Alle Aspekte von Resilienz

February 10, 2016 | Author: Ulrike Krämer | Category: N/A
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1 Dossier August / September visuell Plus Bildungs- und Fachkongress in Bern: Alle Aspekte von Resilienz Am Freitag 1. u...

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August / September 2016 - visuell Plus

Bildungs- und Fachkongress in Bern:

Alle Aspekte von Resilienz Am Freitag 1. und Samstag 2. Juli verwandelte sich Bern in die Hauptstadt der Gehörlosen. Während zwei Tagen haben Referenten aus verschiedenen Ländern vor etwa 400 interessierten Personen das Potenzial der Gebärdensprache als Resilienzfaktor vorgestellt. Visuell Plus blickt im Dossier auf den erfolgreichen Kongress zurück. Text: Sandrine Burger, Fotos: Benjamin Hofer, Übersetzung: Antonia D’Orio

Rund 400 Personen aus 10 Ländern kommen zum Bildungskongress.

Nach monatelangen Vorbereitung ist es endlich soweit: Mona Vetsch und Ruedi Graf, das zweisprachige ModeratorenDuo, eröffnet offiziell den 3. Bildungsund Fachkongress. Organisiert wird er diesmal vom Schweizerischen Gehörlosenbund im Berner Kursaal. Rund 400 Teilnehmende aus zehn verschiedenen Ländern füllen erwartungsvoll den prächtigen Saal.

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Grussworte des Präsidenten In seiner Eröffnungsansprache erinnert Roland Hermann, Präsident des Schweizerischen Gehörlosenbundes, daran, dass die vorangehenden Kongresse 2010 in Saarbrücken (Deutschland) und 2012 in Wien (Österreich) stattgefunden haben. Mit einem Augenzwinkern erklärt er, dass der Kongress ins Leben gerufen wurde, um deutschsprachige Gehörlose zum Thema Bildung zu stär-

ken. Doch nun ist die Schweiz an der Reihe, darum hat sich der Kongress auch der (gesprochenen und gebärdeten) französischen und italienischen Sprache geöffnet, um gehörlose und hörende Gäste aus allen Ländern zu empfangen. Roland Hermann erinnert ebenfalls an die Wichtigkeit der Gebärdensprache für Menschen mit einer Hörbehinderung. Durch die Gebärdensprache können sie

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Roland Hermann

Franziska Teuscher

Markku Jokinen

nicht nur kommunizieren, sondern auch lernen und Beziehungen knüpfen. Sie bildet ausserdem die notwendige Basis für den Aufbau einer positiven Identität und die Integration in die Gesellschaft. Die Gebärdensprache verfügt über ein unglaubliches Potenzial, das leider noch zu wenig bekannt und anerkannt ist. Deshalb werden die Präsidenten der drei Gehörlosenverbände (aus Deutschland, Österreich und der Schweiz) als Abschluss des zweitägigen Kongresses eine Resolution zu Gunsten einer bilingualen Erziehung unterzeichnen. Das Dokument soll den Behörden ihres jeweiligen Landes übermittelt werden, damit das Potenzial der Gebärdensprache entwickelt wird und den künftigen Generation erhalten bleibt.

als Politikerin, an der Verbesserung dieser Rahmenbedingungen zu arbeiten und Hindernisse im Umfeld abzubauen.

• Entwicklung der Fähigkeiten des Kindes mit einer Behinderung respektieren; • Recht der Kinder auf die Wahrung ihrer Identität respektieren.

Grusswort der Berner Behörden Franziska Teuscher ist Stadträtin von Bern und Direktorin für Bildung, Soziales und Sport. In dieser Funktion überbringt sie allen Teilnehmenden und Referenten den Gruss der Berner Behörden. Ansprachen und Worte machen einen grossen Teil ihres Lebens als Politikerin aus, sagt die Stadträtin, deshalb ist sie fasziniert vom Umstand, dass Menschen sich ohne Worte verstehen können. Zum Thema Resilienz hebt Franziska Teuscher hervor, dass sie zwar zu einem grossen Teil vom Potenzial der einzelnen Person abhängig ist, dass aber auch die sozialen Rahmenbedingungen eine Rolle spielen. Deshalb meint sie, es sei ihre Pflicht

Anschliessend zählt Franziska Teuscher die langjährigen Bemühungen der Stadt Bern zur Gleichstellung der Menschen mit Behinderungen auf und stellt in Aussicht, dass der Internet-Auftritt in Zukunft auch Informationen in Gebärdensprache enthalten soll. Am Ende ihrer Rede betont Franziska Teuscher, dass auch die gehörlosen Personen aktiv sein müssen. Es ist ihre Pflicht, die Politiker mit ihrer Verantwortung als Hörende zu konfrontieren, ihnen aber auch Lösungen aufzuzeigen.

