ATYPISCHE WEIDE MYOPATHIE (Myoglobinurie der Weidepferde)

September 15, 2016 | Author: Vincent Baum | Category: N/A
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1 Dr. Sonja Berger, Dipl.ECEIM Interne Medizin Pferde, Klinik für Pferde Vetmeduni vienna ATYPISCHE WEIDE MYOPATHIE...

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ATYPISCHE WEIDE MYOPATHIE (Myoglobinurie der Weidepferde) Dr. Sonja Berger, Dipl.ECEIM Interne Medizin Pferde, Klinik für Pferde Vetmeduni vienna Die atypische Myoglobinurie, im Folgenden kurz als AM bezeichnet, ist seit 1926 (Hutyra und Marek) bekannt. Der erste große europäische Ausbruch fand 1995 in Deutschland statt (111/115 Pferde starben). AM tritt meist als Herdenproblematik in Form von „outbreaks“, bei denen mehrere Tiere innerhalb kürzester Zeit erkranken, auf. In Europa werden jährlich etwa 100 Todesfälle durch AM gemeldet. 2011 wurden bis dato bereits 97 klinische Fälle bekannt (http://www.myopathieatypique.fr/en/), wobei die Dunkelziffer relativ hoch ist, da die Erkrankung nicht meldepflichtig ist. Alleine in Österreich gibt es mehr als 15 bestätigte Fälle, von denen nur zwei der "Atypical Myopathy Alert Group; AMAG" oder der RESPE (réseau d’épidémio-surveillance en pathologie équine européen) gemeldet wurden. AM - Fälle kommen vor allem in den Monaten Oktober und November vor, einen zweiten Peak gibt es im Frühjahr (wenn im Herbst Fälle aufgetreten sind, sind im darauffolgenden Frühjahr weitere zu erwarten!)

Ursache Trotz intensivster Studien, die vor allem in Belgien, der Schweiz und den Niederlanden vorangetrieben werden, ist die genaue Ursache derzeit ungeklärt. Phytotoxine (bekannte muskeltoxische Pflanzen gehören den Familien Cassia, Eupatorium, Gossypium, Karwinskia, Ixioloena, Cystisum und Lupinum an) konnten anhand umfangreicher botanischer Untersuchungen in allen Fällen ausgeschlossen werden. Dem heutigen Stand der Forschung zufolge, dürften mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Bisher wurden das letale Toxin von Clostridium sordellii (TcsL) und die Aufnahme von Ahornblättern, die mit Ahorn-Runzelschorf (Rhytisma acerinum, dem Auslöser der Teefleckenkrankheit) befallen sind (van der Kolk et al., 2010) als Pathogene oder Triggerfaktor identifiziert. Bei dem letalen Toxin von Clostridium sordellii handelt es sich um ein Einzelkettenprotein mit einem Molekulargewicht von 250 kDa und 3 Domänen: einer C-terminalen zur Oberflächenerkennung, einer zentralen zur Toxintranslokation und einer N-terminalen für enzymatische Prozesse, die zur Spaltung von UDP-Glukose führt. TcsL löst beim Menschen Multiorganversagen und das „toxic shock syndrome“ aus und konnte bei Pferden mit AM sowohl im Magen-Darminhalt, als auch mittels Immunhistochemie in der Muskulatur

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nachgewiesen werden (direkt anhand von polyklonalem Antiserum gegen die N-terminale Domäne und indirekt durch Inkubation von Muskulatur erkrankter Tiere mit Seren ebenfalls erkrankter Tiere (Unger-Torroledo et al., 2010)). TcsL wirkt zytopathisch und zytotoxisch, wodurch es zum Zelltod (Apoptose) mit Lipidakkumulation kommt. Des Weiteren schädigt es Kapillarendothelzellen, deren Durchlässigkeit zu einer Verstärkung der Ischämie und der sarkoplasmatischen Lipidose führt (Unger-Torroledo et al., 2010).

