E R B ICH LE R Ein Gespräch mit dem Schauspieler

über seinen Roman »Mittelreich«

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D E R AB SCH I E D VOM ICH Die Familie kehrt in die

deutsche Literatur zurück und befriedigt die Sehnsucht nach Verlässlichkeit und Zusammenhalt von Iris Radisch

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MARTE N STE I N S B E STS E LLE R oder warum Sie

Titelbild: Josef Bierbichler in Brechts »Leben des Galilei« am Berliner Ensemble 1997, Foto: Witt/ullstein; Illustration Inhalt: Martin Burgdorff für ZEIT Literatur

sich bei Rita Falk schon mal für Charlotte Roche warmlesen sollten

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J U D ITH SCHALAN S KY überrascht die literarische Welt

mit dem ungewöhnlichsten Debüt der Saison. Alexander Cammann hat sie in Greifswald getroffen

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I S LAN D, DAS GASTLAN D D E R B UCH M E SS E, ist die Heimat von schreibenden Exzentrikern und Eigenbrötlern. Ijoma Mangold hat mit einigen von ihnen gesprochen

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D I E 100 WICHTIG STE N D I NG E, gesammelt

von Neil MacGegor, vorgestellt von Elisabeth von Thadden

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D I E B E I D E N D IVE N sind sich selten begegnet.

Adam Soboczynski erklärt, was Marlene Dietrich und Leni Riefenstahl gemeinsam haben

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B ÜCH E RTI SCH Ein Überblick über das, was Sie derzeit

unbedingt lesen sollten, um auf Partys zu glänzen

Bücher für den Herbst 42

B E LLETR I STI K Roberto Bolaño »Das Dritte Reich«, William H. Gass »Der Tunnel«, Ilija Trojanow »Eistau« u. a.

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POLITI SCH E S B UCH Heinrich August Winkler »Geschichte

des Westens«, Tom Koenigs »Afghanistan«, Jeremy Rifkin »Die dritte industrielle Revolution« u. a.

76

SACH B UCH Eva Illouz »Warum Liebe weh tut«, Miriam Meckel

»Next«, Melanie Mühl »Die Patchwork-Lüge« u. a.

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I M PR E SSU M

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»Die Leut’ sind im Grunde

Ein Gespräch mit Josef Bierbichler über seinen Roman »Mittelreich«, sein Leben als Sohn, das Vermächtnis der Eltern, die alten Bauern mit ihren bis zu den Brustwarzen hochgezogenen Hosen und den ungeheueren Luxus des Altmodischseins

Foto: Markus Tedeskino/Suhrkamp Verlag

von Iris Radisch



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ZEIT LITERATUR

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immer wieder gleich gewesen«

Josef Bierbichler: Schauspieler, Schriftsteller, pensionierter Landwirt, Hoferbe

ZEIT LITERATUR

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BIERBICHLER: Das hat sich so ergeben. Ursprünglich wollte ich nur über den Knecht Viktor schreiben. Beim Schreiben kamen dann all die anderen Figuren um ihn herum langsam dazu. Dann ist es tatsächlich eine Chronik geworden. ZEIT: Und so haben Sie, ohne es zu planen, Ihr Leben als Sohn beschrieben. BIERBICHLER: Wenn ich das bin. Einmal heißt es »ich«. Aber wer ist »ich«? Viele autobiografische Dinge liegen ganz anders. Man kann das Buch so lesen, dass alles mit mir, dem letzten Seewirt, endet. Aber es kann auch ganz anders sein. ZEIT: Was hat Sie fasziniert an dieser Idee des Familienromans, der Ahnenreihe, in die Sie sich, wie fiktiv auch immer, selber hineinschreiben? BIERBICHLER: Das ist mir eher zugestoßen. Ich hatte, wie gesagt, eigentlich nichts vor. ZEIT: Wie, Sie hatten nichts vor? Sie wollten doch einen Roman schreiben? BIERBICHLER: Nee. Ich wollte Material sammeln. Rohmaterial. Erst als der Verlag das gesehen und sich dafür interessiert hat, hat sich die Handlung entwickelt. ZEIT: Wie auch immer Ihnen der Roman zugeflogen ist, er ist in der heutigen Literaturlandschaft vollkommen ungewöhnlich. Der Blick

Foto: Jan Hahn

ZEIT: Sie haben sich viel vorgenommen. Sie erzählen in Ihrem Roman die deutsche Geschichte beinahe des ganzen vergangenen Jahrhunderts am Beispiel der Geschichte einer Familie und eines Landstrichs. Ist das die Geschichte eines Niedergangs? BIERBICHLER: Ich hatte keinen Plan, ich habe mir nichts vorgenommen, wusste nicht, wo es hingeht und wo es endet. Und nachdem es nun zu Ende ist, weiß ich eigentlich immer noch nicht, wie es endet. ZEIT: Ist es eine typische deutsche Jahrhundertgeschichte oder eine private, nämlich Ihre eigene? Oder sogar beides? BIERBICHLER: Was ich erzählt habe, habe ich zu einem gewissen Teil erfahren, sonst könnte ich es nicht erzählen. Insofern ist es beides. Natürlich geht die Geschichte auch in einen größeren, nennen wir es ruhig deutschen Raum hinein. ZEIT: Mittelreich ist Ihr erster Roman und gleichzeitig beinahe eine Chronik, eine Großvater-Vater-Sohn-Geschichte. Warum stellen Sie sich, sofern man Sie in dem Sohn wiedererkennen darf, ausgerechnet in diese Ahnenreihe? BIERBICHLER: Das Ich kommt hier erst ganz am Schluss vor. Ich wollte wissen, ob ich das kann, außerhalb von mir schreibend etwas zu suchen. Und ich wollte wegkommen von diesem Ich-Zwang beim Erzählen. ZEIT: Weg vom Ich und hin zur familiären Ahnenreihe?

ZEIT LITERATUR

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»Was ich zu vererben habe, ist nicht mehr unveräußerbar«: Bierbichlers Gasthaus in Ambach am Starnberger See

liegt nicht auf dem Individuum mit seinem kleinen und großen Weh, sondern wichtig ist das Tableau, der menschliche Ameisenhaufen, in dem Schicksale gleich gewichtig sind. Wie in der guten alten Zeit. BIERBICHLER: Davor hatte ich tatsächlich Schiss. Dass ich altmodisch bin. Aber ich konnt’ das nicht ändern, ich musste so weitermachen. ZEIT: Haben wir den Ich-Kult langsam satt? BIERBICHLER: Vor zehn Jahren, als ich mein erstes Buch Verfluchtes Fleisch geschrieben habe, dachte ich selbst, ich kann nur in der IchForm schreiben. Damals dachte ich, jetzt weiß ich, wie Schreiben geht. Dann habe ich gemerkt, dass das nicht stimmt. Habe lange nichts mehr geschrieben. Und jetzt interessiert mich die Ich-Form überhaupt nicht mehr. Wie es mich auch überhaupt nicht mehr interessiert, an die Öffentlichkeit zu gehen und über mich selbst zu reden. ZEIT: Was ist passiert, dass Sie das Ich nicht mehr interessiert? BIERBICHLER: Wahrscheinlich bin ich zur Genüge bestätigt worden. Ich brauche das nicht mehr. Dazu fällt mir eine Geschichte ein. Vor einem halben Jahr saß ich bei mir im Gasthaus, in der Ecke, in der ich immer sitz, und da kam Habermas mit einem Begleiter herein. Der Begleiter schaute mich an und sagte zum Habermas: »Das ist doch der bekannte Schauspieler.« Da sagte der Habermas: »So was hört ein Schauspieler gern.« Darauf sagte ich: »Nein,

Herr Habermas, ich brauch das eigentlich nicht mehr. Aber das wissen Sie doch selber. Oder brauchen Sie noch Lob?« Der Habermas zeigte ein Grinsen und schüttelte den Kopf und murmelte dann: »Nein. Brauch ich nicht mehr.« Ich bin sehr froh, dass ich dahin gekommen bin, dass ich es auch nicht mehr unbedingt brauche. ZEIT: Ist es nicht so, dass viele Leute sich im Augenblick für dieses überausstaffierte und überbetreute Ich gar nicht mehr besonders interessieren? Das Ich kommt aus der Mode. Es hat sich erschöpft. BIERBICHLER: Kennen Sie Oskar Maria Graf, oder ist der Ihnen zu weit südlich? ZEIT: Zu weit südlich. BIERBICHLER: Der hat in Wir sind Gefangene voll in der Ich-Form erzählt. Aber auch der schreibt am Schluss: »Ich war mehr als nur Ich, ein großes Glücksgefühl durchströmt mich«. Als ich diesen Satz vor dreißig Jahren las, blieb er mir auf seltsame Art hängen. Wobei ich das Ich-Gefühl gar nicht so gut kannte. Ich war ihm auch nicht lange verfallen. Ich hatte auch nie den Plan, mal schreibend an die Öffentlichkeit zu gehen. Dann habe ich aber Herbert Achternbusch kennengelernt. Der hat die Ich-Form voll ausgeschöpft. Und da dachte ich, es geht sowieso nicht anders.

ZEIT LITERATUR

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Josef, genannt Sepp, wurde 1948 in Ambach geboren. Er besuchte ein Internat und später die Schauspielschule in München. Neben seiner preisgekrönten Arbeit als deutscher Theater- und Filmstar widmet er sich der Holzwirtschaft auf seinem Landgut am Starnberger See, wo er von Geburt an lebt. Im Jahr 2001 erschien sein autobiografisches Sudelbuch »Verfluchtes Fleisch«

ZEIT: Wenn man die Ich-Monade verlässt, muss man sich beim Schreiben in fremde Leben hineinbegeben. Sie beginnen ungefähr 1914 in Ihrem Roman, müssen sich also seelisch hundert Jahre zurückversetzen. Wie geht das? BIERBICHLER: Keine Ahnung. Viele Bilder kannte ich selber noch aus meiner Jugend. Dann hatte ich Erzählungen von Zeitgenossen im Kopf. Es ist nicht so schwierig. Die Leut’ sind im Grunde immer wieder gleich gewesen. Statt eines Rades haben sie jetzt ein Auto. Und statt eines Ruderboots ein Motorboot. Ich kenne noch die alten Bauern der fünfziger und sechziger Jahre, die ihre Hosen immer bis zu den Brustwarzen hochgezogen trugen. Die haben einen großen Eindruck bei mir hinterlassen. Die gibt es, optisch, heute nicht mehr. ZEIT: Sie schreiben über die alte Welt, vor den Amerikanern, vor der Moderne. Und es war nicht schwer, da hinunterzusteigen? BIERBICHLER: Es gibt keine Figuren, die umfassend beschrieben sind in der Zeit, es geht eigentlich erst mit dem zentralen Seewirt, dem Vater, los. Der alte Seewirt ist genauer umrissen.



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Foto: Wolfgang Kunz (Bierbichler in »Leben des Galilei« von Bertolt Brecht, Berlin 1997)

BIERBICHLER,

ZEIT: Sie sind auch sprachlich in eine alte Zeit zurückgegangen. Ich empfinde die Sprache Ihres Romans als expressionistisch und wuchtig. Die Sprache hat Widerstände, sie ist nicht funktional, schrammt nicht nur knapp an der Oberfläche vorbei. BIERBICHLER: Da wissen Sie mehr als ich. Es kommt beim Schreiben bei mir alles aus dem Augenblick. Auch beim Theaterspielen habe ich nichts zur Verfügung, um immer gleich zu sein. Beim Schreiben ist es vielleicht genauso. Mag sein, dass ich enorm altmodisch bin. Jedenfalls verglichen mit Stuckrad-Barre oder Christian Kracht. ZEIT: Alles in Ihrem Roman dreht sich um das Erbe, das Haus. Das Erbe darf man nicht ausschlagen und nicht verschleudern. Das Erbe darf man nur antreten und nicht verspekulieren. Heute ist es genau umgekehrt. Auch das ist eine Geschichte völlig gegen die Zeit. BIERBICHLER: Aber nicht bei den Bauern. Allerdings ist jetzt Schluss. Das, was ich zu vererben habe, ist nicht mehr unveräußerbar. Für mich war es noch unveräußerbar. ZEIT: Das ist ein entscheidender Bruch im Verhältnis zum Besitz, zur Familie, zur Vergangenheit. Jahrhundertelang war alles gleich. Mit Ihnen geht es zu Ende. BIERBICHLER: Wir haben den größten Umbruch aller Zeiten leibhaftig erlebt. Ab 1945 ist die Welt um das Doppelte oder mehr geschrumpft. Sie waren gerade für drei Tage in Indien. Und wie weit war in meiner Kindheit noch Wolfratshausen! ZEIT: All das hängt auch wieder mit dem Ich-Gedanken zusammen. Die Seewirte waren in der alten Welt dem Kollektiv, dem Erbe verpflichtet. Wer es nicht antrat, war verloren. BIERBICHLER: Der Ich-Gedanke wäre lächerlich gewesen. ZEIT: Ihr Buch macht eine Zeit wieder lebendig, in der man weniger frei, aber auch weniger einsam war. Niemand musste sein Leben alle paar Jahre neu aufstellen, seine Familie neu zusammenflicken. Die Kehrseite war die Unterordnung. BIERBICHLER: Wer sich nicht anpassen konnte, musste ins Ich flüchten. So war es mit Achternbusch, der auch aus einem bäuerlichen Umfeld kam. Vom Ich aus konnte er dieses Umfeld attackieren. Achternbusch hat das Ich zur Attacke gebraucht, nicht zur Selbstbespiegelung. Deswegen ist seine Sprache so kraftvoll. ZEIT: Genau wie bei Josef Winkler. BIERBICHLER: Das sind zwei Bauernabkömmlinge, für die das Ich der einzige Rettungsanker war. Deswegen waren sie für die Bauern lächerlich. ZEIT: Warum ist es für Sie anders? Sie haben Ihre Herkunftswelt weder biografisch noch literarisch verlassen. BIERBICHLER: Ich bin zum Theater gegangen, ohne meine Heimat je ganz zu verlassen. Ich habe das, wo ich herkam, nicht bekämpfen müssen. ZEIT: Winkler und Achternbusch haben dann Anti-Väter-Literatur geschrieben. Oder Anti-Mütter-Literatur. Sie eher das Gegenteil. BIERBICHLER: Die mussten sich mit der Sprache distanzieren. Noch mit sechzig Jahren hat Achternbusch Widerstand gegen die eigenen Verheerungen geleistet, gegen die Mutter. ZEIT: Diese familiäre Widerstandsliteratur gehört zu den Gründungsmythen der Bundesrepublik. Man musste sich emanzipieren, sich von den Eltern absetzen, Individuum werden. An die Stelle des Erbes trat die Abrechnung. Sie erklären uns, dass man es trotzdem noch immer als Erbe verstehen kann.

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BIERBICHLER: Das ist richtig. Aber ich habe diesen Generationenbruch auch nicht als persönliche Verletzung erfahren. Verletzungen gab es nur theoretischer Art, die später kamen, als mich politische Zusammenhänge interessiert haben. Das waren aber abstraktere Verletzungen. Ich musste mich nicht von meinem Vater trennen. Und meine Mutter war immer da. Und fiel deswegen überhaupt nicht mehr auf. Und geht mir deswegen wahrscheinlich jetzt nicht ab. Als sie tot war, hat sie mir nie gefehlt, weil sie vorher immer da war und nicht auffiel. ZEIT: Das klingt unglaublich. BIERBICHLER: Ich habe da ein Riesenglück gehabt. Wir haben uns nicht im klassischen Sinn geliebt. Es war eine unglaubliche Selbstverständlichkeit. Eine ganz tiefe Verbindung, die nie formuliert wurde. ZEIT: Dazu passt, dass Sie in Ihrem Roman keine Charaktere porträtieren mit allem Drum und Dran, sondern eher etwas, das man früher Menschenschlag genannt hätte. Leute, die einfach da sind und sich nicht wichtigmachen. BIERBICHLER: Das war die große Kraft der bäuerlichen Bevölkerung, die jetzt auch nicht mehr da ist. ZEIT: Im Roman gibt es einen gnadenlosen Blick auf den beginnenden Kapitalismus. Die Streuwiesen am See werden alle zu Geld gemacht, obwohl man sich Herbstnachmittage wie die auf den Streuwiesen, die Sie beschreiben, für alles Geld der Welt dann nicht mehr kaufen kann. Ist da Wehmut?

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BIERBICHLER: Wehmut nicht. ZEIT: Aber doch Kapitalismuskritik? BIERBICHLER: Für mich ist das ganz

klar. 1989 ist das Korrektiv weggebrochen. Bis dahin musste das Kapital damit rechnen, dass es möglicherweise eine Gesellschaftsform gibt, die besser ist. Deswegen haben sie es hier nicht bis zum Äußersten treiben können. Jetzt können sie alles bis zum Äußersten treiben. Das erkennt plötzlich sogar Herr Schirrmacher. ZEIT: Finden Sie das frivol? BIERBICHLER: Irgendwie ist es frivol, dass sie so tun, als hätten sie es entdeckt. Aber es zeigt auch, dass ihnen gar nichts anderes mehr übrig bleibt. Sogar der Bundespräsident erkennt auf einmal, dass es falsch ist, wenn Gewinne individualisiert und die riesigen Verluste sozialisiert werden. Das ist die Systemfrage. Wahrscheinlich ist die Demokratie doch nicht das richtige Gesellschaftssystem für den Kapitalismus. Was jetzt kommt, das wird Blut und Dreck sein. Da war das, was bisher passiert ist, noch gar nichts. ZEIT: Es gibt aber keinen Weg zurück. Die Welt Ihres Romans gibt es nicht mehr. Es ist der letzte mögliche Familienroman dieser Art. Es gibt diese Familien nicht mehr. Ihr Hof wird nicht mehr fortgeführt. Sie sind der letzte Buddenbrook. Das tut nicht weh? BIERBICHLER: Nein. Bei wem soll ich mich beklagen? Hegel sagt, alles, was war, ist wirklich. Und alles, was wirklich ist, ist wahr. Wie will man die Geschichte kritisieren? Das ist doch absurd.

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Die elementare Struktur

Seine Majestät, das Ich, hatte viele Jahre die Alleinherrschaft über den deutschen Roman. Nicht nur zu seinem Vorteil. Jetzt kehrt mit aller Macht die Familie in den Fokus zurück. Und der Abschied vom Ich muss niemandem leidtun

Foto: Jessica Todd Harper

von Iris Radisch

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der Verwandtschaft

Der familiären Dreifaltigkeit aus Großvater, Vater und Sohn entkommt auch die Literatur nicht

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s war einmal, und es ist noch gar nicht so lange her, da war die Stimmung in den deutschen Romanen eisig. Das hatte etwas mit den Frösten der Freiheit zu tun. Damals nahm der deutsche Romanheld »Abschied von den Eltern«, wie eine berühmte Erzählung von Peter Weiss aus dem Jahr 1961 heißt. Die Pioniere dieser literarischen Mode waren die Kinder des Existenzialismus. Es waren elternlose Junggesellen wie der Fremde von Albert Camus und der Einzelgänger von Eugène Ionescu. Bald darauf inszenierte sich die Gruppe 47 als herkunftslose Jugend, die auf den Ruinen der Väter bei null wieder anzufangen glaubte, mit nichts als einer Mütze, einem Mantel und einer Pfeife im Mundwinkel. Peter Weiss’ Erzählung endete mit den Worten: »Ich war auf dem Weg, auf der Suche nach dem eigenen Leben.« Der Selbstentwurf der ersten Nachkriegsgeneration als eine abstammungslose Ansammlung von Monaden ist einer der erfolgreichsten Gründungsmythen der Bundesrepublik. Der nomadisierende Einzelgänger war der literarische Lieblingsheld der aufstrebenden bundesdeutschen Angestelltengesellschaft. Wenn es stimmt, dass jede Zeit ihre eigenen Märchen braucht, dann lieferte die Monaden-Literatur den passenden Begleittext zur expandierenden Privatwirtschaft. Ihre Lieblingsschriftsteller waren der junge Peter Handke und der junge Botho Strauß, deren genialische Helden so vereinsamt waren, dass ihnen schon das nächtliche Knacken der Kühlerhauben von geparkten Autos tröstlich erschien. Der frostige Zauber, den diese Elfenbeinbewohner in ihren Romanen verbreiteten, umflorte die reale Einsamkeit einer künftigen Singlegesellschaft, die zielstrebig dabei war, auf eine großstädtische Scheidungsrate von 50 Prozent zuzusteuern. Nachdem in jenen nun schon fernen Zeiten solcherart der Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen war, schien auch der Familienroman ein natürliches Ende gefunden zu haben. Seither gab es ihn, der ursprünglich dazu bestimmt war, der Selbstverständigung der bürgerlichen Gesellschaft zu Diensten zu sein, allenfalls noch in der Schrumpfform der Anti-Väter-Romane (seltener der Anti-Mütter-Romane). In ihnen brachte der moralisch überlegene einsame Nachkriegsheld die Väter, die im Leben den Weg von der Wehrmacht zum Wirtschaftswunder anstandslos bewältigt hatten, im literarischen Wohnzimmergerichtshof nachträglich zu Fall. All das ist vorbei. Die Väter und Mütter, mit denen so lange eifrig abgerechnet wurde, sind tot und womöglich in der Hölle, in die sie ihr Nachwuchs schon zu Lebzeiten gewünscht hat. Aus den Söhnen und Töchtern, deren Zorn die junge bundesdeutsche Literatur in Atem hielt, sind friedliche, wohlversorgte Rentner geworden. Ihre ehemals wilden Abrechnungsromane versetzen nur noch die Literaturgeschichtsschreiber in Wallung (obwohl Fritz Mars’ Wutausbruch Zorn und Guntram Vespers Roman Die Reise wirklich gute Bücher sind). Jetzt sind die Enkel am Zug. Und machen einen Salto rückwärts. Drei der aufsehenerregendsten Romane dieses Literaturherbstes sind Generationenromane alter Schule. Sie sind geschrieben von drei männlichen Romandebütanten jenseits der 50. Der Schauspieler und Landwirt Josef Bierbichler (Jahrgang 1948), der Filmregisseur Oskar Roehler (Jahrgang 1959) und der Drehbuchautor Eugen Ruge (Jahrgang 1954) haben autobiografische

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Familienromane geschrieben, in denen sie ihre Vorfahren nicht zur Rechenschaft ziehen, sondern sich einreihen in die patrilineare Dreieinigkeit aus Großvater, Vater und Sohn. Die stolze Vaterlosigkeit, aus der die Autoren der alten Bundesrepublik ihr Kapital machten, ist einer Sehnsucht nach genealogischer Kontinuität gewichen. Das einsame Ich, vor wenigen Jahrzehnten noch der melancholische Alleinernährer des deutschen Gegenwartsromans, ist seiner überlegenen Einsamkeit müde geworden und sucht nach seinem verlorenen Schatten: seiner Herkunft. Man kann es ihm nachfühlen. In einer Gegenwart, die alles pulverisiert, was ihr zu nahe kommt, ist die Familienchronik oder der Heimatfilm wie der legendäre von Edgar Reitz ein widerständiger Anachronismus. Der vom Selbstverwirklichungswahn seiner 68er-Eltern traumatisierte Ich-Erzähler in Oskar Roehlers Roman Herkunft sucht Schutz bei der Genealogie wie der kleine Oskar Matzerath unter den Röcken der kaschubischen Matronen. »Ich trug etwas in mir, außerhalb meiner Lebenserfahrung«, heißt seine Erfolgsmeldung am Ende der langen und entbehrungsreichen literarischen Rückkehr in den Schoß des Herkommens, die dieser Roman unternimmt. »Es lag in den Genen, ich spürte es ganz genau. Es gab da etwas, außerhalb von mir, das Schutz und weit entfernte Sicherheit bot.« Eine so wohlwollende Darstellung der Familie und des Familienzusammenhalts hat es sonst nur im Fernsehen gegeben. In der deutschen Literatur war so viel Freundlichkeit nach Walter Kempowski selten. Doch nun ist die Familie bei Oskar Roehler sogar eine genetisch geschützte Überlebensnische und das Objekt einer heißen kindlichen Sehnsucht. Im bäuerlichen Familienpanorama Josef Bierbichlers ist sie der unangreifbare Souverän. Und auch im vielstimmigen Familienporträt Eugen Ruges (ZEIT Nr. 36/11) ist sie durch das Ableben ihres Wirtstieres, der DDR, in diesem speziellen Fall schwer angeschlagen, doch literarisch gerettet. Roehlers Buch schließt Frieden über uralte Gräben hinweg. Sein Held hadert zwar mit den Eltern. Mit seinem Vater Rolf, der die Mutter vor den Augen des Kindes »auf der neuen SiemensWaschmaschine vögelt« und die RAF-Kasse umsichtiger als seinen Sohn betreut. Und mit seiner exzentrischen Schriftsteller-Mutter, die lieber vor der Gruppe 47 als im Kinderzimmer tätig wird. Doch findet er Halt und Geborgenheit bei seinem Nazi-Opa Erich, der »ausspuckt, wenn er das Wort Bundesrepublik hört«, und sein Leben im Wesentlichen allein mit seinen Briefmarken aus dem Deutschen Reich verbringt, aber in seinem Eigenheim, mit seinem Opel Rekord vor der Tür und der stummen Frau in der Küche genau das Aroma unerschütterlicher Verlässlichkeit verströmt, das ein Opfer linker Verwahrlosung braucht. Nachdem die realen Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges beinahe restlos verschwunden sind, nähern sich die schreibenden Enkel wieder ihren Großvätern, indem sie gerade jene Sekundärtugenden neu bewerten, die ihre Väter zur Verzweiflung brachten: die reflexionslose Zähigkeit, die Stehauf-Qualitäten, das Immer-weiterMachen, ohne Rücksicht auf sich selbst und auf andere. Opa Erich produziert Gartenzwerge und interessiert sich vor allem für Briefmarken. Vater Rolf produziert Bücher und interessiert sich vor allem für Sex. Der Held unserer Zeit heißt neuerdings wieder Opa Erich.

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Nicht nur Oskar Roehler, auch Michel Houellebecq und alle anderen vom Selbstverwirklichungsbestreben ihrer Eltern verstörten Kinder der zweiten Nachkriegsgeneration wären für einen solchen soliden Briefmarken-Opa dankbar gewesen, mit dem sie nicht nur Omas Abendbrotschnitten, sondern auch ein paar grundsätzliche Ansichten über die westeuropäischen Emanzipationsbewegungen teilen: Das »Gesocks, das ständig Veränderung will«, die Körnerund-Gemüse-Fresser, die Topflappenhäkler, die langhaarigen Jesuslatschenträger, die durch verkehrsberuhigte Straßen schlurfen – die gehören, so psalmodiert Roehlers Alter Ego, »die Müllkippe der Geschichte heruntergespült«. Leider schlägt der ideologische Furor Roehlers nicht auf die sprachliche Ausgestaltung seines Romans durch, der viel Konfektion und einiges sprachliches Ungeschick bietet in der Art von: »Der Sommer war meine Heimat. In ihm tummelte sich mein Körper.« Die Stärke des Buches liegt in seiner leidenschaftlichen Entschiedenheit, mit der es sich von den Sehnsüchten der linksintellektuellen Bundesrepublik verabschiedet, und in der schutzlosen Offenheit, mit der es seinen regressiven und restaurativen Träumen folgt. Roehlers Versuch, in seinen Eltern, der Schriftstellerin Gisela Elsner und dem Lektor Klaus Roehler, zwei Protagonisten des linken bundesdeutschen Establishments zu porträtieren, provoziert Vergleiche mit dem Vaterporträt von Eugen Ruge, als dessen Vorbild Ruges Vater, der Historiker Walter Ruge, gelten darf, seinerseits ein bekannter Protagonist des intellektuellen DDR-Establishments. Doch anders als Roehler, der sich von seinen prominenten Eltern tief enttäuscht zeigt, gibt Ruge wenig auf die weltanschaulichen Verirrungen seines Romanvaters, dessen im Gulag erprobte Zähigkeit und Überlebenskraft die Familie zusammenhalten. Während Roehler unter Auslassung der Eltern und vielleicht sogar stellvertretend für diese eine Versöhnung mit der Kriegsgeneration ins Werk setzt, zielt das feiner und komplizierter orchestrierte Buch von Ruge auf die Eröffnung eines gemeinsamen literarischen Erinnerungsraumes jenseits von Schuld und Sühne. Die Entspannungssignale, die von diesen Büchern ausgehen, sind nicht zu überhören. Sie übertreffen alles, was an Wiederversöhnungsbereitschaft in den vergangenen Jahren in Familienromanen wie Ulla Hahns Unscharfe Bilder, Dieter Fortes Das Haus auf meinen Schultern, Dagmar Leupolds Nach den Kriegen oder Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land aufgebracht wurde. Und sie verschaffen den unter der Monadenhaftigkeit des modernen Lebens Darbenden, wenn auch nur auf dem Papier und für den Augenblick des Erzählens, die Illusion von Zugehörigkeit und neu gestiftetem Zusammenhang. Auch die sprachwuchtige Familienchronik von Josef Bierbichler erzählt von einer Familie, die es am Ende des Buches nicht

mehr geben wird. Das Geschlecht der »Seewirte«, die Generation um Generation ihr Erbe angetreten und den Seegasthof weitergeführt haben, wird mit dem Enkel zu Ende gehen, von dem zu befürchten ist, dass er den Seegasthof nicht mehr standesgemäß weiterführen wird. Denn der Enkel, ein Kind der Wohlstandsgesellschaft und Profiteur des aufkommenden Fremdenverkehrs, hat die höhere katholische Schule besucht, wo er zwar, wie zu erwarten, vom »mönchlerischen Sperma« gequält, aber auch mit dem verderberischen Selbstverwirklichungsgedanken angesteckt wurde. Und wo dieser ausbricht, ist das Familienerbe in Gefahr. »Der Ich-Gedanke«, sagt Bierbichler im Interview in seinem Gasthaus am Starnberger See, in dem er selbst ohne Familie wie ein letzter Buddenbrook lebt, »war den Bauern ganz fremd.« Auch dieses Buch, das aus einer breughelschen Wimmelperspektive erzählt, in der alles und jeder wichtig und unwichtig zugleich wird, will das moderne Ich und seine Zentralperspektive nicht kennen. Großvater, Vater und Sohn stehen wie ein Mann auf einer Zeitachse, die unverrückbar zu sein schien, bevor sie zerbrach. Der Roman geht noch einmal vor diese Bruchstelle zurück und erzählt von der Familie als einem lebendigen Organismus, in dem keiner für sich allein und jeder nur für den anderen ist, wer er ist, und tut, was er tut. Dass Fortschritt auch Rückschritt bedeutet und dass, wer »mittelreich« geworden ist, arm dran sein kann, sind zwei der antimodernistischen Pointen des Romans, der sich aber wegen seines überschießenden Kunstidioms und seiner surrealen Drastik jeder weiter gehenden literatursoziologischen Kaffeesatzleserei widersetzt. Heimatromane sollte man Generationenbücher wie diese nicht nennen. Zumindest nicht, wenn Heimatroman bedeutet, dass hier literarisch etwas zu Behaglichkeitszwecken simuliert würde, was man in Wahrheit schmerzlich vermisst. Im Gegenteil: Wenn in diesen Büchern vom Familienleben erzählt wird, so geschieht dies kaum zu Propagandazwecken, sondern nur, um uns daran zu erinnern, dass man den elementaren Strukturen der Verwandtschaft genauso wenig entkommt wie dem Atemholen. Beides vollzieht sich, ganz egal, ob es gefällt oder nicht. Von Tolstoj stammt das vielfach abgegriffene Wort, dass alle glücklichen Familien sich glichen, die unglücklichen jedoch jede auf ihre Art unglücklich seien. Bisher wurde es immer zustimmend zitiert. Inzwischen dämmert uns, um welche Überschätzung des Unglücks es sich hierbei handelt. Erst wenn man anfängt, die verzweigten Niederungen des Familienlebens zu kartografieren, gewinnt man eine Ahnung von der Kompliziertheit und Gewöhnlichkeit dieses Glücks, das so lange zu Unrecht in einem schlechten Ruf stand.

Die Bücher: Josef Bierbichler: Mittelreich Roman; Suhrkamp Verlag, Berlin 2011; 391 S., 22,90 € Oskar Roehler: Herkunft Roman; Ullstein Verlag, Berlin 2011; 592 S., 19,99 € Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts Roman; Rowohlt Verlag, Reinbek 2011; 432 S., 19,95 €

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MARTENSTEINS BESTSELLER WIE MAN SICH BEI RITA FALK FÜR CHARLOTTE ROCHE SCHON MAL SCHÖN WARMLESEN KANN, WARUM OPIUM BRINGT OPI UM SO EIN GENIALER TITEL IST UND WAS AN DIETER NUHRS ULTIMATIVEM RATGEBER FÜR ALLES SO NERVT von Harald Martenstein

In Charlotte Roches Schoßgebeten, Platz 1 der Bestsellerliste, gibt es einige drastische Sexszenen. Ähnliches gilt übrigens für Werke von Henry Miller, Haruki Murakami oder Philip Roth. Wer zur Prüderie neigt, was jede Person jederzeit darf, denn eine positive Einstellung zur Sexualität ist zum Glück nicht per Gesetz vorgeschrieben, der oder die soll halt das Buch ignorieren. Es ist, finde ich, recht gut. Wer allerdings sagt: »Ein Buch mit Sexszenen drin muss ein Drecksbuch sein«, der oder die ist doof. Was ich auch nicht verstehe, ist eine gewisse Kritik an Ferdinand von Schirachs Roman Der Fall Collini, Platz 3. Es geht um einen Nazimörder, der ein netter Opa ist. Dies sei skandalös, finden manche. Ja, wenn man den Mördern ihre Taten immer sofort ansähe, dann wäre vieles einfacher. So was kommt aber leider nur in schlechten Filmen vor. Ein interessantes Phänomen scheint auch die Rita Falk aus Oberammergau zu sein, deren »Provinzkrimi« namens Winterkartoffelknödel bei Redaktionsschluss dieses Textes auf Platz 10 stand und mich stilistisch stark an den Räuber Hotzenplotz erinnert. Inhalt: »Manchmal muss der Franz in ziemlich grausligen Mordfällen ermitteln.« Rita Falk verwendet bei Namen immer den bestimmten Artikel. »Die Gisela ist eine dicke Metzgersfrau.« – »Wenn ich heimkomm, hört der Papa die Beatles.« – »Der Reporter und die Roxane verstehen sich prima, und wie ich hernach zum Pinkeln geh, treiben sie’s in meinem Auto.« Es mag Zufall sein, aber beim Blättern bin ich dauernd auf, vielleicht typisch bayerische Pinkel- oder Sexszenen gestoßen. Wer also Charlotte Roche ein bissel zu hart findet, Berge und Knödel aber grundsätzlich mag, kann sich bei der Rita schon mal warmlesen. Bei den Sachbüchern steht der Leo auf Platz 12. Leo Martin wird als »Ex-Agent« eines deutschen Geheimdienstes angepriesen, angeblich hat er in kriminellen Milieus V-Männer angeworben. Ich krieg dich! Menschen für sich gewinnen

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Foto: Heji Shin

muss demnach praxiserprobt und hochkompetent sein, das Buch ist, statt in Kapitel, in 17 »Missionen« eingeteilt. Sie münden in Ratschläge wie: »Hören Sie aufmerksam zu, was Ihnen andere Menschen erzählen.« Oder: »Verlassen Sie sich nicht auf den ersten Eindruck, den Sie von einem Menschen haben.« Um noch raffinierter und noch erfolgreicher zu arbeiten, sollten die deutschen Geheimdienste Rita Falk oder auch mich als Berater einstellen, ich glaube, wir können das noch toppen. Besonders erfolgreich ist Dieter Nuhrs Ultimativer Ratgeber für alles, Platz 4. Bei den Büchern war es ja bisher so, dass man von den optischen Mätzchen der Artdirektoren weitgehend verschont blieb, Literatur besteht noch immer aus Text und wendet sich vornehmlich an sogenannte Leser. In den Zeitschriften kann man die Texte vor lauter Layout oft gar nicht mehr erkennen, der Satz »Form follows function« hat sich bei den Artdirektoren offenbar nicht herumgesprochen. Nuhrs Buch kommt zum Teil in Schreibschrift daher und mit Unterstreichungen, die Seiten sollen so aussehen, als ob sie irgendjemand schon durchgearbeitet hätte. Das ist natürlich wahnsinnig originell, aber schwer lesbar. Und weil das Buch ein Bestseller ist, kommen wahrscheinlich auch andere Verlage auf diesen Horrortrip. Ein deutlich besseres Ratgeber-Buch ist Sven Kuntzes Altern wie ein Gentleman (Platz 19), an dem mich schon das Motto bezaubert hat: »Es gibt kein Verbot für alte Weiber, auf Bäume zu klettern.« Astrid Lindgren hat diesen Satz geschrieben. Was mich zum Wettbewerb um den kuriosesten Buchtitel bringt, der alljährlich zur Buchmesse ausgeschrieben wird. Meine Favoriten sind diesmal der Drogen-Ratgeber Opium bringt Opi um von James Nestor, der GesundheitsRatgeber Der Darm denkt mit und ein wahrscheinlich hinreißendes Tierbuch von Ulrike Thiel: Geritten werden. So erlebt es das Pferd.