Markku Jokinen Markku Jokinen ist Präsident der Europäischen Union der Gehörlosen (EUD, European Union of the Deaf). Er hält in Bern ein Referat mit dem Thema «Untersuchungen zur inklusiven Bildung in der UNO-BRK vor dem Hintergrund der Resilienz». Gleich zu Beginn erinnert Markku Jokinen an die Grundprinzipien der BRK (Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen), welche auch in der Ausbildung von gehörlosen Kinder anzuwenden sind: • Menschen mit Behinderungen als Teil der menschlichen Vielfalt akzeptieren; • Achtung der Verschiedenheit;

Zur Bildung ist vor allem Artikel 24 der BRK zu beachten: «Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht der Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit auszuüben, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen.» Allerdings definiert die BRK nicht näher, was unter einem integrativen Bildungssystem zu verstehen ist! Für Markku Jokinen ist klar: Damit die inklusive bilinguale Bildung dem Konzept der BRK – volle und gleichberechtigte Teilnahme und zugängliche Bildung – möglichst nahe kommt, müssen fünf Kriterien zwingend erfüllt sein: • Zugänglichkeit; • Einstellung von Lehrkräften mit einer Ausbildung in Gebärdensprache; • Förderung der linguistischen und kulturellen Identität der gehörlosen Menschen; • Optimierung der schulischen und gesellschaftlichen Entwicklung; • Bereitstellung von angemessenen Vorkehrungen und eine individuelle Unterstützung. Es sei wichtig, dass diese Elemente nicht nur in die Schulprogramme auf-

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Auftritt des bilingualen Chors Sign' Eau.

Corina Wustmann Seiler

Claudia Becker

genommen werden, sondern auch in die Bildungsgesetze. Inklusive Bildung ist weit mehr als ein Bildungssystem mit angehängter Zugänglichkeit. Sie ist ein wirkliches Recht. Es gilt, dieses Recht einzufordern, denn nur eine inklusive bilinguale Bildung, welche auf den Bedürfnissen von gehörlosen Kindern basiert, kann resiliente Erwachsene fördern.

• Dialogbereitschaft; • die Möglichkeit, «neue Türen» zu öffnen; • Selbstvertrauen dank Erfahrung der eigenen Kompetenz; • Interesse und Übernahme von Verantwortung.

Claudia Becker Als Dozentin für Gebärdensprache und Audiopädagogik an der Berliner Humboldt-Universität fragt Claudia Becker in ihrem Referat: «Wie kann die (inklusive) Schule die Resilienz hörbehinderter Kinder und Jugendlicher fördern?»

Corina Wustmann Seiler Das Referat der Erziehungswissenschaftlerin am Marie Meierhofer Institut für das Kind in Zürich hat den vielsagenden Titel «Resilienz bei Kindern und Jugendlichen – was wissen wir heute?». Von Beginn an rüttelt Corina Wustmann Seiler auf, indem sie Resilienz als Immunsystem der Selle definiert, jene Fähigkeit, die bewirkt, dass ein Mensch nach einem Schicksalsschlag oder Trauma wieder aufstehen kann. Sie betont aber auch, dass Resilienz kein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal ist, das man ein für alle Mal besitzt. Vielmehr ist sie das Ergebnis von individuellen und sozialen Faktoren. Resilienz ist lernbar, muss aber im Verlauf des Lebens immer wieder gefestigt und erneuert werden! Aus der Analyse verschiedener Forschungen konnte Corina Wustmann Seiler eine Anzahl von Faktoren ableiten, welche das Entstehen von Resilienz begünstigen: • eine vertraute und verlässliche Bezugsperson über einen längeren Zeitraum;

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Je früher man sich auf diese fördernden Faktoren konzentriert, desto solider ist die Grundlage, die man einem Kind mitgeben kann. Wichtig ist auch, die richtige Perspektive einzunehmen. Das bedeutet, nicht die Schwächen, sondern die Stärken der Kinder in den Vordergrund zu stellen. Neben diesem erzieherischen Potenzial, das vielerorts noch entwickelt werden muss, gibt es einen weiteren Resilienzfördernden Bereich, der noch zu wenig Beachtung findet: Märchen und Geschichten. Geschichten vermitteln dem Kind auch Verhaltensmodelle. Indem es sich mit dem Helden identifiziert, kann das Kind lernen, andere Perspektiven ins Auge zu fassen und neue Problemlösungen zu entwickeln und damit resiliente Werte und Verhaltensweisen erwerben.