Risikofaktoren: Anhand ausgedehnter epidemiologischer Studien konnten zahlreiche Risikofaktoren für ein gehäuftes Auftreten der AM identifiziert werden: a) klimatisch: Die Ausbrüche folgten oft auf einen ungewöhnlich heißen und trockenen Sommer und traten zumeist ein bis zwei Tage nach frostigen Nächten mit deutlichen Temperaturstürzen bei eher milden Tagestemperaturen auf. Hohe Luftfeuchtigkeit, Wind und fehlende Sonneneinstrahlung scheinen das Auftreten der Erkrankung ebenfalls zu begünstigen. b) Weideverhältnisse: AM kann auf bestimmte Regionen innerhalb eines Landes beschränkt sein und kommt bevorzugt auf extensiven (Mager-)Weiden vor. In vielen Fällen handelt es sich um abschüssige Weiden mit feuchtem Boden oder einem Wasserlauf am Grundstück. Die Weiden liegen häufig am Waldrand und in den meisten Fällen wurde totes Laub (insbesondere von Ahornbäumen) auf der Koppel gefunden. Die Bedeutung der epidemiologisch ebenfalls gehäuft vorkommenden Eicheln, Bucheckern und Rindenstücken mit Verbiss -Spuren ist bislang ungeklärt. AM scheint durch Weidedüngung mit Pferdemist oder Abschleppen der Weide begünstigt zu werden (Bodenkontamination?!). Auch eine Heuoder Silagefütterung vom Erdboden gilt wegen einer etwaigen Bakterienvermehrung beim Auftauen nach Anfrieren als Risikofaktor. c) Tierabhängige Faktoren. Betroffen sind (Ganzjahres-) Weidepferde, die nicht oder wenig gearbeitet und nicht zugefüttert werden. Typischerweise erkranken eher jüngere Pferde oder alte Tiere in normaler bis verminderter Körperkondition. Das gehäufte Auftreten von AM bei Pferden unter 3 Jahren könnte auf eine erhöhte Toxin Exposition oder die spätere Entwicklung einer Immunität zurückzuführen sein. Da von Votion et al. (2009) ein Fall beschrieben wurde, in dem ein Pferd AM überlebt hat, der Erkrankung aber im darauffolgenden Jahr zum Opfer gefallen ist, erscheint eine erworbene Resistenz unwahrscheinlich. Es gibt keine Rasse- oder Geschlechtsprädisposition.

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Symptome: Plötzliche Todesfälle sind bei AM möglich, zumeist werden im Anfangsstadium aber Muskelschwäche, Steifheit, Schwitzen, gerötete Kopfschleimhäute sowie schwankender oder steifer Gang beobachtet. Die Tiere sind apathisch, weisen eine erhöhte Puls- und Atemfrequenz auf und zeigen eine gesenkte Kopf-Halshaltung, die zu einem Ödem im Kopfbereich mit hörbaren Stridores führen kann. In einigen Fällen sind Herzarrhythmien oder Herzgeräusche auskultierbar. Die innere Körpertemperatur ist variabel, sowohl Hypo-, Normo-, als auch Hyperthermie sind möglich. In seltenen Fällen treten kolikähnliche Schmerzsymptome mit exspiratorischem Stöhnen auf, zumeist ist der Appetit jedoch erhalten oder sogar gesteigert. Festliegende Pferde fressen selbst im Liegen noch, einige Patienten zeigen jedoch Kau- und Schluckbeschwerden (Dysphagie durch Beteiligung der Kaumuskulatur). Gelegentlich ist der intestinale Transport verzögert (trockener Kot im Enddarm, Anschoppungen). Der Harnabsatz ist beeinträchtigt, die Harnblase ist bei der rektalen Palpation hochgradig gefüllt tastbar und enthält den charakteristischen, rotbraun verfärbten Harn (hochgradige Myoglobinurie). Der Tod tritt meist nach 12 - 72 Stunden ein, wobei die letzten Ausbrüche 2009 leichter waren und die Überlebensdauer der letztlich nicht - überlebenden Tiere durchschnittlich 5 Tage betrug (van Galen et al., 2010). Die Letalität der Erkrankung liegt zwischen 75 % (van Galen et al., 2010) und 90% (UngerTorroledo et al., 2010).

Blutbefunde: In der blutchemischen Untersuchung dominieren die stark erhöhte Muskelwerte (CK, AST, LDH, alpha – HBDH, Troponin-I). Gelegentlich findet man erhöhte Leberwerte (GLDH, GGT, AP, Bilirubin) und Hinweise auf ein sekundäres Nierenversagen (Kreatinin und Harnstoff erhöht). Der Kalziumgehalt ist häufig erniedrigt, bei gleichzeitig erhöhtem Phosphatspiegel. Einige Pferde weisen metabolische Entgleisungen mit manifester Hyperlipämie und Insulinresistenz (Hyperglykämie) auf. Durch die Hyperlaktatämie kommt es zu einer metabolischen Azidose. Hämatologisch beobachtet man zumeist eine Leukozytose und Hypovolämie mit erhöhten Werten des roten Blutbildes.

Sektion: Typischerweise betroffene Muskelgruppen sind die Haltungs- und Stell- sowie die Atemmuskulatur (also Muskelgruppen an Hals und Extremitäten, Interkostal- und Zwerchfellmuskulatur, Herz), welche sich blass und fleckig verändert darstellen. Die degenerativen Veränderungen finden sich überwiegend in Typ – I Fasern und sind unter anderem durch Neutralfettakkumulation gekennzeichnet.