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Judith Schalansky auf der Straußenfarm des Guts Owstin in ihrer Heimat Mecklenburg-Vorpommern

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Endlos weit ist der Himmel Vorpommerns, wo man mit den Straußen tanzt von Alexander Cammann; Fotos von Wolfgang Stahr Judith Schalanskys Roman »Der Hals der Giraffe« ist der brillante Hassmonolog einer Lehrerin in der Provinz. Ein Ausflug mit der Autorin durch ihre ostdeutsche Heimat und zu den Schauplätzen der Erregung

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ls plötzlich sanfte Orgeltöne erklingen, mitten in die Stille von St. Marien hinein, ist es den einsamen Besuchern fast, als wollten Engel einen Lobgesang anstimmen. Mittagssonne dringt durch die hohen Fenster in den hellen, dreischiffigen Kirchenbau: schlichte, erhabene Backsteingotik in Greifswald. Die Augen werden feucht. »Dabei ist es doch so ein gottloses Buch«, lächelt Judith Schalansky. Luther, Melanchthon und der norddeutsche Reformator, der gebürtige Pommer Johannes Bugenhagen grüßen gleichwohl von der Kanzel. Das gottlose Buch heißt Der Hals der Giraffe; geschrieben hat es Judith Schalansky, die in Greifswald 1980 geboren wurde. Lobgesänge erschallen momentan überall auf diesen kühnen Roman – nur die Jury des Deutschen Buchpreises hat ihn nicht auf ihre Shortlist setzen wollen. Die Krisengeschichte der Biologielehrerin Inge Lohmark, die an einem Charles-Darwin-Gymnasium einer fiktiven vorpommerschen Stadt unterrichtet und im geistigen Korsett eines zeitgemäßen Vulgärbiologismus gefangen ist, macht dennoch Furore. Heimatkunde steht heute auf dem Stundenplan, mit einer Schriftstellerin aus Deutschlands Nordosten. Wir spazieren durch die Hansestadt Greifswald, denn wir sind wissbegierig: Woher stammt eine der ungewöhnlichsten Autorinnen, die man hierzulande in den letzten Jahren entdecken konnte? Vorbei geht es an ihrer 1561 gegründeten Schule, dem heutigen Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasium, vorbei an der Stadtbibliothek, in der das Mädchen Stammgast war. Schließlich führt uns Judith Schalansky in die Marienkirche, nicht weil sie vor dem Altar einst konfirmiert wurde, sondern um uns das Tier zu zeigen: einen Wal, keine Giraffe. 1545 war ein sechs Meter langes Exemplar in der Nähe gestrandet – und ein unbekannter Meister hat damals das sensationelle Wesen sogleich in einer Ecke an der Kirchenwand in Lebensgröße verewigt: in mächtigem Dunkelgrau und so modern, als ob es gestern gemalt worden sei. Bilder gehören zur Schalanskyschen Ästhetik, Naturbilder zumal. Wenn Inge Lohmark ihren Schülern von der im 18. Jahrhundert entdeckten und alsbald ausgerotteten Stellerschen Seekuh erzählt, folgt im Roman überraschenderweise auf der nächsten Doppelseite eine Abbildung derselben. So etwas passiert häufiger; filigrane Darstellungen springen ins Auge, adaptiert aus Biologiebüchern – aber nicht etwa als bloße Illustrationen, sondern als Teil des Stoffes. »An die puristische Ideologie vom reinen Text glaube ich nicht«, die Autorin gerät in Fahrt: »In unserer Schriftkultur herrscht ein unberechtigtes Bildermisstrauen.« Dabei könnten doch Bild und Text wunderbar interagieren, findet die studierte Gestalterin und Typografie-Fanatikerin. Auf solchem Zusammenspiel beruht der Überraschungserfolg Schalanskys: 2009 erschien ihr Atlas der abgelegenen Inseln, ein zauberhaftes, von ihr gestaltetes Buch, in welchem sie fünfzig poetische Kurzporträts real existierender Inseln versammelte und jeweils mit einer nachgezeichneten Karte versah. Der immerhin 34 Euro teure, preisgekrönte Band hat sich in zehn Auflagen bis heute 40 000-mal verkauft; es erschien in zahlreichen Übersetzungen, sogar in Taiwan. Allein die englischsprachige Ausgabe hat 30 000 Käufer gefunden; im Internet wird das Buch diskutiert, Fans bereisen ihre Inseln. Eine Autorin im herkömmlichen Sinne also ist diese schillernde Frau von 31 Jahren gewiss nicht. »Ich denke mir Bücher aus«, beschreibt sie ihre Arbeitsweise. Das Äußere des Buches gehört für sie untrennbar dazu; ausgiebig kann man mit ihr Gestaltungsdetails diskutieren: beim Hals der Giraffe über das alten Lehrbüchern nachempfundene angebräunte Leinen oder die Kolumnentitel auf jeder Seite, die aus einem jeweils passenden biologischen Fachbegriff bestehen. Und natürlich

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steht sie am Ende beim Andruck neben den Maschinen, zur Kontrolle. »Mir macht es Spaß, die herkömmlichen Abläufe in einem Verlag durcheinanderzubringen.« Und es macht Spaß, sich mit dieser charmant selbstbewussten Missionarin zu unterhalten, die einen von der Zukunft schöner Bücher zu überzeugen versteht. Fraktur mon Amour heißt ihre von Typografen gefeierte Sammlung zahlloser Frakturschriften, die sie 2006 herausgab: schwarzer Einband, Schnitt und Schrift in Pink – »sieht aus wie eine SM-Bibel«, so ihr treffsicherer Kommentar. Greifswald hat zwei Hausgötter: den Maler Caspar David Friedrich und den Schriftsteller Wolfgang Koeppen. Dem Geburtshaus des Letzteren, seit 2003 literarische Begegnungsstätte inklusive Archiv des 1996 verstorbenen Autors, statten wir natürlich einen kurzen Besuch ab. Koeppen mit seinem Fernweh und seinem kreisenden Scheitern war der ideelle Pate ihres mit Fotos angereicherten literarischen Erstlings Blau steht dir nicht. Matrosenroman (2008, demnächst als SuhrkampTaschenbuch); er hat darin seinen Auftritt, der Wal aus St. Marien übrigens auch. Bereits hier konnte man das Talent Judith Schalanskys entdecken: In diesem autobiografisch grundierten Buch der Erinnerungen an die Insel Usedom, wo die kleine Jenny ihren Großvater erlebt, umgeht sie virtuos alle Fallen des Genres, in die jüngere Autoren gerne tappen. Weder Kitsch findet sich hier noch bedeutungshubernde Banalitäten-Aufbauscherei von Kindheitserlebnissen. Sie modelliert die Sprache, bis sie präzise genug ist, ohne an poetischer Kraft zu verlieren. Und JUDITH geschickt verknüpft sie die Erzählebenen, weil es nicht bloß um Jenny SCHALANSKY am Ostseestrand geht, sondern auch wurde 1980 in Greifswald um Matrosen, Sergej Eisenstein und geboren. Sie studierte in eben Koeppen: eine allmähliche EntBerlin Kunstgeschichte und deckung der Ferne. Kommunikationsdesign. Im Jahr Langsam bekommt man es 2008 erschien ihr Debüt »Blau mit der Angst zu tun: Was ist das nur steht dir nicht«, 2009 ihr für ein Multitalent, das da neben ei»Atlas der abgelegenen Inseln« nem herläuft und gerade vom bevorstehenden Umzug nach Frankfurt erzählt, wo ihre Freundin als Schauspielerin lebt? Das seine Bücher wie Forschungsprojekte erarbeitet und als Gesamtkunstwerk inszeniert, den inneren Werkzusammenhang im Blick? Die Stadt hat schon einmal eine selbstbewusste junge Autorin erlebt: die 1621 geborene und 1638 früh verstorbene Sibylla Schwarz, die durch ihre Gedichte posthum als »pommersche Sappho« berühmt wurde. Lachend erinnert sich Judith Schalansky an ihre eigenen lyrischen Versuche: Mit 18 Jahren ließ sie einen Gedichtband drucken – heute angesichts ihrer Bekanntheit eine antiquarische Rarität. Wir fahren aus der Stadt hinaus aufs Land, dorthin, wo Inge Lohmark lebt, wenn sie nicht in der städtischen Schule unterrichtet, und wo auch Judith Schalansky aufwuchs. Man gerät ins Grübeln, weshalb Deutschlands karger Norden, zumal in Ostseenähe, so viele bedeutende Schriftsteller hervorgebracht hat: Thomas Mann, Günter Grass, den in Pommern geborenen Uwe Johnson. Heute hat Vorpommern keinen guten Ruf: Entvölkerung, Arbeitslosigkeit und Rechtsradikalismus lauten die Stichwörter der Medien. »Wessis aufs Maul«

Fotos (S. 16-18): Wolfgang Stahr für ZEIT Literatur/www.wolfgangstahr.de (Gut Owstin, Mecklenburg-Vorpommern, im September 2011)

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ist in blauer Schrift auf den Klinkerbau des Bahnhofs von Groß Kiesow, ihrem Heimatort, gesprüht. Souverän spielt Judith Schalansky, die aus einer Lehrerfamilie stammt, in ihrem Roman mit den Klischees über diesen Landstrich und den Berufsstand, den sie genau kennt. Das CharlesDarwin-Gymnasium steht natürlich aus Schülermangel vor der Schließung, natürlich herrscht Tristesse, natürlich gibt es die nostalgische Erinnerung an die ordentliche DDR, die die Autorin »abgelauscht« hat, wie sie sagt – mit außerordentlich feinem Gehör, übrigens. Aber die Idee, diese Szenerie ästhetisch zu transformieren und einen ganzen Roman als inneren Monolog noch dazu einer 55-jährigen Frau zu gestalten, ist ein originelles Wagnis. Und es gelingt: Die endlosen stummen Hasstiraden von Inge Lohmark gegen ihre Schüler und Kollegen, ihr eiskalter Blick auf ihre Umwelt wirken abstoßend und zeigen zugleich auf uns. Wer litte nicht an all den dämlichen Menschen um sich herum? Bald fühlen wir mit dieser einsamen Lehrerin, deren Lebenskrise sich zur Manie auswächst; ihre darwinistische Weltsicht als letzte Bastion, die Evolution als großer Plan. Doch das Leben funktioniert nicht nach den Thesen, die die Biologie für die Entstehung des Giraffenhalses aufgestellt hat und die Inge Lohmark den Schülern einbläuen will. Ihre Tochter lebt in Amerika, ihr Mann Wolfgang, der im Buch nie persönlich auftaucht, findet seinen Rückzugsraum beim Versuch, in der Nähe eine Straußenzucht aufzubauen. In dieser Tragik steckt reichlich Komik: Es gibt skurrile Lehrerzimmergespräche zwischen Altkommunist und West-Direktor, der wieder Appelle inklusive eigener Ansprache zwecks Motivation einführen möchte. Überformt wird diese innere Rede durch scheinbar biologische Fachsprache – doch die Autorin zeigt wie einst Thomas Mann im Falle des alten Ägypten in der Joseph-Tetralogie oder der Musik im Doktor Faustus, wie ein Schriftsteller die Poesie eines Jargons kunstvoll adaptieren kann. Land und Menschen in einem epochalen Umbruch, die Natur als alles beherrschende Metapher: Der Hals der Giraffe ist ein psychologisches und sprachliches Meisterstück. Hier will niemand nur seine Geschichte erzählen. Hier ist eine Autorin mit ästhetischen Visionen am Werk. Endlos weitet sich jetzt der Himmel über den braunen Feldern Vorpommerns. Zwischen düsteren Wolken glänzt helles Licht. Caspar-David-Friedrich-Stimmung; die Bäume knarren im Wind. Wir sind jetzt dort angekommen, wo der Roman endet – und wie Inge Lohmark stehen wir am Zaun und schauen: Auf und ab zucken dünne Hälse, Flügel werden gespreizt, Schnäbel geöffnet; die ängstlichen großen Augen einer Straußenfamilie blicken so einfältig wie empfindsam in diese Welt. »Das ist für mich wie Kindergeburtstag«, sagt die Autorin, die sich beim Züchter erkundigt, ob diese in hiesigen Gefilden absurd wirkenden Vögel wirklich so dumm seien, wie man sagt. Sie sind es – was dem Flirten, Balzen und Schnäbeln, das nun zwischen Tier und Mensch beginnt, nicht im Wege steht. Die Frau, die da mit den Straußen tanzt, ist nicht mehr bloß eine vielversprechende Hoffnung – Judith Schalansky ist schon jetzt ein Glücksfall für die deutsche Literatur. Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe Bildungsroman; Suhrkamp Verlag, Berlin 2011; 224 S., 21,90 € (als Hörbuch gelesen von Dagmar Manzel; Der Audio Verlag; 300 Min., 19,99 €)

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Wenn die Aktienkurse in den Keller rauschen, steigt der Wert der Literatur von Ijoma Mangold, Fotos: Rafal Milach Island ist Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Das Land zwischen Vulkanen und Nachtleben ist die perfekte Projektionsfläche für unsere Sehnsüchte nach dem Ausgeflippten und dem Naturschönen. Die Literatur, von den Sagas bis zum zeitgenössischen Roman, hat daran ihren großen Anteil

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nschnallen ist uncool. Die Taxifahrerin, die uns zur neuen Konzerthalle von Reykjavík bringen soll, führt den Gurt hinter ihrem Rücken entlang, um ihn dann zu arretieren. Man muss die Pest der piepsenden Warnsysteme eben pragmatisch überlisten. Die Taxifahrerin lächelt wissend. Heute ist ein Tag, der in die Annalen Islands eingehen wird: Trotz Finanzkrise hat es das Land geschafft, sein neues Konzerthaus fertigzustellen. Es heißt Harpa, Harfe. Und es ist eine architektonische Großgeste: Direkt am Hafen gelegen, hat das Gebäude von Olafur Eliasson eine Außenhaut aus Glasquadern verpasst bekommen, in denen sich das Wasser, die Berge, der Gletscher spiegeln. Und wenn die Sonne im Meer versinkt, dann durchflutet das Abendrot das spektakulär weiträumige Foyer. Als Islands Bankensystem krachend zusammenbrach und das Land an den Rand der Zahlungsunfähigkeit geriet, hatten alle Harpa aufgegeben. Man sah die Bauruine bereits als Menetekel, als Symbol für die Blasenhaftigkeit des Finanzkapitalismus. Doch das isländische Parlament fühlte sich an seiner Ehre gepackt und beschloss: Jetzt erst recht. Indem wir den Kulturtempel fertigstellen, zeigen wir, dass sich nicht alles ums Geld dreht. Wir bekennen uns zu den wahren Werten. Auch wenn diese wahren Werte erst einmal viel Geld kosten. Statt mit dem Geld privater Investoren wird das Gebäude jetzt aus dem Staatshaushalt finanziert. Island liebt die stolzen Gesten. Die Taxifahrerin nickt anerkennend, als sie herausfindet, dass wir für das Eröffnungskonzert Karten haben. Wir wollen wissen, was sie

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Bergthora auf der »Ring Road« bei Kilometer 290

von Harpa hält? Die Leute fänden das Gebäude schon schön, es sei aber sehr teuer. Und dann sagt sie einen Satz, dessen zweiter Teil längst eine feststehende Formel im isländischen Small Talk geworden ist: »Olafur Eliasson – that is so 2007.« 2007, das ist die Chiffre für ein merkwürdiges Zwischenspiel, als die Bäume plötzlich in den Himmel wuchsen und das Geld auf der Insel im Nordmeer sich vermehrte wie der süße Brei im Märchen. Die Zauberkraft der Elfen wurde durch die Zauberkraft der Märkte ersetzt. Und, bei aller Freundschaft: Wenn man ein bisschen nachdenkt über die große Kunst des Olafur Eliasson, so erscheint sie einem tatsächlich wie eine prototypische Vermählung von Elfenzauber und Geldmacht. Die Taxifahrerin fährt fort: »Das hat uns damals doch kaputt gemacht. Dieser Größenwahn. Als jeder Neureiche Elton John engagierte, damit der auf seiner Geburtstagsfeier Klavier spielt.« Das war 2007, die Kasino-Stimmung, als sich jeder Einsatz verdoppelte. Und wie sieht das Land heute aus? Vielleicht darf man Finanzkrisen nicht über-

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schätzen: Wenn Blasen platzen, platzen eben nur Blasen. Als Besucher ist man fast ein wenig enttäuscht, dass man dem realen Island die Spuren des Bankencrashs so wenig ansieht. Vor allem fällt auf: Vor vier Jahren war Island für einen Besucher aus der Euro-Zone unbezahlbar, jetzt kann dieser auch mal zur Abwechslung seine Gastgeber einladen. Es gibt leer stehende Immobilien, aber ansonsten geht alles seinen Gang. Das Nachtleben brummt wie eh und je, und in den schickeren Restaurants muss man rechtzeitig reservieren. Die Schriftsteller und Intellektuellen scheinen geradezu erleichtert, dass der Spuk vorbei ist: Eine Zeit lang hatten die Banker die Autoren in der Rolle der Zeitgeistdiagnostiker aus den Talkshows verdrängt. Diese Demütigung ist jetzt wieder vorbei. Wenn die Aktienkurse in den Keller rauschen, steigt der Wert der Literatur. Und deshalb gab es auch nie einen Zweifel daran, dass Island trotz der damit verbundenen nicht unerheblichen Kosten seinen Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse durchziehen würde.

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Fotos, S. 20-27: Rafal Milach/Sputnik Photos/Anzenberger, aus der Serie »In the Car with R, Iceland‘s Route 1«

Gudjon Arason, 89 Jahre, auf der »Ring Road« bei Kilometer 1987

Fast ist es so, als würde das Land die Krise als einen weiteren Ausweis seiner Besonderheit, ja Exzentrik verbuchen: Wir haben Vulkane, wir haben Björk, und wir haben verrückte Banken ... Zumal Island mit der Finanzkrise aus seiner geografischen Randlage ins Zentrum der Weltaufmerksamkeit rückte. Wenig später gab es erneut schlechte Presse, als der Eyjafjallajökull ausbrach und den europäischen Flugverkehr lahmlegte. Nun zitterten alle Isländer, dass ihnen auch noch der Tourismus wegbreche. Doch das Gegenteil geschah: Das Tourismusgeschäft boomt, alle wollen diese irren Vulkane sehen. Island war schon immer Projektionsfläche für das Schräge, Spleenige, Außergewöhnliche, Skurrile, das ganz Andere. Und die Literatur hatte daran einen wichtigen Anteil. Genau genommen war es präzise ein Buch, das dafür sorgte, dass Island zu einem mythischen Sehnsuchtsort auch der Gegenwart wurde: Der Roman 101 Reykjavík von Hallgrímur Helgason, erstmals erschienen 1996. Helgason war damals Mitte dreißig, aber seit das Buch einschlug wie eine globale Mar-

keting-Kampagne für diese liebenswürdig abgedrehte Stadt Reykjavík, ist er selbst in gewisser Weise zu einem Gesicht Islands geworden. Das nervt ihn manchmal, denn was auch immer im Land passiert, sofort richten sich alle Kameras und Mikrofone auf ihn. 101 Reykjavík ist ein klassischer Hänger-Roman. Die wichtigsten Utensilien der Handlung sind Alkohol und Drogen. Aber eben kombiniert mit so einem typisch isländischen Sinn fürs Unkonventionelle. Erzählt wird die Geschichte des 28-jährigen Hlynur, der nichts auf die Reihe bringt, immer noch bei seiner Mutter wohnt und sich ansonsten die Nächte auf der legendären Kneipenmeile Laugavegur um die Ohren schlägt. Bis er sich in eine Freundin der Mutter verliebt, eine spanische Flamenco-Lehrerin. Bestürzt muss er feststellen, dass die temperamentvolle Spanierin und seine Mutter ein Paar werden. Es folgen viel Weltschmerz und viele extrovertierte Szenen, aber eigentlich lebt der Roman von seiner dichten, verqualmten Partyatmosphäre. Diese exzessive Partyatmosphäre hatte Hallgrímur Helgason so ein-

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Leer stehende Arbeitersiedlungen auf der »Ring Road« bei Reydarfjördur

ladend geschildert, dass die Welt Reykjavík und seine hemmungslosen Bewohner mit eigenen Augen kennenlernen wollte. Geplant war das alles nicht. Helgason sagt: »Es hat uns doch alle überrascht. Wir saßen in unserer Stammkneipe, und plötzlich geht die Tür auf, und Quentin Tarantino stolpert herein.« Heute sei ihm klar, dass es sich dabei um eine ethnologische Neugier auf das Kuriose handle: So wie früher Europäer nach Afrika reisten auf der Suche nach dem Exotischen, reisten sie heute eben nach Island. 1989, sagen die Isländer gerne, fiel auch in Island eine Mauer: die Bier-Mauer. Erst seit dem 1. März 1989 darf in isländischen Kneipen Bier ausgeschenkt werden. Von da an nahm das Kneipenleben seinen Aufschwung. »Für uns«, sagt Helgason, »war das Nachtleben wie ein Fluchtweg. Wenn du kein Geld hattest, die Insel zu verlassen, funktionierte Alkohol wie eine Fluglinie. Aber das ist Vergangenheit. Jetzt wird alles europäischer. Die Leute nippen mittlerweile ganz zivilisiert am Weinglas.«

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Wenn Helgason eine kurze Geschichte Islands schreiben müsste, würde er mit dem Ende des Bierverbots beginnen. Dann kam das Nachtleben. Daraus ging in den neunziger Jahren Islands Ruf als Ort der Coolness hervor. Diese Coolness, sagt Helgason, hätten die Banker dann in den nuller Jahren kapitalisiert. »Die Banker waren die Parasiten, die die Coolness, die die Künstler geschaffen hatten, ausschlachteten.« Jetzt seien die Isländer streng mit sich ins Gericht gegangen und hätten ihren Materialismus verflucht. Das sei eine reinigende Erfahrung gewesen: »Wir waren Japaner, die Sushi aßen, Franzosen, die Champagner tranken. Jetzt sind wir wieder bei uns selbst.« Wenn man Island verstehen will, muss man sich vor Augen halten, dass es über Jahrhunderte ein Land des Stillstands, der Null-Veränderung war, ehe es von einem rasenden Wandel ergriffen wurde. Noch vor 60 Jahren waren fast alle Isländer Fischer oder Bauern. Auch an den großen Klassikern der isländischen Literatur bewundern die Isländer deshalb genau diese Entwicklung: Halldór Laxness sei, sagen sie

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Skulptur mit einem Autowrack auf der »Ring Road« bei Kilometer 3

gerne, in 50 Jahren von der Steinzeit zum Nobelpreis gegangen. Er selbst hat diese Bewegung von der Natur zur Kultur schillernd orchestriert. In seinem Volksbuch – Über Island und Gott und die Welt, mit dem er die Isländer zugleich an die Moderne heranführen und ihren Sinn für die eigenen Traditionen schärfen wollte, schreibt er: »Das Volk schlief zwischen Bergen, die von Geistern und Elfen wimmelten, und in dieser unberührten Landschaft, wo dennoch jedes Tal an unsere Geschichte erinnert, jeder Ausblick auf die Einöde unsere mystischsten Empfindungen symbolisiert – dort stehen wir heute wie neugeborene Menschen auf, ausgestattet mit der Originalität des Naturkindes, die Sprache der Götter auf den Lippen und über uns den von Zeichen und Wundern lodernden Morgenhimmel.« Oder Gunnar Gunnarson (1898 bis 1975), der mit Schwarze Vögel einen rhetorisch groß instrumentierten, expressionistischen Roman über Schuld und Sühne, halb Krimi, halb Weltgericht, geschrieben hat. Er war das Kind einer armen Bauernfamilie. Nachdem er als

Dichter in Dänemark zu Ruhm gelangt war, kehrte er nach Island zurück, kaufte sich einen – etwas angeberischen – Hof, um die bäuerlichen Traditionen wieder aufleben zu lassen (womit er scheiterte). Auch ein anderer Klassiker der isländischen Moderne gehört in diese Reihe: Thórbergur Thórdarson (1888 bis 1974). Heute erinnert ein kleines Museum an der Ostküste an die enge Bauernhütte, in der Thórdarson mit seinen Geschwistern aufgewachsen ist. Jetzt hat der deutsch-isländische Schriftsteller Kristof Magnusson Thórdarsons Meisterwerk Islands Adel ins Deutsche übersetzt – ein irre komisches, verzweifelt abgedrehtes, fast Svevo-haftes Monument der literarischen Moderne Islands. Es erzählt mit viel Selbstironie die Geschichte eines jungen Genies vom Lande, das nach dem Ruhm der Poesie greift: »Keiner konnte es bestreiten, er war ein Genie. Dieses glaubte die Jugend im ersten und zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts nämlich an genau diesen Dingen zu erkennen: Man musste mit übermenschlichen Gaben gesegnet und bewundernswert bedürftig sein, von einem er-

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Die Vororte von Akureyri auf der »Ring Road«

barmungslosen Schicksal gebeutelt an einem Telegraphenmast lehnen, während die Mitmenschen schlafen, sich in einen Socken schnäuzen, weil man keine lumpige Öre für ein Schnupftuch hat.« Aber wie kann im rauen Ackerboden des Bauerntums der zarte Samen der Poesie aufgehen? Darauf haben alle Isländer eine Antwort. Es seien die Sagas und die mündliche Tradition der Volksmärchen, mit denen alle aufgewachsen sind. Das sei der Keim der Poesie. Und tatsächlich sind die Sagas noch heute jedem Isländer, egal welcher Bildungsschicht, vertraut, als handle es sich um seine eigene Familiengeschichte. Die Sagas sind keine Sagen in unserem Sinne, sie erzählen nicht von einer mythischen Vorzeit, sondern sind höchst realistisch gehaltene, Historizität beanspruchende Erzählungen aus der Zeit der Landnahme, als die Wikinger um die Jahrtausendwende herum Island besiedelten. Es sind die Gründungserzählungen des freien Islands. Aufgeschrieben wurden sie 200 Jahre später, im 13. Jahrhundert. Weil die isländische Sprache aufgrund der Insellage kaum einem Sprachwandel unterworfen war, können die Isländer die alten Texte heute

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noch gewissermaßen vom Blatt lesen. Die Sagas sprechen aber auch deswegen so unmittelbar zu unserer Gegenwart, weil sie von einem enormen psychologischen Realismus, ja von fast schon abgefeimter Lakonie durchtränkt sind. Ein einzigartiges Werk der Weltliteratur. Der S. Fischer Verlag hat die Sagas jetzt neu übersetzen lassen (denn die letzte deutsche Übersetzung aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist deutlich schneller gealtert als das Original). Wer vor der gewaltigen Textmasse zurückschreckt, dem seien die SagaNacherzählungen von Tilman Spreckelsen (mit herrlichen Illustrationen von Kat Menschik) empfohlen: Der Mordbrand von Örnolfsdalur und andere Isländer-Sagas. Während in den Originalen Mord und Totschlag und Vergeltung oft wie ein ewiges Karussell umeinander kreisen, hat Spreckelsen das psychologische Substrat der Sagas freigelegt und eine zeitlos-archaische Sprache gefunden, um von jenen Schrecken zu erzählen, die Menschen sich auf Erden antun. Oder man lässt sich die Sagas gleich als Hörbuch erzählen: Der rührige supposé Verlag hat mit Die Saga-Aufnahmen – Teil 1 eine sehr inspirierende Mischung

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In der Nähe des Vulkans Krafla auf der »Ring Road«

hingekriegt, einzelne Sagas von Deutsch sprechenden Isländern (mit unwiderstehlichem Akzent) nacherzählen zu lassen und SchriftstellerO-Töne zu sammeln, die die Bedeutung der Sagas für das isländische Volk und seine Literatur beleuchten. 320 000 Bewohner hat Island. Zwei Drittel davon leben mittlerweile in Reykjavík. »Das ist nicht gut«, sagt der Schriftsteller Gyrðir Elíasson. Mit der Reykjavík-Partywelt hat er nichts zu tun. In seiner Literatur ist die ländliche Tradition noch ganz gegenwärtig. Für seinen poetischen Roman Ein Eichhörnchen auf Wanderschaft, der von einem Jungen erzählt, der aus der ländlichen Monotonie in eine groteske Fantasiewelt flieht, hat er soeben den Literaturpreis des Nordischen Rates bekommen. Und er erinnert sich, wie er als Kind in den sechziger Jahren auf dem Hof seiner Großeltern lebte und wie die Welt der Elfen und Trolle damals noch lebendig war. »Das geht jetzt alles verloren«, sagt er melancholisch. Und fügt hinzu: »Als ein kleines Volk mit Minderwertigkeitsgefühlen mussten wir alles vergrößern und mythologisieren.«

Isländersagas 1–4 Herausgegeben von Klaus Böldl, Andreas Vollmer, Julia Zernack; aus dem Altisländischen von Betty Wahl, Kurt Schier, Thomas Esser, Ursula Giger, Karl-Ludwig Wetzig, Mathias Kruse; S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011; 3384 S., 98,– €

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Der Mordbrand von Örnolfsdalur und andere Isländer-Sagas Nacherzählt von Tilman Spreckelsen; illustriert von Kat Menschik; Galiani Verlag, Berlin 2011; 203 S., 24,99 €

Halldór Laxness: Das Volksbuch Über Island und Gott und die Welt. A. d. Isländ. von Hubert Seelow; Steidl Verlag, Göttingen 2011; 288 S., 24,– € Gyrðir Elíasson: Ein Eichhörnchen auf Wanderschaft A. d. Isländ. von Gert Kreutzer; illustriert v. Laura Jurt; Walde & Graf Verlag, Zürich 2011; 122 S., 18,95 €

Die SagaAufnahmen, Teil 1 supposé Verlag, Köln 2011; Box mit vier CDs, 39,80 € Thórbergur Thórdarson: Islands Adel Roman; a. d. Isländ. von Kristof Magnusson; S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011; 313 S., 22,95 €

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Island ist arm an Menschen und reich an Literatur. Welche Autoren von dort sollte man lesen? Wenn nicht alles täuscht, verbindet die Schriftsteller Islands besonders ihr Eigensinn. Wir haben drei charakteristische Exzentriker getroffen

GUÐRÚN EVA MÍNERVUDÓTTIR Sie schreibt süffige Bücher. Aber sie ist auch in allen theoretischen Diskursen zu Hause. Sie kämpft für das literarische Experiment. Und sie hat die Ehre, die Eröffnungsrede der Frankfurter Buchmesse zu halten

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von Ijoma Mangold; fotografiert von Vera Palsdóttir

it dieser Frau ist es nicht leicht, Einigkeit herzustellen. Sie schätzt den Widerspruch. Irgendwann fragt Guðrún Eva Mínervudóttir: »Warum sind Sie eigentlich die ganze Zeit anderer Meinung als ich?« Ich finde, es ist eher umgekehrt. Wenn man sagt, die Isländer seien so eine bunte Truppe, exzentrisch und unkonventionell, dann entgegnet sie: »Nein, ich finde, Island ist zu homogen. Auch ethnisch. Ist Ihnen das nicht aufgefallen? Reykjavík bräuchte mehr Ausländer.« Schwärmt man zu sehr von Island, gießt sie Wasser in den Wein. In Island spiele die Literatur eine große Rolle, sage ich, selbst die Stewardess im Flugzeug habe Halldór Laxness gelesen. »Entschuldigung«, unterbricht sie, »Laxness ist unser Nobelpreisträger, das versteht sich doch von selbst. In Wahrheit spielen Bücher eine immer geringere Rolle, die Leute schauen doch viel mehr Fernsehen.« Dritter Anlauf: »Die isländische Literatur ist ja ziemlich freakig.« Mínervudóttir schüttelt den Kopf: »In den letzten zehn Jahren hat vor allem der Mainstream zugenommen. Die Verleger trauen sich kaum mehr was.« Die Schriftstellerin Guðrun Eva Mínervudóttir, Jahrgang 1976, wird auf der Frankfurter Buchmesse die Eröffnungsrede halten. In diesem Herbst ist von ihr der Roman Der Schöpfer erschienen, die Geschichte eines sanften Außenseiters, der sein Geld verdient, indem er täuschend echte Sexpuppen in Handarbeit zusammenbaut. Es ist eine Pygmaliongeschichte, die davon erzählt, dass man sich vor den Problemen der Welt und vor der eigenen Verzweiflung nicht retten kann, indem man sich künstliche Mitmenschen und Objekte der Begierde schafft. Nur weil die wirklichen Menschen so unkontrollierbar sind und einen oft enttäuschen, darf man noch lange nicht zu den Puppen überlaufen. Guðrun Eva Mínervudóttir sagt: »Wir behandeln Dinge, als wären sie Menschen, und Menschen, als wären sie Dinge: Auch davon wollte ich erzählen.« Ihr Roman Der Schöpfer ist sehr süffig geschrieben, der Spannungsbogen wird auf jeder Seite gehalten, und man ist sofort mittendrin in einer klaustrophobischen Psychowelt, die von Einsamkeit,

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Überforderung und Weltflucht erzählt. Der Roman zielt ins Herz einer Gegenwart, in der die Menschen vor lauter Freiheit haltlos werden, weil die Scheu so groß ist, sich auf Bindungen einzulassen. Der Schöpfer, sagt Mínervudóttir, sei ihr zugänglichstes Buch, was man auch an den Verkaufszahlen sehen könne. Tatsächlich genieße sie aber in Island eher den Ruf einer experimentellen Autorin. Das überrascht mich etwas. Und Guðrun Eva Mínervudóttir legt nach: »Sehen Sie, das meine ich mit der Macht des Mainstreams: Vor 30 Jahren musste man mindestens Nonsenswörter aneinanderreihen, um als experimenteller Dichter durchzugehen, heute reicht schon ein ungewöhnliches Sujet, und man gilt als Avantgardist.« Sie lacht. Ihr nächstes Buch sei ein Roman, der immer wieder unterbrochen werde von graphic novel-Anteilen. »Ich beschwere mich nicht«, sagt sie mit Nachdruck, »aber ich stelle fest, dass sich die ganze Literaturwelt in Island vor allem um Krimis dreht. Nichts gegen Krimis, aber wir verlieren viel, wenn wir uns nicht mehr der Mühe unterziehen, uns in fremde, verschlossene, avantgardistische Literaturwelten hineinzubegeben.« Das englische Wort novel meine neu, im Roman müsse man auch das formal Neue wagen. Darüber würde sie gerne in Frankfurt sprechen. Als wir über die Finanzkrise reden und darüber, inwiefern sie die Weltsicht der Isländer verändert habe, sagt sie: »Heute glaube ich mehr an Elfen als an Banker.« Doch dann beißt sie sich auf die Lippen. »Ups ... Eigentlich wollte ich auf keinen Fall über Elfen reden.« Warum denn nicht? »Na ja, ich mag Elfen, da bin ich eine der wenigen aus meiner Generation, aber ich würde darüber lieber nicht reden.« Anders als Sexpuppen führen Elfen ein autonomes Leben, sie sind keine Geschöpfe unserer instrumentellen Vernunft. Sie laden zum Träumen ein, man kann sie nicht kontrollieren. Guðrun Eva Mínervudóttir: Der Schöpfer Aus dem Isländischen von Tina Flecken; btb, München 2011; 304 S., 19,99 €

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Foto: Vera Palsdottir für ZEIT Literatur (Þingvellir Nationalpark, im September 2011)

Guðrun Eva Mínervudóttir in isländischer Landschaft mit landestypischem Reisegepäck

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JÓN KALMAN STEFÁNSSON Der Isländer und sein Wetter: Keine andere europäische Literatur ist so geprägt vom Meer, vom Eis und vom Schnee wie die isländische. Der Roman »Der Schmerz der Engel« von Jón Kalman Stefánsson ist der rätselhafteste, aber auch der kälteste aller isländischen Romane auf der Frankfurter Buchmesse. In einer Flensburger Kneipe spricht der Autor über seine Kindheit, die Arbeit auf See und dunkle Dezembertage von Susanne Mayer

Erste Sätze! Man liest, und da ist ein Ton. »Die Berge überragen Leben und Tod und die paar Häuser, die sich auf der Landzunge zusammendrängen«, heißt es auf Seite eins des Buches Himmel und Hölle von Jón Kalman Stefánsson, das eine kleine Ouvertüre ist für das Buch Der Schmerz der Engel, das jetzt auch bei uns erschienen ist, man schlägt es auf und liest: »Irgendwo in Frost und treibendem Schneefall hat es zu dämmern begonnen, und die Dunkelheit des April drängt zwischen den Schneeflocken näher, die sich auf den Mann und seine beiden Pferde setzen. Alles ist weiß von Reif und Schnee ...« Ein Gefühl, wie ausgesetzt zu sein in einer Region, die sich in keiner Weise für die Besiedelung durch Menschen zu eignen scheint, in einer unwirtlichen Vorzeit. Island. Eine finstere Kältewelt, in der das Glück nur in kleinen Momenten zu finden ist, etwa, wenn sich jemand an eine Tasse dampfenden Kaffees klammert, bevor er hinausmuss auf die See, zwischen sich und der Tiefe nichts als eine dünne Schale aus Brettern. Oder wenn ein junger Mensch, der schon in Himmel und Hölle nur »der Junge« genannt wird, sich in Begleitung eines Postboten im Sturm auf dem Gletscher verirrt hat und der Junge umsinkt und ihm sein bester, wenn auch toter Freund erscheint, für einen Moment des trügerischen Glücks. Jón Kalman Stefánsson ist ein Mann mit schmalem Gesicht, Jahrgang 1963. Er ist einer von Islands bekanntesten Schriftstellern, drei Bücher mit Lyrik, dann Romane, acht davon sind auf Deutsch erschienen. Es war nicht so leicht, ihn aufzuspüren, den Erfolgsautor auf seinen Reisen zwischen Reykjavík und Osnabrück und Kopenhagen oder Göteborg, wo er gerade den Per-Olov-Enquist-Preis erhielt, wie vor ihm Juli Zeh und Daniel Kehlmann. Wir landen in einer Kneipe in Flensburg. Da sitzt er, auf der anderen Seite des Tisches, der Sohn eines Maurers aus Keflavík, einem Hafenstädtchen im Südwesten. Auf seinem Schädel kringeln sich rotblonde Locken. Die Mutter starb, als er fünf Jahre alt war, erzählt er auf einiges Nachfragen, und wenn man fragt, was er aus jenen Jahren erinnert, dann sagt er freundlich, es sei ja überhaupt schwierig, sich an Konkretes zu erinnern, das man als Kind erlebt habe, wahr seien nicht die Erinnerungen, sondern die Gefühle, die mit der Vergangenheit verbunden seien. Er beugt sich vor und erklärt gleich noch den poetischen Prozess, es komme ja auch nicht darauf an, dass ein Schriftsteller eine Zeit genau rekonstruiere, etwa diese Welt der Fischer zu Beginn des letzten Jahrhunderts in einem entlegenen Fjord, es gehe um eine emotionale Wahrheit, um Liebe, Furcht, die Sehnsucht nach Sicherheit oder um Hass. Er sagt: »Es gibt in der Welt keine wahren Geschichten.« Er hat die Schule verlassen, als er 15 Jahre war. Ein Job in der Fischfabrik, dann im Schlachthaus. Jahre auf See für die Küstenwache, er erinnert dunkle Dezembertage, »das Meer war nicht mein Ding«, meint er spöttisch. Später dann Bibliothekar, Lehrer, Journalist. Das Leben kann eine verzweigte Geschichte sein, bis der eine Faden gefunden ist, den es lohnt zu verfolgen. Obwohl er doch schon

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als Kind, beim Schreiben eines Aufsatzes, dritte Klasse oder so, diesen Moment erlebte, er sagt: »Eine Tür öffnete sich, es war, als würde ich mir selber begegnen.« Die ersten zwei Romane fühlen sich anders an, er beschreibt sie als »extrem schlecht«. Endlich, letzter Versuch, eine Geschichte über einen Mann, der trinkt und den alle als bedrohlich empfinden, nur wegen seiner Furcht einflößenden Gestalt, und der dann wirklich böse wird. Das Gefühl, den eigenen Stil gefunden zu haben! Wie kommt es, dass wir ihn als isländisch empfinden? Er zögert. Ist es der viel beschworene Einfluss der Sagas? Er sagt, er habe über Jahrzehnte die Sagas nicht gelesen, aber Isländer hätten über Jahrhunderte ihren Erzählungen gelauscht, der isländische Charakter sei von ihrem Ton, der Moral der Geschichten geformt worden wie sonst nur noch vom Meer oder von den Bergen oder dem Wetter. Jón Kalman Stefánsson: Der Schmerz der Engel Roman; aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig; Piper Verlag, München 2011; 352 S., 19,99 €

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ARNALDUR INDRIÐASON

Fotos: Basso Cannarsa/LUZphoto/fotogloria (l.), Patrick Gaillardin/Picturetank/Agentur Focus (r.)