«DIE INTEGRATIVE SCHULE MUSS SICH DEM KIND ANPASSEN, NICHT UMGEKEHRT!» (CLAUDIA BECKER)

In ihren Arbeiten, welche sich auf den deutschsprachigen Raum beziehen, geht Claudia Becker der Frage nach, wie die Schule hörbehinderte Kinder stark macht. Sie erinnert daran, dass gegenwärtig die meisten gehörlosen Kinder einzeln in Regelklassen integriert werden. Der Unterricht orientiert sich an der Lautsprache, es besteht sehr wenig oder überhaupt kein Kontakt zur Gebärdensprache. Zudem haben diese Kinder kaum Beziehungen zu Gleichgesinnten. Nicht die Schule passt sich den Bedürfnissen der gehörlosen Kinder an, sondern die Kinder müssen sich dem Schulsystem anpassen! In ihrem Referat listet Claudia Becker elf Erfolgsfaktoren auf für eine Resilienzförderung bei gehörlosen Kindern. Dazu gehören: • Förderung beider Sprachen (Gebärdensprache und gesprochene/ geschriebene Sprache); • Integration in Gruppen; • direkte Kommunikation; • qualifizierte Dolmetschende; • akzeptieren, dass gewisse Sachen zusammen, andere getrennt gemacht werden; • Nachteilsausgleiche;

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Das Moderatoren-Duo zeigt Resilienz.

Melissa Malzkuhn

Joseph Murray

• gleichberechtigte Kooperation; • hörende und hörbehinderte Vorbilder, mit denen sich die Kinder identifizieren können; • Gehörlosenspezifische pädagogische Kompetenzen; • Wahlmöglichkeiten (nicht alle Kinder wollen/können integriert werden) • sogenannte Schwerpunktschulen mit einem wirklich inklusiven System

ist sehr wichtig, dass das kindliche Sprachzentrum so früh wie möglich stimuliert wird, damit es sich entwickeln kann. Bei hörenden Kindern geschieht dies auf natürlichem Weg, da sie die Laute und Worte in ihrem Umfeld hören. Bei gehörlosen Kindern erfolgt dieser spontane Spracherwerb nicht, wenn sie meistens keine gehörlosen Eltern haben, die ihr Sprachzentrum mittels Gebärdensprache anregen. Genau da setzt die Arbeit von Melissa Malzkuhn an: den Mangel an Stimuli durch neue Technologien zu beheben.

Kommunikation – ein höchst problematischer Zustand. Das Labor hat also nach Lösungen gesucht, damit auch diese Babys in Kontakt mit der Gebärdensprache kommen, bis die Eltern mit ihnen natürlich in Gebärdensprache kommunizieren können.

Claudia Becker stellt fest, dass das heutige Bildungssystem unzureichend ist. Es muss vollständig überprüft und neu strukturiert werden, um gehörlose Kinder resilienter zu machen. Selbstverständlich geschieht dies nicht von einem Tag auf den anderen, aber es lohnt sich, dafür zu kämpfen, zum Wohle der Kinder.

Melissa Malzkuhn Melissa Malzkuhn beschäftigt sich mit digitaler Innovation und Medien an der Universität Gallaudet (USA) und berichtet über «Resilienz durch Innovation – Die Konvergenz von Gebärdensprache und Innovation». Durch ihre Arbeiten versucht sie herauszufinden, wie neue Technologien die Entwicklung von gehörlosen Kindern unterstützen und ihnen dabei helfen können, ihre Resilienz zu stärken. Melissa Malzkuhn stellt fest, dass es für das Gehirn keinen Unterschied macht, ob Informationen über das Gehör oder visuell aufgenommen werden. Hingegen