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Muskuläre Schäden können pathohistologisch in drei Kategorien eingeteilt werden: ggr.: minimal geschädigt = Sarkomere zerstört, Vakuolen; mgr. = zirkulär ausgedehnt; hgr. = komplette Desintegration, wobei der Grad der Schädigung spezifisch für die Muskelgruppen ist. Geringradige Schäden findet man eher an M. masseter, Interkostalmuskulatur und M. semitendinosus, mittel- bis hochgradige an M. glutaeus superficialis, Diaphragma und Herzmuskel. Pathohistologische Leberveränderungen umfassen fleckige Vakuolisation und Neutrophileninfiltration in der Portalregion sowie hyperchromatische Hepatozytennuklei. In den Nieren findet man Pigmentnephrosen, akute tubuläre Nekrosen und pinkfarbenes proteinartiges granuläres Material in Tubuli und Bowman´scher Kapsel. Häufig werden auch erosive - ulzerative Gastritiden entdeckt.

Prognose: Die Prognose ist generell vorsichtig bis ungünstig, insbesondere bei festliegenden Tieren. Sie scheint besser zu sein, wenn die Tiere die meiste Zeit des Tages stehen, eine physiologische Schleimhautfarbe aufweisen, keine ausgeprägte Dyspnoe haben und der Sauerstoffpartialdruck im arteriellen Blut normal ist. Des Weiteren steigt die Prognose nach dem Überleben der ersten fünf Tage. Die Behandlung sollte fortgesetzt werden, solange der Sauerstoffpartialdruck des arteriellen Blutes über 85 mm Hg liegt und keine massiven Schmerzen auftreten. Wenn die Tiere überleben, ist eine vollständige Wiederherstellung ohne Langzeitschäden möglich (van Galen et al., 2010).

Therapie: Die Therapie ist primär symptomatisch und umfasst, basierend auf empirischen Erfahrungen, die Infusionstherapie zum Ausgleich des Flüssigkeits-, Elektrolyt-, Säure-Base-Haushaltes, die Applikation nichtsteroidaler Antiphlogistika, den Einsatz von Antioxidantien (Vitamin E, Selen, Karnitin) und Radikalfängern (DMSO), die Verabreichung von Muskelrelaxantien (Diazepam, Midazolam, Azepromazin, Methocarbamol), Gaben von Paraffinöl oder Aktivkohle zur Elimination etwaiger intestinaler Toxine, intravenöses Penicillin zur Clostridienbekämpfung, Katheterisieren der Harnblase, intranasale Sauerstoffzufuhr und die Unterstützung des mitochondrialen Metabolismus (Karnitin, Vitamin B1 und B2). Empfehlenswert ist auch das Anbieten von häufigen, kleinen Portionen kohlenhydratreicher Nahrung (Gras, Heu, Getreide, Melasse, Zuckerwasser, Karotten: van Galen et al., 2010), da biochemisch der Fettmetabolismus der muskulären Mitochondrien gestört ist (MADD = multiple acyl-CoA Dehydrogenase Defizienz, resultiert aus Defekten verschiedener

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mitochondrialer Dehydrogenasen, welche Flavonadenindinukleotide FAD als Kofaktor benützen, Westermann et al., 2007) bei adäquatem Kohlenhydratmetabolismus (Westermann et al., 2008). Die Diagnose von MADD beruht auf dem Nachweis charakteristischer Profile organischer Säuren, Glycinkonjugate und Acylcarnitin in Harn und Plasma (van der Kolk et al., 2010).

Protektive Faktoren: Vorbeugend wird empfohlen, Weiden, auf denen bereits Pferde erkrankt waren zu meiden und Laub sorgfältig zu entfernen. Bei begünstigenden Wetterkonditionen im Herbst und Frühjahr sollten wenigstens Pferde der bekannten Risikogruppen aufgestallt werden. Ansonsten wären trockene und flache Weiden zu bevorzugen, welche regelmäßig abgemistet und nicht mit Pferdemist gedüngt werden sollten. Die Pferde müssen stets Zugang zu einwandfreiem Leitungswasser haben und sollten rund ums Jahr zugefüttert werden, allerdings nicht vom Erdboden. Neben Heu ist auch eine adäquate Mineralstoffversorgung wichtig, um Erde fressen zum Ausgleich etwaiger Defizite zu verhindern und eventuell eine selektivere Futteraufnahme auf der Weide zu erreichen (Votion et al., 2009). Ein Leckstein sollte ebenfalls ganzjährig zur Verfügung stehen. Es wird empfohlen, die Tiere regulär zu impfen und zu entwurmen. Bei Weidegenossen erkrankter Tiere sollten zur Identifizierung subklinisch erkrankter Tiere die Muskelwerte kontrolliert werden.

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