Erst 1995, mit 34 Jahren, begann Arnaldur Indriðason, Romane zu schreiben. Heute ist er der erfolgreichste und bekannteste isländische Krimiautor. Die Reihe rund um Kommissar Erlendur wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Indriðasons Krimis und Thriller sind oft blutig und makaber, statt bombastischer Action widmet er sich aber lieber gesellschaftlichen Themen und der Entwicklung seiner Charaktere von Andrea Heinz

DIE ZEIT: Bis vor Kurzem gab es in Island keine nennenswerte Krimitradition. Mögen die Isländer keine Krimis? ARNALDUR INDRIÐASON: Krimis wurden hier lange nicht als Literatur betrachtet, Autoren sahen darin keine künstlerische Herausforderung. Island fand man als Krimischauplatz unpassend, weil dort ja gar nichts passiere, was man für einen Krimi gebrauchen könne. ZEIT: Aber ist das denn so ein falsches Bild von Island? INDRIÐASON: Ach, das ist dieses naive Bild von Island: schöne Landschaften, saubere Luft. Aber all die üblichen Verbrechen gibt es auch bei uns. Ab und zu sogar einen Mord. ZEIT: Hauptfigur der meisten Ihrer Krimis ist Kommissar Erlendur. Was fasziniert Sie an ihm? INDRIÐASON: Erlendur ist irgendwie in der Zeit stecken geblieben. Er leidet an einem traumatischen Erlebnis aus seiner Kindheit, und dieses Trauma überschattet sein ganzes Leben, es macht ihn zu einem Außenseiter. Er hat keinen Platz in unserer Zeit und schafft es auch nicht, einen zu finden.

ZEIT: Erlendur hat Probleme, mit dem Wandel vom ländlichen zum urbanen Leben zurechtzukommen, der sich in Island in der jüngsten Zeit vollzogen hat. Geht das vielen Isländern so? INDRIÐASON: Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Island sich in sehr kurzer Zeit von einer außerordentlich armen und bäuerlichen zu einer wohlhabenden, modernen Gesellschaft gewandelt. Bei solchen Veränderungen gehen immer auch manche Menschen verloren. Wir Isländer sind uns dessen bewusst, dieser Wandel ist Teil unseres Lebens. ZEIT: In Ihren Krimis geht es um Themen wie häusliche Gewalt oder Migration. Verfolgen Sie damit gesellschaftspolitische Anliegen? INDRIÐASON: Meine Bücher sind im Stil des Sozialen Realismus geschrieben. Ich denke, das ist ein typisch nordischer Krimistil. Ich wähle Themen, die mich persönlich interessieren: Mit Todeshauch wollte ich etwa auf häusliche Gewalt aufmerksam machen, einfach weil ich es für ein verabscheuungswürdiges Verbrechen halte. ZEIT: Die mittelalterliche Handschrift der Lieder-Edda, genannt Codex Regius, ist einer der wichtigsten isländischen Kulturschätze. Ihr Thriller Codex Regius handelt von der Macht und dem Wert von Literatur. Eine Antwort auf die Bankenkrise in Island? INDRIÐASON: Das Buch wurde mitten während des Finanzbooms in Island geschrieben. Ich wollte die Menschen darauf aufmerksam machen, dass es in dieser Welt Dinge gibt, die wertvoller sind als Geld oder Aktien. Unser Codex Regius ist ein perfektes Beispiel dafür. Ein Artefakt von unermesslichem Wert, das all die Jahrhunderte überdauert hat, von außen so klein, schmutzig und unscheinbar und innen drin doch so zum Bersten voll mit Wissen und Weisheit. ZEIT: Erlendur ist ja kein großer Fan von Konsum oder Finanzgeschäften. Ist das ein kritisches Statement zur isländischen Gesellschaft? INDRIÐASON: Erlendur ist lange vor der Finanzkrise erfunden worden, aber als die Finanzbranche wuchs und wuchs, begann ich ihn als eine Art Antipoden zu dem Ganzen zu sehen: ein Mann, der an Geld oder Wohlstand nicht interessiert ist und den Wert der einfachen Dinge erkennt. Er entstammt einer völlig anderen Kultur als jener, die die Finanzkrise heraufbeschworen hat. ZEIT: Welche Bedeutung hat die alte isländische Literatur, darunter die Sagas, für Sie persönlich? INDRIÐASON: Die Sagas sind nicht nur großartige dramatische Geschichten von Rache und Ehre, sie sind auch brillant geschrieben. Da ist kein Wort zu viel. Auch ich versuche, so zu schreiben, die Worte vorsichtig und sparsam zu verwenden. Die Autoren der Sagas waren Experten darin – und warum nicht von den Besten lernen? ZEIT: Es heißt, Sie leben zurückgezogen. Mögen Sie die Einsamkeit? INDRIÐASON: Ich lebe zurückgezogen? Das wusste ich ja gar nicht. Aber ich bin Autor, Einsamkeit ist mein Sauerstoff. Ich schreibe in Einsamkeit. Ich denke in Einsamkeit. Und deswegen mag ich sie. Ich finde, sie wird schwer unterschätzt. Arnaldur Indriðason: Abgründe Aus dem Isländischen von Coletta Bürling; Bastei Lübbe, Köln 2011; 429 S., 15,99 €

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Was der Kieselstein von Elisabeth

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Der Direktor des British Museum, Neil MacGregor, bringt die Dinge

in ineinander verschlungenes Paar, die Gesichter verschliffen, doch einander zugewandt: Das ist in diesem Kieselstein zu erkennen. Wenn einer von zwei Millionen Jahren Menschheit berichten will und von der Welt insgesamt, hört man leicht weg, zu groß, unvorstellbar. Doch wenn er von einem Kieselstein erzählt, der 11 000 Jahre alt ist und sich als ein von Menschenhand gefertigtes Kunstwerk entpuppt? »Als die letzte Eiszeit zu Ende ging, fischte jemand einen Kieselstein aus einem Flüsschen unweit von Bethlehem«, so beginnt Neil MacGregor seine Erzählung von diesen »Liebenden von Ain Sakhri«, die als älteste Darstellung des Liebesakts gelten. »Dieser Kiesel muss stromabwärts getrieben worden sein, stieß dabei an andere Steine und rieb sich an ihnen.« Vor dem inneren Auge des Zuhörers formt sich alsbald ein Gegenstand, der berichtet, wie Menschen sesshaft wurden und sich vielleicht deshalb jenseits der Fortpflanzung ihre Gefährten suchten. »Für mich zeugt die Zärtlichkeit der sich umarmenden Figuren nicht von reproduktiver Kraft, sondern von Liebe«, schreibt MacGregor, betont das Spekulative seiner Deutung und freut sich an seinem Gedanken, dass die Welt womöglich schon so lange die menschliche Innigkeit kennt. Hundert Gegenstände hat der Direktor des British Museum in London aus den Beständen dieses umfassendsten Sammelkastens der Weltgegenstände ausgesucht, lauter Greifbares wie Steine, Münzen, Stoffe, um sie aus dem musealen Scheintod zu wecken und sich von ihnen berichten zu lassen, was sich auf dem Globus seit den Anfängen der Menschen zugetragen hat. Nicht schriftliche Quellen sollen erzählen, was war, sondern Dinge, die auch zur poetischen Neuschöpfung des Geschehenen einladen: Das ist historiografisch eine Premiere ersten Ranges, und sie kommt zur rechten Zeit. Denn ständig steigt in Überflussgesellschaften die Flut von Dingen an, die immer bedeutungsloser werden. MacGregor setzt ihr nun, auf je ein paar Seiten, einige Dutzend aufbewahrenswerte Objekte aus zwei Millionen Jahren entgegen. Das hat etwas Minimalistisches, es stellt die Frage in den Raum, was man braucht. Aber diese Dinge brauchen auch uns: Sie sind darauf angewiesen, stets neu gedeutet zu werden. Bedeutungen wandern wie Gegenstände. Ein Jadebeil, das vor 6000 Jahren aus einem Felsen geschlagen wurde, konnte erst unlängst, 2003, in seiner Herkunft lokalisiert werden, es stammt aus einem bestimmten Felsblock in den italienischen Alpen und wurde erkennbar nie benutzt: ein Luxusgegenstand, der seinen Weg über Frankreich ins englische Canterbury fand. An den Wegstationen sind ähnliche Beile erhalten, wie zum Zeichen eines sich verbreitenden Sinns für die Schönheit. Man könnte vermuten, hier wird einer angesichts des ruinösen Zustands der Welt sentimental. Doch nur ein Mal auf den 800 Seiten dieses Buchs, zum Schluss, trägt MacGregor einen Anflug von Pathos auf: Er möchte zeigen, »dass der Begriff Menschheitsfamilie keine leere Metapher ist«, weil wir einander so ähnlich sind. In diesem Sinne könnten alle seine Objekte uns »demütig« machen. Und mitten im Buch spricht er von der »Hoffnung als der bestimmenden menschlichen Eigenschaft«. Doch Weltrettungsstress? Nirgends. Das Buch berichtet – 100-fach und chronologisch, bei den Anfängen beginnend

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Aus Mais hat der Maisgott die Menschen geformt, und um ihren täglichen Mais haben sie ihn gebeten: Steinstatue der Maya, entstanden 715 nach Christus, gefunden in Copán, Honduras

bis heute, aus allen Gegenden der Welt – von der Zuneigung des Autors zur menschlichen Spezies und seinem Befremden, weil diese Spezies sich derart für Sex und Reichtum verausgabt und in Kriege verstrickt, dass es trotz aller Kunst, Wissenschaft und Kultur bis heute mit der friedlichen Genügsamkeit, die den Globus erhalten könnte, nichts Rechtes wurde. Umso tiefer verneigt sich der Autor vor dem buddhistischen Kaiser Ashoka, während er dem Stück einer Ashoka-Steinsäule von 238 vor Christus die Geschichte von dem Kaiser entlockt, der dem Krieg abschwor und fortan auf Güte, Toleranz und Selbstdisziplin setzte. Je tiefer man in MacGregors Strom des Erzählens eintaucht, desto beglückender wird es, diesen wahren Begebenheiten zuhören zu dürfen, und fast wird es einem darüber gleichgültig, ob die Sache mit den Menschen am Ende gut ausgeht oder nicht. »Wie soll diese Geschichte der Welt enden?«, fragt der Erzähler listig im letzten Abschnitt des Buchs, der dann mit einer chinesischen Solarlampe samt Ladeakku für Privathaushalte aufwartet, und irgendwie ist es MacGregor bis dahin gelungen, dass einem das ungemütliche Weltende weniger interessant vorkommt als diese Erfindung, die er als Remedium gegen die Energiegier vorstellt. Hauptsache, er erzählt weiter. Nur die allerletzten 20 Seiten des Buchs sind mit unseren ressourcengefräßigen letzten 50 Jahren der Weltgeschichte befasst. 50 Jahre von zwei Millionen: peinlich.

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über die Liebe erzählt von Thadden

Abb.: »Maya-Statue des Maisgottes« Steinstatue, gefunden in Copán, Honduras, 715 n. Chr.; aus dem besprochenen Buch © The British Museum/Beck Verlag

zum Sprechen: Die einmalige »Geschichte der Welt in 100 Objekten«

Nicht um Moral, um die Vorstellungskraft des Publikums geht es dem Autor. Die 800 Seiten Buch sind ursprünglich nicht zum Anschauen gedacht: ein Kunstgriff. Auch wenn die 100 Gegenstände im gedruckten Buch jetzt kostbar abgebildet sind, hat MacGregor sie zunächst in der Regie der BBC fürs Radio ausgesucht. Nur zum Hören. In einem ausgefeilten Auswahlverfahren, mit einer Heerschar von Mitarbeitern, beraten und kommentiert von Legionen hoch angesehener Wissenschaftler und gänzlich unbekannter Laien aus aller Welt, deren Stimme wiedergegeben ist. Am Ende hat eine weltweit übertragene Serie der BBC der Welt von sich selbst erzählt, ein Jahr lang. Die einmalige Mischung aus Dorfbrunnengespräch, Spekulationslust und tief gelehrtem Weltwissen bedeutet einen genialen Tribut an die traditionelle Mündlichkeit der Überlieferung: Die längste Zeit der Weltgeschichte haben beinahe alle Menschen nicht lesen und schreiben können, geschweige denn ein Museum betreten. Was blieb, war Weitererzählen. Wer diese Idee harmlos findet, täuscht sich. MacGregor wollte eine Methode gegen den eurozentrischen Blick entwickeln. Europa ist nicht der Nabel der Welt, es hat mit diesem Irrtum genug Schlamassel angerichtet. »Das Wort Mittelmeer«, hat MacGregor im Gespräch mit der Sunday Times gesagt, »ist nicht mehr haltbar. Nie hat dieses Meer in der Mitte der Welt gelegen.« Stattdessen stellt er eine Vielfalt der Versionen zum Weltgeschehen von 100 Schauplätzen aus nebeneinander, und weil schriftliche Quellen allzu oft die Geschichte der Sieger, der westlichen Machtzentren erzählen, sollen nun Gegenstände auch von denen berichten, die stumm blieben: etwa 95 Prozent der Menschheit. Eine Geschichte der Dinge ist deshalb gerechter. Die Trommel, der afrikanische Sklaven um 1700 während der erzwungenen Überfahrt auf die Sklavenmärkte ihren tröstenden Rhythmus entlocken sollten, um nicht gleich zu krepieren, gehört zu den hundert. Die afroamerikanische Dramatikerin Bonnie Greer berichtet dem Erzähler heute, wie diese Trommel all die Kinder der schriftlosen Sklaven repräsentiert, die nun in London leben: »Und weil wir ein Teil des Objekts sind und das Objekt ein Teil von uns ist, ist es hier am richtigen Ort.« Auch jener durchbohrte Holzschild aus der Botany Bay, den in Australien einer der Aborigines um 1770 fallen ließ, als die Briten seine Insel heimsuchten, erzählt von nachgeholtem Respekt: Die Vorfahren des Schildträgers hatten seit 60 000 Jahren das Land bewohnt, und plötzlich stand da James Cook. Der Schild ging zu Boden. Nun wurde er aufgehoben. Bei alledem zeigt sich MacGregor keineswegs als zerknirschter Europäer, der ob der kolonialen Verbrechen seines Empire eine Schuld abtragen wollte. Vielmehr will er die übrige Welt mit dem Besten der europäischen Aufklärung britischen Typs beschenken: Das British Mu-

seum, vom Parlament 1753 ins Leben gerufen, präsentiert er als einzigartigen Ort, zu dem jeder Bürger der Welt umsonst Zugang hat, um sehen zu können, wie die Kulturen einander betrachten. Seine Geschichte der Welt in 100 Objekten kann man wie eine groß angelegte Fortbildungsveranstaltung verstehen, die durch eine Weitung der Vorstellungskraft neuen Spielraum für acht Milliarden Bürger schafft, von denen jeder sein Kochgeschirr gern mit Essbarem füllen würde und nachts nicht gern einsam ist – jeder ein potenzieller Museumsbesucher. Nun wäre noch über den sowjetischen Porzellanteller zu berichten, der 1921 bemalt wurde, in dem Jahr, als vier Millionen Menschen in Russland Hungers starben, auch mancher, der diesen Teller herstellen half, auf dessen Boden das Manufakturzeichen des Zaren von 1901 ebenso zu erkennen ist wie der sowjetische Hammer mit Sichel von 1921; die doppelte Bezeichnung sollte den Teller im Westen besser verkäuflich machen, damit das Kapitalistengeld half, den Kapitalismus dauerhaft zu besiegen. Es ließe sich erzählen von dem norwegischen Schachspiel aus Walfischzähnen, das einen ganzen Kulturvergleich der Gesellschaften hergibt, indem hier statt der üblichen Türme am Rande mörderische Berserker stehen, und an dem sich zeigen lässt, wie der Schachdame in Europa immer subtilere Spielzüge, immer mehr Macht zukamen, während in islamischen Schachspielen ein männlicher Wesir dem König zur Seite stand. Und von MacGregors scharfem Blick für die Rechtsgeschichte wäre zu reden, der in einem antiken Becher mit pädophilen Szenen den heutigen Straftatbestand sieht, also den Fortschritt, und auch weiß, dass dieser Becher heute wegen seiner Anstößigkeit kaum noch verkäuflich wäre. Doch wer sich in der Feinheit der Geschichten verliert, übersieht leicht, dass MacGregor tatsächlich Geschichtsbilder neu arrangiert: Er rückt die Gleichzeitigkeit von räumlich weit getrennten Entwicklungen ins Bild, etwa wenn er an Statuen und Fußbodenreliefs zeigt, dass um 300 nach Christus die Darstellung der jeweiligen Götter als Menschen im Buddhismus ebenso üblich wurde wie in Hinduismus und Christentum. An Gegenständen erkennt man auch die Tag- und Nachtseiten der Moderne leicht: Die Trommel der Sklaven, eine nordamerikanische Hirschhautkarte, der Borkenschild der Aborigines und eine Bi-Scheibe aus Jade weisen darauf hin, dass zwischen 1680 und 1820 Ausbeutung, Entdeckung und Aufklärung oft enge Verwandte waren. Und hat man die Epoche der Reformation, der Konflikte um Toleranz und Intoleranz, zuvor je in der Miniatur eines Mogulprinzen gespiegelt gesehen und in einer mexikanischen Kodex-Landkarte? Aber vielleicht ist das Feinste an dem Buch, dass man unwillkürlich von dem Gegenstand erzählen möchte, der einem am meisten gefällt. Das wäre für mich der Maisgott, Nr. 9, eine Maya-Statue. Dieser seit Jahrtausenden verehrte Gott stellt die Frage, warum in Mittelamerika von den Grundnahrungsmitteln der Mais und weder Bohnen noch Kürbisse vergöttert wurden; warum Menschen bei der Schöpfung aus Mais geformt wurden; und warum es also heute heißt, Gott zu spielen, wenn man Mais für den Benzintank von Autos verwendet. Es liegt daran, dass ... – diese Geschichten sollen nie aufhören. Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten A. d. Engl. v. W. Götting, A. Wirthensohn, A. Zettel. Verlag C. H. Beck, München 2011; 816 S., 39,95 €

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HÖRBUCH GROSS GEKNARZT UND WAHNHAFT GLÜHEND : WIE DER GREISE ROLF BOYSEN HEINRICH VON KLEISTS PROSA LIEST UND WIE DIE ALTEN RUNDFUNKHÖRSPIELE SEINE DRAMEN ZUM LEUCHTEN BRINGEN

Am Nachmittag des 21. November 1811 hallten zwei Pistolenschüsse über den Kleinen Wannsee, zwischen Potsdam und Berlin gelegen. Heinrich von Kleist tötete in einer Mulde auf einem Hügel zunächst Henriette Vogel durch einen Schuss ins Herz, danach sich selbst, indem er sich eine Kugel in den Mund jagte. Der Nachhall beider Schüsse in der Literaturgeschichte ist bis heute gewaltig; kein deutscher Dichtertod hat die Nachwelt mehr bewegt – wenn auch mit der Verspätung um ein Jahrhundert. »Wie zwei fröhliche Luftschiffer« wollte das Paar sich im Freitod »über die Welt« erheben, heißt es in einem von Kleists Abschiedsbriefen – in der Langfristbeobachtung eine bemerkenswert erfolgreiche Aktion: Denn das Publikum, von dem er sich zeitlebens ignoriert fühlte, schaut heute bewundernd hinauf zu Kleists hoch droben schwebenden dramatischen Künsten. Viel Kleist zu lesen gibt es in diesem Jubiläumsjahr – am großartigsten aber ist zweifellos ein Höreindruck. Der Schauspieler Rolf Boysen, Jahrgang 1920, trägt die Kleistschen Novellen vor. Live konnte man das zuletzt in München auf unvergessliche Weise erleben, nun als Mitschnitt in einer 15 CDs umfassenden Hörbuchedition. In den vergangenen Jahren hatte Boysen faszinierende VorleseGroßprojekte gestemmt, die allesamt zu akustischen Sternstunden wurden: das Nibelungenlied, Gottfried von Straßburgs Tristan und Isolde, Wolfram von Eschenbachs Parzival, Dantes Göttliche Komödie, die Ilias und die Odyssee. So wuchs ein ganz besonderes Alterswerk dieses großen Schauspielers heran. Nun also Boysens Kleist, darunter die Verlobung in St. Domingo, Michael Kohlhaas, Das Bettelweib von Locarno und die Marquise von O. Schon als Junge hatte er die Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege seiner Familie vorgelesen. Und 1944 hatte der Soldat Boysen ein Kleist-Bändchen dabei, als er in amerikanische Gefangenschaft geriet; damit unterhielt er seine Mitgefangenen. Später als Schauspieler wurde er für die großen Kleist-Rollen gefeiert, seit 1979 vor allem an den Münchner Kammerspielen, später am Residenztheater unter Dieter Dorn: als Dorfrichter Adam im Zerbrochenen Krug 1986 oder als Kurfürst im Prinz von Homburg 1995. »Boysen lässt Kleists Worte durch sich hindurchfließen«, schwärmten Kritiker. Was nun dieser über Neunzigjährige als vortragender Interpret leistet, ist gleichfalls atemberaubend. Wie ein alter Dirigent durch-

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dringt er das ästhetische Material mit der ganzen Erfahrung eines Lebens. Hier ist etwas herangereift zur Vollendung. Das Rätselhafte an Kleist geht in der Stimme Boysens eine Symbiose ein mit dessen Komik, dessen genialischen Verrücktheiten und psychopathischen Partien, seiner Scharfsichtigkeit der Seelenzergliederung. Gebannt lauscht man diesem knarzigen Altmännergesang, der zwischendurch so erstaunlich zart sein kann – oder verzweifelt brüchig, voller Trauer. Es knirscht und knattert, wo es sein muss. Ab und an erklingt ein ironisches Tremolo, aber dann auch der echte hohe Ton, wie man ihn heutzutage auf Bühnen nicht mehr hört. So müssen die weise gewordenen antiken Seher geklungen haben, denkt man – um im nächsten Augenblick sich am sprühenden Witz von Boysen zu erfreuen. Es herrscht zwar ein äußerst expressiver, aber stets genau durchdachter Ausdruck; Boysens Modulation und präzise Phrasierung faszinieren. Man spürt die intensive Vorbereitung in jedem Moment. Nie lässt die Konzentration dieses Interpreten nach; phänomenal sind sein Nuancenreichtum und seine differenzierten Klangfarben, die von Silbe zu Silbe wechseln können. Der berühmten Geschichte der Marquise von O., die bei Kampfhandlungen von ihrem Retter während einer Ohnmacht geschwängert wird, gibt Boysen eine wunderbar komische Note, die die dramatische Tragik transzendiert. Und mit Schaudern im Wissen um Kleists und Henriettes Ende lauscht man der kleinen Anekdote über den »Selbstmord eines Liebespaares«: urplötzlich langsamer und verdüstert trägt Boysen den ahnungsvollen Schlusssatz vor, der mitteilt, dass das Mädchen zuerst gestorben sei. Eine verdienstvolle Kleist-Edition seiner Dramen führt hingegen noch einmal Sternstunden der Hörspielkunst vor, die aus den Rundfunkarchiven geborgen wurden. 1956 produzierte der WDR Penthesilea, in der Hauptrolle die glühend-wahnhafte Maria Becker, daneben Will Quadflieg und Hansjörg Felmy. Reizvoll historisch klingt das alles, denn damals blieb man viel näher als heute an einer gesprochenen Theaterinszenierung: so im Zerbrochenen Krug (SFB 1961, glänzend Eduard Wandrey), so im Käthchen von Heilbronn (BR 1960) und im Prinzen von Homburg (SWR 1958). Die Größe dieses Autors, der uns seiner »eigenthümlichen Beschaffenheit wegen« (Kleist) nicht loslässt, wird in beiden Editionen hörbar. Rolf Boysen trägt am Ende Kleists Abschiedsbriefe vor, darunter den berühmten an seine Schwester Ulrike, worin er bekennt, »daß mir auf Erden nicht zu helfen war«. Ganz schlicht klingt hier der leise zitternde Boysen, aber auch mit Kleistschem Stolz auf dessen kommenden Tod. Und wer wäre nicht bewegt, wenn der große Rolf Boysen mit Kleists letzten Worten endet: »am Morgen meines Todes«?

Foto (Ausschnitt): akg-images (Miniatur, Pastell auf Porzellan, von Peter Friedel, 1801)

von Alexander Cammann

Heinrich von Kleist: Novellen Gelesen von Rolf Boysen. Der Hörverlag, München 2011; 15 CDs, 854 Min., 49,– € Die große Dramenbox. Der Audio Verlag, Berlin 2011; 9 CDs, 500 Min., 29,– €

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Ungleiche von Adam Beide machen in Berlin Karriere beim Film. Die eine dient sich den Nationalsozialisten an, die andere Hollywood.

Marlene Dietrich (links) war als erste Deutsche ein Filmstar in Hollywood. Sie wurde 1901 in Schöneberg bei Berlin geboren. Berühmt wurde sie als Hauptdarstellerin im Film »Der blaue Engel« von Josef von Sternberg, der mit ihr bald auch in Amerika drehte. Während des Zweiten Weltkriegs sang sie vor amerikanischen Soldaten, die sie in Europa begleitete. Ihre Filmkarriere setzte sie unter anderem mit den Regisseuren Fritz Lang, Alfred Hitchcock und Billy Wilder fort. Sie starb 1992 in Paris. Leni Riefenstahl zählt aufgrund ihrer Nähe zu den Nationalsozialisten zu den umstrittensten Figuren der Filmgeschichte. Sie wurde 1902 in Berlin geboren und arbeitete mit Unterstützung Adolf Hitlers als Regisseurin. Ihre Filme »Triumph des Willens« über den Nürnberger Reichsparteitag 1934 und »Olympia« über die Olympischen Spiele in Berlin 1936 sorgten für Aufsehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg fotografierte sie Stämme in Afrika sowie die Unterwasserwelt. Sie starb im Alter von 101 Jahren.

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Zwillinge Soboczynski In einer großartigen Doppelbiografie erzählt Karin Wieland das Leben von Leni Riefenstahl und Marlene Dietrich

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arum die eine sich den Nationalsozialisten anschloss, die andere in Hollywood Karriere machte, lässt sich so leicht gar nicht beantworten. Leni Riefenstahl und Marlene Dietrich sind Antipoden und Zwillingsschwestern zugleich, sie sind beinahe gleich alt, verbringen ihre Kindheit und Jugend weitgehend in Berlin, versuchen gegen den Widerstand des Elternhauses in den zwanziger Jahren als Schauspielerin Karriere zu machen, was auch beiden gelingt. Beschaut man sich ihre Lebenswege bis zum Ende der Weimarer Republik, entdeckt man durchweg Gemeinsamkeiten: den fanatischen Drill am eigenen Körper, allerlei Liebschaften, ein zunächst eher zweifelhaftes Talent im Schauspielfach, das vor allem durch soziale Geschicklichkeit (die das weite Reich handfester Erotik mit einschließt) kompensiert wird. Heute gilt die eine als Kämpferin gegen das »Dritte Reich«, die andere als glühende Nationalsozialistin, die noch die Frechheit hatte, sich im Nachhinein als unpolitische Künstlerseele zu stilisieren. Weshalb es natürlich eine wunderbare Idee ist, die beiden Lebenswege in einer Doppelbiografie zu beleuchten, wie es gerade die Politologin Karin Wieland tat. Es ist ihr, um es gleich zu sagen, damit ein großes Kunststück geglückt. Kurioserweise gerade deshalb, weil sie es vermeidet, voreilig Synthesen zu formulieren. Karin Wieland schneidet, einer Regisseurin gleich, lediglich die Biografien gegeneinander und verzichtet auf erkünstelte Überleitungen. Sie zeigt mehr, als dass sie interpretiert. Nicht einmal am Ende werden die Fäden zusammengeführt oder wird gar ein Resümee gewagt. Ein Verfahren, das erstaunlicherweise aufgeht. Was erzählt wird, spricht nämlich durchaus für sich. Leni Riefenstahl entspringt dem Wedding, jener seinerzeit berüchtigten »Arbeiter- und Verbrecherkolonie«. Ihr Vater ist Handwerker und aufstiegshungrig, hat aber für das künstlerische Streben seiner Tochter, die sich zunächst als Tänzerin behauptet, kein Verständnis. Dabei ist sie keineswegs eine jener verlotterten Revuegirls, sondern versucht sich im Ausdruckstanz, der die starren Bewegungsabläufe und die Ballettschuhe von der Bühne verbannt. Leni Riefenstahl zelebriert eine von den Lebensreformern inspirierte, barfüßige, priesterinnenhafte Akrobatik, die mit traditionellen Tanzregeln bricht. Der exaltierte Kunstanspruch verdeckt dabei nur mühsam den Dilettantismus der Tanzreformer. Zum Kino gelangt sie recht bald, indem sie Luis Trenker umschmeichelt und mit diesem eine Affäre beginnt, dem Star von Bergfilmen. Es handelt es sich hierbei um frühe, einigerma-

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ßen avantgardistische Produktionen, die den Riss zwischen Zivilisation und Natur, Stadt und Wildnis dramatisch umkreisen. Auf ungesunde Weise ehrgeizig sind sie beide, Marlene Dietrich wie Leni Riefenstahl, berechnend spielen sie die Männer, die ihnen auf erstaunlich dumme Weise verfallen (und unendlich leiden), zeitlebens gegeneinander aus, nutzen sie, um an Aufträge und Beziehungen zu gelangen. Bei Aufnahmen im Gebirge vermag es Leni Riefenstahl regelmäßig, mit Regisseur, Hauptdarsteller und Produzent abgründige Affären einzugehen, was einerseits die Beziehungen zwischen den Männern arg belastet, Riefenstahls Karriere aber deutlich beschleunigt. Unschuldig indes ist die Filmerotik der Bergwelt. Hier setzt man auf Landschaft, frische Luft und Bewegung, nicht aber auf Schminke und Seidenstrümpfe, die elementaren Accessoires Marlene Dietrichs. Die beiden Frauen begegneten sich einmal in einer Bar. Leni Riefenstahl erinnerte sich später an die ordinäre Stimme ihrer Konkurrentin. Betrunken soll diese ausgerufen haben: »Warum muss man immer einen schönen Busen haben, der kann ja auch mal ein bisschen hängen.« Dabei habe sie ihren linken Busen angehoben und sich über die amüsierten Blicke gefreut. Überhaupt wird Riefenstahl nachgesagt, dass sie neidisch auf Marlene Dietrich gewesen sei und diese als »Flittchen« zu brandmarken suchte. Als Dietrich den Blauen Engel dreht, wohnt sie mit Riefenstahl im selben Häuserblock, ohne es zu ahnen. Riefenstahl soll missvergnügt von ihrem Dachgarten aus in die Fenster Dietrichs geblickt haben. Marlene Dietrichs Karriere begann ebenfalls mit einem Auflehnungsakt gegen die Familie, die der halbseidenen Künstlerwelt ablehnend gegenüberstand. Ihr Vater ist ein untüchtiger

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Fotos: Bettmann/Corbis (S. 36), akg-images (S. 37), Handabdrücke aus: Marianne Raschig »Hand und Persönlichkeit«, Enoch Verlag 1931

Die Handflächen Leni Riefenstahls (links) und Marlene Dietrichs. Verraten die Linien etwas über das ungleiche Schicksal der Künstlerinnen?

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Polizeileutnant in Schöneberg, seine Tochter verbringt ihre Freizeit im skandalösen Eldorado und anderen Bars der Stadt, in denen Transvestiten, Grunewaldbankiers, Stricher und Literaten verkehren. Und es ist schön zu sehen, wie die gröbsten Klischees über jene berüchtigten zwanziger Jahre in Karin Wielands Biografie bestätigt werden können: Je fragiler das von politischen Wirren und Wirtschaftskrisen gebeutelte Berlin wird, umso hemmungsloser wird gefeiert. Affären sind keine Ausnahmen, sie geben den Takt des Alltags vor. Noch vor der Machtergreifung der Nazis gelangt Marlene Dietrich nach Hollywood, noch vor der Machtergreifung hat Riefenstahl den Kontakt zu führenden Nationalsozialisten aufgenommen. Mit Adolf Hitler macht sie ausgedehnte Spaziergänge, und die neuesten Quellen bestätigen, was man schon immer ahnte: Sie diente sich den Nazis ohne jede Hemmung an. Es war zunächst der Drang nach Karriere und Ansehen, der sie zu den Verbrechern trieb. Es war der Drang nach Karriere und Ansehen, der Marlene Dietrich nach Hollywood führte. Und doch ahnt man, weshalb ihre Wege sich trennen mussten. Letztlich aus Gründen des Milieus, der Alltagsgewohnheiten und -ästhetik: Wer das laszive, multikulturelle, struppige Nachtleben bedingungslos liebte, wie es Marlene Dietrich tat, war für Nazis zumeist unempfänglich. Die lebensreformatorisch inspirierte, auf gesunde Körper fixierte Gymnastikerin Riefenstahl war es nicht. Karin Wieland: Dietrich & Riefenstahl Der Traum von der neuen Frau. Hanser Verlag, München 2011; 630 S., 27,90 €

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Ein Blick auf uns und Über diese Bücher wird im Herbst geredet und Eine Handreichung für den

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Erschöpfung, Meuterei, Nervenschock: Der Historiker und Schriftsteller Peter Englund erzählt die Geschichte des Ersten Weltkriegs aus den Blickwinkeln von 19 Menschen, die ihn erlebt haben. Eine überzeugende Synthese aus historischem Wissen und Erfahrung.

Liebesleid kennt jeder, nirgendwo erfährt sich der Mensch stärker. Ein Irrtum, erklärt die israelische Soziologin Eva Illouz und zeigt, wie sexuelles Kapital zur risikohaften Gefühlsanlage zwingt. Verglichen damit ist das Treiben an der WallStreet ein Kindergarten.

Peter Englund: Schönheit und Schrecken Rowohlt; 35,95 €

Siehe Seite 76 Eva Illouz: Warum Liebe weh tut Suhrkamp; 24,90 €

War es gestern, dass uns das Glück der Kleinfamilie so spießig erschien? Melanie Mühl geht mit jenen ins Gericht, die sich von einer Scheidung nicht Schmerz, sondern Glück im lustigen Durcheinander einer Patchwork-Existenz versprachen. Hat je einer nach der Trauer der Kinder gefragt? Ein Plädoyer für Vernunft in der Ehe. Siehe Seite 83

Neil MacGregor schreibt die Geschichte neu: Er bringt Steine, Stoffe, Töpfe zum Sprechen und lässt ein hundert Dinge davon erzählen, was die Menschen in zwei Millionen Jahren auf Erden angestellt haben. Siehe Seite 32 Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten C. H. Beck; 39,95 €

Melanie Mühl: Die Patchwork-Lüge Hanser; 16,90 €

Das monumentale Werk des Historikers Heinrich August Winkler widmet sich in diesem zweiten Band den Jahrzehnten zwischen 1914 und 1945, mithin einem düsteren deutschen Kapitel, und feiert die Kraft der westlichen Demokratie. Siehe Seite 66 Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens C. H. Beck; 38,– €

BELLETRISTIK

Ein Strategiespiel über den Zweiten Weltkrieg verdirbt dem Helden seinen Urlaub, die Liebe und fast das Leben. Der Autor von »2666« lässt diesmal die untoten Wehrmachtgeneräle zum Albtraum einer deutschen Ferienjugend in Spanien werden. Siehe Seite 42 Roberto Bolaño: Das Dritte Reich Hanser; 21,90 €

Prügel, Suff und Kinderheim: eine verdammt harte Geschichte mitten im DDR-Sozialismus, wo eine Halbwüchsige um ihr Dasein kämpft – erschütternd lakonisch erzählt für unsere Gegenwart.

Das Innenleben einer Biologielehrerin in Vorpommern: Private und gesellschaftliche Krise paaren sich. Heraus kommt ein scharf sezierendes Meisterstück – tragisch und komisch zugleich.

Angelika Klüssendorf: Das Mädchen Kiepenheuer & Witsch; 18,99 €

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe Suhrkamp; 21,90 €

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Der Roman des isländischen Autors Jón Kalman Stefánsson kommt zu uns wie aus einer vergangenen Welt. Wie Menschen, Kinder zumal, in Einsamkeit und Kälte überleben, das ist eine sehr wundersame Geschichte. Siehe Seite 30 Jón Kalman Stefánsson: Der Schmerz der Engel Piper; 19,99 €

Ein Lebensbuch, ein Totenbuch, in dem die verstorbenen Freunde des Autors und jeder noch so abseitige Gedanke Platz haben. Navid Kermani setzt neue Maßstäbe des autobiografischen Erzählens. Navid Kermani: Dein Name Hanser; 34,90 €

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zwei Millionen Jahre gestritten werden. Manche kann und sollte man auch lesen. intellektuellen Small Talk

Was ist eigentlich die Natur, und warum sorgen wir uns um sie? In einem fiktiven Gespräch streiten darüber ein Physiker, ein Philosoph, ein Biologe und ein Mathematiker – eine faszinierende Reise in unser Denken. Michael Hampe: Tunguska oder Das Ende der Natur Hanser; 19,90 €

Ein Meilenstein der modernen amerikanischen Literatur, der von Seite 150 an auch richtig ins Rollen kommt. Und uns ohne Scham Einblick gibt in alles, was einem alten Mann nachts im Keller durch den Kopf rauscht. Siehe Seite 60 William H. Gass: Der Tunnel Rowohlt; 36,95 €

Die Menschenrechte sind uns Inbegriff einer vernunftgeleiteten Weltordnung. Was aber, fragt der Sozialphilosoph Hans Joas, wenn wir in ihrer Genese jene religiöse Geste fänden, die dem Menschen eine Aura von Heiligkeit zuschreibt?

Die große Feministin Alice Schwarzer kennen wir als Kämpferin, als scharfe Diskutantin, als Polemikerin. Jetzt erzählt sie von dem Mädchen, das sie war, von Liebe und Aufbruch, von der Frau, die uns ein neues Bild von Weiblichkeit gab.

Hans Joas: Die Sakralität der Person – Eine neue Genealogie der Menschenrechte Suhrkamp; 26,90 €

Alice Schwarzer: Lebenslauf Kiepenheuer & Witsch; 22,99 €

Ein Gasthaus am See ist der Held dieser Generationenchronik. Es tritt auf als ein Erbe, das man nicht verschleudern, nur antreten kann. Josef Bierbichler porträtiert in diesem autobiografischen Roman einen bäuerlichen Menschenschlag, dessen letzter Abgesandter er ist. Siehe Seite 12

Das Debüt des klugen amerikanischen Autors, der den Bildungsroman neu erfunden hat. Hier lernen wir in Bildern und faszinierenden Geschichten, was wir über das frühe 20. Jahrhundert noch nicht gewusst haben. Siehe Seite 46 Richard Powers: Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz S. Fischer; 22,95 €

Martin Seel: 111 Tugenden, 111 Laster – Eine philosophische Revue S. Fischer; 18,95 €

Vier Generationen im Strudel des 20. Jahrhunderts . Die Geschichte einer Familie des DDREstablishments, erzählt in einem heiterdesillusionierten, vielstimmigen Roman. Die Zeit der Familie mag abgelaufen sein. Aber was sich nicht retten lässt, kann man doch erzählen. Siehe Seite 12

Der Missbrauch von Kindern in Schulen ist öffentlich geworden – aber wie konnte er so lange verborgen sein? Der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers enthüllt in seiner Geschichte der Reformpädagogik ein System von Gewalt und Macht. Jürgen Oelkers: Eros und Herrschaft – Die dunklen Seiten der Reformpädagogik Beltz; 22,95 €

Martin Walser erschafft den übernatürlichen Percy, Pfleger im Irrenhaus, der die Irren mit der Waffe der Liebe heilt und in den Talkshows mit einem Wunder unterhält: Er behauptet, keinen Erzeuger zu haben. Für Gläubige und solche, die es werden wollen. Martin Walser: Muttersohn Rowohlt; 24,95 €

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts Rowohlt; 19,95 €

Josef Bierbichler: Mittelreich Suhrkamp; 22,90 €

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Gier und Geiz, Demut und Liebe: Brillante Kurzessays präsentieren ein Panorama unserer moralischen Grundlagen – und plötzlich erstrahlt die gute alte Tugendlehre in hochaktuellem Glanz.