Unter zahlreichen Projekten hebt Melissa Malzkuhn besonders jene hervor, die sich auf die Aufbereitung von Geschichten für gehörlose Kinder beziehen, sogenannte kreative Literatur. Beispielsweise hat ihr Team eine App für iPad entwickelt, welche Geschichten in zwei Sprachen erzählt. Damit entdeckt das Kind nicht nur die amerikanische Gebärdensprache, sondern gleichzeitig auch das geschriebene Englisch (siehe http://vl2storybookapps.com/). Dieses Projekt erzielt grosse Erfolge, Finnland und Japan haben es bereits übernommen. Ein weiteres Projekt dieser Art richtet sich an gehörlose Kleinkinder. Weil sie meistens in hörende Familien geboren werden, fehlt ihnen die frühe Sprachstimulation. Auch wenn die Eltern die Gebärdensprache lernen, so braucht es eine gewisse Zeit, bis sie die Grundlagen beherrschen. Während dieser Zeit erlebt das Kind keine

Damit sind nur zwei der zahlreichen Projekte erwähnt, die am Labor der Universität Gallaudet erarbeitet werden. Alle diese Projekte haben ein gemeinsames Ziel: So früh wie möglich mit der Gebärdensprache in Berührung kommen, um die Identität von Kindern mit einer Hörbehinderung und damit ihre Resilienz zu stärken.

Joseph Murray Der Vizepräsident des Weltverbands der Gehörlosen und Assistenzprofessor für amerikanische Gebärdensprache (ASL) und Deaf Studies an der Universität Gallaudet (USA) hält ein Referat über sein Buch «Deaf Gain: Menschen mit einer Hörbehinderung als Teil der Vielfalt». Einleitend zu seinem Referat hebt Joseph Murray hervor, dass alles in unserer Welt Normen untersteht. Jede Person, die davon abweicht, gilt als abnorm und kehrt erst wieder zur Norm zurück, wenn das «Defizit» behoben ist. In Bezug auf die Gehörlosigkeit könnte beispielsweise ein Implantat das Mittel darstellen, um das defekte Gehör zu «reparieren» und die gehör-

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lose Person wieder Normenkonform zu machen. Dieses Weltbild wirkt sich negativ auf die Resilienz aus und gehörlose Menschen müssen sich dem widersetzen. Das Anderssein von Gehörlosen soll auf keinen Fall als ein Defekt wahrgenommen werden, der repariert werden muss, sondern als ein Merkmal menschlicher Vielfalt. Genau das ist «Deaf Gain»; die Auffassung, dass Gehörlosigkeit eine Form der Sinnes- und kognitiven Vielfalt darstellt und einen wesentlichen Beitrag zum Gemeinwohl leistet. Wie die Natur biologische Vielfalt für die Evolution braucht, so braucht auch der Mensch Diversität. Gehörlose sind ein Ausdruck dieser Vielfalt, sie haben ihre eigenen Fähigkeiten und sollen darauf stolz sein. Tatsächlich verfügen Menschen, die die Gebärdensprache gelernt haben, über ein besseres visuelles Gedächtnis. Sie können besser Gesichter erkennen, haben ein besseres Raumgefühl und können auch schneller lesen. Als Beispiel erwähnt Joseph Murray eine mexikanische Stadt, die für ihr öffentliches Videoüberwachungssystem eine gehörlose Person angestellt hat. Nach kurzer Zeit haben die Verantwortlichen festgestellt, dass dieser Mitarbeiter besser als andere geeignet ist, die Bildschirme zu überwachen und riskante Situationen oder gefährdete Personen zu erkennen. In der Folge wurden für diese Arbeit nur noch Gehörlose eingestellt.