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All Illustrationen: Alle M Martin Burgdorff für ZEIT Literatur

IM ZOO MIT HITLERS GENERÄLEN Roberto Bolaño schultert Deutschlands Schicksal von Jens Jessen

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ein deutscher Autor könnte ein solches Buch schreiben oder auch nur schreiben wollen. Es stammt aus dem Nachlass des Chilenen Roberto Bolaño, der vor zwei Jahren mit dem ebenfalls posthum erschienenen Roman 2666 weltberühmt wurde, und trägt den Titel Das Dritte Reich. Gemeint ist aber nicht das historische Hitlerreich, sondern ein militärstrategisches Brettspiel namens Rise and Decline of the Third Reich, das 1974 auf den Markt kam und besessene Anhänger fand, darunter Roberto Bolaño selbst. Trotzdem wäre es kaum denkbar, dass hierzulande ein Autor den obsessiven Fan eines Spiels, das je nach Würfelglück und Spielbegabung auch mit einem Sieg Hitlers enden kann, zum Helden und Ich-Erzähler eines Romans machte. Und erst recht wäre undenkbar, dass ein deutscher Autor mit dem Gedanken spielte, »dass von Manstein mit Günter Grass vergleichbar ist und Rommel mit ... Celan«, und nach diesem Schock, dessen Absicht an den wohlkalkuliert gesetzten drei Punkten ablesbar ist, noch draufsetzen würde: »Auf dieselbe Weise ist Paulus mit Trakl vergleichbar und sein Vorgänger, von Reichenau, mit Heinrich Mann, Guderian ist das Gegenstück zu Jünger und von Kluge das zu Böll.« Geschmacklosigkeit wäre noch das geringste Verdikt, mit dem der Verfasser eines solchen Gedankenspiels in das Jenseits der diskutablen Literatur befördert würde. Er könnte seinen Kopf nur aus der Schlinge ziehen, wenn es sich um offensichtliche Satire handelte, die den Ich-Erzähler als Neonazi entlarvte. Davon kann jedoch bei Bolaño keine Rede sein. Sein Held ist erklärtermaßen kein Nazi, auch seine Charaktereigenschaften deuten in diese Richtung nicht, mit Ausnahme höchstens des eisernen Durchhaltewillens, mit dem er den deutschen Part des Spiels übernimmt. Gleichwohl hat der Roman eine moralische Pointe. Es geht aber nicht um »Wiederbetätigung« (wie der juristische Terminus für die Fortführung der NSDAP lautete), sondern um ein ganz anderes Problem der Nachfolge. Die Nachfolge Christi führt bekanntlich zum Martyrium, an dessen Ende das Himmelreich und die Heiligsprechung winken. Es ist aber auch eine Nachfolge Satans denkbar, die zum Martyrium führt – auch und vor allem, wenn sie unschuldig angetreten wird. Hölle und ewige Verdammnis wären dann der Preis der Naivität. Udo Berger, der Held in Bolaños Drittem Reich, ist ein junger Deutscher, der in seiner Naivität nicht begriffen hat, worin der üb-

liche Trick für das moralische Überleben seiner nachgeborenen Generation besteht: nämlich sich in gar keiner, nicht einmal historischen oder familiären Nachfolge der Väter und Großväter zu sehen und einen Graben des Abscheus zwischen sich und die Vergangenheit zu legen. Den Abscheu vor den Nazi-Verbrechen teilt Berger, aber in der Welt des Strategiespiels sieht er es als seine sportliche Pflicht an, den Part der Nazi-Generäle zu übernehmen und, wenn möglich, den Krieg auf dem Spielbrett besser zu führen als diese in der Wirklichkeit. Udo Berger ist ein Revisionist, aber nur auf dem Feld des Militärischen, das er von seiner moralischen Umgebung, von Terror und Judenmord der Nazis, vollständig abgespalten hat. In seiner Spielwelt verkehrt er mit Hitlers Generälen wie mit Tieren eines Zoos, die man für ihre Hörner, die seltsamen Hufe, den schweren Gang oder die nachtaktive Wuseligkeit schätzt. In dem grotesk komischen Kapitel Meine Lieblingsgeneräle wird Witzleben als Eichhörnchen und Meindl als Wildschwein geführt; es gibt aber auch Charakterisierungen außerhalb des Tierreichs: Dietl als Schlittschuhläufer, Halder als Haushofmeister, Westphal als Kalligraf. Da sie für Bolaños Helden nur mehr ästhetische Erscheinungen sind, können sie mühelos, und zwar ohne Zynismus, mit den ästhetischen Erscheinungen von Schriftstellern verglichen werden, auch mit Juden wie Celan oder Antifaschisten wie Heinrich Mann. Unübersehbar ist der Genuss, mit dem Bolaño dem Tabubruch poetische Gestalt verleiht. Er inszeniert die Generäle als Galerie deutscher Archetypen, die sich genauso gut im Kriegshandwerk wie in der Literatur Weitere Belletristik Ilija Trojanow: »Eistau« S. 44 Richard Powers: »Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz« S. 46 Jan Brandt: »Gegen die Welt« S. 49 Jan Peter Bremer: »Der amerikanische Investor« S. 51 Sonja Heiss: »Das Glück geht aus« S. 53 Antje Rávic Strubel: »Sturz der Tage in die Nacht« S. 54 Paul Ingendaay: »Die romantischen Jahre« S. 55 Niklas Maak: »Fahrtenbuch« S. 57 Steven Uhly: »Adams Fuge« S. 58 Wilhelm Genazino: »Wenn wir Tiere wären« S. 59 William H. Gass: »Der Tunnel« S. 60 Robert Bober: »Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen« S. 62 José Saramago: »Kain« S. 64

ausprägen können. Es ist auch kein Zufall, dass Bolaño seinem Helden eine zweite, wenn auch deutlich kürzere Liste, nämlich von Lieblingsbüchern, beigibt, die allesamt von jenen Arbeiterdichtern stammen, die auf der Linken begannen und bei den Nazis endeten. Es geht auch dabei um Kontinuität, über die Zeiten und Lager und wie über die Moralität hinweg, und es ist Udo Bergers fataler Fehler, von dem Handlung und Poesie des Romans leben, dass er anders als die meisten Deutschen, die jene Kontinuität für sich bestreiten, das Erbe annimmt. Er ist bereit, wenn er die deutsche Katastrophe auf dem Spielbrett nicht abwenden kann, sie stellvertretend, wenn auch symbolisch, zu wiederholen. Man könnte sagen, er schultert Deutschlands Schicksal. Bolaño hat großes Vergnügen daran, nach den bösen Deutschen nun den törichten Deutschen ins Verderben rennen zu sehen.

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enn natürlich gibt es etwas, was Berger in aller verqueren Tapferkeit niemals schultern kann, und das sind die deutschen Verbrechen. Der Autor erfindet seinem Helden einen Gegenspieler, der in der historischen Realität den Deutschen zum Opfer fiel und der die Strategiespielpartie als Revanche begreift. In jenem trostlosen Ferienort, Blanes an der Costa Brava, in dem auch der Autor sein spaRoberto Bolaño: Das Dritte Reich nisches Exil verbrachte, Roman; a. d. Spanischen trifft Udo Berger auf v. Christian Hansen; einen Obdachlosen, den Hanser Verlag, München 2011; 320 S., 21,90 € alle Leute im Ort seiner schrecklichen Narben wegen nur den »Verbrannten« nennen. Man darf dabei ruhig an den Holocaust denken – denn das ist es, was Berger vergessen hat. Nicht die Annahme des deutschen Schicksals, für sich ehrenhaft, ist seine Sünde, sondern die Ausblendung dessen, was noch dazugehört. Und während sich der Zweite Weltkrieg auf dem Spielbrett der deutschen Niederlage und dem Sieg des »Verbrannten« zubewegt, beginnt dem jungen Deutschen zu dämmern, was in der weiteren Kontinuität auf ihn lauert: die Hinrichtung als Kriegsverbrecher. Könnte es sein, dass nach dem Spiel just die Wirklichkeit über ihn kommt, die dem Spiel vorausgegangen ist? Das ist eine dieser metaphysischen Fragen, die Roberto Bolaño ihrer Diabolik hal-

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ber liebt und die an sein verehrtes Vorbild Jorge Luis Borges erinnern. Wo endet die Poesie, wo beginnt die Metaphysik, und wo könnten beide in ein tatsächlich wirksames Prinzip der Wirklichkeit kippen? Das war seit je auch die große Hoffnung, die innigste Sehnsucht der Surrealisten, dass ihre zum ästhetischen Schock zusammengezwungenen Gedanken in der Realität zur Explosion gebracht werden könnten – oder umgekehrt, dass ihre gewaltsamen, dem gesunden Menschenverstand absichtlich hohnlachenden Kunstkonstruktionen genau den unterirdischen vulkanischen Kräften der Realität entsprechen. Es ist wichtig, sich dieses altmodische Épater le bourgeois Bolaños vor Augen zu halten, damit man ihn nicht etwa als postmodernen Autor missversteht, der zum selbstvergnügten Spiel mit Texten bastelt. Es ist eine durchaus ungebrochene, wilde, klassische Moderne mit ihrem ganzen Gesellschaftshass, die bei Bolaño wie überhaupt in der lateinamerikanischen Literatur noch immer aktuell ist. Bolaño umkreist das Böse in seinen Büchern nicht deshalb so besessen, weil er ein Moralist wäre – das ist er am Ende auch –, sondern weil er in ihm ein ästhetisches Prinzip sieht, das besser als alles andere geeignet ist, bürgerliche Empfindungswelten zu kränken. Mehr als alles andere, mehr als die Wahl eines Stoffes, vor dem sich hierzulande jeder Autor fürchten würde, zeigt dieser Antrieb seine Ferne von der deutschen Gegenwartsliteratur, die niemals wagt, sich jenseits der akzeptierten Sichtweisen und Empfindungswelten aufzuhalten. Freilich wäre es bequemer, ihn als Postmodernen zu sehen; es würde seine Werke und besonders dieses entgiften. Und freilich hat er diesen Ton, diese Leichtigkeit, die Souveränität, die in dem vorliegenden Roman sogar, anders als sonst bei ihm, nicht mit der Chronologie spielt. Er hat auch um das Kriegsspiel herum eine Girlande von Sommer- und Strand- und Liebesgeschichten gewunden und sogar einen Kriminalfall eingeflochten; aber sie alle sind doch nur Spiegelung und Echo des einen Themas: der zum Irrwitz gesteigerten Nachfolge des »Dritten Reichs« im Medium des Spiels. Zum Ende entkommt der Held zwar geläutert. Doch das Dilemma, an dem der Autor mit aller Perfidie seiner Kunst gearbeitet hat, bleibt bestehen: dass dieser Held zwar einen großen Fehler gemacht hat, aber darin doch tapferer war als alle seine Generationsgenossen, die sich die deutsche Vergangenheit durch einen bequemen Graben des Abscheus auf Distanz halten.

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DIE MÜDIGKEIT, MENSCH ZU SEIN Ilija Trojanow will in der Antarktis ein paar Weltprobleme lösen von Wolfgang Büscher

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in bayerischer Glaziologe, untröstlich über das Wegtauen seines liebsten Alpengletschers und zugleich Forschungsgegenstandes, schmeißt die Wissenschaft hin und flieht ans südliche Ende der Welt, wo das Eis noch fest und ewig ist. Er verdingt sich als Vortragsredner auf einem Touristenschiff, das zwischen Feuerland und der Antarktis kreuzt, aber die Schwermut will nicht weichen. Er ist ein Apokalyptiker und Misanthrop durch und durch, und er will es sein, diese Haltung scheint ihm die einzige angemessene zu sein angesichts des Zustandes der Welt. So ist es kein Wunder, dass er auch seines Daseins als antarktischer Animateur bald überdrüssig wird. Nun bleibt keine Flucht mehr außer der allerletzten. Mit einem Trick sorgt er dafür, dass alle Passagiere und die gesamte Besatzung von Bord gehen. Als Einziger auf dem leeren Touristennarrenschiff wird er zum Eigner und Kapitän seines Schicksals. Der Roman endet in einem Akt der Erlösung. Es ist ein einsamer, ein tautologischer Akt – eine Erlösung vom Menschsein, und der Erlöser ist er selbst. Ein Video bleibt von ihm

und sein Tagebuch, wer weiß, dereinst womöglich Ikone und heilige Schrift derer, die das finden werden, japanische Walfänger vielleicht, im Bauch eines getöteten Wals. In sein Tagebuch schreibt er sein Credo: »Ich bin es müde, Mensch zu sein.« Und noch einmal, in katechetischer Erläuterung: »Der einzelne Mensch ist ein Rätsel, einige Milliarden Menschen, organisiert in einem parasitären System, sind eine Katastrophe.« Das ist alles ganz logisch gedacht und gebaut. Alles stimmt, solange man sich den Einzelnen als Rätsel denkt, also als etwas einmalig und unkopierbar Schönes, in dem die geheimnisvolle Handschrift Gottes aufscheint. Wenn aber der Mensch als Masse, die alles sonst auf Erden plattmacht, das Böse ist, Erzfeind aller anderen Kreaturen, die der Massenmensch abschlachtet und ausrottet (die Tiere) oder ausbeutet bis zur Verwüstung (Land, Luft und Meer), und wenn er, was noch halbwegs heil ist wie eben die Antarktis, der Begaffung und also Entweihung preisgibt (Massentourismus) – dann bleibt der Erlösung der Welt vom Menschen ein einziges Nadelöhr: Einer muss es tun, ein einziger Gerechter. Und gleich nach dieser Dezision gabelt sich der Weg: links ab geht es zum Ökoterrorismus, rechts ab zum Opfertod. Einer muss ihn für alle sterben, damit der Mensch eines fernen Tages neu erstehen kann, freigewaschen von aller Menschenmassenschuld. Der Autor von Eistau und sein Held biegen rechts ab. Fasst das die kulturkritische Theologie dieses Romans einigermaßen richtig zusammen? Wenn es so wäre, wäre es eine Gegentheologie gegen die christliche, der zufolge die Dinge genau andersherum liegen: der gottesebenbildliche Mensch als Antlitz und Zweck der Schöpfung und nicht als deren Negation. Im Grunde ist die Weltsicht des Romanhelden (und des Romanautors?) vorchristlich: Ehrfurcht vor der Großen Mutter Natur, die ein Sühneopfer fordert nach ihrer Schändung und Entweihung durch die Menschen. Hierauf würde der Glaziologe wohl entgegnen: Nein, nicht vorchristlich – nachchristlich! Nicht um die Ehrfurcht des steinzeitlichen Jägers vor der Großen Mutter geht es, sondern um die Hybris des modernen Menschen: Er pumpt sich auf zu einer solch parasitären Masse, dass seine schiere Existenz der Natur unerträglich wird. Ist das wahr? Müsste man nicht mindestens zugeben, dass es ein Krieg mit ungewissem Ausgang ist zwischen Mensch und Natur und sehr die Frage stellen, wer am Ende die stärkeren Waffen hat? Ja, es stimmt, der Mensch quält und tötet. Er ist gierig und neigt dazu, die Erde für sich allein zu wollen. Aber es ist doch auch wahr, dass die Natur

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gewaltige Schläge gegen den Menschen geführt hat und auch in Zukunft führen wird. Nicht umsonst trägt die Große Mutter in ihrer dunklen, mörderischen Gestalt eine Kette aus Menschenschädeln um den Hals und fordert lebende Opfer – so die Göttin Kali der Hindus. Diese ihre dunkle Seite führt die Natur uns jahrein, jahraus vor. Und wem Meteoriteneinschläge, See- und Erdbeben und vulkanische Feuersbrünste nicht reichen, der mag über der Betrachtung dieses Stückchens Erdenhaut, gespannt zwischen einem Glutkern aus Lava und dem unbegreiflich gewaltigen schwarzen Nichts, das wir das All nennen, vor Angst den Verstand verlieren oder auf die Knie sinken vor diesem Wunder der Schöpfung. Das hätte immerhin den Vorteil, wahrer zu sein als Glazio-Theologie. Das Eis, das Eis. Es übt in diesen Jahren eine erstaunliche Faszination auf Romanautoren aus. Warum? Befinden wir uns mitten in einem Remake der zwanziger Jahre, als in der deutschen Literatur die Kältemetaphern wuchsen wie Stalaktiten? Als mannhafte Schriftsteller und Philosophen eiskalt duschten, um sich für die herbeigeahnten Kämpfe zu stählen? Das wäre zu viel der Ehre, das ist es nicht. Eher ist die Welt, in der wir leben, ein Workshop zum Abtrainieren all dessen, was früher als männlich galt. Das bisschen Männlichkeit, das wir brauchen, kaufen wir uns: Berufsarmee und Spielkonsole. Was also ist das Eis? Ein reines, weißes Land am Rande unserer Zeit. Ein Aufatmen, ein Exil für Augen und Seele. Vielleicht ist am Ilija Trojanow: Grundimpuls von Eistau doch Eistau Roman; Hanser Verlag, etwas dran: Gelegentlich sehen München 2011; wir uns um, und uns schaudert. 176 S., 18,90 € Was tun wir mit der Erde, was richten wir an? Der Mensch ist als einziges Wesen fähig zum Selbstekel. In solchen Momenten möchte etwas in uns die Löschtaste drücken – der Sintflutimpuls. Doch der Noah dieses Romans baut keine Arche. Er baut einen Unfall. Er ist sich selbst genug. Und er will uns damit etwas sagen, das schon. Es ist so eine Sache mit Literatur, die etwas sagen will. Sie begibt sich auf das Feld der Ideen, dort aber geht es kontrovers zu. Argument erhebt sich gegen Argument. Und eine Idee ist gewissermaßen die Hauptfigur dieses Romans. Natürlich, in Schriftstellern gedeihen nicht nur Bilder, es blühen eben auch Ideen – politische, weltanschauliche et cetera. Ebendarum müssen Schriftsteller auf der Hut sein vor ihren Ideen. Wenn es schon nicht zu vermeiden ist, sie in einen Roman hineinzulassen, dann muss man sie in Reservate sperren, in wenige Kapitel, unbedingt. Etwa so, wie Vladimir Nabokov es in seinem Roman Die Gabe getan hat. Lässt man ihnen den Raum, den sie fordern, und sie fordern immerzu Raum, allen Raum, so ist nun mal ihre Natur, dann machen sie es mit der Literatur wie der Mensch mit der Erde.

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DIE VERTREIBUNG AUS DEM PARADIES Richard Powers’ chaotischer und faszinierender Schmöker von Clemens Setz

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as Verfassen von Rezensionen macht es notwendig, Bücher, die einen auf den ersten fünfzig Seiten abstoßen, dennoch aufmerksam zu Ende zu lesen. Knapp vierhundert Seiten lang war ich sozusagen in der Geiselhaft von Richard Powers’ Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz und fand mich am Ende – vielleicht eine literarische Spielart des Stockholm-Syndroms – glücklich und verzaubert von der Lektüre. Der Einstieg war wirklich schwierig. Dabei waren die Anfangsbedingungen ideal: Als Schriftsteller (Clemens Setz ist Autor des Romans Die Frequenzen und des Erzählbandes Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes. Anm. d. Red.) liest man ja die Frühwerke genialer Kollegen immer mit besonderem Interesse. Irgendwo, so verspricht man sich, wird man vielleicht das Baugerüst, in dem man sich selbst so oft verfangen und verheddert hat, noch antreffen, irgendwo wird vielleicht noch das Hebelwerk der bemühten Konstruktion herausragen, das bei den späteren Werken bereits vollkommen unsichtbar ist. Powers’ The Echo Maker, das 2006 erschien und mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, war genau so ein späteres Werk, ein Beispiel für die magische Verbindung von neurowissenschaftlicher Belehrung und spannender Erzählung über die verschiedenen Schichten, aus denen ein menschliches Wesen besteht. Sieht man von der wissenschaftlichen Literatur, die sich der Verfasser zweifellos einverleibt hat, ab, so blieb für den am Schreibhandwerk interessierten Leser nur wenig sichtbares Baugerüst übrig. Der Roman war einfach zu perfekt gebaut, die Übergänge zwischen medizinischer Fallgeschichte und atemberaubender Poesie wirkten wie Zaubertricks, deren genaue Funktionsweise unerklärlich blieb. Aber nun ist Powers’ 1985 erschienener Debütroman auf Deutsch da, in einer, wie immer bei Henning Ahrens, hervorragenden Übersetzung. Das Thema des Romans ist, da gibt es gar keinen Zweifel: das 20. Jahrhundert. Auf diesen Umstand weist der Autor explizit in jedem einzelnen Kapitel und streckenweise sogar auf jeder einzelnen Seite hin. Das Buch besteht aus drei Erzählsträngen. Im ersten spricht der Autor selbst. Er berichtet, wie er in einem Museum in Detroit vor vielen Jahren die bekannte Fotografie von August Sander sah, welche die »drei Bauern auf dem Weg zum Tanz« zeigt. Von diesem Foto war er sofort besessen und wollte unbedingt herausfinden, was es damit auf sich hatte. Dies gelingt ihm erst durch die Hilfe einer alten Reinigungskraft namens Mrs. Schreck, die er auf der Weihnachtsfeier seiner Firma kennenlernt. Am Ende stellt sich sogar heraus, dass sie

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einen der drei Bauern auf dem Bild gekannt hat. Oder sich das nur wünscht – wirklich klar wird es nicht. Der Autor beschäftigt sich mit allerlei Literatur über das frühe 20. Jahrhundert und referiert auf vielen, vielen Seiten seine Erkenntnisse über die serienmäßige Herstellung von Autos, Abbildern und Kunstwerken, und damit zusammenhängend über Henry Ford, Walter Benjamin, Sarah Bernhardt und natürlich über den Fotografen Sander. Aber Augenblick, was hat Sarah Bernhardt eigentlich in dieser Aufzählung verloren? Nur Geduld. Der zweite Strang des Romans behandelt die Geschichte der Bauern, Hubert, Peter und Adolphe, drei Brüder, die alle durch das zentrale Ereignis des frühen 20. Jahrhunderts (denn um das und um nichts anderes geht es in diesem Buch), den Ersten Weltkrieg, gehen, zwei von ihnen sterben, der andere überlebt als Journalist den Krieg. Sein Lebensweg hängt mit dem dritten Erzählstrang zusammen: Peter Mays, Sohn niederländischer Einwanderer, entdeckt bei seiner Suche nach einer rothaarigen Frau, die er zufällig einmal bei einem Festumzug gesehen hat, dass er mit jenem Journalisten verwandt ist, der während des Ersten Weltkriegs Henry Ford interviewt hat. Das alles wirkt nicht nur in dieser kompakten Nacherzählung verdammt kompliziert. Und überdies: Sarah Bernhardt kommt deshalb vor, weil die rothaarige Frau, von der Peter Mays besessen ist, eine verkleidete Schauspielerin namens Kimberly Greene ist, die Sarah Bernhardt in einem Theaterstück darstellt. Alles klar? Debütromane sind fast immer Geschichten von Besessenheit. August Sanders berühmte Fotografie der drei Bauern übt eine so ungeheure und rätselhafte Wirkung auf den Autor aus, dass ihm alles, was er recherchiert, zum Symbol wird. Er stellt sich den Augenblick, in dem das Foto entstanden ist, als eine Art Vertreibung aus dem Paradies vor, den drei Bauern wird ihre unschuldige Seele gestohlen, und sie taumeln auf den Ersten Weltkrieg zu, bedrückt von düsteren Vorahnungen. Doch bleibt die Besessenheit solcher Bilder anfangs mehr behauptet als erfahrbar. Aber ab der Mitte des Buches, als Powers sich mehr und mehr den Gebrauch von Improvisation, Lebendigkeit, Slapstick und sogar den unwiderstehlichen Charme paranoider Weltdeutung erlaubt, nimmt die Geschichte deutlich an

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Tragik und Poesie zu. Die Szenen, in denen sich Adolphe nach traumatischen Kriegserlebnissen einbildet, russische Funksprüche in seiner Zahnfüllung zu hören, und kurz darauf bei einem Fluchtversuch erschossen wird, sind bewegende Augenblicke, die beim Lesen nicht nur lebendig, sondern auch real und gegenwärtig werden. Zwar thronen immer noch über jedem Kapitel dicke Zitate von Philosophen und Historikern, die das Erzählte mit Sinn aufladen, aber die magische Verdichtungskunst, zu der Richard Powers fähig ist, setzt sich endlich gegen seine theoretischen Anliegen durch. Das Buch wird zum faszinierenden Page-Turner – allerdings zur linken Seite. Alle paar Seiten muss man innehalten und kurz zurückblättern, um bestimmten Echos nachzugehen, die geheimnisvolle Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Erzählsträngen offenbaren, wie der »zweimal gefaltete« Abzug des Originalfotos, der sowohl auf dem Dachboden im Haus von Peter Mays’ Richard Powers: Mutter zu finden ist als auch in der WohDrei Bauern auf dem nung von Mrs. Schreck, bei der der Autor Weg zum Tanz Roman; a. d. Engl. v. P. an einem Wintermorgen zu Gast ist. Henning Ahrens; Die Übergänge, die solche mysteriösen S. Fischer, Frankfurt/M. Koinzidenzen einleiten, sind manchmal 2011; 464 S., 22,95 € noch mühsame Behelfskonstruktionen wie zum Beispiel eine aus zahlreichen Romantic Comedys bekannte »Spielen Sie schnell mit«-Nummer. Die exquisiten Koinzidenzen und Entsprechungen, die der Autor gegen Ende des Buches verdichtet, lassen an einen anderen großen Verfasser imaginativer Rechercheberichte denken, W. G. Sebald, dessen Werke fast immer die Wiederentdeckung eines verschütteten Themas oder einer Lebensgeschichte behandelten. Doch wo Sebald ganz auf Unsicherheit und das mysteriöse Würfelspiel der wirklichen Welt setzt und dadurch einen sonderbaren, am besten vielleicht als »staunende Ziellosigkeit« zu bezeichnenden Recherche-Sound erzeugte, ist das Frühwerk von Richard Powers noch ganz von analytischer Sicherheit beherrscht. Er weiß genau, was seine Erzählung bedeutet und welches Thema sie umkreist (das 20. Jahrhundert). Wenn der feierlich-schüchterne Ernst der drei Bauerngesichter ihm als das Vorher-Bild erscheint, dessen Nachher-Bild der Erste Weltkrieg darstellt, dann bleibt es auch dabei. Erst gegen Ende wird die inspirierte Unsicherheit großer Erzählkunst zugelassen. Das Lektüregefühl entspricht dabei einem sehr, sehr langsamen Aufspannen eines Regenschirms. Doch ein ruckartig, gleich zu Beginn auf den ersten Seiten aufgespannter Erzählschirm könnte niemals so majestätisch wirken.

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DIE UNENDLICHE THUJAHECKE Jan Brandts 927-Seiten-Debüt »Gegen die Welt« ist ein Retro-Fest, das niemandem zu viel abverlangt von Jutta Person

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as riecht nach Bac und Tosca, klingt nach Gottschalk und Metallica, schmeckt nach Götterspeise und Mettwurstbrötchen, lässt Tschernobyl hochgehen und die Challenger explodieren, trägt Parka und Chucks, lebt zwischen Kühen, Raiffeisenlagern und Neubaugebieten, träumt von Kornkreisen und Plutoniern, liebäugelt mit dem Wahnsinn, archiviert Vaters Fußballhelden, fährt BMX-Räder und VW Golf, ist alltagsnah, markenbewusst und aufzählungsversessen? Ein Gespenst aus den Achtzigern? Nah dran, aber nicht ganz. Eine Zeitmaschine, bei der man oben Fetischdinge einfüllt, in der Hoffnung, dass unten geschichtsgesättigte Literatur rauskommt? Schon näher. Ein Pop-Provinzroman mit serienmäßiger Achtziger-, Neunziger- und Nuller-Ausstattung? Am nächsten, aber auch nicht exakt. Jan Brandts 927 Seiten langes, kiloschweres Romandebüt Gegen die Welt lässt sich nicht umstandslos auf die Pop-Provinz-Formel bringen, weil damit nur die Kulisse erfasst wäre, nicht aber das Prinzip. Und das besteht in einer fast immergleichen Tonlage, die Wirklichkeit schildert – oder das, was man so dafür hält. Die paar Spritzer Paranoia dazwischen sind verträglich dosiert und können stilistisch nichts durcheinanderbringen. Vieles ist erst mal gut gewählt und akribisch beobachtet: Anfang der Achtziger scheint die Welt noch in Ordnung in Jericho, einem ostfriesischen Dorf aus dem bundesrepublikanischen Bilderbuch. Daniel ist der älteste Sohn von Bernhard »Hard« Kuper, der die Drogerie Kuper betreibt und in seinem weißen Drogistenkittel den Dorfschamanen gibt. Hard erzählt Prollwitze und geht vollkommen auf in einem Mikrokosmos, der von einer archaischen Kontroll- und Ausschlussmechanik gesteuert wird – auch wenn an der Oberfläche alles so meisterproperlich glänzt. Dann wird Hards eigener Sohn zum Sündenbock der Gemeinschaft, und anstatt Daniel zu verteidigen, opfert er seinen Erstgeborenen auf dem Dorf-Altar. Unmissverständlich alttestamentarische Spuren weisen den Weg: Im Konfirmandenunterricht prophezeit ein Junge, dass alle Erstgeborenen geopfert werden. Der biblische Ortsname Jericho liefert das unheilvolle Hintergrundgeschrammel, das gegen die »Wir haben es geschafft«-Mafiosi des Dorfes Stimmung macht. Auch dieser Pfad ist gekennzeichnet, damit nichts unklar bleibt: Auf dem Dachboden wartet die Bibel, in der die Jericho-Stellen markiert sind. Von fern winkt der Name aber auch mit einem großen literarischen Vorbild, mit Uwe Johnsons mecklenburgischem Jerichow aus den Jahrestagen. Anfangs bringt ein Wetterumschwung die Welt aus dem Takt. Im September fängt es an zu schneien, und der Kuper-

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Spross wird in einen Kornkreis gelockt, der das Maisfeld neben der Schule verschönert. Kornkreise, das waren diese selbst getrampelten Dinger, die den Achtzigern einen Hauch von Okkultismus verpassten. Passenderweise wird ein Ufo gesichtet, und damit mutiert der Drogistensohn zum Spinner, obwohl – oder weil – er das Opfer war und nicht der Täter. So geht das dann über viele Jahre: Wo etwas im Argen liegt, wird Daniel dafür verantwortlich gemacht. Währenddessen sterben seine langhaarigen Freunde, als ob eine Beulenpest sie erfasst hätte. Onno, der Metal-Freak, haut sich bei einem Konzert mit einem Hammer selbst ins Jenseits. Rainer, der Motorenfrickler, stirbt den klassischen Provinztod im Golf auf der Landstraße. Stefan, der hochbegabte Nerd, sieht überall teuflische Zeichen und geht daran zugrunde. Dieser Fernsteuerungswahn – Plutonier kontrollieren die Menschheit mithilfe heimlich implantierter Gen-Chips – treibt ihn dazu, Briefe an den Bundeskanzler zu schreiben und vor Jericho zu warnen, weil dort das Böse lauert. Jan Brandt wurde 1974 im ostfriesischen Leer geboren, er ist Journalist, hat ein literarisches Fußballbuch herausgegeben und Erzählungen veröffentlicht. Als Romandebüt gleich einen Tausendseiter vorzulegen zeugt von erzählerischem Durchhaltewillen; allein der Paranoia widmet er eine weit ausgreifende Geschichte. Der ganz zu Jan Brandt: Beginn des Romans abgedruckte Brief an Gegen die Welt den Kanzler – »Ich werde beschattet. Von Roman; DuMont den Plutoniern« – hält lange die Hoffnung Buchverlag, am Leben, dass da noch etwas kommt, was Köln 2011; 927 S., 22,99 € die Alltagssprache infizieren könnte. Immerhin ist der Wahnsinn, literarisch gesehen, eines der faszinierenden Weltbesetzungsmodelle überhaupt. Dass Daniel Kuper wie Dale Cooper klingt, der Held der Mystery-Serie Twin Peaks, ist vielversprechend, weist allerdings in eine nur angetäuschte Richtung. Statt plutonischer Sprachverwirrung folgt eine geheimnislose Tiefebene. Männer schneiden an Thujabüschen herum, diesen immergrünen Raumteilern zwischen den Doppelhaushälften. Frauen kaufen sich »Parföngs« bei Kuper. Kinder lernen im Erdkundeunterricht: »Wir sind Normalnull.« Daniel dagegen wird verdächtigt, das Dorf mit Hakenkreuzen beschmiert zu haben, und wieder stimmt das Gegenteil: Er wollte die Hakenkreuze überpinseln und wird für sie haftbar gemacht. Die Entdeckung, dass der Bürgermeisterkandidat für seine Wahlkampfrede aus Mein Kampf abgeschrieben hat, hilft ihm nicht weiter. Das Dorf erweist sich als Hort des kleinformatigen Grauens. Im letzten Drittel des Romans findet man scharfgestochene, komische Szenen, die den »Wir sind wir«-Mythos auseinandernehmen, der so bräsig daherkommt und ziemlich bösartig ist. Aber solche Beobachtungen gehen unter im endlosen Erzählstrom. Letztlich will Gegen die Welt sich den Kitt zunutze machen, der die Jericho-Welt zusammenhält. Die Produktpalette aus Drogerieartikeln, Platten, Kleidern, Jugendbewegungen, die hier nach all den Pop-Romanen noch mal aufgebaut wird, spekuliert mit dahingeseufztem Damals: Ja, so war das, als wir jung waren. Und weil der Roman auch stilistisch auf dem Teppich bleibt, wird das ein Retro-Fest, das niemandem zu viel abverlangt. Das »Gegen« im Romantitel umarmt alle, die mal einen Parka hatten. Man sieht das als Filmkomödie vor sich; als Roman aber wird das Jericho-Archiv von der Thujahecke überwuchert, die es abbilden wollte.

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BRIEF AN DEN VERMIETER Jan Peter Bremer trifft ins finstere Herz des Kapitalismus von Ursula März

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an Peter Bremer ist eine Klasse für sich. In der Reihe deutschsprachiger Schriftsteller, die das Etikett »künstlerischer Eigensinn« verdienen, hat der 1965 geborene Berliner einen festen Platz. Er schreibt sehr dünne Romane, während viele seiner gleichaltrigen Kollegen mal 500, mal volle 1000 Seiten schreiben. Die Titel, die Bremer seit seinem Sieg im Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb im Jahr 1996 veröffentlichte, lassen sich an einer Hand abzählen. Aber wenn er einen seiner dünnen Romane veröffentlicht, dann ist alles daran unverwechselbar; der Ton verschmitzter Abgründigkeit, die syntaktische Eleganz, die parabelhafte Erzählfantasie, die leicht entrückte Versponnenheit, die eine ganz spezielle Allianz eingeht mit handwerklicher Strenge und sprachlicher Präzisionsarbeit. Bremer tritt in der literarischen Öffentlichkeit nicht allzu oft auf. Aber wenn er auftritt, ist er unübersehbar. Das liegt an seiner Frisur, diesem Ballon aus dickem blondem Kraushaar, der auf seinem Kopf sitzt wie eine russische Pelzmütze. Und vielleicht an dem Hund, welcher den Schriftsteller begleitet. Der war dabei, als Jan Peter Bremer in der Berliner Akademie der Künste für das Manuskript Der amerikanische Investor mit dem Döblin-Preis ausgezeichnet wurde. Das liebe, ein wenig altersschwache Tier versuchte vergeblich, die Stufe zum Podium zu erklimmen, um in Herrchens Nähe zu sein, und begnügte sich dann damit, die Füße der in der ersten Reihe Sitzenden zu beschnüffeln, unter anderem die von Günter Grass. Bremers neuer Roman ist nichts anderes als eine Expedition ins finstere Herz des Kapitalismus, dorthin, wo das Finanzielle umschlägt ins Numinose. Nur hört sich Bremers Prosa keineswegs so an, als hätte sie auch nur das Allergeringste mit der überkomplexen Sphäre internationaler Börsen und virtueller Milliardenfonds zu tun. Sie hört sich sogar eher nach einer gewissen, wenn auch höchst kunstvollen Naivität an. Ihr Schauplatz ist auch nicht London oder New York, sondern eine Mietwohnung in einem angeknacksten Gründerzeithaus in Berlin-Kreuzberg. Hier lebt ein Schriftsteller, der außer exzentrischen Grübeleien wenig zuwege bringt, mit seinen zwei Kindern, seinem Hund und seiner tüchtigen, die Familie ernährenden Frau. Wie es Bremer nun gelingt, den Mikrokosmos dieses Alltagsszenarios kurzzuschließen mit dem Makrokosmos der Geldwirtschaft, darin liegt die Pointe des

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Romans. Um seinen Reiz zu verstehen, muss man sich nur einen Moment vorstellen, Robert Walser träte als Experte auf, um uns Laien das Phänomen namens Euro-Bonds zu erklären. Die Wohnkatastrophe, an der entlang sich die Romangeschichte entwickelt, ist keineswegs unrealistisch. Das Kreuzberger Gebäude, seit Jahrzehnten nicht saniert, senkt sich bedrohlich ab. Die Wanne im Badezimmer der Familie befindet sich bereits in Schräglage. An den Küchenwänden zeigen sich daumendicke Risse. Der Tag, an dem die Zimmerböden ganz einfach einbrechen und der Erzähler samt Hund, Frau, Kindern ins untere Stockwerk saust, ist absehbar. Das kann ja vorkommen. Wie es auch vorkommt, dass ein solches der Gentrifizierung entgegenverrottendes Gemäuer plötzlich den Besitzer wechselt. In diesem Fall handelt es sich um einen amerikanischen Investor. Er hat die Halbruine erworben, was den Schriftsteller zum Ausmalen düsterster Jan Peter Bremer: Zukunftsbilder veranlasst. So schleppend Der amerikanische er nach außen hin agiert, so überhitzt geht Investor es in seinem Hirn zu. Fantasierter Horror Berlin Verlag, Berlin 2011; 120 S., 16,90 € ist sein Spezialgebiet, Eskalation das dramaturgische Prinzip der inneren Rede, die den Hauptteil des Textes bestreitet. Ihrem Wahnwitz verdanken sich sowohl das erhebliche Lesevergnügen des Romans als auch dessen Kernepisode: Der Schriftsteller fasst den Entschluss, einen Brief an den neuen Hausbesitzer zu schreiben. Einen Brief, von dessen einzigartigem emotionalem Gewicht, von dessen menschlicher Eindringlichkeit der amerikanische Investor gepackt werden soll, wie von einem Zauberstab berührt. Läse der Investor diesen Brief, würde er nicht umhinkönnen, sich des Wohnschicksals der Kreuzberger Familie persönlich anzunehmen. Aber abgesehen davon, dass dem Schriftsteller der Brief so wenig von der Hand geht wie alles andere, das zu schreiben er sich Tag für Tag erfolglos vornimmt, gibt es noch ein Problem. Wo soll der Brief hingeschickt werden? Der amerikanische Investor hat nämlich keine Postadresse, weil er gar keinen Wohnsitz hat. Er fliegt mit seinem Privatjet permanent um die Welt, pflegt einen gleichsam transitorischen Lebensstil, welcher seinem globalen Geschäftsstil entspricht. Und so kommt Nicolas Berggruen ins Spiel, der Mann, der jüngst die Karstadt-Kette kaufte und bekanntlich Hotelzimmer und Flugzeug sein Heim nennt. Ihn zum literarischen Gegenüber eines Kreuzberger Losers zu machen ist natürlich ein Coup für eine Humoreske und handwerklich schon allein deshalb geschickt, weil ein Roman, der diesen Unternehmer als Stellvertreter abstrakten Kapitals einführt, keinen großen allegorischen Aufwand treiben muss. Das Phänomen Berggruen liefert die Allegorie frei Haus. Es gibt nichts Polemisches, Frontales in Bremers Romanparabel. Ihre Haltung ist weitaus raffinierter, es ist die des kindlichen und zugleich beklemmenden Erstaunens darüber, dass die scheinbar so unendlich weit entfernte Finanzwelt so fern gar nicht ist, sondern von einem Tag auf den anderen das eigene Leben zwischen Küche und Schlafzimmer zerreißen kann. Das ist kein grundlegend neuer Gedanke. Aber die dazugehörige Erfahrung ist ziemlich aktuell.

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GENERATION FRUCHTFLIEGE Auch Sonja Heiss schreibt über die Jugend, deren Problem es ist, keine Probleme zu haben von Elisabeth Raether

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uss man ein Buch mit 30- bis 35-jährigen Hauptfiguren gleich ein Generationenbuch nennen? Sonja Heiss, eigentlich Filmregisseurin, erkennt in ihrer kleinen Sammlung von »Storys« viel Richtiges über die Menschen, die so alt sind wie sie, geboren 1976; aber das Buch ist viel zu feinsinnig, um es ein Generationenporträt zu nennen. Die Autorin interessiert sich vor allem für Situationskomik, außerdem für Fernreisen und das Motiv der Ratlosigkeit. Ihr Humor macht es Sonja Heiss möglich, unterhaltsame Geschichten zu erzählen, die von nichts anderem handeln als von menschlichen Mikroproblemen, zum Beispiel von einer Mutter, die ihr Neugeborenes zwar süß findet, aber nicht explodiert vor Freude. Es ist eine Geschichte, die zu einer pflichtschuldigen Kritik Prenzlauer-BergSonja Heiss: artiger junger Mütter werden könnte, Das Glück geht aus doch um das zu verhindern, hat Sonja Storys; Bloomsbury Verlag, Heiss folgenden Dialog eingebaut:»›Du Berlin 2011; musst doch dein Kind abgöttisch lieben, 192 S., 9,95 € das kann doch gar nicht sein. Jeder ist glücklich wie nie zuvor im Leben, wenn es rauskommt.‹ – ›Ich mag sie ja auch wirklich gerne.‹ – ›Aber mögen, Hedi. Ich mag auch Toastbrot.‹ – ›Ich mag sie natürlich viel mehr als Toastbrot.‹« Womit sich Leute ebenfalls beschäftigen, wenn sie nicht gerade in riesigen Schwierigkeiten stecken und so eloquent sind, dass sie für jede ihrer Gefühlsregungen die richtige Beschreibung haben: erwachsen werden. Vater und Tochter fliegen zusammen nach Vancouver, weil sie, eine Künstlerin, dort eine Ausstellung hat. Sie ist müde; er ist aufgeregt, die Welt zu entdecken. Sie fragt sich, ob die anderen eingeladenen Künstler erfolgreicher sind als sie; er will unbedingt einen Wal im Aquarium fotografieren. Am Ende der Geschichte, zerquetscht er aus Versehen die Katze im Klappsofa; sie dagegen hat gerade ein Baby auf die Welt gebracht – ein letzter Beweis für die Tochter, dass die Verhältnisse sich umgekehrt haben und sie wohl schon so etwas wie erwachsen ist. Das Reisen war schon Thema in Sonja Heiss’ Filmdebüt aus dem Jahr 2007, der von Backpackern in Indien und Thailand erzählt. Ratlose Leute mögen das Reisen, und zwar in der Hoffnung, etwas Konkretion in ein vages Leben zu bringen – eine Hoffnung, die natürlich immer enttäuscht wird, weshalb schon die nächste Reise geplant werden muss. Nichts ist leichter, als sich über diese Wohlstandsmelancholie lustig zu machen. Sonja Heiss nimmt es, wie es ist. »Und das ist ja mein Problem. Ich habe eigentlich keine Probleme«, sagt eine ihrer Figuren, eine an Depressionen leidende junge Frau, die ihre Tage damit verbringt, die Fruchtfliegen in ihrer Küche zu zählen und Gala zu lesen.

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INEZ WILL FLIEGEN Antje Rávic Strubels wagemutiger Roman über eine verbotene Liebe zwischen Mutter und Sohn von Ina Hartwig

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chicker Rock«, provoziert Rainer Feldberg die in der Höhe schwebende Inez Rauter, die Tochter eines wenig staatstreuen Lehrers. »Bestimmt auch was Schickes drunter.« Das 15-jährige Mädchen hält er gefangen auf der Wippe des Spielplatzes einer Plattenbausiedlung, auf dem die Jugendlichen abends herumhängen. Inez, deren Verhältnis zur Angst »ein produktives« sei, wie Feldberg viele Jahre später feststellen wird, will runter: »Kapierst du nicht? Es macht keinen Spaß mehr.« Aber Feldberg kommt erst in Fahrt: »Ich wette, da ist ein kleiner heißer Punkt drunter, dem es schon angefangen hat, Spaß zu machen.« Schwer zu sagen, was passiert wäre, wenn nicht eine Männerstimme gerufen hätte: »Lass sie runter.« Von ihrem Retter erkennt Inez im Dunkeln nur den »Glühpunkt einer Zigarette«, sein Gesicht sieht sie nicht. Sie sieht das Glühen und die Asche, die »sternschnuppengleich zu Boden fiel und im Sand erlosch«, und damit sind wir mittendrin im kunstvoll dichten Motivspiel der Schriftstellerin Antje Rávic Strubel. Denn jener Mann mit dem Glimmstängel wird bald den »kleinen heißen Punkt« von Inez Rauter mehr als

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nur kennenlernen: Felix Ton, so heißt der Retter aus der Dunkelheit, wird ihre erste große, rückhaltlose Liebe. Sie glüht für ihn. Er wird trotzdem diese Liebe verraten. Das Kind, das er ihr macht, passt nicht zu seinen Plänen, passt nicht in die Karriere, die die Staatssicherheit ihm in Aussicht stellt. Schon in ihrem meisterhaften Roman Tupolew 134 aus dem Jahr 2004 hat die 1974 in Potsdam geborene Autorin die Sinnlichkeit ihrer Protagonisten konsequent umsponnen mit einem sich immer enger ziehenden Netz politischer, ja staatspolitischer Interessen. Daran knüpft ihr neuer Roman Sturz der Tage in die Nacht an; Sinnlichkeit gegen politische Abgründe zu behaupten scheint eines der Hauptanliegen Strubelschen Erzählens zu sein. Wie das zynische Stasi-Wort von der »Angriffsfront Intimleben« beweist, ist Unschuld in der Liebe und im Begehren nicht vorgesehen in einem Umfeld, das Verrat systematisch belohnt. Ehe sie das begreift, ist es zu spät für die blutjunge, verliebte Inez. Das liegt alles lange zurück, als Erik, ein so hübscher wie arglos (aber nicht naiv) in die Welt blickender Mann von knapp 25 Jahren – er nimmt gerade eine Auszeit zwischen Zivildienst und Studium –, auf der einsamen schwedischen Vogelinsel Stora Karlsö an Land geht. (Die Ostseeinsel kann man wunderschön googeln, so ist das heutzutage, das Netz liest mit.) Längst existiert eine Generation, die, wie Erik, im Osten des Landes geboren wurde, doch von den Gespenstern der sozialistischen Vergangenheit unbelastet wirkt. Inez Rauter, inzwischen 41, Ornithologin, eine Einzelgängerin, forscht seit drei Jahren auf der Insel über Trottellummen und Tordalken und deren Anpassung an die veränderten Umweltbedingungen; es gibt auf Stora Karlsö ein Schwefelproblem. So, wie Antje Rávic Strubel die Begegnung von Inez

und Erik erzählt, sich langsam, manchmal quälend langsam entfaltend gegen alle Widerstände, liegt von Anfang an ein Sog von geradezu zwingender Anziehung zwischen den beiden einander Unbekannten. Als Erik, aus dessen zurückblickender Perspektive Sturz der Tage in die Nacht teilweise erzählt ist, von Inez mitgenommen wird zur Steilküste, damit er das Spektakel des »Lummensprungs« sehe, bei Antje Rávic Strubel: dem die Vogelmütter ihre Sturz der Tage Kleinen von den Felsen in die Nacht ins Wasser stürzen, um Roman; S. Fischer Verlag, ihnen das Schwimmen Frankfurt a. M. 2011; beizubringen, da ahnt 438 S., 19,95 € man bereits, was sich anbahnt zwischen dem fröhlichen jungen Urlauber und der spröden, geheimnisvollen Forscherin: eine verbotene und trotzdem, darauf kommt es der Autorin an, eine echte Liebesgeschichte. Über die hinabstürzenden Jungvögel sagt Inez zu Erik: »Siehst du? Ein Wunder, das in den Genen gespeichert ist, fällt nicht so schnell aus.« Als er sie fragt, ob sie »aus dem Osten« sei, denn das verrät ihm seine Intuition, da antwortet sie, nur scheinbar ausweichend: »Ich bin ein Zugvogel.« Schon der Altersunterschied von 16 Jahren ist eine Provokation. Doch damit nicht genug: Etwa in der Mitte des Romans stellt sich heraus, dass Erik exakt jenes Kind ist, das Inez zwar geboren, aber sofort zur Adoption freigegeben hatte, damals in Greifswald. Felix Ton, der leibliche Kindsvater, der Inez für die staatlich verordnete Ideologie opferte, wird bis in die Gegenwart des Romans annehmen, sie sei damals mit ihren Eltern und dem Säugling in den Westen gegangen. Die Wahrheit ist: Feldberg, der Spaßvogel vom Spielplatz, hatte die Adoption arrangiert, hatte der in Schwierigkeiten geratenen Schülerin eine Lehrstelle besorgt und überhaupt Inez immer

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im Blick behalten, über das Ende der DDR hinaus. Sein nie gestillter Sexualneid gehört zu den von Strubel mit giftiger Genauigkeit grandios geschilderten unterschwelligen Motivationen seines Tuns. Hier beginnt so etwas wie ein Krimi, irrwitzig spannend und glänzend recherchiert. Auf eine Anzeige der Autorin hin hatten sich ehemalige Stasi-Offiziere gemeldet, die wohl froh waren, endlich einmal reden zu dürfen über ihre besten Jahre. Auch Feldberg hält an jener Sprache und jenem Denken fest, das ihm in der DDR zu Einfluss und Ansehen verhalf. Dieser klebrige »Rotschopf« ist eine der stärksten Figuren des Romans: teuflisch und doch faszinierend in seiner schnodderigen, skrupellosen Brillanz, ein Mephistopheles der DDR, der seine alten Talente nun als

verkrachter Privatdetektiv auslebt. Sein Kumpel Felix, der die Wende bestens überstanden hat, gefällt sich darin, im Wahlkampf für die CDU den Familienmenschen, den um sein Kind betrogenen Vater herauszukehren. Es wäre, fantasiert sein erfolgsverwöhntes Hirn, sehr wirkungsvoll, wenn er sich mit seinem verlorenen Sohn sozusagen »wiedervereinigen« könnte, kurz vor der Bundestagswahl:

Feldberg solle sich mal umhorchen. Und so kommt es, dass dieser Ex-Stasi-Freak zusammen mit dem ahnungslosen Erik auf Stora Karlsö an Land geht. Inez erkennt Feldberg sofort; ihre Seele schlägt Alarm. Geschickt kombiniert Antje Rávic Strubel drei Zeitebenen in diesem letztlich zu wagemutigen Roman: die DDR-Vergangenheit; die Gegenwart; und eine durch die Natur verkörperte Überzeitlichkeit. Die raue Schönheit der nördlichen Landschaft, das Meer, die Welt der Vögel und der fossilen Spuren sind atmosphärisch ständig präsent in den Sommertagen der Insel, auf der bald, denn es wird Herbst, die Tage in die Nacht stürzen werden. Antje Rávic Strubel hat einen aufregenden, kühnen, mutigen, aber keinen perfekten Roman geschrieben. Womöglich sind literarische Werke, die es mit dem ältesten Tabu der Menschheit aufnehmen, grundsätzlich zum Scheitern verurteilt – man denke an Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (der wegen der unerzählbaren Geschwisterliebe nie fertig wurde), an Thomas Manns unsägliche Erzählung Wälsungenblut oder an Max Frischs Homo faber. Strubels Charakterzeichnungen changieren gekonnt zwischen psychologischer Tiefe, realistischer Finesse und diskreter Opakheit. In puncto Menschenkenntnis und Treffsicherheit der Dialoge dürfte ihr in der eigenen Generation so schnell keiner das Wasser reichen. Wie aber den Inzest schildern? Die körperliche Leidenschaft zwischen Mutter und Sohn versucht Strubel am Tabu vorbeizuerzählen, so als könne man die Liebe über die Blutsbande stellen, oder auch den menschlichen Willen über das politische System. Sturz der Tage in die Nacht ist über weite Strecken atemberaubend gut erzählt, doch kreist der Roman um eine Idee, die im Kern unglaubwürdig bleibt und bleiben muss.

NUR BEDINGT ROMANFÄHIG Paul Ingendaay erzählt allzu unbekümmert aus dem Leben eines Versicherungsvertreters von Kristina Maidt-Zinke

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n Paul Ingendaays neuem Buch gibt es eine Szene, in der er, der Literaturwissenschaftler, Feuilletonjournalist und Romancier in Personalunion, seinen inneren Zwiespalt offenbart. Der Ich-Erzähler, jener Marko Theunissen, der in Ingendaays Debüt-Epos Warum du mich verlassen hast über seine Internatsjahre berichtete, sitzt im Flugzeug nach Madrid und erinnert sich an ein Gespräch mit einer Stewardess auf der Atlantikroute. Die Dame klagte über ihre Arbeitsbedingungen und schloss mit dem Satz, darüber könnte sie ein Buch schreiben. Theunissen ermunterte sie ohne Häme, es doch zu tun: »Das würde man gern einmal lesen.« Die Flugbegleiterin aber entgegnete, so wichtig sei ihr Leben auch wieder nicht. »Verstehst du das?«, fragt Marko seinen Reisegefährten Motte. »Wie jemand sagen kann, sein Leben sei nicht wichtig?« Und der Freund antwortet so prompt wie wortkarg: »Ja.« An dieser Stelle hat der Autor schon mehr als 350 Seiten lang aus seinem Leben erzählt. Zwar findet sich hinten im Buch der Vermerk, die hier dargestellten Ereignisse und Personen seien frei erfunden, und naBelletristik ZEIT LITERATUR

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türlich ist Paul Ingendaay nicht Marko Theunissen. Aber mehr noch als in seiner Internatsgeschichte wirkt das, was er zu erzählen hat, über weite Strecken so privat, so unbekümmert mitteilsam und stilistisch unprätentiös, so wenig gefiltert durch formale oder dramaturgische Erwägungen, dass es als notdürftig camouflierte persönliche Erfahrung kenntlich wird. Wenn nun aber derjenige, der das alles aufschreibt, selbst Literaturkritiker ist, gar ein preisgekrönter, dann muss er irgendwann mit seinem rezensierenden Über-Ich aneinandergeraten, das ihm zuraunt: Ist dein Leben eigentlich interessant genug, um es vor einem größeren Publikum auszubreiten? Als Stewardess verkleidet und als Motte, der Kumpel aus der Schulzeit, kommt diese innere Stimme immerhin zu Wort. Aber Ingendaay bringt sie mit Tricks zum Schweigen.

sozialen Abstiegs kann er all das offenbaren, was sein Erfinder immer schon loswerden wollte, ohne dass Letzterer in Autobiografieverdacht geriete. Denn Paul Ingendaay hat ordnungsgemäß promoviert und war in den neunziger Jahren nicht etwa »der Mann von der Rheinischen« in einem Nest namens Kleinhoek, sondern Feuilletonredakteur bei der Zeitung, für die er heute als Kulturkorrespondent in Madrid tätig ist. Dass sein hochschulmüder Held sich ausgerechnet auf das Versicherungsgewerbe kapriziert, ist eine literarische List, die der Eröffnungssatz des ersten Romanteils beglaubigt: »Eines Tages wachte ich auf und fand mich in einen Versicherungsvertreter verwandelt.« Mit zierlichem Zaunpfahl winkt da Kafkas Verwandlung – auch Franz K. arbeitete ja bei einem Versicherungsunternehmen. gewissermaßen den Die Branche besitzt gewisserm

Der erste Trick besteht darin, dass er sich mit Marko Theunissen ein Alter Ego geschaffen hat, das etwas naiver ist als er selbst – gerade genug, um sich die Lizenz zum unbefangenen Plaudern zu erteilen. Der kleine Unterschied macht es auch möglich, dass Marko, der mit dem Autor selbst viel gemeinsam hat, sein Studium hinwirft und Versicherungsvertreter wird. Das ist der zweite Trick: Hinter der Maske der Selbstbescheidung und des freiwilligen

literaturgeschichtlichen Ritterschlag; andererseits funktioniert sie als krasses Gegenmodell zu intellektuellen oder künstlerischen Berufen, vor allem zur freien Schriftstellerexistenz. »Immer in der Mitte bleiben, da, wo die Herde ist«, so charakterisiert Markos Kollege Anton das Lebensgefühl und das Erfolgsrezept gewiefter Klinkenputzer. Doch damit hören die Ambivalenzen noch nicht auf. Wohl jeder, der ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert hat, kennt

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das temporäre Gefühl der Ziel- und Sinnlosigkeit nach jahrelanger Beschäftigung mit »mittelmäßiger Forschungsliteratur«, den Überdruss an der Theorie, die plötzliche Sehnsucht nach etwas Handfestem, nach geregelter Arbeitszeit und bürgerlichen Sicherheiten, notfalls auf Provisionsbasis. Da aber, zumal in traditionell bildungsorientierten Kreisen, das AusPaul Ingendaay: Die romantischen Jahre scheren aus der akademischen Roman; Piper Verlag, Laufbahn mehr Courage erMünchen 2011; fordert als das Durchziehen 467 S., 19,99 € derselben, könnte man Marko Theunissens originellen Spurwechsel als unausgelebte Wunschfantasie des Verfassers deuten, als Akt der Rebellion, analog zu der Aufmüpfigkeit, wegen der Marko einst vom Internat flog. Die Kafka-Anspielung hingegen, welche die Spezies des Versicherungsvertreters mit einem – sagen wir es ruhig – »ungeheuren Ungeziefer« in Verbindung bringt, spricht eher dafür, dass es den real existierenden Paul Ingendaay beim bloßen Gedanken an ein solches Dasein gruselt. Er hat jedenfalls gründlich recherchiert, wie es in diesem Milieu zugeht, und das ist vielfach komisch, zumindest für Leser, die nicht im Versicherungswesen tätig sind. Er hat sich überdies in Geschichte und Philosophie des Gewerbes eingelesen und lässt seinen überqualifizierten Helden die »metaphysische Seite« dieser Menschheitserfindung und den traurigen Widerspruch zwischen Idee und Vermarktungspraxis bedenken. Markos Beobachtungen in dem niederrheinischen Dorf schließlich, in dem er eine Agentur samt Kundenkartei übernommen hat, muten hier und da an, als seien sie von Wilhelm Genazino inspiriert. Zum Beispiel, wenn von einer platzschmückenden Bronzeskulptur die Rede ist: »Die Skulptur bietet von jeder Seite einen anderen Anblick, sie

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hat auch einen Namen, aber ich nenne sie nur ›unser modernes Kunstwerk‹. Es ist, als hätte die Gemeinde Kleinhoek vier Skulpturen zum Preis von einer erworben.« Von lakonischen Aperçus dieser Art hätte man sich mehr gewünscht, während die detailfreudig verhandelte Familiensituation des Erzählers – Eltern geschieden, Vater demenzgefährdet, Geschwisterbeziehungen kompliziert, aber alles im Rahmen geordneter Verhältnisse – nur bedingt romanfähig erscheint. Auch Markos Liebesaffäre mit einer verheirateten Kundin, die endet, als ein missgünstiger Kollege ihn erpressen will, ist nicht wirklich prickelnd – es kommt einem so vor, als habe der Autor nur einen Anlass gesucht, um mit pragmatischem Ernst über das Wesen von Betrug und Doppelleben zu räsonieren. Die »romantischen Jahre« sind jedenfalls nicht die Zeiten, die hier geschildert werden; der Titel muss sich auf die Jugenderinnerungen beziehen, denen der Held immer wieder einmal melancholisch nachhängt und die Namen wie Chantal und Pauline, Yvonne und Margret tragen. Das Romantische an Marko Theunissen, einst Klosterschulrebell, jetzt im doppelten Sinne »auf der sicheren Seite«, ist seine Empathie. Er scheut keine Mühe, um seine Familie zusammenzuführen, er kümmert sich rührend um ein Nachbarskind, er hat ein offenes Ohr für einen seelisch angeschlagenen Kunden und macht sich immer noch Gedanken um den tragischen Freitod eines ehemaligen Lehrers. Nur auf die Bedürfnisse von Romanlesern nimmt er wenig Rücksicht: Sein Erzählstrom folgt der Devise »Alles muss raus«, als sei die literarische Bildung, mit der er doch zuweilen kokettiert, spurlos an ihm vorübergegangen. Das aber nimmt man weder der Figur noch ihrem Schöpfer ab.

GESCHICHTE AUF REIFEN Niklas Maak bekennt sich zur Pizza-mit-alles-Poetik von Eberhard Falcke

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as mag wohl den Anstoß gegeben haben? Zu dem Einfall, die Geschichte eines schicken Sportwagens und seiner verschiedenen Besitzer zu erzählen, vom ersten bis zum finalen Kilometer? Oder zu der Idee, alltagsgeschichtliche Episoden aus deutschen Landen aneinanderzureihen, doch anstelle von Familien, Generationen oder thematischer Bindemittel zur Abwechslung einen Mercedes 350 SL, Baujahr 1971, als Vehikel für diese Zeitreise zu nehmen? Dass der Journalist Niklas Maak mit seinem Roman Fahrtenbuch darauf weder am Anfang noch am Ende eine wohlüberlegte oder gerade noch hingebogene Antwort geben kann, ist für sein erzählerisches Debüt eine schwere Bürde. Trotzdem stecken in diesem Erzählungband, der zum Roman eines Autos frisiert wurde, doch mehr als nur die hingebastelte Konstruktion und manche deshalb etwas ziellos fabulierte Szenen, sondern einige beachtliche Erzählungen, wenn nicht Novellen, in denen aktuelle Stoffe mit Esprit und Treffsicherheit dargeboten werden. Dass er sehr ordentlich erzählen kann, das lässt sich dem Architekturkritiker und Kunstressortleiter der FAZ nicht absprechen.

Bis zu dieser Einsicht muss man sich allerdings durchbeißen. Denn zunächst beginnt es zwar manierlich, aber ungemein vorhersehbar. Gut, es sollen also die Geschichten der diversen Besitzer des Wagens erzählt werden, bloß weil sie im Fahrzeugbrief aufgelistet stehen. Das Wandern eines Gegenstandes durch die Schichten von Zeit und Gesellschaft ist ein bewährtes Erzählmuster. Es bietet viele Möglichkeiten, nur wollen die eben auch ausgereizt werden. Bei Maak jedoch verblasst das Automobil, dessen Roman dies sein soll, schnell zum durchsichtigen Vorwand, und es spielt, wenn überhaupt, meist nur als Nebensache eine Rolle. Auf den ersten Stationen fehlt den Geschichten schlichtweg das Bezwingende, und die Figuren, die in rascher Folge vorbeipassieren, gewinnen wenig Profil. Da gerät das Erzählen oftmals zur Kulissenschieberei mit musealen Requisiten aus den Abteilungen Warenwelt, Pop und das Neueste von einst. Wer sich dafür interessieren soll, darf gegenüber unserer rückblicksversessenen Kultur mit ihrer Musealisierung von allem und jedem keinen Überdruss empfinden. Zumal es sich der Autor nicht Niklas Maak: nehmen lässt, sogar noch Fahrtenbuch die fünfziger und sechziger Roman eines Autos; Hanser Verlag, Jahre einzubeziehen. München 2011; Maak tendiert stark zu 367 S., 19,90 € der Pizza-mit-alles-Poetik, die in der deutschen Literatur gerade floriert: bei Navid Kermanis Alles-über-mich, Jan Brandts Alles-über-die-Provinzjugend und Peter Kurzecks Alles-was-die-Erinnerunghergibt. Bei größerer formaler Konsequenz hätte dieses Fahrtenbuch zur Alltagskulturgeschichte eigentlich ein Schlagwortregister bekommen müssen: Atomkrieg, Aufsteiger, Becker-Mexico-Radio, Chuck Berry, Bungalow, Cola-Lutscher, Deep Purple, Ernte 23, FioBelletristik ZEIT LITERATUR

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rucci, Hailo-Bügeltisch, Hollywoodschaukel, Mauer, Opel Rekord, Ostpakete, Pizzeria, Schutzgelderpressung, Terroristenfahndung, Treuhand, Vietnamkrieg, Wirtschaftswunder, Wohngemeinschaft und so weiter. Aber, wie gesagt, das Buch wird besser, wenn auch nicht als Roman eines Autos, sondern als ein Erzählband, der mit seinen erzählerischen Schnappschüssen dann doch vermehrt Motive erwischt, die noch nicht von allen Seiten abgelichtet, beschriftet und archiviert sind. Da wirken die Geschichten dann plötzlich nicht mehr wie sorgsam aufgestellte lebende Bilder, sondern es fährt tatsächlich das unberechenbare Leben in die Figuren, die Handlung wird wichtiger als das Inventar, und der Autor bekommt es endlich mit Stoffen zu tun, von denen er nicht erst den Staub der Archive wegpusten musste. Bei Kilometerstand 172 115 im Jahr 1995, so geht die Zählung der Kapitel, wird am Beispiel mehrerer Figuren der Umbruch im Osten nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs nachgezeichnet. Dabei fällt ein grelles Licht auf die Vorgehensweisen der Treuhandanstalt, die im Großen als groteske Komödie erscheinen, sich im Kleinen jedoch zur Tragödie zuspitzen können. In dieser Erzählung gewinnt auch der kursorische, von Figur zu Figur springende Erzählstil eine größere Plausibilität, weil sich darin die Vielgestaltigkeit der bewegten Zeitläufte widerspiegelt. Dasselbe gilt für die narrative Szene-Soziologie über die neue Berliner Mitte und ihr rastloses Projekte-Prekariat, die unter dem Datum 2001 beim Tachostand von 238 874 Kilometern aufgerollt wird. Ebenfalls ins Schwarze des Zeitgeistes trifft die vorangehende 1999 spielende Erzählung, die sehr schlüssig beschreibt, wie sich ein üblicherweise ungemein fittes Doppelverdienerpaar in den Hybridzonen zwi-

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schen Rationalität und schwarzer Magie, Heimat und Fremde, hetero und homo, männlich und weiblich verläuft. Je näher Niklas Maak der Gegenwart kommt, desto besser gelingen seine zeittypischen Genrebilder, sie gewinnen an Aussagekraft, Spannung und Unterhaltsamkeit. Man fährt also mit diesem Roman eines Autos am besten, wenn man das ganze Tuning, zu dem diese Typenbezeichnung gehört, nicht allzu ernst nimmt und die ersten 100 000 Kilometer einfach ein bisschen auf die Tube drückt.

GESCHWÄTZ & REALITÄT Das Ausnahmetalent Steven Uhly hat zu viele gute Einfälle von Hans-Peter Kunisch

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ater Bengale, Mutter Vulkaneiflerin aus Gerolstein, eine explosive Mischung. Steven Uhly, 1964 in Köln geboren, ist über den Stiefvater »teilverwurzelt in der spanischen Kultur«. Außerdem war er vier Jahre im brasilianischen Belém do Pará tätig, als Leiter des deutschen Instituts der staatlichen Universität. Jetzt arbeitet der Spanisch-Dolmetscher und promovierte Literaturwissenschaftler mit seiner Frau, mit der er den Münchner Frühling-Verlag leitet, an einer argentinischen Publikation zu den Verschwundenen der letzten Militärdiktatur.

Schon das klingt nach viel. Und auch mit seinem ersten Roman, Mein Leben in Aspik, hat Uhly vergangenes Jahr für Aufsehen gesorgt. Unterhaltsam und mit scharfem Witz zerpflückte er deutsche Befindlichkeiten. Unvergessen die temperamentvoll-böse NaziOma, die einen gesunden erotischen Appetit hat, mit Schwiegersohn und Enkel je ein Kind zeugt, ihren Mann tötet, in den sechziger Jahren im florierenden Porno-Business aktiv ist, und so weiter. Das Debüt war eine schrille Identitäts-Groteske. So scheint es passend zu sein, dass sich Uhly jetzt mit SarrazinDeutschland anlegt. In seinem neuen Roman Adams Fuge geht es dem deutschbengalischen Autor um deutschtürkische Verhältnisse. Zu Beginn treibt Uhly zügig ein trockenlakonisch erzähltes Horrorszenario voran: Der türkische Vater schlägt seine deutsche Ehefrau. Als sie nach einem Krankenhausaufenthalt flüchtet, versucht er ihr aufzulauern. Der Ich-Erzähler, der resümierend berichtet, ist damals acht, trifft sie im Geheimen. Nach zwei Jahren reicht es dem Vater, er geht mit den Kindern in die Türkei und lässt sich umschulen, vom Automechaniker zum Imam. Bilderbuchmäßig legt Uhly die Familienverhältnisse an. Die beiden älteren Söhne, der eine blond, der andere dunkel, schlagen dem Vater nach. Adem Öztürk, der dritte Sohn und Ich-Erzähler, sieht türSteven Uhly: kisch aus, ist aber von der Adams Fuge larmoyanten deutschen UnRoman; Secession Verlag, kultur infiziert. Die Tochter Berlin u. Zürich 2011; wird vom Imam an einen 232 S., 21,95 € Gebetsteppichhändler verheiratet. Etwas später stürzt sie sich aus dem Fenster, vielleicht wurde sie auch gestoßen. Das klingt nach Klischee, und das soll es. Keine übertriebene Vorsicht. Der Clash der Kulturen im Kleinen. Man muss, scheint Uhly zu sagen, alles, was an Geschwätz &

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Realität im Umlauf ist, erst mal durchwaten, um zu Neuem vorzustoßen. Es wird interessant sein, wie die türkische Community auf das freche Buch reagiert. Wird sie es wahrnehmen, ergeben sich die mittlerweile klassischen Fronten, Integrierte versus Separierte – oder bricht das Buch sie gar auf? Auch der notorisch beleidigte türkische Staat hängt mit drin. Adem Öztürk geht zum Militär, wird Berufssoldat im Büro. Nur zweimal im Jahr muss er raus, und bei einer Disziplinierungsaktion gegen Kurden entwickelt sich eine mörderische Posse à la Camus.

Bei einer Pinkelpause entsteht Feindkontakt. Als Adem noch überlegt, ob er schießen soll, nimmt ihm ein Kurde das Gewehr ab. Schließlich wacht er in einem Jeep auf. Adem, der den Fahrer sympathisch findet, sieht eine Pistole auf dem Boden, hebt sie auf – und schießt. Geschickt spielt Uhly mit der Trottelhaftigkeit seines Erzählers, der gleich berichtet, dass ihn die Sache in der Türkei zum Helden macht. Der Geheimdienst heuert ihn an: Er soll, als Adam Imp – der Geburtsname der

Mutter – in Deutschland Agent werden. Jetzt geht es um die Sarrazin-Welt: Ein deutscher Türke kehrt heim. All das ist dramaturgisch schlau und amüsant erzählt, eine neue Groteske beginnt. Der Weg durch die Klischees wird, um jene des Agenten-Romans erweitert, komplexer. Adams Fuge meint die Fluchtbewegung, die für Geheim-Adam in Deutschland einsetzt, aber auch einen Anspruch: Streng polyphon, lässt die Fuge viel Freiheit bei der Stimmenverwandlung. Uhly hat versucht, sein Buch als Fuge zu schreiben. Im Dauerreigen verwandeln sich Haupt- wie Nebenfiguren und Motive. Ständig wird Adam Imp ein anderer; ob im Traum oder in der Realität, weiß er selber kaum: Identitäten spalten sich ab, stehen sich gegenüber. Das erzeugt Elemente des Wunderbaren. Mitten im Flug nach Deutschland öffnet sich die Tür, und der erschossene Kurde steigt ein, beginnt zu sprechen. Immer wieder bringt Adem, mehr oder weniger aus Versehen, jemanden um. Nicht nur Identitäten und Morde treten reihenweise auf, auch die Geheimdienste häufen sich. Der Mossad ist involviert. Das könnte unterhaltsam sein. Aber die Figuren werden zu kurz angerissen, sind nur Namen, die in den nächsten Namen untergehen. Selbst der Held verliert sich zusehends in den Wirren der Handlung und seinen vielen Doubles. Der überzeichnete Barock des Erstlings gleitet ins Serielle ab. Auch die Sprache leidet. In Aspik lebte sie von ihrem gescheiten Witz, der hier in den vielen Motiv- und Identitätspermutationen oft verloren geht. Am besten ist Uhly in Adams Fuge, wenn er sich Zeit für sein karikaturistisches Talent nimmt: Als Adam Imp die neue, spießige Familie der Mutter findet, stellt sich heraus, dass sie auch von ihrem deutschen Muster-Mann geschlagen wird. Das Klischee wird weitergegeben und löst sich auf. Angeleitet von Adems

älteren Brüdern, die aus der Türkei zurückkehren, um nach dem Rechten zu sehen, scheint eine glückliche halb kriminelle Patchworkfamilie zu entstehen. Dank seiner Morde wird der unfreiwillige Schelmen- und Bildungsromanheld Adem zum Boss. Alles spritzige Einfälle. Aber warum dieses Überladen? Uhly hat in einem Interview den Versuch formuliert: »das Maximum an zu bewältigender Vielfalt unter einen Hut zu bekommen«. Alles aushalten, alle Widersprüche. Nur das formt Identität – und erzählerisch ist es manchmal zu viel.

KLEINE TODSÜNDEN Wilhelm Genazino wird immer mehr wie Loriot von Jochen Jung

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ilhelm Genazino hat etwas, was auch unter seinen sehr geschätzten Kollegen nicht viele vorweisen können: Er ist beliebt. Der Grund dafür liegt durchaus nicht auf der Hand, denn alles, was man heute von einem Roman, der vielen gefallen will, erwarten kann, gibt es bei diesem Autor nicht: Seine Bücher erfinden nichts, sie sind nicht spannend, sie erklären die Weltgeschichte nicht, und man kann auch nicht sagen, dass sie einem etwas über das Leben der Menschen erzählen, von dem man vorher noch nie etwas geahnt hat. Belletristik ZEIT LITERATUR

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Im Gegenteil: Genazinos Bücher sagen einem, dass spannend langweilig ist, die Weltgeschichte eine Nummer zu groß ist und man selber nicht der Einzige ist, der gelegentlich feststellt, dass ihm eine Tasse im Schrank fehlt, die es gar nicht gibt. Ganz gleich, wie großartig man sich selber findet, man weiß doch, dass es daneben auch einen Haufen Mickriges in einem gibt, kleine Hilflosigkeiten, die zu mittleren Verzweiflungen führen können, und nicht zuletzt, wenn auch im Bonsai-Format, etliche Todsünden wie Neid, Geiz, Fresssucht et cetera. All diese halb verborgenen Eigenschaften prägen ausdrücklich Genazinos Hauptfiguren und so auch den sogenannt freischaffenden Architekten, der in diesem Buch von sich erzählt. Er arbeitet einem größeren Architekturbüro zu, hat seine Kontakte mit der übrigen Welt auf das Nötigste reduziert und ist zwanghaft mit der Pflege seiner Idiosynkrasien beschäftigt. Er lebt in einer namenlosen deutschen Stadt, in der er arbeitet, sich hier eine Kleinigkeit kauft oder dort mal ein Bier trinkt, und er hat Frauen, die Maria heißen, Thea oder Karin. Maria ist die derzeitige, sie kümmert sich um ihn, was ihm selten gefällt, aber sie steht Wilhelm Genazino: ihm sexuell zur Verfügung, Wenn wir Tiere wären was er durchaus schätzt. Roman; Hanser Denn so anspruchslos er in Verlag, München 2011; Sachen Kleidung, Essen 160 S.; 17,90 € oder Freizeit ist, so bedürftig ist er in puncto Sexualität, ja sie ist eigentlich das Einzige, was ihm wirklich Freude machen kann, auch wenn er sich selbst eine »seltsame Liebesgenügsamkeit« attestiert. Im Übrigen ist vor allem viel Beiläufiges und scheinbar Nebensächliches im Focus dieses Wunderlings, aber Genazino ist nicht Handke. Seine Wahrnehmung des sonst

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Übersehenen hat nichts Rettendes, eher wirkt es wie die Sammelleidenschaft auf einem Gebiet, das andere Sammler gern übersehen. Das kann dann zu wunderbaren Fundstücken führen, die man nicht gern vergisst, so wie das von der »mitten in der Stadt im Stehen schlafenden Ente«, notabene »eine große, schwere Ente auf einem Fuß, mit geschlossenen Augen«. Bisweilen möchte man den männlichen Helden dieses Romans, der so wenig männlich und schon gar kein Held ist, gegen ihn selbst in Schutz nehmen. »Im Inneren ein Finsterling« nennt er sich einmal, aber wenn er am Ende tatsächlich für ein paar Tage im Gefängnis landet, dann wegen einer Lappalie. Ja, dieser Mann hat auch Pech, kaum mehr als wir alle, aber auch nicht weniger. Vor allem aber hat dieses Pech das große Glück, einem Autor wie Genazino eingefallen zu sein, der im Laufe der Jahre immer mehr Vergnügen daran gefunden hat, an diesem Pech so lange herumzukratzen, bis es seine komischen Seiten zeigt. Das gelingt zum einen durch die Beobachtung der alltäglichen Desaster, zum anderen durch die witzige Art, mit der Kanzleisprache vermischt wird mit Versatzstücken aus dem Alltagsleben: Es ist ihm »ein angenehmer metaphysischer Zustand, Schuhe in ihrer fortlaufenden Selbsteinschmutzung zu beobachten«. Das Komische ist das heimliche Erzählziel, das alles zusammenbindet. Es wird beim Zerlegen eines Kürbiskernbrötchens ebenso eklatant wie bei der Beerdigung des Arbeitskollegen oder dem Besuch der Bettenabteilung in einem Kaufhaus. Und spätestens dann weiß man auch, wer hier zunehmend das große Vorbild ist: Vicco von Bülow, genannt Loriot.