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Resolution: Bilinguale Bildung schafft Resilienz Im Verlauf der zwei Kongresstage haben zahlreiche Referenten daran erinnert, dass die Grundlagen der Resilienz bereits in der Kindheit gelegt werden, und dass für Kinder mit einer Hörbehinderung die bilinguale Bildung ein grundlegender Faktor ist. Mit dem Wunsch, diese Feststellungen den Behörden ihres jeweiligen Landes zu übermitteln, haben die Präsidenten des Deutschen, des Österreichischen und des Schweizerischer Gehörlosenbundes eine Resolution unterzeichnet, welche vier Forderungen zur bilingualen Bildung enthält: 1. Anerkennung der Gebärdensprache Für eine bilinguale Bildung ist die Anerkennung der Gleichwertigkeit der Gebärdensprachen und der gesprochenen und geschriebenen Sprachen unabdingbar. Die Gebärdensprache ist keine Kommunikationshilfe, sondern Trägerin einer eigenen Kultur. 2. Zugängliche Bildung Über die gesprochene und geschriebene Sprache wird den Kindern mit einer Hörbehinderung nur ein Teil der Information vermittelt. Der Unterricht in Gebärdensprache ist notwendig, um den Zugang zum gesamten Lehrinhalt zu gewährleisten. 3. Gleichwertige Bildung Bildung muss für Kinder und Jugendliche mit Hörbehinderung gleichwertig sein zur Bildung für Kinder und Jugendliche ohne Hörbehinderung und keinesfalls vereinfacht. Zudem soll die Gebärdensprache als eigenständige Sprache unterrichtet werden, genauso wie die gesprochene und geschriebene Sprache. 4. Inklusive Bildung Für Kinder mit einer Hörbehinderung bedeutet inklusive Bildung nicht Anpassung an das hörende Umfeld. Es muss ein Umfeld geschaffen werden, in dem die Kinder neben der gesprochenen und geschriebenen Sprache auch die Gebärdensprache erlernen und in dieser Sprache kommunizieren können, um ihre Identität zu stärken. Hierfür ist es von Vorteil, Kinder mit einer Hörbehinderung in kleinen Gruppen zu integrieren, denn die sprachliche und kulturelle Identität entfaltet sich erst in der Gruppe.

Diese Anekdote veranschaulicht, was «Deaf Gain» meint: Ein Gewinn für die Gesellschaft, den nur die Gehörlosen dank ihrem Anderssein leisten können. Es ist also wichtig, dass die Gesellschaft Menschen mit einer Hörbehinderung als Teil der menschlichen Vielfalt erkennt, als Bereicherung der Gesellschaft. Auch das ist Resilienz! 

Helmut Vogel (Deutscher Gehörlosen-Bund) und Helene Jarmer (Österreichischer Gehörlosenbund) unterschreiben die Resolution.

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Kultur der Gehörlosen erleben Der Bildungskongress bot dem Publikum neben den Referaten auch ein reiches kulturelles Rahmenprogramm. Bei einer Stadtführung in Gebärdensprache lernten die Besucherinnen und Besucher Bern kennen und Movo begeisterte mit einem vielsprachigen Theaterstück. Text: Martina Raschle, Fotos: Benjamin Hofer

Jakob erzählt vom Kindlifresser-Brunnen.

Auf der Yacht verschleudern die Paare ihr Geld.

Stadtführung durch Bern Man sieht Stadtführer Jakob nicht an, dass er am Kongress-Freitag zum ersten Mal Menschen durch «seine» Stadt führt; mit dem Bern-Käppi, dem roten T-Shirt und der Bern-Umhängetasche wirkt er wie ein alter Profi. Ein wenig nervös ist er aber schon bei seiner Premiere, immerhin hat er für diesen Anlass extra eine Stadtführer-Schulung bei Bern Tourismus gemacht, zusammen mit fünf anderen Gehörlosen.

dieser Stadtführung keine Sprachbarrieren gibt, überhäufen die Teilnehmer Jakob mit ihren Fragen. Und wenn Gäste aus Österreich oder Deutschland eine Gebärde nicht verstehen, wechselt Jakob in die universelle Sprache der Pantomime – auch zur Freude der hörenden Berner Passanten, die das wortlose Spektakel höchst interessiert verfolgen. Gehörlose Stadtführer sind ohne Zweifel ein «Deaf Gain» für unsere Hauptstadt!

Doch die Nervosität verfliegt bald. Charmant und souverän zeigt Jakob seiner Gruppe die Berner Highlights; Zytglogge, Kindlifresser-Brunnen, Kornhaus und vieles mehr. Natürlich alles in Gebärdensprache! Fasziniert folgen die Teilnehmer die lebendigen Schilderungen aus Berns bewegter Vergangenheit. Froh darüber, dass es bei

Theater von Movo Das kleine Theater La Capella ist bis auf den letzten Platz gefüllt, als die Theatertruppe Movo am Freitag eine exklusive Vor-Premiere des neuen Stücks «Über die Verhältnisse» zeigt. Angekündigt war eine Komödie für Gehörlose und für Hörende. Und die-

ses Versprechen löst Movo ein: Mit Ballonen erleben gehörlose Zuschauer die Vibrationen der Musik und das (deutschsprachige) Stück ist durch gekonnte Wechsel in Gebärdensprache, gesprochener Sprache und Schriftsprache für alle verständlich. Rund 45 Minuten lang werden die Zuschauer unterhalten von der Geschichte über zwei Paare, die sich verschulden und dringend Geld brauchen. Bei der Suche nach Lösungen zeigen sie sich durchaus kreativ – wenn auch nicht immer legal. Dieser vielsprachige Spass macht Lust auf mehr! Gelegenheit dazu gibt es im September, wenn das ganze Stück Uraufführung hat, pünktlich zum Tag der Gebärdensprache in St.Gallen. 