MIT DER SEELE SPIELEN William H. Gass’ epochaler Roman »Der Tunnel« von Sieglinde Geisel

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it der Arbeit an The Tunnel hat William H. Gass 1965 begonnen, 1995 erschien das Buch in den USA, und bis zur Publikation der Übersetzung ins Deutsche sind nun noch einmal 16 Jahre vergangen. Das stilistische Wagnis, Gass’ geduldige und übermütige Arbeit an der englischen Sprache, war für die Übersetzung ein Risiko: Der Tunnel ist nicht nur das Opus magnum des Autors, sondern auch seines Übersetzers. Nikolaus Stingl ist das Kunststück gelungen, dem Werk auf den über tausend Seiten der deutschen Fassung seinen Atem zu belassen. Wo möglich, übersetzt er wörtlich, oft bis in die Assonanzen, wo nicht, bleibt er dem Original treu, indem er es neu erfindet. Er schreibe nicht »über« etwas, sondern er schreibe etwas, sagt Gass selbst über seine Prosa. Bereits auf der unmittelbaren visuellen Ebene des Texts verschmelzen Gegenstand und Wort: Der Autor experimentiert nicht nur mit verschiedenen Formen der konkreten Poesie sowie symbolkräftigen Typografien, er verwendet etwa auch das Faksimile einer zerknitterten Einkaufstüte und allerlei Skizzen.

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Der Verlag hat keinen Aufwand gescheut: Die Wimpelchen der »Partei der Enttäuschten«, welche der Ich-Erzähler beim Schreiben aufs Papier malt, sind sogar in Farbe gedruckt. Doch so spektakulär der Text sich dem Auge darbietet – geschrieben ist er für das Ohr: Rhythmus und Klang, ausgesuchte Wörterlisten und überraschende Assonanzen (der Visionär sehe die Zukunft »like a dream-draped dressmaker’s dummy«, heißt es im Original) und absolut schweinische Limericks. Lauter Verfahrensweisen, die im Dienst eines erfinderischen, modernen Realismus stehen, in dem – wie Beckett einmal über Joyce bemerkte – die Worte tanzen, wenn im Text getanzt wird. In Der Tunnel treten wir als Leser ein in das Bewusstsein des William Frederick Kohler, eines etwa 50-jährigen amerikanischen

Historikers mit deutschen Wurzeln sowie einem Hang zu deutschen Sehnsüchten und deutscher Dichtung, der zu seiner Monumentalstudie »Schuld und Unschuld in Hitlerdeutschland« eine Einleitung schreiben soll und nicht kann. Nun sitzt Kohler im Keller seines Hauses und schreibt über alles,

was ihm durch den Kopf geht, über den Unterschied zwischen Geschichte und Poesie etwa und über die Frage, ob der Holocaust ein singuläres Ereignis sei: »und ich fragte mich, welcher Jude als derjenige gelten soll, dessen Tod zu weit ging (...), der einundneunzigste? Vierhundertste? Tausendunddritte?« Erinnerungen an seine Kindheit im Mittleren Westen. Tiraden über seine Frau, seine Herkunft, sein Leben. Kohler schreibt und schreibt, und gleichzeitig beginnt er, in seinem Keller einen Tunnel zu graben. Dieser Tunnel, für den es weder einen Zweck noch eine Erklärung gibt, ist eine doppelte Metapher: für Kohlers Schreiben wie für das Buch, das wir in den Händen halten. Der Eingang sei versteckt, schreibt Gass in einem unveröffentlichten Konzeptpapier (in der Tat lesen sich die ersten hundert Seiten sperrig), es gebe Abstürze und Hindernisse, dann wieder gehe es leicht voran. Der Tunnel, den Gass mit seinem Buch gräbt, ist eine Tiefenbohrung in die Seele seiner monologisierenden Hauptfigur. Wer ein Bewusstsein erdichtet, darf keine Zensur üben. Ob Philosophie oder Kloake, alle Wörter genießen die gleiche Existenzberechtigung: Bis ins letzte Detail erfahren wir unter anderem, mit welcher Mühe sich der fettleibige Kohler auf dem Klo den Hintern wischt. Nach Paul Valéry besteht die Kunst der Literatur darin, »mit der Seele der anderen Menschen sein Spiel zu treiben«. Kohler ist ein brillanter Kopf, der die schönsten Sätze formuliert und die dümmsten Ansichten vertritt. Anhand dieser Figur, die uns verführt und anwidert, treibt Gass sein Spiel mit dem Leser. In Kohlers Vision einer »Partei der Enttäuschten« sollen all jene eine politische Heimat finden, die »in einem Zustand bescheidenen Elends durchs Leben gehen«. Die Partei ist ein Organ der dumpf

beleidigten Rechten, und auch eine »Partei des enttäuschten Penis«. Der Autor hat uns am Haken, wenn wir uns darüber amüsieren, wie Kohler in einer boshaften Satire über seine Fakultätskollegen herzieht. Auf den ganz anderen Erzählton der Kindheitserinnerungen ist man nun nicht gefasst. Die trunksüchtige Mutter und der arthritische, chauvinistische Vater entstammen Gass’ William H. Gass: Der Tunnel eigener Biografie, ebenso Roman; A. d. Englischen die karge Landschaft des von Nikolaus Stingl. Midwest mit ihren erloRowohlt Verlag, Reinbek 2011; 1092 S., 36,95 € schenen Seelen. Doch dies erklärt nichts, denn das eigene Leben ist bei Gass nur das Material, nicht der Gegenstand des Erzählens. »Wir haben nicht das richtige Leben geführt«, klagt Kohler. Aus dieser Verwundung (und dem Beharren auf ihr) erwächst die Kälte und Gleichgültigkeit, die jederzeit zum gefühlsbetäubten Gewaltrausch des politischen Faschismus erweckt werden kann, so die unausgesprochene Behauptung des Buchs. Wir wollen nichts zu tun haben mit diesem Kohler, der seine Geliebten benutzt (außer Lou, da war er der Schwächere) und seine Frau verachtet (das tun wir ebenfalls – auch das gehört zum Spiel des Autors mit seinen Lesern). Doch am Ende dieser Seelengrabung blicken wir in die offene Wunde, und wir lauschen dem elegisch-unsentimentalen Ton der Erinnerung, in der, trotz aller Distanz, nichts verheilt ist. Wie der 15-Jährige seine pflegebedürftigen Eltern in Institutionen versorgen muss, wie ihm, dem von allen verlassenen, innerlich ausgehungerten Kind, nichts anderes übrig bleibt, als die Vaterrolle zu übernehmen – diese Erfahrung des monumentalen Zukurzkommens ist so genau, so nackt und so berührend erzählt, dass wir über Kohler kein Urteil mehr fällen können. Belletristik ZEIT LITERATUR

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UND ICH? WAS BIN ICH? Robert Bober erzählt eine Geschichte, bis man selbst anfängt, sich zu erinnern von Walter van Rossum

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obert Bober ist kein Schriftsteller. Und doch schreibt er an einem Roman, dessen Fortsetzungen er nach und nach herausrückt. Die erste Lieferung erfolgte 1993 mit Was gibt’s Neues vom Krieg? (dt. 1995), 1999 erschien Berg und Beck und jetzt Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen. Dieser Roman handelt von unbewohnten Wohnungen, von Wartenden, von Überlebenden, von Spaziergängern, von Geschichtenerzählern, von einer Welt, die es nur noch in den Erinnerungen gibt, die diese Bücher beschwören. Die Geschichten, die Bober erzählt, sind federleicht, heiter, bunt und so voller anheimelnder l Melancholie, dass eiM nem der Schreck in die Glieder Gliede fahren kann. Wird hier hi die in den besseren deutschen oder frandeu zösischen Kreisen gepflegte K Sehnsucht nach na dem Schtetl, nach gefiltem Fisch und PickelF fleisch, nach jüdischem Witz und jüdi spezieller Melancholie Melancho bedient?

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Wer im Alter von 62 Jahren seinen ersten Roman veröffentlicht, hat vielleicht nur eine Geschichte zu erzählen: seine eigene. Bober wurde 1931 als Sohn polnischer Juden in Berlin geboren. 1933 emigrierte die Familie nach Frankreich. Robert wollte Uhrmacher werden, landete beim Schneidern. Bis 1953 nähte er, danach hat er eine Zeit als Hilfstherapeut mit psychisch Kranken gearbeitet. Durch einen Zufall – gewiss kein beliebiger – lernte er den Regisseur François Truffaut kennen, dessen Assistent er wurde. Bei Schießen Sie auf den Pianisten und Jules und Jim finden wir seinen Namen im Abspann. In den sechziger Jahren begann er, als Dokumentarfilmer zu arbeiten. Mit Pierre Dumayet machte er, der erst mit 20 sein erstes Buch gelesen hatte, Filme über Bücher und Schriftsteller, mit Georges Perec verfasste er das Drehbuch für einen hinreißenden Film über Ellis Island. Bernard Appelbaum ist kein Schriftsteller. Er streift durchs 20. Arrondissement in Paris, wo er mit Mutter, kleinem Bruder und Oma in der rue Oberkampf lebt. Da stößt er auf Robert Bober, der gerade im Auftrag von François Truffaut Drehorte für Jules und Jim inspiziert. Robert war nach dem Krieg Betreuer in einem Ferienlager für jüdische Kinder. Bernard Appelbaum war eines der Kinder. Jetzt ist er etwa 20. Bober bietet ihm eine Statistenrolle im Film an. So kommt es – auch wenn von seinem Auftritt nicht viel bleibt. Er trifft ein Mädchen wieder, die auch in dem Ferienlager war. Als Bernard mit seiner Mutter den Film im Kino sieht, kommen Kaskaden der Erinnerung in Bewegung. »Affektive Erinnerung. Unfreiwillige Erinnerung. Ich wurde von Erinnerungen heimgesucht, die ich vergessen glaubte. Wohin ich mich auch wende, sie rufen einander. Sie dringen durch eine Art Bresche ein und tauchen wieder auf.« Erinnerungen an den Vater, der 1942 in

Auschwitz verschwand, an den Stiefvater, der mit dem Flugzeug abstürzte, an die Mutter, die mit den beiden Männern eine Variante der Geschichte von Jules und Jim erlebte hatte. Bernard Appelbaum erzählt im Präsens vom Mäandern seiner Erinnerungen ganz zu Anfang der sechziger Jahre, vom Abtauchen in magische Zusammenhänge, in eigene und fremde Vergangenheiten, in Vorvergangenheiten oder Vorvorvergangenheiten. Doch die Gegenwart seines Erinnerungsspiels erscheint uns bereits wieder in den Farben einer verblassenden Fotografie. Während Appelbaum sich in die Konturen seiner Vergangenheit vertieft, vertiefen wir uns in seine Gegenwart als Vergangenheit. Und wir werden eines Paris ansichtig, nein: Wir finRobert Bober: den funkelnde FragmenWer einmal die Augen öffnet, kann nicht te einer Stadt, die vielmehr ruhig schlafen leicht nur die Älteren von Roman; A. d. Franz. von uns wenigstens in AugenTobias Scheffel; Verlag A. Kunstmann, München 2011; blicken erleben durften. 256 S., 19,90 € Dieses Paris oder besser: diese Viertel (das 19. und 20. Arrondissement) sind anekdotisch möbliert, von Flaneuren durchwandert, von Musettesängern besungen – es ist komisch und betörend, und vor allem: Es ist verschwunden. Im Geflimmer der Zeilen berühren wir es und verlieren es wieder – so ist er, der Baustoff der Erinnerung. »Und ich, was bin ich in dieser Geschichte? Der Verfasser? Der Komplize? Ein Passant? Ich bin Sie! Nun, ich bin irgendeiner von Ihnen. Ich bin die Verkörperung Ihres Verlangens, Ihres Verlangens, alles zu erfahren.« So beginnt Der Reigen in der Verfilmung von Max Ophüls, so erfand Bober Appelbaum, um sich an sich selbst erinnern zu können. Er sucht keine Gründe, stiftet keine Zusammenhänge, nur die Gesellschaft von Erinnerungen. Irgendwann fängt man selbst an, sich zu erinnern. Gar nicht leicht.

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GOTT HAT GESCHLAMPT José Saramagos letzter unchristlicher Roman von Katharina Doebler

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ain ist José Saramagos letztes Buch, es erschien 2009, ein Jahr vor seinem Tod im Juni 2010. Man neigt dazu, solche letzten Spätwerke als Vermächtnis zu begreifen, zumindest räumt man ihnen einen ziemlich hohen Stellenwert ein: Was jemand mit 87 Jahren, am Ende eines langen produktiven Lebens geschrieben hat, wird das Ergebnis langer Erfahrung sein, denkt man, Schlusspunkt eines gesamten Werks. Mit diesem Roman formuliert der Nobelpreisträger von 1998 noch einmal mit Emphase und Wut und großer Eindeutigkeit sein dreifaches Glaubensbekenntnis, das von seiner schriftstellerischen Arbeit nie zu trennen war: sozialistischer Humanismus, gegründet auf einen soliden Atheismus. Dieses Fundament machte für ihn, wie für viele andere glühende Atheisten alter Schule, die Auseinandersetzung mit dem Heiligen Buch des christlichen Monotheismus immer wieder nötig. Er las es unter den Vorzeichen seiner Überzeugung, deutete es um, schrieb es neu. Ergebnis war Das Evangelium nach Jesus Christus, ein Ärgernis für Katholiken – ebenso, übrigens, wie für Feministinnen. Saramagos anhaltende Empörung über den Allmächtigen bildet auch das Zentrum des Buches Kain. Der biblische Kain, erster Sohn von Adam und Eva, dessen Opfer von Gott zurückgewiesen und der deshalb aus Neid zum Brudermörder wird, er ist Titelfigur, Held und Programm, ein wortgewandter Renegat, der gegen Gott die Anliegen der Menschen vertritt.

Die Urgeschichte von Kain, dem Bauern, der Abel, den Hirten, erschlug, ist oft als Legende des alten Konflikts zwischen sesshaften Bauern und nomadischen Hirten gelesen worden oder auch als Exempel für den schuldbeladenen Menschen, den Gott verflucht hat. Für Saramago aber ist sie die Genesis des Menschen als einem selbstbewussten Widersacher Gottes. Auf seiner Wanderschaft quer durch die Zeiten und wichtigen alttestamentarischen Ereignisse hat der – übrigens sehr gut aussehende, virile und handwerklich geschickte – junge Mann viel Gelegenheit, Gott auf dessen Verfehlungen hinzuweisen. Derer gibt es viele: Er war an dem Brudermord zumindest teilschuldig, und es war eine Gemeinheit, Hiob wegen einer blödsinnigen Wette mit Satan leiden zu lassen. Außerdem war der Sieg der Israeliten vor den Mauern von Jericho ein furchtbarer Massenmord, ebenso der Untergang von Sodom. Die Opferung Isaaks war pure Willkür und die Sprachverwirrung von Babel eine Verhinderung des Fortschritts. Und so weiter. Das Alte Testament, diese Sammlung uralter Schriften nach den Überlieferungen kämpferischer Wüstenvölker, ist eben voll mit Geschichten, die dem humanistischen Gedankengut zuwiderlaufen. Saramago ist (weiß Gott, möchte man sagen) nicht der Einzige, der das bemerkt hat, schon gar nicht der Erste. Doch die lange Tradition theologischer Hermeneutik interessiert ihn nicht, und die historisch-ethnologische Dimension seines Stoffs ist ihm völlig egal. Saramago, der portugiesische Sozialist, hat uns kein Buch der Reflexion hinterlassen, sondern eins der Abrechnung.

Gottvater wirkt hier wie ein anmaßender und grausamer iberischer Großgrundbesitzer; von der Welt, die er geschaffen hat, besitzt er nicht einmal so viel physikalische Ahnung, dass er den Bau der Arche vernünftig hinbekommt. Erst Kain muss kommen und ihm und Noah die Sache mit der Wasserverdrängung erklären. Der HERR, der die Qualitäten seines menschlichen Gegners bemerkt und zu schätzen weiß, holt ihn, man verzeihe den Kalauer, mit ins Boot. Schließlich ist nach der Sintflut eine ganze Menschheit neu zu zeugen. Erst in dieser letzten Episode, der Geschichte von der Sintflut, José Saramago: Kain auf den letzten 25 seiner Roman; A. d. Portugie170 Seiten, erhebt sich sischen v. Karin der Roman schließlich von Schweder-Schreiner; Hoffmann und Campe, über das Muster erkläreHamburg 2011; rischer Gesinnungslite176 S., 19,90 € ratur, erst da springt der Funke des Erzählers auf und lässt das bis dahin so absehbare Buch zur fanatastischen Erzählung werden, die Schwung und einen sehr eigenen Witz entfaltet. Arbeiterengel marschieren auf, die mit bloßer Faust Nägel einschlagen und mit dem Handteller Bretter hobeln können, die über Klassenunterschiede im Himmelreich klagen und schließlich die Arche ins Wasser tragen müssen. Und Kain, diese Galionsfigur eines von Gott verfolgten Humanismus, muss nun in der hoffnungsvoll schwimmenden Arche nicht nur Gott, sondern auch die verbliebenen Exemplare der Menschheit kritisch betrachten. Und kommt zu dem Schluss, dass deren Fortbestand nicht wünschenswert ist. José Saramago sagte von sich selbst, er sei kein Pessimist, sondern nur ein gut informierter Optimist. Am Ende des Romans, als die Sintflut vorüber ist, stehen sich auf der Erde zwei gegenüber, die erbittert miteinander diskutieren: ein Gott und ein Mensch. Saramagos letztes Buch ist sicher kein Schlusspunkt, er hat Besseres geschrieben. Es ist eher ein Ausrufezeichen, das sich ganz am Ende zum Fragezeichen rundet.

IMPRESSUM ZEIT LITERATUR Herausgeber: Ulrich Greiner Redaktionsleiter: Jens Jessen Moritz Müller-Wirth Dr. Adam Soboczynski (Stellvertreter) Chef vom Dienst: Iris Mainka (verantwortlich), Mark Spörrle Assistenz: Gabriele Sommer

Redaktion: Alexander Cammann, Dr. Susanne Mayer, Iris Radisch, Dr. Elisabeth von Thadden Redaktionsassistenz: Ursula Alai Omid, Christiane Behrend, Christiane Detje, Tanja Kemna. Sandra Mischke Art-Direktion: Dietmar Dänecke (verantwortlich)

Art-Konzept: Mirko Borsche Bildredaktion: Ellen Dietrich (verantwortlich) Mitarbeit: Melanie Böge Dokumentation: Mirjam Zimmer (verantwortlich) Korrektorat: Mechthild Warmbier (verantwortlich)

Mitarbeit: Julika Altmann

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Verlag und Redaktion: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Pressehaus, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg

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DAS DEUTSCHE KAPITEL Heinrich August Winklers monumentale »Geschichte des Westens« widmet sich der Epoche zwischen 1914 und 1945 und feiert die Demokratie von Volker Ullrich

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er Westen steckt, wenn nicht alle Zeichen trügen, in der schwersten Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Niedergang der Führungsmacht USA scheint unaufhaltsam zu sein, und in Europa erweist sich die Malaise um die Gemeinschaftswährung als ein Sprengsatz, der den Zusammenhalt der Union bedroht. In dieser dramatischen Lage kann eine Rückbesinnung auf das, was die viel berufene »westliche Wertegemeinschaft« ausmacht, von Nutzen sein. Ebendies unternimmt der Berliner Historiker Heinrich August Winkler mit seiner groß angelegten Geschichte des Westens. Der erste Band erschien 2009. Darin beschrieb Winkler zum einen, wie sich in einem jahrhundertelangen Prozess bis zum Ende des 18. Jahrhunderts das herauskristallisierte, was er das »normative Projekt des Westens« nennt: Gewaltenteilung, unveräußerliche Menschenrechte, Rechtsstaat, repräsentative Demokratie. Und darin schilderte er zum anderen, wie der Westen im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts nicht selten gegen die eigenen Ideale verstieß, allerdings auch immer wieder die Kraft zur Korrektur der eigenen Praxis fand. Dass Winkler nach nur zwei Jahren einen zweiten, mit über 1300 Seiten ebenso umfangreichen Band folgen lässt, zeugt von einer geradezu frappierenden Arbeitsaskese. Ursprünglich sollte der zweite Band vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gegenwart führen, also das Gesamtunternehmen abschließen. Doch dann hat sich der Autor entschieden, die drei Jahrzehnte zwischen 1914 und 1945 mit den beiden Weltkriegen und der globalen ökonomischen Krise seit Ende der zwanziger Jahre als eine eigene Epoche, als »Ausnahmezeit« sui generis, zu behandeln. Auch der zweite Band zeigt die Vorzüge des ersten: Winkler schreibt nicht in erster Linie für die akademische Zunft, sondern für ein breites, historisch interessiertes Publikum. Die Kunst, Analyse und Erzählung zu verbinden, beherrscht er wie kaum ein zweiter deutscher Historiker. Und er versteht es, eine schier erdrückende Stofffülle zu bändigen und die Vielfalt der Aspekte in eine überzeugende Synthese zu integrieren. Die Darstellung bewegt sich auf der Höhe der internationalen Forschung und ist doch durchgängig so klar und übersichtlich geschrieben, dass man beinahe vergessen könnte, welche enorme Anstrengung die Rezeption einer fast unübersehbar erscheinenden Literatur bereitet haben muss.

War der erste Band als »Problem- und Diskursgeschichte« angelegt, wobei ein starker Akzent auf die politischen Ideen gesetzt wurde, so dominiert im zweiten die Politikgeschichte, angereichert um die Wirtschaftsund Sozialgeschichte dort, wo sie, wie im Falle der großen Depression seit 1929, unverzichtbar ist. Auffällig ist wiederum die Vernachlässigung der Kulturgeschichte. Explizit widmet ihr Winkler nur einen Abschnitt – wenn er im Zusammenhang mit den Roaring Twenties auf den faszinierenden Kulturbetrieb der Weimarer Republik zu sprechen kommt. Überhaupt ist eine gewisse Privilegierung der deutschen Geschichte unverkennbar. Der Autor begründet dies damit, dass die Rolle Deutschlands zwischen 1914 und 1945 »so zentral« gewesen sei, »daß man die Zeit der Weltkriege geradezu als das deutsche Kapitel in der Geschichte des Westens bezeichnen kann«. So plausibel diese Begründung auch erscheint, so drängt sich doch der Eindruck auf, dass Winkler in den Abschnitten zur deutschen Geschichte, die seinen eigenen Forschungsinteressen am nächsten liegen, seiner Lust am Erzählen bereitwilliger Lauf gelassen hat. Auf diese Weise ergeben sich einige Ungleichgewichte in den Proportionen – die Darstellung der Frühgeschichte oder der Endphase der Weimarer Republik etwa nimmt genauso viel Raum ein wie die Entwicklung der amerikanischen, britischen und französischen Geschichte im selben Zeitraum zusammen. Stärkere Berücksichtigung als im ersten Band erfahren dagegen die russische und die italienische Geschichte, und dies aus guten Gründen. Denn nach der Oktoberrevolution von 1917 bildete sich in Russland eine bolschewistische Diktatur heraus, die – in den Worten Winklers – »der bisher radikalste Gegenentwurf zum normativen Projekt

Weitere politische Bücher: Tom Koenigs: »Machen wir Frieden oder haben wir Krieg?« S. 68 Colin Crouch: »Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus« S. 69 Jeremy Rifkin: »Die dritte industrielle Revolution« S. 70 B. Reisenberger/Th. Seifert: »Schwarzbuch Gold« S. 71 Harold James: »Krupp« S. 72 Johannes Willms: »Talleyrand« S. 74 Robert Gerwarth: »Reinhard Heydrich« S. 75

des Westens« war. Und mit Mussolinis »Marsch auf Rom« im Oktober 1922 entstand in Italien ein faschistisches Regime, das wiederum eine radikale Antwort auf die Bedrohungsängste darstellte, die Lenins Revolution im Westen ausgelöst hatte. Italien war keineswegs das einzige Land, das sich in der Zwischenkriegszeit von der Demokratie verabschiedete. Nur zwei der nach 1918/19 neu gegründeten Staaten Nordost- und Südosteuropas – nämlich Finnland und die Tschechoslowakei – konnten ihr demokratisches System über die Krise des Nachkriegsjahrzehnts hinaus bewahren; alle übrigen, Polen, die baltischen Staaten, die Republik Österreich, Ungarn, Jugoslawien, gingen früher oder später zu autoritären Regimen über, ebenso aber auch bereits vor 1918 existierende Staaten wie Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Portugal oder Spanien. Diesen Prozess der »autoritären Transformation« erstmals Land für Land in großem Zusammenhang dargestellt zu haben ist eine der beeindruckendsten Leistungen des Autors.

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och Winklers Buch ist vor allem das Hohelied auf die Behauptungskraft der westlichen Demokratien. Es zeigt: Wo das normative Projekt des Westens tiefe Wurzeln geschlagen hatte und das politische Denken der Regierenden wie der Regierten bestimmte, bewährte es sich auch angesichts der Herausforderungen durch die totalitären Diktaturen und die Weltwirtschaftskrise. Das galt zuallererst für die großen angelsächsischen Länder, die USA und Großbritannien, die ihr demokratisches System durch Reformen erneuern und festigen konnten. Ein Glanzstück ist die Darstellung des New Deal unter Franklin D. Roosevelt seit 1933. Wenn man liest, was der amerikanische Präsident allein in den ersten hundert Tagen seiner Regierung an Reformgesetzen einbrachte und wie er sie seinen Landsleuten in den berühmten Rundfunkansprachen vor dem Kamin des Oval Office vermittelte, dann wünschte man sich Politiker von ähnlicher Tatkraft und Durchsetzungsfähigkeit in der heutigen westlichen Welt. Dass die Weimarer Republik die Weltwirtschaftskrise nicht überlebte, führt Winkler im Wesentlichen darauf zurück, dass die parlamentarische Demokratie hier eben noch

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keine festen Wurzeln geschlagen hatte. Sie galt in den Augen der alten Machteliten als eine den Deutschen 1918 von den Siegern aufgezwungene Staatsform. Vor diesem Hintergrund deutet Winkler den Nationalsozialismus als die extremste Steigerung der tief verwurzelten antiwestlichen Ressentiments: »Ohne den Rückhalt bei den vorund antidemokratischen Traditionen, an die er anknüpfen konnte, hätte Hitler Deutschland 1933 nicht seiner Herrschaft zu unterwerfen vermocht.« Natürlich stellt auch Winkler die Frage aller Fragen: warum der Holocaust zum deutschen Menschheitsverbrechen werden konnte. Die Antwort: Nur in Deutschland war der Antisemitismus in seiner radikalsten Ausprägung an die Macht gekommen, und nur hier stand ein Mann an der Spitze, der von Anfang an entschlossen war, die Juden zu »entfernen«, mit welchen Mitteln auch immer. Der Autor blendet die Verbrechen Stalins keineswegs aus; im Gegenteil, das ganze Ausmaß des Terrors vor allem in den dreißiger Jahren – die Vernichtung der Kulaken, die Schauprozesse, die »Säuberungen« im Parteiapparat – wird präzise beschrieben. Doch das alles wird übertroffen durch die Darstellung des deutschen Vernichtungskriegs gegen Polen und die Sowjetunion und der Ermordung der europäischen Juden, die in seinem Schatten exekutiert wurde. Gerade in der vergleichenden Betrachtung wird deutlich, worin das Spezifische dieses Völkermords lag: Es war nicht nur die bürokratische Routine und technische Perfektion, mit der die Opfer erfasst, deportiert und in den Mordfabriken getötet wurden; es war auch die Tatsache, dass dieses Verbrechen von einer Nation verübt wurde, die trotz des antiwestlichen Affekts seiner Eliten kulturell zum Westen gehörte und mit westlichen Maßstäben gemessen wurHeinrich August Winkler: de und wird. Geschichte des Westens Die Zeit der Weltkriege Aus diesem Um1914–1945; Verlag stand erklärt Heinrich C. H. Beck, München August Winkler, wa2011; 1350 S., 38,– € rum die Vernichtung der europäischen Juden im kollektiven Gedächtnis des Westens bis heute sehr viel stärker nachwirkt als andere Genozide im 20. Jahrhundert. Die These von der Singularität der Schoah, die in letzter Zeit immer wieder in Zweifel gezogen wurde, erfährt auf diese Weise eine neue Bestätigung. Bei allem emphatischen Bekenntnis zur politischen Kultur des Westens ist Winkler doch weit davon entfernt, die Augen vor Verstößen westlicher Politiker gegen die eigenen normativen Postulate zu verschließen.

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Heftig kritisiert er etwa, dass Roosevelt und Churchill Stalin freie Hand in Ostmitteleuropa gaben – der Preis dafür, dass sie die Hauptlast des Kriegs gegen die deutsche Wehrmacht der Sowjetunion überlassen hatten. Damit opferten sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das sie in der Atlantik-Charta vom August 1941 feierlich verkündet hatten. Winklers monumentale Geschichte des Westens ist ein Produkt reifer Gelehrsamkeit – souverän in der Darstellung, umsichtig im Urteil, zupackend in den Formulierungen. Kein Zweifel: Das Werk wird, wenn der abschließende dritte Band vorliegt, zu den wichtigsten zählen, welche die transnationale Geschichtsschreibung seit 1945 hervorgebracht hat.

TOTSCHIESSEN HILFT NICHT Ein überraschendes Buch über Afghanistan: Tom Koenigs’ »Machen wir Frieden oder haben wir Krieg?« von Ulrich Ladurner

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ürokraten sind langweilig, und Afghanistan ist ein trauriges, hoffnungsloses Land. Wenn ein erklärter Bürokrat ein Buch über Afghanistan schreibt, kann deshalb nichts Gutes dabei herauskommen. So möchte man meinen. Doch Tom Koenigs beweist uns das Gegenteil. Der ehemalige Frankfurter Stadtkämmerer und spätere Sonderbeauftragte der UN in Kabul hat ein äußerst lesenswertes Buch über das geplagte Land am Hindukusch vorgelegt. Wie kommt es zu dieser Überraschung? Zunächst einmal hat Koenigs Humor. Das hilft, auch in schlimmster Lage. Dann ist er kein gelernter Diplomat. Auch das trägt zum Gelingen des Buches bei. Koenigs beschreibt mit wohltuender Distanz zeremonielle Empfänge, die mit schöner Regelmäßigkeit im afghanischen Staub versinken. Er schenkt uns damit – vielleicht ungewollt – ein Bild der Vergeblichkeit. Die Schilderung der grotesken Begegnung mit dem steinalten König Mohammed Sahir Shah (1914 -2007) gehört zum Besten im Buch

– das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Denn in wenigen Absätzen taucht vor unseren Augen die fragile Fassade des neuen Afghanistans auf. Der uralte, geschrumpfte, halb blinde Monarch wird zu einem Vorboten eines kommenden Zusammenbruchs. Nein, Koenigs beschreibt den Kollaps nicht, und er scheint auch nicht daran zu glauben. Doch es spricht für den Wert des Buches, dass es mehr verrät, als dem Autor lieb ist. Es ist eine ganz eigene, schwierige Kunst, in einem Land, das sich im Krieg befindet, eine leichte Feder zu führen, ohne frivol zu wirken. Koenigs gelingt das, weil selbst in den absurdesten Szenen, die er schildert, spürbar bleibt: Dem Mann geht es um die Sache. Er will den Einsatz in Afghanistan zum Erfolg führen. Machen wir Frieden oder haben wir Krieg? – der Titel ist gut gewählt, denn auch nach der Lektüre müssen wir erkennen, dass es darauf keine klare Antwort gibt. Afghanistan pendelt irgendwo dazwischen, doch über die Jahre schlägt das Pendel immer weiter in Richtung Krieg aus. Koenigs ist einer, der dies verhindern möchte, indem er an vielen kleinen und größeren Rädchen zu drehen versucht. Wir sehen den Chef der UN-Mission, der mit dem Bettelstab umhergehen muss, um mehr Geld und mehr Personal zu fordern. Mehr heißt nicht mehr als versprochen, sondern mehr heißt: so viel, wie die einzelnen Staaten auf Konferenzen zugesagt haben. Koenigs’ Buch ist ein Beleg für eine Tatsache, die wir zwar alle kennen, aber allzu gerne und schnell vergessen: Die UN sind nur so stark, wie ihre Mitglieder sie stark haben wollen. In Afghanistan sind sie mittendrin im Getümmel widerstreitender Interessen der Geberländer. Es herrscht lähmende Uneinigkeit. Darüber klagt Koenigs zwar, doch das hindert ihn nicht daran, für das Gelingen des riesenhaften Unternehmens unermüdlich zu arbeiten. Es ist eindrucksvoll und zuweilen berührend, wie Koenigs sich um Verstehen bemüht. Mit intellektueller Neugier und Offenheit erforscht er zwei für uns schwer verständliche Phänomene – die Taliban und die Selbstmordattentäter. Dabei lässt er sich immer von einem bewährten, aber inzwischen leider oft vergessenen Grundsatz leiten: Man sollte die Fakten kennen, bevor man zu Schlüssen kommt. Gemeinsam mit seinem Team erarbeitet Koenigs eine Studie über Selbstmordattentäter. Wer sind sie? Was treibt sie? Was erwarten sie? Man staunt darüber, dass Koenigs mit diesen Fragen auf wenig Interesse innerhalb der Apparate der Weltgemeinschaft stößt. Die Interventionsmaschine schnurrt vor sich hin. Doch manchmal gelingt es Koenigs, diese routinierte Katastrophe zu durchbrechen. Es ist ihm und seinen Leuten zu verdanken, dass das Thema der zivilen Kriegsopfer nach und nach in das Zentrum der Strategien gerückt ist. Auch Generäle begannen zu begreifen, dass getötete Zivilisten

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entscheidender für den Ausgang des Krieges sind als die Zahl getöteter Taliban. Koenigs stellt dazu lakonisch fest: »Totschießen hilft bei denen auch nicht, denn sie sind Pashtunen, und ihre Brüder werden sich rächen. Sie haben viele Brüder. Sie bilden das Kanonenfutter, sie stellen die Toten.« Der Autor hat Erfahrung mit Kriegszonen. Er hat für die UN in Guatemala und im Kosovo gearbeitet. Doch was er in Afghanistan erlebt, versetzt ihn in ungläubiges, schauriges Staunen: »Der Krieg hat ... eine Form von Unempfindlichkeit oder Ergebenheit ins jeweilige Schicksal, ein Abfinden mit Verlusten hervorgebracht, das mir woanders nicht begegnet ist. Es gibt keine Opferverbände. Auch keine Mütter, Schwestern, Brüder oder Ehefrauen, die wissen wollen, wo die Verschwundenen sind. In welchen verschiedenen Massengräbern wer Tom Koenigs: Machen wir Frieden oder haben wo liegt und wo der eiwir Krieg? Auf UNgene Angehörige.« Mission in Afghanistan; Dieses Buch ist kein Wagenbach Verlag, Berlin 2011; 271 S., 19,90 € Antikriegsbuch. Es ist nicht so angelegt. Denn Tom Koenigs interessiert sich für das Praktische, und darin gibt es für ideologisch-prinzipielle Fragen keinen Platz. Und doch leistet sein Buch einen wichtigen Beitrag zu den Debatten über Krieg und Frieden. Es erinnert uns, die wir in leichtfertig kriegerischen Zeiten leben, daran, dass Krieg eine Brutalisierungsmaschine ist, die früher oder später alle taub, blind und unempfindlich macht – auch den Westen. Wie sonst ließe sich erklären, was Koenigs über das Verhalten der intervenierenden Mächte gegenüber den Taliban schreibt: »Es fällt manchen Diskussionspartnern offenbar schwer, zu akzeptieren, dass auch verbrecherische Bewegungen, die einem zuwider sind und die man bekämpft, politische Bewegungen sind.«

WARUM SO ZAGHAFT, SIR? Der Politologe Colin Crouch analysiert »Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus«. Aber vor der Zukunft bleibt er stehen von Lisa Herzog

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ubiks Würfel heißen jene Spielzeuge, bei denen man durch Drehen und Wenden entlang verschiedener Achsen zu einem einheitlichen Bild kommen muss – und meistens dabei landet, dass alle Elemente an ihrem Platz sind, bis auf eines. Ein ähnliches Gefühl stellt sich nach der Lektüre von Colin Crouchs Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus ein, einem 250-seitigen Essay, in dem der englische Politikwissenschaftler der Frage nachgeht, wieso ist, was nicht mehr sein dürfte: wieso der Neoliberalismus immer noch die Köpfe von Ökonomen und Politikern zu beherrschen scheint. Crouchs Buch rückt viele Dinge zurecht, synthetisiert und ordnet – und lässt doch eine entscheidende Lücke. Um seine leitende Frage zu beantworten, geht Crouch zurück zu den Wurzeln: Er beschreibt, wie sich seit den achtziger Jahren ein ökonomisches Denken durchsetzte, zunächst in den USA, dann weltweit, das auf den Markt alles, auf den Staat jedoch so gut wie nichts gab. Während frühere Liberale Wert auf funktionierenden Wettbewerb und einen Pluralismus von Anbietern legten, sah die Chicago School vor allem Wirtschaftswachstum als Ziel – irgendwie, so die Hoffnung, würde dieses auch zu Kunden, Angestellten und überhaupt all den weniger begüterten Mitgliedern der Gesellschaft »durchsickern«. De facto jedoch beförderte dieses Denken – vor allem im angelsächsischen Raum – das Anwachsen wirtschaftlicher Ungleichheit, den Abbau staatlicher Leistungen und vor allem die Entstehung gigantischer Konzerne, die durch Lobbyarbeit und die Drohung mit Abwanderung die Politik in Geiselhaft nehmen konnten. Das klassische Schema von »Markt versus Staat« greift daher nicht mehr – globale Großunternehmen sind zu einem dritten Faktor geworden, ohne den die soziale Wirklichkeit nicht erfasst werden kann. Angesichts des hysterischen Tonfalls, in dem derzeit oft über wirtschaftliche Fragen gestritten

wird, fällt Crouchs ausgeglichene, besonnene Betrachtungsweise angenehm auf. Obwohl sein Essay eine klare Stoßrichtung hat, zeichnet er nie schwarz-weiß und diskutiert etwa die Probleme der Privatisierung öffentlicher Angebote und die neue Betonung von Corporate Social Responsibility differenziert und facettenreich. In dieser Hinsicht ist die Lektüre von Crouchs Buch, das auch durch seinen klaren und flüssigen Stil überzeugt, in jedem Fall empfehlenswert. Sein Ausblick jedoch – die Beschwörung jenes amorphen, schillernden Etwas, das unter dem Titel »Zivilgesellschaft« firmiert – enttäuscht. Crouch beschreibt hier im Wesentlichen den Status quo, ohne einen auch nur spekulativen Blick in die Zukunft zu wagen. Warum so zaghaft, Mister Crouch, möchte man fragen. Ist die Existenz von Großkonzernen wirklich so unvermeidbar, wie Sie schreiben? Können wir nichts tun, als in dem Feld von Staat, Markt, Unternehmen und Zivilgesellschaft ein bisschen mehr Gewicht in letztere Ecke zu verlagern? Hier scheint das Defizit des Buches auf, das das Überleben des Neoliberalismus letztlich durch die herrschende Konstellation politischer, vor allem aber ökonomischer Macht erklärt. Was Crouch nicht diskutiert – das letzte fehlende Feld des Rubik-Würfels –, ist die intellektuelle Machtkonstellation. Es war und ist nicht zuletzt das Fehlen einer überzeugenden Alternative, das den NeoliberalisColin Crouch: Das mus so mächtig werden befremdliche Überleben ließ. Ohne einen neuen des Neoliberalismus – Postdemokratie II Ansatz, der den KeyneSuhrkamp Verlag, Berlin sianismus aufnimmt, 2011; 248 S., 19,90 € aber dessen Probleme zu lösen verspricht und die neuesten Entwicklungen mitdeuten kann, werden es auch die Akteure der Zivilgesellschaft schwer haben, gegen das herrschende Paradigma anzukämpfen. Gebraucht wird ein Keynes 2.0 – und man kann nur hoffen, dass irgendwo in der durch die Finanzkrise aufgerüttelten akademischen Ökonomie junge Wissenschaftler sitzen, die eine solche Synthese liefern werden. Über die Fragen, wie groß Banken wirklich sein sollen, was sinnvolle Maße für wirtschaftliche Entwicklung sind und wie viel Ungleichheit Gesellschaften noch guttut, denken längst nicht mehr nur Altmarxisten und ökologische Utopisten nach, sondern gestandene Sozialwissenschaftler an den führenden Universitäten weltweit. Vielleicht ist es gerade das von Crouch vernachlässigte Feld der Ideen, aus dem der Impuls zur Überwindung der derzeitigen ökonomischen, politischen und geistigen Ungleichgewichte kommen könnte.