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Stimmen zum Kongress Visuell Plus hat sich am Bildungskongress umgehört und umgesehen. Wie gefällt der Kongress den Zuschauern, den Organisatoren und den Referenten? Was sind ihre bleibenden Eindrücke von diesem vielsprachigen Event? Text und Fotos: Martina Raschle, Benjamin Hofer

Rudi Sailer (Deutschland), Gründer des Bildungskongresses: «Bei der Gründung des Bildungskongresses war unser Ziel, dass die Gehörlosen im deutschsprachigen Raum das Thema Bildung selber in die Hand nehmen. Schluss mit Fachleuten, die über unsere Köpfe hinweg entscheiden! Wir wollten Erfolge aufzeigen, Tipps austauschen und Bildungswerte für Gehörlose entwickeln. Wenn ich den Kongress heute sehe, bin ich froh. Er spiegelt meine zwei Mottos: 1. Bilde dich lebenslang – unternimm was! 2. Nicht über uns ohne uns!»

«DER KONGRESS WURDE GEGRÜNDET, WEIL WIR DAS THEMA BILDUNG ENDLICH SELBER IN DIE HAND NEHMEN WOLLEN!» 16

Mona Vetsch (Deutschschweiz), Moderatorin: «Noch vor vier Wochen hätte ich mich total auf die Ärzte verlassen, wenn ich ein gehörloses Kind bekommen hätte. Nach dieser Erfahrung am Bildungskongress würde ich anders entscheiden! Hörende Eltern haben oft keine Vorstellung von der Kultur der Gehörlosen. Ich weiss jetzt, dass der Austausch mit gehörlosen Menschen entscheidend ist, weil sie eine ganz neue Seite reinbringen zum Medizinischen. Für Gehörlose geht es in dieser Frage nicht um die Lösung eines Problems, sie sehen das Potenzial der gehörlosen Kinder. Heute würde ich meinem Kind so rasch wie möglich auch gehörlose Spielkameraden suchen. Und ich würde die Gebärdensprache lernen, damit ich mit meinem Kind kommunizieren kann, eine gemeinsame Welt aufbauen.»

Mélodi Binay (Westschweiz), Mit-Organisatorin: «Es war eine grosse Herausforderung, den Kongress mit so vielen Sprachen zu organisieren. Vor allem die Dolmetscher-Koordination. Wir mussten alle Unterlagen in vier Sprachen zur Verfügung stellen, wir haben also jede Arbeit viermal gemacht. Doch es hat sich gelohnt! Wir haben ein internationaleres Publikum angezogen und auch ein wenig den Röschti-Graben in der Schweiz überwunden. An diesem Kongress zeigen wir, dass drei Sprachen in der Schweiz gut nebeneinander funktionieren – warum sollten nicht noch drei Gebärdensprachen dazukommen?»

«WIR ZEIGEN AM KONGRESS, DASS MEHRSPRACHIGKEIT MÖGLICH IST.»

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Joseph Murray (USA), Referent: «Jede Gesellschaft muss ihren eigenen Deaf Gain entwickeln, man kann ihn nicht übernehmen von anderen Ländern. Ich sehe an diesem Kongress den grossen Respekt gegenüber anderen Sprachen. Dieser Umgang der Schweizer Gehörlosen mit Sprachenvielfalt ist vorbildhaft, auch für die hörende Gesellschaft. In der Schweizer Gehörlosengemeinschaft sind so viele Ressourcen und Stärken da, die sie an die Gesellschaft beitragen kann – das ist ihr Deaf Gain.»

Nicole Lubart (Deutschschweiz), Teilnehmerin: «Ich arbeite mit gehörlosen Jugendlichen in der Sek3. Ich weiss zwar schon vieles über Gehörlosenpädagogik, aber ich will noch mehr erfahren. Vor allem auch im Zusammenhang mit der UNOBRK. Da war der Vortrag von Markku Jokinen sehr spannend; ich habe gelernt, dass es fünf verschiedene Faktoren und Bereiche sind, die zusammenspielen, damit Kinder sich resilient entwickeln können. Das heisst, wir müssen in allen Bereichen für unsere Rechte einstehen.»

Delphine Quach (Westschweiz), Teilnehmerin: «Es gibt selten Gelegenheiten wie diesen Kongress, wo man sich treffen kann, das will ich nicht verpassen. Und natürlich interessiert mich das Thema Bildung für Gehörlose. Wie können wir gehörlosen Menschen den Zugang zur Bildung ermöglichen? Bis jetzt gefallen mir die Referate dazu sehr gut!»

Marlyse Faustinelli (Westschweiz), Teilnehmerin: Ich arbeite mit gehörlosen Menschen mit Zusatzbehinderungen, zum Beispiel taubblinden Menschen. Ich will mehr darüber wissen, wie sie sich bilden können und stärker werden. Kommunikation ist dabei so wichtig! Und ich freue mich, in Bern zu sein; vielleicht profitiere ich noch von der Stadtführung in Gebärdensprache.» 

Krishneer Sen (Fidschi), Teilnehmer: «Ich will mehr lernen über gehörlose Kinder, ihre Rechte zu Sprache und Kultur. Ich studiere in London Menschenrechte und mache eine Thesis zu diesem Thema. Da soll auch der gehörlose Aspekt rein. Ich bin hier, um mich umzusehen, verschiedene Perspektiven zu untersuchen, Kulturen zu vergleichen, Situationen und Probleme kennenzulernen. Ich möchte einfach mehr wissen.»

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Gala: Glanzvoller Höhepunkt! Den Abschluss des Bildungskongresses feierte der Schweizerische Gehörlosenbund mit einer glanzvollen Gala im Kursaal. Ein unvergesslicher Abend in der Kultur der Gehörlosen mit einer fantastischen Dinner-Show der russischen Theatergruppe Mime and Gesture und dem 70-Jahr-Jubiläum des Schweizerischen Gehörlosenbundes! Text: Martina Raschle, Fotos: Benjamin Hofer

Der Vorstand des Gehörlosenbundes und die geladenen Gäste stossen auf einen gelungenen Kongress an.

Am Samstagabend verwandelt sich der Kursaal vom geschäftigen Kongressraum in einen gemütlichen Festsaal. Auch die Besucherinnen und Besucher haben sich verwandelt, als sie sich um 19 Uhr auf die weiss gedeckten Tische verteilten. Sie haben die Freizeit-Kleidung gegen elegante Anzüge und festliche Abendkleider getauscht und freuen sich auf einen Abend ganz im Zeichen der Kultur der Gehörlosen. Moderiert wird die Gala von der gehörlosen Schauspielerin Dawn Jani Birley aus Kanada. Für die Begrüssung der Gäste bittet sie Roland Hermann auf die Bühne, Präsident des Schweizerischen Gehörlosenbundes.

Gemeinsame Sprache «Wir sind unter uns!», freut sich Roland Hermann bei der Begrüssung der Gäste: «Heute Abend passen wir uns nicht mit Dolmetschern einer anderen Kultur an, sondern geniessen das

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Zusammensein in unserer Sprache und führen in International Signs durch das Programm.» Die sechs Bildschirme für die Dolmetscher sind einer grossen Leinwand über der Bühne gewichen, wo direkt nach der Begrüssung die DinnerShow der gehörlosen Theatergruppe aus Russland beginnt.

Visuelles Theater aus Russland Viermal tritt Mime and Gesture zwischen den einzelnen Menü-Gängen mit Show-Einlagen auf der KongressBühne auf. Jeder Auftritt begeistert die Zuschauer im Saal! Sie erleben ein visuelles Feuerwerk, ganz ohne Worte, aber mit Musik, Gebärden, Rhythmus und Farbspektakeln. Mit unglaublicher Präzision zeigen die Schauspieler perfekt choreografierte Szenen aus Russland: Von der schwarz gekleideten Miliz-Truppe über die russischen Wintersportler, einem Michael-JacksonTribut, Clown-Einlagen, dem russischen

Auftritt am Eurovision Song Contest, einer Affenbande, einem Vogelschwarm und russischen Künstlern bis hin zu einem Tanz der Babuschkas. Jeder Auftritt wird technisch begleitet von Focusfilm unter der Leitung von Stanko Pavlica. Ein Jahr lang hat die russische Gruppe eng zusammengearbeitet mit den Organisatoren des Bildungskongresses, um den Gästen der Gala neben den kulinarischen Höhepunkten auch visuelle Höhepunkte zu bieten. Mime and Gesture eröffnet nach dem ersten Auftritt den kulinarischen Teil mit einem Geschenk alle Gäste im Saal; Brot und Salz, das typische Gastgeschenk aus Russland.