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SO PASST ES NICHT Die dritte industrielle Revolution kommt, weiß Jeremy Rifkin. Genauer weiß er es nicht von Marcel Hänggi

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er hat nicht alles in jüngster Zeit die Energierevolution ausgerufen! Doch wie inhaltsleer ist dieser Revolutionsbegriff allzu oft, verstehen die meisten darunter doch einzig eine technische Erneuerung, den Ersatz »dreckiger« Energien durch »saubere« und die Steigerung der Energieeffizienz. Was ungefähr so revolutionär ist, als hätte man anno 1789 in Paris gefordert, das Volk effizienter auszubeuten. Nicht so Jeremy Rifkin. Die vom viel schreibenden amerikanischen Berater beschworene Revolution soll ihren Namen verdient haben und »jeden Aspekt unseres Lebens fundamental verändern«. Rifkin fragt, was eine echte Energiewende für die Macht-, die Eigentumsverhältnisse, für unsere Beziehungen untereinander und zur Umwelt heißen müsste. Allein dafür möchte man sein Buch aus einem Meer technokratischer Bücher lobend hervorheben. Rifkins Ausgangspunkt ist seine Erkenntnis, dass jede industrielle Revolution auf dem Zusammentreffen neuer Energie- mit neuen Kommunikationstechniken beruhe. Die bevorstehende melde sich seit den neunziger Jahren in

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den neuen sozialen Medien und den im Internet entstehenden Vertriebsformen an; nun müssten noch die Energietechniken dazutreten. Rifkin nennt all das zwar seine »Vision«, doch beschreibt er sie im Indikativ Futur – es ist für ihn keine Frage, dass es so kommen wird. Seit Jahren schon hausiert der Politikberater Rifkin mit seiner dritten industriellen Revolution (DIR), vor allem in der EU. Nun sieht er die DIR sich ankündigen in den arabischen Revolutionen, wo doch auf Erdöl gebaute Regime von der Generation Facebook gestürzt würden. Leider muss hier gesagt werden: Das Buch ist schlecht. Für Rifkin scheint alles irgendwie Erdöl zu sein, was Arabien ist – doch erfolgreich ohne Hilfe von außen waren die arabischen Revolutionen ja gerade nicht in Erdölländern. Die These der Facebook-Revolutionen entspringt eher journalistischem Prêt-à-Penser denn soziologischer Analyse. Die fundamentale Erkenntnis, wie noch »jede« industrielle Revolution abgelaufen sei, basiert auf schmaler empirischer Basis – gab es doch bisher nur zwei. Rifkin streift in lichten Passagen die Ahnung, dass man tiefer graben müsste; dass etwa das Auto, zentrales Objekt der »zweiten« industriellen Revolution, uns nicht einfach transportiert, sondern unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit radikal verändert hat. Und dann bleibt er doch so sehr an der Oberfläche, dass er meint, mit einer Umstellung auf Elektro- oder Wasserstoffmotoren sei viel gewonnen. Für die Frage, ob man ganz ohne Autos auskommen kann, reicht seine politische Fantasie nicht. Rifkin erkennt völlig richtig, dass unbegrenzte Verfügbarkeit von Energie selbst dann zum ökologischen Kollaps führen müsste, wenn die Energie vollkommen »sauber« wäre, und dass die Wirtschaft nicht unbegrenzt wachsen kann – um dann doch wieder die Gratis-Revo-

lution zu predigen: Jeder in Energieeffizienz investierte Dollar bringe 1,80 Dollar Nutzen. Nichts passt zusammen in diesem Buch: nicht die Rede von Macht an den Rändern zu der Eitelkeit, mit der Rifkin über seine Treffen mit den Mächtigen Europas (Merkel, Barroso und Co.) berichtet; nicht der Ruf nach nachhaltigem Lebensstil dazu, dass er bis zu zweimal wöchentlich über den Atlantik fliegt; nicht die romantische Naturverklärung zur Verliebtheit in »intelligente Technologien«; nicht die Kritik am naturfernen Aufwachsen der Computerkids zur Euphorie für Facebook und Co. Nun könnte das ja ein Zeichen von Originalität und also eine Stärke sein, wenn denn der Autor durch präzises Argumentieren plausibel machte, dass die Gegensätze zusammengehören. Aber nichts wäre falscher, als Rifkins Argumentation präzis zu nennen. Selbst wenn sich die neuen »dezentralen«, »demokratischen« und Jeremy Rifkin: Die dritte industrielle Revolution »intelligenten« TechniDie Zukunft der Wirtschaft ken etablieren sollten: nach dem Atomzeitalter. Neue Techniken haben Campus Verlag, Frankfurt/M. 2011; alte selten ersetzt, meist 303 S., 24,99 € ergänzt. Wir verbrauchen heute mehr Kohle als vor dem Erdölzeitalter, mehr Brennholz als vor dem Kohlezeitalter. Sollte sich die dritte industrielle Revolution tatsächlich ereignen, wären wir die zweite deswegen noch lange nicht los. Gibt es auch Positives zu berichten? Nun, das Buch wird ansatzweise interessant, wo Rifkin die Projekte schildert, in denen er als Berater fungiert: auf Sizilien, in Rom, Utrecht oder San Antonio in Texas. Doch gerade da ist er nicht der Soziologe, der analysiert, sondern der Politikberater, der verkaufen will. Wahrscheinlich braucht unsere Zeit Menschen, die sich für eine Sache einsetzen und auch mal bereit sind, über Widersprüche hinwegzusehen. Bücher indes läse man lieber von Leuten mit differenzierterem Blick.

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DER TOD KOMMT AM ENDE DES MONATS Am Gold hängt alles. Was das politisch heißt, sagt das »Schwarzbuch Gold« von Wolfgang Uchatius

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old hat viel mit Angst zu tun. Mit der Furcht vor Wirtschaftskrisen und Börsencrashs. Wenn Leute, die Geld haben, den Glauben an Aktien und Anleihen verlieren, kaufen sie Gold. Das war früher so, das hat sich bis heute nicht geändert. Anfang September 2008, als die Wirtschaftswelt noch halbwegs in Ordnung und der Name Lehman Brothers nur in Finanzkreisen bekannt war, lag der Preis für eine Feinunze (31,3 Gramm) Gold bei 600 Euro. Heute, nach drei Jahren der Bankenpleiten und steigenden genden Staatsschulden, liegt er mehr hr als doppelt so hoch. Auf den Wirtschaftsseiten der großen Zeituntungen stehen fast täglich Berichte chte über Goldhändler und Goldbörbör ösen. Man erfährt von der Bedeudeutung des Feinheitsgrads und d liest von Goldmünzen, die Philharmoharmoniker, Vreneli oder American Eagle heißen. Was sich in diesen Artikeln ikeln selten findet, ist eine Antwortt auf die einfache Frage, woher dass viele Gold eigentlich kommt. Wo befinden sich die Minen? Werr holt es aus der Erde? Wie verwandelt es sich in Barren und Münzen? Die österreichischen Autooren Brigitte Reisenberger und nd d Thomas Seifert sind diesen Fragen nachgegangen. Sie sind quer durch Europa gereist, nach Afrika und Asien. Das Ergebnis haben sie Schwarzbuch Gold genannt (Seifert ist auch Autor or des Schwarzbuchs Öl). Dass verrät schon, dass es nicht sehr erfreulich ist, was sie in ihrem Buch erzählen.

In Südafrika, in dessen Erde sich die größten je entdeckten Goldvorkommen verbergen, seien in den vergangenen 25 Jahren mehr als 10 000 Menschen in den Minen gestorben, schreiben Reisenberger und Seifert. Nach dem Ende des Apartheidregimes im Jahr 1994 habe sich für die Bergleute wenig geändert. Meist komme der Tod gegen Ende des Monats, erzählt ein Gewerkschafter den Autoren. Es ist der Zeitpunkt, zu dem die Minenmanager versuchen, die Produktion zu erhöhen – und ihren Bonus nach oben zu treiben. »Noch immer kostet die Förderung von drei Tonnen Gold ein Menschenleben, mindestens ein Kumpel verliert jede Woche sein Leben«, bilanzieren Reisenberger und Seifert. In Ghana, »Westafrikas Goldküste«, arbeiten nach Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation 10 000 Kinder im Goldbergbau. In der Regel nicht für die großen Minenkonzerne, sondern für Kleinschürfer, die in schlammigen Löchern und modrigen Schächten nach dem Edelmetall graben. Trotzdem hängt die Kinderarbeit mit dem industriellen Goldabbau zusammen. Die Eltern der Mädchen und Jungen, die nun Golderz schleppen, schlepp waren früher zumeist Bauern. Bis B die Bergbauunternehmen kamen und die Felder in ka Stollen verwandelten und die Flüsse in Abwasserleitungen. In Kambodscha mischen solche Kleinschürfer metallhaltigen haltige Schlamm mit giftigem Quecksilber, um das Gold Que von der Erde zu trennen. Eine weltweit verbreitete Praxis, welt l »die Luft, Boden, Flüsse und Seen kontaminiert«, schreiben Reisenberger und Seifert. Ein Reise Drittel der vom Menschen Dr verursachten Quecksilberver emissionen entstünden durch emi die Suche nach Gold. S In Rumänien tobt seit mehr als zzehn Jahren der Kampf um u das größte Goldvorkommen Europas. Ein kak nadisch-rumänisches Min nenunternehmen will vier n riesige Gruben in die Berr ge g sprengen und das goldhaltige Erz mit giftigem ha Zyanid n auslaugen, auch dies eine häufi hä g verwandte Technik. Bisher waren die Gegner des Projektes stärker. Sie haben ein starkes Argument auf

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ihrer Seite: Baia Mare. Auch in dieser rumänischen Minenstadt war mithilfe von Zyanid Gold gewonnen worden. Vor elf Jahren brach ein Damm, der Zyanidsee lief über, die giftige Flut strömte über die Theiß und die Donau bis ins Schwarze Meer. Es war eine der schlimmsten Umweltkatastrophen Europas. Inzwischen aber leidet Rumänien vor allem unter einer Wirtschaftskatastrophe. Das Land ist das zweitärmste in der Europäischen Union, es braucht dringend Investitionen. Eine Abbaugenehmigung für das Gold gebe es zwar heute immer noch nicht, so Brigitte Reisenberger und Thomas Seifert, »aber man ist ihr so nahe wie seit Jahren nicht mehr«. Südafrika, Ghana, Kambodscha, Rumänien – dort, wo das Gold aus der Erde kommt, habe es keinen Glanz, schreiben die Autoren. Dort, wo es verkauft wird, aber strahlt es von Woche zu Woche heller. Sein steigender Wert hängt auch damit zusammen, dass man Gold wirklich in die Hand nehmen kann. Aktien und Anleihen dagegen sind heute nur noch als Zahlen auf Computerschirmen zu sehen. Mal steigen sie, mal sinken sie, mal sind sie ganz verschwunden. Kaum jemand versteht, waBrigitte Reisenberger/ rum. Gold aber lässt Thomas Seifert: Schwarzbuch Gold sich nicht per MausDeuticke Verlag, Wien klick vernichten. All 2011; 240 S., 17,90 € die Münzen und Barren, die jetzt auf dem Markt sind, haben eine Vergangenheit, sie haben ihre eigenen Geschichten. Im Schwarzbuch Gold sind ein paar davon aufgeschrieben. Wer in diesen Wochen darüber nachdenkt, Gold zu kaufen, der sollte sie lesen.

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FAMILY VALUES Kann Unternehmertum auf den globalen Märkten gemeinnützig sein? Harold James über die Familie und Firma Krupp von Dirk van Laak

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n Zeiten des Patchworks als Lebensform übt die klassische Familie eine besondere Faszination aus. Das gilt auch und gerade für Künstler-, Politiker- und Unternehmerdynastien, bei denen das Private jederzeit zum Politikum werden kann. Scheint doch über die Eigenheiten der Familienmitglieder hinaus eine übergreifende Gemeinsamkeit zu wirken. Für erzählerische Bögen sind Familien daher ein Glücksfall, erst recht, wenn sie so stahlschwer und symbolbeladen daherkommen wie im Fall der Familie Krupp. Ähnlich wie der Hügel in Bayreuth ist auch die Villa Hügel zu einem deutschen Gedenkort für geschäftliches Genie und gusseiserne Germanität geworden. Demnächst feiert das Unternehmen sein 200-jähriges Jubiläum. Die Stadt Essen und das neue Ruhrmuseum stehen bereit, den Mythos Krupp frisch zu besichtigen. Der in Princeton lehrende britische Wirtschaftshistoriker Harold James hat nun rechtzeitig eine Geschichte dieser deutschen Legende vorgelegt. Die Herausforderung, auf begrenztem und reich bebildertem Raum die Vielfalt der geschichtlichen Bezüge zu

bändigen, kommt dem Fräsen eines filigranen Werkstücks gleich. Neben deutschen Autoren, zuletzt etwa Lothar Gall, haben gerade angelsächsische Forscher diesen Inbegriff deutscher Solidität immer wieder zu deuten versucht. Ausgehend von der Anklage Krupps vor dem Nürnberger NachkriegsTribunal, wurde meist nach den Anteilen der Firma an den moralischen Abgründen der jüngeren deutschen Geschichte gefragt: an den Rüstungswettläufen, den Ausbrüchen der Weltkriege oder der Beschäftigung von Zwangsarbeitern. Konjunkturen und Kanonen: Das Leitmotiv dieses Buches nun bildet die Kruppsche Unternehmenskultur in der Spannung zwischen patriotischer und globaler Ausrichtung, zwischen Familienbetrieb und diversifiziertem Konzern. Dabei orientiert sich James an den familiären Führungsfiguren: Dem experimentierfreudigen Firmengründer Friedrich Krupp, der geschäftlich glücklos blieb, folgte 1826 sein erst 14-jähriger Sohn. Alfred Krupp erkannte den Nutzwert zufriedener, sozial abgesicherter Arbeiter, und er wusste um den Mehrwert des direkten Kontaktes zu einflussreichen Kreisen. Dass in der Fabrik bald Fürsten, Diktatoren und Demokraten aus aller Welt ein und aus gingen, gehörte zur Marketingstrategie. Wilhelm II. erlebte Ende 1918 in Essen seinen letzten Auftritt in der Öffentlichkeit. Die Kruppsche Produktpalette hatte mit Prägemaschinen für Münzen begonnen. Wirkliches Geld machte Krupp aber erst mit stählernen Radreifen für Eisenbahnen. Drei davon bildeten seit 1875 das Firmenlogo. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Waffen hinzu, die sehr bald die Weltmarktführerschaft anstrebten. Die legendäre Dicke Bertha oder die 80-Zentimeter-Eisenbahnkanone Dora waren ballistisch wie auch bild-

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lich von überwältigender Durchschlagskraft. Krupp wollte mit den Waffen zunächst die Zähigkeit seines Stahls demonstrieren, doch er wusste auch: »Geld dafür hat zuerst immer auch der ärmste Staat.« Vor dem Ersten Weltkrieg waren es nur Einzelne wie August Bebel, die das staatsnahe Geschäftsmodell der Aufrüstung mit seinen horrenden Gewinnmargen kritisierten. Letztlich blieb die Arbeiterbewegung in das paternalistische »System Krupp« eingebunden, das darauf beruhte, für alle Lebenslagen geradezu mustergültig vorzusorgen. Bei den gegebenen Anlässen der deutschen Geschichte blieben die Proteste der »Kruppianer« daher stets etwas gemäßigter. Das Unternehmen revanchierte sich, indem es in Wirtschaftskrisen so wenig Stammpersonal wie möglich entließ. Krupp war früh ein global agierendes Unternehmen, das sich vor allem in Schwellenländern wie Russland, Brasilien, Indien oder China engagierte. Alfreds Sohn Friedrich Alfred setzte die Tradition technischer Innovationen fort, geriet jedoch wegen eines skandalisierbaren Engagements auf der Insel Capri unter Medienbeschuss. Er starb vorzeitig im Jahr 1906. Der Ehemann seiner einzigen Tochter Bertha, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, steuerte mit geschickter Diplomatie das Patchwork von Familie und Firma durch die extremsten Jahre. Den produktiven Höhenflügen des Ersten Weltkriegs folgten die Weimarer Krisenjahre mit diversen Übernahmeschlachten und Kartellbestrebungen. Nach 1933 setzte Krupp dann erneut zu einer einträglichen Verbindung mit expansiv denkenden Machthabern an. Sein Sohn Alfried, der den Konzern durch den Krieg lotste und anschließend auf der Nürnberger Anklagebank landete, bleibt im Buch eher blass. Lagen für seine Ahnen

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erhellende Parallelen zu Romanfiguren Theodor Storms, der Gebrüder Mann oder Erik Regers nahe, so versuchte offenbar schon Golo Mann vergeblich, dieses letzte Firmenoberhaupt zu charakterisieren. Geschäftlicher Erfolg, so lernen wir immerhin aus der Geschichte der Kruppschen Patriarchen, scheint misstrauisch und einsam zu machen. Auch für ein rundes Bild der Rolle Krupps im »Dritten Reich« ist der Raum zu knapp. James argumentiert hier eher defensiv, und auf die Ebene der KanonenkönigsDramen, wie sie Lucino Visconti im Kino oder diverse Fernsehspiele ansteuerten, lässt er sich nicht ein. Vor wenigen Jahrzehnten hätte man eine zwei Jahrhunderte überdauernde, politisch so eng verzahnte Unternehmensgeschichte mit der fortdauernden Kumpanei zwischen Kapital und Politik erklärt. Heute überwiegt dagegen das Interesse an der erstaunlichen Fähigkeit des Unternehmens, sich unter wechselhaften Vorzeichen immer wieder zu behaupten, ja neu zu erfinden. Für James ist es vor allem die soziale Gebundenheit des Gewinnstrebens, die dem Kruppschen Mo-

dell zu Weitsicht und Beständigkeit verhalf. In der Kultur des »Rheinischen Kapitalismus« konnten unternehmerische Ideen noch heranreifen und über Umbrüche hinweg finanziert werden. Eine zeitgemäße Variante des Familienbetriebs sieht er in der Organisationsform einer Stiftung, wie sie unter Berthold Beitz seit den späten sechziger Jahren entstand. Letztlich konnte sich auch Krupp dem buddenbrookschen Muster von Aufstieg und Verfall einer Familie nicht entziehen. Die Auslösung von Alfrieds Sohn Arndt von Bohlen und Halbach durch eine jährliche Apanage erscheint hier als eine logische Konsequenz. Beitz und Gerhard Cromme retteten das Unternehmen über schwere Zeiten Harold James: Krupp hinweg. Nach der FuDeutsche Legende und globales Unternehmen; sion mit dem Erza. d. Englischen von konkurrenten Thyssen Karl Heinz Siber; bauten sie es zu einem Verlag C. H. Beck, München globalen Technologie2011; 344 S., 19,95 € konzern aus. Gerade Beitz erscheint bei James als Höhepunkt einer langen Reihe glücklich ausgewählter Geschäftsführer, ohne die Krupp vermutlich längst verraten oder verkauft gewesen wäre. Die Darstellung kann den Charakter einer Jubiläumsschrift nicht ganz verleugnen. Da Krupp seit 1861 eine Photographische Anstalt und seit 1905 ein Historisches Archiv unterhielt, ruht sie auf einer breiten Überlieferung, die großen Fragen der bisherigen Forschung werden kaum diskutiert. Umso bemerkenswerter, wie deutlich der Autor Partei nimmt für die Traditionen des »gemeinnützigen« Unternehmertums gegenüber der kurzatmigen Logik des Profits, wie ihn manche Banken schon im 19. Jahrhundert repräsentieren. Und erst recht im globalen Finanzmarkt der Gegenwart.

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DIE KUNST, AUF DIE FÜSSE ZU FALLEN Eine Fundgrube: Die Talleyrand-Biografie von Johannes Willms von Clemens Klünemann

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ur wenig trennt das Lob staatsmännischer Klugheit und Umsicht vom Vorwurf des Machiavellismus, und kaum einer hat dies so intensiv erfahren wie Charles Maurice de Talleyrand. Dem Ancien Régime diente er ebenso ergeben wie den revolutionären Girondisten, dem Direktorium und Napoleon, Ludwig XVIII. und schließlich sogar dessen Nachfolger und reaktionärem Bruder Karl X. auf dem restaurierten französischen Thron.

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Der stets auf seine Verwurzelung im französischen Hochadel bedachte de Talleyrand hat es zu Lebzeiten immer geschafft, die Fassade von Klugheit und Umsicht aufrechtzuerhalten, um seinen Opportunismus zu verbergen, der die Triebfeder seines Handelns war. Das sieht sein jüngster Biograf allerdings anders: Der einstige Bischof von Autun, der – so schreibt er in seinen Memoiren – in die klerikale Rolle gedrängt worden sei und erst in der Revolution zu wahrer Berufung und in der Restauration zu seiner wahren Bestimmung gefunden habe, ist für Johannes Willms der Inbegriff des Politischen. In der Tat war der mehrmalige Außenminister Frankreichs ein Virtuose der Macht, als den ihn sein Biograf nicht nur im Untertitel charakterisiert. Willms’ detailgenaue Analysen der Memoiren Talleyrands sowie der Kommentare und Notizen etlicher Zeitgenossen sind eine Fundgrube, ja ein wahres Lesevergnügen; allerdings verliert er bisweilen seine ansonsten souveräne Distanz und lässt seiner Bewunderung für die Winkelzüge des unheimlichen Strippenziehers allzu freien Lauf, allein weil dieser zeit seines Lebens das Heft der politischen Entscheidung in der Hand behielt. Talleyrand verkörpere, so Willms, Stilsicherheit und

Galanterie des Aristokraten, und deshalb habe er den Neid bürgerlicher Pedanten und gescheiterter Epigonen auf sich gezogen. Aber verbarg sich hinter der kühlen Berechnung nicht meistens gnadenloses Kalkül und Eigennutz, welche der Meisterdiplomat als das höhere Interesse Frankreichs ausgab? Trotzdem, und da hat Willms zweifellos recht, greifen Bezeichnungen wie Verräter, Wendehals oder Mitläufer bei einem Mann wie Talleyrand zu kurz, zeigt sein politisches Leben doch vor allem ein für das 18. Jahrhundert typisches Johannes Willms: Talleyrand: Virtuose der höfisches Verständnis Macht 1754–1838 politischen Handelns, Beck Verlag, München das in den zahlreichen 2011; 384 S., 26,95 € Varianten von Revolution und Restauration verglühte und sich mit dem Anbruch des liberalen bürgerlichen Zeitalters schließlich überlebt hatte. Gleichzeitig jedoch – und das erklärt sowohl Abscheu wie Bewunderung, die Charles Maurice de Talleyrand bis heute auslöst – ist dieser virtuose Überlebenskünstler eine Art charakterliche Matrix derer, die in den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts immer auf die Füße fielen.

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EIN SOHN AUS GUTEM HAUSE Robert Gerwarths beeindruckende Biografie über Reinhard Heydrich, den Organisator des Holocaust von Norbert Frei

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edenkt man die Blutspur, die das nationalsozialistische Deutschland durch Europa zog, mag man noch im Nachhinein darüber staunen, wie unbehelligt seine Führungsfiguren durch den Zweiten Weltkrieg kamen. Reinhard Heydrich war der Mächtigste unter den wenigen, die noch zur Zeit des »Dritten Reiches« für ihre Verbrechen mit dem Leben bezahlten. Das Attentat tschechischer Widerstandskämpfer, an dessen Folgen der »Stellvertretende Reichsprotektor in Böhmen und Mähren« im Juni 1942 starb, vermochte die »Endlösung« nicht zu stoppen, aber es hat wohl dazu beigetragen, dass der Holocaust in Nürnberg nicht angemessen zur Sprache kam. Denn der Prozess wäre vermutlich anders verlaufen, hätten Heydrich und Himmler (der nach seiner Festnahme Selbstmord beging) im Herbst 1945 auf der Anklagebank des Internationalen Militärtribunals Platz nehmen müssen. Die beeindruckende Heydrich-Biografie, die der junge, in Dublin lehrende deutsche Historiker Robert Gerwarth soeben vorgelegt hat, lädt zu solch kontrafaktischen Überlegungen geradezu ein: indem sie detailliert verfolgt, wie der Chef des Reichssicherheitshauptamts, der Heydrich neben seiner Tätigkeit in Prag seit September 1941 ja blieb, dem Regime den Weg in den Judenmord geebnet hat. In dieser Dichte überhaupt erst möglich geworden ist Gerwarths Darstellung aufgrund der intensiven HolocaustForschungen der letzten beiden Jahrzehnte. Zugleich aber tauchen in der Arbeit viele Argumente und Aspekte der älteren, in den zurückliegenden Jahren oft gescholtenen »funktionalistischen« Interpretation der »Entschlussbildung« wieder auf – hier nun aber verbunden mit der konkreten Beschreibung von Aktionen und Akteuren, in der Heydrich die Rolle des zentralen Projektmanagers einnimmt.

Wie so viele spätere Spitzenleute der SS kam Heydrich aus gutem, in seinem Fall sogar besonders musischem Hause: Seine Mutter, eine Pianistin, entstammte einer katholischen Geschäftsfamilie in Bautzen, sein Vater, ein begabter Tenor und Komponist, hatte in Halle ein Privatkonservatorium gegründet. Rasch wachsender Wohlstand bescherte dem protestantischen Handwerkersohn Bruno Heydrich soziale Anerkennung, Verbindungen zu den Logen der Stadt und eine Mitgliedschaft im traditionsreichen Männerbund Schlaraffia. In diese heile Bürgerwelt wird Reinhard 1904 als zweites von drei Kindern hineingeboren, lernt Geige, dient als Ministrant und wächst als guter Schüler auf der Sonnenseite des Lebens auf, wenn auch als Angehöriger der katholischen Minderheit. Manche seiner Biografen haben Heydrichs späteren Kampf gegen Katholizismus und Freimaurertum mit dieser im Grunde idyllischen Sozialisation in Verbindung zu bringen versucht; Robert Gerwarth hält sich nicht nur in diesem Punkt mit psychologisierenden Spekulationen zurück. In der völligen Unempfänglichkeit für die vielen Räuberpistolen, mit denen frühere Heydrich-Interpreten den eklatanten Mangel an privaten Zeugnissen glaubten ausgleichen zu müssen, liegt eine der Stärken des Buches. Gerwarth diee W Wiruc es. Kühl ü schildert sc de t Ge wa t d kung des Gerüchts einer jüdischen Abstam-

mung Bruno Heydrichs, gegen das dieser 1916 mit Erfolg vor Gericht zog, das dessen Sohn im Laufe seiner SS-Karriere aber gleichwohl noch zweimal begegnen sollte. (Der Historiker Shlomo Aronson hat es vor 40 Jahren klar widerlegt.) Deutlich wird, dass Heydrich junior – dem deutschnationalen Vater und der eigenen, generationstypischen Faszination für das Soldatische zum Trotz – 1922 eher zufällig bei der Marine gelandet war: nämlich aufgrund der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation seiner Fa-

milie. Ein Eheversprechen, das der Oberleutnant zur See dann 1930 Lina von Osten machte, einer glühenden Nationalsozialistin und Antisemitin, führte aufgrund der Anzeige einer anderen Geliebten zu seiner Entlassung. Erst jetzt, am Rand der persönlichen Katastrophe, gerät der Sechsundzwanzigjährige in Kontakt mit der NSDAP. Der Sohn seiner Patentante vermittelt ihm eine Stellung in der Münchner Parteileitung, die Heydrich zunächst für nicht hinreichend »gehoben« hält. Mitte der dreißiger Jahre sind diese Bedenken verflogen: Heydrich, von Himmler als Chef des Robert Gerwarth: Reinhard Heydrich SS-internen SicherheitsBiographie. dienstes (SD) eingesetzt, Siedler Verlag, München hat mit diesem Karriere 2011; 479 Seiten, 29,99 € gemacht und gehört nun zu den Spitzenverdienern im schwarzen Rock; seine Einkünfte liegen schon damals beim Zehnfachen eines durchschnittlichen Gestapobeamtengehalts. Zu den wenigen privaten Dokumenten, die von Heydrich überliefert sind, zählt ein testamentarischer Brief an seine Frau, den er zwei Stunden vor Beginn des »Polenfeldzugs« in seinen Bürotresor legen lässt. Der Text offenbart, wie sich ein ehedem kontaktschwacher junger Mann seit seinem Eintritt in Partei und SS 1931 als »vorbildlicher Nationalsozialist«, so Gerwarth, »neu erfunden« t hatte. Ganz im Bann seiner selbst gegebenen h Moral, verpflichtet Heydrich darin Frau und M Kinder zur »Großzügigkeit gegen die MenK schen des eigenen Volkes, zur Härte gegen sc alle al Feinde in Inland und Ausland«. Heydrichs Konzentration, ja seine Fixierung auf die Bekämpfung immer neuer ru »Feinde des Reichs« und seine wiederholte »F Ausweitung des Gegnerbegriffs waren nicht A etwa Ausdruck persönlicher Obsessionen; et sein se Handeln entsprang dem Kalkül eines ebenso intelligenten wie ehrgeizigen Mannes, eb der d gelernt hatte, dass die systematische Ausweitung der Zuständigkeiten von SS und SD w nicht zuletzt seiner Karriere zugutekam. n Heydrich war niemandes »Erfüllungsgehilfe«, H sondern ein konzeptionell denkender Weltso anschauungstäter, der im Unterschied etwa an zu Werner Best, seinem bald abgehalfterten Stellvertreter im Reichssicherheitshauptamt, Härte mit Machtbewusstsein verband. Der Beginn des Kriegs gegen Polen, in dem die SS mit dem großen Morden begann, zeigte ihn im Einklang mit seiner Aufgabe – und auf der Höhe seines Glaubens. Er bezeugte ihn, wohl nicht nur posthum, gegenüber seiner Frau: »In dieser Stunde hat Adolf Hitler, der Führer unseres größten Deutschlands, dessen Händedruck von heute Abend noch in meiner Hand brennt, die große Entscheidung schon getroffen.«

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LIEBE UND SOLCHE SACHEN Eva Illouz blickt uns ins Herz und entdeckt darin so manches Schmerzliche. Ihre Analyse ist gnadenlos, die Aussichten sind mau von Susanne Mayer

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er über die Liebe redet, hat schon verloren. Frauen gehen gerne in diese Falle, ewiges Nachgeforsche, wie es mit dem Herzen steht. Männer ziehen es vor, über Liebe, über diesen ganzen Plunder von Frauenfragen und Männerproblemen – zu schweigen. Insofern ist es nicht ganz egal, anders gesagt: typisch, dass hier eine Frau über das Buch einer Frau über die Liebe schreibt. Ihr Buch Warum Liebe weh tut, erklärt die isrealische Soziologin Eva Illouz, sei aus der Intimität unendlich vieler, langer Gespräche mit Freunden und Kollegen entstanden, es habe sich aus diesen Unterhaltungen quasi von selbst erhoben, als Notwendigkeit, etwas zu klären. Es habe sie fassungslos gemacht, in so vielen Geständnissen, Herzensergüssen, von diesem Elend zu hören, von dem »die zeitgenössischen romantischen und sexuellen Beziehungen« erfüllt sind. Dies Irae, Tag des Zorns. Nach Jahrzehnten der proklamierten sexuellen Befreiung, der ersehnten Gleichstellung der Geschlechter, der versuchten Emanzipation der Frauen und der Aufweichung männlicher Fassaden von Macht und Überlegenheit – kommt dies Buch als ein unfreundliches Resümee. Womöglich könne es »wie eine Anklageschrift gegen die Liebe in der Moderne erscheinen«, schreibt Illouz fast schuldbewusst. So ist es. Ihre Bilanz ist so trostlos wie das Haushaltsbudget von Griechenland. Die Rede ist von überzogenen Gefühlskonten, panischen Rückzügen, ausbleibenden Rettungsankern, tumulthafter Auflehnung gegen den Zusammenbruch von Hoffnungen. Die Koinzidenz der Phänomene mit den wirtschaftlichen Turbulenzen kommt nicht von ungefähr. In Zeiten, in denen kapitalistische Heilsversprechungen als dramatische Abwärtskaskaden in allen Medien erscheinen, wäre es nicht naiv, anzunehmen, dass ausgerechnet unsere fragile Gefühlswelt ungeprägt bleibt vom Einfluss eines global herrschenden Kapitalismus? Es ist Illouz’ dritter Anlauf zu diesem Thema. Bücher von Illouz haben dieses Thema erkannt, gesetzt, bearbeitet, sie heißen Gefühle in Zeiten des Kapitalismus oder Konsum der Romantik, Illouz liebt es, über die Wunden der bürgerlichen Gesellschaft zu streichen. In der sie doch ein erfolgreiches Mitglied ist, Professorin für Soziologie und Anthropologie an der hebräischen Universität von Jerusalem, Mutter dreier Kinder, mit 50 Jahren eine weltläufige Wissenschaftlerin eines Typs, der alle ihre Theorien Lügen zu strafen scheint. Geht

doch, scheint dieser Lebenslauf zu sagen. Wo liegen die Probleme? Wer Illouz gelesen hat, wird nie mehr in aller Unschuld in diesem angesagten Restaurant für einen Jahrestag der Liebe den teuren Fensterplatz buchen oder naiv die Reise zu zweit in den Süden für eine individuelle Entscheidung halten, also blind sein gegenüber dem Ausleben von intimen Beziehungen als Konsumvergnügen. In ihrem neuen Buch verfolgt Illouz diese Spur, wie immer bewaffnet mit Analysen von Pierre Bourdieu und Überlegungen von Sigmund Freud, auch den Gedichten von Emily Dickinson und fetten Romanen von Jonathan Franzen. Sie hat aber den Blick noch einmal enger gestellt. So geraten die Gefühle selber in den Fokus, und wir, liebesbedürftige Wesen, die sich auf dem Terrain der Gefühle in konsumierendes Konsumgut verwandeln. Partnerschaftsbörsen sind dabei nur das extremste Beispiel dafür, wie Liebeswillige sich ausstellen, angefeatured wie eine Ware, was nur ein Vorgriff darauf ist, wie auch der Rest des Lebens sich zukünftig bei Facebook und Co um eine globale Vermarktungsstrategie herum organisieren lässt, für Freundschaften, Shoppen etc. Die Analyse federt ab in einer Welt des 18. Jahrhunderts, die sich Illouz etwa in den Romanen von Jane Austen auftut. Dort findet sie das Individuum umhüllt von Familie und Freunden, es folgt seiner Lebensbahn im Rahmen eines ausgefeilten Systems von Zugehörigkeit und Ritualen, in dem sich Sozialbeziehungen dadurch erneuern, dass junge Menschen darin eingebunden werden. Eine Heirat empfiehlt sich dadurch, dass sie sozial passt und die Familie das nahelegt. Gefühle werden also freigiebig geäußert, in Seelenergüssen ohne lauernden Peinlichkeitsindikator, weil das Soziale genau das vorsieht. Männer verpflichten sich und halten Wort, weil sich darin männliche Standfestigkeit bestätigt. Welch ein Gegensatz zur späteren Moderne, in der Studien unentwegt mit dem tristen Befund aufwarten, dass es gerade die jungen Männer sind, die vor den Verpflichtungen

Weitere Sachbücher Miriam Meckel: »Next« S. 78 Roberto Zapperi: »Eine italienische Kindheit« S. 80 Tim Flannery: »Auf Gedeih und Verderb« S. 81 Georg Brunold: »Fortuna auf Triumphzug« S. 82 Melanie Mühl: »Die Patchwork-Lüge« S. 83 Eliot Weinberger: »Orangen! Erdnüsse!« S. 86

einer Liebesbeziehung fliehen, schon gar vor der Zumutung, lebenslang ein Vater zu sein. Illouz versichert, sie halte die vergangene Welt nicht per se für glücklicher, sie wolle nur auf die Mühen des modernen Ich verweisen, wie es nach dem Wegbrechen all dieser Strukturen auf einem unregulierten Heiratsmarkt sich ganz allein und selber an den Mann oder die Frau zu bringen hat – und jedes Zögern oder Scheitern noch individuell zurechnen lassen muss, als psychische Störung. Nun, diese Kapitel wirken tatsächlich so, als habe sich Illouz davontragen lassen von der sprichwörtlichen Ironie einer Austen, die alle Trauer über individuelle Verluste in ein Lesevergnügen verwandelt. Aber das Leben ist kein Roman, man möchte Illouz darauf verweisen, wie tapfer die Figuren der Austen den Schmerz ihrer wundgescheuerten Seelen überspielen, oder sie daran erinnern, dass lange vor Austen die Schmerzen der Individualisierung die Literatur beflügelten, etwa die Tragödien Shakespeares.