Die Geschichte des Gehörlosenbundes Nach dem Hauptgang betreten Peter Hemmi und Laura Sciuchetti die Bühne. Gemeinsam präsentieren sie die Meilensteine aus der 70-jährigen Geschichte des Schweizerischen Gehörlosenbundes. Und es ist eine bewegte Geschichte! Von der Gründung 1946 über die technische Entwicklung in den 1970er-Jahren, den Aufbruch der Gehörlosengemeinschaft in den 1980er-Jahren, die Regionalisierung 1986, den Austritt aus dem Schweizerischen Verband für das Gehörlosenwesen SVG im Jahr 2000 und die Zentralisierung des Verbandes bis hin zur neuen Strategie im Jahr 2016. Mit eindrücklichen Videos und Bildern lassen Peter Hemmi und Laura Sciuchetti die Geschichte lebendig werden. Viele Gäste im Saal sind ebenfalls schon lange Teil dieser Geschichte und

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ihre Freude ist gross, wenn sie bekannte Gesichter von früher auf der Leinwand erkennen. Peter Hemmi meint, dass er Laura Sciuchetti ein gutes Bild für die heutige Vielfalt im Schweizerischen Gehörlosenbund seien; ein Mann und eine Frau, aus verschiedenen Regionen und verschiedenen Generationen arbeiten zusammen.

70 Jahre SGB-FSS, olé! Nach dem köstlichen Dessert neigt sich der Abend langsam seinem Ende zu. Gegen Mitternacht betritt noch einmal Roland Hermann die Bühne, um den festlichen Höhepunkt des Bildungskongresses abzuschliessen. Seine Zusammenfassung der Ereignisse muss aber noch warten, weil plötzlich ganze Tischgesellschaften jubelnd aufspringen im Saal. Ein genauer Blick ins Publikum zeigt, dass sich überall kleine Grüppchen gebildet haben, die ihre Köpfe über ein Handy beugen und in regelmässigen Abständen aufjubeln oder die Hände verwerfen. Nach kurzer Verwirrung erkennt Roland Hermann, dass das Viertelfinal-Penaltyschiessen zwischen Deutschland und Italien an der Fussball-EM ihm die Show stiehlt. Er überbrückt die Situation mit Humor: «Ja, genau: 70 Jahre SGB-FSS, olé! Das ist ein Grund zum Feiern!» Leuchtende Zukunft Dieser Aussage können sich die Gäste vorbehaltlos anschliessen – und nicht nur die Gäste aus Deutschland, die sich über den Sieg ihres Teams freuen können. Nach dem fussballerischen Zwischenspiel kehrt wieder Ruhe im Saal ein und prominente Gäste des Bildungskongresses gehen auf die Bühne zu Roland Hermann. Markku Jokinen, Präsident EUD, Helmut Vogel, Präsident des Deutschen Gehörlosen-Bundes, und die amerikanischen Referenten Melissa Malzkuhn und Joseph Murray bedanken sich für einen unvergesslichen Kongress in den Schweiz. Auch der Präsident des russischen Gehörlosenbundes übergibt Geschenke und ein grosses Dankeschön an den Schweizerischen Gehörlosenbund. Sie zeigen sich sehr beeindruckt von die-

Die russische Theatertruppe Mime and Gesture begeistert mit ihren Auftritten.

Peter Hemmi und Laura Sciuchetti präsentieren die Geschichte des Schweizerischen Gehörlosenbundes.

sem wunderbaren Abend und wünschen dem Schweizerischen Gehörlosenbund noch mindestens weitere 70 erfolgreiche Jahre. Joseph Murray sieht in den Saal und sagt zu den Gästen: «Wofür kämpfen wir heute? Ich sage euch: Für uns alle! Wir sind der Deaf Gain auf dem Weg zur Gleichstellung!»

Die letzte Gebärde gehört der Moderatorin Dawn Joni Birley. Sie lässt das Bild von einem Leuchtturm auf die Leinwand projizieren und sagt zum Abschluss: «Das ist das Bild, das wir euch mitgeben wollen: Lasst uns Leuchttürme sein, Vorbilder in der Gesellschaft und füreinander.» 

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So schön war ’s! Fotos: Benjamin Hofer, Redaktion: Martina Raschle

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