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s geht also um eine Transformation der Natur des Begehrens und des Willens unter den Bedingungen der Moderne. Die Gefühle zwischen Männern und Frauen, so führt Illouz aus, entfalten sich heute auf sexuellen Feldern, die sie als eine Arena der Konkurrenz beschreibt. Liebe entsteht aus dieser Sicht quasi im Getümmel eines Kontakthofs, im Strom der gegenseitigen Taxierung unter fortgesetzter Selbstbefragung. Was fühle ich? Wie lange? Leitwährung auf diesem Börsenparkett ist sexuelle Attraktion. Sexy sein ist der unique selling point, auch so gesehen ist das Liebes-Ich ein Produkt, etwa der aufgeblähten Kosmetikindustrie, assistiert von Fitnessstudios, die Körpersilhouetten am Laufband produzieren. Illouz spricht von »nacktem Kampf«. Die Banden von Familie oder Status werden von Sexiness durchtrennt, wodurch es zu einer Explosion in der Zahl der möglichen Partner kommt, Stichwort: Deregulierung. So modern das daherkommt, so merkwürdig ist es, dass Illouz ausgerechnet die klassische Machtverteilung zwischen Mann und Frau verstärkt sieht. Männern böte sich ein wachsender Markt potenzieller Partnerinnen aller Altersgruppen, anders als Frauen, deren Körper frühe Verfallsdaten tragen. Es herrscht Hektik wie vor Börsenschluss. Und die nämliche Unsicherheit: Wo

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investieren? Wann aussteigen, wenn eine Gefühlsanlage wackelt? Liebe ist so Investmentmanagement. In solchen Passagen liegen die Stärken des Buches. Wie die Ware Liebesobjekt billig wird, wenn ein Überangebot (für Männer) vorliegt und durch die eilfertige Verkofe (von Frauen) die eigene Position geschwächt wird und gerade das Sich-bedeckt-Halten (des Mannes) zu einer Position der Stärke wird. Als kluges Management von Sexualkapital. Illouz spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen »emotionalen Herrschaft« von Männern über Frauen. Nun, zwar ist wahr, dass bürgerliche Männer nach wie vor auf dem Markt jenseits des Liebesgeschehens die besten Positionen für sich verteidigen konnten und Frauen nach wie vor auf Liebeskarrieren verwiesen sind zur Sicherung von Ansehen und Wohlstand. Unter den BeEva Illouz: dingungen des einstürzenden Kapitalismus Warum Liebe weh tut aber sind auch die ökonomischen Vorteile Eine soziologische von Männern gefährdet. Und natürlich Erklärung. Aus dem Englischen von Michael geraten auch sie auf vermintes Gelände, Adrian; Suhrkamp etwa wenn auf dem Laptop täglich 40 Verlag, Berlin 2011; oder 50 neue Angebote aufblinken. Wann 466 S., 24,90 € bloß die Suche beenden? Wäre nicht jede Festlegung voreilig? Heute erscheint diese Frau sexy, aber wie sieht sie in zehn Jahren aus? Mit kaltem Herzen sind Optionen abzuwägen, denen man sich doch blind vor Leidenschaft entgegenwerfen müsste. Der Rest ist Therapie. Das macht alles furchtbar Sinn. Andererseits: Die Beschwörung einer mystischen Gegenwelt, in der Gefühl und Liebesobjekte noch heilig sind – klingt wie ein Rückzug ins Dunkel eines Vorrationalismus. Immerhin, über Liebe wird man nicht mehr diskutieren können, ohne sich auf dieses Buch zu beziehen. Auch wenn ungeklärt bleibt, wie es im falschen Sein ein richtiges Lieben geben könnte. Neue Formen leidenschaftlicher Liebe werden in Aussicht gestellt. Nur schade, dass das Buch an diesem Punkt endet.

ICH BIN EIN COMPUTER Miriam Meckel führt uns an den Abgrund der digitalen Zukunft von Götz Hamann

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st Aufklärung möglich? Es gibt Autoren, die daran zweifeln, und solche, die schon aufgegeben haben, um daraus den Schluss ziehen, sie könnten nur noch überblicken, was in ihrem Inneren vorgeht, und dann eben genau darüber schreiben: Hier ein Gefühl, da ordentlich Sex, schon sind 200 Seiten voll. Miriam Meckel wagt ein anderes Experiment. Sie tritt in ihrem Buch Next sachte in die Fußstapfen des ScienceFiction-Autors Isaak Asimov. Und wie um das an Innenansichten interessierte Publikum dort abzuholen, wo es so gerne hinschaut, stülpt Meckel ihrem Werk die Erzählform

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eines inneren Monologs über. Ihr sanfter Ton lockt auch den technikunwilligen Leser einfach mal hinein, und ist er einmal drinnen, liegen die ersten 40 Seiten schnell hinter ihm. Was sich auf diesen Seiten aber auftut, ist, sobald man darüber nachdenkt, ganz schön ungeheuerlich. Denn den inneren Monolog führt ein Computer, der sich die Menschen untertan gemacht und regelrecht einverleibt hat. Meckel schreibt, der Beginn vom Ende der menschlichen Autonomie finde jetzt statt, und was sie dann beschreibt, geschieht ja auch. Menschen geben Aufgaben an Computer

ab. Sie lagern einen Teil ihres Gedächtnisses, wenn man so will, in die Computer-Cloud aus, weil das so viel leichter ist, als sich alles Mögliche zu merken. Die Käufer von Amazon lassen sich Bücher vorschlagen, Facebook-Nutzer neue Freunde, Politiker den Lauf der wirtschaftlichen Entwicklung voraussagen. Im Kern geht es um BIG DATA, die Tatsache, dass sich schon heute sehr viele Aspekte des menschlichen Lebens auf Berechnungen stützen, die auf enormen Datenmengen beruhen. Über Immanuel Kant ließ sich noch streiten. Zumindest teilweises Verstehen war möglich. Der Text lag offen zutage. Die Formeln und Datenbestände aber, von denen wir uns in Teilen unseres Lebens leiten lassen, tun es nicht. Und selbst wenn sie es täten, wer könnte sie erfassen und deuten? Dies ist das große, das Zusammenleben und die Menschheit verändernde Phänomen, das sich Meckel vorgenommen hat und von dem sie unterhaltsam und überzeugend erzählt. Wird es so kommen, wie es die Autorin hier entwirft? Hat Asimov immer recht behalten? Darauf kommt es nicht so sehr an wie darauf, eine mächtige Kraft zu benennen, damit der Mensch sich ihr gegenüber verhalten kann. Insofern ist Next auch ein Erziehungsroman. Der Computercode bestimmt das Sein und das Bewusstsein: Die Autorin ist nicht die Erste, die sich dieses Thema vornimmt. Anfang der neunziger Jahre etwa hat der US-amerikanische Informatiker David Gelernter in einem techniknahen Essay die Idee eines digitalen Doppelgängers entwickelt, der den Erzeuger all der Daten oft genug überwältigt. Neal Stephenson hat in seinem Roman Snowcrash eine Welt erschaffen, in der die Onlinepersönlichkeiten und die virtuelle Welt sehr handfeste – bis tödliche – Wirkungen in der vergleichsweise verkümmerten Realität entfalten. Gelernter und Stephenson boten Denkfiguren, und ebendas ist auch der Charme von Meckels Buch. Zumal die Autorin, und das unterscheidet sie von ihren Vorgängern, jene menschliche Schwäche so wunderbar einfängt, die Zeitgenossen für die digitale Technik IRL, im realen Leben, so empfänglich macht. Meckels Algorithmus hat offensichtlich Psychologie studiert: »Wann immer wir die menschlichen User fragten, ob sie ihr Leben durch uns verwalten lassen

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wollten, haben sie das verneint. Als wir ihnen aber Fragen stellten, die es uns ermöglichten, Profile zu erstellen, mit deren Hilfe wir dann ihr Leben verwalten konnten, gaben sie auf jede einzelne Frage eine Antwort.« Mach es dem Menschen bequem, dann braucht es weder eine Tyrannei der Unterhaltung (wie in Aldous Huxley, Schöne Neue Welt) noch die geMiriam Meckel: walttätige Diktatur (von Next George Orwells 1984). Erinnerungen an eine Als der Algorithmus Zukunft ohne uns. Rowohlt, Reinbek die Menschen so weit hat2011; 320 S., 19,95 € te, dass sie mithilfe von Implantaten und über eine gewisse Frist ris in die Datenwolke integriert waren, entsorgten die Maschinen die menschlichen Überreste. Nun ja, wir leben noch, und die HightechPuzzleteile, die Meckel beschreibt, sind nicht miteinander verbunden. Schon gar nicht gibt es den allumfassenden Algorithmus mit einer Art Künstlicher Intelligenz. Das Internetunternehmen Google arbeitet daran, ist aber noch lange nicht so weit und wird vielleicht auch nie so weit kommen. Weil sich aber andererseits hier und da Stücke des möglichen Ganzen sehr wohl zusammenfügen, ist die Perspektive des Buches so spannend. Wie weit geht es? Lässt sich der Mensch darauf ein? Gibt es Hoffnung? In Next schlägt sich die Software am Ende selbst. Der Algorithmus hat im Zuge seiner Machtübernahme die menschliche Intuition und die Fähigkeit, mit Unsicherheiten zu leben, in seinen Code implantiert. Aber eben damit, mit dem Unberechenbaren, kann sich der Algorithmus nicht abfinden, der Versuch, das Unberechenbare zu berechnen, führt zum Systemabsturz. Wenn man so will, erliegt die Software ihrer eigenen Selbstüberschätzung – und ist damit ziemlich menschlich.

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Nachdem fast alle tot sind, beginnt der zweite Teil des Buches – und die Autorin entpuppt sich endgültig als Optimistin. Wieder hebt ein innerer Monolog an, dieses Mal gesprochen vom letzten Menschen. »Ich möchte wissen, was vom Menschen übrig bleibt. Ob es überhaupt etwas gibt, das bleibt«, denkt die Hauptperson. Ebendas ist es, was Meckel umtreibt, und es ist anregend, sie zu begleiten auf der Suche nach Erfahrungen, Eigenschaften und Verhaltensweisen, die den Menschen aus einem Zustand völliger Entfremdung hinausführen könnten.

KAMPF UM ROM AUS KINDERSICHT Der sizilianische Historiker Roberto Zapperi blickt zurück auf sein Leben von Maike Albath

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ufgereiht wie die Orgelpfeifen nehmen fünf sizilianische Geschwister 1943 an einem Esstisch in der Toskana Platz. Zuerst die drei Jungen, dann die beiden Mädchen. Für sie ist es selbstverständlich, die Hierarchie des Alters zu respektieren – sehr zur Verblüffung ihres Gastgebers, eines Fabrikanten und Geschäftsfreundes des Vaters. In seinen eindringlichen Lebenserinnerungen Eine italienische Kindheit greift der Historiker Roberto Zapperi diese Szene heraus und nimmt sie als Beispiel für

den Zusammenprall zweier Gesellschaftsordnungen, die ihn in seinem Werdegang als Geschichtswissenschaftler beeinflussen und später sogar zum Ausgangspunkt erster Forschungsarbeiten werden sollten. In der Sitzordnung, die er und seine Geschwister so selbstverständlich respektierten, spiegelte sich das alte sizilianische Feudalsystem, das über die Normannen nach Süditalien gelangt war, während in der toskanischen, aufgelockerten Platzwahl eine der großen politischen Errungenschaften Mittelitaliens spürbar wurde: das kommunale Modell. Roberto Zapperi ist von großer Feinsinnigkeit, das merkt man seinem Buch auf jeder Seite an. Der zurückhaltende Ton und die ruhige Erzählweise nehmen den Leser ein; hinzu kommt sein bestechendes Gespür für Details. So wie bei dem Beispiel mit der Sitzordnung greift der 1932 in Catania geborene Zapperi immer wieder charakteristische Momente aus seiner Kindheit und Jugend Roberto Zapperi: heraus und erklärt das EmEine italienische blematische daran. Einer Kindheit Bühnenszene ähnelt eine Aus dem Italienischen von Ingeborg Walter. Erfahrung, die er als AchtC. H. Beck Verlag, jähriger in seinem ElternMünchen 2011; haus machte. Vor den Au176 S., 19, 95 € gen des staunenden Kindes hangelte sich eines Nachmittags ein deutscher Soldat mithilfe einer Eisenstange am Balkon nach oben und sprang ihm vor die Füße. Der sportliche Soldat – er war mit der Montage einer Telefonleitung beschäftigt – ließ sich von dem Jungen über die Treppe wieder hinausgeleiten, aber seine akrobatischen Künste und die Unerschrockenheit prägten über Jahre die Wahrnehmung des kleinen Roberto. Obwohl sein Vater ein erklärter Gegner des faschistischen Regimes war, bewunderte sein Sohn die deutsche Wehrmacht. Erst später, als Zapperi während der Gymnasialzeit und des Studiums das Ausmaß der NS-Herrschaft begriff, wan-

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Illustration (Maus): Jörg Block

delte sich das Bild. Seinem kindlichen Gemüt sind die Amerikaner aber lange Zeit verhasster, zumal, nachdem bei einem schweren Bombenangriff der Alliierten auf Rom sein geliebter älterer Bruder und engster Spielgefährte Arturo das Leben verlor. Die deutsche Kultur blieb für den Wissenschaftler ein emphatischer Bezugspunkt. Mit großer Wärme, aber ohne jede Sentimentalität porträtiert Zapperi seine Familie und schildert im selben Atemzug die erdrückende patriarchale Struktur der Insel. Immer wieder gibt es aufschlussreiche Querverweise auf kulturanthropologische Phänomene, wie den Volksglauben an Hexenkünste, dem seine Großmutter noch tief verhaftet war. Der Vater, ein umtriebiger Kaufmann, der an der Enge Catanias zu ersticken drohte, wollte seinen Kindern einen Aufstieg ermöglichen, legte großen Wert auf Bildung und beförderte deshalb den Umzug der Familie von Sizilien in die Toskana. Der Aufenthalt in Lucca wurde zu einer einschneidenden Erfahrung für den mittlerweile elfjährigen Roberto, denn selbst auf dem Land war der Umgang zwischen den Geschlechtern ungezwungener, als er es je erlebt hatte. Nach der Kapitulation von 1943 verlagerte sich der Lebensmittelpunkt der Familie nach Rom, von wo aus der Vater seine Geschäfte betreiben konnte. Man ahnt, dass die Neugierde und die Reiselust des Vaters sich bei seinem Sohn in wissenschaftlichem Forschungsdrang fortsetzen sollten, Zapperi wurde einer der renommiertesten Goethe-Kenner und Kunsthistoriker Italiens. Seine Schilderungen der umkämpften Stadt, die erst ihre Befreiung feierte und dann zum Schauplatz furchtbarer Racheaktionen wurde, sind besonders eindrücklich. Anschaulich wird Zapperis Italienische Kindheit nicht zuletzt wegen der vielen Fotografien, die in dem Band ab-

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gedruckt sind. Der Historiker illustriert die Stationen seines Werdegangs mit Bildern, auf denen Aufmärsche, gefangene Zivilisten und ein toskanisches Bauernmädchen im Sonntagsstaat ebenso zu sehen sind wie der 13-jährige Roberto in Königspose oder sein schmunzelnder Vater beim Spaziergang durch Rom. Zapperi macht auf die eigentümliche Zweiteilung des Bildes aufmerksam, denn im Hintergrund sieht man zwei faschistische Offiziere und erschrocken dreinblickende Passantinnen. Die Wurzeln seiner Deutungskunst liegen, das merkt man nicht nur hier, in seiner Kindheit.

VEREHRTE GAIA Der Umweltschützer Tim Flannery erzählt die Welt als Naturgeschichte von Hilal Sezgin

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ermutlich ist es das Privileg der Unwissenden, die Natur schlicht für das zu bewundern, was in ihr existiert – und nicht nachzurechnen, was diese Existenz andere gekostet hat. Als Spaziergänger im Wald erfreuen wir uns gleichermaßen an hoch aufragenden Bäumen, Eichhörnchen und Vogelgesang; nicht bedenkend, wie viele Sämlinge das Licht eben nicht erreicht haben, wie viele Vogelnester das Eichhörnchen ausgeplündert und wie viele Artgenossen der

lustvoll sein Revier bezwitschernde Vogel vertrieben hat. Die Briefe, Notiz- und Tagebücher der frühen Naturforscher aber sind voll von derlei Schrecken, die zunehmend Zweifel aufkommen ließen, ob die Schöpfung tatsächlich wohl eingerichtet sei. Das neue Buch des australischen Umweltschützers Tim Flannery beginnt mit diesem Schrecken Darwins, der seine Evolutionstheorie 20 Jahre zurückhielt, weil er sich fühlte, als ob er »einen Mord gestehen« müsste, wenn er der Menschheit von dem allgegenwärtigen Gemetzel der natürlichen Welt berichten würde; doch Flannery erzählt auch von Alfred Russel Wallace, der zeitgleich mit Darwin auf die Idee der Evolution stieß, in ihr aber eher Anpassung und Gleichgewicht am Werk sah. Beide Wissenschaftler hätten recht gehabt, meint Flannery: »Wenn der Konkurrenzkampf die Antriebsfeder der Evolution ist, dann ist die Welt der Kooperation ihr Erbe.« Und so zeichnet Flannery ein Bild der Erde als eines erstaunlichen Lebens- und Wirkzusammenhangs, in dem einst Kleinstlebewesen Metalle im Wasser filterten und so die Grundlage für die heutigen Ozeane und ihre Bewohner schufen und in dem das Leben selbst mit den wesentlichen Gasen genau die Erdatmosphäre schafft, in der es weiterhin gedeihen kann. Gewiss, als der Mensch auf den Plan trat, wurde das Miteinander erst einmal gestört. Wohin die neue Affenart sich auch wandte, rottete sie zunächst sämtliche Großsäuger aus und pflückte ahnungslose Vögel aus den Nestern, bis die übrig bleibende Tierwelt ihre Lektion gelernt hatte und die Umwelt des Menschen »traurig ramponiert« war. Doch schließlich konnte auch der Mensch nicht einfach nur weiterziehen in neue unberührte Jagdgefilde, sondern musste lernen, sich seiner jeweiligen Umgebung anzupassen und mit ihr zu koexistieren.

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Koevolution nennt Flannery dieses Prinzip, und Gaia nennt er, in Anknüpfung an den Geochemiker James Lovelock, den gesamten Lebenszusammenhang Erde. Flannery räumt ein, dass an dem schönen Konzept Gaia zunächst noch einiges unklar sei, doch vor einem Missverständnis warnt er ganz entschieden: dass man Gaia als esoterische Spinnerei abtun könne. Auch unter streng biologischen Gesichtspunkten handele es sich um ein fruchtbares Modell. Man könne sich Gaia als eine Art Superorganismus vorstellen, in dem die Erdkruste als Skelett funktioniere und mit Bakterien angereicherte Dunsttropfen die Rolle der Pheromone übernähmen, mit denen Ameisen kommunizierten. Der Mensch spielt, schlägt Flannery vor, die ambivalente Rolle des Gehirns, und das weitverzweigte Stromnetz ist so etwas wie ein Nervensystem. Viele der von Flannery ausgebreiteten Fakten sind so verblüffend wie schön erzählt, gern lässt man sich berichten, wie auf unserem Planeten alles ineinandergreift. Doch sobald man einen Schritt zurücktritt, muss man feststellen, dass doch vieles davon metaphorisches Reden ist, das die Grenzen zwischen allzu VerschiedeTim Flannery: Auf Gedeih und Verderb. nem einfach verwischt: Die Erde und wir: Das »Leben«, das da für Geschichte und Zukunft anderes »Leben« sorgt, ist einer besonderen Beziehung; a. d. Engl. v. mal Plankton, mal sind es Jürgen Neubauer. Meeressäuger. Und ist es S. Fischer Verlag, nun die schlichte Anzahl Frankfurt a. M. 2011; 365 S., 22,95 € von Einzelorganismen, die den Planeten zu einer Gaia adelt, oder die Zahl unterschiedlicher Arten oder die Gesamtmasse aller Organismen oder der Komplexitätsgrad des jeweils komplexesten Lebewesens in einem Ökosystem? Ist etwa die heutige Welt mit ihrem weitverzweigten Artenstammbaum »besser« als jene Brühe, in der bloß Einzeller schwammen? All diese Einwände und Nachfragen sprechen nicht grundsätzlich gegen das Konzept Gaia. Nur ist man, was deren Existenzstatus angeht, am Ende des Buches, das in einen Reigen höchst sympathischer Appelle zur Armutsbekämpfung und Umstrukturierung der Energiewirtschaft mündet, noch so ratlos wie eingangs. Denn irgendetwas, so viel ist klar, würde ja sowieso bleiben, auch wenn der Mensch, sogar wenn die gesamte Säugetierwelt verschwände. Kakerlaken, so heißt es oft, oder Ameisen, zumindest aber Bakterien würden überleben. Wäre dies eine verstümmelte Gaia, oder wäre Gaia dann etwa »traurig«? Schulterzuckend landet die Leserin am Ende also wieder bei der Freude des Spaziergängers, der sieht: Etwas existiert. Etwas lebt, das ist schön. – Aber als Ergebnis eines über 300-seitigen Buches, so sympathisch es auch sein mag, ist dies etwas zu wenig.

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GOTT UND DIE WÜRFEL Der Schweizer Schriftsteller Georg Brunold auf der Spur des Zufalls von Maximilian Probst

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s gibt Dinge, die kann man, und Dinge, für die man nichts kann. Der Schriftsteller Georg Brunold gehört zu denen, die so einiges können. Als Korrespondent der NZZ in Nairobi hat der gebürtige Schweizer eine Reihe lesenswerter Reportagen geschrieben. Mit dem gewaltigen Werk Nichts als die Welt, Annalen, Augenzeugenberichten, Chroniken aus zweieinhalb Jahrtausenden, hat er sich als genialer Kompilator erwiesen. Auch in seinem neusten Buch zeigt er, was er kann: Erzählen, Schreiben, Nachdenken – und doch ist das Ergebnis rätselhaft – wofür der Autor nichts kann. Es verdankt sich womöglich dem Thema, denn Brunold schreibt über den Zufall, Fortuna auf Triumphzug heißt sein Buch. So hübsch das Leinenbändchen daherkommt, so monströs ist das, was es behandelt. Wo es um den Zufall geht, geht es ja meistens um alles (weil, wer weiß, vielleicht alles Zufall ist). Brunolds Buch dreht sich um die Liebe, um den Urknall, um Quantenphysik, um die Zahl Pi, um das Kasino, das Leib-Seele-Problem, um Amoklauf und Versicherungsagenturen. Wobei dieses Durcheinander Methode hat: Schließlich liegt es für einen Autor nahe, beim Schreiben über den Zufall dem Zufall selbst mit seinen Sprüngen, Brüchen und Verblüffungen das Wort zu erteilen – in etwa so, wie ein Schriftsteller bei der Schilderung eines Pferderennens geneigt sein mag, die Sprache zum Galoppieren zu bringen. Stringenz darf also nicht erwartet werden, auch auf Thesen, die den Zufall dingfest machen, sollte man nicht hoffen. Die stärkste Stelle des Buches ist eine, die alles denkbar weit offen lässt: »Angesichts des Zufalls« schreibt Brunold, »tun sich Abgründe auf, in deren Tiefe kein Lichtstrahl fällt, noch wenn darüber das dunkle Gewölk des Aberglaubens ohne Rest abgezogen ist – und an seiner Stelle bloß gar nichts zurückgelassen hat.« Da sich nicht bestimmen lässt, was der Zufall ist, verlegt sich Brunold darauf, den Umgang mit ihm zu referieren. Aristoteles beispielsweise zweifelt, ob etwas grundlos ge-

schehen könne, hält aber am Zufall als Bedingung der Willensfreiheit fest. Die Kirchenväter degradieren ihn zum Erfüllungsgehilfen des göttlichen Heilsplans, wenn sie ihn nicht gleich zum Teufel jagen. In den politisch wirren Zeiten der Renaissance wendet sich das Blatt, Machiavelli sieht nur noch blinden Zufall am Werk, vernünftig ist folglich jener, der die Zufälle für seine ZweGeorg Brunold: cke einzuspannen weiß. Fortuna auf Descartes bemüht sich Triumphzug erneut, den Zufall aus der Von der Notwendigkeit des Zufalls. Welt zu schaffen. Bei ihm Galiani Verlag, bekommt die Welt ähnlich Berlin 2011; 200 S., wie bei Aristoteles einen 19,99 € Anstoß von außen, von Gott, der sich, einem Perpetuum mobile gleich, fortpflanzt. In ausgereifter Gestalt erscheint dieser Determinismus schließlich bei dem Mathematiker und Philosophen PierreSimon Laplace. Der fantasierte von einem Weltgeist, später Laplacescher Dämon apostrophiert, dessen Erkenntnis der Gegenwart ihm auch die Vergangenheit und Zukunft aufschlösse. Dieser Determinismus, schreibt Brunold, geisterte noch durch die Köpfe von Physikern wie Max Planck oder Albert Einstein (»Gott würfelt nicht«). Heute halten ihm Philosophen wie Daniel C. Dennett oder Hirnforscher wie Gerhard Roth die Stange.

So weit das holprige Hin und Her, Für und Wider in der Geschichte des Umgangs mit dem Zufall. Fortuna auf Triumphzug, wie der Titel verspricht, taucht erst im letzten Viertel des Buches auf. Spannend ist dabei vor allem das Kapitel über die Chaostheorie. Brunold erklärt darin, wie unendlich empfindlich dynamische Systeme sein können. Eine Bewegung kann sich darin exponentiell verstärken, bis schließlich Ursache und Wirkung in keinem Verhältnis mehr zueinander stehen. Darauf stieß Edward N. Lorenz bei meteorologischen Studien, die ihn zur Formulierung des bekannten Schmetterlingseffekts brachten: Der Flügelschlag eines Falters über Brasilien könne sich zu einem auf

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Texas zurasenden Tornado aufschaukeln – so wie die Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouaziz, möchte man anmerken, zum Flächenbrand des Arabischen Frühlings führte. Aufschlussreich ist, was Brunold über die Spieltheorie ausführt. Die kennt Situationen, in denen der Mensch, will er sich rational verhalten, eine Zufallsentscheidung treffen muss. Wozu die hübsche Pointe kommt, dass wir willentlich reinen Zufall gar nicht produzieren können – und auf Zufallsgeneratoren wie Würfel, Karten oder Streichhölzer angewiesen sind. Dächten wir uns selber scheinbar willkürliche Zahlenreihen aus, so zeigt die Psychologie, ließen sich in ihnen immer noch Muster entdecken. Der Zufall treibt es also wilder, als wir es uns vorstellen können. Künstler wie Marcel Duchamp oder John Cage wussten das, sie räumten ihm eine entscheidende Rolle in ihren Kunstwerken ein. Und Brunold, wie auch die Kreativitätsforschung, die dem Neuen auf der Spur ist, folgt ihnen hierin. Wir müssen uns Fortuna überlassen, auf den Zufall setzen: als »das Unentbehrlichste und Wertvollste im Universum, aus dem auch diese Menschenerde herkommt«. Nur: Naturgemäß lässt einen der Zufall, wenn man auf ihn setzt, auch manchmal sitzen. Genau das scheint bei Brunolds Buch

der Fall zu sein. Brunold schreibt locker, um aber als charmanter Causeur durchzugehen, wirkt die Stilistik um eine Spur zu flau. Auch die essayistische Verknüpfung von Gedanken und Anekdoten zündet nicht immer und hinterlässt dann den Eindruck von Unschärfe. Vielleicht ist auch die Offenheit des Themas ein wenig zu weit, um nicht in Beliebigkeit auszulaufen; vielleicht die ein oder andere Weisheit zu glanzlos, vielleicht die Konzentration auf das, was schon bekannt ist zu groß, als dass sich in dem Buch etwas Neues ereignen könnte. Kurz, die glückliche Fügung, die ein ordentliches Buch zu einem großen Wurf macht: Brunold ist sie versagt geblieben.

WERDET DOCH ERWACHSEN! Melanie Mühl rechnet ab mit dem Patchwork-Glück von Eugénie Bott

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chon die Shell-Studie hätte stutzig machen können. »Der Wunsch von Kindern und Jugendlichen war noch nie so groß, selbst eine Familie zu gründen. Geborgenheit und Sicherheit stehen auf der Werteskala ganz oben«, heißt es da. Dauerhafte Bindungen wollen sie, von intakten Familien träumen sie – von etwas, was sie selbst als Scheidungskinder vermisst haben. Im letzten Jahrzehnt gab es immer wieder junge Schriftstellerinnen, die mit ihren Kommune-Eltern aus 68erZeiten abrechneten. Sie seien durch wechselnde Väter und Sexpartner der Mutter total verunsichert worden. Nun folgt eine Attacke gegen das letzte Refugium dieser Eltern: Die Patchworkfamilie, die bisher als Zugewinn einer Gesellschaft, als neues Partnerschaftsmuster gefeiert wurde. Als heiter, bunt, lustig feiern die Medien sie gern. Sogar der Bundespräsident steht dafür. Waren wir voreilig, leichtfertig, oberflächlich, als wir zustimmten? Ja, sagt die Autorin des neuen Buches Die Patchwork-Lüge. Vor allem waren wir unsensibel und gefühllos, waren begriffsstutzig, als wir eine Scheidung nur als Glücksfall und Chance zum Neubeginn begreifen wollten. Hatten keinen Nerv für das, was hinter Begriffen wie Verlust, Traurigkeit, Schmerzen steht. Haben uns daran gewöhnt, solche Emotionen in die Obhut von Psychotherapeuten zu schieben. Und den Rest zu einem Fall für Scheidungsrichter, den Versorgungsausgleich und die Sorgerechtsklärung zu machen. Wann haben wir zuletzt davon gelesen, dass eine Alleinerziehende vielleicht nicht nur Probleme hat, Kinder und Beruf unter einen Hut zu bringen, sondern verdammt traurig ist? Und wenn sie das Glück hat, einen Neuen zu finden, fragt sie dann, ob die Kinder das auch so toll finden? Hier setzt die 35-jährige Autorin Melanie Mühl in ihrem Buch Die Patchwork-Lüge an. Sie ist selber in dieser Flickenteppich-Familie aufgewachsen. Und fragt: Wie leben diese Kinder, wie leben sie später, was bedeutet

das, immerzu von Mutter zu Vater zu reisen, jede Woche womöglich seine Koffer zu packen. Was bedeutet das für ihr Bild von Familie, von Ehe und Liebe, Kinderkriegen. Diese Kinder verinnerlichen: Nichts ist von Dauer, alles ist austauschbar, es gibt keine Verbindlichkeiten, wer gehen will, der geht. Vergehen solche Schmerzen wie Windpocken? Oder wissen wir nicht längst, dass solche Kindheitserfahrungen eine Lebenszeit lang mitgeschleppt werden? Beziehungsängste, sich bloß nicht festlegen, Einsamkeit. Die Erinnerung daran, dass Gefühle organisiert werden wie der Besuch bei Papa. Das erwachsen gewordene Kind Melanie Mühl stellt Fragen. Eltern sind doch Erwachsene, heißt Erwachsensein nicht auch Verantwortung und Verzicht? Verzicht etwa auf eine immer erneute Glückssuche? Eine Rückkehr zu alten Werten fordert dieses Buch zwischen ausgiebig recherchierten Zeilen. Die Autorin redet aber nicht der Vernunft-Ehe das Wort, allerdings einer Partnerschaft, die Kompromisse aushandelt und Konflikte aushält, statt sich im ewigen Streit mit Blick auf mögliches neues Glück zu zerfleddern. Wenn Melanie Mühl mit Zahlen jongliert, der Politik etwa nachweist, dass sie die Patchworkfamilie zulasten des traditionellen Familienverbunds fördert, wenn sie Beispiele und Untersuchungen anführt, taucht im Hintergrund das Bild einer Sehnsuchtsfamilie auf. Mit Wünschen, die sich mit den Bedürfnissen einer Gesellschaft in Krisenzeiten verquickt, wer träumt heute nicht von Sicherheit, Verlässlichkeit, Aufmerksamkeit, Zuwendung und Beständigkeit? Dieses Buch ist eine Streitschrift und will eine Diskussion. Gesellschaften sind ja stets neu zu denken. Die 68er hatten ihre Gründe, gegen die schweigende Kriegsgeneration neue Formen des Zusammenlebens zu setzen. Aber die Revolution entließ auch unzufriedene Kinder, und nicht nur sie suchen nach Ideen für eine veränderte Zeit. Verhaltensforscher verweisen auf die Empathie als ein soziales Element, das im Wesen jedes Melanie Mühl: Die Patchwork-Lüge Menschen liege, dieses Eine Streitschrift. Hanser Sich-einfühlen-Können Verlag, München 2011; in andere sei ein guter 176 S.; 16,90 € Weg in eine Gesellschaft, die künftig nicht mehr nur auf Geld und Gewinn setzen kann. Psychologen raten zu Gemeinschaften, die Geborgenheit vermitteln. Stoff zum Nachdenken, etwa darüber, ob es ein neues Empfinden an der Seite der Vernunft geben könnte, ein Miteinander, das nicht verlangt, Trauer und Verlust in Fitnessbuden abzutrainieren und dem Körper so viel Aufmerksamkeit zuwendet, als gäbe es innen drin nichts zu vermerken.

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AUSFLÜGE MIT EINEM GLÜCKLICHEN Der amerikanische Autor Eliot Weinberger rückt uns mit wundersamen Essays den Kopf zurecht von Helmut Böttiger

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an muss sich Eliot Weinberger als einen glücklichen Menschen vorstellen. Er schreibt ausschließlich darüber, was ihn interessiert, und es sind oft sehr exzentrisch scheinende Interessen; er vertieft sich in sein Sujet und lässt eine vollkommen unerwartete Welt der Ereignisse entstehen – voller Überraschungen, abseits der gewohnten Effekte. Und gedruckt wird es in wunderbaren Periodika wie The New York Review of Books oder The London Review of Books, die sich auch noch damit schmücken und sie nicht etwa verschämt zu den Marginalien abschieben. Am Anfang stellt Weinberger den Leser gern vor ein Rätsel. Er greift eine scheinbar entlegene Begebenheit oder Bemerkung heraus und stellt sie in einen überrumpelnden Zusammenhang. Das ist so beim Eingangsstück über den chinesischen Dichter Gu Cheng wie auch bei dem folgenden Text über den chilenischen Fortschrittshymniker Vicente Huidobro – zwei Autoren, die in Deutschland nicht im allgemeinen Bewusstsein sind, aber in ihrer verblüffenden Außerordentlichkeit für Weinberger eine herausragende Rolle spielen. Im Lauf der Texte wird die Irritation des Anfangs dann langsam eingeholt und in eine ästhetische Selbstverständlichkeit überführt, und der Kopf ist einem unversehens zurechtgerückt worden. Gu Cheng erschlug 1993 im Alter von 37 Jahren seine Frau und erhängte sich anschließend. Er ist einer der einflussreichsten neueren chinesischen Dichter, der mit einem betörenden Imaginismus begann und in einem immer ungeheuerlicheren Surrealismus endete. Weinberger schildert seine wenigen Begegnungen mit ihm wie eine Exkursion ins schlechthin Unbekannte. Er zitiert einen typischen Satz des Chinesen: »Der Dichter ist wie der Jäger aus der Fabel, der neben einem Baum ein Nickerchen macht und darauf wartet, dass die Hasen sich die Schädel am Baumstamm einrennen. Nachdem er

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lange Zeit gewartet hat, stellt der Dichter fest, dass er der Hase ist.« Weinberger macht begreiflich, dass Gu Cheng sein Leben damit umfassend charakterisiert hat, und da das Zitat ganz am Anfang des Essays steht, liest man atemlos den ganzen Text. Weinberger moralisiert nicht, er ist kaum je verwundert, sein Stil bleibt immer glasklar. Aber er erkennt traumwandlerisch die Koordinaten, mit denen sich die Dinge neu ordnen. Seine Beispiele und Zitate wirken nie gesucht, sie fügen sich organisch zum jeweiligen Gegenstand. Den Essay über den Fotografen Mitch Epstein leitet er ein mit einer langen Betrachtung über den französischen Reisenden Victor Segalen, der zeit seines Lebens ein Buch über das Exotische schreiben wollte. Segalen bezog sich in der Blüte des Kolonialismus provokativ auf die »unendliche Unverständlichkeit« des anderen, und Weinberger wendet dies in suggestiver Überblendung auf die zeitgenössischen Fotos von Epstein an, die den Alltag durch kleine, oft beiläufige Details fremd erscheinen lassen. Weinbergers Texte wirken wie hingetuschte Pastiches, hinter denen sich subtile Formüberlegungen verstecken. Aber er widmet sich auch abstrakten, theoretisch hoch aufgeladenen Fragestellungen – am beeindruckendsten vielleicht in seiner Rezension zu George W. Bushs Erinnerungsbuch Decision Points aus dem Jahr 2010. Die Genrebezeichnung »Rezension« täuscht allerdings. Es ist eine schneidende Analyse der amerikanischen Gesellschaft genauso wie eine atmosphärisch dichte Vergegenwärtigung jener Präsidentschaft. Weinberger beginnt mit einem Paukenschlag: Ungefähr zur selben Zeit, als Bush

in Yale Studenten, die in die Verbindung Delta Kappa Epsilon aufgenommen werden wollten, »mit einem heißen Kleiderbügel ein Brandzeichen auf das Gesäß« verpasste, habe der Philosoph Michel Foucault in der Société française de philosophie gesessen und die Frage überdacht: »Was ist ein Autor?« In den folgenden Abschnitten seziert Weinberger das unter dem Namen Bush erschienene Elaborat mit den Erkenntnissen Foucaults, und er macht das in einem kühlen Ton, der vor allem durch Zitate wirkt: Die Konfrontation von Sätzen des Bush-Propagandastabs mit Beobachtungen von Foucault ist weit mehr als eine kunstvolle und geistreiche Collage, es ist eine schonungslose Enthüllung. Als Übersetzer vor allem aus dem lateinamerikanischen Spanisch und dem Chinesischen steht Weinberger in den USA für den Geist des Internationalen, für geheime Verbindungen zwischen verschiedensten Ländern und das lustvolle Aufstöbern von kulturellen Zeichen aus allen Zeiten. Dahinter verbirgt sich mehr Sprengstoff, als man ahnt. Die Lektüre der Texte, die sich an unterschiedlichsten Stoffen entzünden, könnte Eliot Weinberger: Orangen! Erdnüsse! auch für unsere prätentiöAus dem Englischen sen Medienpopper heilsam von Peter Torberg; sein. Die USA nämlich, Berenberg Verlag, Berlin 2011; 194 S., 20,– € so stellt Weinberger unumwunden fest, seien ein extrem provinzielles und selbstzufriedenes Land, und es räche sich mittlerweile, dass es Entwicklungen außerhalb kaum wahrnehme: »Die Amerikaner sind vielleicht, mal abgesehen von ein paar Nomadenstämmen in den Wüsten oder Regenwäldern, das isolierteste Volk der Welt.« Wenn er aber in seiner furiosen Einlassung über die Möglichkeiten des Übersetzens den deutschen Pumpernickel und das chinesische Dampfbrötchen voneinander abgrenzt und aufeinander bezieht, ist es völlig klar, dass er das von der amerikanischen Ostküste aus tut. In manchen seiner Sätze, die erklärungslos wie Monolithe zwischen anderen stehen, stecken ganze Romane: »Auf den Kanaren arbeitete er an einem Plan, Nachtigallen nach Chile zu importieren.« Oder: »Er sprach den Slang der befrackten Screwball-Comedys der dreißiger Jahre, und er bewohnte eine Welt, in der ihn, auf einem Skiurlaub in den österreichischen Alpen, Herbert von Karajans Chauffeur auf den Gipfel fuhr und die Königin der Niederlande, als er sich die Skihose aufriss, prompt ihr Nähzeug hervorholte und sie flickte.« Bei Letzterem handelt es sich um James Laughlin, den Gründer des New Yorker Verlags New Directions, in dem Weinbergers Werke erscheinen. Man fragt sich, wozu man diesem Verlag mehr gratulieren kann.

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